Kunst im Konflikt: Kunst und Künstler im Widerstreit mit der “Obrigkeit” [Reprint 2019 ed.] 9783111502892, 9783110017427

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Kunst im Konflikt: Kunst und Künstler im Widerstreit mit der “Obrigkeit” [Reprint 2019 ed.]
 9783111502892, 9783110017427

Table of contents :
DANKSAGUNG
INHALTSÜBERSICHT
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
ERSTER ABSCHNITT. Wesen und Entstehung des Konflikts zwischen Kunst und Recht
1. KAPITEL. Juristen und Künstler
2. KAPITEL. Die Kunst im Sinne der Juristen: der klassische Begriff der Kunst im Rechtssinn
3. KAPITEL. Entstehung der klassischen Kunstauffassung und damit des Konflikts zwischen Kunst und Recht
ZWEITER ABSCHNITT. Der Verlauf des Konflikts zwischen Kunst und Recht
1. KAPITEL. 1870 — 1918
2. KAPITEL Kunstkartenprozesse; der Fall „Wedekind"
3. KAPITEL. 1919-1934
4. KAPITEL. Nach 1945
ALLGEMEINES LITERATURVERZEICHNIS
ANMERKUNGEN
WICHTIGE ENTSCHEIDUNGEN
DIE KÜNSTLER UND IHRE WERKE

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Kunst im Konflikt Kunst und Künstler im Widerstreit mit der „Obrigkeit"

von Dr. L U D W I G LEI SS

Mit 78 Abbildungen und 2 Falttafeln sowie einem farbigen Selbstbildnis des Verfassers

w DE

_G_ 1971 WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN • NEW YORK

ISBN 3 11 001742 3

© Copyright 1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer, K a r l J. Trübner, Veit & Comp., Berlin 30. — A l l e Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und der Ubersetzung, vorbehalten. — Printed in Germany. — Satz und Druck: Druckerei Chmielorz GmbH, Berlin 44. — Schutzumschlag: Rudolf Hübler unter Verwendung eines Werkes von Otto Dix.

An Stelle eines Vorwortes

Selbstbildnis des Verfassers

DANKSAGUNG an Aachen Basel Berlin (DDR)

Berlin (West) Braunschweig Dresden Düsseldorf

Graz Hamburg

Karlsruhe Kassel Koblenz Köln

Stadtarchiv Oberappellationsgericht Staatsanwaltschaft des Kantons Basel Oberstes Gericht der D D R Universitätsbibliothek der HumboldtUniversität Amtsgericht Senator für Kunst und Wissenschaft Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Sächsische Landesbibliothek Staatsarchiv Amtsgericht Landesbildstelle Rheinland Hauptstaatsarchiv Kunstmuseum Landgericht Stadtarchiv Steiermärkisches Landesarchiv Gala-Verlag Hamburger Kunsthalle Hanseatisches Oberlandesgericht Landgericht Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Prof. Paul Wunderlich Bundesgerichtshof Amtsgericht Stadtarchiv Bundesarchiv Erzbischöfliches Ordinariat Historisches Archiv der Stadt Regierungspräsident

Köln Leipzig Ludwigsburg Marburg München

Münster N e w York Nürnberg Osthofen Stuttgart Venedig Wien

VIII

Verwaltungsgericht Deutsche Bücherei Staatsarchiv Bildarchiv Foto im Forschungsinstitut für Kunstgeschichte Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Staatsbibliothek Bayerische Staatsgemäldesammlungen Bibliothek des Metropolitankapitels Institut Français Prof. Willi Geiger Galerie Gurlitt Hauptstaatsarchiv, Allg. Staatsarchiv Hauptstaatsarchiv, Haus-, H o f und Staatsarchiv Polizeipräsidium Staatsarchiv Oberbayern Stadtarchiv Stadtarchiv, Monacensia-Abteilung Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I Süddeutsche Zeitung, Archiv Technische Universität, Kunstgeschichtliches Institut Theatermuseum Clara Ziegler-Stiftung Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Bibliothek Oberverwaltungsgericht Kunstmaler Gerth Wollheim Staatsarchiv Kunstmaler Georg Baselitz Hauptstaatsarchiv Württembergischer Kunstverein Archivo del Stato Bundespolizeidirektion, Archiv Graphische Sammlung Albertina Magistrat der Stadt Wien, Archiv Niederösterreichisches Landesarchiv österreichische Nationalbibliothek

österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Staatsarchiv österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv österreichischer Verwaltungsgerichtshof Herrn Peschka für die Erben Schiele

INHALTSÜBERSICHT

Vorwort

V

Danksagung

VII

Abkürzungsverzeichnis

XIII

1. A B S C H N I T T Wesen und Entstehung des Konflikts zwischen Kunst und Recht

1

1. Kapitel: Juristen und Künstler

1

2. Kapitel: Die Kunst im Sinne der Juristen: der klassische Begriff der Kunst im Rechtssinn

7

3. Kapitel: Entstehung der klassischen Kunstauffassung und damit des Konflikts zwischen Kunst und Recht

42

2. A B S C H N I T T Der Verlauf des Konflikts zwischen Kunst und Recht

81

1. Kapitel:

1870—1918

81

2. Kapitel:

Kunstkartenprozesse; der Fall „Wedekind"

245

3. Kapitel:

1919—1934

286

4. Kapitel: Nach 1945

399

Allgemeines Literaturverzeichnis

517

Anmerkungen

544

Wichtige Entscheidungen

576

Die Künstler und ihre Werke

579

XI

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS a. a. O. Abb. a. E. AG Allg. ALR Anf. Anm. Art. Aufl.

am angegebenen Orte Abbildung am Ende Amtsgericht Allgemeine, -es, -er (Preußisches) Allg. Landrecht Anfang Anmerkung Artikel Auflage

Bay(r) BayObLG BayObLGStr. Bay.Verw. Archiv BayVBl. Bb. Beibl. Beitr. bes. BFH BGBl. BGH BGHSt. bild. BStBl. BVerwG BVerwGE

Bayrischer, -e, -es Bay. Oberstes Landesgericht E des B a y O b L G in Strafsachen Bay. Verwaltungsarchiv Bay. Verwaltungsblatt Der Betriebsberater Beiblatt Beiträge besonders, -ere Bundesfinanzhof Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof E des B G H in Strafsachen bildende Bundessteuerblatt Bundesverwaltungsgericht E des BVerwG

ders. Diss. DJZ DÖV DV(erw)Bl.

derselbe Dissertation Deutsche Juristenzeitung Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt

E

Entscheidung(en)

FamRZ Fn.

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fußnote

GG GjS

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften v. 29. 4. 1961

XIII

HRR Hrsg(b). HStA

Höchstrichterliche Rspr. Herausgeber herausgegeben Hauptstaatsarchiv

Jahrg(g). Jahrh. JR jur. JW JZ

Jahrgang Jahrhundert Jur. Rundschau juristische, -er, -es Jur. Wochenschrift Juristenzeitung

Kat. KG Kgl. K. K. KNA kult.

Katalog Kammergericht Königlich, -er, -e, -es Kaiserlich-Königlich -er, -e, -es Katholische Nachrichtenagentur kulturelle

k. und k.

Kaiserlich -er, -e, -es und Königlich -er, -e, -es

Lc.

Lukas

LeipzK LStVG LVG LZ Mc. MDR MinBl. f. d. i. V Mitt. Mt.

Leipziger Kommentar zum S t G B von Nagler, Mezger, Jagusch u. a. (Bay) Landesstraf- und Verordnungsgesetz Landesverwaltungsgericht Leipziger Zeitschrift Markus Monatsschrift für Deutsches Recht Ministerialblatt für die innere Verwaltung Mitteilung(en) Matthäus

NJW Nö. N . Y.

Neue Jur. Wochenschrift niederösterreichische, -es, -er New York

ö(ster.) ÖVGH o. J . OLG OVG

österreichischer, -e, -es ö. Verwaltungsgerichtshof ohne Jahr(esangabe) Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht

PD Pol. PolStGB PrOVG PrOVGE PStGB PrVerwBl.

Polizeidirektion Polizei = PStGB Preußisches O V G E des Preußischen O V G (Bay.) Polizeistrafgesetzbuch Preußisches Verwaltungsblatt

RA

Rechtsanwalt

XIV

RFH RG RGBl. RG(ew)0 RGSt(r). RGZ rhein. Rspr. RStGB RStBl. RuPrVerwBl. RV

Reichsanzeiger Rech: der Jugend, Zeitschrift f ü r Jugenderziehung usw. und Jugendschutz, f ü r Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht Regierung(s) Sammlung von E der Gerichte und Verwaltungsbehörden auf dem Rechtsgebiete der inneren Verwaltung Reichsfinanzhof Reichsgericht Reichsgesetzblatt (Reichs)ge Werbeordnung E des R G in Strafsachen E des R G in Zivilsachen rheinische, -er, -es Rechtsprechung = StGB Reichssteuerblatt Reichs- und Preußisches Verwaltungsblatt = WRV

S s(h). StA StAnz. sten. StG StGB Südd.

Seite siehe Staatsarchiv Staatsanzeiger stenographische(r) Strafgesetz Strafgesetzbuch Süddeutsche, -er

Taus. Thür.

Tausend Thüringische, -er, -es

u. a. Überbl. Ufita

unter anderem Überblick Archiv f ü r Urheber- Film-, Funk- und Theaterrecht

Verf. Verw.Archiv vgl. VGG VO

Verfasser Verwaltungsarchiv vergleiche Verwaltungsgerichtsgesetz Verordnung

WRV

Weimarer Reichsverfassung

ZfB ZfKG ZfRechtspflege ZStW

Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift

RAnz. RdJ

RgReger

f ü r Bücherfreunde f ü r Kirchengeschichte f ü r Rechtspflege f ü r die gesamte Strafrechtswissenschaft

Wegen weiterer hier nicht aufgeführter jur. Abkürzungen sei auf H . Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache (Berlin 1957) verwiesen.

XV

ERSTER ABSCHNITT

Wesen und Entstehung des Konflikts zwischen Kunst und Recht 1. KAPITEL

Juristen und Künstler Vor nahezu 150 Jahren, am 3. 3. 1838, zog der greise Fürst Talleyrand den Schlußstrich unter sein Wirken in der Öffentlichkeit, ja unter sein ganzes Leben, als er in einem in der Academie des Sciences Morales et Politiques gehaltenen Nachruf auf einen Grafen Reinhart, der sich ursprünglich für den Priesterberuf vorbereitet, dann aber die diplomatische Laufbahn ergriffen hatte, mit Nachdruck erklärte, das theologische Studium sei eine ganz ausgezeichnete Vorbereitung für den diplomatischen Dienst 1 . Talleyrand, der frühere Bischof von Autun, mußte es wissen: Er war der größte, aber auch der letzte der großen geistlichen Diplomaten der Gegenreformation und das schon nicht mehr ohne einen bis in die Stunde seines Todes reichenden Bruch in seinem Leben. Das Gemeinsame des geistlichen und des diplomatischen Berufes, wie er ihn rückschauend auch auf sein Leben sehen mochte, war der Dienst dort am Altar, hier am Thron, deren Bund in allen großen Staaten des Westens die Gegenreformation besiegelt hat 2 . Wie nahe läge es, einer ähnlichen Gemeinsamkeit zwischen der Rechtswissenschaft und der Kunst das Wort zu reden! Ergänzen sich doch auch hier eine reine Geisteswissenschaft und eine mindestens als solche verstandene Kunst. Und dienen nicht auch hier beide, jedenfalls nach der später einläßlich zu behandelnden Auffassung der Gegenreformation dem gleichen Bund von Thron und Altar? Und doch: Niemals hat, soweit das kurzsichtige geistige Auge reicht, ein Jurist behauptet, die Rechtswissenschaft sei die beste, ja überhaupt nur eine Vorschule für die Kunst des Wortes, des Bildes oder des Tones. Trotz1 Leiss, Kunst im Konflikt

1

dem nennt der Stand der Juristen, wenn man ihn so bezeichnen will, eine Fülle von Dichtern sein eigen, von denen es einige zu Weltruhm, die meisten immerhin zu Berühmtheit innerhalb ihres engeren oder weiteren Sprachraumes gebracht haben. Beschränken wir uns auf den deutschen Sprachraum! Goethe und, so seltsam das ist, K a f k a kennt heute die ganze gebildete Welt, selbst des Ostens. Grillparzer sollte sie kennen. Viele andere nehmen in der deutschen Dichtung einen ehrenvollen Platz ein, Andrian 2 , Brautlacht 3 , Max Brod 4 , Eichendorff, Grabbe, Heym, E. T. A. Hoffmann, Mombert, Schaukai 5 , Ludwig Thoma und Wildgans 6 . Sie alle und so manche hier nicht Erwähnten scheinen zu bestätigen, daß die Rechtswissenschaft mindestens eine der Schulen für die Kunst des Wortes ist. In der Tat ist vieles bei Brautlacht, Storm und Ludwig Thoma schon vom Stofflichen her und Kafkas fragmentarisches Werk überhaupt ohne die juristische Tätigkeit ihrer Verfasser nicht zu denken, das Werk Kafkas ohne sie in seiner furchtbaren Tiefe nicht auszuloten. Dennoch hat 'gerade Kafka, noch nicht 28jährig, am 19. 2. 1911 seinem Tagebuche anvertraut: Es ist „für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt" 7 . K a f k a hat jedoch (wenn auch vergeblich 73 ) einen anderen Ausweg gewählt: Er hat den juristischen Beruf aufgegeben, und wie er sein Freund Max Brod, ferner Mombert, Schaukai, Thoma, Wildgans und zeitweise auch E. T. A. Hoffmann. Grillparzer, dem sein Beruf so verhaßt war wie sein Name, und Eichendorff, der aus anderen Gründen seinen Dienst quittierte (hierüber siehe S. 205), mochten, je älter sie wurden, ähnlich gedacht haben. Von Grillparzer stammt das ergreifende Wort: „Die unsichtbaren Ketten klirren an Hand und Fuß. Ich muß meinem Vaterland Leb-wohl sagen oder die Hoffnung auf immer aufgeben, einen Platz unter den Dichtern meiner Zeit einzunehmen. Gott! Gott! Wird es denn jedem so schwer gemacht, das zu sein, was er könnte und sollte" 7 b ? Er („Der arme Spielmann") und Eichendorff („Der irre Spielmann"?) verstummten, Grillparzer die letzten 18 Jahre seines Lebens. Und Goethe hat nur Genie und Glück und Grabbe und Heym ein sehr früher Tod vor dem Ausscheiden oder dem Verstummen bewahrt. Wie viele Juristen aber über der Sorge um das tägliche Brot, aus (jedenfalls in Deutschland nur allzu berechtigter) Angst vor dem Neid von (zur Schöpfung von Kunstwerken zu dummen, zu faulen oder zu feigen) Kollegen oder aus jener (gerade Juristen anerzogenen) Selbstkritik heraus, der beinahe Kafkas Werk 2

zum Opfer gefallen wäre, auf die Schöpfung von Kunstwerken, auf die Ausübung der Kunst verzichten oder, wie der spätere Grillparzer, ihre Werke nur noch für den Schreibtisch oder einen sonstigen Winkel schaffen, wo sie beim Eintritt in den Ruhestand oder dem Tod der Vernichtung überantwortet werden, weiß kein Mensch. Die dem Kabbalisten so wohlvertrauten Säle der nichtaufgeführten und der nie gezeigten und veröffentlichten Werke der Kunst des Wortes, des Bildes und des Tones im „Palast des Königs" allein würden davon ein erschütterndes Zeugnis geben. Was wir freilich in groben Zügen wissen, ist etwas ganz anderes: Menschen, die das Studium der Rechtswissenschaft begonnen, ja mehrere Jahre betrieben haben, brechen es ab, um sich ganz der Ausübung der Kunst widmen zu können. In Kurzbeschreibungen ihres Lebens heißt es dann etwa: „Nach anfänglichem Studium der Rechtswissenschaft . . ." oder „Nach Abschluß seiner juristischen Studien . . .". Die Zahl dieser Menschen innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraumes ist sehr groß. Beschränken wir uns daher vorerst auf den deutschen Sprachraum! Vorweg seien hier einige derer genannt, die uns später wieder begegnen werden: Hermann Bahr 8 (siehe S. 129), Arnold Bronnen 9 (siehe S. 324), Max Halbe 10 (siehe S. 114, 135) und, wer würde es glauben, Frank Wedekind 11 (siehe S. 267). Ihnen schließen sich zahllose andere an, von denen nur die bekanntesten genannt seien: Bergengruen 12 , Binding 13 , Eich14, Hugo von Hofmannsthal 15 , Emil Ludwig 16 , Christian Morgenstern 17 und Kurt Tucholsky 18 . Außerhalb des deutschen Sprachraumes ließen sich, um nur ein paar Beispiele herauszugreifen, etwa der Spanier Garcia Lorca 19 , der Belgier Maeterlinck 20 , der Russe Soschtschenko21, der Inder Tagore 22 und der Franzose Valery 23 anführen. Bleiben wir aber einmal außerhalb des deutschen Sprachraumes! Auch in den Kurzbeschreibungen des Lebens der Maler P. Bonnard 24 , Paul Cezanne 25 , W. Kandinsky 26 und H. Matisse 27 lesen wir die verräterischen Worte: „Nach anfänglichem Studium der Rechte", das bei den 3 Franzosen immerhin jeweils 3 Jahre gedauert hat. Gerade die Maler aber weisen auf eine andere Erscheinung hin: den Ausbruch aus einem juristisch geprägten Elternhaus in die Kunst. Denn bei den Malern spannt sich ein weiter Bogen über die Jahrhunderte: Von, um nur einige der bekanntesten zu erwähnen, Masaccio, dem Sohn eines Notars 28 , über Leonardo da Vinci, den unehelichen Sohn eines Notars 29 , Campagnola, den Sohn eines Notars 30 , 3

Hans Baidung Grien, den Sohn eines bischöflichen Rechtsprokurators31, Peter Paul Rubens, den Sohn eines bedeutenden Rechtsanwalts 32 , Terbrugghen, den Sohn eines Rechtsanwalts33, und Cignani, der einer angesehenen Juristenfamilie aus dem Bologneser Kleinadel angehörte 34 , bis hin zu Fritz von Uhde (s. S. 103 ff) und zu dem großen spanischen Surrealisten Dali, dessen Vater Notar war. Aber nicht nur sie wagten den Ausbruch. Zahlreiche Dichter, mitunter „nach anfänglichem Studium der Rechtswissenschaft", taten ein gleiches, im deutschen Sprachraum etwa Hermann Bahr 35 , Johannes Becher36, der uns später (S. 346) wieder, ja mit einem Zeugnis dafür begegnen wird, daß er diesen Ausbruch so recht eigentlich nie verwunden hat, Ulrich Becher37, R. Beer-Hofmann 38 , der schon erwähnte Binding, Sohn eines berühmten Strafrechtlers, der seinerseits uns wieder begegnen wird (S. 32) und P. Hacks 39 . Ihnen freilich stehen andere, größere und berühmtere, gegenüber, die diesen Ausbruch nicht gewagt haben: Goethe, Grillparzer und Storm. Goethe und Storm hatten das Glück, ebenso großherzige wie vermögliche Väter, Grillparzer das Unglück, keinen Vater mehr und bittere Not in der Familie zu haben, deren Ernährer er werden mußte. Was, so fragen wir, mag die, die aus einem juristisch geprägten Elternhaus, aus einem noch nicht oder schon vollendeten Studium oder gar aus einem juristischen Beruf ausbrachen, dazu veranlaßt haben? War es das abschreckende Beispiel, das das juristisch geprägte Elternhaus bot? „Der elende — gemeine — hundsföttische Juristendreck" des Staatsanwaltssohnes Heym 40 ? War es, wie landläufig gemeint wird, das oft bittere, oft aber auch bequeme Gefühl, für einen juristischen Beruf nicht geschaffen, nicht berufen zu sein? Nicht selten mag beides eine Rolle gespielt haben. Doch bei den Jungen wohl mehr als Empfindung, bei den älter und weiser Gewordenen als Uberlegung ist es die Erkenntnis, daß die Welten des Juristen und des Künstlers schlechthin unvereinbar sind und wenn sie zur Vereinigung gezwungen werden, ein so schreckliches Doppelleben erzeugen können, daß es aus ihm „wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt". Eine der Ursachen für diese Empfindung und Überlegung ist wohl die Auffassung, die der deutsche Jurist gemeinhin vom Künstler und auf Grund einer langen geschichtlichen Entwicklung von der Kunst zu haben pflegt. Die Auffassung vom Künstler richtet sich nicht nach dem sogenannten arrivierten Künstler des Wortes, des Bildes oder des Tones, nach dem Künstler also, der es „zu etwas gebracht" hat, zu 4

allgemeinem und daher wirtschaftlich einträglichem Ruhm oder zur gesellschaftlichen Annäherung oder Gleichstellung (etwa durch Verbeamtung als Akademieprofessor u. ä.) oder durch sonstige öffentliche Herausstellung (etwa durch Nobilitierung oder durch den Nobelpreis): Der Nobelpreisträger Paul Heyse, der Akademieprofessor Franz Ritter von Stuck, die Ehrenmitglieder der königlich bayerischen Akademie der bildenden Künste, Professor Dr. Max Klinger und Professor Max Liebermann oder der mit 27 Orden dekorierte Professor Dr. Ernst Ritter von Possart, die uns alle in verschiedenen Rollen hier später begegnen werden, waren keine „Künstler" mehr. Aber wer erreicht solches schon in jungen Jahren, am Beginn des beruflichen Lebens? „Künstler" dieser von den Juristen anerkannten Art waren und sind ältere, würdige, hochdekorierte oder -titulierte Herren, über deren oft sehr mühsamen und nicht immer ganz unfallfreien Aufstieg man dann gnädig hinwegsehen konnte. Auch waren es zumeist bildende Künstler und seit dem späteren 19. Jahrhundert nur ganz vereinzelt die immer mißtrauischer angesehenen Dichter; bezeichnend genug, daß etwa das „Hof- und Staatshandbuch des Königsreichs Bayern", eines so kunstfreundlichen Landes, für das Jahr 1914 nicht einen einzigen von ihnen aufweist, der auch nur des bescheidensten Ordens für würdig befunden worden wäre und daß das Ordenskapitel des bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst in seiner Abteilung für Kunst zwar 35 bildende Künstler, aber nur einen Schriftsteller „Hauptmann, Dr. Gerhart, Schriftsteller in Agnetendorf im Riesengebirge" aufweist, dem man die „Weber" (S. 114 ff) längst verziehen hatte, weil er es eben inzwischen „zu etwas gebracht", insbesondere den Nobelpreis erhalten hatte. Bei allen noch oder überhaupt nicht Aufgestiegenen — und sie waren und sind in der Überzahl — sah und sieht man nur etwas, was als Boheme die verschiedenartigsten, jedenfalls keine guten und wohlmeinenden Empfindungen der deutschen Juristen, wie der Bevölkerungsschichten, aus denen sie stammen und zu denen sie sich zählen, erwecken kann: ein die bürgerlichen Vorstellungen von Ordnung und wirtschaftlicher Sicherheit sprengendes Leben in Zügellosigkeit und Armut, wie es ihnen Puccinis Oper eindringlich vor Augen stellt. Wie jeder Bürger lehnt auch jetzt noch der deutsche Jurist ein solches Tun und Treiben für sich selbst und für seine Kinder und Schüler ab. Kein Wunder, daß sich denen unter ihnen, die künstlerische Neigungen in sich aufkommen spüren, jene Boheme oder wie immer man sie heißen 5

mag, als das heimliche oder offenbare Ziel darbietet und der Überdruß an einer so sehr heilen, so sehr gesicherten, aber auch vielfach so ungeistigen, kleinkarierten Welt sie den Ausbruch, selbst mitten aus einem juristischen Berufsleben, wagen läßt. D a s Mißvergnügen an einer bürgerlichen Welt, der die Juristen durch Herkunft und/oder Stand verbunden sind, an der, wie heute gesagt wird, „Gegenwelt" der „freien" Künste, läßt ihnen eben die Freiheit dieser Künste und der Künstler als besonderes begehrenswert selbst auf die Gefahr hin erscheinen, die Freiheit der Kunst mit der wirtschaftlichen Unfreiheit bezahlen zu müssen. Nicht wenige dieser Ausbrecher aus dem juristischen Leben mag allein oder zusätzlich noch eine andere Erwägung zu ihrem Tun bewegen. Die Ausbrecher aus dem juristischen Leben sehen sich in diesem einer Auffassung von der Kunst gegenüber, die nicht immer die ihre ist, ja oft genug der ihren zuwiderläuft. Dieser im juristischen Leben herrschenden Auffassung von der Kunst gegenüber ihre Auffassung von der Kunst nicht durch lehrhafte Erörterungen und Auseinandersetzungen, sondern durch ihre Kunst auszudrücken, sie ihr entgegenzusetzen, scheint ihnen als eine Aufgabe, die des Ausbruches aus dem juristischen Leben wert ist. Fällt der Ausbruch vollends in eine Zeit, die alles in Frage stellt, eine Zeit geistiger oder politischer Gärung, dann kommen politische Erwägungen, Engagements, wie man heute sagt, und geistige Stellungnahmen ins Spiel, die die Ausbrecher die herrschende Kunstauffassung als die der herrschenden Mächte, früher des „Thrones und des Altars", jetzt des Establishments, erachten und mit den Mitteln ihrer Kunst so bekämpfen lassen, daß die Kunst schließlich als Feind der herrschenden Mächte erscheinen mußte und muß, der diese wieder mit den Mitteln ihrer Macht zu begegnen trachten. Was aber, so wird nun gefragt werden, ist denn die den herrschenden Mächten zugerechnete Kunstauffassung oder anders: was ist Kunst im Sinn des herrschenden Rechts, im Rechtssinn?

6

2. KAPITEL

Die Kunst im Sinne der Juristen: der klassische Begriff der Kunst im Rechtssinn Den Begriff der Kunst im Rechtssinn zu bestimmen, konnte man sich überhaupt erst veranlaßt sehen, seitdem die Freiheit der Kunst, wie man damals zu sagen pflegte, verfassungsrechtlich verankert worden war, also seit Inkrafttreten des Art. 142 W R V . Daß das rechtswissenschaftliche Schrifttum dazu über ein Jahrzehnt benötigte 1 , zeigt, wie wenig Widerhall die Kunst, zumal die Kunst der sogenannten goldenen zwanziger Jahre gerade in den Kreisen geisteswissenschaftlich tätiger Menschen fand. Kein Wunder, daß schon ein paar Jahre später die so wenig beachtete Freiheit der Kunst ausgelöscht werden konnte! Die Rechtsprechung allerdings hatte sich längst vor Inkrafttreten des Art. 142 WRV, so weit feststellbar schon mehr als 74-Jahrhundert früher mit dem Begriff der „Kunst" auseinandersetzen müssen und konnte und durfte auch in der Folgezeit auf den nicht unbeträchtlichen Lorbeeren ihrer Bemühungen nicht ausruhen. Die Auseinandersetzung der Rechtsprechung mit dem Begriff der Kunst entzündete sich damals nicht an lehrhaften Erwägungen oder Gedankengängen eines rechtswissenschaftlichen Schrifttums. Sie wurde, wie so oft, durch den sogenannten Fortschritt der Technik ausgelöst. Die Technik, Lichtbilder von Kunstwerken zu vervielfältigen und Vervielfältigungen auf Postkartengröße zu verkleinern, so daß die sogenannten Kunstkarten entstanden, breitete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr aus und wurde insbesondere durch Einfärbung dieser sogenannten Reproduktionen ständig verfeinert. Die Verbreitung und Verfeinerung setzte eine Kunstkartenindustrie in Gang, die sich besonders bekannter und beliebter Kunstwerke aus Museen oder Ausstellungen gleichsam bemächtigte und Reproduktionen von ihnen in sehr großer Zahl in Umlauf brachte. Eine größere Anzahl der von der Reproduktionswelle erfaßten Kunstwerke stellte ganz oder fast ganz unbekleidete Menschen, vorwiegend Frauen in mehr oder minder verführerischer Haltung dar. Diese Kunstwerke schlechthin für unzüchtig im Sinne des § 184 StGB oder auch nur für bedenklich oder anstößig zu erklären, verbot im allgemeinen der Umstand, daß sie in weltberühmten Museen 7

oder Galerien aus- oder in öffentlichen Anlagen aufgestellt 2 und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und für sie sichtbar waren. Sie, die nun einer noch breiteren Öffentlichkeit durch die Kunstkarten bekannt gemacht werden sollten und wurden, von anderen Darstellungen oder Abbildungen mehr oder minder unbekleideter Menschen abzugrenzen und sie damit vor der Brandmarkung als unzüchtig und sich selbst vor dem Vorwurf des Banausentums zu bewahren, war die Aufgabe, vor die sich die Rechtsprechung des ausgehenden 19. Jahrhunderts gestellt sah. Dieser Aufgabe entledigte sich die Rechtsprechung mit großem Geschick. Anknüpfend an idealistische Kunstvorstellungen 8 erklärte das Reichsgericht in seinem Urteil vom 6. 11. 1893: „Man ist allerwärts der Uberzeugung, daß die Kunst imstande ist, Gegenstände künstlerisch bis zu dem Grade zu durchgeistigen und zu verklären, daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird" 4 . In dieser oder einer leicht abgewandelten Form findet sich diese Begriffsbestimmung des Reichsgerichts auch in den Urteilen vom 13. 10. 1921 5 und 25 . 6. 1926 6 wieder. Danach ist also „Kunst" die künstlerische Durchgeistigung und Verklärung eines Gegenstandes bis zu dem Grade, daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird. „Kunst" muß somit die Kraft haben, „das Natürliche zu veredeln und auf das ästhetische Gefühl des Betrachters verklärend einzuwirken" 7 , indem „die Darbietung des Grobsinnlichen durch die vorherrschende Idee in den Hintergrund gedrängt wird" 8 . An dieser Bestimmung des Begriffs der „Kunst" haben Schrifttum und Rechtsprechung bis in die jüngere Zeit festgehalten. Noch in der 23. Auflage (1961) eines sehr viel benutzten Handkommentars zum StGB 9 wird sie ebenso vertreten wie in einem Urteil des BGH vom 23. 3. 1965 10 , wenn hier ausgeführt ist: „Die Strafkammer erkennt mit Recht an, der abgebildete Gegenstand oder Vorgang könne durch die Art und Weise der künstlerischen Darstellung weitgehend sublimiert wirken, so daß der abstrakte Symbolgehalt vorherrscht", und im Urteil BVerwG vom 12. 1. 1966 ( V C 111/61)11, wenn dieses ausführt: „Mit anderen Worten veredelt die künstlerische Gestaltung und Sinngebung im vorliegenden Falle die Schilderung der krassen und anstößigen Details, durchgeistig sie 8

und hebt sie über den geschlechtlichen Reiz hinaus" 12 . Diese Rechtsprechung findet ihre Unterstützung im Schrifttum 13 , so daß das Reichsgericht (prophetisch) durchaus sagen konnte, seine Bestimmung des Begriffs sei eine „allerwärts" gehegte Uberzeugung. Diesem weit verbreiteten Kunstbegriff steht ein anderer von nicht minder weiter Verbreitung gegenüber, der kurz und bündig im Schrifttum 14 als „Brockhaus-Definition" bezeichnet wird, weil er seinen Ausgang vom „Großen Brockhaus" 15 nimmt. Nach dieser Definition ist Kunst „die Gestaltung eines seelisch-geistigen Gehalts durch eine eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen". Dieser Begriffsbestimmung huldigen die Grundgesetzkommentatoren Mangoldt und Klein 16 und ihnen folgend Hamann 17 , aber auch Ulmer18 und Eckhardt 19 . Diesem Kunstbegriff hat sich aber auch Frankenberger 20 angeschlossen. Er freilich schränkt ihn sehr stark ein, indem er 3 Arten von „Kunst" nicht zur Kunst rechnet: zunächst die „schlechten"21 Werke der „modernen abstrakten Kunst", und zwar insbesondere die primitive Kunst 22 (etwa Gebilde aus Draht und Eisenresten), die „nie eine Kultur besaß", auf einer Stufe mit „der Kunst der Menschenaffen" stehe23 und als „Entartung" 24 der modernen Kunst anzusehen sei, sodann die Kunst, die sich in „genialen Geschmacklosigkeiten" 25 ergeht und endlich die Kunst, die „Bildgötzen der Neger und Südseeinsulaner" darstellt: „mit denen unsere europäische Rasse doch kaum Menschliches verbindet" und „die auf uns heutige Betrachter fratzenhaft und dämonisch wirken" 26 . In all diesen Fällen von „Entartungen" könne nicht von Kunst geredet werden, weil sie die herkömmlichen Mittel des ästhetischen Genusses, der Ergötzung und geistigen Erhebung in hohem Maße vermissen lasse, „keine edlen Wertbegriffe vermittle", nur „einem kleinen Kreise gleichgesinnter Phantasten und dem Snob vorbehalten sei", vom Volksempfinden wegen „fehlender Volksverbundenheit und mangelnder Gegenständlichkeit und naturhafter Könnerschaft" mit aller Entschiedenheit abgelehnt würde und daher bedeutungslos sei. In Krisenzeiten, wenn es gälte, „wucherndes Leben" wieder in die staatliche Ordnung einzufügen, könne der Staat der Kunst „in einem gewissen Rahmen bestimme Wege weisen und sie vor offenbaren Entgleisungen und Entartungen bewahren" 27 . Auf diese Ausführungen wird in anderem Zusammenhang einzugehen sein. Vorerst mag der Hinweis darauf genügen, daß 9

auch Frankenberger, wenngleich mit Einschränkungen, die Brockhaus-Definition übernommen hat. Sie ist auch in der Rechtsprechung gelegentlich verwendet worden, so in einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 18. 11. 195828, einem solchen des Verwaltungsgerichts Köln vom 18. 7. 1963 29 und schließlich einem solchen des Oberverwaltungsgerichts Koblenz vom 24. 3. 196630. Auch von der Brockhaus-Definition gilt daher, daß sie „allerwärts" die Überzeugung von Schrifttum und Rechtsprechung wiedergibt. Während es sich bei diesen Begriffsbestimmungen um solche aus dem Bereich des Verfassungs-, Verwaltungs- und Strafrechts handelt, entspringt der folgende, nicht minder weit verbreitete Begriff dem Urheberrecht 303 . Hier ist nach der an die Rechtsprechung des früheren Reichsgerichts anknüpfenden Rechtsprechung des BGH 3 1 unter einem Kunstwerk „eine eigenpersönliche geistige Schöpfung zu verstehen, die mit den Darlegungsmitteln der Kunst durch formgebundene Tätigkeit hervorgebracht und vorzugsweise für die Anregung des ästhetischen Gefühls durch Anschauung bestimmt ist". Danach ist für die Beantwortung der Frage, ob ein Werk als Kunstwerk im urheberrechtlichen Sinne zu qualifizieren ist, der Begriff der eigenpersönlichen Schöpfung maßgebend. In RGStr. 43, 329 hat das Reichsgericht hierfür den Begriff der „individuellen Schöpfung", in R G Z 71, 355 den Begriff der „individuellen Formgebung" und in RGZ 155, 199 den Begriff der „schöpferischen Leistung" gebraucht, ohne daß sich diese Begriffe von dem der eigenpersönlichen Geistesschöpfung unterscheiden. Diese Rechtsprechung des Reichsgerichts und des B G H wird von der der Instanzgerichte 32 und mit geringfügigen Abweidlungen vom Schrifttum geteilt. Auch sie kann daher eine erhebliche Breitenwirkung für sich in Anspruch nehmen und wie die beiden anderen Begriffsbestimmungen wesentliche Bausteine zur Bestimmung des Begriffs der Kunst liefern. Eine 4. Begriffsbestimmung endlich hat die Rechtsprechung des Reichs- und des Bundesfinanzhofs in Steuersachen (Einkommensund Umsatzsteuerrecht) entwickelt 33 . Schon bald nach seiner Errichtung mußte sich der Reichsfinanzhof in seiner Entscheidung vom 23. 12. 1922 34 mit dem Begriff der „Kunst"werke befassen: „Als Kunstwerke werden solche anzusehen sein, die offensichtlich ihrer selbst, nicht des Gebrauchszweckes wegen da sind, es sei denn, daß es sich um Gegenstände, die dem Gottesdienst geweiht sind oder sonst der Allgemeinheit zu dienen bestimmt sind, handelt. Gegenstände dagegen, bei

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denen der Gebrauchszweck überwiegt, oder die lediglich als Zier, sei es der Inneneinrichtung einer Wohnung, sei es einer Person, dienen sollen, werden als Originalwerke der Kunst, mögen sie auch künstlerisch hergestellt sein, nicht anzusprechen sein. D a ß diese Gesetzesauslegung nicht bedenkenfrei ist, verkennt der Senat nicht, er glaubt aber allgemein erkennbare Merkmale aufstellen zu müssen."

Diese Unsicherheit des Reichsfinanzhofes verlor sich, als er begann, seinen eigenen „Kunst"begriff zu erarbeiten. Dies geschah freilich erst 1939, wenn er ausführte: „Während der Handwerker sich in der Regel darauf beschränkt, das Erlernbare und Erlernte wiederzugeben, praktisch anzuwenden, muß beim Künstler etwas Persönliches, etwas Eigenschöpferisches hinzukommen, etwas das einer individuellen Gestaltungskraft entspringt" 3 5 . Danach gehört zum Wesen der „ K u n s t " nicht nur das handwerkliche Können, sondern „etwas Persönliches, Eigenschöpferisches, das der individuellen Gestaltungskraft des Künstlers entspringt". Ähnlich verlangte der Reichsfinanzhof auch 1943 für die Kunst „eine künstlerisch-schöpferische Tätigkeit" 3 6 und entschied 1944, daß die Wiederherstellung eines Kunstwerks nur dann selbst „ K u n s t " sei, wenn sie „in einem mit dem Gedanken des Schöpfers des Kunstwerks nachzufühlenden Gestalten oder Ergänzen verbunden ist" 3 7 , also in dem nachfühlenden Gestalten und Ergänzen eine eigenschöpferische, der individuellen Gestaltungskraft des Künstlers entspringende Leistung zeige. Der Bundesfinanzhof schloß sich dieser Rechtsprechung nicht, genauer: noch nicht, an. Er ließ zunächst in seinem Urteil vom 26. 5. 1955 3 8 die „Volksanschauung" darüber entscheiden, „ob der vom Künstler hergestellte Gegenstand ein Kunstwerk sei", eine Auffassung, auf die er nahezu 10 Jahre später wieder zurückkommen sollte. Doch suchte er auch Anknüpfungspunkte an die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofes zum Begriff der „ K u n s t " , das allerdings auf eine Weise, die den Eindruck erweckt, als weiche er von jener Rechtsprechung ab. Er führt nämlich in seinem Urteil vom 15. 11. 1956 3 9 u. a. aus: „Kunstwerke sind dazu bestimmt, durch Schönheit und Form auf das E m p finden der Menschen einzuwirken, z. B. Gemälde, Aquarelle, Plastiken, Bauwerke. D a s schließt nicht aus, daß v o m Auftraggeber oder Abnehmer mit dem Kunstwerk ein praktischer Zweck verfolgt wird, dem der Künstler bei seiner Gestaltung Rechnung trägt. So kann z. B. ein Bauwerk, das durch die Schönheit und Ausgeglichenheit seiner Formen ästhetisch wirken soll und wirkt, ein Kunstwerk sein, auch wenn es nicht, wie eine Kirche oder ein Theater einem ideellen, sondern praktischen Nutzzwecke dienen soll, wie z. B. ein Bürohaus, ein Amtsgebäude, ein K a u f h a u s oder unter Umständen

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sogar eine Fabrikanlage. Dasselbe gilt f ü r eine künstlerische Plastik oder ein Gemälde, auch wenn sie z. B. dazu bestimmt sind, als Modelle für eine gewerbsmäßige Anfertigung von Kopien bzw. Drucken zu dienen. Eine Plastik, ein Gemälde oder eine sonstige Schöpfung eines Künstlers verlieren nicht dadurch den Charakter eines Kunstwerks, daß sie dazu bestimmt sind, bei Gelegenheiten einer Schaufensterdekoration zur Wirkung zu kommen, wenn die Plastik, das Gemälde usw. für sich gesehen vom Künstler dazu bestimmt und geeignet sind, durch Form und Schönheit ästhetisch zu wirken. D a m i t ist jedoch nicht die frühere Rechtsprechung über das Wesen der K u n s t aufgegeben, sondern der bisherigen Begriffsbestimmung ein neuer Zug beigefügt. die Bestimmung und Eignung durch Form und Schönheit ästhetisch zu wirken."

Der Bundesfinanzhof verlangt also für die „Kunst" neben dem handwerklichen Können, das er später als „die hinreichende Beherrschung der Technik der betreffenden Kunstart" bezeichnen wird, eine eigenschöpferische, der individuellen Gestaltungskraft des Künstlers entspringende Leistung, die bestimmt und geeignet ist, durch Form und Schönheit ästhetisch zu wirken. Diesen Begriff der „Kunst" weitet der Bundesfinanzhof, wie schon in seinem Urteil vom 3. 11. 195540 angedeutet, wo „künstlerisch ausgereifte Schöpfungen" verlangt werden, in seinem Urteil vom 1 1 . 7 . i960 4 1 noch aus: „Entscheidend ist, ob der Schaffende schöpferische Leistungen vollbringt, d. h. Leistungen, in denen sich seine individuelle Anschauungsweise und Gestaltungskraft widerspiegeln und die neben einer hinreichenden Beherrschung der Technik der betreffenden Kunstart eine gewisse künstlerische Gestaltungshöhe erreichen"; wortwörtlich ebenso im Urteil vom 20. 6. 1962 42 . Neu hinzugekommen ist also, daß das Werk „eine gewisse künstlerische Gestaltungshöhe" erreichen muß, um „Kunst" zu sein. An diesem Erfordernis hält der Bundesfinanzhof bis 1963 fest. So verlangt er in dem Urteil vom 24. 10. 196343 eine „künstlerische Leistungshöhe". Das Schrifttum 44 bestreitet das und verlangt weitere Klärung: doch wozu? Denn schon einen einzigen Tag später gerät dieser recht fest gefügte „Kunst"begriff ins Wanken. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 25. 10. 196346 setzt Kunst „nach allgemeinem Sprachgebrauch eine Tätigkeit [voraus], die auf Grund einer persönlichen nicht erlernbaren Begabung Gegenstände oder Gestaltungen (nicht notwendigerweise körperlicher Art) hervorbringt. Der Zweck kann insofern bedeutsam werden, als bei einer eindeutigen Zweckbestimmung kein Raum ist für eine eigenschöpferische Tätigkeit." Danach verlangt „Kunst" nach 12

allgemeinem Sprachgebraudi die Hervorbringung von Gegenständen oder Gestaltungen (nicht notwendigerweise körperlicher Art) auf Grund einer persönlichen, nicht erlernbaren Begabung unter besonderer Berücksichtigung des Zweckes dieser Hervorbringung; ebenso wortwörtlich das Urteil vom 7. 11. 1963 46 . Doch die Hoffnung, wenigstens dieser „Kunst"begriff würde länger vorhalten, trügt. Denn sichtbar beginnt der ohnehin schon recht dünne „Kunst"begriff sich vollständig aufzulösen. Nach dem Urteil vom 17. 12. 196447 ist die Kunst das Ergebnis einer selbständigen eigenschöpferischen Arbeit, das „nach der Verkehrsauffassung dem Gebiet der Kunst zugerechnet werden kann". Was es mit dieser Verkehrsauffassung auf sich hat und daß die Berufung auf sie letztlich das Ende eines eigenen „Kunst"begriffs des Bundesfinanzhofes bedeutet, zeigt sein Urteil vom 19. 6. 1968' 8 : „Die Entwicklung der Kunst und ihrer einzelnen Richtungen verläuft in zunehmendem Maße unüberschaubar, und auch die Maßstäbe, an denen die künstlerischen Qualitäten einer Arbeit gemessen werden, verändern sich rasch. Nach Auffassung des Senats ist es daher selbst einem an der Kunst interessierten gebildeten Laien in der Regel nicht mehr möglich, mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit einer neueren Schöpfung die künstlerische Qualität zu- oder abzusprechen." Kann aber nicht einmal der kunstinteressierte gebildete Laie einer neueren Schöpfung die künstlerische Qualität zu- oder absprechen, wo bleibt dann die „Verkehrsauffassung"? Wo bleibt dann überhaupt noch der eigene „Kunst"begriff? Das Urteil vom 26. 9. 196849 zeigt, daß ihn der Bundesfinanzhof aufgegeben hat. Es bleibt abzuwarten, ob er gezwungen sein wird, hierin eine Änderung eintreten zu lassen. Wesentliche Bausteine zur Bestimmung des Begriffs der „Kunst" können daher nur die früheren Bemühungen des Reichs- und des Bundesfinanzhofes um einen eigenen „Kunst"begriff liefern. Anders als die höchsten deutschen Steuergerichte hat der österreichische Verwaltungsgerichtshof als oberstes Steuergericht dieses Landes an dem einmal entwickelten „Kunst"begriff stets festgehalten. Nach seiner ständigen Rechtsprechung, von der hier nur Ausschnitte erwähnt werden können, ist „Kunst" das Ergebnis persönlicher, eigenschöpferischer Tätigkeit in einem Kunstzweig, deren wichtigstes Kennzeichen darin besteht, daß sie nicht ausschließlich durch Erlernen bzw. Übung erworben werden kann, sondern eine künstlerische 13

Befähigung voraussetzt 5 0 , die das Erzeugnis über das Niveau einer erlernbaren Technik hinaushebt 51 . Damit stellt der österreichische Verwaltungsgerichtshof eine Reihe von Forderungen an das „ K u n s t " werk. Die erste ist die, daß es von einem Künstler, einem Menschen mit „künstlerischer Befähigung" stammt. „Eine solche Befähigung wird in der Regel dann anzunehmen sein, wenn jemand den ordentlichen Ausbildungsgang an einer künstlerischen Hochschule oder an einer verwandten künstlerischen Lehranstalt mit Erfolg durchschritten und auf diese Weise seine künstlerische Befähigung nachgewiesen hat" 5 2 . Von dieser Regel läßt die Rechtsprechung zwei Ausnahmen zu. Zunächst „soll keineswegs in Abrede gestellt werden, daß es auf dem Gebiet der Kunst auch Autodidakten gibt". Einer von ihnen gerade auf dem so oft den Gegenstand von Erkenntnissen bildenden Teilgebiet der Graphik war Alfred Kubin. Aber wie er, sollen nach der Rechtsprechung die Autodidakten eben doch die Ausnahme von der Regel der Erweisbarkeit „künstlerischer Befähigung" bilden. Denn was mit dem Verlangen nach künstlerischer Befähigung gefordert wird, ist im Grunde nichts anderes als ein Verlangen nach einem gewissen Maß von Vor- und Ausbildung, das ein gewisses Maß an fachlichem Können, an künstlerischer Technik in dem vom Künstler ausgeübten Kunstzweig gewährleistet. Die Forderung nach „künstlerischer Befähigung" darf daher als solche nach fachlichem Können, nach künstlerischer Technik in dem vom Künstler ausgeübten Kunstzweig verstanden werden. Diese künstlerische Befähigung nützt jedoch nach dieser Rechtsprechung dem Werke nichts, wenn es sich bei ihm um eine Leistung handelt, die im wesentlichen nicht auf künstlerischem, sondern auf handwerklichem Gebiet liegt 53 . Die Abgrenzung zum Nurhandwerklichen hin, wird darin gesehen, daß der Handwerker sich in der Regel darauf beschränke, das Erlernbare und Erlernte wiederzugeben und praktisch anzuwenden, während beim Künstler etwas Persönliches, Eigenschöpferisches hinzukommen müsse, etwas, das seiner individuellen Gestaltungskraft entspreche 54 . Die zweite Forderung, die der österreichische Verwaltungsgerichtshof an ein „Kunst"werk stellt, ist daher die, daß das Werk das Ergebnis einer persönlichen, eigenschöpferischen Tätigkeit seines Erzeugers sei 55 . Zur „künstlerischen Befähigung", also der Beherrschung der künstlerischen Technik in dem ausgeübten Kunstzweig, muß demgemäß eine eigentümliche, geistige 14

Schöpfung des Künstlers treten. Beide Voraussetzungen genügen aber noch nicht. Gefordert wird nämlich ferner, daß das Ergebnis künstlerischer Befähigung und persönlicher, eigenschöpferischer T ä tigkeit auf einer Stufe mit den Leistungen in einem umfassenden Kunstfach (z. B. Malerei, Bildhauerei, Architektur) steht 56 , und damit das Niveau einer erlernbaren und erlernten Technik überschreitet 57 . Damit aber fordert der österreichische Verwaltungsgerichtshof vom Werk des Künstlers einen gewissen Rang, damit es „Kunst"werk in steuerrechtlichem Sinne sei. In der Betonung dieser drei Forderungen ließ sich der österreichische Verwaltungsgerichtshof auch nicht dadurch beirren, daß immer wieder versucht wurde, ihn auf andere Gebiete zu locken, so etwa, wenn der Steuerverwaltung und Steuergerichtsbarkeit vorgeworfen wurde, daß offenbar nach ihrer Meinung „Kunst nur etwas sei, was von dem überwiegenden Teil derer, denen sie geboten werde, nicht verstanden werden könne, wie etwa die moderne Malerei und Musik". Der österreichische Verwaltungsgerichtshof ging 5 8 auf diesen Vorwurf überhaupt nicht ein. Seine solcherart streng festgehaltenen Forderungen nach eigentümlicher, eigenschöpferischer Gestaltung, fachlichem Können und gewissem Rang liefern damit wertvolle Bausteine zum „Kunst"begriff. D a s freilich kann von manch anderen Bemühungen dieser Art nicht behauptet werden. Sie sind durchweg auf einzelne rechts wissenschaftliche Schriftsteller oder Urteile beschränkt und jedenfalls bis jetzt ohne größeren Widerhall geblieben. D a s zwingt, will man den U m f a n g dieser Erörterungen nicht allzuweit ausdehnen, zunächst zur Zusammenfassung und Ausscheidung all der Begriffsbestimmungen, die im Grund keine sind, weil sie darauf hinauslaufen, daß „ K u n s t " gleich Kunst sei. Wenn etwa „ K u n s t " als „Kunstleben" bestimmt wird 5 9 , so ist damit für die Bestimmung des Begriffs der Kunst gar nichts gewonnen. Denn, fragt man entgegen, was ist Kunstleben? „Der gesamte gesellschaftliche, von der Kunst (im schöpferischen Sinne) her bestimmte und auf sie bezogene Lebensbereich" 60 , wird geantwortet und damit die Gegenfrage erzwungen: Was ist die „ K u n s t " , die den gesamten gesellschaftlichen Lebensbereich bestimmt und auf die sie bezogen ist? Die „ K u n s t " mit dem „Kunstleben" gleichzusetzen hilft also nichts. Das gleiche gilt von dem Versuch, eine Bestimmung des Begriffs der Kunst durch „irgendwelche gegenständliche Beschränkung" 6 1 , also 15

durch seine Einengung, zu erreichen. Eine solche Einengung ist es etwa, wenn „Kunst" nur sein soll, „ernstzunehmende Kunstwerke" 62 , „echte Kunst" 6 3 , „wertvolle Kunst" 6 4 , „reine Kunst" 6 5 , „wahre oder hohe Kunst" 6 6 . Nach dem Schrifttum 67 sei „ohne weiteres erkennbar, daß es sich bei den Prädikaten um inhaltsleere Wendungen handle, die mangels eines auch nur einigermaßen deutbaren Inhalts die ihnen zugedachte Abgrenzungsfunktion nicht übernehmen" könnten. Daß sie fast nie erläutert würden, beweise „nicht ihre Selbstverständlichkeit, sondern im Gegenteil ihre totale Mehrdeutigkeit" 68 . In dieser „totalen Mehrdeutigkeit" liegt jedoch ihre Gefährlichkeit69, die Gefährlichkeit nämlich, daß sie „Abgrenzungsfunktionen übernehmen können", deren Ergebnis dann doch recht überrascht. Wenn etwa von „reiner" Kunst gesprochen wird, dann kann das auch eine Kunst sein, die „reinen Kunstgenuß" 70 beschert, also einen Genuß, bei dem „die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird" (hierfür siehe oben). „Rein" ist daher nicht-sinnlich, nicht-unrein71, also sauber: saubere Leinwand? „Reine" Kunst kann also saubere Kunst im Sinne eines Kunstbegriffes sein, der „in dem Nackten vielleicht nur das schlechthin Gemeine erblickt" 71 . Damit wäre Kunst nur, was dem später zu erörternden kirchlich-klassischen Kunstbegriff entspricht. Das Prädikat „echt" kann nur allzu leicht den Beigeschmack von „echt-deutsch" annehmen und damit dem Tür und Tor öffnen, was später als der völkisch-klassische Kunstbegriff darzustellen sein wird. Und mit Hilfe des Prädikats „ernstzunehmend" kann das Verschiedenste die Alleinherrschaft an sich zu reißen suchen, nämlich der völkisch-klassische Kunstbegriff, aber auch der antiklassische Kunstbegriff, von dem später zu handeln sein wird. Und jeder dieser Kunstbegriffe kann sich auf irgendeines der Prädikate für seinen natürlich ausschließlichen Geltungsanspruch berufen. Darin liegt die Gefährlichkeit, aber auch die methodische Unbrauchbarkeit dieser Prädikate. Etwas anderes ist es schon mit den vielen Begriffsbestimmungen, in denen die Kunst gleichsam zur vorderen Tür hinausgeworfen und zur hinteren Tür wieder freundlichst hereingeleitet wird. Wenn die Kunst 72 als „die der Kunst zuzuredinenden Leistungen nicht bloß das Kunstwerk erfüllende, alles kunstwert-bezogene" oder73 als „das vom Kunstleben mitumfaßte und seinen Mittelpunkt bildende indivi16

duelle, auf Entfaltung schöpferischer Persönlichkeitskräfte gerichtete Schaffen und Publizieren" oder 74 als „Kunst im engeren schöpferischen Sinne" oder 75 als „echte höherwertige Kunst" oder 76 als „der künstlerische Schöpfungsvorgang" oder77 „jede schöpferische Tätigkeit, die der Kunst dient, einschließlich ihrer Ergebnisse" oder 78 jede „künstlerische Äußerung, sofern sie nicht im Dienst der politischen Meinungsäußerung steht", oder 79 „alle Betätigungen, die eine Affinität zur künstlerischen Idee haben" oder 80 „jedes in eine eigenwertige Form gebrachte Werk, sofern es erkennbar einem künstlerischen Gestaltungswillen seine Entstehung verdankt" und neuestens81 als „Inbegriff einer Fülle der unterschiedlichsten kunstbezogenen Verhaltungsweisen und Phänomene" angesehen wird, so wird in allen diesen Fällen in die Bestimmung des Begriffs „Kunst" der Begriff „Kunst" oder der Begriff „künstlerisch" hineingetragen. Davon aber abgesehen, enthalten diese Begriffsbestimmungen gelegentlich recht wertvolle Bausteine für die Bestimmung des Begriffs der Kunst, auf die noch zurückzukommen sein wird. Weitere Bausteine tragen gewisse ohne Nachfolge gebliebenen Begriffsbestimmungen bei, wie „die individuelle Gestaltung eines Gedankens von ernstem oder heiterem Inhalt, die eine gewisse objektiv zu bestimmende Schaffenshöhe aufweist" 64 , „die Objektivation des schöpferischen Menschengeistes, die sich als säkulare Lebensform aus dem allgemeinen Lebensbereich gelöst und als eigene Ausdrucksform konstituiert hat" 8 2 , „die Manifestation des schöpferischen Menschengeistes"83 oder „die unmittelbar anschauliche Gestaltung des Schönen" 84 oder die Tätigkeit des Künstlers, die darin besteht, „daß die jeweiligen Gehalte und Formen, die er als Stoff oder Vorwurf übernimmt oder durch seine Einbildungskraft hervorbringt, in ein Beziehungsgewebe gebracht wird, durch das die einzelnen Inhalte und Formen aus ihrer spezifisch historischen Begrenztheit und Einseitigkeit befreit werden und einen Bedeutungsreichtum entfalten, der nie zu Ende reflektiert werden kann, und repräsentative bzw. symbolische Bedeutung auch für andere Lebensformen, Zeiten und Vorstellungen aus sich zu entwickeln vermag" 85 oder endlich etwas kürzer und einfacher „nur gültig geformte Auseinandersetzung zwischen Künstler und Welt" 8 6 . Die nahe Verwandtschaft der Begriffsbestimmungen von Riedel 64 und Zinn-Stein 84 mit der Brockhaus-Definition ist ebensowenig zu verkennen, wie die grundsätz2 Leiss, Kunst im Konflikt

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liehe Verschiedenheit. In beiden Begriffsbestimmungen gehört zur Kunst die „Gestaltung" 87 , als welche „das individuelle, auf Entfaltung schöpferischer Persönlichkeitskräfte gerichtete Schaffen und Publizieren" angesehen werden soll 88 . Die Unterschiedlichkeit der Begriffsbestimmungen ergibt sich aus dem Gegenstand und zum Teil auch aus der Form der Gestaltung. Gegenstand der Gestaltung ist nach der Brodehaus-Definition 89 ein „seelisch-geistiger Gehalt" ohne Rücksicht auf seine Art 90 , im anderen Falle 84 „das Schöne", also ein ganz wesentlich engerer Gegenstand, so daß hier das im Augenblick (und wie schnell wechselt er!) Nicht-Schöne Nicht-Kunst ist91. Während jedoch hier nur eine „unmittelbar anschauliche" Gestaltung verlangt wird, erwartet die Brockhaus-Definition eine Gestaltung „durch eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen" 92 . Nichts endlich wird für die Bestimmung des Begriffs der Kunst gewonnen, wenn man sich erst gar nicht bemüht, diesem Begriff näher zu kommen, ja ihn sogar für unerheblich erklärt. Das ist etwa der Fall, wenn ein Gericht93 ausführt, Kunst liege dann, aber auch nur dann vor, „wenn man nach der im Leben herrschenden Anschauung von Kunst reden kann" oder wenn ein anderes Gericht erkennt, daß Kunst dann vorliege, wenn nach der Volksanschauung der vom Künstler hergestellte Gegenstand ein Kunstwerk ist38 oder wenn das Ergebnis selbständiger eigenschöpferischer Arbeit eines Künstlers nach der Verkehrsauffassung dem Gebiet der Kunst zugerechnet wird 47 oder wenn ein anderes Gericht11 nach Erörterung der Brockhaus-Definition und des oben erwähnten ungemein einläßlichen Gutachtens von Emrich dartut: „Es ist nicht ausschlaggebend, welche Begriffsbestimmung im einzelnen gewählt wird. Die Gestaltung eines geistig-seelischen Inhalts durch eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen ist ohne schöpferische Begabung nicht möglich und ergibt auch einen von einer spezifisch historischen Begrenztheit befreiten, unendlichen Bedeutungsreichtum. Mit jeder dieser austauschbaren oder ähnlichen Begriffsbestimmung . . . " Faßt man das bisherige Ergebnis dieser Untersuchungen zusammen, so stellt sich zunächst die Frage: Welchen Gegenstand, welches Thema oder Sujet muß nach Meinung von Schrifttum und Rechtsprechung ein Werk haben, damit es als „Kunst" angesprochen werden kann? Die weitaus überwiegende Meinung läßt jeden Gegenstand, jedes Thema oder Sujet zu (so die Rechtsprechung in Straf-, Steuer- und 18

Urheberrechtssachen, Schilling80). J a , das Reichsgericht ging in Strafsachen schon am 15. 5. 1914 so weit zu sagen: „Auch das Unsittliche und geschlechtlich Anstößige ist von künstlerischer Verwendbarkeit" 94 . Und noch am 25. 6. 1926 6 erklärt es zwar: „Wie das Reichsgericht in seiner Entscheidung vom 19. 6. 1922 6a D 366/22 bemerkt, kann der Künstler oder Dichter von anerkannter Bedeutung seiner Kunst schaden, indem er sie an anstößige Stoffe verwendet" 94 *, aber es fährt fort: „Fühlt sich der Dichter oder Künstler durch seinen Gestaltungsdrang oder durch eine von dem normalen Gefühl abweichende sinnliche Veranlagung getrieben, Werke solcher Art zu schaffen, so steht ihm das frei." Nach dieser Auffassung kommt es also für das Wesen der Kunst auf den dargestellten Gegenstand oder das behandelte Thema oder Sujet überhaupt nicht an. Demgegenüber verlangen einige andere Begriffsbestimmungen einen Gegenstand, ein Thema oder Sujet. Es ist ein „seelisch-geistiger Gehalt" (Brockhaus-Definition), vereinzelt der BFH 8 9 , uneingeschränkt oder mit erheblichen, „schlechte" Werke, „geniale Geschmacklosigkeiten" und exotische „Entartungen" ausschließenden (Frankenberger) 20 Einschränkungen, „Gedanken von ernstem oder heiterem Inhalt" (Riedel) 64 , „Gefühle und Emotionen" (Stein) 82 , schlechthin „das Schöne" (Zinn-Stein) 84 oder die „Auseinandersetzung zwischen Künstler und Welt" (Schwarz-Dreher) 88 . Zwischen all diesen Auffassungen scheinen Gemeinsamkeiten nicht zu bestehen. Und doch führt ihre Uberprüfung zu dem Ergebnis, daß es für all diese Bestimmungen des Begriffs der Kunst auf den Gegenstand, das Thema oder Sujet nicht ankommen kann. Wenn diese ein „seelisch-geistiger Gehalt" sein sollen, oder, was etwa das gleiche bedeuten dürfte, „Gedanken von ernstem oder heiterem Inhalt" (Riedel) 35 , dann könnten bei engster, ja engherzigster Auslegung dieser Begriffe etwa Landschaften, die es in der (diesseitigen) Wirklichkeit gibt, oder Stilleben oder, um ein besonders krasses Beispiel zu wählen, ein geschlachteter Ochse niemals Gegenstand eines Kunstwerkes sein. Gerade dieses krasse Beispiel zwingt aber zum Aufhorchen. Denn den geschlachteten Ochsen hat Rembrandt gemalt (Abb. 1). Und was seinen Besucher im Louvre „einhalten läßt, ist nicht der überzeugend gemalte oder ins Großartige gesteigerte Ochse, sondern die dumpfe Gegenwart eines Weltganzen und das Gefühl, daß solches Abbild nur ein Mittel bedeutet, diesem Ganzen zum Ausdruck zu verhelfen — gleich als ob eine eindringliche Symphonie der Gestaltung kör19

A b b . 1.

