Kulturmacht ohne Kompass: Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert 9783412215910, 9783412211196

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Kulturmacht ohne Kompass: Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert
 9783412215910, 9783412211196

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Frank Trommler

Kulturmacht ohne Kompass Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Plakat „Deutschland, das Land der Musik“. © bpk/Kunstbibliothek, SMB/Dietmar Katz

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat und Korrektorat: Volker Manz Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-21119-6

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Kapitel Die kulturelle Ausstellung der (neuen) Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Deutsche Kunst auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 . . . . . . . . . . . . . 19 Schlüsselbegriffe: Modernismus, auswärtige Kulturpolitik, Kulturmacht . . 24 Entstehen der Kunstkonkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland . . 27 Auswärtige Kulturpolitik als Ergebnis eines Wechselverhältnisses . . . . . . . 32 Möglichst unsichtbar: das Auswärtige Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Deutsche Kultur: Definitionen und Diskurse um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Reformagenda versus wilhelminisches Prestigedenken . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Pionierrollen: französische Kulturpolitik, deutsche Wissenschaftsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Preußens Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Kaiser Wilhelm II. als Schausteller auswärtiger Kulturpolitik . . . . . . . . . . . 68 Internationalismus als Faktor auswärtiger Kulturpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 81 Die wissenschaftliche Vormacht und ihre Illusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Erprobungsterrain Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Bethmann Hollweg, Lamprecht und die Probleme kultureller Auslandsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die Werkbundausstellung in Köln 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Kapitel Deutsche Kultur: nationale Kultur? Eine kritische Gegenbilanz . . . . . . . 123 Der Nationalstaat als unzuverlässiger Kompass für Kultur . . . . . . . . . . . . Zugzwänge der Nationalstaatsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die andere kulturelle Präsenz: Auswandererkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . Kolonialismus und Westorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis zum Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbezug und Ausgrenzung Österreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Österreich und die deutsche Kulturnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrfachidentitäten und Außenperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden und die deutsche Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 124 128 138 145 153 159 166 173

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|  Inhalt

3. Kapitel Der Krieg um die Kulturmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Die Gleichsetzung von Kultur und Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturkrieg und die „Ideen von 1914“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das andere Augusterlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russische und amerikanische Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reichsdeutsche, Auslandsdeutsche und die völkische Intervention in der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerstörung der Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unter Verbündeten: Kultur in den deutsch-österreichischen Beziehungen Trotz Krieg: Die internationale Resonanz der Werkbund-Kultur . . . . . . . Ein (halb) offenes Fenster: Neutrale Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hässliche Deutsche, moderne Deutsche: Wertungen von außerhalb . . . . . Die preußische Denkschrift über Auslandsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sympathisanten: Die Juden im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Militärmacht als Kulturmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlachtfeld Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185 194 202 208 215 221 229 238 241 248 253 256 266 279

4. Kapitel Die Kulturpolitik der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Stresemanns Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturpolitik als Weimars Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Widersprüche auswärtiger Kulturpolitik nach dem Kulturkrieg . . . . . Isolation, Modernität und Kunstdiplomatie des neuen Staates . . . . . . . . . Boykott und Selbstboykott der deutschen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . Deutsch-französische Konfrontation: Schlechte Verlierer, schlechte Sieger Berlins Rolle als Kulturhauptstadt Osteuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berlin und Wien: Verfestigte Kulturachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minderheiten und die Ethnifizierung von Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach Locarno: Die zweite Phase auswärtiger Kulturpolitik . . . . . . . . . . . Begegnungstheorie und nationaler Aufbruch der Jugend um 1930 . . . . . . Internationalismus: Feind nationaler Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegen die Krise: Hoffnung und Vielfalt des internationalen Kulturaustauschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289 290 300 311 322 335 341 352 364 373 386 394 404

Inhalt  |

5. Kapitel Die Mobilisierung deutscher Kultur im Dritten Reich . . . . . . . . . . . . . . . 419 Auswärtige Kulturpolitik und Hitlers rassische Kulturagenda . . . . . . . . . . Kultur als Instrument bei der Staats(neu)gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturpolitik, Propaganda und das Erbe des Ersten Weltkrieges . . . . . . . Die Ausgrenzung der Juden: Flucht, Vernichtung, Weitermachen . . . . . . Machtkämpfe um auswärtige Kulturpolitik 1933–1937 . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftsemigranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur im Auslandseinsatz: Werbung um Polen, Großbritannien, Italien . Die Kultur-Achse: Mussolinis Italien als Partner und Rivale . . . . . . . . . . Das ‚andere Deutschland‘ im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalsozialistische Kulturpolitik gegenüber Frankreich . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Wissenschaft für die Außenwirkung deutscher Kultur . . . . Die Mobilisierung nationaler Kultur im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . Kultur als höchste Form von Propaganda – Kriegsausgabe . . . . . . . . . . . . Österreich: Anschluss und Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419 427 437 446 455 464 470 482 488 504 522 534 541 559

6. Kapitel Nach 1945: Die ost- und westdeutschen Erben der Kulturmacht . . . . . 569 Fünf Tage nach der Kapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Erste kulturelle Auslandskontakte der Bundesrepublik und ihre Erblasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Die Abrechnung findet in Berlin statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Das Ende der Kulturmacht und die Abwendung vom Osten . . . . . . . . . . 593 „Heisenberg, ihr seid alle zweitklassig“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 Exkurs: Die Kulturpolitik der vier Besatzungsmächte . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 Vereinigte Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Auswärtige Kulturbeziehungen der Bundesrepublik: Vom zweiten Gleis zur dritten Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 Sowjetische Kulturpolitik als Anker und Fessel für die DDR . . . . . . . . . . 660 Antifaschistische Gründungsmythen und die Notwendigkeit von Kulturpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672 Zweimal deutsche Kulturpolitik, von außen gesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 Der Umbruch im Denken über Kultur und auswärtige Kulturpolitik . . . . 689 Die große Zeit des internationalen Brückenbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699

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Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718

Einleitung

„Jedes Volk hat die naive Auffassung, Gottes bester Einfall zu sein. Es ist nun einmal so.“ Theodor Heuss

Dies ist ein Buch über die politische Mobilisierung deutscher Kultur in ihrem Wechselverhältnis mit anderen Kulturen. Es widmet sich der politischen Organisation dieser Mobilisierung und analysiert ihre Verwaltungsgeschichte, verortet sie aber zugleich in den Strömungen von Modernismus und Antimodernismus, zwischen denen die großen Kämpfe in Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts ausgetragen worden sind. Es setzt bei den Bemühungen privater und staatlicher Akteure um 1900 ein, Kultur als aktiven Faktor für die Weltmachtambitionen des Deutschen Reiches neu zu denken und zu praktizieren. Seine zentralen Kapitel widmen sich den Innovationen ebenso wie den Exzessen, zu denen diese Mobilisierung der Kulturmacht auf Kosten anderer Länder und der Deutschen selbst führte. Es schließt mit den Bemühungen in Ost und West, die Erblasten dieser Exzesse abzuarbeiten und die deutsche kulturelle Präsenz in der Welt neu zu verankern. Im Kontext dieser ausgreifenden Agenda, die Politik‑, Kultur‑, Diplomatieund Institutionengeschichte verknüpft, erweist sich das Thema auswärtiger Kulturbeziehungen, das lange als Sache einiger weniger Spezialisten gegolten hat, als Schlüssel für das Verständnis der modernen internationalen Geschichte. Da das Buch methodisch auf die Erschließung der Faktoren, Quer-und Längsverbindungen in dieser Geschichte abstellt, berücksichtigt es ausführlich die französische, britische, amerikanische, russische, polnische und italienische Seite dieser Beziehungen. Anders sind weiter reichende Aussagen über Inhalt und Stärke der Wechselwirkungen nicht zu erzielen. Damit gelangen Unwägbarkeiten, Projektionen und Reaktionen in die Untersuchung, die den wissenschaftlichen Umgang mit dem instabilen, dennoch zentralen Begriff der Kultur im Allgemeinen erschweren, besonders wenn er stationär verstanden wird. Gerade diese Unwägbarkeiten, Projektionen und Reaktionen verschaffen jedoch Zugänge zu den Beziehungen zwischen Völkern, die sich der Diplomatiegeschichte entziehen, indem sie die historischen Wirkungsfaktoren sehr viel umfassender berücksichtigen.1 Nur indem die transnationalen Ausformungen 1 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Frank Ninkovich, Culture, Power, and Civilization. The Place of Culture in the Study of International Relations, in: On Cultural Grounds. Essays on International History, hg. von Robert David

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von Kultur und Kulturpolitik nicht stationär, sondern im geschichtlichen Prozess erspürt und beschrieben werden, kann es überhaupt gelingen, jene Exzesse in ihrem Potenzial für politische Herrschaft zu erfassen und für neue Einblicke in die deutsche und transnationale Geschichte im 20. Jahrhundert zugänglich zu machen. Trotz der Einteilung in sechs große Kapitel, die sich an die geläufigen Abgrenzungen deutscher Staatlichkeit seit Bismarcks Reichsgründung halten, ist das Buch von einer Kohärenz geprägt, die den Verfasser zunehmend selbst überrascht und die der Darstellung jener Exzesse ebenso wie der ihrer Überwindung eine unerwartete Eigendynamik verliehen hat. Die mehrperspektivische und transnationale Vorgehensweise, die sich in der Geschichts- und Kulturgeschichtsschreibung immer mehr durchsetzt, stimuliert eine solche Vielfalt ungewohnter Einsichten, dass man zunächst versucht ist, an der Überschaubarkeit des entstehenden Narrativs zu zweifeln.2 Aus den Fakten, Materialien und Zeitkommentaren schält sich schließlich eine Ereigniskurve heraus, die eben nur teilweise den politischen Zäsuren folgt, stattdessen eine über die zwei Weltkriege hinausreichende Geschichte kultureller Überhöhung der deutschen Expansionspolitik bezeugt, deren Abbau nach 1945 in den beiden Nachfolgestaaten des Dritten Reiches selbst nach dem Eingreifen der Siegermächte noch zwei Generationen beschäftigt hat. Konkret gesprochen, erfolgte um 1960 mit der endgültigen Abwendung von der Kulturauffassung, die der Kulturarbeit des Auswärtigen Amtes noch nach seiner Wiedereinrichtung 1950 zugrunde lag, die generelle Abkehr von kulturellen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatten. Ohnehin ist seit Längerem zu erkennen, dass die Zeit um 1960 für die subkutanen, als longue durée erkennbaren soziokulturellen Entwicklungen mehr Gewicht besitzt als das Jahr 1945, so einschneidend dieses unmittelbar politisch wirkte. Die sozialgeschichtliche Ereigniskurve haben die Historiker Arnold Sywottek und Axel Schildt in ihrer grundlegenden Studie zur Modernisierung der fünfziger Jahre kenntlich gemacht, der zufolge

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Johnson. Chicago: Imprint, 1994, 1–22; Anja Jetschke und Andrea Liese, Kultur im Aufwind. Zur Rolle von Bedeutungen, Werten und Handlungsrepertoires in den internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für internationale Beziehungen 5 (1998), 149–179. Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, hg. von Wilfried Loth und Jürgen Osterhammel. München: Oldenbourg, 2000; Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, hg. von Eckart Conze, Ulrich Lappenküper und Guido Müller. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2004; Comparative and Transnational History. Central European Approaches and New Perspectives, hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka. New York/Oxford: Berghahn, 2009; Jürgen Osterhammel, Global History in a National Context. The �������������������������������������������������������������������������� Case of Germany, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20:2 (2009), 40–58.

Einleitung  |

die Gesellschaftsstrukturen des Kaiserreichs noch bis in diese Zeit fortbestanden. Erst danach hätten sich tiefgreifend neue Tendenzen durchgesetzt. Ähnlich hebt Ulrich Herbert die Bedeutung der Jahrhundertwende als formative Phase „derjenigen kulturellen und mentalen Dispositionen“ hervor, „die auch noch nach 1945 und bis in die 60er Jahre als wirksam beobachtet wurden.“3 Die folgenden Kapitel erweisen allerdings, dass sich in den kulturellen Beziehungen zu anderen Ländern in dieser Zeit nicht nur gleichbleibende Strukturen erhielten, sondern auch ein gewaltiges Drama abgespielt hat, wenn man so will: das Drama vom Aufstieg und Fall einer die nationale Expansion begleitenden Kulturpolitik. Mit dem Anspruch, die Kulturmacht auch politisch einsetzen zu können, glaubte man, in den Stürmen des 20. Jahrhunderts einen besonderen Kurs steuern zu können. Das misslang, weil der Kompass dafür verlorenging – wenn er überhaupt jemals vorhanden war. Die Geschichte der 1920 im Auswärtigen Amt eingerichteten Kulturabteilung, die 1936 in Kulturpolitische Abteilung umbenannt wurde, repräsentiert nicht die gesamte Geschichte der Mobilisierung deutscher Kultur, wohl aber einen wichtigen Teil davon. An ihr lässt sich ablesen, was diese Mobilisierung bedeutete und in welchem Maße sie von ihren Anfängen her politisch war, forcierten doch alle kriegführenden Staaten 1914 den Einsatz ihrer Kultur für den Überlebenskampf ihrer Nation und weiteten so den Konflikt zivilisierter Staaten zu einem tief verletzenden Kulturkrieg aus. Der engagierte Kriegsdienst deutscher Kultur hatte für die Kulturabteilung insofern besondere Nachwirkungen, als sie nach 1920 als Behörde des geschlagenen Staates gerade das Misstrauen des Auslands weckte, das sie mit ihrer Kulturarbeit zu zerstreuen angetreten war. Die Tatsache, dass seit den zwanziger Jahren die Einrichtung von Mittlerorganisationen als wirksamste Leistung deutscher kultureller Außenpolitik gilt, besitzt nicht zuletzt darin ihre Begründung, dass man von der – weiterhin verdächtigen – Regierungsarbeit die Spracharbeit sowie Kultur- und Wissenschaftsaustausch weit­gehend abtrennte. Diese Abkopplung erschien nach dem von Deutschen entfesselten Zweiten Weltkrieg noch dringender erforderlich. Ohne die Wiedergründung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der Alexander von Humboldt-Stiftung und des zuvor in der Deutschen Akademie als reine Sprachenanstalt aktiven Goethe-Instituts hätte sich eine erfolgreiche bundesdeutsche Kontaktarbeit im Ausland kaum entwickeln können. 3

Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, hg. von Axel Schildt und Arnold Sywottek. Bonn: Dietz, 1993, 24; Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, in: Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, hg. von dems., Göttingen: Wallstein, 2002, 7–49, hier 35.

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Dieser Hintergrund hilft dabei, die ursprünglich reaktive Ausrichtung der vom Auswärtigen Amt verfolgten Außenkulturpolitik zu verstehen, die allerdings bei der ihr zunächst zugeteilten Aufgabe, die Millionen Deutschen in europäischen Nachbarländern zu betreuen, in denen sie in der Folge des Versailler Vertrages als Minderheiten lebten, keineswegs maßgeblich war. Andere Faktoren kamen hinzu. Das Handikap, das die Behörde von der Gründung an begleitete, bestand genau in dem, was sie verwalten sollte: Kultur. Kultur war das, von dem Diplomaten und Beamte des Amtes ihre Karriere möglichst nicht abhängig machen wollten. Ihr hohes nationales Renommee, zugleich aber ihr niedriger Status gegenüber Politik und Diplomatie, zu schweigen vom Militär, hatte schon Reichskanzler Bethmann Hollweg vor 1914 davon abgehalten, sich voll für ihren offiziellen Einbezug in die Außenpolitik einzusetzen. Hatte Außenminister Gustav Stresemann Ende der zwanziger Jahre kurze Zeit ihren Status erhöht, geschah es doch erst Ende der dreißiger Jahre, dass die Propagandakämpfe zwischen den größeren Nationen institutionell und finanziell einer Kulturpolitik Gewicht verschafften, die nicht in Propaganda aufging. Außen­minister Ribbentrop nutzte sie nicht ohne Erfolg, um Goebbels’ Propa­ gandaapparat zurückzudrängen. Der Absturz ihres Ansehens nach der Zerstörung des Dritten Reiches wurde schnell akzeptiert, führte aber mit einem wenig veränderten Personal lange Zeit zu keinem grundsätzlichen Umdenken über Kultur und ihr politisches Potenzial. Ein anderes Handikap auswärtiger Kulturpolitik, spezifisch für die deutsche Situation, hat wesentlich mehr Aufmerksamkeit gefunden: die bereits in Bismarcks Verfassung dekretierte föderale Verwaltung von Kultur- und Erziehungspolitik. Auch 1949 legte das Grundgesetz die Verantwortung für Außenpolitik und damit Außenkulturpolitik in die Hände des Auswärtigen Amtes, setzte aber noch konsequenter als in der Weimarer Republik ihrer kreativen Verwaltung und ausreichenden Finanzierung enge Grenzen, auf welche die Bundesländer, sonst wenig einig in Kultur- und Erziehungsfragen, unnachsichtig pochten – und nach wie vor pochen. Hier liegen, von Deutschen längst verinnerlicht, Hürden, die bei Kulturabkommen in supranationalen Organisationen, etwa der Europaverwaltung in Brüssel, komplizierte Verwaltungskompromisse erfordern. Sie haben bei anderen Staaten seit jeher bestimmte Vorsichtsrituale ausgelöst, die allerdings weniger Probleme bereiten im Vergleich mit den Komplikationen, die zwischen 1949 und 1990 jeglicher vertraglichen Regelung mit einem der beiden deutschen Staaten im Wege standen. Auf Regierungsebene jedenfalls war der kulturelle Umgang mit den Deutschen zumeist eine mühsame Angelegenheit. In den kulturellen Beziehungen zwischen Ländern kommt Regierungen ein bedeutsamer, aber abgegrenzter Part zu. Dieser Part hat seine eigenen, häufig

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legalistischen, vielfach auch politischen Rituale, die dem, was kulturelle Kontakte zwischen den Ländern kennzeichnet, nur selten entsprechen. Eine Darstellung, die diese Rituale, ihre Sprache, Strukturen, Aktionen und Wirkungen in Akten und Archiven aufspürt, ist überaus hilfreich. Aber eine solcherart verankerte Darstellung macht vor allem einsichtig, was sich in den Akten niedergeschlagen hat. Und das lässt bei einem so vage umgrenzten, zugleich aber machtvoll ganze Gesellschaften bewegenden Phänomen wie Kultur viele Fragen offen. Wie hat man beispielsweise „Kultur“ und „Kulturpolitik“ zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Regimes definiert, genauer: codiert? Was konstituierte transnationale Kontakte, wie wurden ihre Akteure eingeschätzt? Welche Wirkung hatten Musik, Theater, Wissenschaft? Worin bestanden die Wechselwirkungen zwischen den Kulturen und Traditionen auf politischer Ebene? Um sich diesen Fragen zu stellen, muss diese Untersuchung darüber hinausgehen, Evidenz nur in den Verwaltungsdimensionen festzumachen. Sie hält sich, teilweise mit neu erschlossenen archivalischen Materialien, an die Geschichte dieser Verwaltung, bringt aber zugleich in die Argumentation ein, was sich in der nichtarchivalischen Geschichte abspielt (ohne allerdings die Wirtschaftsgeschichte einschließen zu können, die ihre eigene Dynamik hinzufügt). Das ist in seiner Überfülle an politischen, ästhetischen, kollektiven und individuellen, offiziellen und privaten Zeugnissen aufregend und beängstigend zugleich. Hier liegen die Gefahren eines mehrperspektivischen Verfahrens, denen der Verfasser sicherlich nicht entgangen ist. Dessen ungeachtet muss er aber der Tatsache Rechnung tragen, dass auswärtige Kulturbeziehungen im deutschen Falle, wo sie der Nationalisierung von Kultur selbst erst bestimmte Impulse verschafft haben, die innerkulturellen zentrifugalen Kräfte nicht weniger reflektieren als die Vielfalt der Kontakte mit anderen Ländern. Eine Darstellung der politischen Mobilisierung deutscher Kultur im 20. Jahrhundert findet sich von vornherein mit drei Fragen konfrontiert, die über den Einsatzbereich einzelner Ämter hinausreichen: zum einen nach ihren Akteuren und Zielen, zum andern nach ihren Inhalten, zum Dritten nach dem, was diese Mobilisierung ausschloss. Für die erste Frage bildet der Erste Weltkrieg die zentrale Referenz. Seit der Mobilisierung der Kultur für den Verteidigungskampf der Nation im Herbst 1914, die als entscheidender Schritt zur Herstellung der Volksgemeinschaft verstanden wurde, gehört die Berufung auf Kultur zum Inventar diverser Neu- oder Umgründungen deutscher Staaten. Das geschah – in jeweils sehr verschiedenen Formen, aber mit ähnlicher Bezugnahme auf das deutsche Volk (das Bismarck weitgehend aus der Reichsverfassung he-