R e m b r a n d t , D e r geschlachtete Ochse

perlicher Formen ihre Niederschrift schließlich in diesem blutenden Odisen gefunden habe" 95 . Ein anderer, auch ein Franzose 96 , sieht Rembrandts geschlachteten Ochsen wieder anders: „Der geschlachtete Ochse muß als wertvolle und ergreifende Meditation über den Tod 20

angesehen werden" 97 . Und „daß die Darstellung lebloser Gegenstände sogar Aspekte des Innenlebens vermitteln kann, wird aus der Deutung ersichtlich, die van Gogh seinem berühmten Bild «Das Café in Arles» gegeben hat: Ich versuchte auszudrücken, daß das Café ein Ort ist, wo man verrückt werden und Verbrechen begehen kann. Ich versuchte es durch den Gegensatz vom zarten Rosa, blutroter und dunkelroter Weinfarbe, durch ein süßes Grün und Veronese-Grün, das mit Gelbgrün und hartem Blau kontrastiert. Dies alles drückt eine Atmosphäre von glühender Unterwelt aus. Ein ewiges Leiden, wie Finsternis, die über das Schaffende Gewalt hat" 9 8 . „Seelisch-geistiger Gehalt" und „Gedanken von ernstem oder heiterem Inhalt" schließen daher jeden Gegenstand, jedes Thema und Sujet ein. Nichts anderes dürfte wohl auch für die „Gefühle und Emotionen" (Stein) 82 gelten. Schwierigkeiten bereiten nur die Auffassungen, die den Gegenstand der Kunst besonders scharf einengen: „Das Schöne" (Zinn-Stein) 84 und „die Auseinandersetzung zwischen Künstler und Welt" (Schwarz-Dreher) 86 . Denn daß der oben erwähnte geschlachtete Ochse Rembrandts nicht schön und doch ein machtvolles Kunstwerk ist, dürfte ebenso unzweifelhaft sein, wie die Tatsache, daß sich in dem Bild Rembrandt mit der „Welt" auseinandersetzt. Ebensowenig dürfte es einem Zweifel unterliegen, jedenfalls nicht für den, der das Glück hatte, die einschlägige Ausstellung in San Marco in Florenz zu sehen, daß Fra Angélicos Werk von über-irdischer Schönheit und daher keine Auseinandersetzung des Künstlers mit „der Welt" ist. Lassen wir daher diese sehr engen Auffassungen bei den Bemühungen um die Erarbeitung eines gemeinsamen Kunstbegriffes außer Betracht und halten wir fest, daß der Gegenstand, das Thema oder Sujet für das Wesen der „Kunst" ohne Bedeutung ist! Dagegen verlangen die meisten Begriffsbestimmungen eine Tätigkeit des Künstlers an dem Gegenstand. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen mit ihren Nachfolgern ist der Gegenstand zu „durchgeistigen und zu verklären". Die Brockhaus-Definition fordert „Gestaltung durch eine eigen wertige Form nach bestimmten Gesetzen", Schrifttum und Rechtsprechung des Urheberrechts eine Hervorbringung „mit den Darlegungsmitteln der Kunst durch (individuelle) formgebundene Tätigkeit". Im übrigen findet man im Schrifttum die Bringung „in eine eigenwertige Form" (Schil21

ling) 80 , „individuelle Gestaltung" (Riedel) 64 , „unmittelbar anschauliche Gestaltung" (Zinn-Stein) 84 und „gültige Formung" (SchwarzDreher) 86 . Daraus ergeben sich 2 Gruppen von Anschauungen: die eine (Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen mit Nachfolgern) will Durchgeistung und Verklärung, also eine ganz bestimmte eng umrissene Tätigkeit. Die andere dagegen ist weiter: Ihr ist jede eigenwertige (so wohl die Brockhaus-Definition), „individuelle" (Riedel) oder „unmittelbar anschauliche Gestaltung" (Zinn-Stein) oder jede „eigenwertige Form" (Brockhaus-Definition, Schilling), „individuelle formgebundene Tätigkeit" (Rechtsprechung und Schrifttum im Urheberrecht) jede persönliche, eigenschöpferische Tätigkeit" (ÖVGH) oder „gültige Form" (Schwarz-Dreher) gerade recht. Formung und Gestaltung dürfen jedenfalls in diesem Zusammenhang wohl gleichgesetzt werden. Was aber ist „Gestaltung"? Nirgends wird für sie oder für die Formung eine Begriffsbestimmung geboten. Ist es „eine schöpferische Tätigkeit" (Potrykus) 65 oder „die künstlerische Betätigung als solche" (Stümmer) 92 ? Mit beiden Begriffen kommt man nicht weiter. Man wird daher fragen müssen, ob nicht der Begriff der „Gestaltung" dem des bürgerlichen Rechts („Gestaltungs"recht, „Gestaltungs"geschäfte, „Gestaltungs"urteile)99 wesensverwandt ist und diese Frage bejahen. „Gestaltung" ist hier die durch Willenserklärung oder Handlung erfolgende Einwirkung auf eine bestehende Lage, ihre Begründung, Veränderung oder Aufhebung 100 . Anders ausgedrückt: „Gestaltung" ist die Verleihung einer mit den Sinnen wahrnehmbaren Gestalt an etwas, was bis dahin keine oder eine andere mit den Sinnen wahrnehmbare Gestalt hatte, „Formung" demgemäß die Verleihung einer mit den Sinnen wahrnehmbaren Form (nach B F H „nicht notwendigerweise körperlicher Art") 4 3 , 4 6 an etwas, was bis dahin keine oder eine andere mit den Sinnen wahrnehmbare Form hatte 101 . Daß diese Verleihung einer Gestalt oder Form „mit den Darlegungsmitteln der Kunst" (Rechtsprechung in Urheberrechtssachen) oder, was gleichbedeutend sein dürfte, „nach bestimmten Gesetzen" (BrockhausDefinition) oder mit „einer hinreichenden Beherrschung der Technik der betreffenden Kunstart" (so der Bundesfinanzhof; ähnlich, wenn er „künstlerische Befähigung" verlangt, die grundsätzlich nur durch Zeugnisse über den Besuch einschlägiger höherer Schulen nachgewiesen werden kann, der österreichische Verwaltungsgerichtshof), 22

zu erfolgen hat, ist eine ebensolche Selbstverständlichkeit wie die, daß die Verleihung von Gestalt oder Form „eigenwertig" (BrodkhausDefinition, Schilling)80 oder individuell (Rechtsprechung in Urheberrechtssachen, Riedel) 64 oder „gültig" (Schwarz-Dreher) 86 , also „einer eigenen schöpferischen Tätigkeit" (Potrykus 65 , Ö V G H ) des Künstlers entsprungen sein muß (so der Reichs- und der Bundesfinanzhof) 102 . Gestaltung oder Formung ist daher die aus eigener, schöpferischer Tätigkeit mit den Darlegungsmitteln der Kunst erfolgende Verleihung einer mit den Sinnen wahrnehmbaren Gestalt oder Form. Das läßt sofort erkennen, daß die von der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen mit Nachfolgern geforderte Durchgeistigung und Verklärung des Gegenstandes nur eine Unterart der Gestaltung oder Formung ist. Dem Gegenstand soll hiernach nicht irgendeine Gestalt oder Form, sondern eine durchgeistigte oder verklärte Gestalt oder Form verliehen werden, und zwar eben jene, die „für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückdrängt". Fehlt es hieran, ist es also dem Künstler des Bildes oder Wortes nicht gelungen, den zum Vorwurf genommenen Lebenssachverhalt so zu verdichten, liegt nach einer im Schrifttum allerdings als komisch bezeichneten Rechtsprechung ein Kunstwerk nicht vor 103 . Hierauf wird etwas später zurückzukommen sein. Die eben behandelte Gestaltung oder Formung genügt jedoch nach einer sehr weit verbreiteten Meinung nicht. Sie muß, um das Kunstwerk vom Handwerk abzugrenzen, „eigenschöpferisch" sein. Das wurde und wird von der ständigen Rechtsprechung in Urheberrechtsund Steuersachen in Deutschland und Österreich und von nicht wenigen Schriftstellern 103 *, jedoch nicht unwidersprochen 104 verlangt, weil das „Eigenschöpferische" die „Bezeichnung für einen inneren Minimalbezug zwischen Schöpfer und Werk [sei], der sich aus der Geschichte, nach dem Menschenbild der Verfassung, zur Verhinderung einer uferlosen Begriffsausweitung und wohl auch nach der herrschenden Lebensanschauung als notwendige Voraussetzung für die Anerkennung als Kunst erweist" 105 . Damit aber hängt sehr eng die Frage zusammen, ob dem Begriff der „Kunst" in diesem Sinne auch ein Werturteil innewohnt, ob also „Kunst" nur Erzeugnisse von gewissem Wert erfaßt. Denn eigenschöpferisch geformt oder gestaltet sind doch wohl nur Erzeugnisse 23

von gewissem Rang. Diese Aufführung wird in der Tat in weitem Umfange vertreten. Schon die ältere Rechtsprechung des Reichsgerichts106 hat Ansätze in dieser Richtung unternommen. Die urheberrechtliche Rechtsprechung und Lehre bedient sich ihrer zur Unterscheidung zwischen Kunstgewerbe und Gewerbe107. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs 40 legte sich nach tastenden Versuchen im Jahre 1955 zwischen 1960—1963 auf eine „gewisse künstlerische Gestaltungshöhe" oder eine „künstlerische Leistungshöhe" fest und die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts scheint sich ihr anzuschließen. Es hat, wie oben erwähnt, ausgeführt, daß mit der Brockhaus-Definition oder jeder ähnlichen Begriffsbestimmung „eine untere Grenze festgelegt und die unterhalb ihrer liegende anspruchslose Unterhaltungsliteratur ausgeschieden" werde11, und erklärt nun in seinem jüngsten Urteil vom 15. 11. 1967108, der eben genannte Ausdruck „anspruchslose Unterhaltungsliteratur" dürfe „nicht zu eng" ausgelegt werden. Die Begriffe „anspruchslose Unterhaltungsliteratur" und „Unterhaltungsliteratur" sind annähernd synonym. Die anspruchslose Unterhaltungsliteratur umfaßt nicht nur die sogenannte Trivialliteratur, sondern auch den größten Teil der sogenannten gehobenen Unterhaltungsliteratur, bezieht also nur den Teil der Unterhaltungsliteratur nicht ein, in dem das künstlerische Bemühen des Verfassers immerhin einen erkennbaren Niederschlag gefunden hat. Das Gericht verlangt also einen gewissen künstlerischen Rang (ebenso ständig der ÖVGH). „Das ist dasselbe, wie wenn von Hartlieb unter den Kunstgriff nur echte Kunst bringen will" 63 , soll aber etwas anderes sein, „als wenn verlangt wird, daß die Kunstwerke hochwertig sein müßten 11 , während es in der Tat nur graduelle Unterschiede sind. „Ernstzunehmende" (Becker-Seidel)62, „echte höherwertige Kunst" (Kraus) 63 , „wertvolle Kunst, die eine gewisse objektiv zu bestimmende Schaffenshöhe aufweist" (Riedel)64 verlangt auch ein Teil des Schrifttums 109 . Eine besondere Note bringt schließlich die (deutsche) Bundesprüfstelle in die Fragestellung, wenn sie offenbar als Zeichen für den künstlerischen Rang eines Kunstwerkes verlangt, daß die Fachpresse das Werk als Kunstwerk gewürdigt habe 110 . Demgegenüber verzichtet ein anderer Teil von Rechtsprechung und Schrifttum ausdrücklich auf einen künstlerischen Rang des Kunstwerks. So erklären mittelbar das LG Hamburg 111 und unmittelbar das OLG Düsseldorf 112 , das Oberverwaltungsgericht Koblenz 30 und neuestens auch 24

das O L G Stuttgart 113 , auf den künstlerischen Rang eines Werkes oder gar seine allgemeine Anerkennung komme es nicht an: „Ob der künstlerische Wert größer oder geringer ist, kann für die Frage, ob das Werk ein Erzeugnis der Kunst, ein Kunstwerk ist, nicht entscheidend sein." Im Schrifttum rechnete schon Beling 59 alles „Kunstwertbezogene" zur „Kunst", und zwar auch dann, wenn es „im Sinne einer materiellen Ästhetik als wertlos oder minderwertig ausscheiden müßte". Aber auch sonst wird die Schaffenshöhe 114 und der Grad der Vollendung oder künstlerische Rang 8 0 als bedeutungslos erklärt. Damit zeichnen sich hier deutlich zwei Richtungen ab. Die eine, die den künstlerischen Rang für wesentlich, die andere, die ihn für unwesentlich hält. Eine zweite Teilung ergibt sich schließlich auch, wenn man untersucht, ob von der Kunst eine Zweckbestimmung, eine Zielrichtung verlangt wird. Den Anhängern der Brockhaus-Definition ist eine solche fremd. In der jüngsten (nicht urheberrechtlichen) Rechtsprechung wird sie nicht gefordert. Völlig vereinzelt verlangte das BVerwG einmal, daß der Eindruck vermittelt werden müsse, „daß etwas nicht Alltägliches oder eine [architektonische] Anlage mit Symbolgehalt geschaffen worden sei" 1 1 5 . Nach ständiger urheberrechtlicher Rechtsprechung107 dagegen muß die Kunst „vorzugsweise für die Anregung des ästhetischen Gefühls bestimmt" sein, nach einer zeitweisen deutschen steuerrechtlichen Rechtsprechung „durch Form und Schönheit auf das Empfinden der Menschen einwirken" oder „durch die Schönheit und Ausgeglichenheit der Formen ästhetisch wirken". Im Schrifttum wird eine Zweckbestimmung, eine Zielrichtung nur ausnahmsweise gefordert, so etwa wenn (nach Stein) 82 Kunst von dem Zweck getragen sein muß, „im Kunsterlebnis ähnliche oder gleiche Emotionen bei anderen Menschen zu erwecken" oder ähnlich, wenn sie (nach Stümmer) 92 „zur Erhellung und Erhöhung des Daseins beiträgt". Damit sind wir aber schon ganz nahe an der strafrechtlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts mit seiner Durchgeistigung und Verklärung. Unter „Verklärung" versteht diese Rechtsprechung nämlich u. a. „die Kraft, auf das ästhetische Gefühl des Betrachters verklärend einzuwirken" 7 . Gemeinsam ist also allen vier Begriffsbestimmungen, daß durch das Kunstwerk das (ästhetische) Gefühl des Betrachters angesprochen werden muß, sei es allgemein (Stein 82 , urheberrechtliche Rechtsprechung), sei es im Sinne einer Erhellung und Erhöhung, ja Verklärung des Da25

seins (Stümmer 92 , strafrechtliche Reditsprechung des Reichsgerichts). Während also, wie sich zusammenfassend sagen läßt, in der Frage der Bedeutungslosigkeit des Gegenstandes und über das Erfordernis eigenschöpferischer Gestaltung und Formung weitgehendst Einigkeit herrscht, gehen hinsichtlich der Bedeutung des künstlerischen Ranges und hinsichtlich der Wesentlichkeit einer Zielrichtung die Meinungen weit auseinander. Die äußerste Meinung der einen Gruppe fordert einen wenigstens gewissen künstlerischen Rang und eine auf Anregung des (ästhetischen Gefühls des) Betrachters gehende Zielrichtung; die äußerste Meinung der anderen Gruppe dagegen erklärt beides für völlig unwesentlich. Dazwischen sind die übrigen Meinungen in allen Schattierungen angesiedelt. Damit sind, selbstverständlich nicht ohne mitunter erhebliche Vereinfachungen 115 *, ja fast schon Vergewaltigungen, die Fronten abgesteckt. Ihre Bildung ist noch nicht alt. So recht eigentlich ist sie erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Vorher war die durch die straf- und urheberrechtliche Rechtsprechung des Reichsgerichts bestimmte Auffassung so vorherrschend, daß ihr gegenüber die andere Auffassung mit ihren zwei wichtigsten Vertretern Beling 59 (1924) und Kitzinger 59 (1930) schlechthin bedeutungslos war. Die vorherrschende Auffassung gilt es daher auf ihr Wesen hin genauer zu untersuchen. Zum Wesen dieser Auffassung gehört, wie erwähnt, daß der Gegenstand der „Kunst", ihr Thema oder Sujet gleichgültig ist, aber auch daß dieser nach Art und Gattung gleichgültige Gegenstand gestaltet oder geformt sein muß. Diese Gestaltung oder Formung ist nach dieser Auffassung verschieden, je nachdem dieser Gegenstand ein Gedanke religiösen, mythologischen oder geschichtlichen Inhalts oder ein (Eigen- oder Fremd-)Bildnis (allein oder in Gruppe) oder „die Natur" ist, also die übrige mit den Sinnen wahrnehmbare Welt. Dieser „Natur", ihren belebten und unbelebten Erscheinungsformen und Vorgängen, so wie sie sind, Gestalt oder Form zu verleihen, lehnt diese Auffassung ab. Die „Natur", so wie sie ist, kann nicht Gegenstand, Thema oder Sujet der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung sein. Um das sein zu können, muß sie vorbearbeitet werden. Die Rechtsprechung nennt das so schön „veredeln" 7 oder „durchgeistigen" 116 oder zusammenfassend „veredeln, durchgeistigen und verklären" 5 , während das (nicht allein juristische) Schrifttum je nach Einstellung von „erheben, adeln im Geiste des Künstlers" 117 , „vergeisti-

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gen"118 oder „verklären" 119 redet. Irgendeiner dieser Behandlungen, auf die im einzelnen noch einzugehen sein wird, muß die „Natur" unterworfen werden, ehe sie überhaupt Gegenstand, Thema oder Sujet der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung werden kann. Es gibt jedoch Vorgänge in dieser „Natur", die „wohl niemals vom Künstler so durchgeistigt und verklärt werden können, daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird" 6 , die also niemals Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung werden können. Das sind keineswegs grausame Folterungen, entsetzliche Marterungen, furchtbare oder abstoßende Hinrichtungen. Die geringste Verklärung dieser Vorgänge (etwa im religiösen oder vaterländischen Sinne) genügt, um diese zu Gegenständen der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung werden zu lassen. In der Tat ist an Darstellungen solcher Art in Wort und Bild noch nie ein Mangel gewesen. Die Vorgänge in der „Natur", die hier gemeint sind, sind weder grausam oder entsetzlich noch furchtbar oder abstoßend. Es ist der Geschlechtsverkehr. „Seine naturgetreue oder gar übertreibende Darstellung in Stellungen derart, daß geflissentlich die Geschlechtsteile gezeigt werden, und namentlich solche Darstellungen der widernatürlichen Unzucht können wohl niemals vom Künstler so durchgeistigt und verklärt werden, daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird" 6 . Für den nackten Menschen an sich gilt das jedoch nicht. Er kann Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung sein, aber auch nur, wenn er „veredelt, durchgeistigt oder verklärt" wird, wenn also sein Bild so ist, „daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird" 7 . Das ist das Bild des nackten Menschen dann, wenn er ein Idealbild aus Stein ist120. Jede auch noch so geringfügige Änderung dieses Idealbildes aus Stein macht den nackten Menschen schon ungeeignet, Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung zu sein. Denn wohl darf dieses Idealbild aus Stein Geschlechtsmerkmale zeigen121, es genügt aber schon die Weglassung oder Entfernung der Schamhaare122 oder die anormale zu Größe und Zweck des Bildes in auffälligem Mißverhältnis stehende Darstellung der Geschlechtsteile, der Brüste und des Gesäßes123, überhaupt alle Umstände, die „dasjenige, was zunächst nur die natürliche Erschei27

nung des natürlichen Menschen ist, zu einer unsittlichen oder schamlosen Erscheinung umzuwandeln" 124 , wie etwa Beibehaltung verhüllender Kleidungsstücke zur Reizung der Sinnlichkeit 125 , reihenweise Abbildung in verschiedenen Stellungen 126 , die betonte Bereitwilligkeit zu geschlechtlicher Hingabe im Gesichtsausdruck 127 , ja die Stellung mehrerer nackter Körper vor einen entsprechenden Hintergrund, etwa einen Bullen 128 . Und erst das Auftreten nackter Menschen in einer breiteren Öffentlichkeit, etwa auf der Bühne in der früher so beliebten Form der lebenden Bilder oder bei Tänzen! Hier hat das Reichsgericht schon am 4. 1. 1908 129 erklärt: „Wird der an sich nicht schamverletzende und nicht unzüchtige nackte Körper der Allgemeinheit zur Schau gestellt, so verstößt das jedenfalls dann, wenn es sich um Personen von vorgeschrittener geschlechtlicher Entwicklung handelt, gegen die allgemein anerkannten Gesetze von Scham und Sitte; die Erscheinung in der Öffentlichkeit ist geeignet, das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung zu verletzen und erlangt daher die Eigenschaft des Unzüchtigen. Beim öffentlichen Zurschaustellen des unverhüllten menschlichen Körpers wird durch die damit verbundene Enthüllung der geschlechtlichen Teile und Körperformen deshalb, weil Zucht und Sitte deren Verhüllung im allgemeinen Verkehr vorzugsweise erheischen, der Eindruck erweckt, daß gerade sie, die als geschlechtliche Unterscheidungsmerkmale am nackten Körper ohnehin besonders auffallen müssen, in erster Linie den Blicken beliebiger Beschauer, namentlich auch solchen des anderen Geschlechts, preisgegeben werden sollen." Nackte Menschen dürfen daher nach dieser Rechtsprechung an sich nicht auf der Bühne gezeigt werden. Bei lebenden Bildern erfährt dieses Verbot dann eine Einschränkung, wenn „der Beschauer den Eindruck empfängt, er habe die Reproduktion des Kunstwerks vor Augen", so daß „gegenüber der Erregung eines reinen und edlen Gefühls, des Gefühls künstlerischer Befriedigung die gemeine Sinnlichkeit zurücktritt" 1 3 0 , wenn sich die nackten Menschen also nicht bewegen und so „verstehen, durch Ruhe der Körperhaltung und des Gesichtsausdruckes das Wachwerden eines geschlechtlichen Reizes zurückzudrängen" 1 3 1 , eben Idealbildern aus Stein angenähert sind. N u r so, mindestens gleichsam als Idealbild aus Stein, kann „die natürliche Erscheinung des natürlichen Menschen", der nackte Mensch, Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung sein. Alles andere kann nicht beanspruchen, als „Kunst" im Sinne dieser Auffassung angesehen zu werden. Es sind in der Sprache der Polizei 132 und des älteren Schrifttums 133 „Nuditäten". Beredte Zeugnisse dieser Kunstauffassung sind gewisse andernorts 134 behandelte Maßnahmen 1 3 5 und die ihr voll28

kommen entsprechenden Nacktdarstellungen von Malern des „Dritten Reiches", etwa des berüchtigten Ziegler 136 und anderer, die auch heute noch des uneingeschränkten Beifalls weiter Kreise gewiß sein können 137 . Halten wir also fest, daß diese „Kunst"auffassung in ihrem tiefsten Grund zur „Natur" eine ablehnende, ja zu einem Ausschnitte dieser „Natur", dem nackten Menschen, eine geradezu feindselige Einstellung hat: die „Natur" kann nur „veredelt, vergeistigt oder verklärt", der nackte Mensch nur in besonderen Ausnahmefällen Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung sein. Ist der Gegenstand nicht „die Natur", sondern ein Gedanke religiösen, mythologischen, geschichtlichen Inhalts oder ein Bildnis, dann gilt grundsätzlich nichts anderes. Auch der Gedanke oder das Bild muß „veredelt, durchgeistigt und verklärt" sein, damit sie Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung sein können. „Religiös" ist ein Gedanke in unserer abendländischen Welt grundsätzlich nur, wenn er christlich ist 138 . Der christliche Gedanke muß also veredelt, durchgeistigt oder verklärt sein, um Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung sein zu können. Was darunter zu verstehen ist, sagt besonders deutlich das Reichsgericht in der bekannten Entscheidung gegen George Grosz 139 , wenn es ausführt, daß diese Veredelung, Durchgeistigung und Verklärung eines christlichen Gedankens fehle, wenn bei „seiner bildlichen Darstellung die den Gegenstand der Verehrung bildende Gestalt in einer schimpflichen Tätigkeit oder so abgebildet wird, daß eine in der religiösen Kunst unübliche Darstellung durch Abänderungen einen das religiöse Gefühl abstoßenden Inhalt erhält". Veredelung, Durchgeistigung und Verklärung eines christlichen Gedankens ist also seine Abbildung in einer der Verehrung entsprechenden Art und Weise, insbesondere in einer „in der religiösen Kunst üblichen Darstellung". Nur dann ist der religiöse Gedanke Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung 140 . Erwägungen solcher Art entfallen natürlich bei den früher weit verbreiteten Gedanken mythologischen Inhalts. Anders dagegen ist es schon bei solchen geschichtlichen Inhalts. Denn nur allzu leicht wird, wie die Erfahrung lehrt, die Geschichte selbst Bestandteil, insbesondere Rechtfertigung einer Religion oder einer sich als solche ausgebenden oder aufspielenden Weltanschauung, mag sie nun Nationalismus, Nationalsozialismus, Faschismus oder Kommunismus heißen. Für sie gilt daher das über den Gedanken religiösen Inhalts Ausgeführte, jedoch mit

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der Maßgabe, daß an die Stelle der „in der religiösen Kunst üblichen Darstellung" die von der Weltanschauung gewünschte, geforderte oder gar erzwungene Darstellung tritt. Nur der von der Weltanschauung veredelte, durchgeistigte und verklärte Gedanke kann Gegenstand der „Kunst" im Sinne dieser Auffassung sein. Was endlich die Selbstund Fremdbildnisse anlangt, so müssen sie, zumal wenn sie seit jüngerer Zeit den Wettstreit mit der Lichtbildnerei bestehen wollen, ohnehin ein Mindestmaß von Veredelung, Durchgeistigung und Verklärung aufweisen, das zumeist der Person des Dargestellten und der Zu- oder Abneigung, die ihr entgegengebracht wird oder werden muß, und nicht zuletzt dem vereinbarten oder doch erwarteten Honorar entspricht. Was aber, so fragen wir nun, wenn der Gegenstand, das Thema oder Sujet weder ein mehr oder minder bekannter oder vertrauter Gedanken noch „die Natur", also mit dem bloßen Verstand nur schwer oder überhaupt nicht zu erfassen ist? Der mit dem Verstand überhaupt nicht zu erfassende, also unverständliche Gegenstand ist ungeeignet, „Kunst" zu werden, entschied schon 1914 141 bezüglich eines expressionistischen und 1926 142 bezüglich eines offenbar ähnlichen Gedichtes die Rechtsprechung. Wenige Jahre später wußte man es dann ganz genau. 1933 konnte man aus der Feder eines Waldemar Wünsche in der „Deutschen Kulturwacht" lesen: „Wenn gewisse Künstlerkreise glauben, sie hätten die Zukunft für sich, weil ihre Kunst dem größten Teil des Volkes als krankhaft oder unsinnig erscheint, so irren sie sich. Wenn sie nicht verstanden werden, so ist der Grund dafür nicht Engstirnigkeit, Reaktion, Mangel an wahrem Kunstverständnis, sondern das gesunde Lebensgefühl, das sich gegen alles wehrt, was das Leben der Nation zu vernichten droht" 143 . Im selben Jahre 1933 erklärte Hitler, die Künstler, die ihre einzige Lebensaufgabe darin sähen, „eine möglichst wirre und unverständliche Darstellung hinzustellen", bezeugten durch ihre „bewußten Verrücktheiten" nicht nur „künstlerisches Versagen", sondern auch moralischen Defekt. „Entweder waren die Ausgeburten ihrer damaligen Produkte ein wirklich inneres Erleben, dann gehören sie als Gefahr für den gesunden Sinn unseres Volkes in ärztliche Verwahrung, oder es war dies nur eine Spekulation, dann gehören sie wegen Betrugs in eine dafür geeignete Anstalt" 1 4 4 . Im selben Sinne erklärte er 1937: „Kunstwerke, die an sich nicht verstanden werden können, sondern als Daseinsberechti30

gung erst eine schwülstige Gebrauchsanweisung dazu benötigen, um endlich jenen Verschüchterten zu finden, der einen so dummen und frechen Unsinn geduldig aufnimmt, werden von jetzt ab den Weg zum deutschen Volke nicht mehr finden" 145 . 13 Jahre später, 1950, konnte man aus anderem Munde, wenn auch nicht in diesem rüden Tone das gleiche vernehmen: „Wenn [ein Kunstwerk] erst mit Worten erklärt werden muß, verliert es seinen Bedeutungswert und dient nur mehr dazu, den Sinnen ein lediglich physisches Wohlgefallen oder dem Geist den Genuß eines spitzfindigen, eitlen Spieles zu verschaffen" 146 . Der dies sagte, war nicht etwa ein gepflegter Nachfahre nationalsozialistischer Auffassung von der „Kunst". Es war Papst Pius XII. Nach seiner, der kirchlichen Auffassung von der „Kunst" war ebenso wie nach der nationalsozialistischen Auffassung von der „Kunst" das zum Verständnis der Erklärung Bedürftige, das Unverständliche ungeeignet, Gegenstand der „Kunst" zu sein. Daß sich hieran in weiten Kreisen des Volkes und einem gewissen Schrifttum nichts geändert hat und diese Auffassung selbst bei rechtswissenschaftlichen Schriftstellern immer noch Rüdshalt findet, „das wird hier nicht beklagt, sondern konstatiert". Musterbeispiele sind Frankenbergers Auslassungen darüber, „welche Bedeutung die moderne abstrakte Kunst für den Staat" habe 147 , zumal er mit bemerkenswertem Sachverständnis auch den Expressionismus und „Werke von Martin Buber und Reinhold Schneider" darunter zählt 148 . Aber auch Knies149 ist nicht von ihr frei, wenn er der gegenwärtigen Kunst „Schwerverständlichkeit", „das Fehlen prinzipieller Neuerungen" und „konfliktsfähiger Inhalte" nachsagt, dabei allerdings nicht einmal dann recht behaltend, wenn „gegenwärtige Kunst" nur die, wie er selbst zutreffend meint 150 , höchst ungenau sogenannte abstrakte Kunst wäre. „Kunst" sind eben nach dieser Auffassung nur die „althergebrachten von der Mehrheit der Menschen unseres Landes anerkannten künstlerischen Werke, die — vermöge ihrer Form und Ausgestaltung — sich jedem interessierten Betrachter leicht erschließen" 151 , also leicht verständlich sind. Eng hängt damit die Frage zusammen, die mit den Worten „gegenwärtig" und „althergebracht" angetippt ist, die Frage nämlich, ob das Alter für sich allein in der Lage ist, aus einem Werke, das nicht als „Kunst" im Rechtssinn betrachtet werden kann, ein Werk zu machen, das „Kunst" im Rechtssinn ist. Der Historizismus des ausgehenden 31

19. Jahrhunderts bejahte diese Frage jedenfalls für das Schrifttum. So führte der berühmte Strafrechtslehrer Binding 1 8 8 2 aus 1 3 2 : „Der juristischen Beurteilung älterer literarischer Werke [in Hinsicht darauf, bis zu welcher Grenze der Künstler gehen kann, ohne sein Werk zu einem unzüchtigen zu machen] hat die Geschichte bemerkenswert vorgearbeitet. Es ist für ein Buch schwer, für einen Schriftsteller noch schwerer, zu den klassischen der Weltgeschichte gezählt zu werden. Die Kritik der Generationen ist eine unbarmherzige: Sie verwirft das Schwache ebenso sicher wie das Gemeine. So dürften wir wenig Grund haben, nachzuprüfen, ob die klassischen Werke der Literatur der Griechen, der Römer, der Italiener, der mittelalterlichen Minnesänger, der Engländer, der Franzosen usw. nicht vielleicht unzüchtig seien. Das Urteil darüber steht vielleicht schon Jahrhunderte hindurch fest, und zwar in dem Sinne, daß sie es nicht sind. Gesetzt aber, daß ein großer Schriftsteller auch einmal ein unzüchtiges Werk geschrieben haben sollte — das Werk ist Quelle der Literaturgeschichte geworden, ist vielleicht außerdem eine wichtige Fundgrube für den Kulturhistoriker, und der Buchhändler, der ein solches Werk wegen dieser Eigenschaft wieder auflegte und verbreitete, damit die selten gewordene Quelle nicht ganz verlorengehe, würde jedenfalls keinen Tadel verdienen." Solchen Ausführungen glaubte die Schweiz, in der Binding längere Zeit gelehrt hatte, 8 0 J a h r e später nicht mehr folgen zu können. In dem bekannten Urteil wegen des dem chinesischen Dichter Li



zugeschriebenen Romans J o u P u Tuan v o m 14. 6. 1 9 6 1 1 5 3 erkannte das Schweizerische Bundesgericht zu der Frage der Bedeutung des Alters eines literarischen Werkes unter anderem: „Ein solches Werk kann, weil es im 17. Jahrhundert von einem angesehenen Dichter Chinas verfaßt worden ist und Schlüsse auf die damaligen Verhältnisse in jenem Erdteil zuläßt, für Sinologen, Literatur- und Kulturhistoriker von Interesse sein. Ob deswegen der Roman nicht mehr unter die Bestimmung des Art. 204 StGB falle, ist aber wiederum ausschließlich Rechtsfrage und darum allein vom Richter und nicht von den wissenschaftlich interessierten Fachkreisen zu entscheiden. Diese vom Standpunkt der Allgemeinheit aus zu beurteilende Frage könnte nur verneint werden, wenn der literarische oder wissenschaftliche Wert des Romans den Durchschnittsleser so stark zu beeindrucken vermöchte, daß diese Seite und nicht mehr das geschlechtlich Anstößige für die Gesamtwirkung des Buches bestimmend wäre. Das trifft keineswegs zu. Der wissenschaftliche Wert, der unter gewissen Fachleuten, besonders Sinologen, dem Roman beigemessen wird, ist für den außerhalb dieser Kreise stehenden Leser entweder überhaupt nicht erkennbar oder aber von so untergeordneter Bedeutung, daß sich deshalb am betont unzüchtigen Charakter des Werkes wenig ändert und dieser das vorherrschende Merkmal des Buches bleibt." Diese Ausführungen wie das Urteil überhaupt erfuhren herbste K r i tik 1 5 4 , selbst von

32

Angehörigen

mitwirkender

Richter 1 5 5 . Auch

die

deutsche Rechtsprechung hat sich ihnen nicht angeschlossen. Schon etwa das Urteil des O L G Stuttgart vom 12. 2. 1969 156 , das u. a. auch ein auf „alt" hergerichtetes Buch betrifft, in dem „die Geheimnisse der Liebeskunst angehenden Hetären anvertraut werden", läßt erkennen, daß ein „vorherrschendes kulturhistorisches Interesse" ein Werk durchaus zu einem „Kunst"werk zu machen in der Lage ist. In der gleichen Richtung liegt das weithin bekannt gewordene und höchst unterschiedlich aufgenommene Fanny-Hill-Urteil des B G H vom 22. 7. 1969 1 5 7 , wenn es auch die Meinung, daß Alter ein Werk zu einem „Kunst"werk zu machen imstande sei, nicht offen ausspricht. Ein Blick freilich in die Kulturgeschichte gerade des 19. und 20. Jahrhunderts lehrt, wie rasch ein Stil oder eine Stilrichtung zu vorher unbekannter Hochschätzung aufsteigen, wie schnell aber auch tiefster Verachtung anheimfallen und nach kürzerer oder längerer Zeit wenigstens eine gewisse Achtung erreichen kann. An Beispielen hierfür ist kein Mangel. Der sogenannte Jugendstil ist ein besonderes sprechendes unter ihnen: Erst maßlos überschätzt, dann ebenso maßlos verdammt, erfährt er jetzt die Wertschätzung derer, denen noch nicht jedes Gefühl für ansprechende, ja anspruchsvolle Form abhanden gekommen ist. Alter oder, wie schon das O L G Wien 1911 (unten S. 214 festgestellt hat, die Inbeziehungsetzung eines Werkes zu seiner Entstehungszeit dürften daher wohl schwerlich geeignet sein, aus diesem Werk ein Kunstwerk zu machen. Es hieße „nur den falschen Zungenschlag nachahmen, der gegenwärtig altersreifen literarischen Dirnen gegenüber üblich ist" 1 5 8 . Als Baustein für den Begriff der „Kunst" kann daher Alter für sich allein gewiß nicht dienen. Verbleibt nur noch, nach der Zielrichtung der „Kunst"auffassung zu fragen. Wie oben erwähnt, ist es das Ziel der Kunst nach der eben dargelegten Auffassung, das (ästhetische) Gefühl des Beschauers anzusprechen, und zwar entweder ganz allgemein (Urheber- und teilweise deutsche steuerliche Rechtsprechung, Stein), oder aber im Sinne einer Erhellung und Erhöhung, ja Verklärung des Daseins (strafrechtliche Rechtsprechung, Stümmer). Diese Feststellung gilt es nun genauer zu untersuchen. Dabei sei vom Gegenstand, Thema oder Sujet der Kunst ausgegangen. Ein Werk religiösen Inhalts muß, um Kunst im Sinne dieser Auffasssung zu sein, mindestens rein ästhetische Gefühle, es soll auch je nach Einstellung und Einstimmung religiöse Gefühle in einem sehr weiten Sinne auslösen, etwa solche der Erhebung bis hinauf zur 3 Leiss, Kunst im Konflikt

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mystischen Erleuchtung oder solche der Erschütterung bis hinab zur Reue oder Buße. Es muß also, etwas volkstümlicher ausgedrückt, den Menschen „erheben und erbauen" 159 oder ihn wenigestens belehren 160 und so für das Religiöse schlechthin empfänglich machen. Ein Werk anderen, nicht notwendig geschichtlichen Inhalts muß das rein ästhetische Gefühl und je nach Einstellung oder Einstimmung ein politisches, etwa soziales, insbesondere sozialkritisches oder ein vaterländisches, ja völkisches Gefühl erwecken. Schon Kaiser Wilhelm II. hat in seiner bekannten Kunstrede verlangt, die Künstler müßten „durch ihre Arbeit das Volk in allen seinen Schichten aus dem Getriebe des alltäglichen Lebens zu den Höhen der Kunst erheben und das den germannischen Stämmen besonders eigene Schönheitsgefühl und den Sinn für das Edle hegen und stärken" 161 , damit unverkennbar völkische Klänge anschlagend, die später ganz besonders deutlich herausgekehrt werden sollten. Daneben freilich wurde und wird auch gefordert, daß soziale, insbesondere sozialkritische Gefühle angesprochen würden, indem durch das Kunstwerk „auf das Verwerfliche und Verabscheuungswürdigste gewisser Geisteserzeugnisse hingewiesen wird. Gerade die Tagespresse kann zur Veröffentlichung geeignet sein, wenn es sich darum handelt, zu verhindern, daß die Verbreitung gewisser Geisteserzeugnisse Boden gewinnt". Habe doch „die — große — Presse die geeigneten Mittel an der Hand, Auswüchse in der Kunst unserer Zeit gebührend zu geißeln" 162 . Demgegenüber rückten jedoch vaterländische, insbesondere völkische Zielrichtungen, wie sie schon Kaiser Wilhelm II. hatte setzen wollen, immer mehr in den Vordergrund. In seiner oben erwähnten Rede von 1933 verlangte Hitler „die stolzeste Verteidigung des deutschen Volkes mit zu übernehmen durch die Kunst" 1 6 3 . In diesem Tone ging es dann weiter: Etwa 1937: „Vom deutschen Künstler verlangt der Führer, daß er aufgeschlossen zum Volke sprechen solle, dies müsse sich schon in der Wahl des zu gestaltenden Themas äußern, das volkstümlich und verständlich und im Rahmen des heldischen und heroischen Ideals des Nationalsozialismus bedeutend sei" 1 6 4 . 1938 liest man, „daß die nationalsozialistische Kunst unserer Gemeinschaftsentwicklung zu dienen habe" 1 6 5 , 1939 (am Vorabend des 2. Weltkrieges), daß sie dazu diene, „die Lebensfunktionen und den Lebenskampf eines Volkes zu veredeln und zu verschönen" 166 . Und noch 1943 wird die gleiche Leier angeschlagen, wonach Maler und Bildhauer, Dichter und Musiker die Verpflichtung 34

hätten, „mit ihren Werken der Gemeinschaft zu dienen" 167 . Zielrichtung des völkischen Kunstbegriffs ist also, durch Herausstellung des heldischen und heroischen Ideals des Nationalsozialismus die Lebensfunktionen, insbesondere die Bildung der nationalsozialistischen Gemeinschaft, zu fördern und den Lebenskampf eines Volkes zu veredeln und zu verschönen. Nicht so anspruchsvoll ist man bei Werken, welche „die Natur" darstellen. Hier fordert man, damit sie „Kunst" würden, „die Erregung eines reinen und edlen Gefühls, des Gefühls künstlerischer Befriedigung" 130 , „die Durchgeistigung des Stoffes mit dem Erfolg, daß der gesittete Leser und Beschauer Freude am Schönen und Belehrenden empfindet" 168 , „eine Sublimierung, eine Verfeinerung der das Wirklichkeitsbild begleitenden Vorstellungen und Gefühle" 1 6 9 . Ist schließlich der Gegenstand des Werkes unverständlich, vermögen „solche Darstellungen beim Betrachter mitunter Schockwirkungen, den sogenannten Kunstschock auszulösen, lassen dagegen keine ästhetischen Gefühle, Geschmack und gute Gedanken aufkommen", meint Frankenberger 170 . Der feiner Empfindende, insbesondere der Kunstbeflissene, freilich wird sich nicht selten in seinen ästhetischen Gefühlen angesprochen sehen. Für den anderen allerdings sind solche unverständlichen Werke nicht „Kunst" im Sinne dieser Auffassung. „Kunst" verlangt also je nach ihrem Gegenstand die Erregung oder Stärkung eines religiösen, eines politischen (zumeist völkischen) oder eines rein ästhetischen Gefühls, der „interesselosen Freude am Schönen". So reinlich lassen sich allerdings diese Ziele nicht trennen. Sie sollen auch gar nicht so reinlich getrennt werden. Die „Freude am Schönen" ist zumeist gar nicht so interesselos. Sie soll ein Interesse haben, nämlich vorwiegend ein religiöses oder politisches Interesse, das durch die Freude am Schönen erregt oder gestärkt werden soll. Wo die Freude am Schönen kein religiöses oder politisches Interesse zu erregen oder auch nur zu verstärken vermag, liegt keine „Kunst" im Sinne solcher Auffassungen vor. Das ist Kunst um der Kunst willen, l'art pour l'art, und wird als Nichtkunst abgelehnt. Das gilt insbesondere von der sogenannten abstrakten Kunst. Weithin ist man hierüber der Auffassung: „Diesen Künstlern ist ihre Kunst ausschließlich Technik. Sie setzen ihren Ehrgeiz darein, irgendeine überraschende, blendende, möglichst unerhörte Manier in Handhabung und Pinsel und Farbe, irgendeine allerbesonderste Besonderheit, ir35

gendein allerindividuellstes Kunststiickchen zu ersinnen" 171 . Dieser Kunst „der Gegenstandslosigkeit braucht kein Abgesang gehalten zu werden. Wer diesen Spielplatz heute noch aufsucht oder nicht zu verlassen wagt, ist zu harmlos, um Beachtung zu verdienen" 172 . In diesem Sinne zutreffend sagte einmal der frühere Bundeskanzler Erhard: „Ich kann die unappetitlichen Entartungserscheinungen der modernen Kunst nicht mehr ertragen" 173 . Damit sind wir allerdings wieder bei der „entarteten" Kunst, bei jener Auffassung von der Kunst, die die „Freude am Schönen" mit politischem, hier völkischem Interesse verbindet. Da gilt dann nur, wie man in Abwandlung eines bis zum Überdruß ausgedroschenen Wortes sagen könnte, was dem Volke dient 174 , und zwar dadurch, daß es politische Gedanken enthält, anregt oder bestärkt 175 . Dieser Auffassung von „Kunst" spricht aus dem Herzen, was über die russische Auffassung von der Kunst andernorts ausgeführt wurde: „Die Bilder sollen die Gestalten der patriotischen Bewegung zeigen, mit beißendem Spott und scharfer Satire die Feinde des Volkes und die Verräter der Nation geißeln und die erhabenen Ideen des Sozialismus" 176 zur Darstellung bringen. Selbst die Darstellung der Landschaft oder ein Stilleben soll von politischem Geiste verklärt sein. Die „Freude am Schönen" ist eben keine interesselose, sondern eine politische. In dasselbe Horn, wenn auch mit anderem Klang, stößt die Auffassung von der „Kunst", nach der jede Kunst religiösen Charakter hat. „Wie wir ihn hier meinen, stammt er nicht aus unmittelbar religiösem Inhalte des einzelnen Werkes. Hier geht es um etwas anderes: um jenen religiösen Charakter, der in der Struktur des Kunstwerkes als solcher liegt; in seinem Hinweis auf die Zukunft, auf jene schlechthinige Zukunft, die nicht mehr von der Welt her begründet werden kann. Jedes echte Kunstwerk ist seinem Wesen nach eschatologisch und bezieht die Welt über sie hinaus auf ein Kommendes" 177 . „Sie stellt die neue Wirklichkeit noch nicht her, sondern sie ist nur eine Stufe im Aufstieg zu ihr" 178 , also ein „Mittel, einer höheren Wirklichkeit teilhaftig zu werden" 179 . Hier also ist die „Freude am Schönen" nicht interesselos, sondern religiös. Daraus ergeben sich 3 Gruppen dieser Auffassung von der Kunst. Die eine mit der „interesselosen Freude am Schönen" schlechthin, die andere mit der politischen Freude am Schönen und die dritte mit der religiösen Freude am Schönen. Undeutlich und mit betont politischer 36

Einfärbung könnte man sagen: eine liberale, eine nationale und gelegentlich soziale, später nationalsozialistische, und eine religiöse Auffassung von der Kunst, denen freilich die Bedeutungslosigkeit des Gegenstandes, Themas oder Sujets und die Notwendigkeit der Gestaltung oder Formung dieses Gegenstandes, Themas oder Sujets gemeinsam ist. Gemeinsam endlich ist allen 3 Gruppen die Einstufung, die sie der Kunst in der Rangordnung der geistigen Werte 180 zuteil werden lassen. Jede der 3 Gruppen erklärt kurz und bündig, daß die „Kunst" (natürlich im Sinne ihrer Auffassung) einer der geistigen Werte ist und sich anderen entweder unterzuordnen (religiöse, nationale Kunstauffassung) oder zuzuordnen (liberale Kunstauffassung) habe. Bei der religiösen Kunstauffassung verwundert das nicht eben. Durch die später einläßlich zu erörternden Maßnahmen zieht mehr oder minder verborgen der rote Faden des Gedankens, daß Religion und die Sittlichkeit „des Volkes, das sich in seiner überwiegenden Mehrheit zu den Grundsätzen christlicher Ethik bekennt" 181 , höhere Werte darstellen als die Kunst im Sinne dieser Auffassung, daß also diese sich ihnen unterzuordnen habe. Ein Vertreter dieser Kunstauffassung, der seinerzeitige Erzbischof von München-Freising Dr. von Stein, hatte schon am 23. 2. 1906 in der Kammer der Reichsräte der Krone Bayern, der er angehörte, gesagt, „daß über aller Kunst, auch der vornehmsten, ein noch viel höheres Gesetz steht, dem auch das feinste und wärmste künstlerische Empfinden sich zu beugen hat, das Sittengesetz" 182 . Im gleichen Sinne sagte der evangelische Geistliche Mumm als Reichstagsabgeordneter in der 204. Sitzung dieses Parlaments vom 3. 4. 1922: „Wir begrüßen die Freiheit der Kunst, die aber nicht Zügellosigkeit bedeutet, sondern an die Grundsätze der Volkserziehung und Ethik, der Religion und des Volkswohls gebunden ist" 183 . Und nahezu 50 Jahre später hat der oberste katholische Geistliche, Papst Paul VI., in der Encyclica „Humanae vitae" vom 25. 7. 1968 (auszugsweise) ausgeführt: „Jede Form sittenloser Darbietungen muß den offenen und einstimmigen Widerspruch all derer hervorrufen, die sich um den kulturellen Fortschritt und die Verteidigung der höchsten Güter menschlichen Geistes sorgen. Vergeblich würde der Versuch sein, diese sittliche Entartung durch angebliche Erfordernisse der Kunst zu rechtfertigen, oder mit der Freiheit zu argumentieren, die auf diesem Gebiet von staatlichen Stellen zugestanden wird" 184 . Auch 37

der Papst stellt also die Kunst hinter die „höchsten Güter menschlichen Geistes", nämlich Religion und Sittlichkeit. Erst recht gilt die Unterordnung, hier unter die den Staat und die staatstragende Partei beherrschende Weltanschauung für die nationale, insbesondere die nationalsozialistische Kunstauffassung. Hier konnte am 1. 6. 1933 gesagt werden: „Wir bringen der neuen Bewegung als Morgengabe die Bereitschaft der deutschen Künstler, sich in des Volkes Dienst zu stellen und der neuen Gemeinsamkeit Ausdruck zu verleihen" 1 8 5 . Oder am 3. 4. 1 9 3 8 : „Der Künstler will nicht mehr frei sein, sondern seine Kunst in den Dienst einer Idee, eines Staates, einer Kirche, einer Gemeinschaft stellen. Diese Möglichkeit ist heute gegeben. Die Weltanschauung des neuen Reichs gibt der Kunst, die sich wieder gebunden fühlt, einen neuen Inhalt. Sie wird damit eine Tendenz erhalten, die über aller Tendenzkunst der letzten Zeit steht, aber auch weit über aller bisherigen freien Kunst" 1 8 6 . Oder, wie erwähnt, am 31. 1. 1 9 4 3 : „Der moderne Staat hat sich einen kulturellen Auftrag gegeben, er beansprucht ein Hoheitsrecht auch der Kunst gegenüber. Für den Maler und Bildhauer, den Dichter und Musiker bedeutet das eine Verpflichtung: sie sollen mit ihren Werken der Gemeinschaft dienen" 1 8 7 . Oder (wie erwähnt, auszugsweise) am 15. 7. 1 9 3 9 : „Die Bindung des deutschen Künstlers nunmehr an sein V o l k und an die Ewigkeitswerke seiner Rasse haben ihn wissen lassen, daß ein Werk nur dann bleibend und ewig ist, wenn es dazu dient, die Lebensfunktionen und den Lebenskampf eines Volkes zu veredeln und zu verschönen" 1 4 9 . Solche Beispiele, in denen die bedingungslose Unterordnung aller Arten der Kunst unter die nationalsozialistische Weltanschauung verlangt wurde, gibt es übergenug. Im übrigen vertrat und vertritt jeder, der Diktator ist oder es werden will, die gleiche Anschauung. So verlangte etwa schon 1942 Mao in seinen „Reden bei der Aussprache in Yenan über Literatur und Kunst" (nach der Südd. Zeitung vom 3. 7. 1970), daß die künstlerischen Werke den Arbeitern und Bauern dienen müßten und nicht — wie in der Vergangenheit — den Klassen der feudalen Periode und der Bourgeoisie: «Wir sollten das reiche literarische und künstlerische Erbe sowie die besten literarischen und künstlerischen Traditionen des alten China und des Auslands übernehmen, uns aber das Ziel stecken, sie in den Dienst der Volksmassen zu stellen. Wir lehnen es nicht ab, die literarischen und künstlerischen Formen vergangener Epochen zu benutzen, aber in unseren Händen werden diese alten Formen — umgearbeitet und mit neuem Inhalt erfüllt — revolutionär, dazu bestimmt, dem Volk zu dienen.» 38

Auch Mao und seine diese Anschauung jetzt wieder aufgreifende Frau Tschiang Tsching zählen daher zu den Vertretern der klassischen Kunstauffassung. Aber man würde fehl gehen, nähme man an, die Auffassung, die Kunst sei minderen oder höchstens gleichen, nie aber höheren Ranges als die übrigen geistigen Werte, insbesondere ihnen gegenüber autonom, sei lediglich Sache der religiösen und der nationalsozialistischen, überhaupt einer autoritären Kunstauffassung. Sie wird auch von einer Rechtspflege vertreten, die sich sicher weder der einen noch erst recht der anderen „Kunst"auffassung zurechnen will. So konnte am 27. 11. 1964 ein Staatsanwalt in einer Zeitung ausführen: „Ein Freigehege für die Kunst gibt es nicht. Daraus wird deutlich, was eigentlich schon eine einfache Überlegung ergeben sollte: «Der Kunst, mag man sie so hoch schätzen wie man will, kommt kein absoluter Wert zu, der ihr etwa eine gesetzesfreie Sphäre gewährleisten würde»" 188 . Wenige Tage vorher, am 21. 11. 1964, hatte das Bayer. Oberste Landesgericht erkannt: „Die Kunst ist kein absoluter Höchstwert, dem alle anderen Gemeinschaftswerte unterzuordnen wären; sie ist vielmehr einer von ihnen"189. Später ist in seinem Urteil vom 3. 4. 1968 auch der Bundesgerichtshof dieser Meinung gefolgt: „Die umfassende Gewährleistung künstlerischer Schaffensfreiheit kann nicht bedeuten, daß künstlerisches Schaffen schrankenlos ausgeübt werden darf. Denn die Freiheit der Kunst ist kein isolierter Höchstwert der verfassungsmäßigen Wertordnung, dem alle anderen Werte unterzuordnen wären" 190 . Die Vorsitzende des erkennenden Senates ließ freilich (nach der Süddeutschen Zeitung Nr. 250 vom 17. 10. 1968) verlauten, „die Strafjustiz habe erkannt, daß sie im Sinne des Grundgesetzes nicht den Sittenrichter in Kunstfragen zu spielen habe, sondern daß mündige Menschen selbst entscheiden sollten, was sie sehen und hören wollten. Daher hätten auch alle Strafverfahren der jüngsten Vergangenheit, in denen es um die Frage ging, ob ein Kunstwerk als unsittlich oder gotteslästerlich verboten werden sollten, mit Freisprüchen geendet. Der Willkür dichterischer Phantasie seien allerdings dort Schranken gesetzt, wo die Würde des Menschen mißachtet und sie durch unwahre Darstellungen besudelt. Verschlüsselte oder unverschlüsselte Darstellungen von Personen der Zeitgeschichte dürften nicht so mit unwahren Details ausgeschmückt werden, daß durch diese Unwahrheiten das Charakterbild grob verzerrt und in den 39

Schmutz gezogen werde, wenngleich die Einfügung frei erfundener Episoden auch bei unverschlüsselten Darstellungen nicht grundsätzlich abzulehnen sei." In den beiden Erkenntnissen von Revisionsgerichten zugrunde liegenden Verfahren kämpfte der Wert der Kunst mit anderen Werten 191 , dem religiösen Gefühl und dem Persönlichkeitsrecht. In dem einen Falle konnte er sich recht mühsam behaupten, im anderen ist er unterlegen. Die von der Rechtsprechung künftig einzuhaltende Richtung ist auf jeden Fall festgelegt. Jedes irgendwie geartete, am besten grundgesetzlich geschützte Recht kann gegen die Kunstfreiheit antreten und des Sieges über sie gewiß sein. In den Wind gesprochen waren und sind die warnenden Worte, die der Reichsminister des Innern Dr. Köster am 5. 4. 1922 vor dem deutschen Reichstag sagte: „Wenn wir an das Problem von Kunst und Sittlichkeit rühren, so rühren wir damit an ein Problem, das, solange es eine Kultur gibt, immer Spannungen in sich behalten, immer zu gewissen Konflikten führen wird. Es ist nämlich durchaus nicht so, daß wir dieses ganze Problem, vor dem wir stehen, nur vom Standpunkt der Kindererziehung, nur vom Standpunkt der Bedürfnisse der Jugend betrachten müssen und nebenher sagen: Die Kunst kann daneben auch ihr Recht haben, sondern jeder Staatsmann wird sagen und danach handeln müssen, daß die Kunst ein lebensnotwendiger Faktor unserer ganzen Kultur ist. Ein Faktor, der steht und fällt mit dem Begriff der Freiheit, der sich diesen Begriff der Freiheit aber auch nicht durch pädagogische Bedürfnisse, durch pädagogische Forderungen zermürben lassen darf. Ich glaube, es ist seicht, es ist dilettantisch, wenn wir glauben, zwischen diesen beiden großen Kulturbedürfnissen einen Strich mit dem Bleistift ziehen zu können und sagen: Das gehört der Kunst und das gehört den Bedürfnissen der Einzelnen. Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Mumm, daß für Sie zunächst die Bedürfnisse der Erziehung, die Bedürfnisse der Pädagogik vollkommen befriedigt werden müssen, und daß das Maß von Freiheit, das für die Kunst nachbleibt, sich durchaus nach dem richtet, was sie für ihre sittlichen und religiösen Erfordernisse brauchen, und das ist ein Pädagogik vollkommen befriedigt werden müssen, und daß das Maß von recht wird. Die Kunst hat nun einmal — das ist ihr Wesen — die merkwürdige Angewohnheit und den merkwürdigen Charakter, daß sie sich an Dinge, an Erscheinungen und Phänomene klammert, wie das Nackte, wie das Erotische, die, pädagogisch betrachtet, Probleme sind. Das können wir nicht verbieten, wir können der Kunst nicht andere Wege vorschreiben oder ihr einen Gartenzaun aufrichten, über den sie nicht hinaus darf. Das wird nicht nur kein Künstler, das wird auch niemals ein Staatsmann erlauben dürfen" 192 . 40

Als Kennzeichen der jedenfalls vor 1945 herrschenden und nun ganz offensichtlich in der Rechtspflege wieder herrschend gewordenen „Kunst"auffassung können daher gelten: 1. Gegenstand, Thema oder Sujet des Werkes sind grundsätzlich gleichgültig. Ausnahmen gelten für Werke, die den nackten Menschen und damit Zusammenhängendes oder Unverständliches darstellen. 2. Die Art der Gestaltung oder Formung des Gegenstandes, Themas oder Sujets ist grundsätzlich gleichgültig. Die Gestaltung oder Formung muß jedoch eigenschöpferisch und angemessen, insbesondere bei dem darzustellenden oder zu formenden Gegenstand, Thema oder Sujet üblich sein. 3. Das Ziel des Kunstwerks ist die Erweckung, Pflege und Stärkung von je nach der Unterart dieser Kunstauffassung verschiedenen Gefühlen, insbesondere einer je nach diesen Unterarten verschiedenen „interesselosen Freude am Schönen". 4. Die Kunst ist kein absoluter Höchstwert, sondern hat hinter allen anderen, zumal grundgesetzlich geschützten Werten zurückzutreten. Betrachtet man diese Kennzeichen auf die übergeordneten Grundsätze hin, von denen sie beherrscht werden, so lassen sich etwa folgende Grundsätze erkennen: 1. Der Grundsatz der Ordnung und Regelmäßigkeit, und zwar der Grundsatz der sittlichen Ordnung, der seine Bedenken gegen die Darstellung des nackten Menschen und des damit Zusammenhängenden geltend macht, aber auch der Grundsatz einer Ordnung der Werte, die verhindert, daß sich die Kunst über andere Werte erhebt, und schließlich der Grundsatz der Regelmäßigkeit, der das Regelwidrige in der Art der Gestaltung und Formung eines Gegenstandes ausschließt, indem er nur „das Übliche" zuläßt. 2. Der Grundsatz der Harmonie und Ökonomie der Mittel, also der Ausgewogenheit und Verhältnismäßigkeit der Darstellungsmittel, die dem Gegenstand angemessen sein und dazu führen müssen, gewisse Gefühle, insbesondere die mehr oder minder „interesselose Freude am Schönen" zu wecken, zu pflegen und zu stärken. 41

3. Der Grundsatz des Rationalismus und Realismus der Wirklichkeitswidergabe, insbesondere also der verständlichen Gestaltung und Formung eines verständlichen Gegenstandes. Eine an diesen Grundsätzen ausgerichtete Kunstauffassung wird mit Recht als „klassische" Kunstauffassung erachtet193. Die Kunstauffassung, die vor 1945 herrschend war und nun über die höchstrichterliche Rechtsprechung wieder herrschend ist, muß daher als die „klassische" Kunstauffassung bezeichnet werden. Als solche wird sie vom jüngsten Schrifttum, jedenfalls soweit es sich mit der strafrechtlichen Behandlung der erotischen, obszönen oder pornographischen „Kunst" befaßt, erachtet und ausdrücklich194 oder ähnlich, nämlich klassizistisch195 bezeichnet und hämisch verspottet oder immer erbitterter von einer Kunstlehre bekämpft, die sich ausdrücklich einer antiklassischen Kunstauffassung 196 verschrieben hat. Nun gehört freilich der Kampf, leider nicht selten der mit ungeistigen Waffen geführte Kampf, zum Wesen geistiger Auseinandersetzungen; denn alles Geistige wehrt sich gegen das „noch" der vergangenen und das „schon" der kommenden Geistigkeit. So ist denn auch der klassischen Kunstauffassung bei ihrer Entstehung von dem venezianischen Theologen und Kunsthistoriker Sarpi das böse Wort entgegengeschleudert worden: „ H a causato la major difformazione die sia mai stata da che vive il nome Christiano" 1 9 7 . Aber, so fragen wir nun, wann ist denn eigentlich die klassische Kunstauffassung entstanden?

3. KAPITEL

Entstehung der klassischen Kunstauffassung und damit des Konflikts zwischen Kunst und Recht Diese „klassische" Kunstauffassung entstand oder entwickelte sich nicht im 19. Jahrhundert, so viele Züge der Restauration und des Vormärz ihr auch anzuhaften scheinen. Die „klassische" Kunstauffassung entwickelte sich überhaupt nicht. Sie ist das Werk der weltlichen und noch mehr der geistlichen Gewalten des mittleren 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts und wird dadurch gekennzeichnet, daß sie Kunstwerke des Wortes und des Bildes überwacht, prüft, ablehnt, ja verbietet. 42

Für das gedruckte Wort schmiedete man die Waffe des Index librorum prohibitorum (kurz „Index"). Seine Einrichtung wurde über Antrag Papst Pauls IV. 1559 vom Konzil von Trient beschlossen1, seine erste Verbotsliste 1564 veröffentlicht 2 . Der Index ließ die Zensuren „temerarie, scandalose, erronee, sospette, heretiche, superstitiose, apocrife" zu, Zensuren, die man gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch auf die Werke der bildenden Kunst übertragen sehen wollte 3 . Von diesen Zensuren kamen damals für die Kunstwerke des Wortes ernsthaft nur die Zensuren temerarie und scandalose in Betracht. Doch „at this period, and indeed for some considerable time, the Church bothered little about the erotic or pornographic in point: it was only, when the bawdy was continued with heresy or a satire or an attack upon the Church" 2 , also weil man den jedenfalls zunächst ohnehin nicht sehr zahlreichen Kunstwerken des Wortes angesichts des Bildungsstandes der breiten Massen keine sonderliche Bedeutung beimaß. Man beschränkte sich daher in der Hauptsache auf die Kunstwerke des Bildes und lehnte die ab, die der kirchlichen Auffassung von Kunst, der klassischen Kunstauffassung nicht entsprachen. Welcher Art die Bildwerke waren, die dieser klassischen Kunstauffassung nicht entsprachen, erfährt man zum ersten Male aus einem Augsburger Reichstagsabschied von 1548, durch den „obszöne, die Sinnlichkeit aufreizende Bilder, ferner Bilder, auf denen religiöse Gegenstände ins Lächerliche gezogen werden, und solche, die der Verspottung gewisser Personen dienen", verboten werden 4 . Es sind also, grob gesagt, unsittliche, unfromme und ehrenrührige Bilder, die der (klassischen Kunstauffassung der) weltlichen Gewalt widerstrebten. Die ehrenrührigen Bilder traten rasch in den Hintergrund. Dagegen beschäftigen „herausfordernde, von der Kunst allzu sehr mit sinnlichen Reizen ausgestattete Bilder, die mehr in der Absicht, weltliche Schönheit zu zeigen als Erbauung zu wecken, gemalt sind" und der „profane, leichtfertige und verführerische Aufputz" um so stärker vor allem die geistlichen Gewalten 5 . In dem 1545 begonnenen Konzil von Trient beklagten sich die französischen und kaiserlichen Gesandten über die Lüsternheit und das Profane, das sich seit längerer Zeit in der kirchlichen Kunst breitgemacht habe, so daß dieses sich zur Bestimmung veranlaßt sah, daß Bilder nichts enthalten dürften, was profan, unehrbar, sinnlich aufreizend oder unüblich sei6. Die nachkonziliaren Schriftsteller verlangten darüber hinaus vom Künstler größte Wirk43

lichkeitstreue7, eine päpstliche Konstitution vom 16. 3. 1642 endlich, daß Bilder Christi, Mariens, der Engel und der Heiligen nur in der Form und Tracht dargestellt werden dürften, die seit altersher in der Kirche üblich sei. Schon vorher, nämlich 1596, griff man nach den Bildern in Büchern und untersagte unehrbare Bilder in ihnen. Wie also schon die weltliche Gewalt 1548, lehnte die katholische Gewalt, insbesondere seit dem Konzil von Trient unsittliche, unfromme und unübliche Bildwerke als ihrer Kunstauffassung nicht entsprechend ab. Sie lehnte sie jedoch nicht nur ab, sie wußte diese Ablehnung auch in die Tat umzusetzen. Das wird von der kirchengeschichtlichen Forschung nicht hinreichend erkannt oder herausgestellt. Diese bestreitet nicht die Möglichkeit, „daß das Konzil von Trient, als das folgenschwerste kirchliche Ereignis des 16. Jahrhunderts nächst der Glaubensspaltung das künstlerische Schaffen der von dieser nicht erfaßten Länder — und sie sind auf diesem Gebiete die führenden — beeindruckt hat" 8 . Sie möchte indes nicht so sehr auf das Konzil selbst als den seine Beschlüsse ausführenden höheren Klerus für die Weiterentwicklung verantwortlich machen. In der Tat „verbieten die von Carlo Borromeo veranstalteten Mailänder Provinzialsynoden von 1565 und 1576 die Wiedergabe von nicht kirchlich approbierten Legenden und genrehafte Details, die in der Historia sacra keinen Platz haben, wie die Darstellung von Tieren. In einer schon 1573 angekündigten, aber erst 1577 herausgegebenen Instruktion über Kirchenbau und Kircheneinrichtung schreibt Borromeo vor, die Heiligen stets mit ihren traditionellen Symbolen abzubilden. Borromeo, weit über Italien hinaus als das Modell eines tridentinischen Bischofs betrachtet, nimmt die ihm vom Konzil auferlegte Pflicht ernst, schränkt freilich damit auch die künstlerische Freiheit ein. Es hat aber nicht den Anschein, als ob man ihm hierin gefolgt wäre" 9 . Darin allerdings hat man sich getäuscht. Das zeigt das Vorgehen gegen Michel Angelos „Jüngstes Gericht" und das 1573 von der Inquisition in Venedig gegen Paolo Veronese angestrengte Verfahren. Hier ist die Saat, die das Konzil von Trient ausgestreut und die Carlo Borromeo und sein Bruder Federico sorgfältig gedüngt hatten, kräftig aufgegangen. MichelAngelo hatte sein „Jüngstes Gericht" in der Sixtinischen Kapelle 1541 vollendet. Schon 18 Jahre später, nämlich 1559 und 1560, beauftragte Papst Paul IV. den um diese Zeit um MichelAngelo wei44

lenden Maler Daniele da Voltera, einige besonders herausfordernde Nacktheiten des Freskos zu übermalen10. Papst Pius V. führte dieses Werk fort, indem er „1566, nachdem das diesbezügliche Dekret des Tridentinums bereits erlassen war, weitere anstößige Stellen entfernen ließ"11. Und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre unter Papst Clemens VIII. das ganze Fresko zerstört worden. Nur durch eine Bittschrift der Accademia de S. Luca wurde er von seinem Vorhaben abgehalten. Hätte der Papst nicht auf sie, sondern auf El Greco gehört, hätte er von ihm erfahren: „Wenn man das «Jüngste Gericht» herunterschlüge, würde er es ehrlicher, dezenter und, was die Qualität angeht, nicht schlechter malen" 12 . Da haben wir aus dem Munde des großen griechisch-spanischen Spätmanieristen, was er am Werke des noch größeren italienischen Frühmanieristen aussetzen zu müssen glaubte, die Unehrlichkeit und (etwas überspitzt gesagt) die Schamlosigkeit der Darstellung. Wundert es einen dann, wenn in einem Lande, dessen Heuchelei nur mit der seines Mutterlandes Schritt halten kann, ein Zollinspektor 1933 an die Importeure von Lichtbildern der Kopien dieses „Jüngsten Gerichtes" vor der Übermalung durch Voltera schreiben konnte: „Sehr geehrte Herren! Hier sind zwei Pakete für Sie angekommen. Da diese Bücher mit unanständigen Fotos enthalten — «Decke der Sixtinischen Kapelle» von einem gewissen Michael Angelo — wurden sie entsprechend den geltenden zollamtlichen Bestimmungen, welche die Einfuhr derartiger Artikel verbieten, zunächst einmal beschlagnahmt, um der im Gesetz vorgesehenen weiteren Behandlung zugeführt zu werden. Sie haben jedoch die Möglichkeit, sich an den Finanzminister zu wenden mit der Bitte, die beschlagnahmte Ware freizugeben und die Wiederausfuhr zu genehmigen, andernfalls wir Sie bitten, die unten angegebene Einverständniserklärung ausgefüllt zurückzuschicken . . . Hochachtungsvoll, H. C. Stuart, Zollinspektor" 13 .

Zur Ehre dieses Landes sei jedoch gesagt: „Die Presse nahm sich der Sache an, und das Finanzministerium, das einsehen mußte, daß einer seiner Beamten sich durch seine Unkenntnis lächerlich gemacht hatte, gab die Sendung frei" 13 . MichelAngelo freilich hat weder die Worte El Grecos gehört noch die Übermalungen seines „Jüngsten Gerichtes" miterleben müssen; er war am 18. 2. 1564 gestorben. Anders Paolo (Caliari) Veronese. 7 Jahre nach dem Beginn der Übermalungen von Michelangelos „Jüngstem Gericht" wurde ihm wegen eines für das Refektorium der Mönche von Zanipolo in Venedig gemalten Abendmahles (Abb. 2) von der venezianischen Inquisition der 45

Prozeß gemacht. Dieser Prozeß ist der erste Kunstprozeß überhaupt, gleichsam der Musterprozeß f ü r alle Kunstprozesse, die seit 1573 im Abendlande geführt wurden und immer noch werden. Er sei daher hier auszugsweise wiedergegeben 1 4 : „Nach den üblichen Formalitäten zur Person wird der Angeklagte nach «seinem Beruf» gefragt. Die Antwort lautet: «Ich bin Maler und male Gestalten». Gefragt, ob er den Grund der Ladung kenne, sagt er «nein», aber er könne ihn sich denken, nachdem der Prior des Klosters der Heiligen Zanipolo ihm mitgeteilt habe, von den Inquisitoren den Auftrag erhalten zu haben, die Magdalena anstelle des Hundes malen zu lassen; er habe ihm geantwortet, daß er im Interesse seines guten Rufs und des Ansehens des Bildes bereit sei, dies und noch mehr zu tun, daß aber die Gestalt der Magdalena nicht gut dazu passen würde, und zwar aus verschiedenen Gründen, die er gern erwähnen möchte, soweit ihm Gelegenheit gegeben werde darüber zu sprechen. Nach weiteren Fragen über die Maltechnik und die Größe des beanstandeten Gemäldes, wird ihm die Frage gestellt: «Haben Sie Bedienstete bei diesem Abendmahl des Herren gemalt? Welche und in welcher Haltung?» Die Antwort war: «Simon, den Gastgeber; außerdem unterhalb desselben einen Truchsess, den ich so dargestellt habe, wie wenn er zu seinem Vergnügen gekommen wäre, um sich umzusehen, was dort vor sich ging»; bei «vielen anderen Gestalten kann ich mich leider nicht mehr daran erinnern, warum ich sie auf dem Gemälde miterscheinen ließ». Der Inquisitor will wissen, ob er andere Abendmahlsbilder gemalt habe. Der Meister nennt einige davon, darunter «eine Mahlzeit im Refektorium des ehrwürdigen Ordens des Hl. Georg in Venedig». Das gibt dem Richter die Gelegenheit, diese Erklärung heftig zu tadeln: «Wie kann man bloß die Hochzeit zu Kana mit dem Letzten Abendmahl verwechseln?» Zurückkommend auf das beanstandete Werk fragt er dann: «Was bedeutet jene Gestalt, die aus der Nase blutet?» «Sie sollte einen Diener darstellen, der aufgrund irgendeines Unfalls aus der Nase blutet». «Was bedeuten jene bewaffnete Gestalten in deutscher Tracht und je mit einer Hellebarde in der Hand?» Darauf der Angeklagte: «Ist es mir gestattet hier ungefähr zwanzig Worte zu sagen?» und, nachdem er die Erlaubnis, zu sprechen, bekam: «Wir Maler erlauben uns bekanntlich dieselben Freiheiten wie jeder Dichter und Narr, und ich habe jene zwei Hellebardiere dargestellt, von denen der eine trinkt und der andere ißt, und zwar neben der Steintreppe, als ob sie dort eine Aufgabe zu erfüllen hätten; nachdem — wie ich erfahren habe — der Hausherr mächtig und reich war, hätte er auch solche Dienstleute haben können». Die Fragen werden nun drohender: «Welche Aufgabe soll der von Ihnen gemalte Zwerg mit einem Papagei in der Hand haben?» «Er dient als Verzierung, wie dies so üblich ist». «Wer sitzt am Tisch mit Jesus?» «Die zwölf Apostel». «Welchen Eindruck soll der Heilige Petrus erwecken, der als erster neben ihm sitzt?» «Er zerschneidet das Lamm, um es anderen Tischgästen zu überreichen.» «Was soll der andere darstellen, der neben ihm sitzt?» «Er hält einen leeren Teller, um darauf empfangen zu können, was 47

ihm der Heilige Petrus zuteilen wird.» «Erklären Sie was der Mann macht, der neben dem letztgenannten sitzt.» «Er hält eine Gabel in der Hand und putzt sich damit die Zähne.» «Wer alles sollte Ihrer Meinung nach bei diesem Abendmahl anwesend gewesen sein?» «Ich habe mir gedacht, daß sich dort Jesus mit seinen Aposteln befinden sollte. Wenn mir jedoch im Bilde genügend Platz übrig bleibt, so schmücke ich ihn mit anderen Gestalten aus, so wie sie mir einfach einfallen.» Nun will der Inquisitor wissen: «Hat Ihnen irgendjemand den Auftrag erteilt, auf dem Gemälde Deutsche, Zwerge und ähnliche Gestalten darzustellen?» «Nein, meine Herren. Ich habe aber den Auftrag bekommen, das Gemälde so auszuschmücken, wie ich es für richtig gehalten hätte, und da es sich um ein größeres Gemälde handelte, war auch genügend Platz für zahlreiche andere Gestalten vorhanden, so wie ich es für angebracht hielt.» Der Richter will ferner von ihm wissen «ob die Verzierungen mit denen er als Meister gewöhnlich Bilder und Gemälde ausschmückt, zu dem Inhalt und den Hauptfiguren passen und ihm angemessen sind, oder ob er sie tatsächlich nach Belieben, also nach Laune und Willkür und ohne Überlegung malt.» «Meine Gemälde schaffe ich, wie ich sie am besten begreifen kann». Der Verhörer beharrt: «Schickt es sich, beim Letzten Abendmahl des Herrn Narren, Betrunkene, Deutsche, Zwerge und ähnliche traurige Gestalten zu malen?» Die Antwort war eine Verneinung. «Warum haben Sie sie dann gemalt?» «Ich habe es in der Überzeugung getan, daß sich diese Gestalten außerhalb des Raumes befinden, in dem gespeist wird.» Hier äußert der Inquisitor die wahren Gründe, die die Kirchenbehörden beunruhigen: «Wissen Sie denn nicht, daß in Deutschland und in anderen von Ketzereien angesteckten Ländern mit ketzerischen Bildern und ähnlichen Einfällen der Glaube der heiligen katholischen Kirche verhöhnt, geschmäht und verspottet wird, um somit ungebildeten und unerfahrenen Menschen die falsche Lehre beizubringen?» «Es stimmt, Hochwürden, daß dies schlimm genug ist», gibt der Meister zu, jedoch «fühle ich mich verpflichtet, den Weg größerer Künstler wie ich nachzugehen.» «Was haben denn diese großen Meister getan? Haben sie vielleicht ähnliche Sachen gemalt?» «Michelangelo hat in der päpstlichen Hauskapelle in Rom Unseren Herrn Jesus Christus, die Muttergottes und die Heiligen Johannes und Petrus, sowie das göttliche Gericht gemalt, welche Gestalten, mit Ausnahme der Jungfrau Maria, alle mit größter Respektlosigkeit unverhüllt dargestellt worden sind.» Der Inquisitor hatte gegen eine solche Bemerkung nichts einzuwenden, nur bemerkte er, «daß beim Malen des Jüngsten Gerichtes, bei dem man sich ja sowieso weder Gewänder noch ähnliche Gegenstände vorstellen könne, Kleider nicht nötig gewesen seien, denn auf einem solchen Gemälde gebe es nur geistige Wesen, wobei weder Narren, noch Hunde, Soldaten oder ähnliche Albernheiten zu sehen seien», und bestürmt den Angeklagten mit der Frage: «ob er aufgrund dieses Vorbildes oder aufgrund anderer Beispiele glaube, richtig gehandelt zu haben, indem er das Bild, so wie es nun sei, gemalt habe, und ob er weiterhin behaupten möchte, daß das Gemälde in Ordnung und nicht sittenwidrig sei.» Dem Veronese blieb nichts anderes übrig als nachzugeben: «Ich möchte das Gemälde nicht verteidigen, sondern war der Uberzeugung, 48

richtig gehandelt zu haben, nachdem ich so viele Überlegungen nicht in Betracht gezogen hatte, denn ich dachte, niemanden damit ein Unrecht getan zu haben, insbesondere nachdem sich jene Narrengestalten außerhalb des Raumes, in dem sich Jesus befindet, aufhalten.»" Die Vormerkung in den Akten des Santo Ufficio im Staatsarchiv Venedig fährt fort: „Omnibus habitis: Domini decreverunt supradictum Dominum Paulum teneri et obligandum esse ad corrigendam et emendandam picturam, de qua in constituto arbitrio Sacri Tribunalis, infra terminum trium mensiun connumerandum a die preficionis correctionis faciendae iuxtra arbitrium per decretum Sacri Tribunalis." „Veronese anbequemte sich den Wünschen des Gerichtes nicht; er überarbeitete keine einzige Stelle des Bildes; er änderte vielmehr den Titel: er nannte die Szene Gastmahl im Hause des Levi statt Abendmahl" 15 . In dem Jahre, in dem der Musterprozeß gegen Veronese stattfand, wurde (Michelangelo Merisi) Caravaggio geboren. Ihm freilich hat die Inquisition nicht den Prozeß gemacht, „wohl weil sein künstlerischer Erfolg in der Umgebung Papst Pauls V. zu groß war. Man begnügte sich damit, die Gemälde von den Altären zu verbannen". „Eines nach dem anderen wurden die Frühwerke des hl. Matthäus 1 6 (Abb. 3), Die Madonna mit der Schlange (Dei Palafrenieri) 1 6 3 , Der Tod der Maria und Die Rosenkranzmadonna von den Altären entfernt. Und die nicht verbannten Werke wurden kritisiert und diffamiert wegen angeblichen Mangels an Schönheit und Idealität. Dabei ist der Tod der Maria wahrscheinlich das tiefstempfundene religiöse Gemälde der italienischen Kunst des X V I I . Jahrhunderts" 1 7 . Doch anders als Veronese, der sich der Inquisition gegenüber durch die Serenissima geschützt wußte, mußte sich der zwar nicht schütz-, aber wegen seiner Armut hilflose Caravaggio zu Zugeständnissen bequemen. „An Stelle des als Altarbild nicht zugelassenen Matthäus malte er einen anderen, eine neue Fassung, die sich noch jetzt über dem Altar befindet. Er vermied es Widerspruch zu erregen, aber er blieb sich nicht treu und das Kunstwerk wurde mittelmäßig" 1 8 . Das ursprüngliche Bild aber blieb dank dem Einschreiten Rubens' erhalten 183 . Uber dem Vorgehen der kirchlichen Obrigkeiten gegen Caravaggio lag eben schon der gewaltige Schatten des Wirkens des Kardinals Gabriele Paleotti, dessen 1582 in Bologna gedruckter Discorso intorno 4 Leiss, Kunst im Konflikt

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Abb. 3. Michelangelo da Caravaggio, Der heilige Matthäus mit dem Engel

alle imagini sacre et profane den nachhaltigsten Einfluß auf alle die ausübte, die irgendwie mit der Kunst zu tun hatten oder bekamen. Die 2 Jahre vor seinem Tode, 1594, erschienene lateinische Übersetzung war, mit heutigen Worten ausgedrückt, ein Bestseller ersten Ranges 3 und allein das 30 Kapitel über laszive Bilder umfassende

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3. Buch wäre ein auch jetzt noch oder gerade wieder höchst bedeutsames Ereignis geworden, hätte nicht der Tod dem allzu Eifrigen die Feder aus der Hand genommen und es nicht mehr vollenden lassen. Daß aber ungeachtet dessen gerade die Gedanken Paleottis über laszive Bilder weiteste Verbreitung gefunden haben müssen, zeigt das

Abb. 4. Rubens, Das große Jüngste Gericht

Vorgehen gegen Rubens. Dieser hatte wohl 1615/16 für den Pfalzgrafen Wolf gang Wilhelm von Neuburg an der Donau das „Jüngste Gericht" als Hochaltar für seine Hof- und Jesuitenkirche gemalt (Abb. 4). Den Jesuiten freilich mißfiel das Gemälde auf das äußerste19. Sie ruhten daher nicht, bis es nach längeren Verhandlungen mit der Kurie und zwischen Kurfürst Max Emanuel von Bayern und Kardinal Franz Maria de Medici aus dem Hochaltar herausgenommen und vor dem 20. 12. 1691 in die damals bayerische Gemäldegalerie Düsseldorf überführt wurde20, von wo es im beginnenden 19. Jahrhundert in die Alte Pinakothek in München kam. Das Verhalten der Jesuiten dem Gemälde gegenüber war um so erstaunlicher, als Rubens nicht nur in Neuburg, sondern auch in Flandern zahlreiche Gemälde für Jesuitenkirchen gemalt hatte, die zumeist bis zur Aufhebung des Ordens in diesen Kirchen hingen. Aber die Zeit hatte sich eben nach dem Tod Rubens (1640) gewandelt. Genauer: Sie war in ihrer klassischen Kunstauffassung noch härter und unnachsichtiger geworden. Und es will fast scheinen, als bedeute Rubens' Tod den letzten Meilenstein auf diesem Wege. Rubens' 2. Frau Helene Fourment, die er so oft in mehr oder minder kokett verhüllter Nacktheit gemalt hatte, wollte nach seinem Tode seine Aktgemälde, darunter „Die drei Grazien", den „Liebesgarten", die „Nymphen und Satyrn" verbrennen lassen. Und man hat es nur dem Bruder König Philipp IV. von Spanien, der Gouverneur von Flandern war, zu verdanken, daß sie vor den Flammen gerettet wurden. „Der Gouverneur bediente sich dabei eines Jesuiten, des Beichtvaters der allzu skrupelhaften Dame, um sie von ihrem Entschluß abzubringen, dessen Verwirklichung einen großen Verlust für die Kunst bedeutet hätte" 21 . Doch mit dem Ankauf der Nacktdarstellungen von Rubens durch König Philipp IV. war die Gefahr für sie nicht gebannt. König Karl III. von Spanien, der die Freunde Voltaires schützte und die Jesuiten aus seinem Lande vertrieb, nahm Anstoß an den Nacktdarstellungen und beschloß, wahrscheinlich auf Betreiben seines Beichtvaters, eines wegen seiner Unduldsamkeit berüchtigten Franziskaners, die Meisterwerke verbrennen zu lassen. Aber da schaltete sich der damals in Spanien weilende Dresdner Maler Anton Rafael Mengs ein „und so kam es nicht zu diesem verheerenden Autodafe. Dafür befahl Karl III. seinem Sohn Karl IV., die Verbrennung durchführen zu lassen213. Nun war es der 52

Marquis von Santa Cruz, Großhofmeister im Königspalast und Mitglied des Rates der Kunstakademie, der die kostbaren Gemälde rettete. Doch mußte er dafür versprechen, sie in einen Saal der Akademie zu bringen und unter Verschluß zu halten. Dort blieben sie bis zum Jahre 1827" 2 2 . Zu den verbannten Bildern zählten auch Dürers „Adam und Eva" und Tizians „Danae und der Goldregen", „Venus, Amor und die Musik", „Venus und die Musik", „Venus und Adonis" und „Adam und Eva". Diese Werke und die oben genannten von Rubens waren wie darzutun sein wird, noch im 20. Jahrhundert Gegenstand gerichtlicher Maßnahmen. Was, so fragen wir doch da, hat die Zeitgenossen und die Nachfahren dieser Meister, von denen Michelangelo, Tizian, Dürer und Rubens Weltruhm beanspruchen durften und dürfen, zu diesem den Künstlern und der Kunst gegenüber ablehnenden, ja geradezu feindseligen Verhalten bewogen? Der eine der Gründe war die Nacktheit von Menschen auf den Bildern. An Michelangelos „Jüngstem Gericht" wurde schon 4 Jahre nach seiner Vollendung „die Unzüchtigkeit der vielen nackten Gestalten" beanstandet10. Daß diese Beanstandung ausgerechnet von Pietro Aretino kam, einer der übelsten Gestalten jener Zeit23, und daß dieser für seine Beanstandung keine sachlichen, dafür um so persönlichere und schmutzigere Gründe hatte24, tritt an Bedeutung völlig gegenüber der Tatsache zurück, daß sich, wie erwähnt, die Päpste Paul IV., Paul V. und Clemens VIII. und auch El Greco die Beanstandung zu eigen machten. Die gleichen Gedanken, nun gegründet auf den Lehrmeister Paleotti, der zwar „die Darstellung des Nackten keineswegs a limine [ablehnte] mit der für ihn bezeichnenden Begründung, daß man den leidenden und sterbenden Christus und den hl. Sebastian nidit anders darstellen könne" 25 , aber eben nur auf beide heiligen Gestalten beschränkt wissen wollte, mochten den jesuitischen Beichtvater der Witwe von Rubens und den franziskanischen Beichtvater König Karls III. von Spanien bewogen haben, die Verbrennung von Nacktdarstellungen Rubens', und den letzteren auch noch die Verbrennung von Nacktdarstellungen Dürers und Tizians zu verlangen und ihre Verfemung zu erreichen. Und wieder wie bei Michelangelos „Jüngstem Gericht" waren es „anstößige Nuditäten" 20 , mit denen die Jesuiten die Entfernung von Rubens' „Jüngstem Gericht" aus ihrer Kirche in Neuburg an der Donau durchgesetzt haben. 53

Der zweite Grund war die unübliche (nicht, wie gewöhnlich übersetzt wird, ungewohnte) Darstellung von Ereignissen der christlichen Heilsgeschichte, für die, wie erwähnt, C. Borromeo, gerade was die Beigabe von Tieren anlangt, seine weit über seine Mailänder Diözese hinauswirkenden Anweisungen gegeben hatte. Das aber war es, was man Yeronese anlastete, nämlich, daß er „Das letzte Abendmahl" durch die Beigabe von Hunden, Zwergen und Soldaten bereichert habe, um so seine Kunstauffassung als mit der des Konzils nicht vereinbar hinzustellen und zu treffen. In dieser Auffassung, „im stilo tridentino, kehrt breit ausgesponnene Allegorese ein Ubermaß an lehrhaft moralisierenden Tatbeständen hervor. Resolut setzt sich die Neigung zur Rechtfertigung der Kunst rein von den vorkünstlerischen Sachen her durch; die künstlerische Gestaltung selber aber bleibt öd und langweilig, der didaktische Apparat tötet die Fülle der frei und souverän spielenden Phantasie. Gerade sie aber ist unerschöpfliches Zentrum von Veroneses Einbildungskraft" 2 6 . Und Caravaggio? „Die Vertreter der konzialiaren Kunstauffassung fühlten sich besonders beleidigt; weniger durch die negativen Charakterzüge des Libertiners als durch die kraftvolle positive Eigenschaft Caravaggios: den Geist der Wahrheit. Der selbe Grund, aus dem er sich für die ganze Natur, eine Frucht, ein Blatt oder auch für eine Gestalt begeisterte und sich weigerte, in der Natur um der Schönheit willen ein Sujet zu suchen, bewog ihn, den hl. Matthäus als einen Bauern darzustellen und nicht von fürstlichem Blute. Lediglich seine Wahrheitsliebe veranlaßte ihn, die Pilger mit schmutzbedeckten Füßen und zerrissener Kappe und die tote Madonna als den Leichnam einer armen Frau wiederzugeben. Dies mußte als ein Angriff gegen die Auffassung erscheinen, welche die heiligen Geschehnisse so darlegten, als hätten sie sich nur in prunkvollen Kardinalssälen ereignet. Es war außerdem ein Weg, zurückzufinden zu dem Evangelium, wie es sich unter den armen Leuten ausgebreitet hatte, und die wundertätige Bedeutung des Lebens Christi zu verkünden. Beweggrund dieser Darstellungsart war das Bestreben, das eigentliche Wesen der Religion dem Bewußtsein des einzelnen näherzubringen, das aber gerade, was die Gegenreformation nicht zulassen durfte" 1 6 . Beide Gründe treffen da, wo es sich um Darstellungen aus der christlichen Heilsgeschichte handelt, in einem dritten Grunde zusammen, der empieta. Schon Aretino hatte 1545 diesen Vorwurf gegen Michel Angelo erhoben 10 und mit diesem Vorwurf war die Inquisition 54

gegen Veroneses Abendmahl und ihn selbst vorgegangen26. Was aber bedeutet der Vorwurf der empietà? Er bedeutet zunächst den Vorwurf der unchristlichen, der heidnischen Darstellung, des paganismo. Was damit in erster Linie gemeint ist, zeigt wieder Paleotti, der „die Darstellung der falschen Götter, heidnischer mythologischer Szenen, aber auch der heidnischen Kaiser, die die Christen verfolgt haben, sogar außerhalb der Kirchen strikt ablehnt. Daß das die Früheren getan, gibt er unumwunden zu; aber jetzt, nach dem Konzil von Trient, ist man sich der großen Gefahr bewußt geworden, die im paganismo liegt" 27 . Diese Gefahr — und das ist die zweite Seite der empietà — ist nach der von Paleotti besonders scharf ausgesprochenen, aber schon vorher allgemeinen Auffassung dann gegeben, wenn das christliche Heilsgeschehen nicht oder nicht nur Gegenstand, sondern (auch) Anlaß der Darstellung ist, so daß diese dadurch ihres frommen Wesens entkleidet wird. Michelangelos „Jüngstem Gericht" gegenüber wurde der Vorwurf zu Unrecht erhoben. Aber gegenüber der „Madonna Doni" in den Uffizien besteht er zu Recht. Niemand hat ihn besser in Worte gekleidet, als der berühmte Jakob Burckhardt, wenn er sagte: „Mit einer Gesinnung dieser Art soll man überhaupt keine heilige Familie malen." Und der zu seiner Zeit sehr berühmte Kunstgeschichtler Justi tat noch ein übriges, wenn er meinte: „Das Spiel des Gelenkapparates vernichtet den Eindruck; das Idyll des Elternglücks wird zu einem Stück Zimmergymnastik" 28 . Der heutige Betrachter empfindet das nicht mehr so stark. Aber mit Burckhardt spürt er, daß dem Meister die „heilige Familie" nur Anlaß gewesen zu sein scheint, im Hintergrund eine Anzahl nackter Jünglinge zur Schau zu stellen, die mit dem christlichen Heilsgeschehen nicht das mindeste zu tun haben, und, man könnte fast glauben, bewußt das an sich nicht Unfromme der Darstellung zerstören 29 . Nicht viel anders ist es bei Veronese, wo durch die christlicher Überlieferung völlig widersprechende Beigabe von Soldaten, Hunden und Zwergen das „letzte Abendmahl" seines geheimnisvollen Wesens beraubt und zu einem der in Italien so beliebten lärmenden Gastmähler herabgewürdigt wird. Damit aber sind wir bei einer weiteren Seite der empietà. Sie wird deutlich, wenn im kunstwissenschaftlichen Schrifttum jener Zeit beklagt wird, daß sich die Maler „nicht mehr um den Stoff kümmern und nur noch ihre Virtuosität zur Schau tragen" 30 und wenn dann an der Darstellung von Martyrien beanstandet wird: „Aus den leichten Andeutungen der Wunden, wie sie bisher in der Kunst üblich waren, 55

konnte niemand lernen [!], wie bitter der Schmerz war und die Verspottungen, die Mißhandlungen und die Qualen und die übrigen großen Leiden" 31 . In die gleiche Richtung gehen Äußerungen wie die26, „daß das die größte Kunst ist, die die Sache selbst nachbildet, die Qualen bei den Martyrien, das Weinen bei den Weinenden, den Schmerz bei den Leidenden und die Glorie bei den Auferstehenden. Darin besteht ja gerade das Wesen der Kunst" oder die32, daß der Maler ähnlich wie der Redner „mit Pathos und K r a f t " die heiligen Geheimnisse vortragen müsse, um jeweils nach der Vorlage dem Gemüt frommen Sinn, Furcht oder Schmerz einzuflößen; oder die 33 : „Wenn wir mit lebendigen Farben das Martyrium eines Heiligen dargestellt sehen, wenn wir den Bildern einer heiligen Jungfrau begegnen, die alle Folterqualen über sich hat ergehen lassen, ohne dadurch niedergebeugt zu werden, wenn wir Christus sehen, wie er mit grausamen Nägeln ans Kreuz geheftet ist, so müßten wir eine Natur von Marmor oder Holz haben, wenn wir davon nicht tief bewegt, unser Streben nach Frömmigkeit neu angefacht und unser Inneres von Reueschmerz und Andachtsglut aufs tiefste ergriffen würde" 34 . „Fromm" im Sinne dieser Kunstauffassung ist also nur eine Darstellung christlichen Heilsgeschehens, die auf den Betrachter aufrüttelnd, ergreifend, also insgesamt erzieherisch wirkt. Dem gleichen Ziele unterwarf diese Kunstauffassung das Theater, und zwar zunächst das von den Jesuiten, den Vorkämpfern der Gegenreformation „so intensiv gepflegte Schuldrama. Es diente der Vertiefung der Glaubenswahrheiten wie der Kenntnis der Heilsgeschichte, nicht zuletzt auch der sittlichen Erhebung. Hier fand man sich mit dem antiken Ideal des klassischen Theaters der inneren Erhebung und Reinigung. Es sollte den Zweifler wie den Abtrünnigen erschüttern und zurückrufen, [aber auch] Faulheit, Leichtsinn, Gefräßigkeit bekämpfen [und] gegen den dummen Standesdünkel angehen" 35 . Und was vom Schuldrama erwartet wurde, verlangte man nicht minder (wenn auch nicht selten mit einer auf den Herrscher ausgerichteten Zielsetzung) vom Hoftheater, wie es im barocken Frankreich zu ganz besonderer Blüte von weltweiter Bedeutung aufstieg, so daß hier von der „Vergeistigung des Barock in der französischen Klassizität" 3 6 gesprochen werden konnte, und nicht minder von der Hofoper, der Mozart in seinem Titus das letzte Meisterwerk dieser Art schrieb. Was solcher religiösen oder staatspolitischen Zielsetzung nicht entsprach, verfiel der Ablehnung, der Zurückweisung, dem Verbot oder gar der Zerstörung. Noch 1725 ließ der 56

sonst g e w i ß nicht eben e n g h e r z i g e K u r f ü r s t M a x E m a n u e l v o n B a y e r n die seinen A u f f a s s u n g e n nicht e n t s p r e c h e n d e Decke des Johann Anton Gumpp i m Schloß Schleißheim a b k r a t z e n u n d durch eine seinen A u f f a s s u n g e n éntsprechende des B. Albrecht ersetzen 3 7 . U n d nichts beleuchtet d e n Geist, d e r d i e klassische K u n s t a u f f a s s u n g noch in der W e n d e z u m 19. J a h r h u n d e r t beherrschte, besser, als eine in dieser Z e i t e n t s t a n d e n e D e n k s c h r i f t eines österreichischen Zensors 3 8 , die u m dessentwillen, a b e r auch weil sie a n eben A u s g e f ü h r t e s a n k n ü p f t , in der H a u p t s a c h e hier w i e d e r g e g e b e n sei: „íJüté erfte ift eé befannt, bafj ^tancfreici) baé erftc 9?etd) in Europa mar, tt)eíd)eé¡ ein Äunft-- unb Tegelmafjtgeé "Síjeatet f)aite, ba ^tanrfretd) jug(eid) ein monarcf)if(|eé íatt>oIifcí)eé 9?eict) toar, unb baé franjofifct^e §f)eater, wie ebenfalls betannt ift, mií 9?ec$t baé gereinigtefte ^ e a t e r öor allen übrigen (Suropené toar; fo toirb jeber 3enfor fef>r gut tí>un, toenn er ftc£> baé franjöfiföe §f)eater fo, tote eé unter ben Königen beftanb unb t>on öielen bortreffItdjen Seilungen jebccf; mit allmaltger 9?iicffict)t auf bie ©enfenéart, Sitten unb ©etootyntyeiten beé eigenen £anbeé einjuricfjten. SRad) ber Äauptreget foU baé §;f)eaíer eine Schute ber Sitten unb beé ©efdjmacfeé fe^n. 3 u toünfdjen toäre eé, bafj bie bramatifdjen 2hití>oren btefer toasten 9íegel, bie fie fo oft öorprebigen, in ber Sluéübung aUjeit getreu blieben. Allein fie fei)einen fid), toenn fie Stüde »erfaffen, oft ju oergeffen. Obige £>auptregel, fo toeit fie bie Sitten betrifft, gei>et bie 3enfur im ftrengen Q3erftanbe an, ber ©efdjmacC aber nur in fo toeit, até er baé Sd)itoer= Itcf) an einem Orte einförmig filteren unb ben Aauptton geben wirb, ©enug, toenn nidjté ungereimteé unb unanftanbigeé toiber bie Sitten gebulbet toirb. ffüré jtoeite ift ju bemerien, baß bte Gd)aufpie(e öon » e r g e b e n e r @attung finb. ^orjügltd) ift bie ältefte Sintfjeilung berfetben in ^rauerfpiele unb ßuftfpiele befannt. 3m Stauerfpiele toerben bie "Sugenben unb Cafter ber Dlenfcijen öorgeftellt, um erftere ju d u f t e m ber 9íad>aí)mung, bie leiteten aber ju d u f t e m beé 5lbfá>eueé a u f s t e l l e n . ®aé ßuftfptel be^anbelf bie Sf)ori)eiten unb Unarten ber ^JJettfdjen, um biefe burd) läd;erltcf)en Spott baöon ju Reiten. 9lebft bem f)oí)en íSragifdjen ift baé bürgerliche ^rauerfpiet, baé ernfte ©rama unb nod) anbere ©attungen entftanben, welche öon ben 2luti)oren 57

bloé Sdiaufptete, gamiliengemälbe unb bcrgíetcfjen genannt werben, fo wie baé Suftfptel noch bie ^ o f f e ober baé "^offenfpiel unter ftci) hat; otjne beé tyrifchen S^eaíeré, nemmlich ber Gingfpiele ober Operetten ju gebeníen, Welche nicht ju bent wahren ©efchmad geregnet werben wollen. 5IUe biefe öerfchiebenen ©attungen müffen einen moralifchen 3wec£ haben unb entWeber bie 33eförberungen ber Sugenben beé QSMUené ober auch bes Q3erftartbe2¡, baé ift bie S d j a r f u n g beé n müffe alé bie gewöhnliche 3 e n f u r f ü r bie bloße Lecture ber ©rucffchriften, wenn lejtere auch ' n ©ramen befiel)en. ©tefeé ergibt fiel) feijon aué bem öerfchiebenen ©inbrud, ben ein in lebenbige Äanblung bié j u r ^äufchung gefejteé auer machen muß, alé berjenige fe^n iann, ben ein bíoé am ^ u l t e gelefeneé gebrudteé Schaufpiel bewirdt. — ©er Sinb r u d beé erftern ift unenblict) ftärder alé jener beé lejtem, weil baé erftere Slugen unb Ohren befiichen S a u j e é entjogen haben; unb bergleid)en. e ) c) 2luch finb foldhe S t ü d e nicht ju passiren, Worin bie 9íegenten befonberé aber bie öaterlänbifdjen in nachtheiligen ober herabwürbigenben Paradieren gefdjilbert werben. d) Monarchen nachtheilige Gegebenheiten ober h^abwürbigenbe "SRifj-hanblungen berfelben, wenn fie ben Stoff eineé Gtiicfes aufmachen, iönnen aud; nicht aufé "Später gebracht werben. gine anftöffige "SKifihanblung würbe eé auch f c 9 n / wenn ein 9?egent wie ein •xOiiffethäter in einen Ä'erier gefperrt, unb über ihn ©ericht gehalten Würbe; item würbe eé bermal aud> anftöffig fepn, wenn einem 9?egenten t>on einem ober mehreren V a s a l l e n fchimpflich begegnet ober getrojt würbe. — ") »II Trionfo di Clelia«, Drama »on £ o f f e, würbe a u « 2lnlafi ber maijlin 3 o f e f I i . , am 20. smäts 1762 itiumpl)ireni>e e t ä l i a « , überfeijt »on fetben 3 a t ) r c .

per musica in 3 ?lcten Bon Wt e 1 a ft a f i 0 m i t SKuftI gtücflic£;en (¡rntbinbung ber ö r j t > c r j o g m 3 f a b e t t a , ®ea t $ g e f t o p e r aufgeführt, (Sine beutfc^ie 2luSgabe » S i e 3 ( a c o b ) 2l(nfon) (S(blen) » . © b e t e n , erfcbien im

e ) 2lm 26. 9 i o » e m b e r 1779 befcbtofi bie auft>ie( »®er S d w e i a e r bunb« (»on S o d a n n Cubwig 91 m b ü h t) enthält b a $ "ProtoioH »om 23. S e c e m b e r 1779 fot-genbe ' B e m e r f u n g : »®iefe$ bramatifcbe S t ü i bebanbelt bie 'Befreiung ber ®£bwei}. ®er Siebter l ä g t in feinem g n t b u f i a f m u « für bie F r e i h e i t einen feiner S e l b e n , SBilbetm S e U , nao m a n « letf.« S a biefe« Stüct außerbem, bafs e m ä b n t e r 2luibruc( bie Ce^re »om S y r a n n e n m o r b j u beftärien fcfieint, »ortrefftid) a u f g e a r b e i t e t ift, fo w a r b b e f ^ t o f f e n , bafj e i gegen 3 e t t e t (b. i . gegen E r l a u b n i s ein j u m Q3ejuge im 93ucf)i)anbel) gehen möge.«

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ioinricttíungen ber R e g e n t e n f ö n n e n i n monardjifcfyert S t a a t e n n i d j í a u f s S;í>eaíer gebracht werben. S o tote j . ein= ü e r b r e ^ e n ift í>ier n i d j t bie 9 í e b e ; n u r m u | baé p u b l i c u m , w e n n bie tjanbetnben ^ e r f o n e n baé 93erbred)en ber Ä a u p t - ober einer a n b e r n tjanbetnben ^ e r f o n öermuttjen ober gtauben, u n b bie 93erwicflung barauf rut>et, öom 3 r r t t ) u m e unterrichtet fetyn. ^Perfonen männlichen ©efdjíedjteé iönnen ber 5;ugenb Schlingen legen, 93erfuelben» mä^ig beé £e6ené beraubt, um nidjt länger leiben ju bürfen ...«

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2Beftinbierg) ift j w a r auet eé Wie Bileams Sfel, noch weniger j u bulben finb. 2do. ©leid)nifjreben: alé atí toie "SRethufalem, weife Wie Solomon, ftumm wie £oíf)é S a l j f ä u l e ; bafür fann eé tjeifjen: alt Wie Sfteftor, Weife Wie Solon, ftumm Wie ein Qnfd) JC. ®r fielet aué wie ber linde Schacher, ftatt beffen: Wie ein Verworfener. £ r ift fett wie ein ©omprobft, ftatt beffen: fett Wie ein reicher ^ä, f o n b e r n a u é i l e b e r l e g u n g f a l t b t ü t i g n a d ) ©runb-fätsen b i e Q B e l t » e r a c h t e n u n b fie burcí) S n t l e i b u n g o e r l a f f e n m ü f f e , o b e r b a f j m a n b e r 5berr fet), ö o n b e r 'JBelt a b j u t r e t e n , w e n n t n a n w i l l , f i n b a l é a n f t ö f f i g nictit j u passiren. G e l b f t m ö r b e r i n j e n e r Q B e l t glücflid) p r e i f e n i f t p c ^ f f a n f t ö f f i g , a u d ) i f t b e m © u e E a n f e n nici)t j u g e f t a t t e n , b a f j fie e i n a n b e r ö o r l ä u f g b r ü b e r í i d ) f a g e n : fie » e r b e n fii$ a t é S n g e í f e f i e n ; t)0d)ftené í a n n g e f t a f f e t W e r ben, b a ß e é í>eiffe: j e n f e i t é b e é © r a b e é 2c. Q3on b e n © e l b f t m o r b e n g r o f f e r B ö r n e r o b e r © r i e c h e n , b i e b i e S d j a n b e o b e r b a é i l n g l ü á iíjreé 9 3 a f e r l a n b e é nii^t ü b e r l e b e n o b e r g e g e n ií)r 9 3 a t e r l a n b ntcf)t f t r e i t e n w o l l t e n , i f t í>ier l e i n e 9 í e b e . Bmo. g ¿ í o m m t B f t e r é ü o r , b a f j í j a n b e í n b e " ^ e r f o n e n f a g e n : © o t t tjabe i í j n e n ein f ü ^ l b a r e é fierj ober bíefe o b e r j e n e N e i g u n g g e g e b e n . Ä i e b e t ) i f t n u r b a r a u f j u fet)en, b a f j © o t t a l é U r h e b e r b e r S t a t u r n i e a u f e i n e e n t f d j i e b e n e 2 l r t j u m Urheber beé Übelé g e m a l t werbe. 2 1 u f f e r o r b e n t l i d ) e ^ l ü c ^ e u n b e 9?egel geben alé folgenbe: © a é ^ u b l i f u m mufj alé eine gefittete, wohlerjogene ©efeEfchaft angefehen »erben, gegen bie m a n bie Sichtung nictyt »erleben barf. ei§t bafür: ben xD?ann betrügen, bie Sreue »erlejen JC ©och ift hier eine allgemeine Q3emerfung su mad>en, baf) QBörter, woburd) finttlic^c Cafter bejeicfmet werben, in ^rauerfpielen nie fo auffallen wie in fomifchen Sfücfen, wo gefcherjet werben fann. S o apoftrophtrt bie ©räfin Orsina in ber Emilia Galotti Don £ef)ing ben Äammerj uncfer Marinelli mit einem äufferft ftrengen § o n : ©u Kuppler! ebne aßen Slnftofj. ©iefeé ift aud) ber ©runb, warum bie geiftlitung am 1. ®ecember 1787 unter bem Siíel: ®ie 93erf3m>¡Srung beé 3ie¿co, ein r e p u M t I a n f f $ e ¿ Srauerfpieí. "Bei ber jetmten 2Sorftellung »urbe bie 3?oüe ber Hertlja »au§ 21nftanb«rüclfid;tcn-. »eggetaffen. Seit 3. ®ecembet 1793 biä äum 31. SKärj 1800 fonb leine »eitere 2luffüf>rung ffaft.

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fiiebe wirb até bic göttliche Quelle aßet í£ugenben b e t r i e b e n ; mit einem "SSorie, man fanonifirt bte Steigungen ber Statur unb bie fogenannte 93ernunft, um bie pofitioe 9ieligion »erbächtig unb entbehrlich ju madjen. 'SeptDÖTter »om reltgiöfen ©ebraucfje werben j u r Schilberung berfelben übertragen unb auf bie Statur angewanbt, um baé gfjrttiürbtge auf baé tejiere ju übertragen; bai>er heifjt eé oft bic: or= maté í)ie§ eé: ebte ©efinnung, Stächftenliebe unb Ciebeébienfte (officia humanitatis). Vermöge ber Stetigion heiliget bie irifttic^e ^ u g e n b bie SKenfcfjen, weit fie burch biefe S t i e g e l ber göttlichen Q3oEiomment)eiten werben. 3 h n foll aber bermal bie Statur unb ihre t r i e b e Zeitigen, mit einem rung bie "Betmttigung naciigefucfit toetben. B e a m t e m u ß t e n iiberbiei tion ilwen £t)ef§ ein 3 e u g n i i 6eit>ringen, b a g burd) b a i Äomöbienfpiet it>ren T)eruf«gcfcf)äficn lein •Jlbbtuii) gefefteije.

°) © t e p j a n ^ o ^ i n s « ober ber U a u e r n l t i e g . O t i g i n a l b r a m a in 5. Slcten t>on ^ a u l 2B e i b m a n n . SEBien 1777, b a n n 1781 bei ©I>eten. p) ®er bat)rifc£)e Äiefet ober ®ie beffrafte 2BiIbfd)ü$enbanba. 6auf(>iel in 4 9lcten mit Ä a f p e r l , einem flüchtigen ®eferteur, gejiBungenen 2BiIbfcf)iii>en u n b beängftigten ®e-fängnigtoärter. Uon Sriftian o fj b a c£) , 9JiifgIieb ber 'JBitijetm'fc^en ®c()aufpiel--®efeaf«aff.

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mann beé d ü r f t e n »on ©¡Hingen até "Sauetnfcfnnber mi§t)anbeít wirb, aufgeführt unb b r a f : »eé lebe bie ^reiiteit unb ®letcf)f)eii« babety gerufen f)at ®er Unterzeichnete wünf($í, ba§ bie biéíjer angeführten 33emerfungen auffer einigen f)in unb wiber eingeftreuten feften ©runbfätjen nur alé gingerjeige unb ^ftachweifungen ange}et)en werben möchten, welche einem íS^eater-¿enfor mel)r j u m ßeitfaben, alé j u m unoerbrüctjlic^en ©efe^e gemacht würben, bamit er nict)t auf einer Seite j u f u r ^ t f a m werbe, inbem er auf ber anbern aud) gegen 'Síjeatratuníerneíjmungen in ^ a f f i r u n g unbebencfli(^er ®inge geredjt fe^n mufj. Sebeé Gtütf ift ein © a n j e é , baé jufammenfjangí, unb bie 5 ä H e fo m a n n i g f a l t i g , bafj m a n in biefem ftac^e nicí)fé genaueé f ü r alle g ä l l e beftimmen íann. 3eit unb Ortéumftanbe finb überall in Grwegung ju jie^en, unb im © a n j e n bleibt immer öiel ber guten "Seurftteilung überlaffen."