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rausgehalten hatte) – bei der Gründung der Weimarer Republik, wurde von den Nationalsozialisten 1933 bei der Etablierung des „Dritten Reiches“ praktiziert und bildete eine zentrale Komponente bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik 1949. Die kurz zuvor als Provisorium etablierte Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches distanzierte sich ostentativ von dieser politischen Inanspruchnahme deutscher Kultur. Angesichts dieser intensiven Beschäftigung mit den gemeinschaftsgründenden und ‑erhaltenden Qualitäten deutscher Kultur gewährt die Frage nach Akteuren und Zielen der Mobilisierung Zugang zu bisher vernachlässigten Kontinuitäten moderner deutscher Geschichte. In jedem dieser Fälle kam der Annahme oder Zurückweisung von Kontakten mit anderen Ländern eine wichtige Funktion zu. Die zweite Frage danach, welche inhaltlichen Aspekte und Qualitäten deutscher Kultur mobilisiert wurden, führt direkt zu den um 1900 entstehenden Entwürfen, die sich zum ersten Mal vollständig in der Auseinandersetzung um den deutschen Beitrag zur Weltausstellung in St. Louis 1904 greifen lassen. Sie wurden im Wesentlichen von zwei Konstanten geprägt, die der unausweichlichen Modernisierung ihren Stempel aufzudrücken und sie entweder zu forcieren oder aufzuhalten und zurückzudrängen suchten. Diese Konstanten fanden bereits vor dem Ersten Weltkrieg prägnante Ausformungen, zum einen in der vom Deutschen Werkbund getragenen Reformbewegung in Design und Architektur, die dem internationalen Modernismus bis zum Ende der Weimarer Republik mit der Konzentration auf moderne Produktkultur viele ‚deutsche‘ Züge verlieh, die noch bis in die fünfziger und sechziger Jahre nachwirkten; zum andern in der Nationalisierung künstlerischer Ausstellungswerte, die, zunächst feudal abgehoben, eine zunehmend völkische Erscheinungsform anstrebten, mit der Internationalismus und Modernismus unter Verdacht gerieten und von der Ethnifizierung des Nationalismus in den dreißiger Jahren in verschiedenen Ländern verdrängt oder eliminiert wurden. Nach 1945 nahm den Platz dieser Konstante, die sich Volksnähe zugutehielt, der antiwestliche, antikosmopolitische Kunstkanon des sozialistischen Realismus ein, den die DDR für die Herstellung ihrer Volksgemeinschaft zum Leitbild der Kulturpolitik erhöhte. Hier liegen die Überschneidungen mit der Kulturpolitik der Sowjetunion und Osteuropas offen zutage, so wie der Rücktransport des internationalen Modernismus aus den westlichen Ländern der bundesdeutschen Gesellschaft zunächst eine Art Ersatz für die fehlende Kulturpolitik verschaffte. Die dritte Frage – nach dem, was die Mobilisierung ausschloss – eröffnet die heikelste Thematik, die sich im Hinblick auf die deutsche Kultur seit dem späten 19. Jahrhundert ergibt. Sie betrifft die Formen der Partizipation an dieser Kultur, das heißt ihre mentale und geografische Ausdehnung, innerhalb derer

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diese Dynamisierung stattfand, mit der man den von Bismarck in der Kultur bewusst heruntergespielten nationalen Aufbruch mit neuer Verve in Gang zu setzen suchte. Über Jahrhunderte hinweg hatte sich deutsche Kultur durch gemeinsame Sprache und Geschichte in der Mitte Europas definiert, hatte sich unterhalb der dynastischen Verflechtungen in den verschiedenen Regionen Zugehörigkeit verschafft, wobei sich aber in den Fällen politischer, religiöser und sozialer Überlappungen Mehrfachidentitäten herausgebildet hatten. Dies war der Fall bei den habsburgischen Untertanen, die sich als Österreicher und Deutsche fühlten, bei den Juden, die sich in den östlichen Landschaften zwischen Österreich, Preußen und Russland der deutschen Kultur zugehörig fühlten, ebenso wie bei den Auswanderern, die in Russland und Osteuropa, in Nord- und Südamerika ihre Sprache und Kultur weiterpflegten. Das alles wurde seit dem späten 19. Jahrhundert im Hinblick auf die nationale Definition der deutschen Kultur als der Kultur des Deutschen Reiches zunehmend unter denjenigen Deutschsprechenden fragwürdig, die nicht dem Reich zugehörten. Sie hatten sich in eine vom Reich bestimmte Hierarchie einzuordnen, die Zentrum und Peripherie nicht nur nach geografischen, sondern auch nach politischen Gesichtspunkten einteilte, um damit die kulturelle Mobilisierung den Machtambitionen des Reiches dienstbar zu machen. Ohne Darlegung dieser Komponenten der deutschen Kultur – ihnen ist speziell das zweite Kapitel gewidmet – lässt sich kaum begreifen, was die kulturelle Mobilisierung im deutschen Kulturraum bewirkte und was sie ausschloss. Ihre zentralen Konstituenten sind der österreichische Teil der gemeinsamen Geschichte, dem viel Platz eingeräumt wird, ebenso die Juden, die als Mitbegründer der modernen deutschen Kultur einen prominenten Ort einnehmen; schließlich legte die deutsche Diaspora in der Welt von den Fremdformen und Mehrfachidentitäten in der deutschen Kultur Zeugnis ab, auch wenn sie hauptsächlich als eine Zielgruppe jener Mobilisierung in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Die entscheidende Dynamik für die Mobilisierung resultierte jedoch aus dem um die Jahrhundertwende auch in Kultur und Wissenschaft heftig angefachten Wettbewerb mit anderen Nationen um die Dominanz auf der politischen Weltbühne, insbesondere mit Frankreich und Großbritannien. Diese Dynamik explodierte gleichsam im Ersten Weltkrieg, erhielt sich aber auch nach der Niederlage, als die Weimarer Republik, unter Beteiligung von Sowjetrussland, Osteuropa und Österreich, eine schwankende Route zwischen Nationalismus und Internationalismus verfolgte, die sich politisch als verhängnisvoll, künstlerisch jedoch als höchst produktiv erwies. Versteht man die Leidenschaft, mit der die Gegnerschaft von Deutschem Reich und Frankreich bis zum Zweiten

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Weltkrieg auf beiden Seiten kulturell codiert wurde, als wichtigen Antrieb der Dynamik, kann eine Darstellung deutscher auswärtiger Kulturpolitik ohne ausführliche Analyse der weithin als Vorbild angesehenen französischen Kulturpolitik nicht auskommen. Dem wird im Folgenden entsprechend viel Platz eingeräumt. Es bezieht den Kampf um die deutsche Wissenschaft sowie ihren Boykott nach 1918 ein, erhellt die distanziertere Rolle Großbritanniens und bildet den Hintergrund für Stresemanns kurzes Engagement in der Außenkulturpolitik. Daneben heben sich die beiden Großmächte USA und Sowjetunion als aktive Teilhaber, Rezipienten und Konkurrenten deutscher kultureller und wissenschaftlicher Ambitionen ab – auf andere Weise als die europäischen Nachbarstaaten und beide mit großen deutschen Auswanderergruppen im eigenen Land, beide schließlich als Gegner Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und als oberste Kommandeure in der Besatzungszeit von erheblichem Einfluss auf das Schicksal der deutschen Kulturmacht. Die Anregungen vonseiten Italiens, vor allem der von Mussolini inspirierten Kulturpolitik, verschaffen dem in den dreißiger Jahren allseits intensivierten Wettbewerb insofern eine besondere Pointe, als sie um 1940 aus Sicht des Konkurrenten eine informierte Kritik der nationalsozialistischen Kulturpolitik ermöglichten. Ohnehin spielen die Einschätzungen der deutschen Entwicklungen aus der Perspektive der jeweiligen Konkurrenten oder Partnerländer eine zentrale Rolle für die Argumentation des Buches. In diesem Sinne unternimmt diese Untersuchung einen großen Schritt in Richtung auf eine transnationale Geschichtsschreibung, das heißt im Hinblick auf die Herstellung einer Doppel- oder Mehrfachperspektive, die für eine historische Erfassung auswärtiger Kulturbeziehungen unabdingbar ist, soll sie nicht steckenbleiben in den institutionell vorgegebenen Bahnen der Diplomatiegeschichte oder dem lange bevorzugten Paradigma vom deutschen Sonderweg.4 Dabei werden die jeweiligen intern gewachsenen Haltungen gegenüber Deutschland und seinem kulturellen und wissenschaftlichen ‚Angebot‘ skizziert, auch wenn sich damit das Problem der ‚Rezeption‘ von Ideen und kulturellen Produkten in anderen Ländern nicht voll lösen lässt. Immerhin ergeben sich Perspektiven und Instrumente, um die Wechselwirkungen in ihrer Zwei- oder Mehrpoligkeit zu erfassen. Nach wie vor tendiert die deutsche Forschung in diesem Bereich dazu, die akteursbestimmte Form auswärtiger Kulturpolitik in vielerlei Variationen von Institutio4

S. die kritischen Perspektiven in: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, hg. von Konrad Jarausch und Martin Sabrow. ������������������ Göttingen: Vanden� hoeck & Ruprecht, 2002; Ute Frevert, Europeanizing German History, in: Bulletin of the German Historical Institute (Washington), H. 36 (2005), 9–24; Osterhammel, Global History in a National Context; The Oxford Handbook of Modern German History, hg. von Helmut Walser Smith. Ox� ��� ford: Oxford University Press, 2011.

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nengeschichte zu bevorzugen – im Gegensatz zur eher spärlichen französischen Forschung auf diesem Gebiet –, während sich in Frankreich viel stärker die zweipolige oder mehrpolige Kulturtransferforschung entwickelt hat, die in Deutschland nur langsam Fuß fasst.5 Diese Untersuchung geht vom beständigen Kulturtransfer zwischen Gesellschaften aus, korreliert ihn jedoch mit der machtpolitischen Dynamisierung kultureller Kontakte als Teil zwischenstaatlicher Politik. Damit stand Deutschland nicht allein unter den Staaten, ließ sich aber auf einen beispiellosen Verschleiß seiner Kultur ein. In seiner Variation der transnationalen Geschichte setzt das Buch insofern einen eigenen Kurs, als es seine Außenperspektive selbst zum Faktor der Argumentation werden lässt. Es versteht Wechselseitigkeit auch als heuristische Anleitung, nicht nur als Objekt der Untersuchung. Anders gesagt, es bringt die Perspektive des deutschen Forschers ein, der die Erfahrung der Distanz zu Deutschland – viele Jahre in den Vereinigten Staaten lebend und lehrend – zur Überwindung der geläufigen Nationalgeschichtsschreibung auf dem Gebiet der Kultur fruchtbar zu machen sucht. Die eingangs erwähnte Vielfalt ungewohnter Einsichten verdankt sich dieser Außenperspektive: Sie hat geholfen, die für das Thema unabdingbaren wechselnden Perspektiven auf Deutschlands auswärtige Kulturbeziehungen nachprüfbar zu artikulieren und die Kohärenz der deutschen Entwicklungen schärfer zu sehen. * Um diesen Zugang auszubilden, bedarf es jenseits biografischer Details der Fachkritik und des lebendigen Austauschs mit Kollegen auf beiden Kontinenten. In den Ansichten der anderen liegen oft die besseren Argumente. Ich fühle mich reich dadurch beschenkt, dass ich kritische Diskussionen über Jahre hinweg mit inspirierenden Freunden und Kollegen führen konnte, und bedanke mich bei Jost Hermand, Eberhard Lämmert, Michael Geyer, Konrad Jarausch, Hans Mommsen, Klaus Scherpe, John McCarthy, Horst Daemmrich, Jürgen Reulecke, Stephan Braese, Meike Werner, Thomas Hughes, Peter Uwe Hohendahl, Liliane Weissberg, Malcolm Richardson, Jonathan Steinberg, Hartmut Lehmann, Stephen Brockmann, Michael Burri, Lily Gardner Feldman, Jack Janes, Rolf-Peter Janz, Egon Schwarz und Volker Berghahn. Für die lebenslan5

Victoria Znined-Brand, Deutsche und französische auswärtige Kulturpolitik. Eine vergleichende Analyse. Das Beispiel der Goethe-Institute in Frankreich sowie der Instituts und Centres Culturels Français in Deutschland seit 1945. Frankfurt: Lang, 1999, 14; Michel Espagne, Le transferts cultu� rels Franco-Allemands. Paris: Presses Universitaires de France, 1999; Vergleich und Transfer. Kompa� ratistik in den Sozial‑, Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. von Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer. Frankfurt/New York: Campus, 2003.

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gen Ermunterungen, an auswärtigen Kulturbeziehungen nicht nur zu partizipieren, sondern sie auch zu beschreiben, danke ich besonders Jochen und Carola Bloss. In der Gemeinsamkeit vieler Forschungen und Verschiedenheit vieler Lebenserfahrungen habe ich im Dialog mit Thomas Koebner die Aussageform der Außensicht verfeinern können; ihm verdanke ich, dass das Manuskript lesbarer geworden ist. Die langjährige Inspiration, die ich von dem internationalen und interdisziplinären Austausch in der German Studies Association erfahren habe, hat mich in ihrer unkonventionellen Form dazu ermutigt, beim Brückenschlagen Risiken einzugehen. Für die Folgen der Risiken bin allerdings ich allein verantwortlich. Ebenso trage ich die Verantwortung, wenn nicht anders angegeben, für die Übersetzungen. Spezieller Dank gebührt den Interviewpartnern, die mir geholfen haben, die neueren Stationen auswärtiger Kulturpolitik der Bundesrepublik in politische Zusammenhänge einzuordnen: Dieter Braun, Renate Albrecht, Horst Harnischfeger, Christoph Bartmann und Barthold Witte. Eine riesige Anzahl von Forschern in Deutschland, Österreich, Großbritannien, den USA und Frankreich haben mir mit ihren Arbeiten überhaupt erst ermöglicht, die Thematik so weit zu spannen, dass ein Überblick über ein Jahrhundert möglich wird. Ihnen gebührt sozusagen anonymer Dank. Dagegen kann ich bei Bibliotheken und Archiven spezifisch sein. Auf Jahre, ja Jahrzehnte bin ich der Van Pelt Library der University of Pennsylvania in Philadelphia intensiv verpflichtet, die sowohl einen idealen Zugang zu interdisziplinärer Forschung bot als auch schwer erreichbare Texte zugänglich gemacht hat. Daneben haben die Horner Library der German Society of Pennsylvania, die Bibliothek des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart und die Staatsbibliothek Berlin wesentliche Materialien zur Verfügung gestellt. Ohne Archive und ihre gründliche Dokumentation wären wichtige Funde nicht möglich gewesen: das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes, das Bundesarchiv Koblenz, das Bundesarchiv Berlin mit den SAPMO-Materialien der DDR, das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, das Werkbundarchiv Berlin, das Institut für Zeitgeschichte sowie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Das Buch widme ich meiner Familie, die mir zwischen zwei Kulturen nicht nur den Erkenntnis‑, sondern auch den Unterhaltungswert der Außenperspektive vor Augen führt: Natalie Huguet, Alexander und Martina Trommler. Philadelphia, im März 2013 Frank Trommler

1. Kapitel Die kulturelle Ausstellung der (neuen) Nation Deutsche Kunst auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 Als Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1903 bemerkte, dass eine aus überwiegend modern gesinnten Künstlern, Museumsdirektoren und Honoratioren bestehende Kommission eine Auswahl deutscher Kunst bei der Weltausstellung in St. Louis 1904 plane, die seinem historistisch-idealistischen Kunstgeschmack zuwiderlaufe, ließ er die Kommission kurzerhand abschaffen. Mit der Beauftragung der traditionell orientierten, vom Historienmaler Anton von Werner geführten Künstlergenossenschaft vermied das Deutsche Reich in St. Louis die ‚Schmach‘, von secessionistischen – ‚modernen‘ – Malern wie Max Liebermann und Max Slevogt vertreten zu werden. Was dann in Amerika als repräsentative deutsche Malerei bestaunt werden konnte, entging nur dank der Tatsache, dass Frankreich, Großbritannien und andere Nationen auch keine besonders inspirierte Auswahl getroffen hatten, der Peinlichkeit. Die Ausstellung deutscher Malerei wurde von preußisch-monarchischen Motiven dominiert, wobei Anton von Werner mit Themen wie „Kaiser Wilhelm gratuliert Moltke zum 90. Geburtstag“ und „Kaiser Wilhelm unter seinen Kadetten“ den Ton angab.1 Das korrespondierte mit der Entscheidung des Kaisers, die preußische Vergangenheit im Äußeren des Deutschen Hauses sinnfällig zu machen, indem er es als Nachbildung des Charlottenburger Schlosses – mit Barockkuppel und viel Zierrat, aber ohne Seitenflügel – errichten ließ. Wer nach Bildern von Liebermann, Slevogt, Lovis Corinth, Walter Leistikow oder möglicherweise sogar Käthe Kollwitz suchte, die man zu dieser Zeit im In- und Ausland als Zeichen eines neuen Aufschwungs deutscher Malerei wertete, wurde enttäuscht. Die Kritik an Wilhelms Kunstdiktatur bildet seit jeher einen festen Bestandteil der Erzählung von der künstlerischen Moderne in Deutschland. Seit Peter Parets Aufarbeitung der Präsentation deutscher Malerei auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 gehört zu ihr auch das Verdikt über die Bemühungen des Kaisers, das Deutsche Reich als Kulturmacht in der Welt zu präsentieren. 1

International Exposition St. Louis 1904. Official Catalogue. Exhibition of the German Empire. ���� Ber� lin: George Sticke, 1904, 390–396. Die ausführlichste Darstellung der Vorgänge bei Dominik Bart� mann, Anton von Werner. Zur Kunst und Kunstpolitik im Deutschen Kaiserreich. Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 1985, 194–212. Zur Reichstagsdebatte: Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt: Fischer, 1999, 99–110.

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In der Tat war es ein eigenartiges Regiment, das Kaiser Wilhelm II. über Malerei, Skulptur, Literatur, Theater und, zumindest in Berlin, auch Architektur führte. In der breit entwickelten internationalen Ausstellungskultur der Jahrhundertwende, an der deutsche Künstler begrenzten Anteil hatten, verschaffte der Kaiser einer älteren Generation akademischer Künstler, zu der er sich mit seinen eigenen Kunstübungen hingezogen fühlte, die Aura legitimer Reichskunst. Sie ging mit dem Vorwurf an die verschiedenen Secessionsgruppen einher, sich dem Internationalismus, der ‚Französelei‘, ja der Reichsgegnerschaft schuldig zu machen. Zweifellos wurde Wilhelms Vendetta gegen die moderne Kunst von bestimmten bürgerlichen Schichten geteilt. Dem Verkauf im Ausland half das allerdings wenig. Dass Frankreich mit seinen impressionistischen Künstlern sowohl die Diskussion als auch den Markt moderner Kunst beherrschte, wurde vom Kaiser und den deutschen Eliten als Sache des nationalen Prestiges, aber auch der Auslandsverkäufe beneidet und bekämpft. So schrieb der deutsche Konsul in St. Louis an seinen Botschafter im Vorfeld der Weltausstellung: „Mir ist dringend geraten worden, dass bei der Auswahl auch die secessionistische Schule genügend berücksichtigt werde, da man glaubt, daß dieselbe der gegenwärtigen Geschmacksrichtung des amerikanischen Publikums entspricht und daher Erfolg haben wird.“2 In Literatur und Theater, wo die von Frankreich und Skandinavien dominierte Strömung des Naturalismus die regionalen und nationalen Anhänglichkeiten in Deutschland als provinziell desavouierte, focht der Kaiser eine über die Jahre hinweg kontraproduktive Schlacht zugunsten einer feudal ‚hohen‘ und ‚deutschen‘ Dichtung aus. Sie verschaffte Gerhart Hauptmann nationalen und bald internationalen Ruhm als Dichter, der, etwa mit dem Theaterstück „Die Weber“, den unteren Schichten eine Stimme verlieh und in der Abwehr kaiserlicher Intervention die Aufklärungsfunktion der Literatur auch in Deutschland wiederherstellte. Nach der niederschmetternden Kritik, die Wilhelm  II. seit den 1890er-Jahren daran geübt hatte, dass moderne Maler mit ihren sozialen Themen und impressionistischen Techniken die hohen Ideale der wahren Kunst in den Rinnstein zerrten, kam die kaiserliche Entscheidung gegen die Secession kaum überraschend. Mehr überraschte die scharfe Gegenreaktion im Reichstag. Dort hatten Liberale und Sozialdemokraten in den Kämpfen gegen die Versuche der Regierung, mit der „Lex Heinze“ künstlerische Freiheiten schärfer zu knebeln, seit Längerem ihre Waffen geschärft und erfolgreich eingesetzt. Jedoch übertraf die Reichstagsdebatte in der Qualität ihrer Argumente und der letztlich auf den Kaiser selbst zielenden Polemik die öffentlichen Er2

Zit. nach Peter Paret, Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen Deutschland, übers. von D. Jacob. Frankfurt/Berlin: Ullstein 1983, 182.

Deutsche Kunst auf der Weltausstellung in St. Louis 1904  | 1 „Die offizielle Berliner Kunst in Saint Louis“, Karikatur von Bruno Paul in Simplicissimus Jg. 8, H. 46 (9.2.1904), S. 361 © VG BildKunst, Bonn 2013

wartungen. Der Liberale Ernst Müller-Meiningen und der Sozialdemokrat Albert Südekum machten den Allerhöchsten selbst zur Zielscheibe. Offensichtlich waren, da es um die künstlerische Selbstdarstellung des Deutschen Reiches im Ausland ging, mit der Ausschließung einer Kunstrichtung die Grenzen der Toleranz – oder des Untertanenbewusstseins – überschritten. Auch als der Regierungsvertreter zu bedenken gab, dass Parteienauseinandersetzungen im Lande gut und förderlich seien, man dem Ausland gegenüber aber geschlossen auftreten müsse, ließen sich die anderen Redner, selbst die konservativen, nicht von dem Vorwurf abbringen, dass dieser Eingriff in die Freiheit der Kunst nicht hingenommen werden könne. Dass Kunst und Kultur den Eindruck einer Einheitlichkeit vermitteln sollten, die das neue Reich im Innern kaum aufwies, war ein häufig gebrauchtes Argument. Wenn es dazu

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diente, die vom Kaiser unternommene Projektion der deutschen Kulturnation im Ausland zu rechtfertigen, machte das Parlament nicht mit. Es wies nicht nur die kaiserlichen Eingriffe in die Freiheit der Kunst, sondern auch den kaiserlichen Absolutismus der kulturellen Vertretung des Reiches im Ausland zurück. Dennoch erhielt die deutsche Ausstellung in St.  Louis großen Beifall. In Kommentaren des In- und Auslands wurde der gewaltige künstlerische Sprung nach vorn gefeiert, den das Deutsche Reich, das noch auf der Pariser Weltausstellung 1900 eher auf technisch-industriellem Gebiet geglänzt hatte, nun auf ästhetischem Gebiet geschafft habe. „Die Ausstellung bedeutet einen Wendepunkt für das künstlerische Ansehen Deutschlands nicht nur im amerikanischen Publikum, sondern in der Schätzung aller Völker, die sich zur Welt-Ausstellung in St. Louis zusammengefunden hatten“, resümierte voller Genugtuung Hermann Muthesius, der Architekt, Kunstkritiker und preußische Regierungsrat.3 War das Lob ein Missverständnis? Muthesius meinte jedoch nicht die vom Kaiser ausgewählten Maler. Muthesius, der den Anschluss der deutschen Design- und Ausstattungsindustrie an die englische Arts-and-Crafts-Bewegung befördert hatte, zielte auf die Kunst, die zu dieser Zeit intensiver als die ‚freie‘ Malerei eine länder­übergreifende Welle von Modernismus repräsentierte und die Aufmerksamkeit auf die Erneuerungskraft nationaler Kulturen unter den Voraus­setzungen von Urbanisierung und Industrialisierung lenkte. Was in diesem Bereich, dem der angewandten Künste, um und nach 1900 geschah, umspannte wesentlich mehr als die formalen und thematischen Neuerungen der freien Künste, denen der Kaiser sein Nein entgegenstellte. Hier trafen sich, wie aus dem von Peter Behrens ästhetisch ansprechend gestalteten Katalog des deutschen Beitrags auf der Weltausstellung in St.  Louis ersichtlich, modern gestimmtes Design, das die luxurierenden Art-Nouveau-Formen zum gefällig Einfachen und Nüchternen weiterentwickelte, mit Aspirationen einer nationalen Kulturerneuerung. Jahrelange Vorbereitungen, die in einem weithin beachteten Beitrag des deutschen Kunstgewerbes zur ersten internationalen Ausstellung der modernen dekorativen Kunst in Turin 1902 gipfelten (Prima Espositione Internazionale d’Arte Decorativa Moderna),4 kamen einer Zurschaustellung zugute, der man zusammen mit dem österreichischen Beitrag attestierte, dass sie die Tragfähigkeit der modernen Bewegung dokumentiere. Auf die Raumgestaltungen von Joseph Maria Olbrich und Peter Behrens, die zum internationalen 3 4

Hermann Muthesius, Die Wohnungskunst auf der Welt-Ausstellung in St. Louis, in: Deutsche Kunst und Dekoration 15 (1904/05), 209–227, hier 227. Richard A. Etlin, Turin 1902: The Search for a Modern Italian Architecture, in: Journal of Decorative and Propaganda Arts, 13 (1989), 94–109.

Deutsche Kunst auf der Weltausstellung in St. Louis 1904  |

Erfolg der Darmstädter Künstlerkolonie entscheidend beigetragen hatten, wie auch von Bruno Paul, Richard Riemerschmid, Otto Pankok und anderen Künstlern verweisend, sah Muthesius als gemeinsamen Grundzug der deutschen und österreichischen Beiträge die „Klärung zum Einfachen, Edlen und Würdigen“, „eine schlichte Zweckmäßigkeit“.5 Muthesius lobte Österreich als „einzigen Staat, der den Schritt gewagt hat, seinen Pavillon ganz der modernen Kunst zu widmen.“6 Grundlage von Muthesius’ selbstbewusster Bilanz bildete die Kombination einer ästhetisch originellen Modernisierung alltäglicher bürgerlicher Lebensformen mit der Neuformulierung nationaler Kulturaspirationen. Mochte der Kaiser die Moderne der secessionistischen Maler im internationalen Gelände vorübergehend aufhalten – auf dem Gebiet der angewandten Künste gab es an ihrem Durchbruch keinen Zweifel. Gegen die allerhöchste Intervention gewendet, bilanzierte Muthesius: „Viele ihrer Leistungen sind so rein und stehen auf einer solchen unantastbaren künstlerischen Höhe, dass auch die Feinde alles Modernen die Segel streichen müssen.“ Deutschlands überzeugender Beitrag auf diesem Gebiet habe die Diskussion darüber beendet, „ob die moderne Bewegung gerechtfertigt sei, ob sie den zu stellenden Anforderungen gerecht werde, ob sie Lebensdauer in sich trage.“7 Angesichts der Modernisierungsdynamik, die um die Jahrhundertwende in der Folge der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung den gewaltig expandierenden Bereich der angewandten Künste, des Designs und der Raumausstattung erfasste und an die Rampe des internationalen Wettbewerbs rückte, kam die Anerkennung des deutschen Beitrags zur Weltausstellung in St. Louis nur für den überraschend, der sich an dem zur Jahrhundertwende noch vorherrschenden Kanon ‚hoher‘ Kunst ausrichtete, in dem die angewandten Künste nur eine untere Sprosse besetzten. Wichtiger als die Hohenzollerngemälde waren dem amerikanischen Publikum von Anfang an die Vorstöße von Künstlern wie Olbrich und Behrens ins Land einer modernen, zweckmäßig-schönen Raumausstattung. Dass Kaiser Wilhelm der akademischen Kunst der Gegenwart in den Worten Parets die Aufgabe zuwies, „das Reich und seine technischen Errungenschaften zu Beginn des 20.  Jahrhunderts zu idealisieren“,8 sorgte in Deutschland für berechtigte Empörung über seine Anmaßung. Es hielt viele Künstler zurück, die neueren, von England und Frankreich inspirierten Strömungen voll aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Im Endeffekt aber 5 6 7 8

Muthesius, Die Wohnungskunst, 217. Ebd., 220. Ebd., 209. Paret, Die Berliner Secession, 178.

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zog die moderne Richtung an der Selbstdarstellung des kaiserlichen Feudalismus kraft ihrer Fähigkeit vorbei, auf den Konsumenten der Gegenwart einzugehen und eine neue, auf den bürgerlichen Alltag bezogene Ästhetik zu ent­wickeln. Wenn sich auch später noch viele Kunst- und Kulturhistoriker an Wilhelms Kunstdiktatur abarbeiteten, übersahen sie die Tatsache, dass Deutschland dessen ungeachtet aufgrund privater, kommerzieller Unternehmergesinnung und bundesstaatlicher (nicht reichsbasierter) Förderung vor 1914 eine weithin wahrgenommene Rolle in der Durchsetzung der Moderne spielte und dass sich hierin eine neue Form kultureller Außendarstellung des Reiches entwickelte. Sie erhielt Förderung von fortschrittlichen Abteilungen preußischer Ministerien, nicht aber vom Auswärtigen Amt. Dennoch lässt sich der Kaiser aus einer Geschichte der kulturellen Außenwirkung des (neuen) Reiches nicht wegdenken. Er erhöhte nicht den Publikumsgeschmack, wohl aber den politischen Stellenwert von Kunst und Kultur, der, solange Bismarck regiert hatte, minimal war. Dass Wilhelm  II. einem Land, dessen Verfassung Kunst- und Kulturpolitik komplett aussparte und die Erziehungspolitik den Bundesstaaten überließ, eine im Ausland genau beobachtete, kulturell basierte Außenwirkung zu verschaffen suchte, besitzt seinen eigenen historischen Stellenwert, gleichgültig ob mit feudalistischen oder modernistischen Idealen. Ohne die kaiserliche Machtanmaßung lässt sich kaum verstehen, dass das Reich auch ohne eine ministerielle Behörde, etwa im Auswärtigen Amt, auf der Ebene nationaler Selbstdarstellung die Repräsentation einer Kulturmacht betrieb.

Schlüsselbegriffe: Modernismus, auswärtige Kulturpolitik, Kulturmacht In seinen Betrachtungen zur Frühzeit des Deutschen Werkbundes hat Theodor Heuss, der als Redakteur der liberalen Zeitschrift März die Entwicklung aus eigener Anschauung kannte, angemerkt: „In jener Zeit war noch nicht das Wort ‚fortschrittlich‘ in das Vokabular der Kunstbetrachtungen eingeschmuggelt. Doch dies war im Bewußtsein die Grundströmung: los von Traditionen und Konventionen, die der seelisch museale Betrieb des verwichenen Halbjahrhunderts konserviert und scheinbar legitimiert hatte – übrigens nicht nur in Deutschland, doch wohl hier, wegen schnellem Volks- und ReichtumsAnschwellen, in den fatalsten Folgen.“9 Heuss’ Bemerkung lässt sich als Auffor9

Theodor Heuss, Notizen und Exkurse zur Geschichte des Deutschen Werkbundes, in: 50 Jahre Deut� scher Werkbund, hg. von Hans Eckstein. Frankfurt/Berlin: Metzner, 1958, 19–26, hier 21.

Modernismus, auswärtige Kulturpolitik, Kulturmacht  |

derung verstehen, die heute so geläufigen Begriffe fortschrittlich, progressiv, avanciert, modernistisch nicht ohne Reflexion ihrer eigenen Modernität zu verwenden, die erst in einer späteren Prägung allgemeine Anerkennung gefunden hat. So besaß die Kennzeichnung als die Moderne im literarischen Leben dieser Zeit den Beigeschmack des Abgestandenen, während modern in den angewandten Künsten eine Durchbruchsformel darstellte. Derartige Begriffe wurden in den freien und angewandten Künsten unterschiedlich gebraucht. Um Gegenwärtiges in den freien Künsten, in Literatur und Malerei, im deutschen Sprachraum zu kennzeichnen, sprach man um 1900 von neu, wenig später von expressionistisch, um 1930 von jung. Ein geschichtlicher Längsschnitt, wie er hier vorgenommen wird, macht jedoch eine Kennzeichnung nach späteren Begriffen notwendig, um Kontinuitäten aufzeigen zu können. Daher die retrospektive – eigentlich idealtypische – Nutzung der Worte modern, modernistisch und Modernismus, die heute für die Innovationen und Reformen im 20. Jahrhundert insbesondere in den angewandten Künsten unentbehrlich sind. Demgegenüber verweist der aus dem Französischen übernommene Begriff Avantgarde sowohl im Politischen wie in den freien Künsten auf ein Überholen der jeweiligen Gegenwart, das Histo­ risierung zulässt, Kontinuitäten jedoch widerspricht. Ihm nahe steht der Terminus Modernität (modernité), der aber den Gebrauch als historische – idealtypische – Konstante eher zulässt. Modernisierung, begrifflich von der amerikanischen Soziologie in den fünfziger Jahren okkupiert und universalisiert, wurde um 1900 in Deutschland als Ausdruck gebräuchlich, wenn man eine Fabrik mit neuer Technik ausstattete.10 Im späten 20. Jahrhundert ist auch an ihm die Inflation der Modernebegriffe nicht vorübergegangen. Für eine transnationale Kulturgeschichte stellen Termini wie Modernismus und Antimodernismus längst eine unentbehrliche, wenn auch jeweils zu differenzierende Referenz dar. Eine ähnlich retrospektive Projektion bietet sich für das Phänomen der auswärtigen Kulturpolitik an, das, idealtypisch erfasst, bereits vor der in dieser Periode angestrebten offiziellen Gestaltung auswärtiger Kulturbeziehungen existierte. Auswärtige Kulturbeziehungen kennzeichnen die Praxis aktiver und angenommener transnationaler kultureller Kontakte. Sie schließen offizielle 10 Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Histo� risches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978, 93–131; Thomas Nipperdey, Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: Saeculum 30 (1979), 292–303; The Turn of the Century. Le tournant du siècle. Modernism and Modernity in Literature and the Arts. Le modernisme et la modernité dans la literature et les arts, hg. von Christian Berg, Frank Durieux und Geert Lernout. Berlin/New York: de Gruyter, 1995.

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und nicht staatliche Kulturpolitik ein, deren Neben‑, oft Gegeneinander sich aus den in den einzelnen Ländern verschiedenen Auffassungen von Staat und Kultur sowie deren gegenseitigem Verhältnis speist. Eine ausschließlich institutionen- oder ämterbasierte Geschichtsschreibung kann diesem Nebeneinander kaum gerecht werden und verliert gegenüber umfassenderen intellektuellen und ästhetischen Strömungen, auf welche die Offiziellen reagieren, ihr analytisches Potenzial. Will man diese Strömungen in ihrer Bedeutung für die trans-nationale Repräsentation einbeziehen, muss neben regierungsamtlichen oder von Feudalinteressen getragenen Unternehmungen zunächst die rapide anwachsende Interaktion privater oder halboffizieller Akteure sichtbar gemacht werden, mit anderen Worten die Kulturgeschichte der Zivilgesellschaft, mit der sich erst das Verhältnis von Politik und Kultur im Laufe jener Repräsentation genauer bestimmen lässt. Die Umstände, unter denen die aufsehenerregende deutsche und österreichische Beteiligung in St. Louis zustande kam, belegen bereits die Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise. Sie wird im Folgenden um viele Akteure und Wirkungsdimensionen erweitert werden. Schließlich der Begriff der Kulturmacht. Er besitzt keinen ‚Erfinder‘ und ist doch seit der Jahrhundertwende anwesend, speziell in den Äußerungen national gesinnter Professoren und Journalisten. Er band den überkommenen Besitzerstolz des Bürgertums auf die Größe deutscher Kultur und Musik und die führende Rolle der deutschen Wissenschaft in der Welt mit dem zunehmend aggressiven Nationalismus zusammen, verstand sich als Aktivum im zunehmenden Kulturwettbewerb der Nationen. Allerdings haftete dem Begriff, während man im Rivalitätsdiskurs der europäischen Staaten die Worte ‚Militärmacht‘, ‚Wirtschaftsmacht‘ oder ‚Kolonialmacht‘ ohne viel Nachdenken gebrauchte, mit der Assoziation von Kultur mit Politik etwas Bedenkliches an. Der vage, politisch ominöse Begriff der Kulturmacht war nicht Sache deutscher Behörden. Aber er war deshalb nicht weniger wirksam für den Umgang reichsdeutscher Eliten mit anderen Nationen. Er fügte der von vitalistischen Aspirationen genährten Nationalisierung deutscher Kultur einen Anspruch hinzu, den man im Ausland nicht ohne Assoziation an die militärische Selbsterhöhung verstand. ‚Kulturmacht‘ war Besitzfeststellung ebenso wie gewollter Anspruch, weckte im Inland andere Assoziationen als im Ausland. Mit dieser semantisch offenen Aussageform machte dieser Begriff gleichsam eine inoffizielle Karriere, die sich dann mit dem Ersten Weltkrieg bis hin zum nächsten Krieg zu einem aktiven Faktor deutscher Politik entwickelte.

Kunstkonkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland  |

Entstehen der Kunstkonkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland Anders als in Frankreich kann man im deutschen Kulturbereich auch bei der Herausbildung moderner Kunst und Kultur bekanntlich nicht von einem Zentrum ausgehen. Berlin, die preußische Hauptstadt, galt als intellektuelles und Wissenschaftszentrum; auf dem Gebiet der Kunst hielt man ihr großzügiges Mäzenatentum, Sammlerleidenschaft und einen ständig wachsenden Kunstmarkt zugute.11 Wenn es sich um die Kunstproduktion handelte, richteten sich die Augen jedoch auf München, das sich im 19. Jahrhundert dank des Mäzenatentums der Könige Ludwig I., Ludwig II., und des Prinzregenten Luitpold den Ruf der deutschen Kunstmetropole erworben hatte und für viele ausländische Käufer zum beliebten Markt geworden war. Am Ende des Jahrhunderts betrachtete man es als Hauptort des neuen Kunstgewerbes, dem die Gründung der Vereinigten Werkstätten 1896 besondere Reputation verschaffte. Was seit Langem als Gegnerschaft zwischen Bayern und Preußen gepflegt worden war, gewann neue Argumente in der Kontrastierung des imperialen Kunstgestus der neuen Reichshauptstadt mit der volkstümlichen, zivil und regional gesinnten Kunst der bayerischen Hauptstadt. Diese bewegte sich ohnehin mehr im Bereich bürgerlicher Lebenskultur und Dekoration als in dem der ‚hohen‘ Kunst. Frei von den Ambitionen hohenzollernscher Reichsführung, die sich in Berliner Prunkbauten manifestierte, konzentrierte sich das Interesse eines gemäßigt liberalen Bürgertums auf die Neugestaltung von Kunstgewerbe und Innenausstattung. All dies war zum Modell einer Neubelebung regionaler Zentren auf den Gebieten geworden, die bei der Gründung des Reiches 1871 den Bundesstaaten fast ohne Einschränkung zufielen: Kultur, Kunst und Erziehung. Für diese Zentren, allen voran München, Darmstadt und Dresden, war die künstlerische Zusammenarbeit mit Wien, dem immer noch überragenden Hauptort deutschsprachiger Kultur, inspirierender als die mit Berlin, am deutlichsten im Werkstättengedanken, der in Wien die Triumphe moderner Dekoration und Architektur ermöglichte. Joseph Maria Olbrich, der Architekt des aufsehenerregenden Secessionsgebäudes in Wien, machte, zusammen mit Peter Behrens, die 1899 von Großherzog Ernst Ludwig in Darmstadt gegründete Künstlerkolonie zum Ausstellungsstück des deutschen Jugendstils. Als in München nach 1904 die Staatsregierung die Förderung der modernen Unternehmungen zu11 Über Berlins wachsende Bedeutung als Umschlagplatz für Kunst s. Robin Lenman, Die Kunst, die Macht und das Geld. Zur Kulturgeschichte des kaiserlichen Deutschland 1871–1918. Frankfurt/ New York: Campus, 1994, 70, 143 und passim.

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rückschraubte und das Pendel zur konservativen Seite ausschlagen ließ, trug Dresden, von der sächsischen Regierung unterstützt, den Aufschwung 1906 mit der Dritten Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung weiter, der größten und erfolgreichsten Veranstaltung dieser Art, „auf deren Ideen Werkbund, Bauhaus und die Deutsche Moderne zum größten Teil basieren.“12 Nicht zufällig war es ein sächsischer, in Berlin ansässiger, 1907 vom schwäbischen Heilbronn aus in den Reichstag gewählter Politiker, der diesem Aufstieg einer regional entwickelten Ausstattungskunst politische Bedeutung zumaß und mit ihr die Definition Deutschlands als Kulturnation aus anderen Quellen herleitete, als es der Kaiser tat. Zwar teilte Friedrich Naumann, der Herausgeber der liberalen Zeitschrift Die Hilfe, der sogar ein Wunschporträt Wilhelm II. als Volkskaiser veröffentlichte, mit diesem die Referenz auf Nation und die Bedeutung einer nationalen Kultur, doch sah er den Beitrag einer neuen, der industriellen Produktion verpflichteten Kunstpraxis als konstitutiv für dieses Ziel an und verstand sie als ebenso national wie den Aufmarsch eines Garderegiments vor dem Berliner Schloss. Naumann, ein glänzender Redner und Essayist, der als politischer Ideengeber des 1907 in München gegründeten Deutschen Werkbundes erfolgreicher war denn als Parteiengründer, rechnete 1909 der preußischen Metropole in einer Rede zur Berliner Gewerbekunst vor, dass die wichtige Stellung, die sich die Stadt im internationalen Kunsthandel erworben habe, deshalb auf schwachen Füßen stehe, da sie nicht auf einer vitalen, modern avancierten Gewerbekunst aufbaue. Was „die neue Gewerbeperiode“ in ihrem „jugendlichen Glanze“ bringe, habe in Berlin (noch) keine Heimat: „Berlin aber ist heute der deutschen Kunst gegenüber noch dasselbe sandige Nest, wie vor hundert Jahren. Später findet es den Anschluß; was aber würde es sein, wenn unser erster Gewerbeort in der neuen nationalen Leistung obenan stünde! Das würde vor allem für das Auslandsgeschäft sehr viel ausmachen, denn Berlin ist und bleibt der größte Verkehrsplatz. In Berlin bilden die Amerikaner, Engländer und Franzosen sich ihr Bild vom deutschen Können. Ein Teil von ihnen fährt auch nach Dresden, München, Stuttgart und Darmstadt, aber die für den Großhandel entscheidenden Eindrücke werden doch in Berlin aufgenommen. Und diese Eindrücke sind matt, farblos, gut, aber nicht werbend und anlockend.“13 Naumanns Kritik an Berlin war nicht gehässig, eher bedauernd. Die moderne deutsche Ausstattungskultur formte sich in den Provinzmetropolen. Er 12 Winfried Nerdinger, Riemerschmids Weg vom Jugendstil zum Werkbund, in: Vom Jugendstil zum Werkbund. Werke und Dokumente, hg. von dems., München: Prestel, 1982, 21. 13 Berliner Gewerbekunst, in: Friedrich Naumann, Werke, Bd. 6. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag, 1964, 227 f.

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hielt ihren Trägern zugute, dass sie die neuen Kunstformen an den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft, das heißt am bürgerlichen Konsumenten ausrichteten, dem sie ein attraktives Angebot machen mussten. Bei Naumann mischte sich nirgendwo der antiurbane Anti-Berlin-Effekt ein, mit dem zu dieser Zeit reaktionäre Kritiker wie Fritz Lienhard, Heinrich Sohnrey und Adolf Bartels ihre Hymnen der agrarisch-idyllischen Provinz als Hort des Deutschtums ausstaffierten. Im Gegenteil insistierte Naumann darauf, dass Berlin zentraler, bestimmender, attraktiver für die Nation und ihre Kultur werden müsse. Seine Definition nationaler Kultur balancierte auf dem schmalen Grat zwischen der Authentizität des Regionalen (von der man allerdings schnell ins Reaktionär-Völkische abrutschen konnte) und der Repräsentanz des Nationalen im Wettbewerb der Nationen (was schnell ins Feudal-Militärische übergehen konnte). In jedem Falle berief er sich auf den Blick von außen auf Deutschland, um die Produktivität der Einzelregionen als eine ebenso nationale Aktion herauszustellen wie die Proklamationen nationalpolitischer Art, die aus der Hauptstadt erfolgten. Insofern neuere Historiker die Nationalisierung des Reiches zu diesem Zeitpunkt nicht als zentralisierende ‚Verpreußung‘, sondern als eine eng mit regionaler Selbstbesinnung verbundene Mehrfachidentifizierung analysiert haben, finden sie in der regionalen Erarbeitung modernistischer Strömungen Bestätigung.14 Dazu gehört die Einsicht, dass Internationalität im Austausch von Kunstpraktiken keineswegs allein über die Hauptstädte abgewickelt wurde, eine Einsicht, die angesichts der Innovations‑, Ausstellungs- und Konsumkapazitäten regionaler Zentren in Deutschland trotz Naumanns Skepsis zu dieser Zeit im Ausland sehr wohl verbreitet war. Gewiss hatte sich Berlin inzwischen für Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zum zentralen Umschlagplatz mit dem Ausland entwickelt, doch rief die Stadt sowohl bei ihren eigenen Modernisten als auch bei den regionalen Eliten Unmut hervor, wenn sie auf den Gebieten von Kunst und Kulturpolitik mit kaiserlichen Direktiven assoziiert wurde. Diese am Markt orientierte Dynamik, die sich keineswegs der kaiserlichen Geltungssucht unterwarf, wurde in Frankreich, der Vormacht der freien und, 14 Celia Applegate, Localism and the German bourgeoisie. The ‘Heimat’ movement in the Rhenish Palatinate before 1914, in: The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Eighteenth to the Early Twentieth Century, hg. von David Blackbourn und Richard J. Evans. London/New York; Routledge, 1991, 237 f. S. auch Dan S. White, Regionalism and Particularism, in: Imperial Germany. A Historiographical Companion, hg. von Roger Chick� ering. Westport/London: Greenwood, 1990, 131–155; Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg, 2000; Siegfried Weichlein, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bis� marckreich. Düsseldorf: Droste, 2004.