Dieses Schriftstück hat für den Hausgebrauch der Zensoren aller Art und Zeiten das aufbewahrt, was die klassische Kunstauffassung unter empietá verstanden und als Ungehorsam gegen sie seither bekämpft hat. Wie wenig hat sich doch hierin im Bereich der katholischen Kirche bis auf den heutigen Tag geändert! Die eifrigsten ihrer Vertreter handeln heute noch danach, werden die Veröffentlichung gewiß als Grundlage weiterer Bemühungen um „saubere" Leinwand und dergleichen dankbar begrüßen und sie gerne an Gleichgesinnte im Ausland, etwa in Italien, Spanien oder in den USA, weiterreichen, wo an Strafverfahren gegen Künstler und Dichter wegen der Unvereinbarkeit ihrer Werke mit jenen Grundsätzen kein Mangel ist39. Seltsam freilich ist es, daß sich diese in ihren Wurzeln gegenreformatorische Kunstauffassung auch in den ohnehin nicht eben kunstfreundlichen reformatorischen Kirchen40 so richtig einnisten konnte. Schon 1624 hatte Martin Opitz in der Kunst nur ein Mittel zur Einkleidung und damit Verständlichmachung theologischer Gehalte gesehen41. Weiter noch ging 1749 der englische Philosoph Hartley, wenn er sagt, daß man die Künste eigentlich kaum dulden könne, „es sei denn, daß sie sich ganz religiösen Zwecken widmen. Wenn dies der Fall ist, kann man sie zu hervorragenden Instrumenten entwickeln, die unsere Affekte erwecken und bewegen und sie auf die wahren Gegenstände hinleiten" 42 . Aus diesen Worten des nichtkatholischen Engländers hört man förmlich die Gedankengänge des Kardinals Paleotti heraus, und noch mehr gilt das von den Worten des Oxforder Theologen John Keble, der in seinen 1832 und 1841 gehaltenen berühmt gewordenen Vorlesungen über die Dichtkunst vortragen konnte, „daß man nur dann der Dichtkunst gerecht werden könne und sich angemessen mit ihr beschäftige, wenn man nicht ver74

gesse, daß sie ein Geschenk des Himmels sei, nur zu dem einen Zweck der Menschheit gegeben, damit sie wie eine hochgeborene Magd der wahren Religion zu Dienste sei und sie unterstütze"43. In Deutschland ist der Streit um des Protestanten C. D. Friedrich Altarbild „Das Kreufc im Gebirge" 44 dafür ebenso bezeichnend wie später zu erwähnende Äußerungen protestantischer Geistlicher genau im Sinne der katholischen Kunstauffassung. Und daß bei der engen inneren und äußeren Bindung der Herrscherhäuser mit den zeitweise allein von ihnen getragenen Kirchen, deren Kunstauffassung auch die der Herrscherhäuser und damit ihrer Staaten wurde, braucht nicht sonderlich zu verwundern. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist etwa die Übernahme von den katholischen Index beherrschenden Gedankengängen in einschlägiges nichtkatholisches Recht. Während, wie oben erwähnt, der Index von 1559 den Büchern die Zensuren,„temerarie, scandalose, erroneo, sospette, heretiche, superstitiose, apocrife" erteilen kann, hat die englische Licensing Act von 1662 dafür die Zensuren „heretical, seditious, schismatical or offensive", welch letztere „obscene publications" einschloß45. Dabei entsprachen etwa „heretical" den „heretiche", „schismatical" den „erroneo, sospette, superstitiose, apocrife" und „offensive" den „temerarie, scandalose" des Index. Die in ihm, aber nicht nur in ihm sich spiegelnde klassische Kunstauffassung hat, wie zu gegebener Zeit zu bemerken sein wird, noch im 20. Jahrhundert die Vorstellungen der Herrscherhäuser, ihrer Staaten und Einrichtungen nachhaltig beeinflußt. Sie alle sahen und sehen ebenso wie die Kirchen und ihre Einrichtungen in der Kunst nur eines von vielen Mitteln zur Verherrlichung der Herrscher und der Kirchen und zur Verkündung und Verbreitung ihrer Lehren, also als einen ihrer Diener und verfolgen daher eine Kunst, die ihnen und ihren Bestrebungen das non serviam, das „will nicht länger Diener sein" laut entgegenschleudert oder leise entgegensetzt. Auch Mozarts, aus dessen Don Giovanni der letzte Satz stammt, Begräbnis ist eine der Meisterleistungen klassischer Kunstauffassung des Staates. Damit aber rühren wir an eine Erscheinung, die die Auseinandersetzungen zwischen der Kunst einerseits und den Obrigkeiten und dem von ihnen gesetzten Recht andererseits wie ein roter Faden bis in unsere Tage herauf durchzieht. Die Auffassung der Obrigkeiten von der Kunst ist seit dem späteren 16. Jahrhundert bis heute die gleiche, die gleiche klassische geblieben46. Ihr Recht legt an die Kunst 75

immer noch die Maßstäbe der seit dem späteren 16. Jahrhundert herrschenden „klassischen" Kunstauffassung an 47 . Die Kunst dagegen ist nicht mehr die klassische des ausgehenden 16. Jahrhunderts, die Kunst, die als Barock einer der glanzvollsten Höhepunkte des abendländischen Geisteslebens ist. Der Tod ihres eindrucksvollsten Vertreters, Ludwigs des XIV. 1715 ist gleichsam das Feuerzeichen, das das Ende des Barock ankündigt. Denn nun setzt eine Kunst ein, die als „Regence" traumhaft beginnt, gerade in Bayern als Rokoko eine heitere Höhe erklimmt, allmählich zum Zopfstil verknöchert und in der französischen Revolution tragisch endet. Es ist eine antibarocke, antiklassische Kunst, die die barocke Kunst und die in ihr sich spiegelnde Welt von Grund auf in Frage stellt. Nichts aus der schier unübersehbaren Fülle der Einzelheiten ist dafür bezeichnender als die Wiederkehr von Stilformen der vom Barock so bitter gehaßten Gotik 48 (Santin-Aichel in der CSR 49 , Walpole in England 50 ) und einer fast ins Wahnhafte sich steigernden Liebe f ü r das Absonderliche, Skurile, Groteske 51 , Verwesende, Verweste, im besonderen für Ruinen: ein wahrer Kult der Ruinen beginnt, wirklicher Ruinen, künstlicher Ruinen, ja als Ruinen geschauter Gebäude, etwa der großen Galerie des Louvre (Robert), der Bank von England (Gandy), einer Kirche in Rostode (C. D. Friedrich/2. Es ist die Fascination of Decay 53 , die auch im Schrifttum der Beispiele nicht ermangelnde Freude am Untergang einer Welt und ihrer Kunstauffassung, die sich nahezu 2 Jahrhunderte als heil empfunden und darüber gefreut hatte. Am Ende einer solchen, wie wir aus Aperçus Voltaires, Talleyrands und des Fürsten von Ligne wissen, den Vorgeschmack ihres Untergangs förmlich genießenden Welt konnte nur eine Revolution stehen. Sie aber brachte mit dem Diktator auch eine ihm gemäße Kunstauffassung, eine anti-antiklassische Kunst, den Klassizismus, und damit die Wiederkehr der klassischen Kunstauffassung. Der Klassizismus wieder, zu eng mit Napoleon verbunden gesehen, löst den Antiklassizismus der Romantik aus, und nun überstürzen sich die Ereignisse und verwischen sich die Grenzen. Niemals waren das „Noch" einer vergehenden und das „Schon" einer kommenden Kunst und Kunstauffassung so ineinander verwoben. Doch aus dem oft nur scheinbar brodelnden Meer tauchen immer wieder Dichter und Maler empor, die auf ihre Art das Dasein einer antiklassischen Kunst und Kunstauffassung bezeugen. Aber dies weiter auszuführen, würde, so reizvoll 76

es wäre, den Rahmen dieses Buches sprengen. Für dieses genügt die Feststellung, daß je mehr sich das immer reicher werdende Großbürgertum auf die klassische Kunstauffassung zurückzieht und ihr durch den Rückgriff auf frühere Stile dieser Kunstauffassung (Neubarock, Ringstraßenstil, auf seine Art auch der Jugendstil) Ausdruck zu verleihen sucht, desto lauter sich die antiklassische Kunstauffassung zu Worte meldet und als Feind der klassischen Kunstauffassung, insbesondere der sie vertretenden Mächte „Thron und Altar", mit dem von ihnen gesetzten Recht in Widerspruch gerät. Und nun sehen wir von den Vertretern der klassischen Kunstauffassung wieder alle die Vorwürfe erhoben, die diese anläßlich und kurz nach ihrer Entstehung gegen die Künstler der antiklassischen, damals manieristischen Kunstauffassung erhoben hat. Den Vorwurf der unüblichen Darstellung religiöser Geschehnisse, insbesondere des christlichen Heilsgeschehens, t r i f f t man gegenüber J. v. Eichendorff wegen seines Gedichtes „Marias Sehnsucht" (S. 202), Max Ernst wegen seines Gemäldes „Die Jungfrau Maria verhaut den Menschensohn" (S. 351), Paul Heyse wegen des Bühnenwerkes „Maria von Magdala" (S. 164), Max Klinger wegen seines Gemäldes „Kreuzigung Christi" (S. 101), Max Liebermann wegen seines Gemäldes „Der zwölfjährige Jesus im Tempel" (S. 95), Ludwig Thoma wegen seines Gedichts „Heilige Nacht" (S. 202), Fritz v. Uhde wegen zahlreicher Gemälde mit Darstellungen aus dem christlichen Heilsgeschehen (S. 103 ff) und Herrn W. wegen seiner Tetralogie „Jesus" (S. 225). Den Vorwurf der religiöse Geschehnisse, insbesondere das christliche Heilsgeschehen, aber auch religiöse Einrichtungen oder Gedankengänge ins Lächerliche ziehenden, ja sie verspottenden oder verhöhnenden Darstellung findet man gegenüber Wilhelm Busch wegen des „Hl. Antonius von Padua" (S. 95), Lukas Cranach d. Ä. wegen gewisser Karikaturen auf das Papst- und Mönchstum (S. 215), Richard Dehmel wegen des Gedichts „Venus Consolatrix" (S. 132), Edelau und Staudinger wegen ihres „Zölibatzi" (S. 200), C. Einstein wegen des Werks „Die schlimme Botschaft" (S. 320), Ernst Gläser wegen der Tragikomödie „Seele über Bord" (S. 363), G. Grosz wegen der Graphik „Christus mit der Gasmaske" (S. 379), Max Halbe wegen seines Dramas „Jugend" (S. 135), W. Hasenclever wegen des Theaterstückes „Ehen werden im Himmel geschlossen" (S. 371), H . Lautensack wegen des Dramas „Pfarrhauskomödie" (S. 287), S. Mehring 77

wegen des Gedichts „Horch! In Rennes . . ." (S. 158), S. Osterrieder wegen Verbreitung eines Stiches von Sadeler (S. 174), Oskar Panizza wegen des Dramas „Liebeskonzil" (S. 138), Richard Strauß wegen der Oper „Salome" (S. 184), Karl Valentin wegen des Theaterstückes „Der Firmling" (S. 393), Peter Wespe wegen eines Gedichtes (S. 360) und Carl Zuckmayer wegen eines Frühlingsgedichtes (S. 358). Noch stattlicher ist die Reihe der Künstler des Wortes und des Bildes, die sich den Vorwurf der Unsittlichkeit von Inhalt und Art der Darstellung ihrer Werke gefallen lassen müssen. Ihre Aufzählung würde hier zu weit führen. Zwei Beobachtungen verdienen jedoch in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. Die eine: Während sich der Vorwurf der Unsittlichkeit ursprünglich auf die Darstellung aus dem geschlechtlichen Bereich beschränkt, wird er im späteren 19. Jahrhundert immer weiter ausgedehnt. „Unsittlich" ist nun alles, was jeder Art von „Sitte" zuwiderläuft, also nicht mehr nur die Darstellung aus dem geschlechtlichen Bereich. Zutreffend wurde im Schrifttum54 darauf hingewiesen, daß „früher", d. h. vor 1931, Verwaltungsbehörden und Gerichte von einem Begriff des scheinbar objektiv feststehenden Schutzobjektes „der Sittlichkeit ausgingen, dabei aber tatsächlich meistens ihre Anschauungen oder die Anschauungen ihnen nahestehender oder einflußreicher Kreise mit der Sittlichkeit usw. gleichstellten. Durchblättert man etwa die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, die sich auf die Verbote von Theateraufführungen bezieht, so stößt man regelmäßig darauf, daß die Generalklausel dann für gegeben erachtet wird, wenn bestehenden Anschauungen über Sittlichkeit, Vaterlandsliebe, über «die Rechtslage bei der Annexion von 1866» usw. «Ärgernis gegeben» wird. Bei schärferem Zusehen bemerkt man darüber hinaus noch, daß die Anschauungen über «objektive Werte» vielfach die Ideologie für Ansprüche bestimmter Stände sind, in ihrer «Reputation» nicht durch ungünstige Darstellung auf der Bühne geschmälert zu werden. So anerkannte eine bayerische Aufsichtsbehörde die sachliche Berechtigung eines Verbots, denn eine der in dem Stück auftretenden Figuren sei geeignet, «das studentische Ehrgefühl zu verletzen». Das Auftreten anderer sei dazu angetan, «die Entrüstung aller derer hervorzurufen, die vor einem ehemaligen Krieger Achtung besitzen». Die Münchener Polizeidirektion rechtfertigte das Verbot der «Verbrecher» von Ferdinand Bruckner damit, «daß hier ein unwahres und irreführendes Zerr78

bild der Strafrechtspflege vorgeführt werde, daß Richter und Staatsanwälte weltfremd, dem Leben verständnislos gegenüberstehend und zur Rechtsfindung unfähig dargestellt würden, daß auch die Verteidiger ihrer Aufgabe nicht gewachsen und lässig erschienen». Es sei daran erinnert, daß sowohl in Berlin wie in Wien die Aufführung des «Prinzen von Homburg» von Heinrich von Kleist sehr lange verhindert, in Berlin erst 10 Jahre nach dem Tode des Dichters gestattet wurde, weil die Generalität es unerträglich fand, daß ein Heerführer in unmännlicher Verzweiflung am Abend vor seinem Tode gezeigt werde" 5 5 . Die Generalität, nämlich die deutsche Generalität, fand auch in der Folgezeit, jedoch nur bis 1933, manches „unerträglich", etwa Schickeies „Hans im Schnakenloch" (S. 240) oder das Werk G. Grosz' (S. 302, 330, 379). Die österreichische Generalität dagegen fand es56 noch 1955 (!) unerträglich, daß die in der k. u. k. Donaumonarchie spielende Spionagegeschichte des Oberst Redl nach einem Roman von Kisch, der schon 1924 dem Verbot verfallen war (S. 336), verfilmt werden sollte, und wehrte sich dagegen mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln. Wie sie dieses Traditionsbewußtsein freilich mit der Behandlung des bedeutendsten lebenden Vertreters ihres ehemaligen Herrscherhauses, dessen Chef bis 1918 der oberste Kriegsherr jener Generalität gewesen war und das etwa in den Erzherzögen Karl und Albrecht hochbedeutende Feldherrn gestellt hatte, vereinbaren konnte, vermag der Verfasser als Außensteher füglich nicht zu ergründen. Auf weitere Beispiele ähnlicher Art wird er später eingehen. Die zweite Beobachtung betrifft die als „unsittlich" gebrandmarkte, jedenfalls zu ihrer Zeit als „erotisch", wenn nicht als „pornographisch" empfundene Kunst. D a ß „Ausstellungen und Veröffentlichungen zur erotischen Kunst so viel falsches Aufsehen erregen und gerade auch in der akademischen Oberschicht auf Widerstand stoßen, hat auch Gründe, die nur im Zusammenhang mit der Geschichte der Kunst selber zu sehen sind. Der Klassizismus, das gebildete Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts, hatte das Erotische bis zur Unkenntlichkeit sublimiert und sentimentalisiert. Ein krasser erotischer Realismus spielte in der offiziellen Kunst und für den Bildungsplan des Bürgertums keine Rolle. D a f ü r entstand eine neurotische Decadence-Kunst mit Surrogatcharakter (Bayros, Beardsley, Geiger, Rops u. a.), die das erotische Interesse an der Kunst zum Ästhetizismus jener wenigen erstarren ließ, die stark oder auch nur privilegiert genug waren, 79

um die Konventionen der Sittlichkeit und des öffentlichen Anstandes umgehen zu können. Erotische Kunst, wo sie nicht auf das Gebiet der Karikatur und des Witzes ausweichen konnte oder mochte, rutschte in die Esoterik ab, d. h. sie verschwand in den Schubladen der Privatsammler und Museen oder blieb durch ihr exklusives Erscheinen in kostbaren Editionen und Mappenwerken kleiner Auflagen der kunstinteressierten Allgemeinheit unbekannt. Diese falsche Exklusivität hat ihr bis heute auch beim gebildeten Bürgertum den R a n g des Verbotenen und Unzüchtigen bewahrt. Diese Betrachtungsart ist nützlich, um die ästhetischen oder vielmehr unästhetischen Formen der Enthemmung in der obszönen Kunst der Gegenwart zu verstehen und gegen jegliche transzendente Kritik gewappnet zu sein, die von erbitterten und frustrierten Menschen der industriellen Leistungsgesellschaft gegen das Lustgehabe der Erotic Art vorgebracht wird und die in der Öffentlichkeit im Schutz unseres veralteten wilhelminischen Strafrechtsparagraphen 184 zum Schaden des zugegeben nicht normativen Kunstverstandes auf großen Beifall rechnen kann. Ihn trifft die ganze verständliche Wut jener, die nicht lernen noch erfahren dürfen, daß erotische Kunst sich nicht in der inhaltlichen Darstellung oder Illustration des Privaten erschöpft, sondern das Erotische wie jeder andere Inhalt Gegenstand der ästhetischen Manipulation durch den Künstler werden muß. Die Frage, ob eine Darstellung Kunst oder bloß pornographisch sei, ist niemals durch die schlichte Beschreibung ihrer unmoralischen Inhalte zu beantworten. Hier kollidiert die im Grundgesetz abstrakt garantierte Freiheit der Kunst nicht nur mit den konkreten Anweisungen des Unzüchtigkeitsparagraphen, sondern mit der Überzahl der ästhetisch unterprivilegierten und in musischer Unkenntnis gelassenen Menschen in dieser Gesellschaft. Sie werden sich den kunstfeindlichen Unzüchtigkeitsparagraphen schwerlich ausreden lassen" 5 7 . U n d die im folgenden aufgezeigten Beispiele scheinen ihnen recht zu geben.

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ZWEITER A B S C H N I T T

Der Verlauf des Konflikts zwischen Kunst und Recht 1. KAPITEL

1870 — 1918 Zunächst freilich stand man der Kunst in allen ihren Spielarten nicht unbedingt feindlich gegenüber. So nahm man im Bayern des mittleren 19. Jahrhunderts „Kunstwerke in Sammlungen und die durch die Presse vervielfältigten Werke der klassischen Literatur" von dem (dem nachmaligen § 184 StGB entsprechenden) Artikel 223 des Bayer. Strafgesetzbuches ausdrücklich aus 1 . Auf jeden Fall sah man in der Kunst nicht einen Feind, der besondere Beachtung oder besondere Maßnahmen erheischte. Auch glaubte man, längst über ein wahres Arsenal von Waffen zu verfügen, mit denen man selbst schwersten Angriffen von Seiten der Kunst begegnen konnte. Das Theater konnte mittels der zur Vorzensur entwickelten Zensur, aber auch mittels gewerbe- und sicherheitspolizeilicher Bestimmungen im Zaume gehalten und in die gewünschte Richtung gewiesen werden. Hierauf näher einzugehen, dürfte sich angesichts der Fülle des hierüber bestehenden Schrifttums, aber auch deswegen erübrigen, weil aus gegebenem Anlaß immer wieder darauf zurückgegriffen werden wird. Im übrigen genügten die einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen über Majestätsbeleidigung, Gotteslästerung, Erregung geschlechtlichen Ärgernisses, Verbreitung unsittlicher Bücher und groben Unfug, die über das Preußische Strafgesetzbuch vom 14. 4. 1851 und über das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes (das auch Bayern übernommen hatte) als §§ 95, 97, 99, 101, 166, 183, 184, 360 Ziffer 11 in das am 1. 1. 1872 in Kraft getretene Reichsstrafgesetzbuch gelangt waren, als wirksamer Schutz gegen Kunst im weitesten Sinne, die den Anschein von Majestätsbeleidigung, Gotteslästerung oder Unsittlichkeit erweckte. Diese Meinung hielt jedoch nicht lange vor. Der Ende 1871 6 Leiss, Kunst im Konflikt

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vom Zaun gebrochene „Kulturkampf" gegen die katholische Kirche rüttelte am Altar wie das Aufkommen der Sozialdemokratie am Thron. Äußere Zeichen der Abwehr waren die nach Ziel und Inhalt völlig verfehlten Kulturkampf- und Sozialistengesetze, von denen einige der ersteren bis zum Ende des Kaiserreiches, die letzteren aber nur bis 1890 in Geltung waren. Nur aus dieser Lage heraus war es zu verstehen, daß das vom Reichstag alsbald nach Reichsgründung heftig vorangetriebene Reichspressegesetz bei der Reichsregierung so gar keine Gegenliebe fand und diese einen § 20 zu erzwingen versuchte, der „die Untergrabung bestimmter Werte der bürgerlichen Ordnung, insbesondere der Familie, des Eigentums und der allgemeinen Wehrpflicht" unter Strafe stellen sollte. „Strafrechtlich gleichgestellt sollte sein die Erörterung der Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in einer den Frieden gefährdenden Weise"2. Klarer konnte die Gefahr, der sich die „staatserhaltenden Kräfte" gegenüber zu sehen glaubten, nicht umschrieben werden: die Gefahr der Untergrabung bestimmter Werte der bürgerlichen Ordnung und die Gefahr der Erörterung der Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in einer den Frieden gefährdenden Weise. Denn das war nichts als eine wortreiche Umschreibung von Thron und Altar als den Garanten der bürgerlichen Ordnung, der bürgerlichen Gesellschaft. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen wurde er nicht Gesetz3. Das am 1. 7. 1874 in Kraft getretene Reichspressegesetz vom 7. 5. 1874 (RGBl., 65) enthält diesen § 20 nicht. Man ging daher in Zukunft behutsamer vor. Vieles wurde auf die einfachen, weil handsameren Ebenen der Verwaltung und der Justiz verlagert und nur weniges dem schwierigen Gesetzgeber anvertraut, hier obendrein nur in der Form der Änderung bestehender Gesetze, etwa des Reichsstrafgesetzbuches und noch listiger der Reichsgewerbeordnung. So wurde schon durch Gesetz vom 26. 2. 1876 (RGBl., 25) der behauptet unzüchtige Theateraufführungen einschließende § 183 StGB geändert. Den entscheidenden Schlag gegen unzüchtige Kunst oder, was man dafür hielt, wollte man aber Ende des Jahrhunderts führen: es war die sogenannte lex Heinze. Nach einer Gerichtsverhandlung gegen diesen Zuhälter entstand auf Veranlassung Kaiser Wilhelms II. der Entwurf einer Novelle zum StGB, in der die Strafvorschriften über Sittlichkeitsverbrechen wesentliche Erweiterungen und Ergänzungen erfahren sollten. So verbot eine der beabsichtigten Bestimmungen Schriften und Darstel82

lungen, die ohne unzüchtig zu sein, doch das Schamgefühl verletzen, öffentlich in Schaufenstern auszustellen (der sogenannte „Schaufensterparagraph"). Eine andere der beabsichtigten Bestimmungen wandte sich gegen ärgerniserregende Theateraufführungen. Als dieser Entwurf im Winter 1892/93 bekannt wurde, setzte sofort eine lebhafte öffentliche Bewegung gegen die beiden eben erwähnten Bestimmungen ein. Es gab kaum einen Künstler des Bildes und des Wortes, der sich nicht mehr oder minder tätig ihr angeschlossen und die mindestens vermeintlich bedrohte Freiheit der Kunst verteidigt hätte. Dies weiter auszuführen, würde freilich den Rahmen dieses Buches überschreiten. Immerhin hatte diese öffentliche Gegenbewegung den Erfolg, daß die oben erwähnten Bestimmungen, auf die sich Reichsregierung und Reichstagskommission schon geeinigt hatten, fallengelassen werden mußten, und nur eine Bestimmung blieb, die unter Strafe stellte, das Schamgefühl verletzende Bücher und Bilder an Jugendliche unter 16 Jahren zu verkaufen oder ihnen anzubieten 4 . Diese Bestimmung wurde zusammen mit anderen hier nicht einschlägigen am 25. 6. 1900 Gesetz (RGBl., 301). Wenige Jahre später, nämlich durch das Gesetz betreffend die Bestrafung von Majestätsbeleidigungen vom 17. 2. 1908 (RGBl., 25) wurden die hierfür geltenden Strafbestimmungen den immer schärferen Angriffen, insbesondere der Karikaturisten, auf Kaiser Wilhelm II. angepaßt. Damit glaubte man, Thron und Altar und ihre Einrichtungen gegen die immer stärker andrängenden feindlichen Mächte aus dem Bereich der Kunst des Bildes und des Wortes gewappnet zu haben. Man tat sogar noch ein übriges: Man errichtete bei verschiedenen großen Polizeibehörden, so etwa bei den Polizeidirektionen Berlin und München sogenannte Zensurbeiräte, die die Polizeibehörden in den Grenzfragen zwischen Recht und Kunst beraten sollten und berief als ihre Mitglieder hervorragende Männer des öffentlichen Lebens. In München gehörten dem Zensurbeirat u. a. die Dichter Thomas Mann, Hofmiller und Ruederer und der Psychiater Kräpelin an, die in diesem Abschnitt an gegebenem Orte zu Wort kommen werden. Der Bayer. Landtag freilich honorierte die Bestellung des Zensurbeirates so wenig, wie seine Zusammensetzung. Der in dieser Hinsicht immer wieder hervortretende Landtagsabgeordnete Freiherr von Freyberg erklärte dazu u. a.: 6

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„Ein Symptom für die recht laxe Stellung der Staatsbehörden zu den Mißständen [in Anstand und Moral] ist die Zusammensetzung des neuerdings gegründeten Zensurbeirates. Dieser Zensurbeirat ist bei der hiesigen Polizeidirektion vor einigen Monaten mit der Aufgabe eingerichtet worden, sein Gutachten über die Stücke abzugeben, welche der polizeilichen Zensur unterliegen. Hier einschlägig ist das insofern, als ich da ein Symptom zu erkennen glaube (Zuruf rechts: Sehr richtig!). Wenn man die Zusammensetzung dieses Zensurbeirates betrachtet, so kann man eigentlich nur zu der Überzeugung kommen, daß die Behörden eine große Angst haben, daß ihnen Rückständigkeit und zu große Rücksicht auf die Zusammensetzung der Parteien des Landtags vorgeworfen werden möchte. Augenscheinlich um diesem Vorwurf von vornherein entgegenzutreten, ist eine sehr große Zahl der Mitglieder des Zensurbeirates einer Richtung angehörig, die man ja nicht geradezu als Modernismus bezeichnen kann, weil dieses Wort heutzutage einen Beigeschmack hat, die aber zweifellos sehr bekannt sind; um dem Fortschritt, berechtigtem und weniger begrüßenswertem Fortschritt der Kunst mit Weitherzigkeit und Milde entgegenzukommen. [Bei der Zusammensetzung dieses Zensurbeirates hätte] ein klein wenig mehr Rücksicht doch auf die weiten Kreise genommen werden können, die dem eben erwähnten Modernismus etwas ablehnend gegenüberstehen, die nicht mit allen 4 Füßen gleich hineinspringen, bloß deswegen, weil von moderner Kunst die Rede ist. Wie gesagt: Diese Zusammensetzung des Zensurbeirates ist so ein Symptom dafür, daß die Behörden mit einer Reserve diesen Erscheinungen gegenüberstehen, die zweifellos den Gefühlen der großen Mehrheit des christlich-konservativen Volkes nicht entspricht." D e r so verunglimpfte Zensurbeirat der K g l . Polizeidirektion München w a r aber, wie später mehrfach darzutun sein wird, besser, jedenfalls besser im Sinne des Freiherrn von Freyberg, als der R u f , den ihm dieser vorausschickte. Dennoch reichten weder seine Einrichtung noch die sonstigen bisherigen Maßnahmen erster A u f l a g e

1909

erschienenes Buch

aus. D r . Schultzes

„ D i e Schundliteratur,

in ihr

Wesen, ihre Folgen und ihre B e k ä m p f u n g " zeigte auf, w o hauptsächlich m a n den Feind der bürgerlichen O r d n u n g zu suchen hatte 6 . Seit 1910 befaßte sich daher der Reichstag mit der B e k ä m p f u n g der sogenannten Schundliteratur. D a s Ergebnis dieser Bemühungen war wieder

ein

Schaufenstergesetzentwurf,

„der

setzes gegen die G e f ä h r d u n g der J u g e n d

Entwurf

durch

eines

Ge-

Zurschaustellung

von Schriften, Abbildungen und Darstellungen v o m 14. 2. 1 9 1 4 " 7 . Der Entwurf

hat in weitesten Kreisen,

insbesondere

unter

den

Künstlern des Wortes und des Bildes heftigsten Widerspruch herausgefordert. D a s meiste d a v o n ist veröffentlicht 8 ; auf die wohl 84

nicht so bekannte Stellungnahme des Malers Max Liebermann ist in anderem Zusammenhang 9 hingewiesen. Der „Schaufenstergesetzentwurf" wurde infolge des Ausbruches des 1. Weltkrieges nicht mehr verabschiedet und nach Beendigung dieses Krieges nicht wieder vorgelegt 10 . Dafür bot der erste Weltkrieg selbst den „staatserhaltenden Kräften" eine Fülle von Möglichkeiten, sich staatserhaltend zu betätigen. Die Presse (also alle Druckwerke, Abbildungen und Darstellungen) wurde „dem Kriegsrecht und damit der strengen Zensur des Kriegspresseamtes, das heißt der erweiterten Oberzensurstelle der Heeresleitung, unterstellt" 11 . Auch im übrigen benutzten die Stellvertretenden Generalkommando die ihnen durch § 9 des Belagerungszustandsgesetzes vom 4. Jur i 1851 eingeräumten weitreichenden Befugnisse, um auch gegen die Schundliteratur vorzugehen. An der Rechtsgültigkeit ihrer Erlasse konnte man im allgemeinen nicht zweifeln, auch wenn einztlne Generalkommandos in ihren Anordnungen zu weit gegangen sein mögen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben sich die Generalkommandos damit begnügt, gegen die ethische Schundliteratur einzuschreiten. Ihre Anordnungen erwiesen sich zunächst nicht so wirksam, wie man es hätte annehmen sollen, da jeder Erlaß immer nur für den Bereich des betreffenden Generalkommandos galt. Im Laufe der Zeit machte sich aber immer mehr die Tendenz bemerkbar, die Erlasse zu vereinheitlichen und miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Als erstes Stellvertretendes Generalkommando hat nicht, wie allgemein behauptet wird, das des VII. Armeekorps (Verordnung vom 20. Dezember 1915) den Kampf gegen die Schundliteratur aufgenommen, sondern das des V. in seiner Verordnung vom 15. Dezember 1915, die folgendes bestimmte: „ D a s Ausstellen von Ansichtskarten und anderen bildlichen Darstellungen sowie von Druckerzeugnissen im Innern der Läden, in deren Schaufenstern und Schaukästen, sowie das Feilbieten derselben (auch im Umherziehen) und das Anheften an Anschlagsäulen und an anderen der Allgemeinheit zugänglichen Stellen kann von der zuständigen Polizeibehörde verboten werden, soweit es sich um Erzeugnisse handelt, die geeignet sind, die Erziehung der Jugend ungünstig zu beeinflussen."

Der Kampf gegen die Schundliteratur war hier allerdings noch in unzulänglicher Weise aufgenommen. Weiter ging die Verordnung des Stellvertretenden Generalkommandos des VII. Armeekorps vom 20. Dezember 1915, insbesondere auch insofern, als sie es nicht den 85

einzelnen Polizeibehörden ihres Bezirks überließ, gegen die Schundliteratur einzuschreiten, sondern von sich aus f ü r den ganzen Bezirk bestimmte, auf welche Schriften als Schundschriften sich die Beschränkungen beziehen sollten, und sodann auch insofern, als auch die Ankündigung der Schundschriften verboten wurde. Diese Verordnung hatte folgenden Wortlaut: „Auf Grund des § 9b des Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 verbiete ich den Verkauf und die öffentliche Ankündigung der in der Anlage bezeichneten Werke sowie auch derjenigen Werke, die in etwaigen von mir zu erlassenden Nachträgen zu dieser Verordnung aufgeführt sein werden, ebenso die öffentliche Auslegung dieser Werke in Schaufenstern, auf Ladentischen, in Lesehallen und dergleichen. Diese Y ( Ordnung tritt mit dem 1. Januar 1916 in Kraft. Zuwiderhandlungen [reg; n diese Verordnung werden nach § 9b des Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 bestraft, sofern nicht nadi den allgemeinen Straibestimmungen eine höhere Strafe verwirkt ist." Von den übrigen Verordnungen sind insbesondere die beiden Erlasse des Stellvertretenden Generalkommandos des X I . Armeekorps vom 15. J a n u a r 1916 und v o m 8. J u l i 1916 zu erwähnen. Derjenige Teil des Erlasses, der die eigentliche Verordnung enthält, lautet folgendermaßen: „1 Der Vertrieb der in Anlage I verzeichneten Schriften, ebenso ihre öffentliche Ankündigung oder Auslegung in Schaufenstern, auf Ladentischen, in Lesehallen und dergl., wii J verboten. 2. Die Polizeibehörden haben las Verbot den Inhabern der in Betracht kommenden Buchhandlungen, Papiergeschäfte, Zigarrenläden und sonstiger Verkaufsläden, herumreisenden Ha: dlern usw. bekanntzugeben und für seine Durchführung, erforderlichenfalls durch Beschlagnahme der aufgefundenen Bestände, zu sorgen. 3. Etwa weiter auftauchende Schriften, die sich ihrer äußeren Aufmachung nach als Erzeugnisse der Schundliteratur darstellen und nicht in den Anlagen I (Verbotene Schriften) oder II (Zugelassene Schriften) verzeichnet stehen, sind, wenn möglich in drei Abdrucken, hierher zur Prüfung einzureichen. Das Generalkommando wird die Entscheidung nach Anhörung des Prüfungsausschusses für Jugendschriften und etwaiger sonstiger geeigneter Stellen treffen. Bis zum Eingang der Entscheidung ist der Verkauf vorläufig zu verhindern. 4. Diese Anordnung tritt sofort in K r a f t . " Dieser E r l a ß f a n d allgemeinen Beifall. Doch verhehlte m a n

sich

nicht, daß durch ein derartiges Vorgehen der Schundliteratur nicht der Garaus gemacht werden könne. 86

Von noch größerer Bedeutung für den Kampf gegen die Schundliteratur aber wurde der Erlaß des Oberkommandos in den Marken vom 22. März 1916. Er lautete folgendermaßen: „I. Druckschriften, die von dem Polizeipräsidenten in Berlin in den amtlichen Listen (veröffentlicht im Preußischen Zentral-Polizei-Blatt) als «Schundliteratur» bezeichnet sind oder künftig bezeichnet werden, und die deshalb gemäß § 56 Z. 12 GwO vom Feilbieten und Aufsuchen von Bestellungen im Umherziehen ausgeschlossen sind, dürfen auch im stehenden Gewerbebetriebe nicht feilgehalten, angekündigt, ausgestellt, ausgelegt oder sonst verbreitet werden. II. Druckschriften, die auf der Liste der «Schundliteratur» stehen, dürfen auch nicht unter verändertem Titel feilgehalten, angekündigt, ausgestellt, ausgelegt oder sonst verbreitet werden. Dies gilt sowohl für den Hausierbetrieb als auch für das stehende Gewerbe" 12 .

Die mit diesen und ähnlichen Erlassen von Militärbehörden gemachten Erfahrungen ließen immer weitere Kreise einsehen, „daß gesetzliche Abwehrmaßnahmen zwar nicht ausreichend seien, die Schundliteratur wirksam zu bekämpfen, daß sie aber eine notwendige Vorbedingung seien, da andernfalls die positiv aufbauenden Maßnahmen ihr Ziel nur in höchst unvollkommener Weise zu erreichen vermöchten" 13 . Dies um so weniger, als durch Artikel 118 WRV vom 11. 8. 1919 die Vorzensur, mittels deren unerwünschte Theateraufführungen hatten unterdrückt werden können, abgeschafft und das Recht, innerhalb der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck oder in sonstiger Weise frei zu äußern 14 , und durch Artikel 142 Satz 1 WRV die Kunstfreiheit festgelegt worden war 15 . Jetzt mußte die Haupttätigkeit der „staatserhaltenden Kräfte" darauf verlegt werden, die ihnen durch Artikel 118 Abs. 2 S. 2 WRV gebotene Möglichkeit „zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen", voll auszuschöpfen. Schon 1920 begannen daher die Vorarbeiten für ein entsprechendes Gesetz16. Als seine Verabschiedung näher rückte, erhob sich aus den Kreisen der Künstler des Wortes und des Bildes wieder ein heftiger Sturm der Entrüstung, zu dessen Wortführern u. a. die Gebrüder Mann, Gerhart Hauptmann, Ricarda Huch, Max Halbe und Wilhelm von Scholz, der Präsident der preußischen Dichterakademie, zählt. So schrieb Walter von Molo in einem Artikel „Gegen das neue Zensurgesetz" in der „Frankfurter Zeitung" vom 18. Juni 1926, es werde „behaup87

tet, daß dieses neue Zensurgesetz in keiner Weise die Kunst irgendwie beeinträchtigen wolle. Im Gesetzentwurf steht aber nichts davon, nichts. Der Entwurf gibt jede Möglichkeit, Kunst und Künstler zu erwürgen . . . Wie nötig dieser Kampf ist, wird ersichtlich, wenn man weiß, daß jeder Staatsanwalt im Reich die Pflicht haben soll, den Antrag zu stellen, auf diesen Index ein Werk zu setzen, von dem nach irgendeiner Gerichtsverhandlung angenommen werden kann, daß es auf einen Angeklagten übel eingewirkt hätte! . . . Kein Verantwortlicher leugnet, daß das Volk, besonders aber die Jugend, vor dem schlimmen Einfluß schlechter, auf die groben Sinne spekulierender Druckschriften bewahrt werden soll. Dazu kann aber kein unsinniges, kein idiotisches Zensurgesetz helfen, hilft überhaupt kein Gesetz, hierzu helfen allein soziale und erzieherische Maßnahmen. Das ist natürlich ein längerer und schwerer Weg, aber es ist der richtige Weg. Dieser Entwurf eines neuen miserablen Zensurgesetzes droht das freie geistige Schaffen und die Existenz unserer Künstler und Schriftsteller zu vernichten. Der Gesetzentwurf muß weg." In einer Protestversammlung des „Jung-Münchener Kulturbundes" sprach sich Thomas Mann scharf gegen den Entwurf aus. Audi Ricarda Huch, Max Halbe und andere nahmen teil. In dem Bericht der „Vossischen Zeitung" vom 14. Juli 1926 über diese Versammlung heißt es u. a.: „Interessant war, daß endlich auch einmal ein Vertreter des Buchhandels darauf hinwies, wie schwer das Gesetz in seiner jetzigen Form den anständigen Buchhandel beleidige und treffe. Man dürfe dem deutschen Verlagsbuchhandel sowohl die intellektuelle wie die moralische Urteilsfähigkeit und Verantwortungsfreudigkeit zutrauen, daß er keinen Schund und Schmutz in den von ihm zu verlegenden Schriften duldet." In einer einstimmig angenommenen Entschließung wurde gesagt, daß der Entwurf „eine Knebelung jeglicher geistigen Freiheit" bedeute. Heinrich Mann nennt in einem Aufsatz „Gegen Zensur, für Sittlichkeit" im „Berliner Tageblatt" vom 20. Juli 1926, den Entwurf „einen viel roheren, viel frecheren Angriff auf das Geistesleben" als die lex Heinze. „Eine geheime Feme soll jedes Buch, ohne Kontrolle, ohne Widerspruch, aus der Öffentlichkeit verschwinden lassen dürfen . . . Die zentrale Nachprüfstelle wird, schon aus politischer Versöhnlichkeit, doch immer nur bestätigen, was schon entschieden ist. Die Zensurbehörden selbst werden nach dem Belieben der zufälligen lokalen Machthaber zusammengesetzt. Keine Sachverständigen, keine Freunde 88

der Literatur oder gar geistig Überragende, müssen dabei sein. Gewöhnliche Berufsmenschen, z. B. lauter Geistliche, können jedes Buch, auch wenn sie es nicht verstehen, kurzweg unterdrücken. Den Vorwand liefert der sogenannte Schutz der Jugend — was ein besonders abscheulicher Vorwand ist. Wer kann ihn ernst nehmen?" Von der Vereinigung linksgerichteter Verleger wurde am 10. 9. 1926 eine Protestkundgebung veranstaltet. Es wurden dort u. a. Schreiben verlesen von Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Walter von Molo, Klabund u. a. Es wurde folgende Entschließung einstimmig angenommen: „Die mit der heutigen deutschen Justiz gemachten Erfahrungen lassen keinen Zweifel, daß ein solches Gesetz ausschließlich zur Bekämpfung der linkspolitischen und linkskulturellen Literatur mißbraucht wird . . . Die Versammelten betrachten den angeblich beabsichtigten «Schutz der Jugend» nur als einen heuchlerischen Vorwand zur Unterdrückung aller freiheitlichen Schriften" („Berliner Tageblatt" vom 11. September 1926). Gerhart Hauptmann ließ sich nach der „Welt am Abend" vom 13. November 1926 also vernehmen: „Das geplante Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften ist, soweit es jetzt vorliegt, die allergrößte Bedrohung verantwortlicher Geistesfreiheit, 'die während meines immerhin langen Lebens in Erscheinung getreten ist. Gelangt es zur Annahme, so ist einfach die sogenannte schöne Literatur und damit ihr Urheber vogelfrei und jeder Willkür literarischer Ignoranz preisgegeben." Endlich mag noch die Kundgebung des Dichters Wilhelm von Scholz, des Vorsitzenden der preußischen Dichterakademie, angeführt werden: „Kann man sich als Dichter überhaupt noch zu dem Entwurf des Gesetzes gegen die Schund- und Schmutzliteratur wenden? — Ich wünschte, daß ich es als Fachmann der anscheinend mehr und mehr verlorengehenden Kunst der Gesetzgebung tun könnte! Muß ich Beweise bringen, daß diese schwere und große Kunst seit langem geschwunden ist? Daß wir uns schon daran gewöhnt haben, Gesetze übereilt zu machen, ohne sie in allen Folgen zu durchdenken» dann, nach Wochen vielleicht schon, abzuändern, zurückzunehmen? Die Gesetzgeber erfüllt offenbar nicht mehr wie einst das Gefühl, daß sie unter großer Verantwortung für lange Dauer ihre Gesetze zu machen haben, sondern — eben auf Probe. Das mag hingehen, bei Gesetzen, deren mögliche Schädigungen entweder alle treffen; die also keiner ein Interesse hat, zu halten; oder deren Mängel auf wirtschaftlichem Gebiet liegen, wofür das Verständnis allgemein ist. 89

Ein Gesetz dieser Art wird, sobald es sich als verfehlt herausgestellt hat, unschwer willige Abänderer finden. Quod est demonstrandum. Nicht dagegen darf eilfertig ein unvollkommenes Gesetz geschaffen werden, das sich auf die durchaus nicht allgemeinem Urteil zugänglichen geistigen Dinge bezieht und das die Finsterlinge jeder Art, haben sie es erst einmal in der Hand, gegen die an Zahl schwächeren Einsichtigen stets zu halten versucht sein werden, selbst wenn kein Ehrlicher mehr an seiner Verderblichkeit für das Ganze zweifelt. Ich brauche nicht zu betonen, daß das angegebene Ziel des Gesetzes, die Jugend vor den ekelhaften Erzeugnissen widerwärtiger Schmutzliteratur zu schützen, jedes Dichters, jedes geistigen Menschen innigster Wunsch ist; daß eine erfolgreiche Bekämpfung der Afterliteratur für die Dichtung nur förderlich sein kann. Aber ein Gesetz, das mit seinem Chirurgenmesser in die Nähe des Herzens und des Gehirns der Kultur und des Geisteslebens — das ist das Schrifttum immer! — zu schneiden unternimmt, muß in sich, durch eine klassische, eindeutige, jede Willkür ausschließende Fassung vor Mißbrauch geschützt sein! Der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, bietet in jedem Paragraphen fast dem Mißbrauch Hand und Möglichkeit. J a , ich habe den Verdacht, daß bei manchen Befürwortern des Gesetzes gerade diese Möglichkeit, das Gesetz zu Parteizwecken, für Obskurantenwünsche, gegen die Geistesfreiheit zu mißbrauchen, das ist, was ihre Begeisterung für den Entwurf geweckt hat. Würde dieser Entwurf je Gesetz, so wäre der Kunstfeindschaft an sich, die einer der grundlos bösen Triebe in der Menschheit und leider sehr häufig ist, eine schlimme Waffe in die Hand gegeben. Eine ungefährdet freie Kunst und Dichtung ist eine Lebensfrage für das deutsche Volk, ist einer der Werte, die uns die Freundschaft der anderen Völker wieder zu gewinnen im Begriff sind. Wir dürfen sie nicht durch schlechte Gesetze in Gefahr bringen!" 17 So stark auch das Echo war, das die Äußerungen gerade solcher Meister des Wortes und des Bildes auch im Deutschen Reichstag fanden, das Zustandekommen des Gesetzes konnten sie nicht mehr verhindern. Am 3. 12. 1926 wurde das Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18. 12. 1926 (RGBl. I, 505) veröffentlicht. Ein neuer Abschnitt des Kampfes der „staatserhaltenden Kräfte" für Thron und Altar hatte damit begonnen. Er sollte 1930 seinem Ende entgegengehen. Die Gesetzgebung

90

zum Schutz der Republik und zahlreiche auf Grund des Art. 48 WRV erlassene sogenannte Notverordnungen versuchten zwar durch Einschränkung der Pressefreiheit 18 dieses Ende aufzuhalten. Jedoch am 30. 1. 1933 war es soweit. Nun gab es keinen Kampf, keine Auseinandersetzung mehr zwischen Thron und Altar einerseits und der Kunst im weitesten Sinne andererseits. Der Traum von Thron und Altar, aber auch der Traum einer diesem Traum eigenen, wenn nicht selbständig gegenübertretenden Kunst war ausgeträumt, eine geistige Auseinandersetzung zwischen beiden nicht mehr möglich. Bis dahin freilich bestimmten die voraufgefiihrte Gesetzgebung in einem weiteren Sinne und Rechtsprechung den Rahmen, in dem sich diese Auseinandersetzung zu vollziehen hatte und anschickte. Einer verhältnismäßigen Ruhe vor 1900 folgte eine Unruhe bis tief in den ersten Weltkrieg hinein, die ihren Höhepunkt zwischen 1906 und 1913 hatte. Der 1. Weltkrieg und die Wirren nach ihm brachten erneut eine kurze Ruhepause. Doch schon 1920 brandete die Unruhe wieder auf und endete erst 1934. Diese Entwicklung im einzelnen darzustellen, ist die Aufgabe dieses Abschnittes. Dabei sind bewußt alle Kunstwerke des Wortes und des Bildes nicht deutschsprachiger Herkunft und durch Kunst, oder was sich dafür ausgab, erfolgten Majestätsbeleidigungen, namentlich solche Kaiser Wilhelms II., außer Betracht gelassen. Der bunte Reigen der übrigen Auseinandersetzungen ist für die Darstellung aufschlußreich genug. Diese Darstellung freilich muß bei den Quellen beginnen, aus denen sie geschöpft ist. Diese Quellen sind sehr lückenhaft. Einer der Gründe hierfür ist die Vernichtung von Akten und Unterlagen durch Krieg, Revolution oder Brand. Ein weiterer Grund ist die Verständnislosigkeit, mit der die in Auseinandersetzungen mit dem Recht geratenen Künstler und ihre Biographen diesen Auseinandersetzungen gegenüberstanden. Nur vereinzelt erwähnen Künstler sie in ihren Lebensbeschreibungen. Die Biographen, die Verfasser von Monographien, ja selbst Kunst- und Literaturgeschichten und Künstler- und Schriftsteller-Lexika tun sie nicht selten ganz kurz, oft unsachlich und unrichtig, ab oder verschweigen sie fast wie einen dem Künstler anhaftenden Makel vollständig. D a machen es die Parlamente dem Forscher schon viel leichter. Ihre stenographischen Berichte sind vollzählig erhalten und vermitteln dem Leser ein anschauliches, im Rückblick häufig erheiterndes Bild von der ebenso lebhaften wie ungezwungenen Anteilnahme der Abgeordneten am 91

Kunstleben ihrer Zeit. Die Akten der Verwaltungsbehörden, der Polizei- und Mittelbehörden und der Ministerien, aber auch die veröffentlichten Urteile der oberen Verwaltungsgerichte stehen den Parlamentsberichten nicht nach. O f t genug spürt man in ihnen eine sich mitunter bis zur Leidenschaftlichkeit steigernde Zu- oder Abneigung gegen Werke der Kunst und des Bildes, insbesondere des Wortes, zumal des (auf der Bühne) gespielten Wortes. Die Polizeiund mittleren Verwaltungsbehörden fühlen sich da in der Rolle derer, die für oder wider den Künstler und sein Werk kämpfen und sich in diesem Kampfe durchaus nicht immer nur von sachlichen, nämlich auf die Kunst allein bezogenen Erwägungen und Gefühlen legten lassen und ihnen auch unverhohlen aktenmäßigen Ausdruck geben. Die Durchsicht dieser Akten, ja selbst das Studium der Urteile der höheren Verwaltungsgerichte, läßt ein echtes, von Anerkennung der Bedeutung der Künstler und ihrer Werke, aber auch von Ablehnung, ja Feindschaft gegen sie geprägtes Ringen um das Verhältnis zwischen Kunst und Recht sehr deutlich erkennen. Darum scheuen sich selbst diese Gerichte nicht, in den Veröffentlichungen ihrer Urteile die davon betroffenen Künstler und Werke so genau zu bezeichnen, daß sie jedermann erkennen, sich zugänglich machen und so die Urteile nachvollziehen konnte und kann. Diese Urteile, aber auch die Akten der Polizei- und mittleren Verwaltungsbehörden und der Ministerien, soweit nicht durch außerbehördliche Einwirkungen vernichtet, sind daher, zumal dank der großzügigen Unterstützung der deutschen und österreichischen Archivverwaltungen, verhältnismäßig leicht erschließbare Quellen. Ganz anders steht es mit den Urteilen und Akten der ordentlichen Rechtspflege. Diese hat die Akten über Strafverfahren, die sich mit Künstlern und ihren Werken des Bildes oder des Wortes befaßten, jedenfalls früher nie für archivwürdig, für der Aufbewahrung wert gehalten. Wenn überhaupt Bruchstücke von ihnen erhalten sind, dann in Akten von Polizeibehörden oder Ministerien oder in Broschüren, die aus Anlaß solcher Verfahren erschienen sind. Wilhelm Busch, Max Klinger und Otto Dix, um nur ein paar gewiß nicht unbedeutende Namen zu nennen, waren eben anscheinend doch nicht bedeutend genug, als daß man den Akten über Strafverfahren gegen sie den Platz in Archiven oder Registraturen gegönnt hätte, den man Akten über Strafverfahren gegen Mörder nur allzu bereitwillig einräumte. Die obendrein lange Zeit liebevoll gepflegte Gewohn92

heit, die Veröffentlichung von Gerichtsurteilen so zu halten, daß ihr Leser keine Beziehung zu dem von ihnen betroffenen Künstlern und Kunstwerken herstellen und sie sich zugänglich machen und die Urteile nachvollziehen konnte, verlangt dem, der das tun will oder um eines Buches willen tun muß, einen Scharfsinn ab, der schon deswegen nicht immer von Erfolg begleitet sein kann, weil selbst etwa noch vorhandene Abschriften der Urteile sorgfältig jeden Hinweis auf die betroffenen Künstler und Kunstwerke vermeiden. Die Richter jener Zeit mögen dafür ihre Gründe gehabt haben. Daraus, daß ihre Nachfolger in den 20er Jahren diese Gründe nicht mehr für stichhaltig erachtet haben und in ihren Urteilen so deutlich werden, daß Künstler und Werke aus ihnen erschlossen werden können, ist mehr als die Änderung von (für den Forscher so unangenehmen) Gewohnheiten. Es ist eine Änderung des Verhältnisses der Richter, zumal der obersten Richter, zur Kunst des Bildes und des Wortes und ihrer Bedeutung in der und für die Öffentlichkeit. Ob ein Künstler oder sein Werk für strafwürdig befunden wird oder nicht, also das Ringen zwischen Recht und Kunst, ist nicht mehr nur Sache der am Strafverfahren Beteiligten allein, sondern auch eine Angelegenheit der Öffentlichkeit, ein Teil des geistigen Lebens, der möglichst vielen der daran Anteil nehmenden, insbesondere den mit ähnlichen Fragen befaßten Richtern, Staats- und Rechtsanwälten zugänglich werden soll. Erfreulicherweise haben sich der Bundesgerichtshof und die seine Urteile veröffentlichenden rechtswissenschaftlichen Zeitschriften in immer breiterem Maße zu dieser Auffassung bekannt und führen so den Forscher unschwer an die Qellen heran. Die ordentlichen Gerichte hatten und haben auch keinen Anlaß, ihre Urteile über Künstler und ihre Werke mit der Zurück-, ja Geheimhaltung zu umgeben, wie sie bis in die 20er Jahre üblich war. Sieht man von den Urteilen in den sogenannten Kunstkartenverfahren ab, so halten die allermeisten von ihnen auch heute noch strenger Prüfung stand und nichts wäre verfehlter, als würde man aus dem weithin bekanntgewordenen und weit über Gebühr hinaus ausgeschlachteten Urteil gegen Grosz wegen seines „Christus mit der Gasmaske" (unten S. 379) den Schluß ziehen, die Richter der ordentlichen Rechtspflege wären nicht mit der größten Gewissenhaftigkeit an die ihnen auferlegten Fragen heran-, mit einem Höchstmaß an Unparteilichkeit in das Ringen zwischen Recht und Kunst eingetreten. Aber vielleicht war es gerade diese Unpar93

teilichkeit, die sie verkennen ließ, daß sie (nicht im strafrechtlichen, wohl aber im geistesgeschichtlichen Sinne) nicht Richter, sondern Ringende in einer Auseinandersetzung waren und sind, in der es keinen Richter geben kann, eine Auffassung, die sich allmählich in der Rechtsprechung auch des Bundesgerichtshofs anzubahnen scheint. Mit diesen Ausführungen über die Quellenlage will nicht nur die Lückenhaftigkeit und damit die Ergänzungsbedürftigkeit der im folgenden geschilderten Einzelfälle im ganzen oder in einzelnen Zügen, sondern auch die leider viel zu oft wiederkehrende Feststellung erklärt werden, daß die einschlägigen gerichtlichen oder behördlichen Entscheidungen nicht mehr ermittelt werden konnten. Das schließt zugleich die Bitte an die Leser des Buches ein, sich an der Ergänzung der Einzelfälle, insbesondere durch Übermittlung von gerichtlichen oder behördlichen Entscheidungen, zu beteiligen, die ich nicht feststellen konnte. Nur so kann nach und nach das hier in mehr oder minder groben Umrissen gezeichnete Bild jene feinen Lichter und Schatten empfangen, deren es derzeit noch weitgehend bedarf. Denn wo in aller Welt, vorab in Europa, ist mit soviel Fleiß und innerer Hingabe an der Auseinandersetzung zwischen Recht und Kunst gearbeitet worden? Der Anfang dieser Entwicklung ist nur vor dem Hintergrund der Glaubens-, Kirchen-, insbesondere aber Katholikenfeindlichkeit des nach Gründung des Deutschen Reiches mit nicht immer redlichen Mitteln zu immer größerer Macht aufsteigenden Großbürgertums zu verstehen, das in der benachbarten Donaumonarchie von jeher schon stark josephinistisch eingefärbt war. Diese Einstellung des Großbürgertums verleitete manche Künstler des Wortes und des Bildes dazu, Werke herzustellen, die entweder ihr durch mehr oder minder stark betonte Kirchen-, insbesondere Katholikenfeindlichkeit, entgegenkamen oder aber, sie voraussetzend, das Kirchliche, überhaupt das Religiöse, zugunsten des nur Ästhetischen über Bord warfen. Die einen wie die anderen Werke riefen die staatlichen Einrichtungen auf den Plan, die entweder von Amts wegen als Hüter von Thron und Altar oder/und aus innerer Uberzeugung an dem überkommenen sogenannten Väterglauben, seiner Unantastbarkeit und seiner Darstellung in der überkommenen Form mit allen, selbst polizeilichen Mitteln festhielten. Sieht man vom kurzfristigen Verbot von Anzengrubers 4. Gebot durch die Wiener Polizei im Jahre 1877 19 ab, so waren es vier 94

deutsche Meister der bildenden Kunst, und zwar bezeichnenderweise drei protestantischer und einer mosaischer Konfession, die durch ausfällige oder ungewohnte, weil ungewöhnliche Darstellung christlicher Glaubensinhalte, insbesondere christlichen Heilsgeschehens die Empörung weiter Kreise hervorriefen und behördliche Maßnahmen geradezu herausforderten. Der erste, der dies zu spüren bekam, war Wilhelm Busch. Sein Werk „Der heilige Antonius von Padua" 20 war am 19. 8. 1870 im damaligen Großherzogtum Baden beschlagnahmt worden 21 . Der Verleger Lauenburg wurde wegen Religionsverletzung unter Anklage gestellt, aber vom Landgericht Offenburg von dieser Anklage freigesprochen. Die Gründe für den Freispruch sind, da die Akten vernichtet worden sind, nicht bekannt. Man wird jedoch in der Annahme nicht fehlgehen, daß sie von der damals in gutbürgerlichen Kreisen üblichen kirchen-, insbesondere katholikenfeindlichen Einstellung, die den von Bismarck 1873 eröffneten Kulturkampf überhaupt erst ermöglichte, nicht ganz unbeeinflußt waren. Dieser Kulturkampf ging mit dem Tode Papst Pius' IX. (7. 2. 1878) zu Ende. „Von seinem Nachfolger Leo XIII. erhoffte Bismarck die Wiederherstellung des kirchlichen Friedens. Die Regierung hatte daher offenbar den Wunsch, den katholischen Kreisen diesen oder jenen Liebesdienst zu erweisen, um ihrerseits den guten Willen zu bekunden, nach dem beliebten Grundsatz: «Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft». Und so beschlagnahmte die Polizei in Posen im Mai 1878 Büschs «Heiligen Antonius» in seiner 8. Auflage, nachdem sieben Auflagen in Preußen unbeanstandet geblieben waren." 22 Daß es sich hierbei um eine folgerichtig eingehaltene Linie handelt, zeigen Vorfälle, die sich 2 Jahre später in München ereigneten. Im Jahre 1879 hatte hier der junge Maler Max Liebermann ein Gemälde vollendet, das von der Jury der Jahresausstellung im Glaspalast mit Ausdrücken der Bewunderung entgegengenommen wurde (Abb. 5). „Aber die Wirkung, die es ausübte, äußerte sich doch in sehr viel anderen Formen, als der Künstler erwartet hatte" 23 . Die erste dieser Wirkungen war es, daß „Prinz Luitpold 24 , der die Ausstellung eröffnete, das Werk von seinem guten Platze in ein Nebenkabinett versetzen ließ. Das war nur das Vorspiel; denn alsbald erhob sich ein allgemeines Wutgeschrei, und ein Hagel von mündlichen und gedruckten Schmähungen prasselte herab auf das Bild, den Maler 95

Abb. 5. M. Liebermann, Der Knabe Jesus im Tempel

und auch auf die unglückliche Jury, die es gewagt hatte, ein solches Bild zuzulassen. Der Skandal war so arg. und ging so weit über München hinaus, daß Liebermanns bekümmerte Mutter in Berlin zu einer Freundin sagte, sie schäme sich, über die Straße zu gehen. [Ja selbst] Liebermanns alter Freund Adolf Rosenberg beschloß in einer Übersicht über den Stand der deutschen Kunst nach den Ausstellungen in Berlin und München den Reigen [der Schmäher des Werkes] mit folgenden Worten: «Die heilige Geschichte ist durch die Kunst des 19. Jahrhunderts ein für alle Mal aus dem

Dogmatischen und Ubersinnlichen in das rein Menschliche übersetzt worden. Doch ist das religiöse Gefühl der großen Menge noch nicht so weit abgestumpft, die Achtung vor Gegenständen und Personen der religiösen Verehrung noch nicht so weit herabgemindert

wor-

den, als daß das schmähliche Pasquill des Münchener R h y p a r o g r a phen M a x Liebermann Christus im Tempel, welches das Komitee der internationalen Kunstausstellung in unbegreiflicher Verblendung den Besuchern zu bieten wagte, nicht allseitig mit Entrüstung zurückgewiesen worden w ä r e " 2 5 . Es veranlaßte „den bayerischen Klerus zu hellen Zornausbrüchen, sogar im Bayerischen Landtag kam das Bild zur Besprechung" 2 6 . Der stenographische Bericht über die einschlägige Sitzung

des Bayerischen

Landtags

vom

15.

1.