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nach eigener Einschätzung, dekorativen Künste, allerdings erst mit einiger Verzögerung wahrgenommen. Auf der Pariser Weltausstellung 1900 hatte das Land seine Vormachtstellung trotz einschränkender Kommentare über die internationale Präsenz des britischen Arts and Crafts Movement von allen Seiten so eindringlich bestätigt bekommen, dass man sich mit den vorhandenen Lösungen erst einmal zufriedengab. Scharfsichtige Beobachter wie Muthesius vermerkten bereits nach der Turiner Ausstellung 1902 und noch mehr nach der Weltausstellung in St. Louis 1904 ein Erschlaffen und Stagnieren in den französischen Beiträgen zur dekorativen Kunst.15 In den Folgejahren blieb den Franzosen nicht verborgen, dass sie mit ihren elitären Designkonzepten, die sich traditionellen Formen sowie dem Prinzip individuellen Schöpfertums verpflichtet sahen, hinter die neuartige Gemeinschaftsarbeit von Künstlern, Druckern, Malern und Unternehmern zurückfielen, die die deutschen und österreichischen Werkstätten praktizierten. Sollte man, so stellte sich die Frage, Exklusivität von Form und Geschmack zugunsten erschwinglicher Produkte aufgeben, deren ge­fälliger Einfachheit die Massenfabrikation anzusehen war? Sollte man womöglich die französischen Traditionen individueller künstlerischer Schöpfung, die in die Zeit der Könige Louis XIV., XV. und XVI. zurückreichten, zugunsten der deutschen Produktionsorganisation aufgeben?16 Immerhin schlossen sich 1907, im Gründungsjahr des Deutschen Werkbundes, Künstler, Designer und Kunstorganisationen zur Union Provinciale des Arts Décoratifs zusammen, die im Sinne des deutschen Modells eine Dezentralisierung der Kunstproduktion verfolgte. Auf Einladung aus München nahm die Organisation an der Kunstgewerbeausstellung teil, welche die bayerische Hauptstadt 1908 mit viel Aufwand und Regierungsunterstützung organisierte, um die führende Stellung in Deutschland zurückzugewinnen. Auch wenn Letzteres der Ausstellung nicht gelang, führte sie für die französischen Aussteller, die sich voll auf den Wettbewerb eingestellt hatten, zu einer ungewohnten Wahrnehmung: dass ihre Produkte gegenüber dieser ästhetisch gelungenen Präsentation einfacher, gefälliger und erschwinglicher Möbel und Raumausstattungen Stagnation anzeigten.17 Während die Union professionell mit einer Gegeneinladung an die Münchener Künstler für 1910 reagierte, war das Echo im Lande selbst wesentlich schriller und unversöhnlicher. In der Pariser Presse wurde die Ausstellung als ein vom Deutschen Reich systematisch organisierter Vorstoß hingestellt, 15 Muthesius, Die Wohnungskunst, 222 f. 16 Nancy J. Troy, Toward a Redefinition of Tradition in French Design, 1895 to 1914, in: Design Issues 1 (1984), 53–69. 17 Nancy J. Troy, Modernism and the Decorative Arts in France. Art Nouveau to Le Corbusier. New Haven: Yale University Press, 1991, 57–61.

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Frankreich die Führung in der dekorativen Kunst abzujagen. Sie belebte die aus dem verlorenen Krieg von 1871 stammenden Ängste, auf dem so zentralen Gebiet der Künste geschlagen zu werden. Dass die Empfindlichkeiten berechtigt waren, bestätigte die militante Sprache, die der Repräsentant hohenzollernscher Kunstpolitik, Anton von Werner, bei der Vorbereitung des deutschen Beitrags zur Pariser Weltausstellung 1900 benutzte; von Werner hielt dem Reichskommissar vor, er habe den „Mobilisierungsplan“ für den deutschen Beitrag zur Weltausstellung unverständlicherweise in aller Öffentlichkeit erörtert.18 Im Jahre 1910, als sich die Beteiligung Münchener dekorativer Künstler am Salon d’Automne als großer Erfolg erwies, galt die nationalistische Kritik französischer Besucher nicht mehr der von Werner vertretenen Kunst, die sie mit Recht seit Langem abgetan hatten. Hier ging es um ein neues Phänomen. Hier ging es um einen künstlerischen Aufbruch im Bereich bürgerlicher Alltagskultur, der von einer substanziellen Reform des Kunstgewerbes getragen wurde. Wie bedeutend dieser Aufbruch für den Wettbewerb nationaler Kulturen war, hielt 1912 der aus der französischen Schweiz stammende Architekt Charles-Edouard Jeanneret, der sich später Le Corbusier nannte, in dem umfangreichen Bericht Étude sur le mouvement d’art decorative en Allemagne seinen Zeitgenossen vor Augen. Jeanneret stützte sich auf seine in Deutschland 1910/11 gemachten Erfahrungen, zu denen auch ein viermonatiger Arbeitsaufenthalt in Peter Behrens’ Architekturbüro gehörte. Der Bericht ist geradezu ein Traktat darüber, was Frankreich bei der Erarbeitung moderner Kunst versäume, wenn sich seine Künstler nicht wie in Deutschland auf industrielle Produktion einließen. Gewiss bleibe Paris das Zentrum der freien Künste, aber Deutschland entwickle die angewandten (Produktions‑)Künste in exemplarischer Form. Mehr noch, Deutschland stelle sich als Champion des Modernismus dar, ohne im Bereich der freien Künste etwas zu schaffen, das dies belegen könnte; man erwerbe Werke von Pariser Malern und Bildhauern wie Courbet, Manet, Cézanne, van Gogh, Matisse, Maillol und anderen (denen im eigenen Lande oft die Anerkennung verwehrt werde). „Auf der anderen Seite enthüllt es sich ziemlich plötzlich als riesig im Hinblick auf Leistungsfähigkeit, Willenskraft und Geschäftssinn auf dem Gebiet der angewandten Künste.“19 Jeanneret schloss mit den Worten: „Wenn Paris das Heim der Kunst ist, bleibt Deutschland die große Baustelle der Produktion. Experimente werden dort gemacht, die Kämpfe

18 Francoise Forster-Hahn, ,La Confraternité de l’Art‘. Deutsch-französische Ausstellungspolitik von 1871 bis 1914, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 48 (1985), 507. 19 Ch-E. Jeanneret (Le Corbusier), Étude sur le mouvement d’art decoratif en Allemagne. New York: Da Capo, 1968 (Nachdruck), 13.

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sind Wirklichkeit geworden: das Gehäuse ist errichtet und die Räume erzählen mit ihrem Wanddekor den Triumph der Ordnung und der Hartnäckigkeit.“20

Auswärtige Kulturpolitik als Ergebnis eines Wechselverhältnisses In diesem Wettbewerb um die Ausstattungskunst des neuen Jahrhunderts lassen sich bereits typische Faktoren internationaler Kulturpolitik erkennen, die in einem Zeitalter globaler Vernetzung, das erst ein Jahrhundert später wieder seinesgleichen fand, in die Bereiche von Diplomatie und Handelspolitik eindrangen, sei es mit Antagonismen und Polemiken, sei es mit Nachahmungen und widerwilliger Bewunderung. Staaten haben seit jeher über ihre feudalen und militärischen Eliten konkurriert, aber in dieser Periode imperialistischer Rivalitäten, technologischer Herausforderung und industrieller Bedrohung um 1900 gewannen künstlerisch-kulturelle Faktoren ein von den traditionellen Eliten kaum mehr beherrschtes Eigengewicht. Das wurde der Welt besonders klar von Frankreich vorgeführt, das sich nach der Niederlage gegen PreußenDeutschland als Kultur- und Kolonialmacht ein neues Weltmachtprofil erobert hatte. Wenn dann tatsächlich kurz nach der Jahrhundertwende Deutschland als ernst zu nehmender Konkurrent auf einem von Frankreich seit jeher dominierten Gebiet auftrat, gewann der Bereich moderner Ausstattungskultur, der in kein etabliertes politisches oder diplomatisches Raster passte und von keiner Reichsbehörde verwaltet wurde (wohl aber vom preußischen Handelsministerium Unterstützung erhielt), spezifisches Gewicht für die Diskussion deutscher Produkte im Ausland und, mehr noch, für das Selbstverständnis des Reiches als Kulturmacht. Bedurfte es einer Reichsbehörde, um diese ‚Erwiderung‘ in Bewegung zu setzen? Offensichtlich war man auf Regierungsebene, die dafür keine Verfassungsermächtigung bereithielt, anders als Frankreich nicht eingerichtet. Eine kulturpolitische Agenda, die dem Wettbewerb mit Frankreich eine offizielle Anleitung verschafft hätte, existierte nicht. Jedoch entwickelte sich die ‚Erwiderung‘ ohnehin – in diesem Falle stark aus den einzelstaatlichen und von Unternehmern geförderten Projekten, die dann mit der Arbeit des Deutschen Werkbundes und der überall grassierenden Ausstellungsmanie sowie dem wachsenden Medienecho eine eigene Dynamik entwickelte. Mehr noch: Ohne 20 Ebd., 73; s. Nancy J. Troy, Le Corbusier, Nationalism, and the Decorative Arts in France, 1900– 1918, in: Nationalism in the Visual Arts, hg. von Richard A. Etin, Hanover/London: University Press of New England, 1991, 65–87.

Ergebnis eines Wechselverhältnisses  |

dass eine staatliche Konzeption wirksam wurde, bekam das Reich auf der internationalen Szene die Erfolge und Misserfolge dieser Projekte zugeschrieben, mochten seine Botschafter damit auch nicht das Geringste zu tun haben wollen. Internationales Gewicht im Politischen und Wirtschaftlichen ließ sich ohne kulturelle Ambitionen nicht mehr denken. Als die Reichsregierung in den Jahren vor dem Krieg tatsächlich Schritte dazu einleitete, für die Beziehungen mit anderen Ländern, speziell in Übersee, neben den diplomatischen, politischen und kolonialen Handlungsformen auch eine Disposition zugunsten kultureller Einwirkungen zu institutionalisieren, bedeutete dies nur die offizielle Anerkennung der von außen wirksamen Faktoren. Es entsprach einer gängigen Praxis, die viele Zeitgenossen, Auslandskaufleute ebenso wie Akademiker, Publizisten ebenso wie Auslandsvereine, dringend zu offizieller Anerkennung und Nutzung geführt wissen wollten. Auf Reichsebene wuchs, wenngleich nur zögernd, die Einsicht, dass man nach den Fehlschlägen offener Machtpolitik auf der Weltbühne andere Strategien entwickeln müsse. Längst wurde ja in der Welt der offenen Grenzen vor 1914 von vielen Akteuren internationale Kulturpolitik betrieben. Selbst im Reich agierten bereits mehrere Behörden als Förderer auf diesem Gebiet, insbesondere das Reichsinnenministerium und das Reichsmarineamt, mit dem Admiral Tirpitz Weltmachtpolitik propagierte. Seit Langem als Wissenschaftsmacht anerkannt, deren Leistungen sich sowohl aus regionalen wie nationalen Impulsen speisten, bestärkten die von der Öffentlichkeit zunehmend im nationalen Sinne verstandenen kulturellen Institutionen, Traditionen und ästhetischen Innovationen ein neues Selbstgefühl. Diesem Denken leistete das Ausland Vorschub, auch und gerade wenn es dem neuen Reich eine bedrohliche Ausrichtung am Militärischen nachsagte. Damit sahen sich wichtige Segmente des Bürgertums veranlasst, den von Bismarck beiseitegeschobenen Rechtfertigungszwang des Reiches aus dem Kulturellen zu ergänzen. Zudem bedingte die Ausrichtung an der Internationalität, mit der man mithalten wollte, eine effektivere Präsentation nationaler Kultur. Wie ließen sich die deutschen auswärtigen Kulturbeziehungen vor 1914 in ihren vielen spontanen, privaten und offiziellen Aktionen überhaupt erfassen, wenn nicht als Resultat dieser intensiven Wechselwirkung über die Grenzen hinweg, wo Internationalität die Vorbedingung nationaler Reflexion bildete und Nationalität als Vorbedingung internationaler Kooperation verstanden wurde? Oft genug waren es die von außen kommenden Erwartungen, von denen Deutsche, die sich in dem neu gegründeten Reich noch keineswegs zu Hause fühlten, dazu inspiriert wurden, ihre Identität über den kulturellen Kontakt zum Ausland zu artikulieren und sozusagen ihre eigene kulturelle Außenpolitik zu erfinden. Wie stark diese konstante Wechsel- und Gegenwir-

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kung äußerer und innerer Kräfte selbst den Bereich der Politik bestimmte, der eigentlich die Gültigkeit des Einzelakteurs – Bismarck – beweisen sollte, ließ der berühmte Liberale Theodor Mommsen anlässlich seiner Polemik gegen Heinrich von Treitschkes Antisemitismus wissen, wenn er über „die Einheit unserer Nation“ bemerkte: „Wir verdanken sie mehr dem Haß unserer Feinde als unserem eigenen Verdienst; was der Krieg verbunden hat, kann der Friede, namentlich ein Friede, wie er jetzt in der Presse und auf den Tribünen schaltet, wiederum lockern.“21 Gewiss war, wenn man diesen Gedankengang weiter verfolgt, dass dieses Reich, dessen Entstehung intensiv von außen beeinflusst worden war, auch bei der Festlegung seiner kulturellen Identität stark von außen her mitbestimmt blieb. In dieser Wechselwirkung gewann die unkoordinierte, teils von privaten, unternehmerischen, wissenschaftlichen und halboffiziellen Akteuren verantwortete, teils von Kaiser Wilhelm mit großen Showeffekten der Welt offerierte Präsentation des Deutschen Reiches vor 1914 ihr Profil – zugegebenermaßen ein ziemlich undeutliches Profil, jedoch eines, das die Spannung von ausländischer Erwartungshaltung und interner Unsicherheit immer erkennen ließ. Die Entstehung einer offiziellen auswärtigen Kulturpolitik des Reiches ist somit nur ein besonders schlagendes Beispiel dafür, dass eine solche Politik nur dann voll erfasst werden kann, wenn sie in ihrer Wechselseitigkeit verstanden wird. Grundsätzlich formuliert: Die auswärtige Kulturpolitik eines Landes ist nicht allein Sache eines einzelnen institutionellen Akteurs. Sie wird ebenfalls von den anderen Ländern, nicht nur vom Lande selbst geformt. Diese Feststellung entzieht einer reich bemessenen Definition auswärtiger Kulturpolitik als Außenwirkung eines Landes aufgrund kultureller, künstlerischer und anderweitig medienbasierter Praxis keineswegs die Basis. Jedoch lässt sie, indem sie die Reziprozität der Interaktion über die Grenzen hinweg berücksichtigt, eine dialektische Grundstruktur erkennen, die den eindimensionalen Erzählungen der Institutionsgeschichte, wie sie etwa das Auswärtige Amt selbst seit den zwanziger Jahren gefördert hat, entscheidende Einsichten voraushat. Ohne Erfassung der Wechselseitigkeit lassen sich kulturelle Kontakte über Grenzen kaum definieren, geschweige in ihrem Effekt einschätzen.

21 Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum (1880), in: Der „Berliner Antisemitis� musstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, hg. von Karsten Krieger, Teil 2. München: Saur, 2003, 695–709, hier 701.

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Möglichst unsichtbar: das Auswärtige Amt In Bismarcks Reichverfassung war Kulturpolitik nicht vorgesehen, erst recht nicht auswärtige. Für die Vereinigung deutscher Staaten unter preußischer Führung hatte der Kanzler nicht kulturelle, sondern politische und militä­rische Strategien eingesetzt. Was die Verfassung betraf, war er bemüht, die föderalistisch-parlamentarischen Elemente mit den monarchisch-autoritären Zügen zu einem Gebilde zusammenzufügen, das auch nach seinem Abtreten noch funktionsfähig blieb. In diesem „System umgangener Entscheidungen“22 blieb für ein Abwägen einer neu auf das Reich abgestellten Tätigkeit auf dem Gebiet der Kultur kein Raum. Fest stand, dass in diesem neu geschaffenen föderativen „Ewigen Bund“ von zweiundzwanzig Staaten und drei Freien Städten das Reich bestimmte Rechte und Pflichten erhielt, zu denen die Außenpolitik und das Militär zählten, während die Bundesstaaten im Hinblick auf andere Pflichten und Rechte, zu denen vornehmlich Kultur und Erziehung gehörten, autonom blieben. Damit ergab sich im Falle kultureller Außenrepräsentation, etwa bei Weltausstellungen, höchstens die Festlegung auf die Zuständigkeit des Reiches. Diese Zuständigkeit, die von den Bundesstaaten als Teil der Außenpolitik akzeptiert wurde, entsprach keinem expliziten Verfassungsauftrag. Zeitgenossen verspürten kaum das Bedürfnis, das „System umgangener Entscheidungen“ durch verfassungsmäßige Festlegungen zur Kultur zu determinieren. Bismarck lehnte Manifestationen eines kulturellen Föderalismus ab. Er drängte mit dem, was als Kulturkampf einen gewichtigen Teil seiner Innenpolitik ausmachte, darauf, den Machtanspruch des säkularen Staates gegen religiöse Machtreservate und kulturellen Partikularismus durchzusetzen. Damit lag er durchaus auf der Linie anderer europäischer Staaten, insbesondere Frankreichs, wo sich die neu gegründete Dritte Republik in einem aggressiven Kampf gegen die katholische Kirche engagierte, der zu Konfrontationen führte, die an Härte die im Nachbarland oft übertrafen.23 Im Reich entwickelte sich der Kampf zu einer Durchsetzung protestantisch-preußischer Prinzipien und Erziehungsformen in ost‑, süd- und westdeutschen Regionen, in denen die katholische Kirche jahrhundertealte Traditionen pflegte. Der Kampf bewirkte, dass sich die Katholiken in diesen Regionen noch jahrzehntelang nicht voll im Reich integriert fühlten. Er erreichte seine größte Intensität in den preußischen Ostprovinzen Posen und Schlesien, wo sich antikatholische mit antislawischen 22 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolu� tion“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München: Beck, 1995, 355 f. 23 Frederick Brown, For the Soul of France. Culture Wars in the Age of Dreyfus. New York: Knopf, 2009.

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Tendenzen mischten. Diese Form des Kulturkampfes, die sich auch nach der Einstellung spezifisch antikatholischer Maßnahmen fortsetzte, hatte zur Folge, dass das Reich auch bei den östlich der Grenze ansässigen Polen als verschärftes Preußen wahrgenommen wurde. Die einzige Großunternehmung, der man eine Chance zugebilligt hätte, Bismarcks Konzeption eines föderalen Staates ohne Kulturpluralismus ein föderalistisch basiertes Programm entgegenzuhalten, war die von Richard Wagner unternommene Gründung der Bayreuther Festspiele. Im Rückgriff auf ältere Traditionen deutschen Vereinsföderalismus – gegen den ‚bloß‘ dynastischen Föderalismus – entwarf Wagner die Idee eines Kulturstaates, der aus politischsozialen „Monaden“ bestünde, „in denen soziale Durchlässigkeit und Wille zur Kunst sich wechselseitig ergänzen würden.“24 Bayreuth sollte zum zentralen Ort werden, um die Deutschen zu diesem ästhetisch grundierten Reichsverständnis zu erziehen. Der Triumph der Meistersinger-Uraufführung 1868 in München hatte die Zeichen gesetzt, als Wagner, entgegen der Hofetikette vor Ludwig II. stehend, den Jubel des Publikums in der Loge des bayerischen Königs entgegennahm. Während Wagners Hoffnung, mit dem Zyklus Der Ring des Nibelungen dem Reich einen Gründungsmythos zu verschaffen, beim Publikum angesichts der schwer zu durchschauenden mythologischen, in der Selbstzerstörung endenden Geschichte ihr Ziel verfehlte, erwarben sich Die Meistersinger mit dem bunten Aufmarsch des Volkes auf der Nürnberger Festwiese und dem Konflikt zwischen dem ‚Deutschen‘ Hans Sachs, dem strahlenden Stolzing und dem kritisch-negativen Beckmesser den Nimbus, Kultur, Volk und Nation zu versöhnen. In dem Bild des auf der Festwiese versammelten Volkes manifestierte sich ein Aspekt nationaler Einigung, der auf dem von Anton von Werner geschaffenen, kanonisch gewordenen Gemälde der Ausrufung des Reiches durch Fürst Bismarck in Versailles vollständig fehlte. Dort waren nur Fürsten und Militärs, keine Bürgerlichen zu sehen, vom Volk ganz zu schweigen. Wer allerdings bei der festlichen Einweihung der Bayreuther Festspiele 1876 nach dem Volk suchte, wurde enttäuscht. Wagner selbst war davon schließlich abgekommen. Das Volk zahlte nicht. Das wog für Wagner allerdings nicht so schwer wie die Feststellung, dass auch Bismarck nicht zahlte. Jahrelang hatte er um dessen finanzielle Unterstützung der Festspiele ersucht. Wider Willen hatte schließlich sein langjähriger Gönner, König Ludwig II. von Bayern, 100.000 Taler zugeschossen, während die Spitzen der Berliner Gesellschaft Wagners Festspielen die kühle Schulter zeigten. Mit der Weige24 Rüdiger Görner, Einheit durch Vielfalt. Föderalismus als politische Lebensform. �������������� Opladen: West� deutscher Verlag, 1996, 85.

Möglichst unsichtbar: das Auswärtige Amt  |

rung, den neu gegründeten Staat für Wagners Unternehmung zu engagieren, statuierte Bismarck ein Exempel dafür, dass ihm an einer symbolisch-mythologischen Ästhetisierung der Reichseinigung nicht gelegen war. Auch halfen Wagners skrupellos antifranzösische Äußerungen während des Krieges 1870/71 nicht, dessen Projekt offiziell als Nationalunternehmen zu sanktionieren – sie streuten noch mehr Salz in die Wunden des Verlierers.25 Dass Wagner trotz seiner antifranzösischen Texte – Deutsche Kunst und deutsche Politik (1868), An das Deutsche Heer vor Paris (1871) und Eine Kapitulation (1873) – in den folgenden Jahrzehnten in Frankreich besonders unter der Avantgarde eine große Anhängerschaft fand, ja von den Gegnern der Moderne geradezu als Inspirator der kulturellen ‚Infektion‘ mit dem Modernismus gebrandmarkt wurde, lässt sich als historische Ironie seiner weltweiten Wirkung anfügen.26 Zugleich stellt es ein einprägsames Beispiel dafür dar, wie die Definition der Kultur eines Landes von außen her mitgeformt wird, insofern die kulturellen Eliten Europas das neue Reich bis hin zum Ersten Weltkrieg als kulturellen Resonanzraum von Wagners Wiederbelebung germanischer Größe und Heldenmacht zu interpretieren beliebten, eine Projektion des Wagnerismus, die besonders in Frankreich und Russland sowohl als Inspiration großer Kultur als auch als Infektion der eigenen Kultur lautstarke Reaktionen hervorrief.27 Wagnerismus gleichsam als unautorisierte, subversive auswärtige Kulturpolitik einer auf dieser Ebene wenig souveränen Kulturmacht – bis dann Kaiser Wilhelm II. den Wagner-Kult direkt für seine offizielle Repräsentanz des Reiches einspannte. Trotz Bismarcks Distanz verflüchtigte sich bei der Gründung des Deutschen Reiches der von deutschen Staaten seit Langem entwickelte Geist der Fürsorge für die Kunst keineswegs. Ein Blick in die Staatswissenschaft dieser Jahre belehrt darüber, dass gerade in dieser Zeit die Rolle des Staates „als Schützer und Pfleger eines selbständigen Kulturbereichs“ im Hinblick auf die erfolgreiche Tradition Preußens mit vielen Argumenten herausgehoben wurde.28 Erst die 25 David C. Large, The Political Background of the Foundation of the Bayreuth Festival, 1876, in: Central European History 11 (1978), 166. 26 Leon Daudet, Hors du joug allemand. Mesures d’après-guerre. Paris: Nouvelle Librairie Nationale, 1915, 75–92. Von Wagner zum Wagnérisme: Musik, Literatur, Kunst, Politik, hg. von Annegret Fau� ser und Manuela Schwartz. Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag, 1999; darin bes. Michael Meyer, Wagners politische Stellungnahme im deutsch-französischen Krieg, 87–106; Jane F. Fulcher, Wag� ner in the Cultural Politics of the French Right and Left before World War  I, 137–154; Myriam Chimènes, Elites socials et pratiques wagnériennes. De la propagande au snobisme, 155–198. 27 Wagnerism in European Culture and Politics, hg. von David C. Large und William Weber. Ithaca/ London: Cornell University Press, 1984. 28 Thomas Oppermann, Kulturverwaltungsrecht. Bildung – Wissenschaft – Kunst. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1969, 23 f.

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Ignorierung dieses Bereichs in der Verfassung trocknete die juristische Diskussion darüber in den folgenden Jahrzehnten aus. Was ins neue Reich übernommen wurde, war der Geist der monarchischen Kunstfürsorge. Was fehlte, waren die entsprechenden Mittel im Reichshaushalt. Damit blieb die Unterstützungspraxis für Kunst und Kultur mehr oder weniger ein Anhängsel der davor und danach teils vom preußischen Kultus‑, teils vom Innenministerium selbstbewusst betriebenen Kulturverwaltung sowie der von Wilhelm I. davon getrennt verwalteten Eigenmittel. So subventionierte der Kaiser, nachdem Bismarck die offizielle Teilnahme des Reiches an der Pariser Weltausstellung 1878 abgelehnt hatte, die dann doch konzedierte Kunstausstellung aus seiner Privatschatulle. Ähnlich verhalf er der von Bismarck zunehmend widerwillig unterstützten, weltweit aber gepriesenen Ausgrabung von Olympia zum erfolgreichen Abschluss, obgleich die dabei geretteten Objekte in Griechenland verblieben und nicht, wie es Bismarck zur Voraussetzung gemacht hatte, nach Deutschland kamen.29 Der Monarch setzte hierbei die vom preußischen und von anderen deutschen Höfen gepflegte Praxis paternalistischer Kunstförderung fort, die in dem Übergang zu der haushaltsrechtlich gebundenen (föderalen) Kulturverwaltung bis 1918 ein Element persönlichen Engagements bewahrte.30 Bismarck setzte Reichsprioritäten nur dort, wo sie breiten gesellschaftspolitischen Nutzen versprachen, wie bei der Errichtung des Reichsgesundheitsamtes und der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Über Kultur anstatt über Machtdiplomatie im Ausland Profil zu gewinnen, interessierte ihn wenig, bezeugte doch sein Einigungswerk gerade die Emanzipation der Politik mithilfe des Militärs von der Kultur. Immerhin regte er ein eigenes Sprachinstitut für den diplomatischen Dienst an, das 1887 als Orientalisches Seminar an der Universität Berlin gegründet und jeweils zur Hälfte vom Reich und von Preußen finanziert wurde. Als Ausbildungsstätte für den diplomatischen und Kolonialdienst machte sich das Seminar bald unentbehrlich. Dagegen gelang es kaum, die Verantwortung des Reiches für privat und kirchlich unterhaltene deutsche Schulen im Ausland finanziell, geschweige ideell zu institutionalisieren. Wie zögernd man vorging, zeigte sich, als man 1878 im Reichshaushalt für die Unterstützung deutscher Schulen im Ausland einen schmalen Fond einrichtete. Man übernahm damit nur die vom preußischen König als Schirmherr der evangelischen Kirche eingegangenen Verpflichtungen, die bisher aus seinem Dispositionsfond gezahlt worden waren. An diese Verpflichtungen, für die 29 Karl Griewank, Wissenschaft und Kunst in der Politik Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks, in: Archiv für Kulturgeschichte 34 (1952), 280–307. 30 Ulrich Scheuner, Die Kunst als Staatsaufgabe im 19. Jahrhundert, in: Kunstverwaltung, Bau- und Denkmal-Politik im Kaiserreich, hg. von Ekkehard Mai und Stephan Waetzoldt. Berlin: Mann, 1981, 13–45, hier 26 f.

Möglichst unsichtbar: das Auswärtige Amt  |

75.000 Mark, von 1880 bis 1892 sogar nur 60.000 Mark jährlich für Schulen in London, Paris, Rom, Bukarest, Konstantinopel und Buenos Aires bereitgestellt wurden, knüpften sich bis zum Jahrhundertende keine kulturpolitischen Ambitionen. Mit Verbitterung vermerkte Franz Schmidt, der erste Leiter des schließlich 1906 eingerichteten Schulreferates im Auswärtigen Amt, es habe zwei Jahrzehnte gedauert, „bis auch nur die nationalpolitische Aufgabe des Reichsschulfonds begriffen wurde, den Tausenden deutscher Auslandsschulen, die es damals noch gab, zu wirksamerer Deutscherhaltung der heimatfern aufwachsenden deutschen Jugend zu verhelfen.“ Schmidt führte die Änderung auf einen Besuch des Kaisers mit Fürst von Bülow, dem damaligen Leiter des Auswärtigen Amtes, in Konstantinopel zurück: „Erst Fürst Bülow erkannte auf der Orientreise mit Kaiser Wilhelm  II. im Jahre 1898 bei einem gemeinsamen Besuch der deutschen Schule in Konstantinopel die Bedeutung unserer Auslandsschulen für die damals einsetzende Weltpolitik und ließ den Reichsschulfonds während seiner Amtszeit nach und nach auf 850  000  Mark erhöhen, ohne aber irgendwelche Gesichtspunkte oder Richtlinien für eine politische Verwendung dieser Mittel aufzustellen.“31 Solche Richtlinien zu schaffen, stand im Auswärtigen Amt bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht zur Debatte. Als Reichskanzler von Bülow die Ausweitung deutscher Politik zur Weltpolitik forcierte, diskutierte man die Optionen für die Haltung zu China, der Türkei und den südamerikanischen Ländern, insbesondere Argentinien, Brasilien und Chile. Hier stießen die militanten Rezepte der Kolonialpolitik – die zu Beginn des Jahrhunderts mehr oder weniger auf Konfrontation und brutale Unterdrückung hinausliefen – an ihre Grenzen. Angesichts der Enttäuschungen über die wirtschaftlich unfruchtbare Kolonialpolitik verfolgte das Auswärtige Amt eine Strategie machtpolitischer Expansion, die bewusst ohne Kolonialverwaltung und ‑verantwortung Vorposten wirtschaftlicher Außenwirkung zu schaffen beziehungsweise zu erweitern suchte. Bei dieser Strategie wurde das Amt allerdings bald nach der Jahr­ hundertwende vom Reichsmarineamt und seinem Nachrichtenbüro in den Schatten gestellt. Angespornt vom Interesse Kaiser Wilhelms II. am Schlachtflottenbau, gewann das Reichsmarineamt, zusammen mit dem von Admiral Tirpitz gelenkten Flottenverein, die Öffentlichkeit propagandistisch geschickt mit der Verheißung der kaiserlichen Seemacht für einen deutschen Imperialismus. Bis zum Ersten Weltkrieg rieben sich Reichskanzler Bethmann Hollweg ebenso wie das Auswärtige Amt an der teilweise alldeutsch inspirierten Presseund Propagandapolitik dieses Amtes. Erst mit Bethmann Hollwegs Bemühun31 Franz Schmidt, Anfänge deutscher Kulturpolitik im Auslande, in: Zeitschrift für Politik 3 (1956), 252–258, hier 253.

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gen um eine erneute Annäherung an Großbritannien – Tirpitz’ Hauptgegner – ließ deren Schlagkraft nach. Ohne sich Zurückhaltung aufzuerlegen, hatte Tirpitz damit begonnen, in die Propaganda auch das „Deutschland jenseits der Meere“, das heißt die deutschen Einwanderer in anderen Ländern, in die Weltmachtpläne einzubeziehen. Öffentlicher Propaganda abgeneigt, bemühte sich das Auswärtige Amt darum, über die Initiativen, die den handelspolitischen, akademischen und allgemein organisatorischen Verbindungen mit China, der Türkei, Persien und den südamerikanischen Ländern galten, Kontrolle zu bekommen, sah sich dabei aber aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeiten und des Mangels an Wirtschaftsexperten ständig überfordert. Wenn sich nach den diplomatischen Niederlagen in den Marokkokrisen 1906 und 1911 der Widerstand der Diplomaten und Bürokraten gegenüber einem aktiveren Einbezug von Schul- und Kulturpolitik abschwächte, war das eher eine nachgiebige Reaktion auf die intensive Kritik durch Presse und Reichstag als ein Ergebnis von Selbstkritik und innerer Reform. In dieser Beharrlichkeit unterschied sich das Amt kaum von den entsprechenden Behörden in Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern. Kritiker des Amtes tendierten dazu, die Behauptung deutscher Diplomaten, diese Behörde erhalte den Bismarck’schen Geist, angesichts der Niederlagen der deutschen Außenpolitik zu Beginn des 20.  Jahrhunderts als Selbstillusionierung anzuprangern. Damit werde nur das Festhalten an einem zunehmend obsoleten Diplomatenethos kaschiert, das in der Geheimdiplomatie seine geheiligte Praxis wahrte. Was mit ‚Bismarck’schem Geist‘ umschrieben wurde, war gleichsam die deutsche Etikettierung des auch von den anderen Regierungen praktizierten Stils der ‚alten Diplomatie‘, die in diesen Jahren enormer wirtschaftlicher und technischer Neuerungen ebenso in Frankreich und Großbritannien an die Grenzen ihrer Wirksamkeit stieß.32 Während sie die konsularischen und wirtschaftlichen Obliegenheiten einer niederen Schicht des diplomatischer Dienstes, dem Konsulardienst, überließen, setzten Diplomaten einen Großteil ihrer Energie daran, mit ihrem aristokratischen Lebensstil die Welt in dem Glauben zu wiegen, in ihrer Exklusivität zugleich die Geheimnisse des machtpolitischen Spiels zwischen den Hauptstädten zu bewahren. „Innerhalb des Zirkels“, hieß es in einer berühmten englischen Analyse des diplomatischen Dienstes, „mochten elegante Leute mit guten Manieren mit Menschenleben oder mit Explosivstoffen spielen, sie alle aber stimmten darin überein, dass Frieden und Sicherheit der Welt absolut davon abhingen, niemanden wissen zu lassen, was sie trieben.“ Und auf die notorische 32 Paul Gordon Lauren, Diplomats and Bureaucrats. The First Institutional Responses to TwentiethCentury Diplomacy in France and Germany. Stanford: Hoover, 1976.

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Geheimniskrämerei und Abschirmung von der Presse bezogen: „Laß die Öffentlichkeit draußen, und es war ein relativ sicheres Spiel; hole die Öffentlichkeit herein, und sofort begann es sich mit tödlichen Gefahren zu füllen.“33 In Paris ebenso wie in London und Berlin verursachte das Verhältnis zur Presse, die um die Jahrhundertwende immer stärker und kritischer wurde, oft mehr Kopfzerbrechen als die Verhandlung diplomatischer Strategien.34 Selbst der an der Pressearbeit interessierte Reichskanzler von Bülow hielt das Pressereferat des Auswärtigen Amtes an kurzer Leine; bis zum Kriegsausbruch hatte sein Leiter Otto Hammann nur einen Legationsrat und drei Mitarbeiter zur Verfügung. In seinen Erinnerungen erwähnt Hammann, der dank seines persönlichen Geschicks manche der Schwächen überspielen konnte, dass dem Pressedienst „durch engherzige diplomatische Geheimniskrämerei mehr und mehr die notwendigen Informations- und Nachrichtenquellen vorenthalten wurden.“35 Der Vorstoß von Bethmann Hollweg, Bülows Nachfolger als Kanzler, die Pressestellen der Regierung 1912 in der Reichskanzlei zu zentralisieren, scheiterte am Widerstand der verschiedenen Behörden, die um ihre Souveränität bangten. Das Ausweichen vor der Presse entsprach im Falle des Auswärtigen Amtes seiner Politik der Geheimniskrämerei sowohl im eigentlich diplomatischen Bereich, wo sie in verhängnisvoller Weise zum Ausbruch des Krieges beitrug, als auch auf dem Gebiet auswärtiger Kultur- und Schulpolitik, das für die Strategie wirtschaftlicher Expansion des Reiches jenseits der Kolonialpolitik besonders im Hinblick auf China, den Nahen Osten und Südamerika zunehmende Bedeutung erhielt. Anders als Frankreich, das seine außenpolitischen Aktivitäten weniger mit dem Mantel der Verheimlichung umgab und damit im jeweiligen Partnerland mehr das Gefühl des Kulturaustauschs als das des Kulturimports hervorrief, achtete man im Auswärtigen Amt darauf, Ziele und Hintergründe dieser eher ‚stillen Arbeit‘ zu verbergen, um weder die unmittelbaren Partner noch die Konkurrenten Frankreich und Großbritannien zu Abwehrmaßnahmen zu reizen.36 So intensiv war das Gefühl im Auswärtigen Amt, das von privater und kirchlicher Seite aufgebaute und seit 1906 vom Schulreferat koordinierte Netz deutschsprachiger Schulen im Ausland vor den Blicken der anderen Mächte schützen zu müssen, dass eine 1913 vom Reichstag in 33 J. A. Spender, The Public Life, Bd. 2. London: Cassell, 1925, 40 f. 34 Friederich Kießling, Self-Perception, the Official Attitude toward Pacifism, and Great Power Détente. Reflection on Diplomatic Culture before World War I, in: Decentering America, hg. von Jessica C. E. Gienow-Hecht. New York/Oxford: Berghahn, 2007, 345–380. 35 Otto Hammann, Bilder aus der letzten Kaiserzeit. Berlin: Hobbing, 1922, 96. 36 Jürgen Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten.“ Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kultur­ politik, 1906–1918, Teil 1. Frankfurt: Lang, 1981, 223.

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Auftrag gegebene Bestandsaufnahme der Auslandsschulen 1914 nicht dem Reichstag, sondern nur dessen Budgetkommission vorgelegt wurde, von dessen Agenda sie mit Kriegsausbruch auf Nimmerwiedersehen verschwand. Kurt Düwell, der die Erforschung der frühen auswärtigen Kulturpolitik in die Wege geleitet hat, entdeckte die „Geheime Denkschrift des Auswärtigen Amtes über das deutsche Auslandsschulwesen“ und gab sie 1976 der Öffentlichkeit zurück.37 Repräsentativ für die vielen, wenn auch oft dünnen Schatten, die die Kulturmacht Deutschland zu dieser Zeit in aller Welt warf, präsentiert die Denkschrift die offizielle Arbeit mit den etwa 700 Schulen im Jahre 1912, deren Gründungen bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreichten, die aber zumeist im 19. Jahrhundert, von den deutschen Auswandererströmen beeinflusst, von Einheimischen und Deutschen errichtet worden waren. In Santiago de Chile, Rio de Janeiro, Shanghai, Kairo, Konstantinopel, London, Riga, Teheran, Yokohama und vielen anderen Städten gelegen, stellten sie bei der wirtschaftlichen Expansion des Reiches eine große Hilfe dar, insofern sie deutsche Kaufleute und Techniker im Ausland, deren Zahl ständig zunahm, bei der Erziehung ihrer Kinder und der Beibehaltung deutscher Sprache und Kultur unterstützten; außerdem ermöglichten sie den Einheimischen, mit dem Erlernen des Deutschen ihre Berufschancen, passenderweise bei deutschen Firmen, zu erweitern. Der Einwand, dass die Deutschen den Unterricht mit den Einheimischen nicht teilen wollten, um nicht ‚zurückzufallen‘, sollte mit der Gründung sogenannter Propagandaschulen entkräftet werden, die speziell für die einheimische Bevölkerung bestimmt waren. Dass diese Schulen unverhohlen ‚Propagandaschulen‘ genannt wurden, habe allerdings, wie Düwell mutmaßte, zu der besonderen Geheimhaltungsabsicht beigetragen.38 Während das Auswärtige Amt die Initiativen, die der Erziehung und dem akademischen Austausch über die Grenzen hinweg galten, gewöhnlich vom preußischen Kultusministerium geliefert bekam, was viele Kompetenzstreitereien mit sich brachte, handelte es im Namen des Reiches bei der Verwaltung solcher Institutionen wie der archäologischen Institute in Rom und Athen, der zoologischen Stationen Neapel und Rovigno, des Deutschen Instituts für Altertumskunde Kairo, der Botanischen Zentralstelle Berlin, des Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten sowie einiger anderer meist wissenschaftlicher Unternehmungen. Hier lag die Verantwortlichkeit bei der dafür neu geschaffenen Rechtsabteilung. Erziehungspolitische und wirtschaftliche Initiativen ge37 Im Dokumentenanhang von Kurt Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918–1932. Grundlinien und Dokumente. Köln/Wien: Böhlau, 1976, 268–370. 38 Ebd., 65 f.

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genüber dem Osmanischen Reich und China ließen sich hingegen nicht einfach ‚verwalten‘. Hier mussten in einem juristischen Niemandsland neue Transferorganisationen geschaffen werden, in deren Rahmen die verschiedenen Interessengruppen der deutschen Seite mit denen der Zielländer zum Einverständnis gelangten, ohne die anderen Mächte – Großbritannien, Frankreich, Russland, USA, in der Türkei auch Italien – allzu direkt herauszufordern. So bedurfte es 1910 in der Planungsphase für eine „technische Schule“ in China der Nachricht, dass das chinesische Unterrichtsministerium angeordnet habe, ausschließlich Englisch als obligatorische Fremdsprache lehren zu lassen, damit die Offiziellen, in ihrem Kulturstolz getroffen, mehr als eine Routinebesprechung einberiefen. Die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes und des Reichsmarineamtes, Alfred von Kiderlen-Waechter und Alfred von Tirpitz, setzten sich in Berlin mit führenden Vertretern von Industrie, Handel und Banken zusammen, um dieses Großprojekt für die deutsche Kultur (und Sprache) mit der entsprechenden Finanzierung zu retten.39 Die Gründung der Tongji-Universität in Shanghai, die 1907 als Medizinschule begann und dann als Ingenieurschule erweitert wurde, zu denen eine deutsche Sprachschule hinzukam, stellte die wohl umfangreichste Unternehmung des Kaiserreichs auf diesem Gebiet dar. Dank der Spendenbereitschaft der Industrie kam sie bis zur chinesischen Kriegserklärung an Deutschland 1917 erfolgreich voran – mit Deutsch als Unterrichtssprache neben Chinesisch. Ohne den Druck der anderen Ämter, das finanzielle Engagement der Industrie und die Vorarbeiten des preußischen Kultusministeriums allerdings hätte das Auswärtige Amt kaum diesen Erfolg verbuchen können. Die Maxime der ‚stillen Arbeit‘ hinter den Kulissen der offiziellen Politik hat dazu geführt, dass man – wie es später im Amt selbst geschah – die kulturpolitischen Weichenstellungen des Auswärtigen Amtes vor 1914 als unbedeutend abgetan hat. Das ist jedoch nicht ganz berechtigt. Zwar lag der Kern der Auseinandersetzung darüber, dass die Dienstleistungen des Amtes unzureichend seien, bei der ungenügenden Hilfe der Gesandtschaften und sogar der Konsulate für die deutsche Exportwirtschaft, aber hin und wieder verschaffte man dem Satz „Der Handel folgt der Sprache“ sichtbare Wirkung. Exemplarisch wurden dafür die Beziehungen zum Osmanischen Reich, für die man größere Mittel für Spracherziehung und Berufsausbildung zur Verfügung stellte, um die wirtschaftliche Bindung an das Deutsche Reich langfristig gegen die Übermacht des Französischen und Englischen zu festigen. Die von dem um­triebigen Türkenspezialisten Ernst Jäckh organisierte Deutsch-Türkische Vereinigung 39 Roswitha Reinbothe, Deutsch in China – am Beispiel der Gründungsgeschichte der Tongji-Univer� sität, in: Muttersprache 117 (2007), 75–89, hier 84.