1889

lautet: „Dr. Dalier: . . . Einen Punkt glaube ich, hier berühren zu müssen, weil er ein allgemeines öffentliches Ärgerniss erregt hat und weil ich es für nothwendig halte, daß auch darüber eine Äußerung in öffentlicher Sitzung gemacht werde. Es ist das bekannte Bild von Liebermann: der Knabe Jesus im Tempel. Ich habe im Ausschusse darüber gesagt, daß von einer künstlerischen Bedeutung dieses Bildes absolut eine Rede nicht sein könne, daß dagegen der erhabene göttliche Gegenstand dieses Bildes in einer so gemeinen und niedrigen Weise dargestellt ist, daß jeder positiv gläubige Christ sich durch dieses blasphemische Bild auf's Tiefste beleidigt fühlen mußte. Ich habe auf einen berühmten und anerkannt tüchtigen Kunstkritiker hingewiesen, Pedit, der ausdrücklich in der «Allgemeinen Zeitung» erklärte, daß dieses Bild nicht nur die Augen, sondern auch die Nase verletzt. Meine Herren! Ich habe dann weiter gesagt, daß ich es unbegreiflich finde, daß das Komitee ein solches Bild zuließ. Ich habe darauf hingewiesen, daß, wenn ein solches Fratzenbild — und das ist es — von einem regierenden Fürsten, Landesherrn oder Mitglied einer regierenden Familie wäre ausgestellt worden, dieses Bild unter dem Applaus des ganzen Volkes wäre hinausgeworfen worden. Daß in dieser Beziehung nichts geschehen ist, hat mich verletzt. Nun muß ich aber hier konstatiren, daß im Ausschusse alle Mitglieder und die k. Staatsregierung vollständig einig waren in der Verdammung des Bildes, und daß der Herr Ministerialkommissär erklärt hat, daß aller dings eigentlich das Komitee die Schuld nicht ganz treffen könne, weil für Zulassung zur Ausstellung ein besonderes Subkomitee mit beschließender Vollmacht gewählt worden war, und dieses Subkomitee im Großen und Ganzen auch die Verantwortung habe. Allein, meine Herren, mag dem sein, wie ihm wolle; daß dieses Ärgernis die ganze Kunstausstellungsperiode fortdauern konnte, das will mir doch nicht recht einleuchten. Es wäre Sache der ganzen Künstlerschaft gewesen, dieses Ärgernis zu entfernen. Ich will damit der religiösen Überzeugung des Malers, der ja bekanntlich der christlichen Konfession nicht angehört, nicht zu nahe treten, ich will ihn nicht zwingen, daß er den Gegenstand des Bildes, den göttlichen Erlöser, an den wir glauben, auch so be7 Leiss, Kunst im Konflikt

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trachtet wie wir; aber daß die Künstlerschaft Münchens, die um Unterstützung kommt, nicht Verwahrung eingelegt hat, ein solches Vorgehen, meine Herren, das muß ich ganz entschieden tadeln, und ich spreche ganz entschieden die ernsteste Entrüstung aus über die Zulassung eines Bildes in einem Staate, dessen unendlich große Mehrheit der Einwohner doch gläubige Christen sind. Ich glaube, daß das in Z u k u n f t wohl nicht mehr geschehen wird, aber es hätte dieses Ärgerniss, auch wenn es von Anfang an gegeben worden ist, nicht so lange fortdauern sollen. Meine Herren! Es ist das um so mehr betrübend, weil es ja bekannt ist, daß sehr viele religiöse Bilder von tüchtigen, anerkannten Künstlern sind zurückgewiesen worden. Doch auf diese innere Frage des Komitees oder der Ausstellungsjury, oder wie ich die betreffenden Herren nennen soll, will ich midi nicht einlassen, aber das will ich hiemit öffentlich konstatiert haben, daß eine solche Art und Weise des Vorgehens den christlichen Glauben, die Überzeugung des christlichen Volkes auf das Tiefste beleidigt hat, und daß diese Art und Weise, ein so blasphemisches Bild auszustellen, eigentliche Freunde an und für sich nicht gewinnen kann, f ü r weitere Ausstellungen Geld zu bewilligen. Meine Herren! Der Ausschuß ist aber nicht so weit gegangen; es ist ohne jegliche Bedingung, wie auch der Ausschußbericht darthut, die postulierte Summe von der Mehrheit genehmigt worden. Demnach kann ich hier nur die H o f f n u n g aussprechen, daß wenn wieder eine solche Kunstausstellung kommt, die Künstlergenossenschaft die religiöse Überzeugung des Volkes künftighin achtet und nicht mehr so rücksichtslos beleidigt. Präsident: Der H e r r Abgeordnete Dr. Haushof er! Dr. Haushofer: Meine Herren! Ich habe mich eigentlich nicht zum Wort gemeldet, um dem H e r r n Dr. Daller zu entgegnen, aber ein paar Worte möchte ich ihm doch sagen. Je mehr man vom Herostrates spricht, um so berühmter wird er, und es wäre deshalb besser gewesen, dieses Bild gar nicht mehr hervorzuzerren. Ich möchte dem H e r r n Liebermann nicht einmal den Ruf eines Herostrates unter den Malern einräumen, d a f ü r ist seine Leistung nicht großartig genug. Präsident:

H e r r Abgeordneter Dr. Volk!

Dr. Volk: Ich habe in den letzten Sitzungen mich einige Male genöthigt gesehen, dem H e r r n Dr. Daller entgegen zu treten. Ich bin desshalb heute erfreut, sagen zu können, daß ich bezüglich der Erörterungen, welche ich von ihm eben gehört habe, vollständig mit ihm einverstanden bin. Es hält mich auch der Grund, welcher vom H e r r n Vorredner angeführt worden ist, nicht ab, auch meinerseits, ich sage nicht, mein Urtheil, sondern meinerseits die Empfindung, welche ich beim Anblick des fraglichen Bildes hatte, nicht zurückzudrängen. Was den Künstler anlangt, so kann ich nur bedauern, daß er auf einen derartigen Weg des Häßlichen geraten ist. Ich sehe ab von allem religiösen Gefühle, obwohl ich gestehen muß, daß ich auch in dieser Richtung durch das fragliche Bild tief verletzt worden bin, obwohl ich gestehe, daß gerade 98

ein Mann seiner Konfession am allerwenigsten den Gegenstand in der Weise hätte behandeln sollen, wenn er einiges Gefühl für Anstand gehabt hätte. (Rufe: Sehr richtig!) Ich sehe aber davon, meine Herren, vollständig ab; ich frage nur, hat er nicht sich selbst dadurch am allermeisten als Künstler im eigentlichen Sinne des Wortes geschadet? Es gibt eine Virtuosität in der Kunst, eine Künstlichkeit in der Kunst, wenn Sie so wollen, welche sich in der neueren Zeit immer breiter macht, und welche man den Realismus nennt, die wohl manchmal ins Krasse geht; ich kann aber nicht in Abrede stellen, daß, wenn diese Kunst in der Darstellung des Natürlichen soweit geht, daß man, wie treffend bemerkt worden ist, vor einem Bild sich die Nase zuzuhalten geneigt wäre, (Heiterkeit) daß mir diese Kunst doch etwas zu stark erscheint. Das ist aber in vorliegender Sache gerade der Fall gewesen. Meine Herren! Welche Vorwürfe zu Kunstwerken sich ein begabter Mann macht, das geht uns nichts an 2 6 ; aber es geht uns an, daß unsere Anstandsgefühle nicht beleidigt werden, und diese Rüdssicht, meine ich, hätte man bei der Auswahl des fraglichen Bildes haben sollen, sei es vom religiösen, sei es vom künstlerischen, oder sei es auch nur vom Anstandspunkte aus. Und von dem Vorwurf können diejenigen, welche daran Schuld sind, nach meiner Anschauung nicht freigesprochen werden" 27 . Die unmittelbar gegen das die Auswahl der auszustellenden Bilder besorgende Subkomitee, mittelbar und dafür um so deutlicher gegen M a x Liebermann erhobenen Vorwürfe sind also die: Der

Maler

hätte als Jude das Bild überhaupt nicht malen dürfen, wenn aber schon, dann nicht in einer „den erhabenen göttlichen

Gegenstand

dieses Bildes in einer so gemeinen und niedrigen Weise" darstellenden, wegen seiner Häßlichkeit

auch das künstlerische

Empfinden

beleidigenden, also nicht in einer, sehr allgemein ausgedrückt, bei diesem Sujet ungewohnten A r t . Das Bild ist also ein ungewöhnliches, weil ungewohntes Bild und daher der Bekämpfung

durch

einen Staat sicher, „dessen unendlich große Mehrheit von Einwohnern doch gläubige Christen sind". Das alles „mag uns heute nicht mehr verständlich sein, beleuchtet aber grell die Einseitigkeit (und künstlerische Ahnungslosigkeit)

der sogenannten öffentlichen

Mei-

nung, die es in keiner Weise mehr vertrug, vor einem Problem zu stehen" 2 8 , konnte 1 9 3 3 geschrieben werden. Doch in diesem J a h r e war die Entrüstung schon wieder nicht mehr „unverständlich". N u r war es nicht mehr ein religiöses (oder eben noch ästhetisches) E m p finden, das sich durch das Bild verletzt fühlte. Das Bild w a r nicht mehr unreligiös oder unästhetisch, genauer: unüblich im konfessionel7

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len oder ästhetischen Sinne. Es war im völkischen Sinne: „entartet". Liebermann freilich war damals über die Entrüstung, die sein Werk hervorgerufen hatte, tief betroffen. Er erklärte: „Was den Jesus im Tempel betrifft, so habe ich ihn in München Ende Dezember bis April 1879 gemalt. D i e Modelle nahm ich aus den christlichen Münchener Spitälern, da Juden sehr wenig posieren und auch aus einem anderen Grunde, der mir bei der Wahl der Modelle zeitlebens von Jugend an maßgebend geblieben ist. D i e Juden schienen mir zu charakteristisch, sie verleiten zur Karikatur. D e r Jesus ist nach einem italienischen Modell gemalt" 2 9 . Diese Erklärung nützte ihm jedoch nichts. Er mußte erkennen und erkannte, daß seinem Pinsel bei der Darstellung christlichen Heilsgeschehens unüberschreitbare Grenzen gesetzt waren. Er hielt sich daran in seinem ganzen späteren künstlerischen Leben und ging davon auch nicht ab, als 1906 das Bild nach 25jähriger Verborgenheit ohne die geringsten Schwierigkeiten ausgestellt wurde 3 0 . Dennoch hat er die Angelegenheit nie vergessen und offensichtlich gerne die Gelegenheit benützt, sich ein wenig an seinen Gegnern zu reiben. Als 1914 versucht wurde (hierüber siehe S. 84), einen sogen. Schaufenster-Paragraphen einzuführen, gab ihm die Schriftleitung des D J Z Gelegenheit zur Stellungnahme. Diese lautete: „Der Kunst liegt ebensoviel wie der Moral daran, Schmutz und Schund von der Bildfläche verschwinden zu sehen. Aber mir scheint die Polizei die wenigst geeignete Behörde, um zu entscheiden, was in Literatur und Kunst Schund und Schmutz sei. Auch ist der in der Begründung wieder auftauchende Kautschuk-Begriff des Ärgernisnehmens höchst bedenklich, weil er rüdeständigen Kunstanschauungen zum Deckmantel dient. Moral ist ein relativer Begriff. Die Griechen und Römer stellten ihre Götter und Göttinnen nackt dar. Dagegen erblickt der Schutzmann in der Darstellung des nackten Körpers etwas Unsittliches. H a t doch sogar vor kurzem ein Berliner Gerichtshof den Verleger von Postkarten bestraft, weil auf ihnen nackte Körper dargestellt waren, deren Anblick auf die Jugend schädlichen Einfluß haben könnte. Logische Konsequenz wäre, die Museen zu schließen, die Bibel, den Goethe zu konfiszieren, von neueren Künstlern ganz zu schweigen. Der Entwurf, wenn er — was der liebe Gott verhüten möge — Gesetz würde, täte nicht nur der Kunst, deren A und O die Darstellung des Nackten ist, unendlichen Abbruch, sondern ebenso der Moral. Denn im Volke den Gedanken zu züchten, daß das Nackte unsittlich sei, hieße geradezu die schlechten Instinkte anreizen, nach den verbotenen und daher doppelt süßen Früditen zu haschen. Im Gegenteil müßte man das Kind an den Anblick der natürlichen Nacktheit gewöhnen und sein gesunder Instinkt wird in der Venus von Milo nichts Lüsternes gewahren. Wessen perverse N a t u r durch ihren Anblick sinnlich

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erregt wird, an dem ist nichts mehr zu verderben. Gesetze dürfen nicht gemacht werden, um die k r a n k h a f t veranlagte kleine Minderheit zu schützen, sondern sie sollen die tausendfach größere Masse von Menschen mit gesunden Instinkten schützen in ihren Genüssen an Kunst und Literatur" 3 1 .

Jedoch nicht sein Wort, sondern der Ausbruch des 1. Weltkrieges hat den Entwurf des „Schaufensterparagraphen" zu Fall gebracht. Doch viel früher, schon 1892, konnte die Kunststadt München wieder ihre Unfähigkeit und Unwilligkeit „vor einem Problem zu stehen", also sich mit einem ungewöhnlichen, weil ungewohnten Gemälde aus der christlichen Heilsgeschichte auseinanderzusetzen, unter Beweis stellen. Das 1891 von Max Klinger32 geschaffene Gemälde

Abb. 6. M. Klinger, Kreuzigung

„Kreuzigung" begegnete 1892 bei seiner Ausstellung in München sofort heftigstem Widerspruch. Die Ausstellung wurde zunächst verboten, dann aber davon abhängig gemacht, daß das Bild nur halb verhängt gezeigt werden dürfe und für weitere Ausstellungen übermalt werde 33 . Bedauerlicherweise haben sich Unterlagen über diese behördliche Maßnahme weder in den (allerdings nicht vollständigen) Akten der Kgl. Polizeidirektion München, noch in den äußerst spärlichen Restakten der Münchener Gerichte dieser Zeit gefunden. Auch das gesamte sonstige Schrifttum über Klinger erwähnt die Maßnahme nicht. Allein die behördliche Auflage, daß das Bild nur halb verhängt gezeigt werden durfte, läßt darauf schließen, daß auch 101

ihm der Vorwurf gemacht wurde, die Darstellung des völlig nackten Christus am Kreuze verletze, weil, gerade bei diesem Bildgegenstand gänzlich unüblich, das religiöse und das sittliche Gefühl. Natürlich hätte sich dagegen einwenden lassen, daß Darstellungen dieser A r t gar nicht so ungewöhnlich gewesen seien34. Aber diesem Einwand wäre wohl mit dem Hinweis begegnet worden, daß Darstellungen solcher A r t verschwindende Minderheit gegenüber den Darstellungen seien, auf denen der Gekreuzigte entweder ganz oder doch mit einem Lendenschurz bekleidet abgebildet sei, also ungewohnt (insolitae imagines im Sinne der Kunstauffassung des Konzils von Trient) seien. Daß es auch sonst dem Gewohnten widersprach, ist nicht zu leugnen. Paleotti hat, wie (S. 56) erwähnt, verlangt: „Wenn wir Christus sehen, wie er mit grausamen Nägeln ans Kreuz geheftet ist, so müßten wir eine Natur von Marmor oder Holz haben, wenn wir davon nicht tief bewegt, unser Streben nach Frömmigkeit neu angefacht und unser Inneres von Reueschmerz und Andachtsglut aufs Tiefste angegriffen würde" 35 . Nichts jedoch von alledem bei Klinger. „Der moderne Bildungsmensch nimmt zu dem Ereignis von Golgatha Stellung. Zunächst: Er weißt etwas, was alle bisherigen Darsteller des Themas nicht wußten, nämlich wie man vor zwei Jahrtausenden einen Menschen zu kreuzigen pflegte. Es steht nun das historisch-archäologisch endlich berichtigte Christuskreuz zwischen den ebenso gefügten Kreuzen der Schächer und zwar im Profil fast am Ende des ganz in die Breite gezogenen Bildes, so daß sich auf gepflasterter Bühne die Handlung dem Gekreuzigten entgegen entwickeln kann. Magdalena bricht von Johannes und Maria Salome gestützt in hysterischer Ohnmacht zusammen, schmerzversteinert steht Maria, die Mutter, in hagerem Profil dem sterbenden Sohne gegenüber, hinter ihr streiten schriftgelehrte Theologen darüber, welcher Text der Kreuzesinschrift zu geben sei. Auch eine elegante Römerin und ein Römer betreten die Bühne, beide sind an derlei gewöhnt, die Dame wirft immerhin noch einen gleichgültigen Blick darüber, während der Mann, unbeteiligt, aus dem Bild herausblickt. Klingers Absicht war, die verschiedenen geistigen Welten gegeneinander zu stellen, die Glaubenden und Trauernden, die Buchstabengerechten und die skeptisch Gleichgültigen. Indem Klinger diese verschiedenen Stellungnahmen zu dem eigentlichen Thema des Bildes macht, wird das Golgathageschehen relativiert, je nach der Weltanschauung tritt man ihm so oder so gegenüber" 36 . Und wenn man ihm so gegenübertritt, dann „in hysterischer Ohnmacht" oder schmerzversteinert, aber gewiß nicht so, wie es Paleotti von der Darstellung gerade dieses Gegenstandes erwartet. Und doch

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hätte wohl der Kardinal Paleotti diese Kreuzigung noch eher hingenommen, als die, welche die 12. Station eines Kreuzwegs ist, der f ü r D M 500 000,— den Feierhof der Berliner Kirche Maria Regina Martyrum ziert. „Wie die Berliner, insbesondere die zur Kirche gehörende Gemeinde, den Kreuzweg aufgenommen haben, ergibt sich daraus, daß der Bischof von Berlin (Kardinal-Erzbischof Bengsch) sich gezwungen sah, um sich des allgemeinen Unwillens zu erwehren, öffentlich zu erklären, daß er für diesen Kreuzweg nicht verantwortlich gemacht werden könne" 37 . Denn so unüblich Klingers Kreuzigung auch gewesen sein mag, sie ist immerhin eine Kreuzigung. Vielleicht aber war gerade das ihr Fehler. Denn wäre sie, wie der Berliner Kreuzweg, unverständlich, hätte höchstens die Unverständlichkeit zu einem fruchtlosen, nicht aber behauptete Gotteslästerlichkeit zu einem fruchtbaren Angriff Anlaß bieten können. Wie München aber schon Max Liebermann und Max Klinger mit mehr oder minder versteckten Vorwürfen der Gotteslästerlichkeit bedachte, so auch etwas später Fritz von Uhde. Er hatte schon früher zu Fehden in der Bayer. Abgeordnetenkammer Anlaß gegeben. „Als vor 25 Jahren etwa in der Bayer. Abgeordnetenkammer der Streit um die Kunst tobte und die Ignoranz der Rückschrittsmänner in ihrer ganzen Abgrundtiefe enthüllte, fertigte ein Führer der Liberalen, einer von den wenigen deutschen Männern, die sogar Geld für die Kunst ausgaben, die Kläffer scharf und schlagend ab. Dann aber erklärte er mit stolzer Sicherheit, daß er für Uhde's Kunst auch nicht einzutreten vermöge" 38 . Die Archive der Bayer. Abgeordnetenkammer enthalten jedoch hierüber nichts. Dagegen war Uhde jedenfalls schon39 in der Sitzung vom 28. 3. 1890 zum Gegenstand von Auseinandersetzungen unter den Abgeordneten geworden. Der Abgeordnete Dr. Jäger führte, ohne allerdings Uhdes Namen zu nennen, aus: „Christus war auf einem Bild in der Bergpredigt 40 als ganz gewöhnlicher Bengel hingestellt, seine Mutter wie eine alte Stallmagd behandelt, seine Apostel aber so, daß man glauben sollte, diese Leute wären aus einem Verbrecherkeller oder aus dem Zuchthaus herausgeholt worden. Das war der Eindruck, den nicht ich allein davon erhielt, den sie auch in weit verbreiteten Kunstkritiken ebenfalls lesen können. Abgesehen von der Verletzung des berechtigten Gefühls eines großen Teils unserer Bevölkerung sollte schon die gesunde Vernunft davon abhalten, solchen Unsinn zu malen. Glaubt man denn, die 12 Sendboten, jene 12 Männer, hätten mit solchen Physiogno-

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mien eine Kirche gründen können, die ihren Stempel den letzten 2 Jahrtausenden aufgeprägt hat und ihren Stempel der Gesellschaft aufprägen wird bis zum Ende aller Zeiten? Dazu braucht es anderer Typen als die sind, welche uns hier auf Gemälden hingestellt werden." Ihm erwiderte der Abgeordnete Frhr.

von

Staufenberg:

„Derselbe Maler, dem diese schweren Vorwürfe gemacht wurden, hat ein Bild gemalt — und dieses Bild ist eigentlich das erste gewesen, in dem er diese neue Richtung eingeschlagen hat — welches vielleicht zu den tief empfundensten religiösen Bildern der Gegenwart gehört und das ist das Bild, dem er die Unterschrift gegeben hat: Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast 41 , das darstellt, wie Jesus bei einer armen Handwerkerfamilie zu Gast kommt. Ich kann über die technischen Vorzüge dieses Bildes nicht urteilen, muß aber sagen, daß man in der Malerei sehr weit zurückgehen muß, um ein Bild von so starker und tiefer religiöser Auffassung zu finden, wie dieses" 42 . Wenige J a h r e später w a r Uhde, wieder ohne namentlich genannt zu werden, Ziel von Auseinandersetzungen in der Bayer. Abgeordnetenkammer. Der Abgeordnete Dr. Schädler

sagte:

„Unbedingt zu verwerfen sind solche Bilder, die das, was dem Christentum ehrwürdig ist, oder die christliche Lehre als solche herabzuwürdigen nur sehr geeignet sind. Ich brauche ja den Namen nicht zu nennen, unter dem Bild stand ja auch nicht der Titel, aber wer den Katalog nicht zur Hand hatte, der wußte tatsächlich nicht, daß er vor einer Flucht nach Ägypten 43 stand. Eine Kritik, die von einer Seite stammt, die gewiß nicht zu den Nazarenern gehört, bezeichnet speziell dieses Bild, das ein christliches sein will, als ein solches, das den meisten Anspruch auf Geschmacksverirrung erhebt. Und wer überhaupt noch einen Funken, ich sage nicht christlichen, sondern überhaupt, einen Funken von Gefühl sich erhält, der wird es nicht zu stark finden, wenn ich dieses Bild, das ein christliches sein will und zur Popularisierung der biblischen Geschichte dienen soll, wenn ich dieses eine Blasphemie in Farben nenne. Die nämliche Kritik, die ich vorhin anführte, bemerkt darüber noch, daß der betreffende Künstler mit seinen biblischen Karikaturen heilige Begebenheiten der biblischen Geschichte der Spottsucht des Publikums preisgibt, und dies erscheint ihr als ein Frevel, welcher nicht genug gerügt werden kann. Ähnlich wie hier die hl. Familie, so wird in anderen Bildern, um nur dieses herauszugreifen, z. B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn 44 , behandelt, der einem Künstler als nichts anderes erscheint, denn als ein Bajazzo, der sich mit gewissen Borstentieren auf einem Haufen, der für die Landwirtschaft von sehr großer Bedeutung ist, herumtreibt. Solche Dinge sollen doch in einer Kunstausstellung nicht vorkommen dürfen. Es sind das nur einzelne Andeutungen, die noch vermehrt werden könnten. Ich begnüge mich damit, um zu konstatieren, daß Dinge, welche das christliche Gefühl verletzen, nicht geeignet sind, in Kunstausstellungen zu erscheinen."

104

Ihm antwortete Seine Excellenz, der Kgl. bayerische Staatsminister des Innern für Kirchen und Schulangelegenheiten Dr. von

Müller:

„Ich habe wochenlang das Bild gesehen, ohne den mindesten Anstoß daran zu nehmen oder das geringste Ärgernis zu fühlen; und als ich einmal im Katalog las, Flucht nach Ägypten, da ist es mir gegangen wie vielen anderen, ich glaubte, daß sich das nur durch einen Druckfehler erklären könne. (Heiterkeit).

N u n ist meine Beurteilung dieses Bildes eine von der des H e r r n Abgeordneten D r . Schädler verschiedene, und zwar um dessentwillen, weil ich den Künstler kenne und weil ich weiß, daß ihm alles ferner liegt, als christliche Gefühle zu beleidigen. (Abgeordneter Biehl: Das ist richtig).

Es ist eine eigentümliche Richtung, die er einschlägt; ich möchte auch nicht sagen, daß sie berechtigt sei, aber sie wird ein anderes Urteil finden unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeit, als wenn man dieser Persönlichkeit ferne steht" 4 5 . D i e Bayerische K a m m e r der Abgeordneten kam jedoch noch nicht zur Ruhe. Einige Jahre später ging man hier wieder mit U h d e ins Gericht. Der bayerische Staat hatte damals gerade Uhde's Bild „Christi H i m m e l f a h r t " 4 6 erworben (Abb. 7). D e r mehrfach schon erwähnte Abgeordnete Dr. Daller

sagte d a v o n :

„Ich könnte nicht sagen, daß das Bild meinem Gefühl und meiner Vorstellung entspricht." D e r berühmte „königlich bayerische Sozialdemokrat" von

Vollmar

meinte dazu: „Der H e r r Minister hat im Finanzausschuß auf die gegen die Erwerbung der Uhde'schen Himmelfahrt gerichteten Angriffe geantwortet, H e r r von Uhde müsse in der Pinakothek vertreten sein und außerdem sei ihm das Bild als das bedeutendste von Uhde erklärt worden. N u n ist sicher kein Zweifel darüber, daß ein Künstler von der weit über Bayern hinausgehenden Bedeutung Uhdes in unserer Staatssammlung vertreten sein muß. Aber wer dem H e r r n Minister gesagt hat, daß die Himmelfahrt Uhdes bestes Werk sei, von dem muß ich doch sagen, daß er mit seinem Urteil ziemlich allein stehen wird — unter den Kunstfreunden, wie auch unter den Künstlern. Audi ich kann die Gründe, welche der H e r r Referent gegen das Bild ins Feld geführt hat, keineswegs teilen. Denn das, was er eine Herunterdrückung des Idealen auf das gewöhnliche Volksleben nennt, ist nichts anderes, als die Befreiung der idealen Gestalten von der konventionellen Form und ihre Versetzung in das wirkliche Leben, und das ist auch schon von der Renaissance geübt worden. Wohl aber können gewichtige ästhetische und technische Bedenken gegen das Bild geltend gemacht werden. U n d es ist bezeichnend, daß selbst die begeistertsten Freunde des H e r r n von Uhde, welche mit Eifer f ü r den Ankauf 105

Abb. 7. v. Uhde, Christi H i m m e l f a h r t

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seines Bildes eintraten, bei der Verteidigung der Himmelfahrt zu wirklichen Verlegenheitsgründen und gewundenen Erklärungen haben greifen müssen. So erinnere ich mich, in der Rezension eines bekannten Blattes gelesen zu haben, die Behauptung, daß Christus auf dem Bild nicht fliege, sei unberechtigt — er sei nur eben des Fliegens noch ungeübt und mache daher naive Bewegungen. (Heiterkeit).

Die allgemeine Meinung geht dahin, daß die Uhde'sche Himmelfahrt zu den weniger gelungenen Werken Uhdes zählt, und nach meiner Meinung wäre es im Interesse des Herrn von Uhde selbst gewesen, wenn er nicht durch dieses Bild in der Pinakothek vertreten sein würde. Ich glaube gut unterrichtet zu sein, wenn ich sage, daß auch in der Ankaufskommission gegenüber diesem Bild nicht geringe Bedenken vorhanden gewesen sind, und daß, wenn sie schließlich doch den Ankauf vorschlug, weit weniger der absolute Kunstwert des Werkes als vielmehr Rücksichten auf die Persönlichkeit des Künstlers maßgebend gewesen sind. So ist dann schließlich das Merkwürdige geschehen, daß ein Künstler von großem Namen, um den Ankauf seines Werkes durchzusetzen, sich hat bereit finden lassen, einen wesentlichen Teil seines Werkes umzumalen, was in der Geschichte der Kunst wohl noch selten dagewesen sein wird. (Sehr richtig)".

Diese Ausführungen ließen den Abgeordneten Kohl nicht ruhen: „Wenn Herr von Vollmar das Bild, das von Uhde um 25 000,— M angekauft wurde, kritisiert hat, so stimmt die Kritik, die er geübt hat, vollständig nicht bloß mit der meinigen überein, sondern mit der Meinung all jener, mit welchen ich bis jetzt über das Bild gesprochen habe. Ein schwäbischer Pfarrer hat sogar gesagt: Dem solla ma das Male verbiata! (Heiterkeit).

Das ist nun freilich doch zu weit gegangen. Aber das muß ich sagen, ich habe nicht bloß ästhetische und technische Bedenken, sondern, da das Bild ein religiöses sein soll, so habe ich auch religiöse Bedenken gegen das Bild. Wenn der Herr Abgeordnete von Vollmar sagt, daß das Bild zu teuer ist, so sage ich, wenn das Bild seinem Gegenstand gemäß auch so ausgeführt wäre, daß es wirklich etwas Großartiges, Erbauendes wäre, dann würde mir die Summe für so ein hervorragendes Bild wahrlich nicht zu groß vorkommen. Aber für ein Bild, das gewiß niemand, der es anschaut, erheben und erbauen kann, ist mir der Preis denn doch zu hoch. (sehr richtig! rechts).

Allerdings kann man da verschiedener Auffassung sein, und ich bin weit entfernt zu sagen, daß Uhde nicht ein außerordentlich fruchtbarer und genialer Meister sei. Davon sind wir alle fern. Ich habe schon Bilder von Uhde verfolgt, seit einer Reihe von Jahren und muß sagen, daß er äußerst fruchtbar und genial ist, aber ich möchte dagegen Verwahrung einlegen, daß er als religiöser Maler besondere Bedeutung hat. Das sind keine religiösen 107

Bilder, sondern Kulturbilder, denen man vielfach einen heiligen N a m e n gibt. Das ist bei den meisten Gemälden von U h d e der Fall. Das Bild «Es will Abend w e r d e n » 4 7 ist in Beziehung auf die Auffassung von den religiösen Dingen so ziemlich auf demselben Standpunkt wie dieses. Wenn m a n aber das Bild Christi H i m m e l f a h r t ansieht, so habe ich wenigstens und vielleicht auch andere das Sentiment empfunden: In den H i m m e l , in den der Christus fährt, will ich nicht hinein (Heiterkeit)" 48 .

„Daß die Christus-Bilder Fritz von Uhdes soviel Entrüstung und Streit haben erregen können, zeigt nur, wie festgewurzelt noch die überkommenen Vorstellungen gewesen sein müssen. Im Grunde geht der Uhde'sche Armeleute-Christus 4 8 a nicht mehr als nur einen Schritt über schon seit langem Gewohntes hinaus. Jesus tritt unter die Menschen der Gegenwart, das war auch schon vor Uhde von anderen gemeint gewesen. Der spätere Overbeck hatte 1861 einen K a r ton mit der Hochzeit zu K a n a vollendet, der in einem Zyklus der 7 Sakramente zugleich das Sakrament der Ehe, also allgemein Menschliches, darstellen wollte. Zwei Jahrzehnte später zeigen die großen Bilder Uhdes das Weilen Christi in der bäuerlichen Familie. Man hat bei solchen Bildern Uhdes an Rembrandt erinnert. Dies Beispiel aber erklärt nur ein Äußerliches, denn ohne Zweifel hat Rembrandt stets eindeutig die hl. Familie damals und dort in Nazareth gemeint. Kein Maler der älteren Jahrhunderte hatte je die grundsätzliche Grenze zwischen jenem Geschehen und alledem, was in unserer Welt möglich ist, infrage gestellt. Bei Uhde, dem Künstler des 19. Jahrhunderts, geht es dagegen um mehr als bloße Alltäglichkeit und Wirklichkeitsnähe der Modelle. J e t z t sind zu allerinnerst keine Schranken mehr da. Das Menschliche verzehrt auf solche Weise völlig das Christliche. Das Menschliche wird verchristlicht und das Christliche vermenschlicht, es gibt keinen Sonderbezirk des Heiligen mehr" 4 9 , das empfinden die Abgeordneten. Darum wehren sie sich dagegen, daß „die überkommenen Vorstellungen" verlassen, das übliche Bild der christlichen Heilsgeschichte („etwas Großartiges, Erbauendes") durch ein völlig unübliches Bild ersetzt wird. Aber nicht nur das, das Festhalten an den üblichen Vorstellungen ist es, was die Ausführungen der Abgeordneten so bedeutsam macht. Von dem Abgeordneten von Vollmar erfuhr nämlich der Leser etwas, was ihn aufhorchen l ä ß t : „So ist schließlich das M e r k w ü r d i g e geschehen, d a ß ein Künstler von großem N a m e n , um den A n k a u f seines Werkes durchzusetzen, sich hat bereit finden

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lassen, einen wesentlichen Teil seines Werkes umzumalen, was in der Geschichte der Kunst wohl noch selten dagewesen sein wird." Der Abgeordnete von Vollmar hat recht, aber nicht nur das: Mit seiner Mitteilung verweist er unbewußt weit zurück, und zwar auf Veronese. Dieser hat (wie S. 49 dargetan) selbst unter dem Druck der Inquisition es abgelehnt, sein „Letztes Abendmahl" abzuändern. Der Herr von Uhde stand nicht unter einem solchen Druck. Ein Wink des Kaufinteressenten hat genügt, seine „Himmelfahrt Christi" dessen Geschmack anzupassen. Und wenn Veronese unter dem Druck der Inquisition sich schließlich bereit fand, sein „Letztes Abendmahl" in ein „Gastmahl im Hause des Levi" umzutaufen, so genügte bei Herrn von Uhde schon die Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung, also auf mögliche Kaufinteressenten späterer Werke, aus dem „Gang nach Bethlehem" einen „Schweren Gang" 50 werden zu las-

Abb. 8. v. Uhde, Schwerer Gang

sen 51 . Die überkommenen Vorstellungen der Geldgeber haben eine ungewöhnliche,

weil

ungewohnte

Darstellung

christlichen

Heils-

geschehens aus diesem Bereich zu vertreiben verstanden 5 2 und seine Drohung, „er werde den Heiland neben einem Schild darstellen, auf dem geschrieben steht: H i e r kann Schutt abgeladen werden" 5 3 , blieb nichts als leeres Gerede. H ä t t e er dieses Bild gemalt, würde er heute noch, ja gerade wieder allgemeiner Beachtung gewiß sein dürfen. E t w a in die gleiche Zeit fällt das Ringen der Polizei- und Theaterbehörden um die Aufführung von Ibsens „wurde das W e r k

„Gespenstern". In Berlin

1 8 8 7 und 1 8 8 9 dem Residenztheater

verboten

und 1 8 9 0 dem Lessingtheater nicht einmal für eine einmalige Vorstellung

freigegeben,

weil, wie der Polizeipräsident

erklärte,

das

Stück sich seinem ganzen Inhalte nach nicht zur öffentlichen Aufführung eigne. Erst als es so ziemlich in ganz Deutschland gespielt worden war und Direktor Blumenthal vom Lessingtheater 1894 die Aufhebung des Verbots beantragte, genehmigte derselbe H e r r

von

Richthofen die öffentliche Aufführung auch in Berlin" 5 4 . In Wien wollte der damalige Direktor des k. k. Hofburgtheaters 1 8 8 9 die „Gespenster" zur Aufführung bringen und schrieb daher am 2 6 . 3. 1 8 8 9 an die hohe Zensurbehörde der k. k. H o f t h e a t e r : „Nach reiflicher Erwägung aller Umstände hat sich die Direktion entschlossen, der Verwirklichung dieses Planes kein Hindernis in den Weg zu legen und überreicht nunmehr die «Gespenster» der Hohen Zensurbehörde mit der Anfrage, ob die Hohe Zensurbehörde geneigt sei, das genannte Drama zur Aufführung zum erwähnten Zwecke im k. k. Hofburgtheater zuzulassen. Die Direktion verkennt die Gründe nicht, welche die Hohe Zensurbehörde bestimmen könnten, den «Gespenstern» die Pforten des Burgtheaters bedingungslos zu verschließen. Wer die «Gespenster» liest, wird sich zunächst gegen den Gedanken sträuben, sie im Burgtheater aufzuführen. Doch sprechen gewichtige Gründe auch positiverweise für die Zulassung der «Gespenster». Henrik Ibsen ist unleugbar ein dramatischer Dichter von stärkster und eigentümlichster Kraft und Begabung, und seine «Gespenster» sind eines der für seine Eigenart bezeichnendsten Werke, welche die Nachwelt vielleicht auch dann nicht vergessen wird, wenn die geistige Bewegung, der sie entsprungen sind, überwunden sein wird. Unerbittlicher Drang nach Wahrheit ohne alle Lust am Trug atmet jede Zeile der «Gespenster». Dieser Wahrheitstrieb und die tief pessimistische Grundstimmung seines Werkes zwingen, Ibsen von dem Vorwurf frivoler Immoralität freisprechen zu müssen. Keinem Zuschauer kann angesichts der furchtbaren Vorgänge und Gestalten, die in den «Gespenstern» dargestellt sind: menschlicher Wesen, die an den Folgen der vertuschten Liederlichkeit ihres Erzeugers leiblich, geistig und sittlich elend verkommen, der blutschändenden Liebe

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zwischen Halbgeschwistern, eines scheinheiligen Scheinvaters, der seine Tochter in ein schlechtes Haus, das er zu begründen gedenkt, locken möchte, auch nur der Schatten eines zweideutigen Gedankens kommen. Das alles, so grauenvoll es ist, wird dargestellt mit künstlerischem Ernst und priesterlicher Sittenstrenge, so daß ein höherer Sinn daran so wenig Ärgernis nehmen sollte, als an der Nacktheit eines Leichnams, der auf dem Seziertisch liegt, damit die Todesursache erforscht werde. Ich fürchte den Vorwurf, daß das Burgtheater der Aufgabe, die Shakespeare der Bühne zuschreibt: «dem Jahrhundert und Königen der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen», untreu werde, wenn es seinem Publikum die Werke Ibsens ganz und gar vorenthält. Nicht als ob die Werke Ibsens ein photographisch treues Bild der Gegenwart böten. Im Gegenteil! Aber Ibsen selbst mit seiner Eigenart gehört, ob man ihn nun preisen oder verdammen mag, zum Bild des Jahrhunderts. Politisch oder religiös Anstößiges vermag die Direktion in den «Gespenstern» nicht zu entdecken. Sie wurden übrigens, wie ich beiläufig erwähne, auch am Herzoglich sächsischen Hoftheater in Meiningen aufgeführt". A u f diesen Brief antwortete der k. und k. Generalintendant der k. k. Hoftheater: „Es ist gewiß richtig, daß das Burgtheater eine so bedeutsame und eigenartige schriftstellerische Erscheinung wie Henrik Ibsen nicht einfach ignorieren kann; es wäre aber meiner Überzeugung nach mehr als fraglich, ob das Burgtheater seiner Pflicht gegenüber dem Dramatiker Ibsen damit in richtiger Weise nachkommen würde, indem es dem Wiener Publikum als Einführung für den Dichter gerade dasjenige seiner Stücke bringen würde, welches selbst in den Städten, wo Ibsens Werke bereits einen ständigen Teil des Repertoires ausmachen, nur als einmaliges Experiment für einen engeren Kreis von Literaturfreunden zur Aufführung gebracht worden ist. Wo Ibsens Individualität als dramatischer Schriftsteller bereits hinreichend bekannt ist, mag die probeweise Aufführung auch dieses immerhin geistvollen, aber die ästhetische Theorie des Dichters auf die äußerste Spitze treibenden, wenn nicht dieselbe ad absurdum führenden Erzeugnisses angezeigt erscheinen. Hier in Wien jedoch, wo das große Publikum den dramatischen Schriftsteller Ibsen meines Wissens nach kaum kennt, würde dem Dichter durch die Vorführung gerade dieses Stückes entschieden kein Dienst erwiesen werden. Ganz abgesehen aber von dieser allgemeinen Reflexion liefert wohl schon die in dem Berichte der Direktion selbst gegebene präzise und zutreffende scharfe Charakterisierung der handelnden Hauptpersonen des in Frage kommenden Stückes den Beweis an die Hand, daß die Zulässigkeit dieses Stückes für die k. k. Hofbühne von selbst ausgeschlossen sei. Weit entfernt, dem Autor den Vorwurf frivoler Immoralität machen oder an dessen Wahrheitsliebe zweifeln zu wollen, kann ich in den «Gespenstern» wohl eine erschreckende Nacktheit der dem Dichter vorschwebenden Charaktere, aber keine innere Wahrheit mehr finden. Die Parallele mit dem nackten Leichnam auf dem Seziertisch erscheint mir hier nicht ganz zutref111

fend. Der nackte Leichnam ist ein unzweifelhaft zulässiges, ja unentbehrliches Objekt der wissenschaftlichen Forschung im engeren Kreise der berufenen Jünger der Wissenschaft; sein Platz ist der anatomische Seziersaal. Nie aber wird meiner Überzeugung nach der nackte, noch dazu mit giftigen Eiterbeulen bedeckte Leichnam ein begehrenswerter Vorwurf sein für die bildenden Künste, wenn die Kunst wirklich zur Veredelung und nicht zur Verwilderung und schließlich zum Ekel führen soll. Um jedoch dem unzweifelhaft berechtigten Streben der Hofburgtheater-Leitung, dem jedenfalls ganz eigenartigen und vielseitig anerkannten Schriftsteller Henrik Ibsen Eingang in das Hofburgtheater zu verschaffen, auch meinerseits gerecht zu werden, lenke ich die Aufmerksamkeit der Direktion auf Ibsens Schauspiel: «Die Stützen der Gesellschaft», bei welchem Stück ich höchstens mit Ausnahme dessen, daß allenfalls der Prediger Roland (soll wohl heißen Rörlund) in einen Schullehrer umgewandelt werden könnte, vom Standpunkt der Zensur keinerlei Bedenken zu erheben wäre" 55 . Von diesen Auslassungen des k. und k. Generalintendanten der k. k. Hoftheater verdient zweierlei Beachtung. Seine Auffassung über Ibsens „Gespenster" wurde nicht überall geteilt. So konnte man über die Wirkung ihrer A u f f ü h r u n g auf das Publikum der „Freien Volksbühne" in Berlin im Juli 1892, also gar nicht so lange nach jenen Auslassungen, lesen: „Von jenem feigen Entsetzen, wie es das sonstige Theaterpublikum angesichts dieser Dichtung zu empfinden pflegt, war hier fast nichts zu bemerken. Das urwüchsige Volk kann eben rücksichtslose Wahrheit eher vertragen, als jene bessere Gesellschaft, die durch Verhüllung, heuchlerische Moral und verlegene Konvention verweichlicht worden ist" 56 . Um dieser „besseren Gesellschaft" willen scheint der k. und k. Generalintendant der k. k. Hoftheater die „Gespenster" vom Hofburgtheater ferngehalten zu haben. Erst 1 9 0 3 kamen sie zur A u f f ü h rung 55 . Daß in der gleichen Zeit, in der die A u f f ü h r u n g von Ibsens „Gespenstern" im Hofburgtheater in Wien verhindert wurde, im gleichen Wien gegen eines der „Gespenster", die progressive Paralyse, der medizinische Kampf aufgenommen wurde, der seinem Helden, dem Psychiater Wagner-von Jauregg, einen überwältigenden Erfolg und schließlich den Nobelpreis brachte, ist eine der Eigentümlichkeiten unserer Geschichte. Weit stärkere Beachtung verdient es, daß der k. und k. Generalintendant der k. k. Hoftheater dem Hofburgtheater die A u f f ü h rung von Ibsens „Stützen der Gesellschaft" empfahl. Ein Glück für ihn und den Direktor des Hofburgtheaters, daß er mit seiner Empfehlung keinen Erfolg hatte und das Bühnenwerk dort nicht auf112

geführt

wurde 5 7 .

Denn

genau dieses Bühnenwerk

war

einer

der

Gründe, die 1 8 9 2 dazu führten, die „Freie Volksbühne" in Berlin gleichsam unter Polizeiaufsicht zu stellen 58 . Im Zuge des gegen sie durchgeführten Verwaltungsgerichtsverfahrens trug der kgl. Polizeipräsident von Berlin nach dem „ V o r w ä r t s " vom 3 1 . 1 . 1 8 9 2 u. a. v o r : (Personen), „die durch den Ernst des wirtschaftlichen und politischen Programms der Sozialdemokratie noch nicht gefesselt werden und der sozialen Frage gegenüber sich gleichgültig verhalten, namentlich Frauen und Mädchen, sollen durch heitere Geselligkeit und durch angenehme Unterhaltung allmählich den sozialdemokratischen Geist in sich aufnehmen und auf diesem Wege der Partei zugeführt werden. Wenn, diese bekannte Tatsache vorausgeschickt, von sozialdemokratischen Agitatoren ein Verein «Freie Volksbühne», also ein Unternehmen, welches gleichfalls dem Vergnügen zu dienen bestimmt ist, ins Leben gerufen wird, dessen Mitglieder, wie zugestanden, zum größten Teil aus Sozialdemokraten besteht, so erscheint die Annahme begründet, daß auch diese «Freie Volksbühne» der sozialdemokratischen Propaganda gewidmet sein soll. Wie kann eine solche Propaganda durch «Vorführung der Poesie in ihrer modernen Richtung», durch Darstellung zeitgemäßer, von Wahrhaftigkeit erfüllter Dichtungen anders verstanden werden, als daß man beabsichtigt, das Volk, das heißt hier eine ganz bestimmte Klasse der Bevölkerung, das sogenannte Proletariat, mit einer bestimmten Anschauung über die gesellschaftliche Ordnung zu erfüllen und von der Notwendigkeit einer Änderung derselben, der Revolution, zu überzeugen? Damit steht der Umstand in voller Ubereinstimmung, daß bisher nur Stücke aufgeführt worden sind, welche Mängel an der bestehenden Gesellschaftsordnung in besonders aufäflliger Form zur Darstellung bringen. Daß aber eine derartige Erziehung gewisser Volksklassen zu gewissen wirtschaftlichen und politischen Anschauungen nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens bleibt, weil die Erziehung für jeden Einzelnen von maßgebendem Einfluß auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens bleibt, weil die Erziehung für jeden Einzelnen von maßgebendem Einfluß auch bei der Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflichten ist . . ." 59 . Das preußische Oberverwaltungsgericht 6 0 gab in seinem Urteil vom 7. J a n u a r 1 8 9 2 dem kgl. Polizeipräsidenten von Berlin recht, indem es u. a. ausführte: „In weit höherem Grade, als theoretische, sachliche nüchterne Erörterungen der schwebenden Fragen über die politische und soziale Stellung des vierten Standes dies jemals vermöchten, muß unzweifelhaft die theatralische Aufführung von Dichterwerken, welche die ungerechte Behandlung, Ausbeutung oder Unterdrückung der Arbeiter seitens der Angehörigen des Bürger- oder Beamtenstandes poetisch schildern und welche somit unmittelbare Phantasie und Leidenschaften erregen, als dazu geeignet erscheinen, um die sozialdemokratischen Anschauungen in den Kreisen der Arbeiterbevölkerung zu 8 Leiss, Kunst im Konflikt

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verbreiten und zu befestigen, somit der Partei Anhänger zu gewinnen und zu sichern. Wenn daher ausschließlich oder doch nahezu nur ausschließlich solche Dichterwerke aufgeführt sind, die zur Verbreitung der Parteiansichten besonders geeignet waren, so mag den als Gründern aufgetretenen Parteigenossen anfänglich als nächstes Ziel immerhin nur das vorgeschwebt haben, die natürliche, als Realismus oder Naturalismus bezeichnete Kunstrichtung auch in der Poesie und auf der Bühne zu fördern und derselben auch in dem Kulturleben des Volkes auch unter der Arbeiterbevölkerung allgemeinere Anerkennung zu verschaffen."

Das Urteil zählt dann die Stücke auf, die die Freie Volksbühne bisher auf die Bühne gebracht hatte, unter ihnen von Ibsen die „Stützen der Gesellschaft", den „Volksfeind" und den „Bund der Jugend", Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang", von Schiller „Kabale und Liebe" und „Die Räuber", von Anzengruber den „Doppelselbstmord" und den „Pfarrer von Kirchfeld", Hebbels „Maria Magdalena", Gogols „Revisor", Halbes „Eisgang" und Zolas „Therese Racquin". Dann fährt das preußische Oberverwaltungsgericht fort: „Hätte man aus den vorhandenen Dichterwerken eine Anzahl der für die Zwecke der sozialdemokratischen Parteiorganisationen besonders passenden auszusuchen, so wäre die vorstehende Auswahl als eine geschickte zu bezeichnen; denn sie alle sind gewiß geeignet, die «Hohlheit und Unhaltbarkeit» der geschilderten Verhältnisse in der Gesellschaft und unter den beamteten Staatsorganen vor Augen zu stellen, Phantasie und Leidenschaften der zuhörenden Arbeiter zu erregen, ihre Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen möglichst zu steigern und in ihnen den Willen, deren Änderung herbeizuführen und zu dem Zwecke der Partei sich anzuschließen, tunlichst zu erwecken und zu befestigen."

Ibsens „Stützen der Gesellschaft" wurden vom Verein selbst dahin erläutert, daß sie „die Ideen der Arbeiter fördern, diese über die heutige Gesellschaft aufklären sollen" und daher den gegenwärtigen Kämpfen der Arbeiter angepaßt seien. Anlaß genug, die Aufführung des Stückes durch die Freie Volksbühne als einen der Gründe dafür zu benutzen, sie in Berlin gleichsam unter Polizeiaufsicht zu stellen. Die Haltung gegenüber Ibsens Werk ist überhaupt bezeichnend für die gegensätzliche Kunstauffassung in Nord und Süd. So führt das preußische Oberverwaltungsgericht in dem eben erwähnten Urteil zu Ibsens „Volksfeind" aus, daß hierin dem redlichen Streben eines Einzelnen die zur Zeit im Bürgertum und im Beamtenstand herr114

sehende Erbärmlichkeit bzw. Eigennutz entgegengestellt würden und daß der die Theatervorstellung überwachende Polizeibeamte den Eindruck gewonnen habe, daß der „Volksfeind" die heutigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zustände als unhaltbar erscheinen lassen wolle. Das Hofburgtheater dagegen führte den „Volksfeind" unter der von 1890—1898 dauernden Ära des Direktors Max Burckhard sogar in Sonntagsnachmittags-Vorstellungen auf61. Ibsens „Wildente" hinwiederum, die die Direktion des Hofburgtheaters ebenfalls am 26. 3. 1889 zur Genehmigung vorgelegt hatte, wurde von der k. und k. Generalintendanz der k. k. Hoftheater in dem oben erwähnten Brief mit der Bemerkung abgetan; „ebenso wenig wie die «Gespenster» kann ich die «Wildente» von demselben Autor zur Aufführung zulassen, indem dieses gleichfalls nur ein höchst unerquickliches Schauspiel bieten würde". Die „Wildente" kam erst 1897 auf die Bühne62 und blieb dort noch längere Zeit63. In der nach Zielsetzung, Wesen und Publikum genau entgegengesetzten Freien Volksbühne in Berlin jedoch kam sie nicht zur Aufführung, konnte daher auch vom preußischen Oberverwaltungsgericht einer kritischen Würdigung nicht unterzogen werden. Dieses Gericht hat in seiner mehrfach erwähnten Entscheidung sich aber nicht nur mit 2 Bühnenwerken Ibsens auseinandergesetzt. Es befaßte sich auch mit 2 weiteren Werken deutscher Dichter, die freilich ihre Abhängigkeit von Ibsen nicht zu verleugnen vermochten64, H. Sudermanns „Ehre" und G. Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang". Das erstere, dessen Aufführung am 27. 11. 1889 ein „sensationeller Erfolg" geworden war, zeigt die Probleme der Gesellschaft „auf, macht sie interessant, überspielt sie aber am Schluß wieder und wahrt die Konvention" 65 , veranlaßt aber dennoch das preußische Oberverwaltungsgericht zu abwertenden Auslassungen. Auch G. Hauptmanns erstem Drama, dem am 20. 10. 1889 in der Berliner Freien Bühne uraufgeführten Theaterstück „Vor Sonnenaufgang", das unter seinem ursprünglichen Titel „Der Sämann" von Theodor Fontane dorthin empfohlen worden war 66 , konnte das preußische Oberverwaltungsgericht keinen Geschmack abgewinnen: „Nach der vom Kläger mitgeteilten Inhaltsangabe stehen sich hier zwei Gruppen der Gesellschaft gegenüber; auf der einen Seite Genußsucht, Überhebung, moralische Verderbtheit, auf der anderen geknechtete Armut. Arme Tagelöhner müssen aus Hunger Brot und Milch stehlen; die durch Industrie 115

reich gewordenen Bauern mißhandeln in der Trunkenheit zurückkehrende Bergarbeiter mit der Peitsche. Ein Ingenieur verleitet die trunkenen Bauern betrügerisch zu einem Kontrakte. Dagegen hebt sich der edle und moralische Loth ab."

„Kann 67 nach solchen Betrachtungen noch ein Zweifel darüber bestehen, daß die Verurteilung der Freien Volksbühne durch das Oberverwaltungsgericht nichts Geringeres ist, als eine Verurteilung des modernen Naturalismus — oder wie man sonst die Richtung der Ibsen, Hauptmann usw. nennen mag? Weil eine moderne, von Wahrhaftigkeit erfüllte Poesie nicht umhin kann, sich mit dem sozialen Problem zu beschäftigen und einen sozialkritischen Hauch zu atmen, drum erblicken die ängstlichen Hüter der bestehenden «Ordnung» in dieser Poesie eine Strömung, welche der polizeilichen Überwachung bedarf. Die politische Reaktion ist hereingebrochen in das Gebiet der Kunst, und es steht zu befürchten, daß sie sich breit und breiter machen wird. Mit demselben «Rechte» wie die Freie Volksbühne könnten diejenigen Inhaber eines Theaters oder eines Verlages, welche eine Kompagnie bilden und den Naturalismus kultivieren, unter das Vereinsgesetz gestellt werden. Jedenfalls sind richterliche Urteile, wie das vorliegende, geeignet, den Zensureifer unserer Polizei, welchen unsere dramatische Kunst schon peinlich genug empfindet, noch mutiger und stärker zu machen." Der so schrieb, einer der maßgeblichen Leute der Freien Volksbühne Berlin, hatte durchaus recht, wenn er in dem gegen diese gerichteten Urteile des preußischen Oberverwaltungsgerichts in Wahrheit „eine Verurteilung des modernen Naturalismus — oder wie man sonst die Richtung der Ibsen, Hauptmann usw. nennen mag", gesehen hat. Dieses Gericht, mehr und viel deutlicher noch der kgl. Polizeipräsident von Berlin, sahen im „Naturalismus der Ibsen, Hauptmann usw." die künstlerische Ausdrucksform einer sozialkritischen, ja sozialdemokratischen Geisteshaltung, die nach den Worten des Urteils darauf abzielte, „die Hohlheit und Unhaltbarkeit der Verhältnisse in der Gesellschaft und unter den beamteten Staatsorganen vor Augen zu stellen, Phantasie und Leidenschaften der zuhörenden Arbeiter zu erregen, ihre Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen möglichst zu steigern und in ihnen den Willen, deren Änderung herbeizuführen, tunlichst zu erwecken und zu befestigen", eine Änderung, die nach Meinung des kgl. Polizeipräsidenten 116

von Berlin im Wege der Revolution erfolgen sollte, also durch den Sturz von Thron und Altar. Dieser Änderung mußte mit allen der Verwaltung zur Verfügung stehenden Machtmitteln entgegengetreten werden, bei Bühnenwerken dieser Art also mit dem Verbot der Aufführung. So hatte man Ibsens „Gespenster" wenigstens vorübergehend verboten und die Aufführung seiner „Stützen der Gesellschaft" erheblich erschwert. In ähnlicher Weise ging man in Berlin im gleichen Jahre 1892 gegen das Theaterstück „Hannah Jagert" des amtsbekannt sozialdemokratischen Dichters Otto Ernst Hartleben vor. Als es in diesem Jahre dem kgl. Polizeipräsidenten in Berlin zur Genehmigung der Aufführung vorgelegt wurde, lehnte er am 16. 3. 1892 ab. Auf die hiergegen erhobene Beschwerde hin rechtfertigte er die Ablehnung damit, daß in der Figur der Hannah Jagert „die Grundsätze von der freien Liebe, wie sie die Sozialdemokratie lehre", verkörpert seien. „Das Stück stellt sich als eine dreiste Apologie der freien d. i. der eheverächterischen Liebe des Weibes dar. Sein Einfluß kann nur ein sittenverderblicher sein, zum mindesten erscheint es geeignet, das Sittlichkeits- und Schamgefühl eines anständigen Publikums gröblich zu verletzen." Demgemäß bestätigte der Oberpräsident am 30. 4. 1892 das Verbot. „Die von der Titelheldin in Worten und Handlungen vertretene Philosophie des freien Menschentums steht in einem solchen Widerspruch zu den die Grundlage unserer Staatsund Gesellschaftsordnung bildenden Sittengesetzen, daß von der Aufführung mit Recht eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu befürchten ist"68. Wer hörte hier nicht die Worte des § 20 des Regierungsentwurfs eines Reichspressegesetzes von 1874, in dem von „Untergrabung bestimmter Werte der bürgerlichen Ordnung", von einer „Erörterung der Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in einer den Frieden gefährdenden Weise"69 gesprochen wurde? Das preußische Oberverwaltungsgericht vermochte sich solchen Erwägungen nicht anzuschließen. Es hob auf die gegen das Verbot des Oberpräsidenten vom 30. 4. 1892 eingereichte Klage hin mit Urteil vom 1. 12. 1892 das Verbot auf und führte u. a. aus: „Daß die Ansichten und Handlungen der Titelheldin teilweise mit dem Sittengesetze nicht übereinstimmen, gefährdet noch nicht die öffentliche Sittlichkeit, denn die Darstellung der Titelheldin ist im wesentlichen rein objektiv gehalten. Sie wird namentlich nicht etwa deshalb, weil sie jene Ansichten hat und jene Handlungen vornimmt, als Muster oder Vorbild hingestellt.

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Auch die Einzelheiten des Stückes enthalten, trotzdem manche nicht unbedenklich sind, noch nichts sittengefährliches. Das gilt . . . von der episodischen Figur der Lieschen Bode . . . Sie ist augenscheinlich in das Stück aufgenommen, um das unter ähnlichen Verhältnissen so wesentlich andere und bessere Verhalten der Hannah Jagert schärfer hervortreten zu lassen. Ihr Tun und Treiben ist daher mehr geeignet, Entrüstung und Verachtung als Nachahmung oder Billigung zu finden" 7 0 .