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gab sich eine Satzung, in der die Priorität des Sprachlich-Kulturellen betont wurde, und avancierte damit sogar zu einem Modell für die Welle der 1913/14 gegründeten Auslandsvereine, etwa des Deutsch-Chinesischen Verbandes.40 Nicht wenige Unternehmer und Auslandskaufleute fühlten sich darin bestärkt, eigene Aktionen kultureller Verständigung und Einwirkung zu entwickeln und die vom Auswärtigen Amt zum Zweck der Kontrolle anerkannten Auslandsvereine stärker den eigenen Interessen unterzuordnen. Allerdings blockierten sich die Interessen der Schwer- und Fertigwarenindustrie (Centralverband Deutscher Industrieller gegen den Bund der Industriellen) gegenseitig so sehr, dass aus der erstrebten Zusammenfassung von Hunderten von Auslands­ vereinen zur Deutschen Gesellschaft für Welthandel 1914 nichts wurde.41 Für Südamerika, dem neben China und dem Osmanischen Reich dritten Interessenschwerpunkt der kontroversen Zusammenarbeit von Industrie und Auswärtigem Amt, kamen entscheidende Impulse von akademischer Seite, zunächst dem Deutsch-Südamerikanischen Institut, dann der Ibero-Amerikanischen Gesellschaft.42 Die vielberufene ‚stille Arbeit‘ des Auswärtigen Amtes war häufig ein Euphemismus dafür, dass wenige Initiativen gestartet, aber viel Kontrolle über die Unternehmungen anderer verlangt wurde. In den Vorkriegsjahren gewann das Thema einer Reform des auswärtigen Dienstes in allen Ländern Beachtung. Aber nur Frankreich schaffte es noch vor dem Krieg, die ältesten Zöpfe des Diplomatentums abzuschneiden und auch der Kulturarbeit behördliche Aufsicht zu verschaffen. Die Schulung deutscher Diplomaten schloss Sachverstand im kulturellen Bereich aus; sie waren für die Auslandspositionen nicht ausreichend ausgebildet, um in den jeweiligen Ländern kulturelle Aktivitäten zu entwickeln.43 Otto Franke, Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Sinologie, hielt ein besonders krasses Beispiel fest. Er wurde vom deutschen Botschafter in China, Edmund von Heyking, und dessen Frau Elisabeth, einer Romanschriftstellerin, darüber belehrt, dass die Chinesen schmutzig, schwach und ignorant seien; sich mit chinesischen kulturellen Themen zu beschäftigen, verrate einen subalternen Geist. Franke, lange Jahre selbst

40 Friedrich Dahlhaus, Möglichkeiten und Grenzen auswärtiger Kultur- und Pressepolitik dargestellt am Beispiel der deutsch-türkischen Beziehungen 1914–1928. Frankfurt: Lang, 1990, 31–42; Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“, Teil 2, 600–603. 41 Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“, Teil 2, 827–831. 42 Ebd., 757–816. 43 Lamar Cecil, The German Diplomatic Service, 1871–1914. Princeton: Princeton University Press, 1976, 58–103, 323 f.; John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik. München: Beck, 1987, 162–174.

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im diplomatischen Dienst tätig, quittierte diesen voller Frustration über die in der Behörde vorherrschende Verachtung von Kulturpolitik.44

Deutsche Kultur: Definitionen und Diskurse um 1900 Im 19. Jahrhundert war Deutschland als kulturelle Macht vor allem deshalb anerkannt worden, weil sich seine Kultur der Musik und Romantik, der Weimarer Dichter, der Philosophen und Wissenschaftler ohne nationalstaatliche Fixierung der Welt geöffnet hatte. Dabei schloss man im Allgemeinen die unter der Herrschaft der Habsburger stehenden Territorien mit ein, deren kulturelles Profil von den imperialen Traditionen Wiens dominiert wurde, die weit nach Osten und Süden ausstrahlten. Man hatte den deutschen Eifer, Kultur als Selbsterziehung und Bildung zu einem nationalen Projekt zu machen, das über das strenge Ethos sachlicher Wissenschaft Aufklärung und Fortschritt vorantrieb, im Ausland häufig als Provinzialismus belächelt, in seinem Wert aber anerkannt und für die eigenen Bemühungen eingespannt. Mit der militärischfeudalen Form der Reichseinigung, die das Volk ausschloss, stellte sich nun die Frage, ob die Idee der kulturellen Nation ad acta gelegt oder von Bismarcks Regime nur überdeckt worden sei. Am schnellsten hatte man in Frankreich eine Antwort zur Hand, wo der Philosoph Emile Caro 1872 feststellte, dass Deutschland in „deux Allemagnes“ zerfallen sei, insofern das geistige Deutschland von Kant und Goethe von einem Deutschland der Barbarei unter preußischer Führung beiseitegedrängt werde.45 Wenn der neue Staat nun tatsächlich seine Repräsentation, bis auf wenige Ereignisse wie Weltausstellungen oder wissenschaftliche Kongresse, militärischen oder monarchischen Zurschaustellungen überließ, konnte man nicht umhin, eine Transformation der deutschen Nation anzunehmen, bei der Kultur ins Schlepptau politisch-militärischer Selbstdarstellung geriet. Damit entstand Misstrauen, auch wenn die Deutschen daran festhielten, Kultur als ein Phänomen jenseits der Politik zu definieren. Bismarck war das recht. Kultur sollte jenseits der Politik wirken. Allerdings blieb damit im Unklaren, ob Friedrich Nietzsche mit seinem berühmten Wort recht hatte, die Deutschen sollten sich nicht im Glauben wiegen, im deutschfranzösischen Krieg habe auch die deutsche Kultur gesiegt. Nietzsches Verdikt am Beginn der Unzeitgemäßen Betrachtungen von der „Niederlage, ja Exstirpa44 Otto Franke, Erinnerungen aus Zwei Welten. Randglossen zur eigenen Lebensgeschichte. Berlin, 1954, 98. 45 Barbara Gödde-Baumanns, L’idee de deux Allemagnes dans l’historiographie française des années 1871–1914, in: Francia 12, 1984, 609–620.

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tion des deutschen Geistes zugunsten des ‚deutschen Reiches‘“ entwickelte sich zum Schlachtruf derer, die mit dem Niedergang der deutschen Kultur auch das neue Reich mit seinem Militarismus, Industrialismus und Materialismus in den Abgrund versinken sahen, etwas, das nun Bismarck auf keinen Fall akzeptierte. Was Nietzsche, dem zeitweiligen Bewunderer Richard Wagners, der die Neuschaffung des Reiches aus Kultur, nicht Politik propagiert hatte, recht war, war einem Großteil des deutschen Bildungsbürgertums billig. Nietzsches Verdikt rekapitulierte die Frustration deutscher Gebildeter des 19. Jahrhunderts, die sich zunehmend mit den Dingen im neuen Reich konfrontiert sahen, gegen die Nietzsche mit gleicher kulturästhetischer Emphase gewettert hatte: die Maschine, die Arbeiterschaft, den Sozialismus, die neuzeitliche Hast, das moderne Profitdenken, den Amerikanismus. In der Verinnerlichung dieser Kritik entstand in den Folgejahrzehnten in der Gebildetenschicht eine spezifisch deutsche Form von Opposition: die der Anklage, dass das neu entstandene Reich, indem es den angestammten Platz der Hochkultur als Refugium von Geist, Bildung und Status dem Populismus und Materialismus preisgebe, eine missratene Schöpfung darstelle. Was hier auf den deutschen Kulturpessimismus hinauslief, der sich in der späteren Verbindung mit der völkischen Rechten zu einer Bedrohung der trotz allem wachsenden Demokratisierung entwickelte, bildete allerdings nur die eine Reaktion auf Nietzsches Verdikt. Wie sich im Laufe der Jahre herausstellte, wurde Nietzsches Voraussage, dass Geist und Kultur im neuen Reich wohl abdanken würden, von vielen Zeitgenossen auf ganz andere Weise verinnerlicht, als sie gemeint war, nämlich als Herausforderung, Geist und Kultur gerade in diesem neuen Reich zu ihrem Recht zu verhelfen. Von den 1870er-Jahren bis zur Jahrhundertwende begleitete die Furcht, Nietzsche könnte recht behalten, die Diskussionen der neuen Eliten. Nietzsches teilweise von Wagner inspirierten Postulate für eine neu zu schaffende Kultur, die die Jüngeren um 1900 begeisterten, beruhten auf derselben kulturästhetischen Argumentation wie die Opposition gegen die soziale und technische Modernisierung. In beiden Fällen bildet Kultur die zentrale Referenz. In der zu dieser Zeit anschwellenden Berufung auf Nietzsche als dem Propheten der Jetztzeit manifestierte sich die Tendenz, mithilfe des kulturästhetischen Denkens die Herausforderungen der Gegenwart auf den Begriff zu bringen. Zu dieser Zeit gewann Nietzsche auch in Frankreich – wenngleich in schärferer Abgrenzung von dem zuvor herrschenden Wagner-Kult – den Status eines Propheten für die Erneuerung der nationalen Kultur, am ausgeprägtesten in der nun Wagner-kritischen Musik. Aber auch ohne Bezug auf Nietzsche gewann der Begriff der Kultur in dieser Periode zentrale Bedeutung. Was ihn in den unterschiedlichsten Lagern attraktiv machte, war sein Diskurspotenzial für die Erörterung öffentlicher

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Phänomene in einer Untertanengesellschaft. Über Kultur sprechen schaffte Öffentlichkeit. Daran nahmen die unterschiedlichsten Stimmen teil, konservative und liberale Publizisten ebenso wie die jungen Architekten, die mit der Darmstädter Künstlerkolonie modernen Lebensformen zum Durchbruch verhelfen wollten. Einerseits bediente der Begriff der Kultur das wachsende Interesse bürgerlicher Schichten an ästhetischer Partizipation, andererseits relativierte er die Autorität der Politiksprache. In dieser Explosion des Gesprächs über Kultur in ihren verschiedenen Formen manifestierte sich die Qualität einer modernen Grunderfahrung: dass Kultur nur dadurch fassbar wird, dass ihre Definition immer auch schon Projektion darstellt, mit anderen Worten, dass Kultur keine Substanz ist, auch wenn Gebildete sich ihres Besitzes rühmen, sondern die Privilegierung einer Realitätsbeziehung, an der die verschiedensten gesellschaftlichen und ästhetischen Kräfte Anteil haben. Nietzsche hatte diese Definition nicht geliefert, vielmehr praktiziert, und inspirierte damit eine ganze Flut von Kulturentwürfen um die Jahrhundertwende. Publizisten, Designer, Architekten und Künstler fühlten sich ebenso wie Kunsterzieher davon beflügelt, im Namen des Reiches und seiner Stellung in der Welt das aufzuholen, was bei der Reichsgründung gefehlt hatte. Mit dieser Einstellung gewann ein neues Hegemonialdenken Gestalt, das mit Nietzsches Machtphilosophie korrespondierte. Um einen im späten 20. Jahrhundert inspirierenden Begriff einzubringen: Nietzsche lieferte keine genauen Rezepte für einen neuen Standort, eine neue Lokalisierung von Kultur (location of culture46), wohl aber die Gewissheit, dass demjenigen Macht zukam, der diesen Standort bestimmen konnte. Die im Vorfeld der Weltausstellung von St. Louis ausgetragene Auseinandersetzung zwischen dem Kaiser und den verschiedenen Produzenten neuer Kunst und Kunstausstattung stellte einen solchen Kampf um den Standort der deutschen Kultur dar, nicht im geografischen, vielmehr im konzeptionellen und ästhetischen Sinne. Dieser Konflikt beruhte auf höchst unterschiedlichen Diskursen darüber, was Kultur für die neue Reichsnation bedeutete, zugleich aber auch darüber, wie sich das Reich in die modernen Entwicklungen einbringen sollte. Die Auseinandersetzung setzte einen Prestige- und Geltungsdiskurs gegen einen Reformdiskurs. Diese Alternative ging weit über die Frage hinaus, ob man das Reich mit einer Hohenzollerngratulation zu Pferde oder mit einer Wohnzimmereinrichtung repräsentieren sollte. Und doch liegt bereits in diesem Kontrast zwischen einem im feudalen Sinne ‚hohen‘ und einem im bürgerlichen Sinne konsumbestimmten Kunstbegriff der Kern der beiden repräsentativen Diskurse, die für die Einschätzung Deutschlands als Kulturmacht im Ausland vor dem Ersten Weltkrieg grundlegend wurden. 46 Homi K. Bhaba, The Location of Culture. London/New York: Routledge, 1994.

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Reformagenda versus wilhelminisches Prestigedenken Der erste Durchbruch der Reformagenda wurde in St. Louis durch die lebhafte Reaktion des amerikanischen Publikums und die kritische Reaktion der Franzosen auf die deutsche Gewerbe- und Ausstattungskunst besiegelt. Auch im Weiteren spielten ausländische Reaktionen auf die Auseinandersetzungen zwischen modernistischen Reformern und wilhelminischen Kulturrepräsentanten um das Profil deutscher Kultur eine wichtige Rolle, da sie sich mit wechselnder Zielrichtung innenpolitisch verwerten ließen. Allerdings ergaben sich bei der nationalen Inanspruchnahme von Kultur mehr Berührungspunkte mit ausländischen Eliten als bei den Reformbemühungen. Dazu trug bei, dass man, entgegen späteren Behauptungen, die Begriffe von Kultur und Zivilisation häufig ohne scharfe Abgrenzungen benutzte. Vieles, worin man den zivilisatorischen Beitrag Deutschlands in Wissenschaft und Technik mit Stolz heraushob, lief unter Kultur, nicht allzu verschieden vom französischen Zivilisationsbegriff. Ausschlaggebend für den Prestigediskurs war nicht die Distanzierung vom Zivilisationsbegriff, sondern die Abgrenzung des (eigenen) Idealismus vom Materialismus. Als Teil ihres gesellschaftlichen Machtanspruchs definierten die wilhelminischen Eliten, insbesondere Akademiker und staatliche Repräsentanten einschließlich des Kaisers, sowohl die allgemeine Verpflichtung des Abendlandes zur Abwehr von Materialismus und Unkultur als auch ihre eigene Stellung in diesem Kampf. Kultur hieß hier die hohe Kultur, in der die „ewigen Werte der Völker“ bewahrt wurden, im Falle Deutschlands beispielhaft die nationale Klassik, der man Schiller ebenso wie Fichte und Beethoven zurechnete, aber auch die neueren Bemühungen der Dichter, Gelehrten, Bildhauer und Gymnasiallehrer, dem industriellen und politischen Aufschwung des Reiches einen Ausdruck zu geben, in dem sich die idealistische, ‚hohe‘ Grundgesinnung über alle materialistischen Alltagserscheinungen hinweg manifestierte. Dieser Diskurs stand in einem Konsens europäischer Eliten darüber, die geistige Substanz mit ihrer moralischen und ästhetischen Erhebung über die Politik und den Alltag zu stellen, ihr allerdings auch direkte Einflussnahme abzusprechen. Die deutsche Variante nahm für sich in Anspruch, die Abstinenz der Kultur von politischer Einflussnahme beispielhaft zu verwalten, ein Anspruch, der spätestens mit der politisch-militärischen Gründung des Reiches als Nation im Ausland bestritten wurde. Mit anderen Worten: Die Propagierung dieser beispielhaft nicht politischen Kultur wurde von der nationalen Ambition desavouiert. Zwar geschah Ähnliches bei Frankreichs Anspruch, kulturell für die Menschheit zu sprechen, obwohl sich die aus­ wärtige Kulturpolitik eindeutig der Förderung französischer Interessen widmete, doch vertrat man in der Dritten Republik die Mission zum Wohle der

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Menschheit unter Berufung auf die Französische Revolution durchaus als Politikum, während man Kultur – in den Begriffen culture und civilisation – weniger essenzialisierte. Im internationalen Diskurs tendierten die deutschen, zumeist akademischen Sprecher dazu, mit ihrer häufigeren und tiefgründigeren Berufung auf Kultur eine Art Verwalterstellung für Kultur und Kulturgesinnung zu behaupten, die mangels einer wirkungsmächtigen politisch-gesellschaftlichen Idee nur so lange Anerkennung fand, als sie sich nicht an der deutschen Politik messen lassen musste. Die immense grenzüberschreitende Ausdehnung von Handel, Verkehr, Kommunikation und wissenschaftlicher Kooperation am Ende des 19. Jahrhunderts, die man als ‚erste Globalisierung‘ bezeichnet hat, machte Internationalität zur Voraussetzung des eigenen Macht- und Marktbewusstseins, in scheinbar paradoxer Verknüpfung der Suche nach dem Übernationalen und dessen gleichzeitiger Überwindung durch die eigene nationale Variante. Am erfolgreichsten geschah das für die Deutschen lange Zeit auf dem wohl internationalsten Bereich der Kultur, dem der klassischen Musik, den man bevorzugt für die Erfahrung nationaler Kultur zitierte. „Kunstmusik reflektierte nicht nur den Rang der deutschen Nation, sondern zugleich auch vermeintlich charakteristische musikalische Errungenschaften in Ländern wie Italien, Frankreich oder England. Die zugeschriebene Überlegenheit deutscher Kulturtradition kommentierte und kritisierte andere ‚nationale‘ Musiken gleichermaßen.“47 Ähnlich dominant fühlte man sich auf dem Gebiet der Wissenschaft, das ebenfalls von der Wechselwirkung von Internationalität und Nationalität charakterisiert war. Für den öffentlichen Kulturdiskurs spielte Wissenschaft aufgrund der staatlichen Ausrichtung und Finanzierung des deutschen Universitätswesens allerdings eine wesentlich größere Rolle als Musik. Wissenschaft verschaffte akademischen Eliten eine nationale Sprecherrolle. Die Widersprüche dieses Diskurses resultierten in Deutschland mehr als in den westlichen Nationen aus den Problemen, Kultur und (neue) Nation zur Deckung zu bringen. Das „Reich bedürfe einer ‚Reichsnation‘, deren Kultur zwangsläufig eine ‚Reichskultur‘ sei. In zunehmendem Maße schrumpfte der Begriff deutsche Kultur zu der Vorstellung reichsdeutsche Kultur zusammen, verstanden als spirituelle und musische Äußerung des Deutschen Reiches.“48 47 Sven Oliver Müller, Die musikalische Weltmacht. Zum Stellenwert der musikalischen Rezeption im Deutschen Kaiserreich, in: Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, hg. von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 246–261, hier 258. 48 Ernst Deuerlein, Die Konfrontation von Nationalstaat und national bestimmter Kultur, in: Reichs� gründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, hg. von Theodor Schieder und dems. Stuttgart: Seewald, 1970, 226–259, hier 258.

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Anders gesagt, hier wurde der Sieg Preußens über Österreich ins Kulturelle übertragen und die regionale, konfessionelle und linguistische Bandbreite, die die deutsche Kultur in Jahrhunderten entwickelt hatte, in ihrer Identitätsstiftung entwertet. In der Bewertung des Historikers Ernst Deuerlein: „Das nationalstaatliche Verständnis des Begriffes Kultur war sachlich eine Überdehnung. Die zwangsläufige Folge war, dass alle vordergründigen Bereiche menschlicher Existenz als Kulturphänomene deklariert wurden.“49 Ziel war die Integration der Bevölkerung in das kleindeutsche Reich über die Nationalisierung dieser Kulturphänomene. Das lief auf eine Reduktion hinaus, die in der Folge des von Bismarck geführten Kulturkampfes von den einen als Verpreußung, von den anderen als Straffung des Nationalgefühls wahrgenommen wurde. Für beide Ansichten lieferte der oberste Repräsentant des Reiches, Kaiser Wilhelm II., Argumente, beide Ansichten integrierte er in seine Strategien nationaler Selbstdarstellung, ob bei der Auswahl der Hohenzollernbilder für die repräsentative Darbietung des Reiches in St. Louis oder in seiner Oberaufsicht über die Architektur des Hauptbahnhofs von Metz im preußisch verwalteten Reichsland Elsass-Lothringen. Der nationalstaatlich aufgeladene Idealismus sollte dem Kulturpessimismus des Bildungsbürgertums den Boden entziehen. Allerdings hatte er eher zur Folge, dass die Diskrepanz zwischen feudaler Repräsentanz des Reiches und den kulturellen Bedürfnissen breiter Gesellschaftsschichten klarer hervortrat. Um diese Diskrepanz zu überwinden, stellte der liberale Publizist Samuel Saenger in der Neuen Rundschau 1908 fest, müssten Demokratisierung und parlamentarisches Engagement um ein Vielfaches erweitert werden. Jedoch finde das nicht statt. Die Abstinenz der Gebildeten von der Politik sei das Grundübel, konstatierte Saenger. Mit der Beschwörung der Kultur weiche diese Schicht nur dem parlamentarisch-demokratischen Engagement aus.50 Was das bedeutete, gab der Soziologe Georg Simmel, ein publikumswirksamer Redner an der Berliner Universität, zu erkennen, wenn er den Begriff der Kultur auf alle möglichen gesellschaftlichen Erfahrungen der Gegenwart übertrug und damit vor allem neue Einblicke in die Entfremdungen gewann. Intellektuell brillant, aber auch idiosynkratisch, wurde Simmel zum großen Analytiker der Moderneerfahrung als Identitätsverlust.51 Simmel argumentierte, dass diese Erfahrung selbst wieder zu einer Kultur werden konnte. Tatsächlich wurde sie in den Künsten zu einer zentralen Ausdrucksform des 20. Jahrhunderts, mit inzwi49 Ebd. S. auch Wolfgang Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994, bes. 191–273. 50 Samuel Saenger, Kulturpolitik. Gedanken, Ziele, Wege, in: Neue Rundschau 19 (1908), 161–167. 51 Beispielhaft können hier von Georg Simmel genannt werden: Persönliche und sachliche Kultur, Der Begriff und die Tragödie der Kultur sowie Der Konflikt der modernen Kultur.