Das Urteil, nicht ganz ein Jahr nach dem gegen die Freie Volksbühne Berlin ergangen, kennzeichnet die Veränderung, die sich in der Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts anbahnte. Das Gericht hatte sich schon seit dem 1890 erfolgten Erlöschen der Sozialistengesetze auf einem rechtlich immer schwankenderen Boden befunden. Jetzt sah es sich auch durch die politische Entwicklung überrollt. Nicht so die Verwaltung. Ihre Spitzen bis hinauf zu Kaiser Wilhelm II. ließen sich durch die der Sozialdemokratie günstige politische Entwicklung nicht überrollen, fühlten sich vielmehr durch sie zu immer verbissenerem Kampf gegen diese, ihre der derzeitigen Gesellschaft feindliche Geisteshaltung und erst recht durch Kunstwerke, die dieser Geisteshaltung künstlerische, insbesondere bühnenwirksame Gestalt verliehen, herausgefordert und traten zum offenen Waffengang gegen sie vor, ja eigentlich mit den obersten Gerichten an, der für sie nicht gut ausgehen konnte, aber doch immer wieder bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts hinein unternommen wurde. Klassische und weithin bekannte Musterbeispiele hierfür sind der nun zu behandelnde Kampf gegen Gerhart Hauptmanns „Die Weber" (mit den Urteilen des preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 2. 10. 1893, 2. 7. 1894 und 15. 10. 1896 und des sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 6. 11. 1901), aber auch der anschließend behandelte Kampf gegen Ludwig Fuldas „Verlorenes Paradies" (Urteil des preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 29. 5. 1903). Der gegen Gerhart Hauptmann und seine „Weber" mit Erbitterung und Härte geführte Kampf 7 1 begann, als das Deutsche Theater in Berlin am 20. 2. 1892 die Dialektausgabe des Werkes zur Zensur einreichte. Die Aufführung wurde „aus ordnungspolizeilichen Gründen" verboten. Die Bedenken der Polizei richteten sich gegen „die geradezu zum Klassenhaß aufreizende Schilderung des Charakters des Fabrikanten im Gegensatz zu denjenigen der Handwerker, die Deklamation des Weberliedes, die Plünderung bei Dreißiger und die 118

Schilderung des A u f s t a n d e s " . Sie glaubte befürchten zu müssen, daß die kraftvollen Schilderungen des D r a m a s , die zweifellos durch die schauspielerische Darstellung erheblich an Leben und Eindruck gewinnen würden, in der Tagespresse mit Begeisterung besprochen, einen Anziehungspunkt f ü r den zu Demonstrationen geneigten sozialdemokratischen Teil der Bevölkerung Berlins bieten würde, für deren Lehren und Klagen über die Unterdrückung und Ausbeutung des Arbeiters das Stück durch seine einseitige tendenziöse Charakterisierung hervorragend P r o p a g a n d a mache. 10 Monate später legte die Theaterdirektion die hochdeutsche Ausgabe vor, in der eine Reihe von Kürzungen vorgenommen worden war, und ersuchte um Genehmigung der veränderten Fassung. D a aber durch die Striche nur einige brutale bzw. unanständige Worte und ein Vers des Weberliedes beseitigt war, blieb das Polizeipräsidium Berlin in seiner V e r f ü g u n g vom 4. 1. 1893 bei seinem Verbot. Gerhart H a u p t m a n n erhob nun K l a g e zum Bezirksausschuß. Dieser führt in seiner Entscheidung vom 14. 3. 1893 u. a. aus: „Das ganze Schauspiel charakterisiert sich als ein solches, welchem es an jedem versöhnenden Momente fehlt; der Verfasser, in dem er ein überaus dunkles Blatt der Geschichte aufschlägt, prägt in dasselbe nur die Farbe der besitzenden Klasse schwarz auf schwarz ein, während die Armen und Unterdrückten in heller bzw. blutiger Farbe verzeichnet werden. Not und Mut auf der einen, Hartherzigkeit und Schwäche auf der anderen, sie müssen zum blutigen Zusammenstoß führen, der nicht nur in Langenbielau für die Besitzlosen siegreich endet, sondern auch einen Ausblick auf eine bis Breslau wachsende Revolution eröffnet, mit der Hoffnung auf immer mehr Zulauf. Da hier in Berlin mit jedem Jahr die Zahl der Arbeitslosen zunimmt, und da außerdem hier notorisch zahlreiche Sozialdemokraten und mit ihrem Schicksal zerfallene Menschen leben, welche ihr Elend auf die Reichen und Besitzenden allein schieben, so liegt die Besorgnis nahe, daß, falls die Weber in einem öffentlichen Theater hier selbst zur Aufführung gelangen sollten, die Empfindungen der etwa unter den Zuschauern befindlichen unzufriedenen Elemente in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise aufgeregt werden könnten. Es genügt festzustellen, daß die Weber einen deutlichen, auch für unsere Zeit zutreffenden Hinweis auf Gewalttätigkeiten enthalten, welche als Heilmittel gegen die Nöte des Lebens hingestellt werden. Ob ein Teil der Hörer bald oder später oder niemals zu Gewalttätigkeiten übergeht, um sein Lebenslos zu verbessern, kann nicht vorausgesehen werden." Diese Besorgnis allein rechtfertige das Verbot. Dagegen erhob der A n w a l t Gerhart H a u p t m a n n s K l a g e zum Dieses gab mit Urteil vom 2. 10. 1893

Oberverwaltungsgericht. „Die

Weber"

für

das

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Deutsche Theater in Berlin frei. Die Urteilsbegründung ging auf den künstlerischen Wert des Stückes nicht ein, ebenso wenig auf die Zwecke der dramatischen Kunst im allgemeinen, auf die mögliche Absicht des Dichters usw. Für die grundsätzliche Entscheidung sei das alles unerheblich. Es komme nur auf die Wirkung der Aufführung an. Andererseits sei es nicht richtig, daß die Vorführung wahrer Ereignisse auf der Bühne stets oder wenigstens, sobald dabei nur rein künstlerische Zwecke verfolgt würden, gestattet sein müsse. In bezug auf die Wirkung der Aufführung aber seien die tatsächlichen Voraussetzungen für das Verbot und die entsprechende Entscheidung des Bezirksausschusses nicht gegeben. „Zunächst ist zu beachten, daß nicht schon eine entfernte Möglichkeit, es könnte die Aufführung des Stückes zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führen, die Versagung der Erlaubnis zur Aufführung zu rechtfertigen vermag. Hierzu ist vielmehr eine drohende, nahe Gefahr erforderlich." Das Publikum des Theaters, für das die Aufführung genehmigt werden solle, bestehe vorwiegend nur aus Mitgliedern der Gesellschaftskreise, die nicht zu Gewalttätigkeiten oder anderweitiger Störung der öffentlichen Ordnung geneigt seien. Mit diesem Urteil ausgerüstet, führte die Theaterdirektion das Stück neu auf. Sofort entbrannte der Kampf für und wider das Stück aufs neue in der Tagespresse. Dieser Kampf erreichte einen Höhepunkt, als rechtsgerichtete Blätter in großer Aufmachung verkündeten, Kaiser Wilhelm II. habe auf Antrag des Hausministeriums wegen der demoralisierenden Tendenz des Stückes seine Loge im Deutschen Theater gekündigt und alle, „denen die Erhaltung des Staates wirklich am Herzen liegt", aufgefordert, dem Stück fernzubleiben, damit die jetzige Direktion verschwinde und einem Nachfolger Platz mache, der besser wisse, welche Anforderungen Kaiser und Volk an das Deutsche Theater stellten. Die gleiche Presse verbreitete am nächsten Tage die Meldung, den Offizieren der Armee und der Marine sei der Besuch dieses Theaters auch in Zivil verboten worden. Zunächst wurden diese Nachrichten dementiert, aber dann war doch zu erfahren, daß der Kaiser das Stück selbst gelesen habe und darüber wie über das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ungehalten gewesen sei, dieses aber nicht öffentlich habe desavouieren wollen. Das geschah dann nachdrücklich genug einige Monate später in der Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 21. 8. 1895, wo der preußische Innenminister unter besonderer Zu120

Stimmung des Führers der Zentrumspartei und einiger anderer Adeliger der Hoffnung Ausdruck gab, daß in nicht zu langer Zeit die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts anders ausfallen würden, und den Polizeibehörden, die hier und dort das Stück verboten, seinen besonderen Dank aussprach. Damit sei, behauptete der Minister, keine Kritik an dem Urteil geübt. Aber schon am 6. 3. 1895 konnte man in der Tagespresse lesen, daß der gleiche Minister den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts angerüffelt und bei einem Hoffeste der Kaiser ihm so wenig freundliche Dinge gesagt habe, daß der Beamte seinen Abschied nahm. Das war nur der höchst unrühmliche Abschluß einer langen Kette von Ereignissen. Denn alsbald nachdem das Oberverwaltungsgericht das Stück für Berlin freigegeben hatte, war in Breslau, wo man am 3. 3. 1893 vergeblich um die Genehmigung der Aufführung eingekommen war, erneut um Genehmigung nachgesucht worden. Das Gesuch vom 9. 10. 1893 wurde vom Polizeipräsidenten am 13. 10. 1893 mit der Begründung abgelehnt, daß in Breslau, also in nächster Nähe des Schauplatzes des in dem Stück geschilderten Ereignisses, ganz andere Verhältnisse obwalteten als zu Berlin. Das Schauspiel müsse als ein seiner ganzen Tendenz und seinem Gesamteindruck nach ungewöhnlich gehässiges und aufreizendes Machwerk bezeichnet werden, dem es an jedem versöhnenden Moment fehle. Es trete dies um so heller hervor, als die Sprache durchwegs eine gewöhnliche, zum Teil geradezu widerwärtige sei, und es an wirklich dichterischen Schönheiten, welche geeignet wären, den Charakter und Gesamteindruck zu mildern und abzuschwächen, in diesem derb naturalistischen Schauspiele vollständig mangle. Die Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde vom Regierungspräsidenten zu Breslau am 2. 11. 1893 abgewiesen. Eine zweite Beschwerde hatte dasselbe Schicksal. Der Regierungspräsident erklärte am 29. 12. 1893, daß auch nach seiner Ansicht „Die Weber" nicht nur ein derb naturalistisches, sondern auch höchst aufreizendes Bühnenwerk seien, dessen öffentliche Aufführung geeignet sei, den Klassenhaß zu erregen und die öffentliche Ordnung zu gefährden. Gegen diese Entscheidung wurde Klage zum Oberverwaltungsgericht eingebracht. Dieses gab am 2. 7. 1894 „Die Weber" auch für Breslau frei. Dennoch erfolgten an zahlreichen Orten innerhalb und außerhalb Preußens weiterhin Verbote des Stückes. So wurde es zwar nicht in München, wohl aber in Nürnberg und in Stuttgart verboten, hier, weil „die rohe Gewalttat gegen die Besit121

zenden sowie gegen die Staatsorgane darin verherrlicht würden". In Preußen freilich waren die Urteile des Oberverwaltungsgerichts das Signal dafür, weitere Aufführungen zu veranstalten. Jetzt setzte auch das Staatstheater in Hannover das Stück auf seinen Spielplan. Die Aufführung wurde jedoch am 29. 8. 1895 kurzweg „aus ordnungspolizeilichen Gründen" verboten. Der Oberpräsident bestätigte das Verbot am 30. 10. 1895 mit der Begründung, daß das Schauspiel „zu einer Stärkung der schon jetzt vielfach hier vorhandenen latenten Neigung zum gewalttätigen Auflehnen gegen die öffentliche Ordnung und die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, unter Umständen auch zu gewaltsamer Betätigung dieser Neigung reizen könnte. Eine erneute Beschwerde wurde vom Oberpräsidenten am 2. 1. 1896 wiederum wegen des in hohem Grade aufreizenden Inhalts des Stückes abgelehnt. Daraufhin rief man das Oberverwaltungsgericht an, das hierüber auf den 15. 10. 1896 Verhandlung anberaumte. In dieser ließ der Oberpräsident unter anderem vortragen, das Stück zwinge die Besitzlosen zu der Folgerung, daß nur Gewalt den Arbeitern helfen könne. Hauptmann hetze sogar gegen das Staatsoberhaupt. Die Sozialdemokratie sei in letzter Zeit außerordentlich gewachsen. Die Aufführung der „Weber" könne daher sehr leicht den Ausbruch einer revolutionären Bewegung begünstigen. Diese Ausführungen verfingen jedoch nicht. Das preußische Oberverwaltungsgericht gab das Stück auch für Hannover frei und führte in dem Urteil u. a. aus, es habe bisher bei der Aufführung der Weber nirgends Unzuträglichkeiten gegeben. Gegen die Aufführung des Stückes unter gewöhnlichen Verhältnissen sei daher nichts einzuwenden71. Mit dieser Entscheidung waren wenigstens in Preußen endgültig klare Verhältnisse geschaffen. Jedermann mußte wissen und wußte auch, daß „Die Weber" immer wieder freigegeben würden. Dieses Wissen drang jedoch über Preußens Grenzen nicht recht weit hinaus. In Wien jedenfalls war man sich schon 1894 völlig im klaren darüber, daß die Aufführung des Stückes nicht bewilligt werden könne. Daher teilte am 6. 4. 1894 das k. k. nö. Statthaltereipräsidium der k. k. Polizeidirektion Wien mit, daß das Bühnenwerk nicht zur Aufführung zugelassen werde. Das k. k. nö. Statthaltereipräsidium merkte dazu in seinen Akten u. a. vor: „ D i e Weber waren im Deutschen Reiche verboten, wurden aber v o m Verwaltungsgerichtshof freigegeben. Auch in Paris ist dieses Stück aufgeführt worden, aber nur in einer geschlossenen Gesellschaft. D a s in Rede stehende Büh-

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nenwerk ist zweifellos eines der hervorragendsten Erzeugnisse der modernen dramatischen Literatur und wenn es sich um die Aufführung vor einem unbefangenen, lediglich die Befriedigung seines künstlerischen Interesses suchenden Publikums handeln würde, wäre die Frage der Zulässigkeit des Stückes wohl diskutabel. Der Vorwurf des Stückes ist aber derart, daß bei der gegenwärtig bei einem Teile der Bevölkerung herrschenden sozialdemokratischen Stimmung und bei der durch Agitatoren stetig genährten Aufregung mit Sicherheit zu erwarten steht, daß sich die letzteren der Angelegenheit bemächtigen und das Stück zu Demonstrationen mißbrauchen werden. Die Wirkung des Stückes ist insofern eine gefährliche, als der Dichter gerade die ärmste Arbeiter-Kategorie, die schlesischen Weber, zum Vorwurf für die Handlung gewählt hat, deren Lage tatsächlich namentlich in den 40er Jahren eine sehr bedauernswerte war, durch die Darstellung derselben aber seines lokalen Charakters entkleidet und dadurch eine tendenziöse Spitze erhält, das die geschilderten Verhältnisse als typisch für die Lage des Arbeiterstandes im allgemeinen gedeutet werden können. Die Aufführung des in Rede stehenden Stückes ist sonach vom Standpunkt der öffentlichen Ordnung dermalen nicht zulässig" 72 . Von dieser A u f f a s s u n g ging das k. k. nö. Statthaltereipräsidium auch nicht ab, als 3 J a h r e später erneut versucht wurde, das Stück in Wien zur A u f f ü h r u n g zu bringen. Es verfügte daher am 31. 5. 1897, daß die Darstellung des Bühnenwerks nicht bewilligt werde und merkte dazu in seinen Akten v o r : „Mit Rücksicht darauf, daß in den letzten Jahren die Klassengegensätze sich noch weiter verschärft und vertieft haben und, wie leider nicht geleugnet werden kann, jetzt mehr denn je das Schlagwort und die Phrase das allgemeine Urteil in den breiten Schichten des Volkes fast ausschließlich beherrschen und — jetzt zweifellos in noch höherem Grade als 1894 — die Möglichkeit und Fähigkeit einer unbefangenen Aufnahme dieses Stückes fehlt, vielmehr zur Zeit noch mehr denn je bedenkliche Consequenzen zu besorgen sind, die sub Z 215 angedeutet sind, erübrigt sich wohl kein anderer Ausweg als das Verbot auch dermalen aufrecht zu erhalten" 73 . Die Direktion des Theaters, in dem „ D i e Weber" a u f g e f ü h r t werden sollen, wollte sich bei dem Verbot vom 31. 5. 1897 nicht beruhigen und legte hiergegen Rekurs ein. Die k. k. Polizeidirektion Wien legte ihn am 2. 9. 1897 dem k. k. nö. Statthaltereipräsidium mit einem Bericht vor, in dem u. a. ausgeführt ist: „Die Handlung des in Rede stehenden Bühnenwerkes ist eine derartige, daß gewisse Unzukömmlichkeiten im Falle der Aufführung nicht unwahrscheinlich sind. Die Classengegensätze werden in demselben mit einer Schärfe und einer dramatischen Kraft dargelegt, welche die Dichtung zu einer in ihrer Art einzig darstehenden machen. Es muß aber erwogen werden, ob es im öffentlichen Interesse liegt, die Aufführung eines Zeitbildes zu gestatten, 123

welches, wenn gelungen vorgeführt, gerade vermöge seines dramatischen Gehaltes, geeignet ist, die gesellschaftlichen Gegensätze zu verschärfen. Und diese Wirkung kann auch erzielt werden, selbst wenn die einzelnen Vorstellungen als solche nicht unmittelbar Anlaß zu einer behördlichen Intervention bieten." D a s k. k. nö. Statthaltereipräsidium wies demgemäß den Rekurs am 30. 9. 1897 zurück 7 3 . D a m i t war die Angelegenheit in Wien erledigt 7 4 . Nicht anders verfuhr man im Königreich Württemberg. H i e r teilte die kgl. Stadtdirektion Stuttgart einem um die Genehmigung zur A u f f ü h r u n g des Stückes ansuchenden Theaterdirektor mit, „daß sie wegen des tendenziösen Inhalts, welcher darauf gerichtet ist, in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise die Unzufriedenheit der arbeitenden Klassen zu steigern und die rohe Gewalttat gegen die Besitzenden und die Staatsorgane zu verherrlichen, die Aufführung der «Weber» nicht gestatten würde." Die hiergegen erhobene Beschwerde wurde durch die kgl. Kreisregierung des Neckarkreises vom 17. 3. 1896 unter anderem mit folgender Begründung zurückgewiesen: „Nicht auf die Tendenz des Stückes, sondern auf die Wirkung auf die Zuschauer kommt es an. Diese Wirkung werde von der Sozialdemokratie selbst als eine die Massen faszinierende bezeichnet. Eben weil die sozialdemokratische Agitation sich des Stückes bemächtigt habe, liege die Gefahr nahe, daß die Aufführung die Massen zuschauender sozialdemokratischer Arbeiter zu Störungen der öffentlichen Ordnung verbunden mit demonstrativer Verhöhnung der Polizeiorgane hinreißen wird." Die gegen den Bescheid eingelegte Beschwerde zum kgl. Innenministerium hatte keinen E r f o l g . Dieses erklärte a m 28. 11. 1896, daß es die Beschwerde „als unbegründet abgewiesen haben will", und zwar unter anderem aus folgenden Gründen: [Die Polizeibehörden haben die Befugnis] „Theateraufführungen zu überwachen und dieselben, wenn von ihnen eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu besorgen ist, zu verbieten. Eine solche Gefährdung liegt vor, [wenn] die Aufführung geeignet ist, spätere Störungen der öffentlichen Ordnung dadurch vorzubereiten und zu befördern, wenn sie in den Zuschauern die Neigung zu gewalttätiger Auflehnung gegen die Gesetze und die auf den Gesetzen beruhende staatliche und gesellschaftliche Ordnung erweckt und bestärkt. Das letztere trifft [hier] zu. [Wird ausgeführt.] Welche Tendenz der Autor des Stückes mit seinem Schauspiel verfolgt und von welcher Absicht die Beschwerdeführer bei der angestrebten Aufführung ausgehen, kann als unerheblich dahingestellt bleiben. Denn nicht auf die Ten124

denz des Stückes kommt es an, sondern auf die Wirkung, welche seine Aufführung unter den zur Zeit tatsächlich bestehenden Verhältnissen voraussichtlich haben würde. Diese Wirkung könnte aber angesichts der Tatsache, daß gerade in gegenwärtiger Zeit auch in Stuttgart bei einem großen Teile der Bevölkerung eine durch planmäßige Agitation geschürte Unzufriedenheit mit den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen und eine feindselige Stimmung gegen die Arbeitgeber, gegen die besitzenden Klassen überhaupt, sowie gegen die ganze staatliche und gesellschaftliche Ordnung Platz gegriffen hat, für viele Zuschauer nur in der Verstärkung ihrer Unzufriedenheit und ihres Hasses und in der Anreizung bestehen, dem in dem Stück gegebenen Beispiel zu folgen und die gewaltsame und blutige U m w ä l z u n g der bestehenden Ordnung zu versuchen. Gegenüber der zum Klassenkampf aufreizenden Wirkung des Stückes würde bei dem einer solchen Aufreizung zugänglichen Teil des Volkes die kühle Erwägung, daß von den in dem Stück vorgeführten Verhältnissen die bestehenden Zustände doch sehr weit entfernt sind, kaum ein erhebliches Gegengewicht bilden" 7 5 . I m K ö n i g r e i c h Sachsen herrschte d e n „ W e b e r n " g e g e n ü b e r

zunächst

k e i n e a n d e r e E i n s t e l l u n g . D a h e r schlugen Versuche, d a s D r a m a

1895

in L e i p z i g z u r A u f f ü h r u n g z u b r i n g e n , i m O k t o b e r dieses J a h r e s f e h l . A u c h ein neuerlicher gleichartiger V e r s u c h i m J a h r e 1 9 0 1 scheiterte. D i e P o l i z e i b e r i e f sich a u f § 12 des L e i p z i g e r P o l i z e i r e g u l a t i v s b e t r e f f e n d A u f s i c h t s f ü h r u n g ü b e r theatralische V o r s t e l l u n g e n v o m 10. 3. 1 8 9 4 , w o n a c h n u r a u f g e f ü h r t w e r d e n d u r f t e , „ w a s in sittlicher o d e r religiöser B e z i e h u n g k e i n e n A n s t o ß e r r e g t e " , u n d e r k l ä r t e : „ D i e Worte «in sittlicher Beziehung» sind ohne Einschränkung gebraucht und deshalb im weiteren Sinne ihrer Bedeutung aufzufassen, nicht etwa nur auf die Unsittlichkeit in geschlechtlicher Beziehung zu beschränken. Unter diesen Worten muß vielmehr alles das verstanden werden, was gegen die guten Sitten im allgemeinen verstößt. Wenn aber in den Webern die Arbeitnehmer gegen ihre Arbeitgeber zu Gewalttätigkeiten aufgereizt werden, der K l a s senhaß geschürt wird und unerwiesene Beschuldigungen schwerer Pflichtverletzung gegen staatliche Behörden erhoben werden, so ist hierin ein Verstoß gegen die guten Sitten zu erblicken, welcher bei den ordnungsliebenden, für Gesetz und Recht einstehenden Staatsbürgern Anstoß erregt." D i e P o l i z e i sollte j e d o c h durch d a s h i e r g e g e n a n g e r u f e n e sächsische Oberverwaltungsgericht

eines a n d e r e n

belehrt

werden. Dieses

hob

m i t U r t e i l v o m 6. 11. 1 9 0 1 d a s V e r b o t u. a. m i t f o l g e n d e r B e g r ü n dung auf: „ D e r Ansicht der Leipziger Verwaltungsbehörden, daß der Begriff «sittlich anstößig» gleichbedeutend sei mit allem, was gegen die gute Sitte im allgemeinen verstößt, ist nicht beizutreten. Wäre diese Ansicht richtig, so würden durch ein Verbot auch Angelegenheiten rein privater N a t u r oder Verstöße 125

gegen die in gewissen Kreisen bestehenden Anstandsregeln, also Dinge getroffen werden können, bei denen ein öffentliches Interesse schlechterdings nicht infrage kommt. Ein Verbot wegen Verletzung der Sittlichkeit ist nur dann gerechtfertigt, wenn sich behaupten läßt, die A u f f ü h r u n g gefährde die öffentliche Sittlichkeit. Eine Gefährdung der erwähnten A r t kann aber, abgesehen von rein geschlechtlichen hier nicht infrage kommenden Vorgängen, nur in solchen Angriffen erblickt werden, die sich gegen die sittlichen Grundlagen der Familie, der auf dieser beruhenden Gesellschaftsordnung und des Staates richten. Bei der Beurteilung des einzelnen Falles liegt der Schwerpunkt in der von der A u f f ü h r u n g zu erwartenden Wirkung; der in höherem oder geringerem G r a d e Anstoß erregende Inhalt des Stückes und die Tendenzen des Dichters kommen nur insoweit in Betracht, als von ihnen auf die zu erwartende Wirkung geschlossen werden kann. N u r dann, wenn sich sagen läßt, der Zuschauer werde den Verfasser dahin verstehen, als strebe dieser mit den zur Darstellung gebrachten Vorgängen die Beseitigung oder H e r a b würdigung der staatlichen oder gesellschaftlichen Ordnung oder des Familienlebens an, und wenn ferner angenommen werden kann, der Zuschauer werde durch die A u f f ü h r u n g in seinen sittlichen Anschauungen irre gemacht und zu Handlungen oder Unterlassungen verleitet werden, die eine Gefahr für die öffentliche Sittlichkeit bedeuten, ist ein Verbot am Platze. O b H a u p t mann mit seinem D r a m a , das seinem S t o f f e und seiner äußeren F o r m nach von dem Althergebrachten wesentlich abweicht, ein Kunstwerk geschaffen hat, braucht nicht erörtert zu werden. D a s Oberverwaltungsgericht ist nicht dazu berufen, sich in diesen Streit der öffentlichen Meinung einzumischen. Ebensowenig ist zu untersuchen, ob und inwieweit sich der Verfasser bei seinen Schilderungen an die Wahrheit gehalten hat. Denn selbst wenn letzteres der Fall wäre, würde es den Erlaß eines Verbots unter Umständen nicht hindern, d a es ein Recht, historisch wahre Vorgänge zur öffentlichen Darstellung zu bringen, vor dem Gesetze nicht gibt. Indes wird man dem Verfasser das Zugeständnis, daß sein D r a m a im allgemeinen auf geschichtlich wahren Begebenheiten fußt, nicht versagen können. Dieser rechtlich an sich unwesentliche U m s t a n d ist insofern nicht ohne Bedeutung, als er einen Schluß auf die Absichten zuläßt, die den Dichter bei der Abfassung seines Werkes geleitet haben. H a u p t m a n n hat gelegentlich geäußert, daß es ihm völlig ferne gelegen habe, eine Parteischrift, geschweige denn ein sozialdemokratisches Tendenzstück schreiben zu wollen; seiner Meinung nach würde hierin eine Herabwürdigung der Kunst liegen. Neben der Absicht, ein Kunstwerk hervorzubringen, habe lediglich die christliche und allgemeine menschliche Empfindung, die man Mitleiden nennt, sein D r a m a schaffen helfen, und dies werde man ihm wohl nicht als Verbrechen an der Kunst anrechnen. Es fragt sich, ob sich Absicht und Ausführung in der hier interessierenden Richtung decken. Bei unbefangener Beurteilung des Stückes wird man diese Frage bejahen [wird ausgeführt]. D a ß der Dichter in seinen Bildern die Grenzen des Schönen vielfach überschritten hat, daß die Sprache und das Verhalten der im Stücke auftretenden gewöhnlichen Leute meist überaus derb und roh ist, läßt sich nicht bestreiten und wird dem Verfasser vom 126

Standpunkt derer aus, die im Theater noch eine Erholungs- und Bildungsstätte erblicken und von ihm Gemeines ferngehalten wissen wollen, nicht ohne einige Berechtigung zum Vorwurf gemacht werden können. Allein andererseits muß man das der modernen naturalistischen Richtung eigene, besonders in den früheren Dramen Hauptmanns und vor allem in den Webern zum Ausdruck gekommene Bestreben nach Naturtreue und Wahrheit berücksichtigen. Die gebotene Form mag ästhetisch verwerflich sein, der Verfasser hat aber zweifellos Anspruch auf Beachtung, wenn er seine Aufgabe ernst nimmt und nicht unlautere Nebenzwecke mit ihr verbindet" 7 1 . D i e s e (überdies

auch sprachliche)

Meisterleistung

sorgfältigen

Ab-

w ä g e n s zwischen gemessener A n e r k e n n u n g des W e r k e s u n d der P e r son G e r h a r t H a u p t m a n n s einerseits u n d d e m w ü r d e v o l l e n

Rückzug

a u f die S t e l l u n g „ d e r e r , die im T h e a t e r noch eine E r h o l u n g s - u n d B i l d u n g s s t ä t t e erblicken und v o n ihm G e m e i n e s f e r n g e h a l t e n wissen w o l l e n " , steht als solche u n d nicht nur w e g e n ihres

Gegenstandes

völlig allein. D i e sozialkritische Seite, die G e r h a r t H a u p t m a n n

in seinen

„We-

b e r n " mit, wie o b e n dargestellt, solchem E r f o l g angeschlagen hatte, rührte auch d a s z w e i J a h r e Dichters Ludwig den

Ausbruch

Fulda

vorher

entstandene Theaterstück

des

„ D a s verlorene P a r a d i e s " a n . E s beschwört

eines Streits

in einer

Fabrik

durch

die in

letzter

S t u n d e a u f d ä m m e r n d e Einsicht der zunächst Beteiligten; aber schon seine A b l e h n u n g einer K r a f t p r o b e , d a s F i a s k o des den K a m p f herausf o r d e r n d e n E l e m e n t s , d a s m i t G e w a l t den wirtschaftlich Schwächeren zur R ä s o n bringen will, schuf diesem so versöhnlichen Stücke G e g n e r . Z w a r nicht in B e r l i n 7 6 , a b e r in mehreren P r o v i n z s t ä d t e n , w o a u f die N e r v e n solcher F a b r i k b e s i t z e r

Rücksicht g e n o m m e n

werden

sollte,

w u r d e es v e r b o t e n . 77

D a s Preußische O b e r v e r w a l t u n g s g e r i c h t freilich h o b m i t U r t e i l v o m 2 9 . 5. 1 9 0 3 7 8 d a s V e r b o t u. a . m i t f o l g e n d e r B e g r ü n d u n g a u f : „Für die Beantwortung der Frage, ob die Vorlesung eines Schauspiels für die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung gefährlich ist, kommt nicht die Absicht des Verfassers, die Wirkung, die er mit seinem Werk hat erzielen wollen, sondern vielmehr die Wirkung in Betracht, die das Werk unter bestimmten Verhältnissen tatsächlich auf die Hörer oder Zuschauer auszuüben geeignet ist. Würde der Inhalt eines Schauspiels von diesen voraussichtlich dahin verstanden worden sein, daß die bestehende staatliche oder gesellschaftliche Ordnung oder die herrschenden sittlichen Anschauungen verwerflich seien und daher beseitigt werden müßten, und würde nach Lage der Umstände angenommen werden können, daß die Zuschauer oder Zuhörer durch die Aufführung oder Vorlesung des Schauspiels in ihren sitt127

liehen Anschauungen irregemacht und zu Handlungen oder Unterlassungen verleitet werden würden, die eine G e f a h r für die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung darstellen, so würde ein polizeiliches Verbot der A u f führung oder Vorlesung des Schauspiels zulässig und geboten gewesen sein. Eine solche Wirkung des erwähnten Fulda'schen Schauspiels ist aber von seinem Inhalt auch nicht bei Zuhörern zu erwarten, deren Fassungsvermögen für die Bedeutung der im Schauspiel dargebotenen Vorgänge ein beschränktes ist. Unter Paradies versteht der Verfasser die im arbeitslosen Lebensgenuß zur Entstehung gelangte Stimmung. Dieses Paradies geht für die untätigen Lebenskünstler dadurch verloren, daß sie sehr bald Überdruß am untätigen Lebensgenuß empfinden. Als Gegensatz zu dem verlorenen Paradies stellt der Verfasser das Glück hin, das durch die Sorge für andere Menschen, durch die Arbeit f ü r das Wohl vieler Menschen bereitet wird. In diesem Gedanken ist an sich nichts der Sittlichkeit widersprechendes und die öffentliche Ordnung gefährdendes. Aber auch die Ausführung, die dieser Gedanke in der H a n d l u n g des Schauspiels gefunden hat, ist nicht geeignet, die sittlichen Anschauungen von Arbeitern, die sich in gleicher äußerer L a g e wie die im Schauspiel Dargestellten befinden, zu verwirren und sie zu ungesetzlichen Handlungen anzureizen."

Man ginge jedoch fehl in der Annahme, die Auseinandersetzung zwischen „Kunst und Recht" hätte sich in dieser Zeit nur in den Bereichen des behauptet Gotteslästerlichen oder des Politischen, insbesondere des angeblich Sozialdemokratischen, abgespielt. Von den nun zu behandelnden 44 Fällen („Wedekind" und die Kriegszeit ausgenommen) gehören nur 12 eindeutig diesen Bereichen an. Der weitaus größere Teil (29) vollzog sich im Bereich der Sittlichkeit, deren Verfall man, wie die Sache „ H a n n a h J a g e r t " zeigt (oben Seite 117), auch der Sozialdemokratie anlastete. D a ß die meisten Schöpfer solcher Werke ebensowenig wie Ibsen und Gerhart H a u p t mann Sozialdemokraten waren oder ihrer Auffassung auch nur nahe standen, tat dem auch dann keinen Abtrag, wenn sich die beanstandeten Werke nicht bloß als unsittlich, sondern auch als gotteslästerlich oder staatsgefährdend brandmarken ließen. Damit aber ergibt sich ein überaus buntes Bild von Fällen, aus denen nur „der Fall Wedekind" herausragt und für die der Beginn und Verlauf des 1. Weltkrieges einen spürbaren Einschnitt bedeutet. Der „Fall Wedekind", zumal er über das Ende des 1. Weltkrieges hinausreicht, wird im nächsten Kapitel behandelt; die Fälle des 1. Weltkrieges sind daher an den Schluß dieses Kapitels gestellt. Den A n f a n g dieses bunten Bildes könnte kein Künstler besser machen, als eine der buntschillerndsten Persönlichkeiten dieser Zeit, 128

der österreichische Dichter Hermann überhaupt

Gegenstand

behördlicher

Bahr.

D a ß eines seiner Werke

Maßnahmen

werden

konnte,

muß den, der, wie der Verfasser, ihn persönlich kannte und Tag für Tag

seines Greisenlebens

recht überraschen 53 .

Münchener

Kirchen

Aber schon seine 1 8 9 0

besuchen

erschienene

sah,

doch

Novellen-

sammlung „Fin de Siecle", die sogleich eine zweite Auflage erlebte, wurde wegen der Novelle „ A r a n k a " von der Berliner Polizei beschlagnahmt 79 und Bahr am 16. 7. 1 8 9 2 zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Urteil ist nicht erhalten. Bahr scheint sich dabei nicht beruhigt, sondern das Reichsgericht angerufen zu haben. Dieses führte in seiner Entscheidung vom 13. 1. 18 9 3 8 0 u. a. aus: „Der anstößige Charakter des Einzelnen kann durch die Zusammengehörigkeit zu dem Ganzen gehoben werden und es ist auch denkbar, daß solche Erzeugnisse, welche für sich allein betrachtet abgeschlossen und selbständig sein würden, in einem Buche dergestalt zusammengestellt und miteinander verbunden werden, daß lediglich die Wirkung des Ganzen in Betracht kommt und von einer besonderen Tendenz, welche dem einzelnen Erzeugnisse beiwohnen soll, nicht mehr die Rede sein kann. Andererseits vermag aber auch der Verfasser ein einzelnes Werk so zu gestalten, daß dessen Selbständigkeit und besondere Tendenz durch andere von ihm in demselben Buche veröffentlichte Geistesprodukte unmöglich beeinflußt werden kann. Ob das einzelne Erzeugnis so beschaffen ist, unterliegt der tatsächlichen Beurteilung. Der Vorderrichter bejaht die Frage, in dem er die einzelnen für unzüchtig erachteten Novellen einer Prüfung unterzieht und feststellt, daß in denselben die geschlechtlichen Verhältnisse zwischen Mann und Weib sowie Absonderlichkeiten und Verirrungen in der Befriedigung des Geschlechtstriebs in einer das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gröblich verletzenden cynischen Art und Weise und einer auf Effekt beredinenden Sprache geschildert werden. Ferner wird ausgeführt, der Inhalt der einzelnen Novellen lasse erkennen, daß in ihnen der geschlechtliche Stoff zum Selbstzweck erhoben und beabsichtigt sei, auf den Leser einen geschlechtlichen Reiz auszuüben. Zugleich erhelle aus dem Inhalte das zusammenhanglose Bestehen der einzelnen Novellen, so daß es zur Beurteilung ihres Charakters eines Eingehens auf die übrigen Abschnitte des Buches nicht bedurft habe. Hierdurch wird bedenkenfrei dargelegt, daß 6 in dem Urteile bezeichnete, in dem Buch Fin de siecle enthaltenen und von dem Angeklagten verfaßten Novellen eine selbständige rechtliche Beurteilung gestatten und als unzüchtige Schriften im Sinne des § 1 8 4 StGB anzusehen sind." Noch 1 8 9 2 wurde Bahr auch wegen seines Büchleins „Russische Reise" in Dresden in ein Strafverfahren verwickelt, dem er nur entging, weil er damals in seiner österreichischen Heimat weilte. Im objektiven Verfahren erklärte am 12. 12. 1 8 9 2 die Strafkammer des Landgerichts 9 Leiss, Kunst im Konflikt

129

Dresden auf teilweise Unbrauchbarmachung des Büchleins. D i e Schilderung des russischen Bordells sei unzüchtig. A u d i an mehreren anderen Stellen habe B a h r „eine unkeusche Sinnesrichtung" betätigt, aber hier sei das Unsittliche nur verhüllt angedeutet und die F o r m der Darstellung „nicht so unmittelbar auf die Erregung geschlechtlicher Lüsternheit gerichtet". Seien diese Stellen auch nicht objektiv unzüchtig, so hätten sie doch insofern Bedeutung, als sie in Verbindung mit der Bordellszene der ganzen Schrift den C h a r a k t e r der Unzüchtigkeit aufprägten. „Man hat zwar keineswegs verkannt, daß der Verfasser an vielen Stellen seines Buches, so bei der Wiedergabe der Stimmungen, die die Gemälde der Eremitage, die russische Landschaft und die russischen Menschen, die Architektur und das Straßenleben Petersburg in ihm erregt haben, sich als Schriftsteller von hervorragender Begabung, insbesondere als Virtuose in der Behandlung der Sprache betätigt hat, und daß seine mannigfachen Reflexionen über Kunst und Künstler eigenartig und ungewöhnlich interessant sind; aber die Meinung, daß deshalb das Buch als Ganzes einen künstlerischen Gesamtcharakter trage, hat man nicht zu teilen vermocht!" „«Die Russische Reise» hat überhaupt keinen einheitlichen Charakter, keine künstlerische Tendenz. Der Verfasser spricht es selbst aus, daß ihm bei der Abfassung darum gar nicht zu tun gewesen ist. Sein «Vorsatz» war, wie er an verschiedenen Stellen sagt, nach neuen Sensationen zu botanisieren, sie mit verschärften Sinnen zu fangen, mit geübten Nerven zu genießen und mit dem nächsten Schlagwort, das ihm zuläuft, zu merken. Er wollte sich bei diesem Buch nicht mehr, wie bei früher von ihm verfaßten, den Genuß seiner Sensation mutwillig dadurch verderben, daß er durch mühsames Suchen nach seinem sprachlichen Äquivalent sie andern zu suggerieren suchte. Er wollte die Sensationen zum Vorrat sammeln und mit dem «ersten Wort der gemeinsamen Sprache merken, das ihm begegnet»". Einigermaßen werde das G a n z e „zusammengehalten" durch die fortlaufende Darstellung des U m g a n g s mit dem „kleinen Fräulein", woraus sich in seinem Innern ein Widerstreit zwischen der in ihm aufkeimenden Liebe zu dem einfachen und reinen Mädchen und seiner gewohnheitsmäßigen Neigung, sich zügellos jedem Genuß hinzugeben, entwickele, in welchem letztere — nicht gerade zu Ehren der sittlichen Persönlichkeit des Verfassers — schließlich die Oberhand behalte. Die anstößigen Stellen seien durch keine künstlerische oder wissenschaftliche Rücksicht bedingt, sie hätten keinen inneren Zusammenhang mit dem sonstigen Inhalt und seien durchaus entbehrlich; der Verfasser habe sie nur eingefügt, um dem Buch eine „pikante W ü r z e " zu geben. Durch diesen sexuellen Beigeschmack werde das Buch eine unzüchtige 130

Schrift81. Das Buch untergrabe also bestimmte Werte der bürgerlichen Ordnung, nämlich die von ihr so verstandene Sittlichkeit. Das gleiche wurde von des längst vergessenen, aber einstmals hochberühmten Dichters Hermann Sudermann Theaterstück „Sodoms Ende" behauptet. Als es 1890 in Berlin aufgeführt werden sollte, ergaben sich solche Schwierigkeiten, daß schließlich 3 Minister, ja der Kaiser selbst sich um die Angelegenheit kümmerten. Die Schwierigkeiten gingen wie es scheint, von einem gewissen Teil des Publikums aus, dem dieser indiskrete Blick hinter die sittlichen Kulissen peinlich war. In Braunschweig war „Sodoms Ende" schon mehrere Male gespielt worden, als plötzlich (20. 7. 1892) ein Polizeiverbot die Wiederholungen abschnitt. Das gleiche ereignete sich in Kassel. In Halle wollte der christlich-theologische Studentenverein „Sodoms Ende" am 2. Dezember 1891 zu Fall bringen, das übrige Publikum aber wahrte sein Hausrecht und ließ die Lärmmacher hinausschaffen. In Bielefeld machte die Presse gegen Sudermann mobil. Die von ihr und der Geistlichkeit einberufene Protestversammlung wurde von Sozialdemokraten (!) gesprengt. In Leipzig, wo das Stück mit großem Erfolg gespielt wurde, „machte die altväterische Kritik ungeheueren Lärm". In München kam es überhaupt nicht so weit. Die Aufführung wurde (durch nicht erhaltene) Verfügung der kgl. Polizeidirektion einfach nicht genehmigt82. Das folgende Jahr 1893 brachte nicht nur das Grundsatzurteil des Reichsgerichts in den sogenannten Kunstkartenverfahren, über die an anderer Stelle zu handeln ist, sondern auch den Beginn der Anfeindungen des Dichters Richard Dehmel durch Polizei und Gericht. Die Anfeindungen richteten sich zunächst gegen sein Buch „Aber die Liebe". Am 10. 12. 1893 erließ die kgl. Polizeidirektion München einen Aufruf an „Sämtliche Herren Polizeikommissare, welche beauftragt sind, die Beschlagnahme des da hier erschienenen Buches «Aber die Liebe», ein Ehemanns- und Menschenbuch von Richard Dehmel, mit Deckelzeichnung von Hans Thoma und Randbildern von Fidus, München, Druck und Verlag von Dr. E. Albert & Sohn, Seperatkonto 1893, auf Grund des Beschlusses des Königlichen Untersuchungsrichters am Kgl. Landgericht München I vom 9. 12. wegen auf Seite 186, 187, 206, 221, 231, 235, 216, 218 abgedruckten Stellen und Gedichte: Die beiden Schwestern, Venus primitiva, Venus perversa, Gebet der Sättigung, Locke der Lästerer, dann der 9

131

tote Ton, Venus Madonna, Venus domestica zufolge §§ 184 und 166 R S t G B überall, wo sich dasselbe zum Zwecke der Verbreitung vorfindet unter Beachtung der Bestimmungen der §§ 94 ff. der S t P O in Vollzug zu setzen" 8 8 . Durch Beschluß des Landgerichts München I vom 8. 5. 1894, der sich allerdings nicht erhalten hat 84 , wurde Dehmel jedoch außer Verfolgung gesetzt. Zwei Jahre später erschien sein Gedichtband „Weib und Welt, Gedichte mit einem Sinnbild". Sofort empfand der später als Dichter zu recht mäßigem Ruhm gelangte Börries Freiherr von Münchhausen einige der Gedichte dieses Buches als unzüchtig und erstattete Anzeige gegen Dehmel. Wegen zweier Gedichte wurde gegen ihn Anklage erhoben. In ihrer Sitzung vom 30. August 1897 gab die Erste Ferienstrafkammer des Landgerichts I Berlin das erste „Vom heiligen Geist" frei, weil darin nicht unbedingt eine „ f ü r Jedermann ohne Weiteres erkennbare Anpreisung des Ehebruchs" enthalten sei. „Wenn man, allerdings nicht in Übereinstimmung mit den Absichten des Verfassers, aber doch ohne Widerspruch des Wortsinnes, die Zeilen U n d bis nicht jedes Weib gewinnt den rechten Vater für ihr K i n d soll jede Irrende die Treue dem falschen brechen ohne Reue, dahin auffaßt, daß der höchste G r a d der Vollkommenheit im Zusammenleben von Mann und Weib, abgesehen von dem Bestehen eines Ehebundes, dann vorliegen würde, wenn beide völlig übereinstimmend — jedes Weib den rechten, d. h. den wirklich passenden und geeigneten Vater für ihr noch zu erwartendes K i n d erwählt hat —, und bis dahin jedes Weib von ihrer Wahl zurücktreten kann, so liegt darin noch nicht notwendig die A u f f o r d e rung, die eheliche Treue zu verletzen. Es kann angenommen werden, daß in den obigen Versen an die Ehe und an eheliche Treue gar nicht gedacht, vielmehr für den «endlichen T a g » die der Ewigkeit nahe Zeit, ein loses Zusammenleben von Weib und Mann gemeint ist."

D a demnach eine andere, nicht unsittliche Auffassung dieser Verse ohne Schwierigkeit möglich sei, könne ihr Inhalt nicht als schlechthin unzüchtig angesehen werden, „zumal die Verworrenheit dieser ganzen Dichtung nicht ohne Weiteres auf die Absicht des Verfassers, die Sinnlichkeit zu erregen, schließen läßt". Daher liege hierin auch keine Gotteslästerung. Eine solche könne auch in den letzten Zeilen des Gedichts nicht gefunden werden, aber „nur deshalb, weil das «das» der ersten Zeile auf die vier vorhergegangenen Zeilen allein bezogen werden kann und nicht notwendig mit dem drittletzten 132

Vers « U n d bis nicht» usw. in inneren Zusammenhang zu bringen ist" 8 5 . Anders aber das Urteil über „Venus C o n s o l a t r i x " . D a s Gedicht lautet: „ D a kam Stern Lucifer; und meine Nacht erblaßte scheu vor seiner milden Pracht. Er schien auf meine dunkle Zimmerwand, und wie aus unerschöpflicher Phiole durchflössen Silberadern die Console, die schwarz, seit lange leer, im Winkel stand. Auf einmal fing die Säule an zu leben, und eine Frau erhob sich aus dem Glanz; die trug im schwarzen Haupthaar einen Kranz von hellen Rosen zwischen grünen Reben. Ihr Morgenkleid von weißem Sammet glänzte so sanft wie meine Heimatflur im Schnee, die Rüsche aber, die den Hals begrenzte, so blutrot wie die Blüte Aloe; und ihre Augen träumten braun ins Tiefe, als ob da Sehnsucht nach dem Südmeer schliefe. Sie breitete mir beide Arme zu, ich sah erstaunt an ihren Handgelenken, die starken Pulse springen und sich senken, da nickte sie und sagt zu mir: du — du bist mühselig und beladen, komm: wer viel geliebt, dem wird auch viel verziehen. Du brauchst das große Leben nicht zu fliehen, durch das dein kleines lebt. O komm, sei fromm! Und schweigend lüfte sie die rote Rüsche und nestelte an ihren seidnen Litzen und öffnete das Kleid von weißem Plüsche und zeigte mir mit ihren Fingerspitzen, die zart das blanke Licht des Sternes küßte, die braunen Knospen ihrer bleichen Brüste, dann sprach sie weiter: Sieh! dies Fleisch und Blut, das einst den kleinen Heiland selig machte, bevor ich an sein großes Kreuz ihn brachte, Maria, ich, die Nazarenerin — o sieh, es ist des selben Fleisches Blut, für das der große Heiland sich erregte, bevor ich in sein kleines Grab ihn legte, Maria, ich, die Magdalenerin — komm, stehe auf, und sieht auch Meine Wunden, und lerne dich erlösen und gesunden! Und lächelnd ließ sie alle Kleider fallen und dehnte sich in ihrer nackten K r a f t ; wie heilige Runen standen auf der prallen 133

Bauchhaut die Narben ihrer Muttersdiaft in Linien, die verliefen wundersam bis tief ins schwarze Schleierhaar der Scham, da sprach sie wieder und trat her zu mir: Willst du mir nicht auch in die Augen sehn?! Und meine Blicke badeten in ihr. Und eine Sehnsucht: du mußt untergehn, ließ mich umarmt durch tiefe Meere schweben, mich selig tiefer, immer tiefer streben, ich glaubte auf den Grund der Welt zu sehn — weh schüttelt mich ein nie erlebtes Leben, und ihren Kranz von Rosen und von Reben umklammernd, während wir verheben, stamml' ich: o auf — auf — auferstehen" 65 ! Dieses Gedicht sei, so erkannte das Gericht, unzüchtig und gotteslästerlich. „Sein Inhalt verletzt das Scham- und Sittlichkeitsgefühl dadurch gröblich, daß in ihm die Entblößung einer Frau dargestellt und ihre nackte Erscheinung ohne jede poetische oder sonst künstlerisch veredelnde Darstellungsweise beschrieben wird, und zwar namentlich ihr Unterleib. Aus der ganzen Darstellung ergibt sich zugleich die Absicht des Verfassers, mit ihr auf die Sinnlichkeit zu wirken. Sein Gedicht ist kein Kunstwerk, wie er es selbst bezeichnet, das vermöge seiner Form oder seiner edlen und tiefen Gedanken selbst die Schilderung der wirklichen Nacktheit als nicht unsittlich erscheinen lassen würde, sondern lediglich eine poesielose Zusammenstellung von Reimen, in denen unsittliche, gotteslästernde und verworrene Gedanken enthalten sind und in denen die Entblößung der mit dem weißen Plüschgewande und der roten Rüsche bekleideten Frau und ihre nackte körperliche Erscheinung «bis tief ins schwarze Schleierhaar der Scham» nur deshalb beschrieben ist, um vollständige Vorstellungen in dem Leser wachzurufen." D a s Gedicht verstoße demnach gegen § 184, aber auch gegen § 166 des Strafgesetzbuches. „Mit der Frau, die dem Dichter erschienen ist und sich vor ihm entblößt, ist Maria, die Mutter Christi, und wie der Verfasser angibt, gleichzeitig Maria aus Magdala, die er mit der ersteren zu einer Person verschmolzen hat, gemeint. Der Glaube an Maria, die Mutter Christi, ist eine Lehre der katholischen Kirche und der Marienkultus eine Einrichtung dieser. Danach steht dem Katholiken die Person der Maria, der Mutter Gottes, so hoch, daß eine Darstellung von ihr, wie sie in dem Dehmeischen Gedichte gegeben ist, eine Beschimpfung derselben enthält. Daß diese Maria sidi entblößt in der dargestellten Weise und ihre Geschlechtsteile erkennen läßt, enthält den Ausdruck der Verachtung ihrer heiligen, angebeteten Person. Die unzüchtige Beschreibung derselben soll ihre edle Höhe herabsetzen und ihre Verehrung beeinträchtigen. In dem fraglichen Gedichte ist sonach eine Beschimpfung 134

der Mutter Christi wie ihrer Verehrung, die in der katholischen Kirche als Einrichtung besteht, enthalten. Daß eine solche Beschimpfung beabsichtigt war, ergibt sich eben daraus, wie in dem Gedicht nach den obigen Anführungen eine bewußte und gewollte Unzüchtigkeit enthalten ist. Der Verfasser wollte seine Nichtachtung alles Hohen und Heiligen ausdrücken und sich als darüber erhaben hinstellen" 86 . D i e gegen das Urteil eingelegte Revision w u r d e v o m Reichsgericht (in einem allerdings nicht feststellbaren Erkenntnis) v e r w o r f e n 8 7 . D a m i t teilte das Reichsgericht die A u f f a s s u n g des Erstgerichtes v o n dem Gedicht als eines Ausdruckes der „Nichtachtung alles H o h e n und H e i l i g e n " oder anders ausgedrückt als U n t e r g r a b u n g bestimmter Werte der bürgerlichen O r d n u n g , nämlich des „ H o h e n u n d H e i ligen", der Sittlichkeit u n d der Religion. I m Schnittpunkt der gleichen Werte der bürgerlichen O r d n u n g lagen 2 Bühnenwerke, deren A u f f ü h r u n g d e m g e m ä ß Behörden u n d Gerichte auf

den P l a n r i e f : M a x

Halbes

„Jugend"

und Oskar

Panizzas

„Liebeskonzil".

Max Halbes „ J u g e n d " , eine P f a r r h a u s t r a g ö d i e (in G e g e n s a t z zu den später zu behandelnden P f a r r h a u s k o m ö d i e n v o n E d e l a u und Lautensack), sein „erster und einziger E r f o l g " 8 8 , w u r d e A n f a n g N o v e m b e r 1893 der k. k. Polizeidirektion G r a z zur Genehmigung der A u f f ü h r u n g vorgelegt. D i e k. k. Polizeidirektion G r a z berichtete hierüber unter dem 9. 11. 1893 an das k. k. steiermärkische Statthaltereipräsidium: Die „nebenbezeichnete Tragödie ist ein Kunstproduct der jüngsten realistischen Berliner Schule. Im Hause eines würdigen katholischen Pfarrers wächst seine Nichte, ein uneheliches Kind seiner verstorbenen Schwester, blühend auf. Ein streng asketischer junger Kaplan will das Mädchen dem Kloster zuführen, auf daß sie die Sünde ihrer Mutter abbüße. In ihrer Bedrängnis und sinnlichen Stimmung verliebt sich die Jungfrau in einen zufällig auf einige Tage zu Gast kommenden Studenten und ergiebt sich ihm. Wenn auch nicht zu übersehen ist, daß das Stück mit poetisch-dramatischer K r a f t geschrieben ist, so scheint es doch weder in bezug auf die Moral noch auch in bezug auf die Tendenz geeignet, auf der Bühne einer katholischen Stadt über die Bretter zu gehen. D a das Ganze in einem Pfarrhofe spielt, wo stets von der heiligen Messe, von kirchlichen Dingen und religiösen Bemerkungen die Rede ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß sowohl das religiöse als auch das Anstandsgefühl des Publicums durch die Aufführung empfindlich verletzt würde. Ich erlaube mir hiernach den Antrag zu stellen, es wolle die Aufführung des Stückes, welches in Prag gegeben worden sein soll, für Graz nicht gestattet werden." 135

D a s k. k. steiermärkische Statthaltereipräsidium entschied a m 20. 11. 1893: D a s Bühnenwerk J u g e n d „finde ich zur A u f f ü h r u n g nicht zuzulassen" 8 9 . D a h e r schlug auch der Versuch, das Werk in Wien auf die Bühne zu bringen, fehl. D i e k. k. Polizeidirektion Wien brachte in ihrem Bericht an das k. k. niederösterreichische Statthaltereipräsidium v o m 14. 8. 1894 seine Bedenken gegen die A u f f ü h rung des Stückes zum Ausdruck. D a s k. k. niederösterreichische Statthaltereipräsidium ließ daher a m 18. 8. 1894 das Stück zur A u f führung nicht zu. In einer Vormerkung hierzu v o m gleichen Tage wird u. a. ausgeführt: „Das Stück, dessen Wert ein äußerst mäßiger ist, hinterläßt bei der Leetüre einen direkt unangenehmen, selbst widerlichen Eindruck. Es ist nicht eine Figur im Stücke, für welche man sich erwärmen könnte. Das Thema, an sich ein heikles, ist in einer wenig glücklichen Form verarbeitet worden. Einige Szenen sind tatsächlich kaum bühnenfähig und müßte eigentlich der ganze Schluß fast vollständig gestrichen bzw. umgearbeitet werden. Der ultraliberale katholische Pfarrer und der fanatisch extrem katholische Kaplan dürften kaum auf der Bühne erscheinen können, ohne Recriminationen Anlaß zu bieten, denen keineswegs die Berechtigung abgesprochen werden kann. Audi der eigentlich mehr tierische als menschliche Cretin ist eine Figur, die nur den widerlichen Eindruck, den das Stück hervorruft, noch zu steigern geeignet ist." Im Oktober 1900 f r a g t e die Direktion eines Wiener Theaters auf vertraulichem Wege beim k. k. Innenministerium an, ob eine umgearbeitete Fassung des Stückes zur A u f f ü h r u n g zugelassen werde. D a s zum Bericht aufgeforderte k. k. niederösterreichische Statthaltereipräsidium berichtete am 11. 10. 1900 unter anderem: „Dieses Stück, dessen ästhetischer bzw. literarischer Wert keineswegs so hoch anzuschlagen ist, als dies wiederholt in der Presse geschah, ist, soviel hier bekannt, in Prag in früherer Zeit und neuestens in einigen kleineren deutschen Bühnen Böhmens, ohne daß sich bemerkenswerte Wahrnehmungen ergeben hätten, aufgeführt worden. Auch in Czernowitz wurde das Stück vor einiger Zeit zur Darstellung zugelassen. Es mußte jedoch, wenn ich nicht irre, sofort nach der Premiere die weitere Aufführung des Stückes verboten werden, weil das Stück bei seiner ersten Darstellung zu Demonstrationen ärgerlicher Art Anlaß gegeben hatte. Auch im Deutschen Reiche ist Halbes Jugend wiederholt aufgeführt worden. Beachtenswert sind die Erscheinungen gewesen, mit welchen die Zulassung dieses Stückes auf einer Bühne des Großherzogtums Baden verbunden war. Alsbald nach der Annahme des Stückes hat nämlich die katholische Geistlichkeit des Großherzogtums gegen diese Annahme Stellung genommen. Und der Erzbischof von Freiburg/Br. stellte sich an die Spitze der Bewegung gegen dieses Stück und überreichte einen Pro136

test beim Großherzoglichen Staatsministerium. Nach Abweisung dieses Protestes bemächtigten sich die katholische Presse und die katholischen Vereine des Landes dieser Sache und erst nach einiger Zeit beruhigten sich die Gemüter. Für die Frage der Zulässigkeit dieses Stückes in Wien ist zu berichten, daß der hier vorherrschende Antisemitismus und auch die klerikalen und konservativen Kreise die nunmehrige Gestattung und A u f f ü h r u n g dieses Stückes, welches so o f t verboten war, vielleicht als eine Preisgabe wichtiger katholischer Interessen [im Manuskript gestrichen: j a vielleicht als einen A k t der Schwäche der Regierung] ansehen würden und daß daraus eine ähnliche Bewegung, wie die erwähnte im Großherzogtum Baden entstehen könnte [im Manuskript gestrichen: daß maßgebliche hohe kirchliche Funktionäre energische Recriminationen hätten, die der antisemitischen, der clerikalen und der conservativen Partei nahestehenden Journale sich der Sache bemächtigen und im Deutschen Volkstheater selbst, in welchem in der letzten Saison aus viel geringfügigeren, ja eigentlich objektiv nichtigen Anlässen unliebsame Vorfälle sich ereignet haben, bei der A u f f ü h r u n g des Stückes Lärmscenen und Demonstrationen stattfinden werden, die an Intensität und Vehemenz das bisher gewesene erheblich übertrumpfen könnten] 9 0 . [Es muß] daher die Aufrechterhaltung des Verbots hier wenigstens als das kleinere Übel erscheinen." D e n n o c h w u r d e d i e A u f f ü h r u n g z u g e l a s s e n . A m 2 3 . 1. 1 9 0 1 die E r s t a u f f ü h r u n g „ d e s m i t gelassenen

Stückes

Darbietungen

auf

den obwaltenden

statt.

Das

dem Erlasse Publikum

vom

31.

folgte mit

12.

zu-

Interesse

den

der Bühne und die Premiere errang Umständen

erklärlichen

den

Sensationserfolg"

tete d i e k . k . P o l i z e i d i r e k t i o n W i e n a n d a s k. k.

fand

1900

unter berich-

Staatsministerium

des I n n e r e n u n t e r d e m 2 4 . 1. 1 9 0 1 . I n d e r P r e s s e freilich f a n d die Z u l a s s u n g des S t ü c k e s nicht a l l g e m e i n e Z u s t i m m u n g . S o k o n n t e m a n in

der

katholischen

christliche V o l k

„Reichspost,

unabhängiges

Österreichs und U n g a r n s "

vom

Tagblatt 5.

für

1. 1 9 0 1

das lesen:

„ D i e Wiener Theaterzensur hat nun doch gestattet, Halbes Jugend, dieses H o h n d r a m a auf den Zölibat des Priesterstandes, aufzuführen. Wir ereifern uns darob nicht allzu sehr; denn die Wiener Zensur läßt Stücke viel bedenklicheren Inhalts und gemeinster Tendenz, die jeder öffentlichen Sitte Hohn sprechen, frei die Bühne passieren. Aber ein U m s t a n d muß hier festgenagelt werden: In Deutschland hat eine bischöfliche Behörde gegen die A u f f ü h rung dieses Stückes Protest eingelegt, im katholischen Wien darf man es nun aufführen, unsere Theaterzensur scheut diesen A f f r o n t der Wiener Kirchenbehörde nicht. Die Wiener kirchliche Behörde wird wissen, w a s sie zum Schutz der Priesterehre zu tun hat." S i e t a t jedoch nichts. D a s S t ü c k u n d sein V e r f a s s e r b l i e b e n unbehelligt. J a , d a s k . k. niederösterreichische S t a t t h a l t e r e i p r ä s i d i u m r ü h m t e sich

in

einem

Bericht

an

das

k. k .

Ministerium

des

Inneren 137

„Wenn heute in den Blättern viel darüber geklagt wird, daß die Zensur in Wien engherzig, rückständig usw. sei, so darf wohl dem entgegengehalten werden, daß die Statthalterei in Wien in den letzten Jahren Stücke zugelassen hat, die wie die «Jugend» anderwärts gar nicht oder nur mit sehr weitgehenden Strichen gestattet worden wären" 91 . Mit so großzügiger Zensur konnte Oskar Panizzas im Oktober 1894 erschienenes „Liebeskonzil, eine Himmelstragödie in 5 Akten" 9 2 , das nach langer Vergessenheit 1969 in Paris, dem zeitweiligen Zufluchtsort Panizzas, eine überaus glanzvolle A u f f ü h r u n g erlebte und nun in London eine zum Bedauern der Veranstalter skandalfreie A u f f ü h r u n g erfährt, der dieses Bild entstammt: nie und nirgends

Abb. 9. Fröhlicher Borgia-Papst läßt sich von spärlich bekleideten Schönen verwöhnen

rechnen. Es wurde schon 1895 von der Staatsanwaltschaft München I wegen Störung der Religion beschlagnahmt. Am 21. 3. 1895 wurde gegen Panizza das H a u p t v e r f a h r e n eröffnet. In der am 30. 4. 1895 stattgefundenen H a u p t v e r h a n d l u n g vor dem Schwurgericht beim Landgericht München I wurde er wegen Vergehens wider die Religion zu einem J a h r Gefängnis verurteilt u n d sofort verhaftet 9 3 . Das Urteil nimmt in den Gründen zu der gegen Panizza erhobenen Anklage im einzelnen nicht Stellung 94 . Denn nachdem die Geschworenen die an sie gerichtete Frage, ob Panizza durch die von ihm im F r ü h j a h r 1893 verfaßte Druckschrift öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott gelästert, Ärgernis gegeben und öffentliche Gebräuche und Einrich138

tungen der christlichen Kirche, und z w a r insbesondere der katholischen Kirche, beschimpft habe, bejaht hatten, verblieben nur Ausführungen zur Strafe: „Die Strafe war in Gemäßheit der §§ 166, 16 des RStGB auszumessen und kam als straferschwerend in Betracht, daß der Inhalt des betreffenden Preßproduktes geeignet ist, die religiösen und sittlichen Gefühle anderer auf das Tiefste zu verletzen, daß ferner die Auslassungen in der Schrift nicht mit schriftstellerischer Freiheit entschuldigt werden können, vielmehr diese in unangemessener Weise mißbraucht ist. Als strafmildernd hingegen war zu berücksichtigen, daß bei dem abstoßenden Inhalte des Preßerzeugnisses dasselbe wohl bei Anständigen Zurückweisung und daher wenig Verbreitung gefunden haben wird" 8 5 . Hierin freilich täuschte sich das Gericht. Schon 1 8 9 7 erschien die 3. Auflage des „Liebeskonzils", zu der Panizza folgendes V o r w o r t schrieb: „Der Verfasser ist hinsichtlich dieser 3. Auflage einige Worte der Aufklärung schuldig. Das Publikum wird sich vielleicht schon gewundert haben, daß diese Dichtung, die doch vom Staatsanwalt konfisziert ist, immer und immer wieder in der Öffentlichkeit erscheint. Es wird sich gewiß schon gedacht haben, daß der Dichter verrückt sei. Dem ist aber nicht so. Das Publikum hat eben gar keine Ahnung von den Umständen, unter denen der Dichter produziert und den Inhalt seiner Inspiration vor die Öffentlichkeit bringt. Es kennt eben nicht jenes Kleinod, welches er allein besitzt und das ihn befähigt, unabhängig von allen sonst etwa in Betracht kommenden Faktoren nur seiner Inspiration zu folgen und sie voll und ganz zum Ausdruck zu bringen: das Gottesgnadentum des Dichters. Das Gottesgnaden tum mit seinen schweren Pflichten, seinen niemals endenden, stets andauernden Mühen und Arbeiten, mit seiner furchtbaren Verantwortung vor Gott allein, von der kein Mensch, kein Staatsanwalt, kein Abgeordnetenhaus, kein Volk den Dichter entbinden kann. Es ist dies das Kleinod, welches zwar auch schon früher mehr oder weniger bekannt war, aber doch erst in jüngster Zeit von den Dichtern in voller Klarheit erfaßt und auch dem Volke verständlich gemacht wurde. Es wird also gut sein, wenn das Publikum, der Reichstag, die Minister, die Fürsten, der Kaiser, der Staatsanwalt unsere Dichtungen als das hinnehmen, was sie sind, eine von Gott gewollte Sache und nicht länger fragen oder nörgeln. Zürich, den 4. 9. 1897, Hochachtungsvoll, Oskar Panizza, Dichter von Gottesgnaden." 1 9 1 3 k a m das „Liebeskonzil" als Privatdruck der Gesellschaft Münchener Bibliophiler 9 6 in 5 0 Exemplaren mit Illustrationen von Alfred Kubin heraus, deren bedeutendste als Abb. 10 wiedergegeben sei 97 . Doch vermochten selbst 5 0 J a h r e nicht, die unfreundliche Haltung der Behörden gegenüber Panizzas W e r k zu verändern. Eine deutsche Subskriptionsausgabe des „Liebeskonzils", die ein kleiner Verlag in

139

Abb. 10. A. Kubin, Illustration zu P a n i z z a s „Liebeskonzil"

Schleswig-Holstein 1962 herstellte, veranlaßte sofort die Justiz zum Einschreiten. Doch „im November 1962 teilte der Oberstaatsanwalt in Flensburg dem Verleger lakonisch mit, er habe das Ermittlungsverfahren eingestellt" 98 . Panizza selbst, dessen „Begräbnis" George Grosz schon 1917/18 gemalt hatte", war 1921 in einer Irrenanstalt verstorben. Ein Jahr nach der Verurteilung Panizzas durch das Schwurgericht beim Landgericht München I mußte sich das Reichsgericht mit dem 140

Roman eines längst verstorbenen Dichters befassen, mit Wilhelm Heinses „Ardinghello und die glückseligen Inseln". „Die blühendste Schwärmerei der geilen Grazien", wie Goethe den Roman nannte, riß Hölderlin dazu hin, Heinse die Allegorie „Brot und Wein" zu widmen und ließ Hugo von Hofmannsthal u. a. schreiben: „Sein berühmter Roman hat zum Helden kaum eigentlich die subjektive und lyrische Gestalt, deren Namen er trägt, sondern einerseits die italienische Malerei, andererseits das Mittelmeerbecken, beide als Lebensformen konzipiert. Die Antike eroberte er sich aus einer Art leidenschaftlich sehnlicher Neugierde, fast distanzlos, in völlig anderer Weise als Goethe, aber auch seine Eroberung war großartig und erfolgreich. In den Tausenden von Notizen sind über die Kunst und die Sitte der Antike der neueren Jahrhunderte, über die Musik des 18. Jahrhunderts, über die alten Historiker, über deutsches Wesen und deutsche Zeitgenossen, über Natur, Menschheit, Sinne, Sinnenlust, Aperçus von einer Unmittelbarkeit ohnegleichen. Er war ein großer Maler des Nackten in Worten, aber auch das war nicht Virtuosität, sondern Unmittelbarkeit, die ihn von allem die Hülle der Konvention wegreißen ließ" 100 . Hugo von Hofmannsthal freilich stand mit seiner Meinung ziemlich allein. Anderswo konnte man lesen: „Die lüsterne Schilderung der enthüllten weiblichen Reize ist für Heinse die Hauptsache. Aber in erotischer Hinsicht, in der Verherrlichung des freien Sinnengenusses bleibt er nur ein Stümper" 101 . Nicht viel besser verfährt das Reichsgericht mit dem Roman in seiner Entscheidung vom 16. 10. 1896102, wo es u. a. ausführt: „Der erste Richter geht mit Recht davon aus, daß es nicht darauf ankommt, ob Heinses Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln in seiner Originalfassung eine unzüchtige Schrift sei, da der Angeklagte nicht den vollständigen Roman, sondern nur Bruchstücke aus demselben veröffentlicht und verbreitet habe. Diese Auffassung wird auch von der Revision nicht bekämpft. Es wird von ihr aber geltend gemacht, daß der Roman in der Form, in welcher er in den Nummern 1—26 v o m 4. 1.—27. 6. 1896 der wöchentlich einmal erscheinenden literarischen Beilage der Zeitung «Sozialist» veröffentlicht ist, als ein Ganzes der Beurteilung habe unterzogen werden müssen und der Angeklagte, welcher jene Beilage redigiert, verlegt und verbreitet hat, sich aus § 184 nicht strafbar gemacht habe, wenn der Gesamtcharakter der in den Beilagen abgedruckten Teile des Romans kein unzüchtiger sei. [Diese Auffassung der Revision ist rechtsirrig.] Erscheint ein Werk in verschiedenen Lieferungen, von denen einzelne ohne Verpflichtung zur Abnahme der übrigen käuflich ist, so kann durch diese Art des

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Vertriebs jede Lieferung den Charakter einer besonderen Schrift erhalten, und es ist nicht rechtsirrig, wenn bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 184 vorliegen, der Inhalt der einzelnen Lieferungen unabhängig von dem Inhalte der übrigen Lieferungen selbständig gewürdigt wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften. Hier tritt die einzelne Nummer als besondere Schrift in die äußere Erscheinung und regelmäßig ist auch jede Nummer einzeln käuflich. [Die Nrn. 15 und 16 sind daher als selbständig zu beurteilende Schriften anzusehen.] Daß der Angeklagte diese Nummern mit dem Bewußtsein verbreitet hat, daß sie nach ihrem Gesamtinhalt das Schamgefühl in geschlechtlicher Beziehung gröblich verletzen, wird in dem Urteile als erwiesen bezeichnet."

Dieses Urteil des Reichsgerichts läßt freilich des Empfindens nicht ganz Herr werden, daß es nicht eigentlich oder nicht nur Heinses Roman im ganzen oder in Fortsetzungen war, der mit ihm getroffen werden sollte. Das hätte auch ein wenig überrascht. Hatte sich doch Heinse gerade mit dem Ardinghello die hohe Wertschätzung, wenn nicht Freundschaft zweier Erzbischöfe103 und die Stellung als ihr Bibliothekar 104 und Hofrat erworben 105 . Der wirkliche Gegenstand des Urteils war die Zeitung, in der der Roman in Fortsetzungen erschien, der „Sozialist", und auch wieder nicht er, sondern die hinter ihr stehende oder vermutete Sozialdemokratie, der ungeachtet der Aufhebung der Sozialistengesetze im Jahre 1890 noch der ganze Kampf der nichtsozialistischen Kreise, also der sich als „staatserhaltend" empfindenden Kräfte, galt. Daher konnte denn auch in einer 1910 bis 1913 in dem nicht sozialdemokratischen Insel-Verlag erscheinenden Gesamtausgabe der Werke Heinses 106 der Ardinghello gänzlich unbeanstandet veröffentlicht werden. Im Jahre 1896 trat auch eine Zeitschrift ins Leben, die sich über 25 Jahre lang ganz offen und ausdrücklich die „Untergrabung bestimmter Werte der bürgerlichen Ordnung, insbesondere der Familie, des Eigentums und der allgemeinen Wehrpflicht", aber auch die „Erörterung der Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in einer den Frieden gefährdenden Weise" zum Ziel setzte und die daher von den „staatserhaltenden Kräften" auf das schärfste angegriffen und mit polizeilichen und gerichtlichen Maßnahmen überzogen wurde, der Simplizissimus. Schon sein erster Jahrgang gab dreimal zu Beanstandungen Anlaß. In seiner Nr. vom 18. 4. 1896 erschien die Novelle 142

©ie üfretfoattttfe ^crfott r nacf;miítagé gnbc SRärj. Sie ftijt auf einem Seffel mtb f>at bie &änbe auf ben Stfcf) geftü^t. Sie í»at nocí) ben Äut r¿üí>ersie&er, «einen mobernen fiui, Ueitt auf tt>ie er fommf, ftet)t tangfam auf, reicht H;m bie Sippen jum Äuffe. (Sc (wätyrenb er fie fügt, nimmt ben ibut ab unb wirft ilm aufé "Seit). (Buten 2lbenb, mein & e r j ! Sd)on früher ba até id)! ©aé ift einmal lieb! — n ab, giebt iljr baé 93eilte Sippen fjaltenb). — ©anfe! — S x. 3cf) bin fpajieren gegangen, über ben 9ítng. íOíajfe ßeute! — (Setjt fianb.) — Qßtc geíjt'é bit benn? — 'é — meinem9ftann gefagt $abe? — (Sr. 9, bu bift eben anberä, g a n j ab' ja gar nic^i geaijnt, bafj bu mid) f o lieb |>aft — S i e. benn beine ©eliebte geworben? g r. © a f j bu gerne i>aft, baS tjab' im treu ju bleiben — e£ giebt gewifj manche, benen t£)r ©atte förmlich juwiber ift — aber manchmal f a n n man fi^> ja f e r n e r t>elfen, nid)t watyr? — e i e. ® u tjaft gemeint, id) belüge bid)! — an ben fiut unb rebeíe fie an. ©uíett 2lbenb! Ob fíe ^icr auf jemanb » a r t e ? S i e jucffe jufammen. 9 k i n

ja, fie warte auf jemanb.

0 6 fie etwaé bagegen íjabe, wenn ich ihr ©efeUfchaft íeiftefe bté berjenige fäme, auf ben fie » a r t e t e ? 9íein, fie fjafte nicfjté bagegen. S i e banKe mir. íibrigené, fagte fie, » a r t e fie auf niemanb, fie ginge í)iec n u r ein wenig fpajieren, weit eé fner fo ftíH fei. QBir fchlenberten Seite an Seife bahin unb wir begannen, über gleichgültige ®inge miteinanber ju reben; id) bot ihr meinen 2lrm. ,,2Icí) nein!" fagte fie unb f ^ ü t t e l t e ben Äopf. ®ie Sactye würbe mir langweilig. 3 « bei ^errfi^enben ®unfelheit fonnte id) fie nid)t fehen, beéwegen jünbete id) ein Streichholj an unb üerfudite, fie ju beleuchten, währenb ich nach btv Sthr fah« „Äal6 jeljn, gut halb jehn", fagte i ergriff bie ©elegenheit unb f r a g t e : „Sé friert Sie, möchten S i e nicht trgenbwo hingehen unb efwaé friníen? 3 n é Siooli, ober iné N a t i o n a l ? " „ ^ e i n , ich i ° n n j^iJt nirgenbé hingehen, wie S i e fehen", antwortete fie. ilnb erft je$t bemerlte ir ettoaé ju, unb fie fcf)tofj meinen SWunb mit bem ifjrett, ftumm bot 3ärtlid)feit. S é tagte meljr unb meljr. 3toei S t u n b e n fpäter toar id) auf ben d e i n e n , aud) SUen ift aufgeftanben, fie neftelt an ityren Kleibern, fie tyat f4>on Schulte an. Unb je^t erlebe ttf) ettoaé, baé mi noc£) in biefem 21ugen6Itcf butdjfcfjaueri tote ein böfer ^ r a u r n . 34> ftef)e am Qöafdjtifdje, — SEen f)at ettoaé im 9tebenjimmer ju ffntn, unb alé fie bie S£f)ür öffnet, toenbe td) mtd) um unb fetye baíjinein. Sin íatter £uftf)aud) bringt mir »on ben geöffneten ^ n f t e m entgegen, u n b mitten im 3intmer, auf einem tangen $if4>, erblidfe id) eine £eid>e. Sine fieidje, bie im Garge liegt, mit grauem '©art, bie £eid)e eineé ^Jlanneé. Seine mageren Äniee fielen in bie toie jtoei toütenbe S t u f t e , bie unter bem 2eid)tentud> geballt finb, unb fein ©efictyt ift g a n j geib unb S4>ree alleä im gelten 'Sageélityt 34) toenbe mien bereif. 34) ttar f a u m imftanbe, itjre Umarmung ju ertoibern. S i e iteibete fid) oöEig an, fie tooEte mt4> in ben 'Sljortoeg fjinabbegleiten, unb id) lieg fie geíjen u n b 'fagte nod) immer nidjté. Unten im V o r w e g brütfte fie fid) an bie 9ftauer, um ntcfti gefeiten j u werben unb flüfterte: „21uf muß morgen j u m 93egräbniö, ein Q3ertoanbter t»on mir ift geftorben. S o . jctjt weißt © u eé!" „"Slber übermorgen?" „ 3 a , übermorgen, t)ier im ^ o r t o e g werb' i4> ®id) ertoarten. £eb'

tooijl!"

34) ging. QBer toar fie? Unb bie Ceidje? bitte, — id) fdjlage auf, ©amle Äongeöej, bie unb bie K u m m e r , gut, td) fel>e ben t a r n e n unb toeifj, toie SEen ^eifjt. 34) toarte ein bie iijrige, bie erfte in ber langen 9leit)e, mit fetten 93ud)ftaben: „9iad) langer Äranitjeit oerfci)ieb geftern mein i K a n n in feinem 53. £ebenéjal>re." ®ie Qlnjeige toar öon geftern batiert. 34>

lange ba u n b finne.

S i n at eine g r a u , f « ift breifjig 3«f)re jünger alé er, er ift »iele 3ai>re lang t r a n l unb ftirbt bann eineé 'Sageé. ®ie junge QBitwe atmet auf, baé £eben r u f t ii>r j u mit feiner entjüdenben ^oEtjeit, fie geljordjt feiner S t i m m e unb anttoortet: 34) iomme! Unb f4>on bem nämli4>en °2lbenb lufttoanbelt fie auf bem olb. „SEen, SEen, übermorgen!"

149

Noch schlimmer wurde es, als in der N r . vom 8. 8. 1 8 9 6 ein Gedicht mit der Uberschrift „Brigitte" erschien, das Frank Verfasser hatte, von Thomas

Theodor

Heine

Wedekind

zum

(in nicht sehr eben

ansprechender Weise) illustriert w a r und folgenden Wortlaut hatte: „Ein junges Mädchen kam nach Baden, Brigitte B. war sie genannt, Fand Stellung dort in einem Laden, Wo sie gut angeschrieben stand. Die Dame, schon ein wenig älter, War dem Geschäfte zugetan, Der Herr, ein höhrer Angestellter der Königlichen Eisenbahn. Die Dame sagt nun eines Tages, Wie man zu Nacht gegessen hat: Nimm dies Paket, mein Kind, und trag es Zu der Baronin vor der Stadt. Auf diesem Wege traf Brigitte Jedoch ein Individuum, Das hat an sie nur eine Bitte, Wenn nicht, dann bringe er sich um. Das Mädchen, völlig unerfahren, Gab sich ihm mehr aus Mitleid hin, Drauf ging er fort mit ihren Waren Und ließ sie in der Lage drin. Sie könnt' es anfangs gar nicht fassen, Dann lief sie heulend und gestand, Was sie sich hat geschehen lassen, Was die Madam begreiflich fand. Daß aber dabei die Tournüre Für die Baronin vor der Stadt Gestohlen worden sei, das schnüre Das Herz ihr ab, sie hab'es satt. Brigitte warf sich vor ihr nieder, Sie sei gewiß nicht mehr so dumm. Am Abend aber lief sie wieder Zu jenem Individuum. Als die Herrschaft dann um Pfingsten Ausflog mit dem Gesangverein, Lud sie ihn ohne die geringsten Bedenken abends zu sich ein. Sofort ließ er sich alles zeigen, Den Schreibtisch und den Kassenschrank Macht' die Papiere sich zu eigen Und zollt ihr nicht mal seinen Dank. Das Mädchen, als es nun gesehen,

150

Was sein Verhältnis angericht', Entwich auf unhörbaren Zehen Dem Ehepaar aus dem Gesicht. Vorgestern hat man sie gefangen; Wo, sagt das Redaktionsbüro, Dem Jüngling, der die T a t begangen, Dem ging es gestern ebenso." Die N u m m e r wurde durch Beschluß des Kgl.

Untersuchungsrichters

am K g l . Landgericht München I v o m 7. 8. 1 8 9 6 beschlagnahmt. Die Staatsanwaltschaft hatte jedoch mit ihren M a ß n a h m e n kein Glück; der Redakteur des Simplizissimus wurde a m 14. 9. 1 8 9 6 außer V e r folgung gesetzt 1 0 7 . Eine dem

Geist

des Simplizissimus

nicht ganz

unähnliche,

wenn

auch naturgemäß andersgeartete Rolle spielte zeitweise in München Franz

(von)

Stuck.

Obgleich aus dem tiefsten Niederbayern

kom-

mend, w a r er schon in früher Jugend der erklärte „Liebling"

der

Klerikalen und ihrer Abgeordneten im B a y e r . L a n d t a g . H i e r nahm man die 1 8 9 4 erfolgte E r w e r b u n g seines Bildes „Der K r i e g " 1 0 8 durch die N e u e Pinakothek

zum A n l a ß grimmiger

Ausfälle gegen

ihn.

Dabei t a t sich wie auch in anderem Zusammenhang der kgl. bayerische Abgeordnete Kohl besonders h e r v o r : „Über Stuck sind die Meinungen nicht bloß in Laien-, sondern auch in Künstlerkreisen ganz außerordentlich geteilt, wie über gar keinen anderen Maler von München. Die einen nennen ihn ein schöpferisches Genie mit titanenhafter Gestaltungskraft, mit gesunder Sinnlichkeit, Leuchte der neu eröffneten Secession, den Michelangelo des 19. Jahrhunderts. Andere aber sagen, daß in seinen Leistungen Abgeschmacktheit des Themas wetteifert mit der Brutalität der Erscheinungsform. Der Herr Minister hat ihn einen Idealisten genannt. Das kann man auffassen wie man will. Formell ist er ein Idealist; das will ich zugestehen. Er malt nicht Natur, er ist kein Nachahmer, er hat auch nicht einmal das goethesche Prinzip, daß man die Natur verklären muß durch die Kunst, sondern er malt von innen heraus und concipirt seine Ideen; und die Figuren, die er malt, sind lediglich der Ausdruck und der Träger seiner Ideen. Deshalb ist und bleibt er Idealist. Aber es gibt Ideen, welche oft sehr frivol und obscön sein können, und man kann solche auch malen, und daß er nicht immer zwar, aber von Zeit zu Zeit schon dergleichen geliefert hat, wird mir niemand bestreiten. Wenn man die Urteile und Auslassungen des Volkes gehört hat, von dem Bild des bekannten Centauren (Abb. I I ) 1 0 9 , die Bemerkungen der Leute, die vor dem Bild standen, so muß man sich fragen, ob es nicht Bilder gibt, die auf die Nation besser einwirken können. Das ist besonders von diesem Bild der Fall, gilt aber auch von manch anderen Bildern. Er hat auch Großartiges geschaffen, großartige 151

Abb. 11. V. Stüde, Centaurenliebe Ideen schon dargestellt, aber er liebt im allgemeinen vielfach das, was ich vorhin gekennzeichnet habe." I h m e n t g e g n e t e Seine E x z e l l e n z der K g l . bayerische S t a a t s m i n i s t e r des I n n e r n f ü r K i r c h e n - u n d Schulangelegenheiten D r . v o n L a n d m a n n u. a.: „Jedenfalls erfüllt dieses Bild die Aufgabe, die ein wahres Kunstwerk erfüllen soll, zu rühren und zu ergreifen" 1 1 0 . N o c h h ä r t e r e T ö n e , w e n n auch o h n e N e n n u n g des N a m e n s , schlug 2 J a h r e s p ä t e r im Deutschen Reichstag d e r A b g e o r d n e t e Dr. Lieber „Da wir gerade bei der weiteren Ausschmückung des Reichstagsgebäudes mit Bildwerken und Malereien sind, so möchte ich gleich auch den weiteren Theil 152

des Dispositivs: «sowie zur Beschaffung von kunstgewerblichen Gegenständen für das Reichstagsgebäude» in den Kreis meiner Betrachtungen einbeziehen. Audi in dieser Hinsicht habe ich einige Worte zu äußern. Was zunächst die weitere Ausschmückung des Reichstagsgebäudes mit Malereien angeht, so werden wohl alle verehrten Herren schon mit genügendem Erstaunen Kenntnis von demjenigen Bildwerke 111 genommen haben, welches zuallererst hier Aufnahme gefunden hat, wie ich zu meiner großen Beruhigung gehört habe, nur zeitweilige, nur probeweise Aufnahme, von dem Bildwerk auf der einen Seite des Tonnengewölbes in der Vorhalle vor den Gemächern des Reichstagspräsidiums, dem Dienstzimmer des Reichstagsdirektors und unserer Handbücherei. Man kann kaum hart genug werden, man kann kaum weit genug gehen in der Wahl eines Ausdrucks zur Verurtheilung einer solchen Malerei. (Sehr wahr!)

Meine Herren, mir thut sogar leid, daß ich den Ausdruck «Malerei» (sehr richtig!)

auf dieses Werk, dem ich den Charakter eines Kunstwerks nur dann zuerkennen könnte, wenn jede Schmierei (oh! bei den Sozialdemokraten)

künftig dieses Namens würdig befunden werden sollte (Heiterkeit),

— ich sage, sogar den Ausdruck Malerei vermag ich auf dieses Werk nur mit äußerstem Widerstreben anzuwenden. Es ist zwar ein in heutiger Zeit viel genannter, auf mancher Seite hochgepriesener Künstlername, der als Feigenblatt vor diese Malerei gedeckt zu werden pflegt (Heiterkeit),

das kann midi aber nicht abhalten, ohne in eine Beurtheilung der Leistungen dieses Malers im übrigen einzugehen, diese Leistung als die denkbar schlechteste, die wir erwarten konnten, zu bezeichnen. Ganz abgesehen davon, daß sidi diese Malerei in der vornehmen und sauberen architektonischen und skulpturellen Umgebung, in welcher sie angebracht ist, wie ein Tintenklex ausnimmt (Heiterkeit),

muß ich sagen, ist sie auch an und für sich ein wahrer Spott und Hohn auf jedes ästhetische Gefühl und jeden geläuterten Geschmack. (Sehr richtig! redits und in der Mitte). Ich rede auch gar nicht weiter davon, daß die Wappen, die hier wieder in endloser Erschöpfung eines bis zum Überdruck ausgebeuteten Gedankens (sehr wahr! sehr richtig!) als neues Armuthszeugniss angebracht sind, nach den Untersuchungen gewiegter Heraldiker sämmtlich heraldisch unhaltbar sind (Heiterkeit),

aber die dekorative Malerei, mit der diese Wappen umgeben sind, die Arabesken und vorab jene häßlichen Gestalten, die da aufgehäuft sind! — ja, 153

meine Herren, wenn wir so unser Reichstagsgebäude ausschmücken wollen, dann kommen wir viel billiger zu unserem Zwecke, wenn wir die Titelblätter der Zeitschrift «Die Jugend» sammeln und an unsere leeren Wände kleben (große Heiterkeit),

als wenn wir 30 000 Mark für solche «Spottgeburten von Dreck und Feuer» bezahlen. (Große Heiterkeit).

Meine Herren, ich muß wirklich sagen, es heißt die Geduld des Reichstages, es heißt die Geduld seiner Ausschmückungskommission bis zum Übermaß erschöpfen, daß man nach dem Beschlüsse der Ausschmückungskommission vom letzten Jahre, den der Herr Graf von Kanitz uns eben verlesen hat, nunmehr doch dazu übergegangen ist, den Versuch zu machen, die Geschichte einmal an dem Platze, für den sie bestimmt war, vorzuführen. Allein, wir müssen uns diesem neuesten Beschlüsse fügen; wir haben jetzt wenigstens die Gelegenheit, die Sache an Ort und Stelle anzusehen und in ihrer ganzen widerlichen Häßlichkeit auf uns wirken zu lassen. Mir thun nur diejenigen Besucher des Reichstagsgebäudes leid, die, bis die hohe Kommission ihre Vernichtungsbeschlüsse erneuert haben wird — woran ich gar nicht zweifle —, sich inzwischen an diesem Erzeugniss deutscher Kunst, an dieser Verherrlichung des deutschen Reichstages erheben, bilden und erfreuen sollen. Wenn wir in diesem Style unsere noch leeren Flächen ausschmücken sollten, dann würde ich nicht einmal, sondern hundertmal dem Herrn Grafen von Kanitz beistimmen: dann lieber weißgetünchte Flächen lassen, wie sie sind, als auch nur noch einen einzigen Pinselstrich wagen, um dieses Gebäude zu verhohnübeln. (Große Heiterkeit).

Ich denke aber, meine Herren, die deutsche Malerei wird auch heute noch Manns genug sein, um würdigere Gegenstände, würdiger dargestellt, in unserem Reichstagsgebäude zur Anschauung zu bringen. Wenn ich mir denke, es würde die Darstellung erhebender Augenblicke, erhebender Ereignisse aus der deutschen Geschichte, insbesondere aus derjenigen deutscher Wiedererhebung, bis in die heutige Zeit, ihrer Aufgabe gewachsenen, gottbegnadeten und nicht von der «modernen» Sucht angesteckten Künstlern aufgetragen, so kann ich mir wohl vorstellen, daß wir nicht allein sechs-, sondern noch mehrere hunderttausend Mark auszugeben willig wären, um an dieser erhabenen Stelle im neuen Reiche mit der Erhebung des Deutschen Reichs auch der Erhebung der deutschen Kunst ein würdiges Denkmal aufzurichten, aber, meine Herren, nicht der Erniedrigung deutscher Kunst, dafür danke ich auch entschieden" 112 . Diese Ausfälle veranlaßten (nach den Münchner Neuesten Nachrichten v o m 10. 3. 1899) die Mitglieder (der Münchener Secession), Stuck folgendes Schreiben zu übermitteln: „Verehrter Kollege! In Hinblick auf die in der Reichstagssitzung vom 1. 3. über ein Werk Ihrer Hand gefallenen unqualifizierbaren Äußerungen eines 154

deutschen Volksvertreters nehmen wir Veranlassung, Ihnen unser aufrichtiges Bedauern darüber auszudrücken, daß gerade Ihr Name, welcher in Wahrheit eine Zierde nicht nur unseres Vereins, sondern der ganzen deutschen Künstlerschaft ist, dazu ausersehen war, in durchaus unziemlicherweise die betrübende Tatsache zu illustrieren, wie wenig nach diesem beschämenden Vorgang Kunstverständnis und Achtung vor der Kunst im Herzen unserer Volksvertreter Boden zu haben scheint." D a m i t erschöpfte sich jedoch der Meinungsstreit um den Meister noch nicht. Er schwelte unter der Asche äußerer Anerkennung und Auszeichnung weiter, loderte aber immer wieder empor. Ein Beispiel d a f ü r ist ein in den Münchener Neuesten Nachrichten v o m 14. 11. 1911 veröffentlichter Brief des damaligen Polizeipräsidenten von München an Stuck v o m 10. 11. 1911. Dieser hatte folgenden Wortlaut: „Sehr geehrter Herr Professor! Ich bin erst gestern aus Urlaub zurückgekehrt, habe mir sofort in der bewußten Angelegenheit Vortrag erstatten lassen und beehre mich nun, Ihnen über das Vorgehen der Polizeidirektion in Kürze folgenden Aufschluß zu geben. Aus dem von der Polizeidirektion ausgegangenen Pressebericht werden Euer Hochwohlgeboren schon entnommen haben, daß das Vorgehen der Polizeidirektion keineswegs gegen Ihr Bild gerichtet war, und daß es sich nicht um eine Beschlagnahme Ihres Bildes 113 handelt, daß vielmehr lediglich gegen den Kunsthändler Wagner am Maximiliansplatze wegen der Zusammenstellung seiner Auslage vorgegangen wurde. Euer Hochwohlgeboren werden mir wohl selbst gern zugeben, daß namentlich im Interesse des Jugendschutzes manche Bilder, selbst höchsten künstlerischen Wertes, und auch deren Reproduktionen, welche anstandslos in den Läden vorgezeigt und verkauft werden können, nicht in die Auslagen gehören, und daß namentlich eine Häufung von solchen Bildern in den Auslagen, welche auf jugendliche unreife Personen lediglich stark sinnlich wirken, bei einem großen Teile des Publikums, namentlich aus Kreisen der Eltern, Anstoß erregt. Nun ist es insbesondere das Geschäft des Kunsthändlers Rudolf Wagner am Maximiliansplatze, über dessen Auslagen Klagen und Beschwerden bei der Polizeidirektion einkommen. Wagner wurde schon öfter verwarnt, auch vom Gerichte aus einem solchen Anlasse wegen groben Unfugs bestraft, unterläßt es aber, wohl aus geschäftlichen Rücksichten, trotzdem nicht, in seiner Auslage eine solche Häufung von Nacktdarstellungen zu bieten, daß im Interesse des Jugendschutzes dagegen eingeschritten werden muß. Auch über seine jüngste Auslage wurde bei der Polizeidirektion eine Beschwerde erhoben, worauf die Polizeidirektion Anzeige gegen Wagner wegen groben Unfugs, begangen durch die Art seiner Auslage, erstattete. Antragsgemäß wurde seitens des Amtsgerichts die Beschlagnahme der Bilder in der Auslage des Wagner gemäß § 94 der Reichsstrafprozeßordnung als Beweis155

mittel verfügt, um dem Gerichte die Möglichkeit zu geben, durch Vergleichung der photographisch aufgenommenen Auslage und der betreffenden Bilder zu prüfen, ob Wagner durch die Art seiner Auslage sich einer Ubertretung des groben Unfugs schuldig gemacht hat. Sache des Gerichts ist es nun, in dieser Sache das richtige Urteil zu finden. Die Polizeidirektion kann in der Sache selbst vorerst keine Verfügung treffen: wohl aber werden die Bilder nach Beendigung des Strafverfahrens, wenn sie als Beweismittel nicht mehr nötig sind, wieder zurückgegeben. Ich vermute nun, daß Euer Hochwohlgeboren die Nachricht von dem Vorgehen der Polizeidirektion in einer Weise überbracht worden ist, daß Sie der Ansicht sein mußten, das Vorgehen der Polizeidirektion sei speziell gegen Ihr Bild gerichtet gewesen. Ich hoffe, sehr verehrter Herr Professor, Sie durch vorstehende Ausführungen überzeugt zu haben, daß dies nicht der Fall ist, daß die Polizeidirektion in keiner Weise beabsichtigte, gegen Ihr Kunstwerk vorzugehen, sondern, daß nur das Arrangement der Auslage des Kunsthändlers Wagner die Polizeidirektion zum Einschreiten zwang. Ich bedauere persönlich lebhaft, daß eine Reproduktion Ihres Bildes in dieser Auslage sein mußte, wie ich vermute, wohl nicht ohne Absicht des Kunsthändlers Wagner, um dadurch ein Vorgehen der Polizeidirektion zu erschweren. In der Erwartung, durch vorstehende Äußerung Sie befriedigt zu haben, bin ich mit dem Ausdrucke vorzüglicher Hochachtung Euer Hochwohlgeboren ergebenster Freiherr von der Heydte, Polizeipräsident." Stuck schien befriedigt zu sein; denn Weiterungen haben sich nicht feststellen lassen. Wieder wurde der Entwicklung um des Sachzusammenhanges willen weit vorgegriffen. Viel früher, noch kurz vor der Jahrhundertwende, erließ das Reichsgericht sein Urteil v o m 25. 3. 1897 1 1 4 , bei dessen Durchsicht man nur tief bedauern kann, daß es das Werk, von dem es handelt, jedenfalls in der veröffentlichten auszugsweisen Wiedergabe nicht erkennen läßt. Dennoch sei es hier wegen der großen Bedeutung im Rahmen dieses Buches wiedergegeben: „Der Revision ist zuzustehen, daß der Verfasser eines literarischen Werkes für die dargestellten Äußerungen darin handelnd und redend auftretender Personen, auch wenn diese Äußerungen objektiv wider ein Strafgesetz verstoßen, nicht ohne weiteres und unter allen Umständen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden darf. So kann der von dem Verfasser eines dem Gebiet freier dichterischer Erfindung angehörenden Werkes hergestellte Vor156

wurf, im Rahmen seines Werkes unter anderem auch Denken und Tun geistig und sittlich herabgekommener, oder niedrig, kleinlich gesinnter Menschen oder von wilden Leidenschaften beherrschter und mit einem sonstigen seelischen Makel behafteter Menschen zu schildern, es fordern oder doch mindestens erklären, soll nicht die Schilderung eines solchen Menschen psychologisch unwahr oder verfehlt, nicht eine echte künstlerisch-literarische Schöpfung, sondern nur ein offenbares und wertloses Zerrbild sein, daß jenen Personen von dem Dichter an sich strafwürdige Äußerungen beigelegt werden. Es kann namentlich die in der konkreten Ausgestaltung immer sich auf dem Gebiete der freien Erfindung bewegende Darstellung bedeutender geistiger, sittlicher oder sozialer Erregungen und Kämpfe, in denen die Parteien sich in erbitterter Feindschaft, mit leidenschaftlichem Fanatismus gegenübertreten und durch Wort und Tat in gehässigster, schmähsüchtigster und rohester Weise befehden, es als gleichsam notwendig mit sich bringen, daß einzelne der streitenden Personen in der Erzählung des Verfassers Äußerungen tun, die nicht nur geeignet sind, Abscheu und Empörung hervorzurufen, sondern objektiv betrachtet gegen die eine oder andere strafrechtliche N o r m verstoßen würden. Das ihm allgemein zuzuerkennende Recht des Dichters zu derartigen Schöpfungen seiner freien Erfindung muß ihn auch von strafrechtlicher Verantwortlichkeit entlastet erscheinen lassen, wenn er bei der Durchführung seines dichterischen Vorwurfs bei der Schilderung des Tuns und Treibens einzelner von ihm dichterisch verwandter Persönlichkeiten in der angedeuteten Weise verfuhr. Dies darf wenigstens als der bei der rechtlichen Würdigung im allgemeinen maßgebende Standpunkt bezeichnet werden. Die Revision irrt jedoch, wenn sie anscheinend meint, daß der hervorgehobene allgemeine Gesichtspunkt in bezug auf literarische Schöpfungen ausnahmslos Geltung fordern darf, daß also der Verfasser einer dichterischen, frei empfundenen Erzählung unter keinen Umständen f ü r Äußerungen strafrechtlich hafte, die in seiner Erzählung nur als Kundgebungen gewisser darin auftretender Personen vorkommen. Die strafrechtliche Nichtverantwortlichkeit des Verfassers einer Erzählung f ü r strafwürdige Äußerungen, die er in den Mund einzelner, in seiner Erzählung auftretender Personen gelegt hat, muß jedenfalls dann beseitigt erscheinen, wenn die gewählte Darstellungsform — die Form einer freien dichterischen Erzählung — nur die durchsichtige Maske bildet f ü r die öffentliche Kundgebung der eigensten Meinungen und Erklärungen des Verfassers, wenn er selbst durch seine Personen zu dem Leser hat sprechen wollen, er selbst den objektiv strafbaren Angriff gegen ein Rechtsgut unternimmt und offensichtlich nur zu dem Zwecke, um strafrechtlicher Ahndung zu entgehen, nur weil er sich scheut, mit seiner Person f ü r Angriffe einzustehen, unter auf Täuschung berechnetem Gebrauche des Gewandes dichterischer Erzählung eine von ihm erfundene Person vorschiebt, welche die strafwürdige Äußerung getan habe. Denn unter dieser Voraussetzung ist die eben bezeichnete Person scheinbar der Äußernde und als solcher Täter der strafbaren Handlung. In Wahrheit ist es der Verfasser selbst, und dieser vermag die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht von sich abzulehnen." 157

Die Bedeutung dieses Urteils für die Erkenntnis der Kunstauffassung des Reichsgerichts in der damaligen Zeit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn es nämlich ausführt, es könne der vom Künstler hergestellte Vorwurf im Rahmen seines Werkes u. a. auch Denken und Tun geistig und sittlich herabgekommener oder niedrig, kleinlich gesinnter Menschen oder von wilden Leidenschaften beherrschter oder mit einem sonstigen seelischen Makel behafteter Menschen zu schildern, es fordern oder mindestens erklären, solle nicht die Schilderung eines solchen Menschen psychologisch unwahr oder verfehlt, nicht eine echte künstlerisch literarische Schöpfung, sondern nur ein offenbares und wertloses Zerrbild sein, so offenbart sich hierin eine Kunstauffassung, nach der eine echte künstlerische Leistung nicht ist, was unwahr oder verfehlt ist. Was dagegen wahr oder richtig ist, ist eine echte künstlerische Schöpfung. Diesen Verismus treibt das Reichsgericht so weit, daß es ein „Recht des Künstlers" anerkennt, „daß einzelne Personen Äußerungen tun, die nicht nur geeignet sind, Abscheu und Empörung hervorzurufen, sondern objektiv betrachtet geradezu gegen die eine oder andere strafrechtliche Norm verstoßen". Damit werden Saiten angeschlagen, die über ein halbes Jahrhundert später etwa so erklingen: „Wohl kann eine künstlerische Darstellung das leiblich-Sinnenhafte so gezähmt wiedergeben, daß wir nicht mehr daran gemahnt werden, wie sehr wir dem triebhaft-Animalischen verhaftet sind. Dann ahnt man aber auch nicht mehr die blitzende K r a f t und Herrlichkeit des Geistes, der die ungebärdige Wildheit bändigt und sie zwingt, von der Macht und Schönheit des Geistes Zeugnis zu geben. Das Menschentum des Kitsches hat nichts zu künden. Es kennt jene Grundspannung des Menschen kaum. Ob Leib, ob Herz, ob Geist, es ist alles beruhigend langweilig" 115 . Mitten in die unruhigen Wellen der Politik stürzten sich Kunst und Rechtsprechung im übernächsten Jahre. In der Kreuzzeitung vom 10. November 1899 war unter der Überschrift: „Das Zentrum, das Judentum und Sozialdemokratie" zu lesen: „Der «Ulk» gab, als das in Rennes gegen Dreyfus gefällte Urteil bekanntgeworden war, seiner Stimmung über dasselbe in folgendem Gedicht Ausdruck: „Horch! In Rennes die Glocke hallt, und sie ruft das Volk zur Messe, Lumpenpack und Staatsanwalt, 158

Bürgermädel und Mätresse und der Bauer macht sein Kreuz vor dem Christ und seinen Jüngern aus der Nase ein Geschneuz holt er mit denselben Fingern und das Pfäfflein gurgelt leis, und es neigt die fromme Glatze und des Bäuchleins weiter Kreis wackelt mit bei jedem Satze — rechter Hand und linker Hand ehrt das Volk die Jesuiten, der Sutanen schmutzigen Rand küssen fromm die Hingeknieten, und ein hoher General, den noch ein paar Lügen peinigen, läßt sich von Gewissensqual in der stillen Beichte reinigen." Wegen dieses Gedichtes sind die Verantwortlichen, nämlich (wie der Germania v o m 2 0 . 9. 1 8 9 9 zu entnehmen ist) der Verleger Rudolf Mosse, der Redakteur Arthur Levysohn und der Dichter Mehring,

inzwischen auch schon der Vergessenheit anheimfallenden Walter

Siegmar

wie die beiden anderen Jude und nur noch als Vater des Mehring

bekannt,

in

ein

Strafverfahren

Dichters

verwickelt

und

Mehring im ersten Rechtszug zu einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten verurteilt worden. Obwohl auch der Oberreichsanwalt die Aufhebung des Urteils und Freisprechung Mehrings beantragte 1 1 6 , verwarf das Reichsgericht mit Urteil vom 2 7 . 3. 1900 1 1 7 die Revision unter anderem mit folgender Begründung: „Ohne rechtlichen Irrtum wird [vom Erstrichter] dargelegt, daß der Angeklagte absichtlich durch so beschaffene Äußerungen Einrichtungen und Gebräuche der römisch-katholischen Kirche gröblich verhöhnt und letztere als schuldige Ursache des von dem Kriegsgericht zu Rennes gegen den Hauptmann Dreyfus gesprochenen Urteils hingestellt, und in dem erkennbaren gehässigen Bestreben, in ihren Einrichtungen und Gebräuchen die Gesamterscheinung der katholischen Kirche anzugreifen, die katholische Kirche selbst beschimpft hat. Bedenkenfrei werden das Meßopfer, in dem darauf hingewiesen wird, daß es als Darstellung und Erneuerung des Opfers am Kreuze der Mittelpunkt des katholischen Gottesdienstes ist, und die Beichte, da sie nach katholischer Lehre neben Reue und Genugtuung einen wesentlichen Bestandteil des Bußsakramentes bildet, den Einrichtungen, die allgemeine Übung der Katholiken, sich zum Zeichen der Verehrung und zum Andenken Jesu zu bekreuzigen, aber den Gebräuchen der Kirche zugerechnet. In Ubereinstimmung mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts wird 159

ferner angenommen, daß das Priestertum eine Einrichtung der katholischen Kirche sei, und festgestellt, daß der Angeklagte dasselbe, in dem er es als Deckmantel für Frömmelei und Genußsucht hinstellte, gröblich verhöhnt und herabgewürdigt hat. Es ist [allerdings] rechtsirrig, wenn der erste Richter den 1540 bestätigten, 1773 aufgehobenen und 1814 von Papst Pius V I I . allgemein wieder hergestellten Orden der Jesuiten als eine Einrichtung der katholischen Kirche und durch die Beschimpfung des Ordens eine kirchliche Einrichtung als unmittelbar betroffen ansieht. Von Bedeutung kann es nicht erachtet werden, daß der Jesuitenorden in Deutschland nicht zugelassen ist. D a ß aber mittels der gegen den Jesuitenorden gerichteten Beschimpfung die kirchliche Einrichtung der geistlichen Orden als solche beschimpft sei, wird nicht ausgesprochen. Es kommt indes hierauf nicht an, da in dem Urteil unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird, daß der Angeklagte den von ihm gewollten E r f o l g durch seine Äußerungen über die Messe, die Beichte und das Priestertum die katholische Kirche selbst zu beschimpfen".

Dieses Urteil des Reichsgerichts vom 27. 3. 1900 läßt sich nur vor dem Hintergrund des in ihm erwähnten Dreyfus-Prozesses würdigen, wenn auch nicht ganz verstehen. Bekanntlich wurde der französische Hauptmann jüdischer Religion Dreyfus, der im Oktober 1894 wegen angeblicher Spionage zugunsten Deutschlands zu Degradation und lebenslänglicher Verbannung nach Cayenne verurteilt worden war, zum Abschluß eines seit 1897 tobenden Kampfes um das Urteil, in dem sich Zola mit seinem am 10. 1. 1898 erschienenen „J'accuse" berühmt, aber auch straffällig gemacht hatte, durch Urteil des Kriegsgerichts in Rennes von 1898 wieder, und zwar diesmal zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil mußte sich nicht weniger als das vorhergegangene für den deutschen Betrachter, also auch für die Richter des Reichsgerichts, als ein Fehlurteil darstellen. Hatte doch die deutsche Regierung, zu deren Gunsten Dreyfus Spionage getrieben haben sollte, von Anfang an (und wie sich später herausstellte, völlig zu Recht) mit allem Nachdruck diesen Vorwurf nicht nur bestritten, sondern auch widerlegt. Die neuerliche Verurteilung Dreyfus' war daher ein schwerer Schlag auch gegen Deutschland, genauer gegen den protestantischen und preußischen Geist 118 , der nach der Vorstellung der französischen Revanchisten im hohen katholischen Klerus und in der Generalität das damalige Deutschland beherrschte. Um so gelegener, möchte man meinen, mußte Deutschland und damit seinem obersten Gericht ein Gedicht kommen, das in scharfer, ja gehässiger Form den katholischen Klerus und die französische Generalität angreift. Dem war 160

nicht so: Das Reichsgericht verurteilte das Gedicht und billigte damit, wenn auch nicht unmittelbar, das Urteil des Kriegsgerichts in Rennes und so den von diesem und von den französischen Revanchisten erhobenen Vorwurf, Dreyfus habe Spionage zugunsten Deutschlands betrieben, und dies, obwohl dieser Vorwurf, wie ihm bekannt sein mußte, von der deutschen Regierung widerlegt worden war. Es rührte das Reichsgericht auch nicht, daß der Präsident der französischen Republik seiner Meinung über das Urteil sogleich dadurch Ausdruck verliehen hatte, daß er Dreyfus begnadigte. Urteil blieb eben Urteil, mochte es auch das offenkundige Fehlurteil eines französischen Kriegsgerichts sein. Und die Angriffe des Gedichtes gegen den in der breiten öffentlichen Meinung der Mitschuld an dem Urteil bezichtigten katholischen Klerus war, um ein jetzt übliches häßliches Wort zu gebrauchen, als Aufhänger für die Verurteilung des Gedichtes und der an seiner Abfassung und Verbreitung Beteiligten gerade recht. Damit konnte man obendrein der mächtigen katholischen Partei Deutschlands, dem Zentrum, seine Reverenz erweisen und einem zum mindesten unterschwelligen Antisemitismus einen gewissen Ausdruck verleihen. Um den gleichen Zusammenklang von politischem Katholizismus und Antisemitismus ging es wohl bei einem Vorfalle in Wien. Den Mittelpunkt dieses Vorfalls bildete der Schriftsteller Dr. Theodor Herzl, der sich als Lustspieldichter überaus beliebt, als Berichterstatter einer Wiener Zeitung im 1. Dreyfus-Prozeß einen gewissen Namen und durch das 1895 unter dem Eindruck dieses Prozesses entstandene Buch „Der Judenstaat", die Bibel des politischen Zionismus, und durch die 1897 erfolgte Gründung der Zionistischen Weltorganisation, deren erster Präsident er wurde, bekannt, aber wohl auch verdächtig gemacht hat. 1898 nun sollte Herzls Lustspiel „Unser Käthchen" im Burgtheater aufgeführt werden. Vorher wurde es von der k. und k. Generalintendanz der k. k. Hoftheater, der es bestimmungsgemäß vorzulegen war, dem hier seit 26. 9. 1898 die Zensur ausübenden Hof- und Ministerialrat Dr. Emil Jettel von Ettenach119 übermittelt. Dieser hatte gegen die Aufführung des Stückes im Burgtheater nichts einzuwenden. Die k. und k. Generalintendanz der k. k. Hoftheater erteilte daher mit Intimat vom 18. 12. 1898 dem Burgtheater die Erlaubnis zur Aufführung des Lustspiels. Dieses setzte daraufhin das Stück auf seinen Spielplan. Plötzlich, nämlich am 7. 1. 1899, erhielt das Burgtheater ein Intiu

Leiss, Kunst im Konflikt

161

m a t der k. und k. Generalintendanz der k. k. H o f t h e a t e r , in dem u. a. ausgeführt ist: „Verschiedene, mir nachträglich aufgestiegene Bedenken, welche insbesondere den letzten Act betreffen, veranlaßten mich, meine Bedenken gegen die Aufführbarkeit des gedachten Stückes S. D. dem Ersten Obersthofmeister zu unterbreiten. S. D. hat sich nach eingehender Würdigung der vorgebrachten Bedenken bestimmt gefunden, die Aufführung von Unser Käthchen im Hofburgtheater zu untersagen. Ich ersuche hiemit gefälligst, die weitere Einleitung behufs Absetzung dieses Stückes vom Spielplan zu treffen" 1 2 0 . Welche Bedenken der k. und k. Generalintendanz aufgestiegen waren und durch sie bei S. D . dem Ersten Obersthofmeister, nämlich Seiner Durchlaucht dem Ersten Obersthofmeister seiner k. und k. Apostolischen Majestät A l f r e d Fürst Montenuovo die Untersagung der A u f f ü h r u n g zu erreichen, läßt sich den Akten nicht entnehmen. Immerhin scheint die Direktion des Hofburgtheaters Herzl gegenüber kein ganz gutes Gewissen gehabt zu haben. Denn schon wenige T a g e später schrieb sie an die k. und k. Generalintendanz der k. k. Hoftheater: „In der Anlage erlaubt sich die ergebenst gefertigte Direktion 3 einaktige Lustspiele von Theodor Herzl, und zwar 1. J love you, 2. Die Causa Hirschkorn, 3. Die Glosse zur hohen Zensur ehrerbietigst vorzulegen. Eine Verpflichtung dem Autor gegenüber, diese Stücke noch in dieser Saison aufzuführen, hat die Direktion höchstens dem Stücke J love you gegenüber. Bei der Annahme dieser Stücke hat die Tatsache mitgesprochen, daß sie vom Verfasser des Lustspiels Unser Käthchen herrühren; entscheidend ist aber doch die Überzeugung gewesen, daß sich aus beiden modernen Stücken lustige Theatererfolge herausschlagen lassen und daß das Versdrama Die Glosse sich für eine gelegentliche Wohltätigkeitsmatinee eignet." Der von der k. und k. Generalintendanz der k. k. angegangene Zensor äußerte sich a m 7. 2. 1899:

Hoftheater

„Gegen die Aufführung dieser Stücke obwaltet vom Standpunkt der Censur kein Anstand. In der Glosse wird jedoch erst bei der Probe beurteilt werden können, ob das Lied des Aimeric nicht einer Milderung bedarf. Ferner verlangt in J love you die Szene zwischen Franz und Eva eine sehr diskrete Darstellung, um nicht anstößig zu wirken. Auf S. 5 dieses Stückes wäre das Wort Ehebrecherin durch ein anderes zu ersetzen." A m 12. 3. 1899 erging jedoch folgendes Intimat an die Direktion des k. k. H o f b u r g t h e a t e r s : 162

„Die mit Bericht vom 14. Jänner 1899 anher vorgelegten Einakter von Theodor Herzl wurden von der Zensur genehmigt. Die Aufführung der beiden Einakter Glosse und Causa Hirschkorn im Hofburgtheater kann aus den mündlich bekanntgegebenen Gründen nicht zugelassen werden. Gegen die Aufführung des Lustspiels J love you findet die Generalintendanz der k. k. Hoftheater nichts einzuwenden und erteilt hiermit gegen Beachtung der in den in Abschrift mitfolgenden Zensurbemerkungen enthaltenen Vorbehalte und der am Stück selbst vorgenommenen Streichungen die Bewilligung zur Aufführung desselben"121. Welche „Gründe" zur Untersagung der Aufführung der „Causa Hirschkorn" und der „Glosse" geführt haben, läßt sich aus den Akten nicht ersehen. Sie dürften sich aber von den vorerwähnten „Bedenken" nicht sonderlich unterschieden haben. Sie mögen die Direktion des Hofburgtheaters auch bewogen haben, das zur Aufführung freigegebene Bühnenwerk J love you nicht zur Aufführung zu bringen. Herzl selbst schweigt sich in seinen Tagebüchern darüber aus. Doch könnte man sich, auch nach ihrem Inhalt, sehr wohl vorstellen, daß die auf möglichst ungestörte Assimilation bedachten Kreise der wohlhabenden Wiener Juden die ohnehin antisemitisch sehr heiße Luft 122 nicht durch die Aufführung von Stücken des ihnen höchst mißliebigen Herzl noch mehr angeheizt wissen wollten und daß sie sich mittels ihrer vielfältigen Beziehungen zum Wiener Hochadel hinter diesen steckten und die Untersagung der Aufführung seiner Stücke erreichten. Man könnte sich aber auch vorstellen, daß die allzu nahen Beziehungen, die der Präsident der zionistischen Vereinigung um derentwillen mit den Herrscherhöfen in Berlin und Karlsruhe unterhielt, seiner Herausstellung im Wiener Hofburgtheater nicht gerade sehr förderlich war. Herzl selbst vermerkt nur in seinen Tagebüchern 123 unter dem 14. 10. 1899: „Gestern las ich noch vor der Abreise im Burgtheater den Schauspielern «Unser Käthchen» vor. Ich wollte auch da ein fait accompli schaffen", nachdem er unter dem 11. 10. dort vorgetragen hatte: „Ich bin vom Kaiser [Wilhelm II.] eingeladen, mit nach Palästina zu fahren" 124 . Was allerdings Herzl mit seiner Bemerkung vom 14. 10. 1899 meinte, insbesondere ob er damit das bewußte Ende seiner dichterischen Tätigkeit andeuten wollte, sei dahingestellt. Im nächsten Jahre 1901 haben die preußischen Minister des Innern und „der geistlichen etc. Angelegenheiten" ihre Verfügung „betrefli

163

fend öffentliche Darstellungen aus der biblisdien Geschichte des Alten und Neuen Testaments" bekanntgemacht. Sie sollte sehr rasch erhebliche und weitreichende Bedeutung erlangen. Denn eben 1901 wurde des damals sehr berühmten Dichters Paul Heyse 1889 geschriebenes Bühnenwerk „Maria von Magdala" der Berliner Zensurbehörde zur Genehmigung der Aufführung vorgelegt. Diese konnte die Erlaubnis selbst nicht erteilen, sondern bedurfte dazu der Genehmigung durch die eben genannten Ministerien125. Diese lehnten ungeachtet dessen, daß das Bühnenwerk in Bremen am 12. 10. 1901 klaglos über die Bretter gegangen war, am 17. 1. 1902 die Genehmigung ab. „Der Inhalt der Dichtung scheint in mehreren Punkten geeignet, das religiöse Empfinden der christlichen Bevölkerung zu verletzten, da die A r t der V e r wertung der Person und der letzten Leidensgeschichte Christi Anstoß geben. Insbesondere ist dies der Fall, indem die Kreuzigung Christi mit dem Entschlüsse eines buhlerischen Weibes in Beziehung gesetzt wird, ob dieselbe sich der sinnlichen Leidenschaft eines A n v e r w a n d t e n des römischen Landpflegers preisgeben will. W i r finden daher keine Veranlassung, von dem Grundsatz, nach welchem biblische S t o f f e nicht zu dramatischen Aufführungen zu verwenden sind, eine Ausnahme eintreten zu lassen" 12 ".