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schen kanonisierten Provokationen, Triumphen und Verfolgungen. Zugleich aber hielt sich auch Simmel in seinen Beiträgen zur Gegenwartserfahrung von dem von Saenger eingeforderten gesellschaftlichen Engagement fern – nicht unverständlich bei einem jüdischen Universitätslehrer, dem man das Ordinariat verweigerte. So sagte er in seinem Hauptwerk, der Philosophie des Geldes, vom gesellschaftlichen System nur, dass es sich um „eine reife Geldwirtschaft“ handle. Nicht zufällig gewann Kultur im einzigen vom Volk gewählten Organ, dem Reichstag, bei der Selbstverständigung über den Kurs der Nation an Gewicht. Die Zensurdebatten stellten die Problematik exekutiver Entscheidungen bloß. Selbst die Sozialdemokraten, deren marxistischer Flügel lange Zeit – nicht anders als Bismarck – die strikte Trennung von Politik und Kultur als Maxime verfochten hatten, erkannten die Notwendigkeit an, Kulturpolitik nicht den Eliten zu überlassen. Die politische Dimension des Themas wurde von allen Seiten gesehen. Allerdings fehlte dem Reichstag hier eine ausreichende Entscheidungsbefugnis. So wie er die Außenpolitik diskutieren, aber nicht beschließen konnte – es sei denn, sie betraf Budgetfragen –, schob er Diskussionen über Fragen der Kulturpolitik und ‑repräsentation an, ohne sie in politische Entscheidungen überführen zu können. Zugleich litt das Entscheidungssystem darunter, dass sich die intellektuellen Eliten von der Politik fernhielten, in den Worten von Samuel Saenger 1908: „dass der Ort, wo Politik gemacht wird, in Deutschland der Ort geworden ist, wo die schöpferischen Intelligenzen am wenigsten zu finden sind.“ Saenger folgerte, dass, indem das Parlament nicht als Diskussions- und Bewährungsort für neue Talente genutzt werde, bestimmten Eliten der Weg zu nationalen Entscheidungen geebnet würde, „die sich nicht gerade durch den harten Auslesekampf ans Licht gerungen haben“.52 Die Vorteile, die ein parlamentarisches Regierungssystem wie das britische für die Heranbildung politisch handlungsfähiger Eliten besaß, wurde auch für Max Weber, als er die strukturellen Schwächen der Herrschaft von Beamten und Bürokraten sezierte, zu einem zentralen Thema. Mit diesem Regierungssystem konnte sich in Deutschland der höhere, ‚idealistische‘ Kulturfeudalismus besonders lange in offizieller Funktion halten. Dennoch entwickelte sich, teilweise in aggressiver Gegenhaltung, ein anderer Diskurs über Kultur, der sich aus bewusst bürgerlichen Quellen speiste, dem vielgeschmähten Kommerz öffnete und wachsende Durchsetzungskraft beanspruchte. Auch dieser Diskurs verstand sich nicht als politisch. Aber er nahm die alltägliche Lebensgestaltung in den Blick, zu der das Verhalten als Konsument in einer industrialisierten Gesellschaft gehörte. Seine Antriebe entspran52 Saenger, Kulturpolitik, 167.

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gen der Frustration bürgerlicher Schichten, die ihre kulturbewussten Lebensformen der Identitätsschaffung der neuen Nation zuführen wollten, sich aber von dem Kulturfeudalismus des Reiches daran gehindert sahen. Konkreter gesprochen, artikulierte sich in ihm eine nationale Erweckungssehnsucht, mit der die in der Industrialisierung ständig wachsenden Mittelschichten nach Wegen suchten, sich in die Politik einzubringen, ohne politisch zu werden. Dabei kreuzten und widersprachen sich die Methoden, mit Modernisierung und Kommerzialisierung umzugehen, trafen sich aber durchaus mit ähnlichen Vorstößen in anderen Ländern, wo ebenfalls seit der Romantik die ästhetische Abkehr von der Hässlichkeit der Industrie als Teil nationaler Identität galt. Bedeutsam war hierbei weniger der Widerspruch zwischen regressiven und progressiven Tendenzen als die Intensität, mit der den verschiedenen ästhetischen Medien, die durch die enorme Zunahme der Reproduktionsmöglichkeiten um 1900 eine neue Öffentlichkeit herstellten, nationale Symbolkraft verliehen wurde. War einmal diese Intensität garantiert, wie es der Publizist Ferdinand Avenarius für seine schnell erfolgreiche Zeitschrift Der Kunstwart behaupten konnte, die er dann in Kunstwart und Kulturwart umbenannte, mischten sich romantisch-regressive Tendenzen des Heimatschutzes mit solchen aktiver Konsumentenerziehung in Anerkennung der modernen Produktionswirtschaft. Dementsprechend lasen 1901 die für die Reform von Lebens- und Konsumformen aufgeschlossenen Bürger in dieser Zeitschrift, dass sich Kultur und Zivilisation in ihren verschiedenen Funktionen ergänzten: „Erhaltung und Erleichterung des Lebens sind die letzten Absichten der Zivilisation; aber an der Erhöhung und Veredlung des Lebens schafft die Kultur.“53 Die künstlerische Veredlung des Lebens, der sich verschiedene Reformen, etwa die der Kunstgewerbeschulen, widmeten, brachte auch die Zivilisation voran. Die kulturpolitische Anziehungskraft, die den Deutschen Werkbund nach 1907 zu einem zentralen Forum dieses Diskurses machte, beruhte nicht zuletzt auf der Mischung aus konservierenden und neu schaffenden Tendenzen mit innovativem Design und ästhetischen Erziehungsprogrammen. Der Regeneration und zugleich der Neubegründung der deutschen Kultur verpflichtet, mündete der Diskurs in eine von der kaiserlichen Repräsentation weitgehend befreite, im Wesentlichen vom Wirtschaftsbürgertum getragene Bewegung. 53 M. B., Kultur und Zivilisation. Einige Gedanken zu diesem Thema, in: Kunstwart 14:15 (1901), 81–83, hier 81. Dieses Zitat ist aufgenommen in dem anders orientierten Überblick von Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch und Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung: Idealismus – Positivismus. Grundspannung und Vermittlung in Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, in: Kultur und Kulturwissenschaft um 1900, hg. von dens. Stuttgart: Steiner, 1997, 9–23, hier 12.

Reformagenda versus wilhelminisches Prestigedenken  |

Wenn diese Kulturanschauung in einer Flut von Publikationen über Kultur nur selten die hier skizzierte Klarheit erreichte, liegt das einerseits daran, dass sie sich zwischen den Praktiken der Reformbewegungen und den Bedingungen wirtschaftlicher Produktion aufsplitterte, andererseits daran, dass ihr Initiator noch weniger konsistent argumentierte als sein Lehrer Nietzsche. Es war wohl nicht nur bloßer Zufall, dass Julius Langbehns sofort zum Bestseller avanciertes Buch Rembrandt als Erzieher 1890 herauskam, dem Jahr, in dem Bismarck entlassen wurde, der von einer Durchdringung von Politik und Kultur nichts hatte wissen wollen. Langbehn erfand den prophetisch verschwommenen Tonfall, in dem sich Krisenbewusstsein mit künstlerischer Erweckungsprogrammatik ebenso verbinden ließ wie das Unbehagen an der Moderne, vor allem der Wissenschaft, mit der Verkündung, das Reservoir der Kunst zur Regeneration der Nation auszubauen. Was Langbehn postulierte, war nationale Identitätsstiftung mithilfe von Kunst und künstlerischer Veredlung.54 Rembrandt galt ihm als Katalysator einer solchen Regeneration, insofern der nordische Maler sowohl der „bäuerliche“ als auch der „königliche Künstler“ sei, der das Volk ebenso wie die Adligen mit seinem Helldunkel erfasse. In diesem Brückenschlag zwischen oben und unten lag das Charisma von Langbehns Sprache. Rembrandt lieferte dazu das verschwommene Dämmerlicht. Der neuerlich populär werdende Begriff völkisch gewann an Seriosität. Das Wort völkisch bei der Kennzeichnung deutscher Kultur einzusetzen, entsprach der wachsenden Tendenz, den von deutschen Gebildeten so nachdrücklich von den Alltagserscheinungen abgehobenen hohen Kulturbegriff zu ergänzen, ja zu unterlaufen. Viel mehr als an der Betonung des Gegensatzes zum Zivilisationsbegriff war den Kultur- und Sozialreformern daran gelegen, die Ausschließung des Volkes von der Hochkultur – die Trennung der Ungebildeten von den Gebildeten – abzubauen und diesen Abbau mit einem vermittelndorganologischen Begriff sichtbar zu machen.55 Allerdings öffnete diese Vermittlung, wenn dabei völkisch zugleich für den Begriff national eingesetzt wurde, den vor allem von Alldeutschen gebrauchten rassischen und politischen Argumenten Tür und Tor.56 54 Hermann Muthesius, der Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, berief sich noch auf dessen Jahrestagung 1911 auf Langbehns „krauses Buch ‚Rembrandt als Erzieher‘, das den Deutschen die Wichtigkeit der künstlerischen im Gegensatz zu der wissenschaftlichen Kultur ins Gedächtnis rief.“ (Wo stehen wir? Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Dres� den 1911. Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, 1912, 11–26, hier 14 f.) 55 Klaus vom See, Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Heidelberg: Winter, 2001, 157. 56 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001, 27–48, 263–288.

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Dennoch bleibt das Modernisierungspotenzial dieses Diskurses unbestritten, der sich sozialer Reform und bürgerlichen Lebensreformen ebenso verpflichtete wie der Praxis der angewandten Künste. Am klarsten und politisch eindringlichsten wurde es von Friedrich Naumann, der sich von völkischer Terminologie fernhielt, in seinen verschiedenen Stadien artikuliert, beispielhaft 1912 auf der Wiener Jahrestagung des Deutschen Werkbundes. Naumann formulierte das Umdenken über Kunst und Kultur, das unter deutschen und österreichischen Künstlern, Handwerkern und Industriellen die Grundlegung moderner Kultur ermöglichte. Es waren Feststellungen, deren Wirkungskraft sich durch den Krieg hindurch erhielten, während der kulturelle Herrschaftsdiskurs, den die Gelehrten und Publizisten bei Kriegsausbruch gegen das Ausland propagandistisch ins Feld führten, sich einer Phalanx feindlicher Attacken gegen die deutsche Kultur gegenübersah. Naumanns zwei Eröffnungsthesen lauteten: „1. Wenn die Gegenwart der hohen Kunst früherer Zeiten etwas Gleichwertiges an die Seite stellen will, so darf sie nicht nachahmen oder abzeichnen, sondern muß von sich aus neu gestalten, da die Lebensbedingungen der Künste andere geworden sind. 2. Das künstlerische Gestalten eines Zeitalters hängt ab von den Auftraggebern, den Herstellern und der Arbeitsweise. Die Merkzeichen der neueren Zeit heißen Demokratisierung der Auftraggeber, Kapitalisierung der Hersteller und Mechanisierung der Arbeitsweise.“57 Hier werden die von moderner Technik ebenso wie von Auftragserteilung und Distribution verursachten Wandlungen kultureller Produktionsbedingungen klar beim Namen genannt. Mit Thomas Nipperdeys Befund, dass die wilhelminische Gesellschaft mit ihren verschiedenen Kultur- und Sozialmilieus als eine segmentierte Gesellschaft verstanden werden muss, lassen sich ohne Weiteres politisch-weltanschaulich anders gelagerte Diskurse über Kultur umreißen.58 Man denke nur an die höchst unterschiedlichen programmatischen Sichtweisen im katholischen ‚Milieu‘, in der Sozialdemokratie, bei den Alldeutschen und der entstehenden Jugendbewegung. Sie lieferten jeweils andere Perspektiven auf die kulturelle Auslandswirkung des Deutschen Reiches, so etwa im Falle der internationalen Ausrichtung der Sozialdemokraten oder der ganz anders gelagerten Internationalität der katholischen Kirche, aber auch in Reaktion auf den neu entfachten Regionalismus der Jugendbewegung. 57 Friedrich Naumann, Kunst und Volkswirtschaft, in: ders., Werke, Bd. 6, hg. von Heinz Ladendorf. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag, 1964, 290–316, hier 315. 58 Thomas Nipperdey, War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanengesellschaft?, in: Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht, hg. von Klaus Hildebrand und Reiner Pommerin. Köln/ Wien: Böhlau, 1985, 67–82. An anderer Stelle spricht Nipperdey von einer „Kultur des Pluralismus und der Dissense“; ders., Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1. München: Beck, 1990, 824.

Pionierrollen: französische Kulturpolitik, deutsche Wissenschaftsorganisation  |

Pionierrollen: französische Kulturpolitik, deutsche Wissenschaftsorganisation Während man in Deutschland viel über Kultur und ihre Bedeutung für die Nation schrieb und redete, stellte man sie in Frankreich im Namen der Dritten Republik für alle Welt sichtbar aus. Was Franzosen nach der Niederlage von 1871 an kulturellem Nationalismus organisierten, diente den europäischen Staaten in den folgenden Jahrzehnten zum Vorbild eigener Anstrengungen auf dem Gebiet auswärtiger Kulturpolitik. Das macht Frankreich für dieses Kapitel unentbehrlich. Dazu gehört jedoch auch, dass Deutschland für Frankreichs Reformen in dieser Periode unentbehrlich wurde. Dafür, dass auswärtige Kulturpolitik ohne Wechselseitigkeit nicht denkbar ist, gibt es kaum ein besseres Beispiel als die deutsch-französische Konkurrenz im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich zwischen 1871 und 1914, die von Deutschlands zentraler Stellung für die Erziehungs- und Universitätsreformen der Dritten Republik ebenso geprägt wurde wie von der Vorbildrolle Frankreichs auf dem Gebiet von Kunst, Mode und Dekoration für das Kaiserreich. Von Anfang an etablierte die Dritte Republik eine in der Tradition von Aufklärung und Revolution stehende, staatlich geführte Kulturpolitik. Zu ihr gehörte der Ausbau der Kunsterziehung in öffentlichen Erziehungsanstalten und der Einbezug der Technik in die Kunstdiskussion.59 Im Gegensatz zu Großbritannien, wo man im Höchstfall den spezifischen Magnetismus der Beherrschung des Empire als culture verstand, ansonsten jegliche Ideologisierung und Institutionalisierung von Kultur aus der Politik ausklammerte, hob man in Frankreich nach der Niederlage 1871 das schon lange vorher bestehende kulturelle Missionsdenken auf die Höhe einer nationalen Bekenntnisreligion, mit der die 1870 ausgerufene Dritte Republik die gegen Deutschland verlorene Machtposition auf ihre Weise einzuholen suchte. Kultur und Kolonien wurden zum Programm einer nationalen Wiedergeburt. Was die Kolonialeroberung an Schrecken und Belastungen mit sich brachte, kompensierte eine auf dem Universalismus der Revolution und dem Image der Weltstadt Paris beruhende Politik kultureller Repräsentation. In der Historiografie ist diese Motivation der französischen Kulturoffensive seit jeher fest verankert, wenngleich die Selbstverständlichkeit, mit der Paris über diese Zäsur hinweg als Kulturhauptstadt Europas akzeptiert wurde, die politischen Hintergründe oft vergessen ließ. Will man Frankreichs Rolle bei der Neudefinition der deutschen Kulturmacht am Ende des 19. Jahrhunderts 59 Miriam R. Levin, Republican Art and Ideology in Late Nineteenth-Century France. Ann Arbor: UMI Research Press, 1986.

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fassen, muss man bei dieser Motivation ansetzen, sollte aber zugleich die Rolle Deutschlands innerhalb der französischen Reformpolitik mitberücksichtigen. Sie erledigt sich nicht mit dem Hinweis auf das Triumphgefühl der Gründerjahre. So wie Frankreich für die preußische Reformpolitik nach der Niederlage 1806 einen zentralen Referenzrahmen lieferte, geschah es umgekehrt mit Deutschland nach 1871. Was Historiker, die sich Nietzsches Verdikt über die deutsche Kultur allzu sehr zu Herzen nahmen, zumeist ausgespart haben, ist die Tatsache, dass Deutschland als Kulturmacht zu keiner Zeit so stark auf Frankreich wirkte wie in der Periode, für die man den Mangel an großen künstlerischen und literarischen Produktionen in Deutschland als Beweis für die „Exstirpation“ des deutschen Geistes ansah. Nur Ironie kann helfen, die Unsicherheiten auf beiden Seiten gegenüber dem Nachbarn zusammen mit den bewundernden Übertreibungen und Verdächtigungen von dessen Können gleichermaßen ernst zu nehmen. Dazu gehört das Neben- und Gegeneinander einer etwa zwanzig Jahre lang dauernden Phase französischer Hochschätzung deutscher Erziehungs- und Wissenschaftskultur mit der gleichzeitigen deutschen Reverenz für französische Kunst, Literatur und Lebensart. Dazu gehören offensichtlich sehr verschiedene Diskurse darüber, inwiefern in der Kultur des jeweils anderen Vorbilder für den Anschluss an die moderne Welt zu finden waren. Während deutsche Eliten in den Pariser Salons den Schlüssel dazu sahen, gingen Franzosen auf die Reise, um sich in den Laboratorien und Seminaren des Nachbarlandes die Kenntnis darüber zu erwerben, wie eine modern organisierte Wissenschaft zu schaffen sei, die zugleich die Nation im internationalen Wettbewerb voranbringen würde. Im jeweiligen Falle projizierte man in den Nachbarn den Akteur, der dem eigenen Land auf dem Weg in die Moderne voraus war – unterschieden nur in der Auffassung, was diese Moderne konstituierte. In seinem wegweisenden Werk über die „deutsche Krise“ im französischen Denken, La crise allemande de la pensée francaise (1870–1914), hat Claude Digeon gezeigt, wie „la défaite“ von 1870/71 mit dem Verlust von Elsass-Lothringen zum Movens einer nationalen Regeneration gemacht wurde, bei der politische Entscheidungsprozesse von vornherein im Zeichen der Außenperspektive standen.60 Dass die Antriebe französischer Reformen, auch wenn der Sieg des preußischen Schulmeisters die erste Referenz bildete, einer breiten Auseinandersetzung mit deutschen Organisationsformen auf den zentralen Gebieten von Erziehung und Wissenschaft galten, hat Bernard Trouillet eindrucksvoll nachgewiesen und damit die Trilogie Allan Mitchells über den deutschen Ein60 Claude Digeon, La crise allemande de la pensée française (1870–1914). Paris: Presses universitaires des France, 1959, 99.

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fluss in Frankreich mit pointierten Vergleichen ergänzt.61 Die „crise allemande“ bedeutete eben nicht nur die Auslösung einer kulturellen Gegenoffensive gegen Deutschlands militärische und wachsende industrielle Stärke. Sie fußte auf dem vor 1870 artikulierten Interesse für die neuen Organisationsstrategien deutscher Wissenschaft, einem Interesse, das trotz der Animosität nach der Niederlage direkt in die Neugierde überleitete, herauszufinden, was dem Nachbarn auf dem Gebiet die Führung verschaffte, das Frankreich bis zur Jahrhundertmitte beherrscht hatte. Von dieser Neugierde zeugt der gewaltige Aufschwung an Reiseschilderungen und detaillierten Studien aller möglichen Aspekte deutschen Lebens, die von dem einst von Madame de Staël in den Lettres d’Allemagne verbreiteten romantischen Deutschlandbild verdeckt worden waren. Einer reichen Anzahl französischer Reiseberichte stehen in dieser Periode nur wenige vergleichbare deutsche Bücher über Frankreich gegenüber.62 Sprach man vom Modellhaften deutscher Institutionen, die man kritisch prüfen müsse, so waren im Allgemeinen die deutschen Universitäten und Laboratorien gemeint, daneben die Erziehungseinrichtungen von der Grundschule bis zur Universität und die neuen Organisationsformen der Sozial- und Kommunalpolitik. Selten ließ man aus, die harschen Mentalitäten der Industrialisierung zu erwähnen, in denen man die abstoßenden Seiten der Modernität in der Gesellschaft östlich des Rheins lokalisierte, die plötzlich aus dem romantischen Schlummer des 19. Jahrhunderts aufgewacht sei und das Neue ohne jede ‚Finesse‘ umarmt habe. Mit den neuen Einsichten gingen in Frankreich einerseits Überraschung und Feindseligkeit, andererseits Betroffenheit über versäumte Wahrnehmungen einher. Ernest Lavisse, der bekannte Autor einer Enquete über deutsche Universitäten, formulierte noch 1908 anlässlich eines Besuchs in Berlin den Gedanken einer Mission Frankreichs, deutsche Kultur und das an ihr Fremde der Welt durch die eigene, „universale“ Sprache ins Internationale zu übersetzen.63 Angesichts des internationalen Engagements französischer Kultur- und Au61 Allan Mitchell, German Influence in France after 1870. The Formation of the French Republic. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1979; ders., Victors and Vanquished. The German Influence on Army and Church in France after 1870. Chapel Hill, 1984; ders., The Divided Path. The German Influence on Social Reform in France after 1870. Chapel Hill, 1991; Bernard Trouillet, „Der Sieg des preußischen Schulmeisters“ und seine Folgen für Frankreich 1870–1914. Köln/Wien: Böhlau, 1991. 62 Friedrich Wolfzettel, Das entzauberte Deutschland. Französische Reiseberichte zwischen 1870 und 1914, in: Grenzgänge. Kulturelle Begegnungen zwischen Deutschland und Frankreich, hg. von Hans T. Siepe. Essen: Die Blaue Eule, 1988, 64–82; Alexander Schmidt, Deutschland als Modell? Bürgerlichkeit und gesellschaftliche Modernisierung im deutschen Kaiserreich (1871–1914) aus der Sicht der französischen Zeitgenossen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1992:1, 221–242. 63 Wolfzettel, Das entzauberte Deutschland, 77.