Die gegen die Versagung der Genehmigung eingereichte Klage zum Bezirksausschuß wies dieser am 8. 4. 1902 aus formalen Gründen ab. Heyse arbeitete nun das Bühnenwerk etwas um und ließ es am 29. 4. 1902 erneut zur Genehmigung einreichen. Diese wurde am 7. 5. 1902 versagt, weil die Änderungen unwesentlich seien. Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig Klage zum Bezirksausschuß erhoben, der am 7. 10. 1902 das Verbot der Aufführung aufhob. In der Entscheidung war u. a. ausgeführt, der Bezirksausschuß habe „zu prüfen, ob bei einem Stück wie dem vorliegenden die Gefahr einer Verletzung der öffentlichen Sitte und Ordnung nicht bloß eine entfernte mögliche, sondern auch eine unmittelbar drohende, nahe sei", und diese Frage müsse er verneinen. Bei dem Publikum des Lessingtheaters sei das nicht zu befürchten. Die Heysesche Behandlung des Judasmotivs könne nicht Anstoß erwecken; berufene Theologen hätten längst das Motiv zum Verrat bei Judas anderswo gesucht als in den 30 Silberlingen, und lange vor Heyse habe man als Hauptmotiv bei Judas seinen ungemessenen Ehrgeiz und sein Streben nach äußerer Macht, nach Verwirklichung des irdischen Reiches des Messias hervorgehoben. Das neue Motiv der Eifersucht könne 164

nicht stören, „ d a M a r i a selbst in Worten, die eines wahren Jüngers Christi würdig sind, ihre rein geistige Liebe zum Erlöser und ihre Wiedergeburt ihrem einstigen Anbeter gegenüber in schärfster F o r m betont". Wenn der Kreuzestod Christi mit der möglichen Hingabe Marias an den Römer Flavius in Verbindung gebracht werde, so sei darauf zu erwidern: „Die Zuhörer — und besonders die religiösen Zuhörer (welche doch im eigentlichen Sinne diejenigen sein könnten, welche Anstoß nehmen) wissen, daß jede Art irdischer Versuchung an den Erlöser herangetreten ist, ja, daß gerade deshalb, weil er der Versuchung widerstanden und sie überwunden hat, er zum Gottmenschen wurde. Es ist also diese dichterische Freiheit dem Sinne nach nichts anderes, als was in anderer Form schon in der Heiligen Schrift enthalten ist. Es kommt aber in dem Stück hinzu, daß der Erlöser ja gar nichts von dieser entfernt nur möglichen Versuchung (durch Sünde gerettet zu werden) wissen kann." Die Verwendung der Bibelworte in ihrer jetzigen Fassung sei völlig unbedenklich. Kernpunkt des D r a m a s sei die ungeheure Wirkung der Person des Heilands auf die verschiedenen Charaktere; Heyse folge darin durchaus der Heiligen Schrift: Maria werde wiedergeboren, H a n a n j a werde bekehrt, sogar der genußsüchtige N e f f e des Pilatus könne sich dem Eindruck des sterbenden Erlösers nicht entziehen; in J u d a s bewirke die böse T a t Reue und innere und äußere Vernichtung. „ N a c h allem d e m " , so schließt das Urteil, „erscheint das Stück vielmehr eine Verherrlichung der dem christlichen Bewußtsein besonders werten Passionsgeschichte, die in etwas anderer F o r m dem modernen Menschen nahegebracht wird" 1 2 7 . Auf die hiergegen vom Polizeipräsidium eingelegte Beschwerde hob das Oberverwaltungsgericht in dem auf G r u n d der mündlichen Verhandlung vom 19. 1. 1903 ergangenen Urteil die Entscheidung des Bezirksausschusses auf und untersagte die A u f f ü h r u n g des Bühnenwerkes. In den Gründen des Urteils ist u. a. ausgeführt: „Daß in Schauspielen, die zur Aufführung bestimmt und aufgeführt sind, Personen der biblischen Geschichte Eigenschaften, Handlungen und Beweggründe ihres Tuns oder Unterlassens angedichtet werden, von denen die Bibel selbst nichts weiß, ist zu den verschiedensten Zwecken: um die biblische Geschichte der Menge näherzubringen und verständlicher zu machen, behufs besserer Erklärung einzelner Vorgänge, zur schöneren dichterischen Ausgestaltung usw., von den mittelalterlichen Mysterien und den Passionsspielen an bis in die neueste Zeit hinein geschehen. Es ist insbesondere das Problem, wie Judas Ischarioth zum Verräter werden konnte, schon anderweit in Form eines Dramas psychologisch tiefer als durch die 30. Silberlinge zu lösen ver165

sucht worden (siehe „Literarisches Echo", Jahrg. IV, S. 110). Hiergegen ist auch an sich nichts einzuwenden. Erst die Art und Weise, wie der biblische Stoff verwertet worden ist, und die äußeren Umstände, unter denen dies geschieht, können ein Einschreiten rechtfertigen. In dem verbotenen Drama ist das, was den christlich-religiösen Sinn am tiefsten ergreift und auch nach christlicher Lehre die Grundlage der gesamten christlichen Religion bildet, nämlich die Leidensgeschichte Christi und die Erlösung der Menschheit durch ihn, nicht bloß mit vielem dichterischen, frei erfundenen Beiwerk überwuchernd umgeben, sondern sogar mit den niedrigsten und verwerflichsten menschlichen Trieben in enge Verbindung gebracht. Die sündige Maria glaubt, durch ihre Schönheit Eindruck auf Christus machen, der Hohepriester ihn durch Marias Reize verführen zu können. Das Liebesverhältnis zwischen Judas Ischarioth und Maria und des ersteren Eifersucht tragen dazu bei, daß der Heiland verraten und gekreuzigt wird. Der sinnliche Flavius und die schon bekehrte Maria halten es für möglich, daß Christus auf den Plan zu seiner Befreiung eingehen und durch das unrechte Handeln des einen und eine neue Sünde der andern vor dem Tode bewahrt werden könne, und dem Zuschauer wird so der Gedanke an eine Abhängigkeit des Erlösungswerkes von den Entschließungen anderer, namentlich denen der früheren großen Sünderin Maria, nahegelegt. Ein Stück, dessen Aufführung einen derartigen Eindruck auf den Zuschauer machen muß, stellt sich als ein Angriff auf die christliche Religion dar. Diese aber bildet im Preußischen Staate nach seiner geschichtlichen und verfassungsmäßigen Gestaltung einen Teil der öffentlichen Ordnung" 1 2 8 . Wieder also ist es eine unübliche Darstellung von Geschehnissen aus der christlichen

Heilsgeschichte,

die das

religiöse E m p f i n d e n

der

Menschen in einem S t a a t verletzt, weil die christliche Religion nach der geschichtlichen und verfassungsmäßigen Gestaltung des Preuß. Staates „einen Teil der öffentlichen", also der bürgerlichen Ordnung bildet. Dagegen half alles Wettern nichts, das der Abgeordnete Müller-Meiningen in der Sitzung des Deutschen Reichstags v o m 19. 2. 1903 aufbot. Nicht einmal V o r w ü r f e wie der: „Seit vielen Jahren ist kein schmählicherer Streich der Zensur in Preußen begangen worden, als durch das Verbot des Stückes von Paul H e y s e " , nicht einmal Behauptungen wie die: „ E s ist mir nicht ganz klar, ob das preußische O V G recht hat, wenn es von einem christlichen S t a a t spricht. Soviel ich weiß, leben wir in einem modernen paritätischen Staate, nicht aber in einem einseitig christlichen S t a a t "

oder

die

Verlesung des Protestbriefes Heyses an den Kieler Goethebund vermochte das hohe H a u s zur Erregung, geschweige denn zu irgendeiner H a n d l u n g zu veranlassen 1 2 9 . 166

„Jedermann" war eben der Auffassung, daß der „Altar" einen Teil der öffentlichen Ordnung, ja ihrer Stüzen, bildete, deren Untergrabung mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. „Jedermann" war auch der Auffassung, daß die deutschen Diplomaten einen Teil der öffentlichen Ordnung, genauer eine der Stützen des „Thrones" bildeten, die man vor Verunglimpfung zu schützen habe. Um so verärgerter war man daher, als man in der Nr. 6 des 8. Jahrgangs des Simplizissimus, die in den meisten erhaltenen Bänden dieses Jahrgangs durch eine andere ersetzt ist, das als Abb. 12 wiedergegebene Bild sah 1 3 0 . Dieses Bild konnte um so weniger hingenommen werden, als das jedenfalls im damaligen Deutschland fast ausschließlich aus Adeligen bestehende diplomatische Korps sich als eine der wichtigsten und stärksten Stützen des Thrones zeigte. In den Münchener Zeitungen war daher Anfang Juni 1903 zu lesen: „Vor dem Schöffengericht beim A G München I gelangt heute ein für die Öffentlichkeit, Presse und Kunst interessanter Fall zur Verhandlung. Als Angeklagte erscheinen der bekannte seit dem Skandal wegen der Simplizissimusnummer zur Palästinareise Kaiser Wilhelm II. [hierüber S. 163] sehr mißliebige Zeichner des Simplizissimus Thomas Theodor Heine und der verantwortliche Redakteur [dieser Zeitschrift], Nach der Anklage sollen beide dadurch groben Unfug verfügt haben, daß sie in Nr. 6 des laufenden Jahrgangs ein Bild, betitelt «Gesandtenerziehung», veröffentlicht haben, durch welches, wie die Anklage annimmt, bei dem anständigen, gebildeten Publikum Ärgernis erregt wird. Diese Nr. 6 ist beschlagnahmt worden."

In dem Verfahren

hielt

der

als

Sachverständiger

vernommene

Schriftsteller Dr. Max Halbe „den Simplizissimus für das beste Ventil der öffentlichen Meinung und derartige Ventile brauche man. Beim Anblick des Bildes hat sich der Sachverständige durchaus nicht geärgert, sondern nur herzlich darüber gelacht. Er hatte nicht das Gefühl, als ob ein Körperteil, sondern ein Turngerät dargestellt werden soll. Es hat gar keinen realen Vorgang dargestellt, sondern eine abstrakte Empfindung. Das Bild ist nicht unsittlich, es ist nur rein komisch. Es handelt sich um Dinge, die jeder Mensch hat. Diese sind in sublimer Weise dargestellt, man kann sich hierüber wohl politisch ärgern, aber hieran Anstoß zu nehmen, besteht kein Anlaß. Das Urteil lautete für jeden der beiden Angeklagten wegen groben Unfugs, verübt durch die Presse, auf eine Geldstrafe von je 3 0 , — Mark. In den Gründen des Urteils ist u. a. gesagt: 167

©efönbiett--(£räief)ttttg

(3eict;nung »on $(>• St), jäeine)

biirfte ni#t allgemein belarott fein, ba£ in Berlin ein Snftitut befielt, ba$ fid) auifcjließlicf) mit ber Joeraniiilbung junger Silomaten befafji. 9Jur wer biefe ecjmle mit erfolg abfotsiert f>at, befifct bie gä^igleiten, bie jur "Betleibung eine« auswärtigen ®efanbt= fcfjaftSpoftenS unbebingt niStfg finb. Sur$ Mtematif^e Schulung ift ei gelungen, bie legten Spuren 'SiSmattffciten SitettantentumS au$ unferer auswärtigen ^otitif ju tilgen. Abb. 12

„Jeder objektive Beschauer des Bildes erkennt in der dargestellten Vorrichtung sofort die Nachahmung des entblößten menschlichen Gesässes, in deren gleichfalls erkennbar gemachte Öffnung junge deutsche Diplomaten, auf 168

welche sich nach dem Texte das Bil'd bezieht, unter Leitung eines Vorgesetzten einzuschliefen haben. Es ist die bildliche Wiedergabe des bekannten deutschen Ausdruckes, welcher für unwürdige Schmeicheleien gebraucht w i r d : Er schlieft einem, d. h. einem anderen in den Hintern hinein. Diese Darstellung ist geeignet, wohlberechtigte Empfindungen des Anstandes und der Sitte sowie die nationalen Gefühle der Allgemeinheit, speziell des deutschen Publikums, auf das Tiefste und Gröblichste zu verletzen. Jeder anständig denkende Mensch erachtet die Entblößung der hier in Frage kommenden menschlichen Körperteile lediglich der Darstellung dieses Körperteils selbst wegen für ungehörig und unflätig. Gerade so wie das Hinausschreien des mehr erwähnten Ausdruckes, welcher hier bildlich dargestellt wird, insbesondere in seinem drastischen Wortlaute oder das Herumtragen eines ähnlichen Bildes an einer Plakatstange durch die öffentlichen Straßen, die allgemeine Entrüstung und Ärgernis und, unmittelbar hiedurch veranlaßt, ein Einschreiten der Menge oder eines Teiles derselben gegen die Störer der öffentlichen Ordnung herbeiführen würde, kann auch bei einer unbestimmten Anzahl von Menschen dieses Bild samt dem dazu gehörigen Texte eine gleiche Wirkung hervorbringen. Gesteigert wird diese Möglichkeit noch durch die gleichzeitige Verletzung der nationalen Gefühle. Es ist zweifellos, daß durch das Bild und dem dazu gehörigen Texte die Vertretung des Deutschen Reiches bei außerdeutschen Staaten und die Leitung dieser Vertretung in gröblichster Weise geschmäht wird. Es wäre durchaus nicht ausgeschlossen, daß durch diese ungebührliche Belästigung des Empfindens der Allgemeinheit der eine oder andere oder gar mehrere unmittelbar hätten veranlaßt werden können, gegen die Urheber dieser Darstellung, gegen die Verbreiter derselben, gegen die Aussteller in den öffentlichen Schaufenstern tätlich vorzugehen. D a r a n ändert auch nichts, wenn die heute vernommenen Zeugen und Sachverständigen nichts von einer Belästigung [der Allgemeinheit], sondern im Gegenteil über die treffende und künstlerische Ausführung des fraglichen Gedankens und der bezeichneten Kritik eine wahre Freude und Befriedigung empfunden haben. Die Aussage dieser Herren in Ehren — ohne daran im mindesten zu zweifeln, daß ihre Gutachten und ihre Angaben auf innerster und wahrster Überzeugung beruhen, stellen sie doch nur einen individuell begrenzten Personenkreis d a r ; sie geben lediglich die Meinung und die Anschauung eines im Verhältnisse zur großen Allgemeinheit sehr kleinen Kreises von Anhängern der modernen Kunst und der modernen Literatur. D a s Nichtempfinden und das Nichtfühlen dieses kleinen Kreises, was das Publikum als solches ungebührlich belästigt und erregt, kann bei Bemessung der Schuld nicht in Betracht kommen. Es m a g ihnen zugegeben werden und ist überdies allenthalben bekannt, daß der Simplizissimus zu den geistvollsten Presseerzeugnissen seines Genre gehört und daß seine Mitglieder wissenschaftlich gebildete und befähigte Männer und ein Teil derselben insbesondere als Zeichner Künstler sind und Künstleransehen genießen. Es ist daher [mit den Sachverständigen] auch anzunehmen, daß der Simplizissimus bei Verfolgung seines Zweckes, die allgemeines Interesse erregenden Ereignisse des Tages von seinem Standpunkt aus politisch und satirisch zu beleuchten,

169

dieses nur in einer nach Form und Inhalt künstlerischen Weise zu tun bemüht ist und selbst dann, wenn seine Charakteristik eine derbe zu sein scheint, eine wirklich rohe und gemeine Darstellung von vorneherein nicht beabsichtigt ist. Der subjektive Tatbestand des § 360 Ziffer 11 StGB erfordert aber auch eine solche auf Verübung groben Unfugs gerichtete Absicht nicht. Beide Angeklagte geben selbst zu, die Veröffentlichung gewollt zu haben und beide wären vermöge ihrer Bildungsstufe wohl in der Lage gewesen, diesen erwähnten Erfolg vorauszusehen, zumal sie sich bewußt sein mußten, daß ihre Presseerzeugnisse nicht bloß zur Kenntnisnahme eines kleinen Kreises moderner Künstler und moderner Literaten dienen, sondern für die große Öffentlichkeit. Sie mußten daran denken, daß unter der großen Allgemeinheit doch nur verhältnismäßig wenige sind, die, entzückt von ihrer Kunst, das Körperliche nicht beachten, sondern daß umgekehrt die große Mehrzahl nichts sieht von der Kunst und in dem, was sie im gegebenen Falle sieht, eben nur das Körperliche schaut und darin eine große Ungehörigkeit erblickt." In der Münchener Presse nahmen diese Urteilsgründe folgende Form an: „Es ist zweifellos, daß der Simplizissimus eines der geist- und kraftvollsten Preßprodukte der Neuzeit ist. Seine Mitarbeiter sind geistig hervorragende Menschen und kein Zweifel kann bestehen, daß der Simplizissimus nicht wie andere Bildblätter obszöne Darstellungen wählt, um der Obszönität willen, sondern nur zur Erreichung des gewollten Zweckes. Eine andere Annahme ist bei der hohen Stellung, die das Blatt einnimmt, völlig ausgeschlossen. Wer aber das Leben kennt, für den ist klar, daß hier etwas dargestellt werden wollte, was öffentlich in dieser nackten und unverhüllten Weise nicht dargestellt zu werden pflegt. Was die Sachverständigen heute ausführen, ist das Urteil von Künstlern, und wenn der Simplizissimus nur in Künstlerhände komme, bestünde sicher kein Grund, gegen ihn einzuschreiten. Aber er ist um 15 Pfg. überall zu kaufen und deshalb hat ihn das Gericht auch nicht lediglich vom künstlerischen Standpunkt zu beurteilen, sondern muß ihn mit den Augen des Laien betrachten. Wo kommen wir hin, wenn nur das zu bestrafen wäre, was nicht künstlerisch ist? Es ist noch die Frage zu untersuchen, in welcher Weise durch das Bild der äußere Bestand der Rechtsordnung gefährdet wurde. Nimmt man an, daß jemand den Inhalt der Zeichnung auf der Straße ausrufen wollte, so würde er zweifellos von anderen Leuten zurechtgewiesen werden. Auch könnten beim Herumzeigen des Bildes in einem öffentlichen Lokale diejenigen, die sich darüber ärgern, dadurch zu Exzessen veranlaßt werden. Damit sind die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Heine wäre es bei seiner künstlerischen Meisterschaft und bei seinem Witz möglich gewesen, die Sache so zur Darstellung zu bringen, daß kein Anstand erregt wurde. Ein Meister wie er ist dazu fähig." Das Urteil, zumal seine Berufung auf die Kunst, wurde mancherorts als glatter Hohn empfunden. So schrieb der die katholischen Belange vertretende Bayerische Kurier am 6. 6. 1903: „Wir müssen 170

schon im Interesse des guten Geschmacks gegen die Auffassung protestieren, als ob bei Produkten, wie die in Rede stehenden, noch irgend ein künstlerisches Interesse obwalte. Es ist überhaupt die reinste Ironie, wenn behauptet wird, Witzblätter wie der Simplizissimus wirkten im bildenden Sinne." Und er hieb am 7./8. 6. 1903 nochmals in die gleiche Kerbe: „Die rüde Unflätigkeit hat mit der Muse der Kunst ebenso wenig zu tun, wie ein gewisses Borstentier mit dem Ideal der Reinheit. Das ist keine Kunst, das ist Gemeinheit." Man spürt förmlich, wie hart dieses Sprachrohr des Altares und seine zum Teil auch adeligen Hintermänner das gegen die Stützen des Thrones gerichtete Bild getroffen hat. Das mochte wohl die Anklagebehörde veranlaßt haben, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Das hinwiederum genügte, um die Befürworter des Urteils auf den Plan zu rufen und, ob zu Recht oder nicht, davon zu schreiben, daß die Berufung „auf sanften Druck der Münchener preußischen Gesandtschaft" eingelegt worden sei. In diesem Sinne ließ sich insbesondere der in anderem Zusammenhang zu erwähnende, damals in München sehr bekannte Schriftsteller Otto Julius Bierbaum am 26. 8. 1903 einläßlich in der Frankfurter Zeitung aus. Was sich nun im königlich bayerischen Staatsministerium der Justiz abgespielt hat, entzieht sich infolge der kriegsbedingten Vernichtung dieser Akten unserer Kenntnis. Am 6. 7. 1903 erging jedenfalls eine Entschließung von ihm an die Staatsanwaltschaft beim kgl. Landgericht München I, wonach das Ministerium damit einverstanden war, daß die Berufung zurückgenommen werde. Wenige Tage später, am 23. 7. 1903, berichtete sie131: „Euer Hochwohlgeboren bringe ich unter Vorlage der Nr. 7 der periodischen Druckschrift «Die Auster» ehrfurchtsvollst zur Anzeige, daß ich am 7. lfd. Mts. wegen des auf S. 1 befindlichen höchst anstößigen Bildes mit der Überschrift «Protektion» (Abb. 13) gegen den verantwortlichen Redakteur wegen Vergehens wider die Sittlichkeit aus § 184 Ziffer 1 StGB Anklage durch Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung bei dem Untersuchungsrichter erhoben und gleichzeitig die sofortige Beschlagnahme dieser Nr. der Auster beantragt habe. Diesen Anträgen hat der Untersuchungsrichter noch am gleichen Tage entsprochen. Bezüglich des Zeichners des beanstandeten Bildes habe ich eine Antragstellung vorbehalten, da die Persönlichkeit desselben noch nicht genügend feststeht."

Das war natürlich nicht richtig. Denn der Marquis de Bayros, der die Zeichnung verfertigt und auch signiert hatte, war damals längst kein Unbekannter mehr, wenn er auch, wie ein Vergleich dieser 171

^tofefftott

flirrte, grceliettj ftrengeit ficf) bei betn ©eixmfen on baS «Uoancetnetti meines 9W«meS p fci>r an!" Abb. 13

Zeichnung mit seinen späteren stark von Beardsley beeinflußten zeigt, diesen seinen eigentlichen Stil noch nicht gefunden hatte. Am 13. 7. 1903 berichtete die Staatsanwaltschaft München I nochmals: „Euer Hochwohlgeboren bringe ich im Nachgang zu meinem Bericht vom heutigen weiter zur Anzeige, daß ich heute wegen des in der eben erschienenen N r . 8 der periodischen Druckschrift «Die Auster» enthaltenen Bildes mit der Uberschrift «Aufbesserung» 172

Slufbeffetrntg

,,3í)t t)aí>t unt ©ei)altsser^öt)ung nacÇgejuc^t: — biéf jcÇt í>aí>í 3f>r 30 2 K a t í 3 K o n a t ¿ i a I a i r l — Silfo g u t ! toerb' icf) r frei unb 20 SDÌarf =Konatégeí)alt!" Abb. 14

173

wegen Vergehens wider die Sittlichkeit gegen den verantwortlichen Redakteur Anklage durch Eröffnung der Voruntersuchung bei dem Untersuchungsrichter erhoben und gleichzeitig die sofortige Beschlagnahme dieser Nr. der Auster beantragt habe. Diesen Anträgen wurde von dem Untersuchungsrichter sofort stattgegeben. Bild und Text sind noch schamloser wie das in Nr. 7 enthaltene Bild mit der Überschrift «Protektion»." Jedermann mußte nach solchen Berichten annehmen, daß die Verurteilung des Redakteurs und des Zeichners solch „schamloser" Bilder nur eine Frage der Zeit sein würde. Eine Verurteilung beider erfolgte jedoch nicht. Vom Zeichner war überhaupt keine Rede mehr. Wahrscheinlich hatte er sich, wie auch später (S. 209) wieder, in seine österreichische Heimat abgesetzt. Uber den Redakteur berichtete die Staatsanwaltschaft München I der vorgesetzten Behörde am 3. 12. 1903: „Unter Bezugnahme auf die Vorlagen vom 13. und 28. 7. 1903 beehre ich midi zu berichten, daß der Redakteur durch Beschluß der Strafkammer vom 24. 9. 1903 aus subjektiven Gründen bezüglich des ihm zur Last gelegten Vergehens wider die Sittlichkeit außer Verfolgung gesetzt worden ist. Beschwerde wurde gegen diesen Beschluß als aussichtslos nicht eingelegt. In dem sodann eingeleiteten Verfahren auf Einziehung der Bilder auf Grund der §§ 40, 41 und 42 StGB erging am 1. ds. Mts. Urteil auf Unbrauchbarmachung der Bilder und der zu ihrer Herstellung benützten Platten." Nur dank dem Umstände, daß die Staatsanwaltschaft München I ihren Berichten jeweils eine Nummer der „Auster" beigelegt hatte, sind die beanstandeten Bilder erhalten geblieben. Wenn sie hier wiedergegeben sind, dann nicht wegen ihrer Meisterschaft, sondern nur, um dem Leser ein Bild vom damaligen Stil des Künstlers zu vermitteln. Mitten in den Auseinandersetzungen um Bayros' heute höchstens noch belächelte Zeichnungen ereignete sich ein Vorfall, der rückschauend wie eines der vielen Wetterleuchten erscheinen möchte, die die „Endlösung der Judenfrage" ankündigten. Der Bildhauer und Kunstkartenverleger Sebastian Osterrieder in München hatte im Herbst 1903 im Rahmen einer Reihe von Kunstkarten eine solche nach einem Kupferstich des niederländischen Künstlers Sudeler herausgebracht, die die Ermordung des heiligen Simon von Trient durch Juden darstellt. Sofort nach Er174

scheinen der Karte hat der Rabbiner der Münchener Kultusgemeinde „die Justizbehörden um schleuniges Einschreiten gebeten, da die Verbreitung dieser Karte zweifellos vielseitig Ärgernis erregen werde. Die Staatsanwaltschaft hat, davon ausgehend, daß Osterrieder keineswegs künstlerische Interessen im Auge hatte, sondern den Nachweis eines jüdischen Ritualmords liefern wolle, die Strafeinschreitung nach § 166 StGB eingeleitet. Die Karte wurde beschlagnahmt und die hiergegen erhobene Beschwerde von der Strafkammer des kgl. Landgerichts München I abgewiesen". Dieses behördliche Vorgehen erregte in der bayerischen Presse ungeheueres Aufsehen. Allerorts wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die Kunstkarte eine getreue Abbildung des oben erwähnten „Kupferstiches darstelle, der im kgl. Kupferstichkabinett München als Sehenswürdigkeit aufbewahrt werde 132 und dem Publikum zugänglich sei". Suchte man, wenn auch vergeblich, solcher Art die Kunst und ihre Wiedergabe zu verteidigen, so schlug der die katholischen Belange vertretende Bayerische Kurier in seiner N r . vom 18. 11. 1903 einen ganz anderen Ton an: „Die Beschlagnahme der Künstlerpostkarte soll, wie uns versichert wird, im Einverständnis mit dem Polizeiminister, Herrn von Feilitzsch, erfolgt sein. Wenn sich diese Behauptung bestätigt, dann wundert uns freilich vieles nicht mehr. Jedenfalls aber wäre das christliche bayerische Volk sehr gespannt darauf, zu erfahren, wie H e r r von Feilitzsch diese ganz ungerechtfertigte Polizeimaßregel zu verteidigen imstande ist" 133 . Das ist der Ton gewisser Kreise, die sich gegen Angriffe gegen und Eingriffe in ihre Religion und alles, was mit ihr zusammenhängt, also auch die Verehrung eines angeblich von Juden ermordeten christlichen Kindes, zur Wehr setzen, zumal wenn solche An- und Eingriffe von sogenannter liberaler und gar von jüdischer Seite kommen. Der latente religiöse Antisemitismus, der schon bei den Landtagsberatungen zum Falle Liebermann immer wieder sichtbar wurde, mag auch hier eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. O b er freilich von Erfolg gewesen ist, wissen wir nicht. Denn das Schicksal des Verfahrens beim Bayerischen Obersten Landesgericht, wo es zuletzt anhängig war, ließ sich nicht mehr feststellen. Angesichts der Tatsache, daß altem Herkommen gemäß dort ein Rat und/oder ein Staatsanwalt mosaischer Konfession sein mußte, dürfte der Ausgang des Verfahrens nicht allzu zweifelhaft gewesen sein. Dabei sollte jedoch nicht verkannt werden, daß gerade damals ein Verbot des 175

Bildes gerechtfertigt sein mochte. Die alte unausrottbare Wahnvorstellung von jüdischen Ritualmorden an christlichen Kindern hatte um die Jahrhundertwende wieder allerhand Nahrung erfahren und zu einem breitgestreuten Antisemitismus ebenso geführt wie die an anderer Stelle behandelte Affäre Dreyfus. D a ß dennoch das Ritualmordstück „Rabbi David", gegen das heftig Sturm gelaufen wurde, vom Preußischen Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 22. 9. 19001:14 freigegeben wurde, während die ungleich harmlosere Postkarte aus dem Hause Osterrieder in Bayern dem Verbot verfiel, zeigt jedoch, wie unsicher man in der Beurteilung dieser Fragen und ihrer künstlerischen Darstellung damals war. Höchst heikel war auch eine andere Angelegenheit, über die die kgl. Stadtdirektion Stuttgart am 16. 9. 1904 an das kgl. Ministerium des Innern berichtete: „Im Anschluß erlaube ich mir, das heute ausgegebene Flugblatt des Simplizissimus über die Prinzessin Luise von Coburg zu geneigter Kenntnisnahme zu unterbreiten. Die polizeiliche Beschlagnahme des Flugblattes habe ich nicht für erforderlich erachtet, dagegen habe ich das Pflichtexemplar der kgl. Staatsanwaltschaft mit dem Anheimgeben übermittelt, ob nicht von ihr eventuell richterliche Beschlagnahme wegen Verletzung von § 184 RStGB erwirkt werden will. Zugleich lege ich eine telegraphische Anfrage des Polizeipräsidiums Berlin wegen Beschlagnahme des Flugblattes mit der Bitte um alsbaldige Rückgabe vor." Abb. 15 sh. Faltblatt

Das kgl. Ministerium des Innern vermerkt am 19. 9. 1904: „Am Samstag, dem 17. 9., teilte [der] Oberstaatsanwalt mit, daß er eine Anklage aus § 184 nicht erheben könne, und daß er deshalb weitere Schritte unterlasse" 135 .

Ob das Flugblatt dann vom kgl. preußischen Polizeipräsidium Berlin beschlagnahmt wurde, ließ sich nicht mehr feststellen. Da war es gleichsam ein heiteres Zwischenspiel, daß nach einem Bericht der königlichen Polizeidirektion München an das königliche Staatsministerium des Innern vom 1. 3. 1905 eine Nummer des Simplizissimus wegen des nachstehenden Bildes „durch Verfügung der königlichen Polizeidirektion vom heutigen gemäß §§ 56 Abs. 12, 42a Abs. I R G O mit Kolportage-Verbot belegt worden ist, nachdem die beanstandeten Stellen geeignet sind, in sittlicher Beziehung Ärgernis zu geben" 136 . Das sei nicht wegen des künstlerischen Wertes des beanstandeten Bildes, sondern deswegen erwähnt, weil später (S. 208) be176

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anstandete und wohl eingezogene und vernichtete Bilder des gleichen Künstlers dem Leser nicht mehr vorgestellt werden können, gerade das nachstehende Bild aber einen guten Eindruck von seiner Arbeitsweise vermittelt. ©te ©'flattrige

Doch schon zog eine viel ernstere Wolke am Himmel herauf, der Kunst und Recht gleichermaßen überwölbt: Der (den Titel von Theaterstücken Wedekinds zu wählen) in allen Sätteln gerechte, mit allen Wassern gewaschene und von allen Hunden gehetzte Theater12 Leiss, K u n s t i m K o n f l i k t

177

m a n n Oskar

Blumenthal

hatte, den durch die Entlassung Bismarcks

durch Kaiser Wilhelm I I . entstandenen Zwist zwischen dem T h r o n und seinen Einrichtungen und die sich allmählich ins Mythische steigernde Anhänglichkeit weiter Kreise der Bevölkerung an Bismarck geschickt ausnutzend, ein Theaterstück „ D e r tote L ö w e " geschrieben, das die eben erwähnte Entlassung zum Gegenstand hat. N u n

war

Blumenthal mit den Berliner Theater-(Zensur-)verhältnissen viel zu vertraut, als d a ß er das offen, und viel zu sehr Theatermann, als d a ß er das ungeschminkt getan hätte. Die Vorfälle wurden nach Kastilien und einem dortigen König M a r c o zur L a s t gelegt. Es half natürlich nichts. „Der Polizeipräsident von Berlin hat die Genehmigung zur Aufführung des Stückes aus eigener Machtvollkommenheit in Ausübung der ihm zustehenden Polizeigewalt" versagt. Blumenthal ließ sich das nicht gefallen, rief vielmehr in sicherer Witterung für die Verlegenheit, die er dem Gericht bereiten würde, das sich doch hier nur zwischen zwei Stühle setzen könne, dieses, nämlich das preußische Oberverwaltungsgericht

an. Dieses hob in dem Urteil

vom

19. 6. 1 9 0 5 1 3 7 , aus dem eben ein Satz genommen worden w a r , das Verbot des Theaterstückes u. a. mit folgender Begründung auf: „Nach der gleichmäßigen Rechtsprechung des Gerichtshofs rechtfertigt der Inhalt eines dramatischen Werkes das Verbot seiner Aufführung nur dann, wenn er sich als eine Verletzung bestehender Strafgesetze oder sonstiger Rechtsnormen kennzeichnet. Diese Voraussetzung trifft aber im vorliegenden Falle nicht zu. D a ß der bloße Inhalt des toten Löwen irgendein Strafgesetz verletze, ist von der Polizeibehörde nicht behauptet worden, auch in keiner Weise ersichtlich. Ebenso wenig verstößt er gegen sonstige hier in Betracht zu ziehende Vorschriften. Der Beklagte scheint allerdings in seinem Beschwerdebescheid die Ansicht zu vertreten, es sei in einem monarchischen Staate ohne weiteres, also ohne Rücksicht auf die noch zu erörternde Wirkung der Aufführung auf die Zuschauer als eine Störung der öffentlichen Ordnung anzusehen, wenn Regierungsakte des lebenden Herrschers auf die Bühne gebracht und damit der Kritik des Publikums unterbreitet würden. Dem kann jedoch nicht beigetreten werden. Die Kritik von Regierungsmaßnahmen des Monarchen, welche staatsrechtlich in der Regel auch nicht als dessen Akte gelten, ist an sich nicht unzulässig. Auch der Schaubühne ist die Darstellung zeitgenössischer Regierungsmaßnahmen und der sich anschließenden Konflikte nicht grundsätzlich und auch nicht schon deshalb versagt, weil sie das Publikum zu kritischen Betrachtungen anzuregen vermag. Dagegen würde in einem monarchischen Staate die öffentliche Ordnung dadurch verletzt werden, daß die Person des regierenden Monarchen unmittelbar auf die Bühne gebracht und auf diese Weise der beifälligen oder abfälligen Beurteilung der Zuschauer ausgesetzt würde. Das geschieht jedoch im toten Löwen 178

nicht. Es kann zwar keinen Zweifel unterliegen, daß es sich bei diesem D r a m a nicht um bloße Anklänge an die Verabschiedung des 1. Kanzlers handelt. Diese Vorgänge spielen sich jedoch auf der Bühne in einer F o r m ab, welche nicht geeignet ist, in den Zuschauern die Meinung zu erwecken, der König M a r c o sei mit der Person des jetzt in Preußen regierenden Monarchen identisch. Der Umstand, daß die Handlungen des Königs die Zuschauer in einzelnen Punkten an Handlungen des lebenden Herrschers erinnern mögen, stellt auch in einem monarchischen Staate an und für sich, also ohne Rücksicht auf die von der Aufführung zu erwartende Wirkung, noch keine Verletzung der öffentlichen Ordnung d a r . "

Das Urteil war wahrhaft salomonisch. Es schied sorgfältig zwischen dem Monarchen, genauer dem Thron, und dem, der auf ihm saß, als einer jeder Kritik und damit jeder eine solche Kritik ermöglichenden Darstellung auf der Bühne entzogenen Einrichtung des monarchischen Staates einerseits und dem vom Inhaber des Thrones und seinen Einrichtungen getroffenen, einer Kritik und damit jeder eine solche Kritik ermöglichenden Darstellung auf der Bühne nicht entzogenen Regierungsmaßnahmen andererseits. Der durch die in der breitesten Öffentlichkeit scharf verurteilte Entlassung Bismarcks recht angeschlagene Thron war wieder einmal, diesmal durch die Rechtsprechung, gerettet. Zwei Jahre später schob, wie oben erwähnt, die Neufassung der Bestimmungen über die Majestätsbeleidigungen weiteren Erschütterungsversuchen einen Riegel vor. In München tat man das schon viel früher. Hier hatte man schon nach der am 25. 3. 1852 erfolgten Uraufführung Friedrich Hebbels „Agnes Bernauer" abgesetzt, weil „man das Drama auf die Verhältnisse im damaligen bayerischen Königshaus bezog und politische Demonstrationen veranstaltete"138. Man war auch einer anderen Romanze eines bayerischen Landesfürsten, der Geschichte mit der Lola Montez, gegenüber recht empfindlich. Das mußte der urbayerische Dichter Josef Ruederer erfahren, als er die Geschichte zum Gegenstand einer Komödie („Die Morgenröthe") machte. Ihre öffentliche Aufführung wurde (mit nicht erhaltener Verfügung der königlichen Polizeidirektion München wohl vom Spätherbst 1905) verboten. Dennoch hat „am 16. 11. 1905 der Neue Verein mit Wissen und Kenntnis der Polizeidirektion München vor geladenen Gästen [das Theaterstück] Die Morgenröthe aufgeführt 139 ". Uber die Aufführung konnte man in einer nicht mehr feststellbaren Zeitung vom 21. 11. 1905140 lesen: „Im Münchener Schauspielhaus fand kürzlich vor einem streng geschlossenen Zuschauerkreis eine Aufführung der in München polizei12 •

179

lieh und ministeriell verbotenen 5aktigen K o m ö d i e «Morgenröthe» von Josef Ruederer statt. Z u einem Ereignis konnte die A u f f ü h r u n g wohl erst durch das Verbot werden; die dem Stücke innewohnenden Werte sind gewiß erfreulicher Art und beweisen Ruederers entschiedene Begabung f ü r die G a t t u n g der K o m ö d i e — andernfalls aber in nichts so bedeutend, daß sie eine Ausnahmestellung des Werkes hätten erreichen können." D a , wie erwähnt, die A u f f ü h r u n g ein Ereignis, „der Zulauf ein kollossaler war, so wurde auf den 1. Dezember 1905 eine zweite A u f f ü h r u n g mit denselben Bedingungen angesetzt. N u n , nachdem bereits alle Bedingungen zwischen der Polizeidirektion und dem Verein festgestellt waren, erfolgte plötzlich das Verbot und die Verfügung, daß keine neuen Einladungen mehr ausgegeben werden dürfen" 1 3 9 . Dieses Verhalten der kgl. Polizeidirektion München brachte ihr nicht nur recht harte Worte aus dem Munde bayerischer L a n d tagsabgeordneter 1 3 9 ein. Die Fränkische Tagespost nahm es zum Anlaß, a m 22. 1. 1906, sich hierüber unter der Uberschrift „Bayern, heil Wittelsbach!" auszulassen, wie folgt: „Mit welchem Banausentum und vormärzlicher Bevormundungssucht in Bayern die vielgerühmte Kunstpflege getrieben wird, zeigt die Behandlung des Dramas «Die Morgenröte» von Josef Ruederer. Der Autor hat das Unglück, diese Lola-Montez-Komödie, die im Ausland, d. h. übrigen Deutschland, unbehelligt über die Bretter geht, in — Bayern spielen zu lassen. Das ist zwar auch in Wirklichkeit so gewesen. Aber was kümmert sich der Polizeivorstand darum? Der Geschichtsunterricht [in Bayern] hat der Erwekkung patriotischer Gefühle in besonderer Hinsicht auf die Tradition zu dienen. Lola Montez gehört aber immer noch nicht zur Tradition und so wird sie einfach verboten. Was einem nicht angenehm ist, verbietet man. Das ist das einfachste. Sogar die gesetzlich erlaubte und sollte man meinen: vor jeder Polizeiwillkür geschützte Privataufführung, die in Nürnberg unbeanstandet blieb, wurde in München verboten und bleibt verboten. Die Polizeidirektion München hatte die Wiederholung von Ruederers Morgenröte vor Vereinsmitgliedern und namentlich geladenen Gästen dem Verein ohne jede weitere Begründung untersagt und gleichzeitig der Geschäftsstelle des Vereins durch einen Polizeikommissar verboten, Einladungen und Eintrittskarten zu dieser Vorstellung abzugeben. Gegen diese beiden Verfügungen hatte der Verein Beschwerde zur Kreisregierung eingelegt. Die Kreisregierung hat jedoch die Beschwerde kostenlos verworfen und die vom beschwerde-führenden Verein vorgebrachten Gründe mit der Mitteilung abgetan, daß die geplante Wiederaufführung der Morgenröte im Schauspielhaus nach den gepflogenen Erhebungen als eine öffentliche Vorstellung zu erachten ist. Welcher Art diese Erhebungen waren und warum daraus die Öffentlichkeit der Vorstellung gefolgert wird, ist in der Regierungsentschließung nicht angegeben. Der 180

Verein wird gegen diesen Beschluß noch zum Ministerium des Innern Beschwerde einlegen." Sofef

„Sftorgenröifje"

S i i n g f f beinäi^tigfe fic^> ber 9Künner (Tenfur eine furchtbare S l u f r e g u n g : ® e t ® e i ft b e t t o l a P o n t e s ftmlte in OTiincfjen unb bebrobte b i e ä n f c f ) u l b b e £ b a d t i •• I'd) e n C i m e « . Sie ß e n f u r leinen S e i f t o e r f r a g e n t a n n , w ü r b e fofovt bie ® a r n i f o n unb bie 5 e u e r w e t) r a l a r m i e r t , um bag (Sefpenft j u »erf(f)eucf)en. t o l a foil a u f g e r u f e n fjabert: „ ® i e t e u f e b a b e n w o b l i l n g f f , b a g i d ) a l a D u n c a n < a n 5 e?"

Abb. 17

181

Welchen Erfolg diese hatte, ließ sich nicht ermitteln. Ruederer freilich saß 2 Jahre später im neu gegründeten Zensurbeirat der Kgl. Polizeidirektion München und konnte am 8. 3. 1913 die öffentliche Erstaufführung der Komödie im Münchener Schauspielhaus erleben. Die sich im Verbot von Ruederers „Morgenröthe" kundgebende Einstellung der Kgl. Polizeidirektion München, überhaupt der bayerischen Behörden dieser Zeit, ja sogar des königlichen Hauses mußte bald danach der längst vergessene Dichter Ferdinand Bonn142 wegen seines Dramas „König Ludwig H" 143 verspüren. Im März 1907 befaßten sich mehrere bayerische Ministerien mit dem Bühnenwerk. Das Ergebnis war eine Note des Kgl. Bayerischen Staatsministeriums der Justiz an das Kgl. Bayerische Staatsministerium des Innern vom 27. 3. 1907, in der u. a. ausgeführt ist, es erscheine in hohem Grade zweifelhaft, ob der Inhalt des Dramas mit Aussicht auf Erfolg zum Gegenstand eines Strafverfahrens, das wohl nur auf Grund § 189 StGB eingeleitet werden könnte, gemacht würde144. Die Befürchtung eines solchen Ausgangs der Sache in Bayern veranlaßte die Frankfurter Zeitung schon am nächsten Tage zu schreiben: „Ferdinand Bonns Drama König Ludwig II. ist von der Berliner Zensur verboten worden. Über die Motive des Verbots teilte Regierungsrat Glasenapp einem Mitarbeiter des Berliner Tageblattes folgendes mit: Die Presse hat zu diesem Stück bereits den richtigen Standpunkt eingenommen. Es ist in ästhetischer Beziehung durchaus verwerflich. Dieser Punkt könnte selbstverständlich für ein Einschreiten nicht maßgebend sein. Aber folgendes gab den Ausschlag: Eine ganze Reihe politisch einflußreicher Persönlichkeiten, die in dem Stück genannt werden, lebt noch. Außerdem wird die Kaiserin von Österreich in unerhörter Weise angegriffen. Solch eine Charakteristik auf der Bühne würde den Kaiser von Österreich verletzen. Noch schlimmer aber würde das Renommée des Prinzregenten von Bayern geschädigt werden. In einfacheren Kreisen ist man in Bayern noch heute der Meinung, daß König Ludwig II. von Gudden vergiftet worden sei. Diese sinnlose Mythe würde natürlich durch eine Aufführung des Bonn'sdien Stückes neue Nahrung finden, und zwar durch die Szene, in der Ludwig stirbt und in welcher Gudden als vollkommener Idiot dargestellt wird. So mußten wir aus politischen Gründen das Stück verbieten."

Die bayerischen Behörden schienen jedoch nur müßig zu sein145. Daß sie es in Wirklichkeit nicht waren, zeigen die Vorgänge in Wien. Am 8. 4. 1907 vermerkt hier das Präsidium des k. k. Ministeriums des Innern: 182

„In der an Seine Exzellenz den H e r r n Ministerpräsidenten gerichteten Note des Ministeriums des Äußeren wird ausgeführt, daß der Schauspieler und Direktor des Berliner Theaters Ferdinand Bonn ein D r a m a König Ludwig II. von Bayern verfaßt habe, welches eine aus Erfindungen und sensationellen Entstellungen zusammengesetzte Darstellung des Lebens und des tragischen Endes dieses Königs enthält. In dem D r a m a erscheint auch weiland Ihre Majestät die Kaiserin und Königin Elisabeth. Allerhöchstderen Andenken in unerhörter Weise verunglimpft werden soll. Der kgl. bayerische Gestandte habe im Auftrage seiner Regierung das vertrauliche Ansuchen gestellt, es möge die Aufführung des gedachten Stückes in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern verboten werden, indem er hinzufügte, daß Seine Königliche Hoheit der Prinzregent Luitpold von Bayern das größte Interesse an der Verhinderung der A u f f ü h r u n g dieses Sensationsstückes bekundet habe. Das Ministerium des Äußeren ersuchte um Veranlassung, daß das gegenständliche Aufführungsverbot erlassen werde und weist darauf hin, daß seitens des Berliner Polizeipräsidiums ein analoges Verbot erflossen sei. Seine Exzellenz der H e r r Ministerpräsident übermittelte die oben zitierte N o t e des Ministeriums des Äußeren, ersuchte um Erlassen der kompetenten geeigneten Maßregeln und Mitteilung über das im Gegenstand Verfügte. Votum: Über den Inhalt des gegenständlichen Bühnenwerks sind auch bereits Zeitungsnachrichten erschienen, welche im vollen Einklang mit den Ausführungen der zitierten Note des Ministeriums des Äußeren stehen. Es wäre daher das beantragte Aufführungsverbot hinsichtlich der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder zu erlassen."

Aus dem Präsidium des k. k. Ministeriums des Innern erging daher ein vertrauliches Rundschreiben an alle Landeschefs zur eigenhändigen Eröffnung: „Nach einer Mitteilung des k. und k. Ministeriums des Äußeren hat der Schauspieler und Direktor des Berliner Theaters Ferdinand Bonn ein D r a m a König Ludwig II. von Bayern verfaßt, welches eine aus Erfindungen und Entstellungen zusammengesetzte Darstellung des Lebens und des tragischen Endes dieses Königs enthält. In dem erwähnten Drama erscheint auch weiland Ihre Majestät die Kaiserin und Königin Elisabeth, Allerhöchstderen Andenken in unerhörter Weise verunglimpft werden soll. Ich beehre michHochdieselben auf das Erscheinen dieses Bühnenwerks aufmerksam zu machen, dessen A u f f ü h r u n g selbstverständlich nicht zu gestatten ist. Zugleich wird bemerkt, daß das betreffende in Berlin erschienene Theaterstück bereits von der Wiener Staatsanwaltschaft seinem ganzen Inhalt nach auf Grund des § 64 StGB mit Beschlag belegt wurde 146 ."

Die einschlägigen Akten der Staatsanwaltschaft Wien haben sich nicht erhalten, so daß der Ausgang des dortigen Strafverfahrens gegen Bonn nicht festzustellen war. Den Kenner früherer bayerischer Verhältnisse wird das allerdings wenig berühren. Für ihn ist es von gro183

ßem Belang, „daß Seine Königliche Hoheit der Prinzregent Luitpold von Bayern das größte Interesse an der Verhinderung der Aufführung dieses Sensationsstückes bekundet habe". Weiß er doch (auch wenn sich die Frankfurter Zeitung nicht in ähnlichen Auslassungen ergangen hätte), daß eine in weiten Kreisen Altbayerns verbreitete und heute noch nicht ganz erstorbene Volksmeinung dem Prinzregenten Luitpold eine gewisse, vielleicht sogar erhebliche Schuld am tragischen Tode König Ludwigs II. von Bayern gibt, nicht zuletzt einer der Gründe, warum er und sein Sohn, der spätere König Ludwig III. von Bayern, nie so recht volkstümlich werden konnten. Verbleiben wir in Wien, gehen wir aber zurück in das Jahr 1905! Dort suchte am 31. 8. 1905 die k. u. k. Direktion des k. Hofoperntheaters (Gustav Mahler) um die Genehmigung zur Aufführung der Oper „Salome" von Richard Strauss an. Die hierzu gehörte k. k. Hoftheatercensur erklärte sich am 15. 9. 1905 unter anderem, wie folgt: „Abgesehen davon, daß die Darstellung von Vorgängen aus dem Neuen Testament, insbesondere auf einer Hofbühne, grundsätzlich Bedenken erregt, wirkt die Vorführung einer perversen Sinnlichkeit, wie sie in der Figur der Salomé verkörpert ist, sittlich verletzend. Ich möchte mich deshalb aus religiösen und sittlichen Gründen gegen die Zulassung des vorliegenden Operntextes aussprechen. Wilde's D r a m a hat übrigens fast überall mit Zensurschwierigkeiten zu k ä m p f e n gehabt. Als das hiesige «Deutsche Volkstheater» vor zwei Jahren um die Aufführungsbewilligung einschritt, wurde das Stück drei Zensurbeiräten zur Prüfung überwiesen, von denen sich zwei gegen die Aufführung, der dritte für dieselbe unter Vorbehalt mehrfacher Abänderungen aussprach. Die niederösterreichische Statthalterei erteilte darauf die Aufführungsbewilligung; das Stüde stieß aber selbst bei dem sonst in solchen Dingen nicht sehr rigorosen Publikum des «Deutschen Volkstheaters» auf Widerspruch. Ebenso verhielt man sich in Stuttgart dagegen ablehnend, nur in Berlin, wo man anfangs auch Zensurschwierigkeiten gemacht hatte, erzielte es einen wirklichen Erfolg, der aber in erster Linie der vorzüglichen Darstellung durch die Schauspieler des «Neuen Theaters» zugeschrieben wurde."

Darauf teilte mit Intimat vom 17. 9. 1905 die k. u. k. Generalintendanz der k. k. Hoftheater Mahler mit, daß sie „aus religiösen und sittlichen Gründen" die Zustimmung zur Aufführung des Bühnenwerkes am Hofoperntheater nicht erteilen könne. Mahler ließ jedoch nicht locker. Mit Schreiben vom 26. 10. 1905 verlangte er „die Bezeichnung jener Stellen, welche Bedenken erregen, und als anstößig befunden worden sind, da es vielleicht doch möglich sein dürfte, eine 184

Umänderung dieser Stellen in der Weise vorzunehmen, daß die erhobenen Bedenken in Wegfall kommen und eine Annahme des Werkes erfolgen kann." Umsonst! Die k. u. k. Generalintendanz ließ ihn mit Intimat vom 5. 11. 1905 wissen: „Ich kann auch neuerlich sowohl in Hinblick auf das Votum des Censors als auch auf Grund eigener Überzeugung die Zustimmung zur Aufführung dieses Bühnenwerkes am Hofoperntheater nicht erteilen." Nun versuchte Mahler, den Komponisten, der damals schon sehr berühmt war, zu einer Einflußnahme auf die k. u. k. Generalintendanz zu gewinnen, reiste deshalb Anfang November 1905 nach Berlin, wo Strauss gerade tätig war, und setzte hiervon die k. u. k. Generalintendanz in Kenntnis. Diese verlautbarte mit Intimat vom 5. 11. 1905, daß die Reise mit dem Beifügen genehmigt werde, „daß eine Verhandlung mit Richard Strauss zwecklos wäre, da eine Aufführung dieses Werkes an der Hofoper ganz aussichtslos ist". Was Mahler nicht vermochte, sollte 13 Jahre später dem damaligen Direktor des k. k. Hofoperntheaters, Gregor, gelingen. Als dieser am 27. 8. 1918 um die Genehmigung zur Aufführung des Bühnenwerkes auf dem Hofoperntheater einkam, äußerte sich der hierzu gehörte k. k. Hoftheatercensor unter dem 6. 9. 1918, wie folgt: „In der Anlage sende ich Ihnen mein Votum betreffend die Salome. Es blieb mir nichts übrig, als J a und Amen zu sagen und mich damit selbst zu dementieren, denn, wie Sie sich erinnern, habe ich es vor einigen Jahren abgelehnt. Allein inzwischen ist die Oper an allen großen deutschen Bühnen aufgeführt worden, ohne Anstoß zu erregen, man konnte sie der Wiener Hofoper nicht leicht länger vorenthalten. Gelegentlich seines letzten Aufenthaltes in Wien hat sich übrigens Rieh. Strauss bei mir eingefunden und mir mitgeteilt, daß Fürsterzbischof Piffel, dem er den T e x t vorgelegt, dagegen keine Einwendungen erhoben habe. U n d schließlich hat Direktor Gregor die Salomé bereits in das offizielle Repertoire aufgenommen, ohne auf die Äußerung der Zensur abzuwarten. Damit war mir der Weg vorgezeichnet. Sollte es zu Reklamationen kommen, was ich übrigens begreife, bin ich wenigstens nicht der allein Schuldige" 1 4 7 .

Die Bilanz der Verbote der Jahrhundertwende zogen die jedenfalls für damalige Verhältnisse äußerst boshaften Berliner „Lustigen Blätter" in der 1907 entstandenen Zeichnung (Abb. 18) mit der Uberschrift „Der wackere Zensor und die bösen Autoren", in dem u. a. Ferdinand Bonns „Ludwig II" (1905), Paul Heyses „Maria von Magdala" (1901—1903), Gerhart Hauptmanns „Weber" (1892 bis 185

Abb. 18

1901), Richard Strauss „Salome" (1905) und Oskar „Toter Löwe" (1905) zu sehen sind.

Blumenthals

Auf einer völlig anderen Ebene lag der Kampf, den gegen den ebenso gerne wie fälschlich als des oben (S. 179) erwähnten Ruederers 186

Gegenspieler am bayerischen Dichterhimmel bezeichneten (Rechtsanwalt) Ludwig Thoma auszufechten man immer wieder Anlaß hatte. Er schoß ja auch, wie schon oben S. 176 gezeigt, mit anderem durchweg viel schärferem Geschütz seine mit offener und versteckter Bosheit und handfester Unsittlichkeit gepfefferten Geschosse ab. Daher war nach Meinung vieler 148 „der 13. Januar 1906 für die bayerische Justiz kein Ehrentag. D a s Münchener Schwurgericht verhandelte gegen Dr. Ludwig Thoma, den Peter Schlemihl des Simplizissimus, wegen des im Oktober vorigen Jahres in 100 000 Exemplaren verbreiteten illustrierten Flugblattes «Fort mit der Liebe! Ein Notschrei! Den Sittlichkeitsaposteln unterbreitet von Ludwig Thoma und Olaf Gulbransson» 1* 1. Abb. 19 sh. F a l t b l a t t

Die Anklage erblickte in dem überaus rohen und unflätigen Flugblatte eine unzüchtige Schrift. Die Geschworenen fanden D r . Thoma nicht schuldig. D a s Urteil lautete daher auf Freisprechung, jedoch erklärte das Gericht den Inhalt des Flugblattes als objektiv unzüchtig und verfügte die Einziehung desselben" 1 4 8 . D a s zwiespältige Urteil fand nicht die allgemeine Zustimmung. Der Sitzungsstaatsanwalt Aull rechtfertigte in N r . 14 der Augsburger Abendzeitung vom 15. 1. 1906 sein offenbar auf dem Eingreifen kirchlicher Sittlichkeitsvereine beruhendes Verhalten, in dem er u. a. ausführte, es wollten „die Sittlichkeitsvereine der Presse nicht das Recht absprechen, über Dinge, die heute erörtert wurden, zu sprechen; allein hier gilt der Satz: est modus in rebus. Wer für das Volk dichtet, muß sich dem Empfinden des Volkes anpassen. Wenn die Presse eine Daseinsberechtigung haben will, muß sie belehrend, bildend, unterhaltend wirken; sie hat nicht das Recht, in Schlamm und K o t zu wühlen und damit die Menschheit zu bewerfen" 1 4 9 . Nicht minder deutlich, wenn auch seinem hohen Stande entsprechend würdevoller drückte diese Empfindungen der damalige Erzbischof von München-Freising, Dr. v. Stein, am 23. 2. 1906 in der Bayer. Kammer der Reichsräte aus: „Es darf wohl in diesem hohen Hause gesagt werden, daß über aller Kunst, auch der vornehmsten, noch ein viel höheres Gesetz steht, dem auch das feinste und wärmste künstlerische Empfinden sich zu beugen hat, das Sittengesetz 1 5 0 . Die Kunst hat ja als erste und letzte Aufgabe, eine Welt nur des Scheins, wenn auch des schönen Scheins, hervorzuzaubern. Dagegen ist jenes Gesetz, das ich kurz andeutete, geeignet, dem Men187

sehen zu seinem wahren geistigen Lebensinhalt zu verhelfen" 151 . Demgegenüber war in der N r . 41 der Frankfurter Zeitung vom 11.2. 1906 aus der Feder eines RA Dr. Elsaß zu lesen: „Die Geschworenen verkünden den Wahrspruch: Der Angeklagte Thoma ist nicht schuldig, eine unzüchtige Schrift zum Zwecke der Verbreitung hergestellt zu haben. D i e Richterbank verkündet sofort das Urteil: Der Inhalt des Flugblattes ist als unzüchtig strafbar; alle Exemplare sowie die zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und Formen sind unbrauchbar zu machen. Die Schuld an dieser Möglichkeit trägt aber nicht allein und nicht einmal in erster Linie die Richterbank des Münchener Schwurgerichts, sondern das Reichsgericht, dessen bisherige Entscheidungen den Münchener Gerichtsbeschluß zweifellos beeinflußt hatten und stützen. Schon einmal haben bayerische Berufsjuristen, nämlich die richterlichen Mitglieder des Schwurgerichts Nürnberg unter ganz den gleichen Voraussetzungen, wie sie jetzt in München vorlagen, den Antrag des Staatsanwalts auf Einziehung und Unbrauchbarmachung der Exemplare und Platten zur Herstellung des von der Anklage als unzüchtig bezeichneten Bildes unter Berufung auf den Spruch der Geschworenen verworfen; das Reichsgericht hat dieses Urteil kassiert (RGStr.

19, 371)." An diesen Auslassungen des Staatsanwalts Aull, des Erzbischofs Dr. von Stein und des RA Dr. Elsaß sind 3 Dinge auch heute noch überaus bemerkenswert. Das eine ist die Auffassung, daß „die Presse" (gemeint war natürlich in diesem Zusammenhang „die Kunst" in einem die Kunst des Wortes und des Bildes umfassenden Sinne) eine Daseinsberechtigung nur habe, wenn sie „belehrend, bildend, unterhaltend wirke", daß also hier von einem Manne, der später einmal Generalstaatsanwalt in München geworden ist, die Meinung vertreten wird, zum Wesen der Kunst des Wortes und des Bildes gehöre eine „belehrende, bildende, unterhaltende" Zielsetzung derart, daß sie andernfalls der Daseinsberechtigung ermangle, also nicht Kunst sei. Das zweite ist die Auffassung „daß über aller Kunst noch ein viel höheres Gesetz steht, das Sittengesetz", weil die Kunst ja „eine Welt des Scheins, wenn auch des schönen Scheins hervorzuzaubern" in der Lage sei, während „jenes Gesetz dem Menschen zu seinem wahren geistigen Lebensinhalt zu verhelfen" vermag. Deutlicher kann die Wertordnung des kirchlich klassischen Kunstbegriffs nicht umschrieben werden. Die Kunst ist nur, wenn auch schöner, Zauber, aber das Sittengesetz! Doch weder in solchen Ausführungen noch in denen Aulls erschöpft sich die Bedeutung des Strafverfahrens gegen Ludwig Thoma und Olaf Gulbransson. Dem aufmerksamen und zeitgeschichtskundigen Leser des Flugblattes kann auch heute nicht verborgen blei188

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