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ßenpolitik traf das die Intentionen nicht weniger französischer Beobachter, erregte aber, wie vorauszusehen, in Deutschland den gebührenden Unwillen. Hier hatten nur wenige Zeitgenossen die Differenzierungen auf französischer Seite wahrgenommen, die teilweise dem Bemühen entsprangen, deutsche Techniken zur eigenen Modernisierung und Straffung des Erziehungs- und Wissenschaftsbereiches nutzbar zu machen, teilweise aber auch den scharfen innenpolitischen Kontroversen um den Kurs der neuen, von der konservativ-monarchischen und kirchlichen Rechten angegriffenen Republik geschuldet waren. Offensichtlich führte auf deutscher Seite das Bedürfnis, die nationale Integration ins Kaiserreich mit dem Feindbild Frankreich zu festigen, zu Blindheit, ja Desinteresse dem Nachbarland gegenüber. Damit ging der noch im 19. Jahrhundert vorhandene Sinn für die Bedeutsamkeit der französischen Interpretation deutscher Kultur verloren, die zu deren Selbstfindung und Anerkennung als Kulturmacht entscheidend beigetragen hatte. Stattdessen lebte man sich in einem Freund-Feind-Denken politischer Stereotypen ein, bei dem man die ideen- und sozialpolitischen Motivationen der französischen Kulturpolitik übersah und sie bloß als Ausdruck nationaler Selbsterhöhung ins Blickfeld rückte. Den meisten deutschen Beobachtern entging die Tatsache, dass in Frankreich auch und gerade nach 1871 eine höchst qualifizierte, ja differenzierte Debatte über deutsche Kultur, Macht und Modernisierung stattfand, der in Deutschland erst in den Kulturdiskursen der Jahrhundertwende eine vergleichbar kritische Reflexion entsprach.64 Mit dem Stichwort der Mobilisierung nationaler Energien lässt sich eine Vergleichsebene herstellen. „Das, was Victor Cousin bereits 1830 an Deutschland fasziniert hatte, ‚die Schulpflichtigkeit und Dienstpflichtigkeit‘, dieses Geheimnis preußischer Originalität und Macht, diese Grundlage deutscher Kultur, wird (wenn auch mit beträchtlicher Verspätung) in Form des Militärdienstes und der Schulpflicht (1872 und 1882) eingeführt.“65 Trouillet sieht in der „Institutionalisierung eines gewissen Ordnungsprinzips“ die entscheidende Weichenstellung für die Mobilisierung nationaler Energien. Hierin habe Deutschland „über den Modellcharakter mancher Bildungseinrichtungen und mancher Erziehungsformen – die französischen Entwicklungen zumindest beeinflusst, wenn nicht sogar mitgeprägt,“ woraus nicht zuletzt die Gegenreaktion nach 1900, speziell im Ersten Weltkrieg, ihre Antriebe bezog: „der Widerstand gegen zu viel Ordnendes, der Ruf nach der Entfaltung einer Eigendynamik, nach der 64 Trouillet, „Der Sieg des preußischen Schulmeisters“, bes. 260–268, 304–326; Karl Ulrich Syndram, Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst- und Kulturpublizistik in den Rundschauzeitschriften des Deutschen Kaiserreiches (1871–1914). Berlin: Mann, 1989. 65 Trouillet, „Der Sieg des preußischen Schulmeisters“, hier und im Folgenden 316.

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Wahrung einer eigenen Geistigkeit.“ Hier liegen die Wurzeln der sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen Ländern formenden Einschätzung Deutschlands als Modernisierungsmacht, einer Modernisierung allerdings, bei der die kollektive Verinnerlichung der Macht von Industrie und Militär verhindere, die der Modernisierung ebenso inhärente kulturelle Emanzipation der Individuen zu befördern. Deutsche Beobachter glaubten die ‚Seele‘ Frankreichs – was überwiegend Paris meinte – zumeist in der ästhetischen Selbstdarstellung zu fassen. Das schloss Mode und ‚höhere‘ Lebensformen ein. In den Bereichen der Kunsterziehung und der Ästhetisierung der Warenproduktion eröffnete das demokratisierende Erziehungsprogramm der Dritten Republik auch deutschen Reformern ein Terrain, das sie im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende zu nutzen wussten. Konrad Langes berühmt gewordene Grundsatzschrift zur Kunsterziehungsreform von 1893, Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend, die Kunstpolitikern wie Alfred Lichtwark und Hermann Muthesius zur Richtschnur diente, macht kein Hehl aus der Bewunderung der französischen Reformen, lenkt den Blick dann aber auf den wirtschaftlichen Nutzen, den die Förderung von Kunst und Kunstgewerbe dem Lande einbringe. Hier könne und müsse Deutschland sein eigenes Potenzial entwickeln.66 Die Erfolge der deutschen Ausstattungskultur auf der Welt­ausstellung in St. Louis bewiesen, dass man sich die Lehre zu Herzen genommen hatte. Wirtschaftliche Ziele standen von Anfang an hinter den Weltausstellungen, dem lange Zeit wichtigsten Forum nationaler Repräsentation. Allerdings wären die großen Ausgaben für diese internationalen Veranstaltungen ohne politische Absichten nicht möglich gewesen. Das galt für die Weltausstellung in Wien 1873, mit der die Habsburgermonarchie zum 25-jährigen Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph das angeschlagene Ansehen nach der Niederlage gegen Preußen durch eine Demonstration neuer industrieller Stärke aufbessern wollte (und dabei den größten finanziellen Verlust aller Weltausstellungen einfuhr).67 Wenige Jahre später stellte die Jahrhundertfeier der amerikanischen Revolution 1876 in Philadelphia das nach dem Bürgerkrieg wiedervereinte Land der Welt vor, während dann die Ausstellung in Chicago 1893 unter dem Schirm der Kolumbusfeier die selbstbewusste Wirtschaftsmacht USA präsentierte. Die Ausstellung von 1878 in Paris galt als „exposition 66 Konrad Lange, Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend. Darmstadt: Bergstraeßer, 1893, 7–10. 67 Heinz-Alfred Pohl, Die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert und die Nichtbeteiligung Deutschlands in den Jahren 1878 und 1889, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 97 (1989), 389 f.

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de la revanche“;68 die Ausstellung 1889 präsentierte sich als Zentenarfeier der Französischen Revolution, zu der die Monarchien Deutschland, Österreich und Russland ihre Beteiligung absagten. Was dieser und der Pariser Weltausstellung von 1900 einen festen Platz in der Kulturgeschichte der Moderne eingetragen hat, waren allerdings weniger die politischen oder wirtschaftlichen Aspekte, sondern die dem Fortschrittsdenken der Republik gewidmeten Schaustellungen. Die von den Veranstaltern in großem Maßstab verfolgte Bemühung, die Neuentwicklung der französischen Nation der internationalen Öffentlichkeit im Code einer neuen Popularkultur zu präsentieren, erreichte, leicht verständlich, auch die breiten Massen. Hinter ihr stand das Ministerium für Schöne Künste und Erziehung, das den Erziehungsauftrag der Dritten Republik am prominentesten vertrat.69 Am spektakulärsten im Eiffelturm 1889, verschmolzen in dieser Kultur Technik, Ästhetik und Modernität. Ihren breitesten Publikumserfolg konnte diese culture technique in der Ausstellung von 1900 verbuchen, die zwar erkennen ließ, dass das Deutsche Reich mit seinen Industrieprodukten eine Spitzenstellung in der Welt erobert hatte, andererseits aber bewies, dass Frankreich diejenige Nation war, die die Modernität im Bilde ihrer Technik Millionen von Menschen als Erlebnis zugänglich machte.70 Der Feier hoher Kunst und Kultur stellte sich damit ein neuer kultureller Populismus entgegen, der die Aufmerksamkeit der Massen auf die identitätsstiftende Kraft technischer Innovation lenkte, mit der man die Erfahrung von internationaler Führung und Avantgarde viel ausgiebiger demonstrieren konnte als auf dem schmalen Sektor hoher Kunst. Wofür die Weltausstellung 1900 große Resonanz erhielt, führte dann in der massiven Förderung der Flugtechnik zu großen Erfolgen. Eine einsichtige Kennerin Frankreichs hat das zu der Feststellung veranlasst, dass „der aviatische Mythos als Palliativ gegen eine sich in nationalen Selbstzweifeln verzehrende Fin-desiecle-Stimmung“ gedient habe, eine Strategie, deren Kontinuität sie noch einmal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Werke sah, als Frankreich mit Unternehmungen wie der Konstruktion des Überschallflugzeugs

68 Ilja Mieck, Deutschland und die Pariser Weltausstellungen, in: Marianne – Germania. Deutschfranzösischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789–1914, Bd. 1, hg. von Etienne François u. a., Leipzig: Universitätsverlag, 1998, 44 f. 69 Philippe Poirrier, L’Etat et la culture en France au XXe siècle. Paris: Librairie Générale Française, 2000, 19–29. 70 Absolut modern sein: zwischen Fahrrad und Fliessband – culture technique in Frankreich 1889–1937, hg. von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. Berlin: Elefanten Press, 1986.

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Concorde und des europäischen Raumfahrtprogramms „den Verlust der eigenen Großmachtstellung wettzumachen“ suchte.71 Der spektakuläre Erfolg der Weltausstellung 1900 in der Erfahrbarmachung von Modernität war insofern auch eine Bestätigung des französischen Konzepts staatlicher Kulturpolitik, als sie die Weltöffentlichkeit von den Konflikten der Dreyfus-Affäre ablenkte, bei der Frankreichs Ansehen durch Nationalismus, Antisemitismus und, von Émile Zolas J’accuse provoziert, die Verfolgung des freien Wortes großen Schaden erlitt.72 Der Skandal, der die tiefen Risse zwischen Republik und konservativ-kirchlicher Front weiter vergrößerte, gipfelte in der Verurteilung des jüdischen Offiziers, dem zu Unrecht der Verrat von Staatsgeheimnissen an Deutschland vorgeworfen wurde. So trug der glänzende Erfolg der Ausstellung dazu bei, den Internationalismus der republikanischen Werte als kompatibel mit der Nation zu zeigen, auch wenn die antisemitische Rechte an ihrer Inbesitznahme der „Nation“ festhielt. Immerhin konnte die Republik mit der Trennung von Staat und Kirche 1905 eine klare Entscheidung zu ihren Gunsten erzwingen. Kurz darauf wurde Dreyfus vollständig rehabilitiert und als Märtyrer des Rechtsstaates geehrt. In den Kanzleien anderer Länder wurde die zentrale Koordination der Außenwirkung Frankreichs sorgfältig notiert. Sie setzte voraus, dass ein gemeinsamer Wille gesellschaftlicher Entscheidungsträger existierte, der sich durch die notwendigen innen- und außenpolitischen Manöver hindurch erhielt. Das bekannteste Beispiel für den Erfolg einer zentral geplanten und innenpolitisch vorgeklärten Institution auswärtiger Kulturpolitik war 1883 die Etablierung der Alliance Française, der Organisation für die Verbreitung der französischen Sprache und Kultur. Gegründet als „Nationale Vereinigung zur Verbreitung der französischen Sprache in den Kolonien und im Ausland“ und verwaltet von Beamten des nationalen Erziehungssystems und hohen Kolonialbeamten im Außenministerium, wurde der Alliance Française die Aufgabe übertragen, die kolonialen Eroberungen der siebziger und achtziger Jahre mit einem auf die jeweiligen Mentalitäten zugeschnittenen Sprach- und Kulturprogramm zu vertiefen sowie die Einbuße des französischen Ansehens in anderen Ländern durch den Aufbau lokal geführter, aber von Paris gesteuerter französischer Schulen, Klubs, Institute und Gesellschaften wettzumachen. Von vornherein als 71 Marieluise Christadler, Aviatischer Mythos und Modernität in Frankreich, in: Grenzgänge. Kulturelle Begegnungen zwischen Deutschland und Frankreich, hg. von Hans T. Siepe. Essen: Die Blaue Eule, 1988, 116. 72 Anne-Claude Ambroise-Rendu, La perception de la puissance française en 1900: l’example de l’Expo­ sition universelle dans la press, in: La puissance française à la „Belle Epoche“. Mythe ou réalité?, hg. von Pierre Milza und Raymond Poidevin. Paris: Editions Complexe, 1992, 143–157.

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Antwort auf die Niederlage von Sedan konzipiert,73 gewann sie die volle Unterstützung der Kolonialvertreter – ihr zweiter Präsident war Ferdinand de Lesseps – und propagierte die „mission civilisatrice“ der französischen Nation in einem komplexen Amalgam aus Erziehungsidealen, Kulturbewusstsein, Sprachchauvinismus und Abwehr des wachsenden deutschen Einflusses.74 Im Umkreis der Debatten um Legitimität und Nutzen der Kolonialeroberungen fiel um 1885 auch die Prägung des Begriffs vom größeren Frankreich, „la plus grande France“, der Frankreich und seine Kolonien in Frontstellung zum englischen Kolonialreich und seiner Erhöhung zum „Greater Britain“ zu einer höheren Einheit zusammenfasste.75 Bis hin zur Kolonialausstellung 1931, die diesen Anspruch noch einmal erneuern sollte, war dieser Begriff in dem von der Alliance propagierten kulturellen Missionsdenken mitenthalten. Obwohl im Ausland als verlängerter Arm der französischen Regierung angesehen, bei der die entscheidende Regie im Außenministerium lag, strebten die Vertreter der Alliance die Selbstständigkeit der bald in die Hunderte gehenden lokalen Gründungen an. Darüber wurde im Einzelnen gestritten,76 jedoch äußerte sich in den jeweiligen lokalen Initiativen die wohl eigentliche Stärke dieser Einrichtung, die bis heute die größte nicht profitbasierte kulturelle Institution der Welt geblieben ist. Ihr Anker lag in dem Interesse in aller Welt, sich zur französischen Sprache und Kultur zu bekennen. Dafür die Organisationsformen gefunden zu haben, dürfte der Periode um die Jahrhundertwende gutzuschreiben sein. Sie förderte selbst in dieser nationalen und häufig nationalistischen Einrichtung genügend Enthusiasmus für den internationalen Kontext des eigenen Tuns. Italien, das seit der nationalen Einigung 1861 als Königreich sein neues Profil als europäische Macht in Konkurrenz zu den anderen Staaten, insbesondere Frankreich, entwickelte, setzte auf dem Gebiet auswärtiger Sprach- und Kulturpolitik das Modell der Alliance Française auf seine Weise um, als es die 1889 gegründete Società Nazionale Dante Alighieri zum zentralen Träger dieser Politik machte. Laut Satzung verpflichtete sich die Società, die italienische Sprache und Kultur außerhalb des Königreichs zu verbreiten und das italieni73 Maurice Bruézière, L’Alliance française. Histoire d’une institution. Paris: Hachette, 1983, 11. 74 Alain Dubosclard, Histoire de la Féderation des Alliances Françaises aux États-Unis (1902–1997). L’Alliance au Coeur. Paris/Montreal: L’Harmattan, 1998, 24. 75 Der Begriff geht zurück auf Charles Wentworth Dilke, Greater Britain. A Record of Travel in EnglishSpeaking Countries, 2 Bde. Cambridge: Cambridge University Library, 1866–68. Zu „La plus grande France“ s. Roger Little, “La plus grande France.” A Hypothesis, in: French Studies Bulletin, Nr. 95 (2005), 19 f. 76 Vgl. die Kritik an Dubosclards Lob der Selbstständigkeit des amerikanisches Bundes der Alliancen (Histoire de la Féderation des Alliances Françaises aux États-Unis (1902–1997), 143) durch Jonathan Gosnell, The Alliance Française, Empire and America, in: French Cultural Studies 19 (2009), 230.

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sche Nationalgefühl jenseits aller Parteien und Klassen zu pflegen. Zu diesem Zweck errichtete sie Schulen oder unterstützte bereits bestehende Einrichtungen, gründete Bibliotheken, verteilte Bücher, organisierte Versammlungen und Vorträge. Organisationsform waren Mitgliederkomitees innerhalb und außerhalb Italiens, die sich weniger als das französische Modell auf einen bilateralen Austausch mit anderen Kulturen konzentrierten. Mit ihrer Ausrichtung auf die außerhalb der Grenzen lebenden Italiener, besonders die in der Habsburgermonarchie in Südtirol/Trentino und Triest wohnenden, erfüllte die Società eine zentrale Funktion sowohl bei der nationalen Integration der Italiener im neuen Staat als auch bei dem Irredentismus im Norden, mit der Frontstellung gegen die Österreicher. Theodor Schieders positives Urteil über die Integrationsleistung des neuen italienischen Staates mithilfe des Konzepts nationaler Kultur – erfolgreicher als im neuen deutschen Nationalstaat, wie er fand77 – dürfte nicht zuletzt den Erfolg solcher zentral verwalteter Unternehmungen widerspiegeln, auch wenn Schieder mehr die von Benedetto Croce und Giosuè Carducci geführte Intelligenz im Auge hatte. Die Società Dante Alighieri wurde selbst wiederum Modell mit ihrem Aufbau eines Netzes von Auslandsschulen, das von der Übernahme vieler seit Langem von kirchlicher Mission betriebener Schulen entscheidende Impulse erhielt. Am Ende des 19. Jahrhunderts setzte sie den Entschluss um, den Millionen von italienischen Auswanderern vor allem nach Nord- und Südamerika eine kulturelle Rettungsleine nachzuwerfen. Die Società Dante Alighieri entwickelte das wohl umfangreichste Programm der Sprach- und Kulturpflege für eine in alle Welt verstreute Auswanderergruppe, etwas, dessen nationalpolitische Bedeutung von der deutschen Regierung erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg erkannt wurde. Bis dahin hatte man die deutsche Auswanderung, die eine ähnliche, historisch sogar noch länger zurückreichende Massenstruktur aufwies, kaum in die Reflexion des Nationalstaates einbezogen, es sei denn als ökonomisches Ventil oder als Ausdruck einer ‚anderen‘, friedlichen Kolonisierung in fernen Landen. Als das Auswärtige Amt in den zwanziger Jahren mit der Aufgabe konfrontiert wurde, nicht nur deutschen Auswanderern in Russland, auf dem Balkan oder in Südamerika Unterstützung bei der Pflege deutscher Sprache und Kultur zu gewähren, sondern sich finanziell und organisatorisch um die früheren Reichsdeutschen in den vom Versailler Vertrag abgetrennten Gebieten zu kümmern, berief man sich häufig auf die Organisa77 Theodor Schieder, Italien und die Probleme des europäischen Nationalstaats im 19.  Jahrhundert, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein. Festschrift für Hans Rothfels, hg. von Waldemar Bes� son und Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963, 339–356, hier 355.

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tionsformen, die Italien für die Stützung der italienischen Diaspora im Ausland entwickelt hatte.78

Preußens Innovationen In Deutschland hatte Preußen aufgrund seiner häufig im Reichsinteresse betriebenen Kontakte mit dem nicht deutschen Ausland eine führende Stellung unter den Bundesstaaten inne. Aus seinen Ministerien stammten entscheidende Initiativen auf dem Gebiet auswärtiger Kulturpolitik. Nicht nur die Kultusbürokratie wusste sich mit der kulturpolitischen Abstinenz der Reichsverfassung gut einzurichten. Andere Ministerien, vor allem das Innen- und Handelsministerium, und selbst Militär und Marine zogen daraus ihre Vorteile. Dass Preußen aufgrund seiner Größe und allbereiten Bürokratie das Reich repräsentierte, konnte den Zeitgenossen allerdings mit den Restriktionen des Kulturkampfes sowie der Federführung bei der Re-Germanisierung des neuen Reichslandes Elsass-Lothringen nicht negativer zum Bewusstsein gebracht werden. Viele Süddeutsche nahmen es als böses Omen für die neue Reichskultur. Die preußische Dominanz hatte in der Tat fatale Auswirkungen auf die Polen in den östlichen Provinzen und blieb ein entscheidendes Hindernis bei der Integration der Elsässer, zumal im letzteren Falle das Militär die Führung innehatte. Nur Oberschlesien, die katholische, zwischen Österreich und Preußen eingeklemmte Region mit stark polnischem Einschlag, entzog sich mit ihren Vielfachidentitäten und Sprachmischungen den preußischen Vereinheitlichungstendenzen. Sie blieb bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die klassische Region kaum zu entwirrender kultureller Vermischungen.79 Das Kultusministerium konnte seine führende Rolle beim Aufbau des deutschen Bildungs- und Universitätssystems auf die erfolgreichen Reformen nach Preußens Niederlage gegen Napoleon zurückführen. Seine Hochschulabteilung stieß entscheidende Initiativen an, die der deutschen Wissenschaft dabei hal78 S. die Aufzeichnung im Auftrag des deutschen Botschafters in Rom, von Prittwitz und Gaffron, vom 8.5.1924 über die Società Nazionale Dante Alighieri mitsamt Auflistung der jeweiligen Präsenz sowie Überlegungen zum finanziellen Engagement des Staates an ihren Schulen in Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika (Politisches Archiv des AA, R 60447, I 1427). In VI 6016/A vergleicht von Prittwitz die Società in ihren Erfolgen mit der Alliance Française. Weitere Materialien in den Akten R 60003, Die Kulturpropaganda der Entente, 1924–26; R 61151, Deutsche Kulturpropaganda in Italien, 1926–1936; u. a. zu den Schulen selbst: Ester Caiani, Das italienische Auslandsschulwesen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 29 (1979), 86–91. 79 Tomasz Kamusella, Silesia and Central European Nationalisms. The Emergence of National and Ethnic Groups in Prussian Silesia and Austrian Silesia, 1848–1918. West Lafayette: Purdue University Press, 2007.

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fen, in der zunehmenden internationalen Konkurrenz eine zentrale Stellung zu behaupten. Zusammen mit dem Handelsministerium, ohne dessen Koordination die Reform der deutschen Kunstgewerbeschulen und die wirtschaftliche Konsolidierung der Design- und Ausstattungsindustrie nicht vonstattengegangen wäre, stellte es die Weichen für eine weitreichende Modernisierungspolitik, die auch in den Jahren, da Kaiser und kaiserliche Kultur längst hinweggefegt waren, im internationalen Kulturverkehr noch Früchte trug.80 Keine anonymen Behörden, sondern zwei äußerst einfallsreiche Beamte stellten hierbei die Weichen. Im Handelsministerium war es der Architekt und Regierungsrat Hermann Muthesius, der an der Londoner Botschaft 1896–1903 die englische Entwicklung von Architektur und Kunstgewerbe, die Förderungspolitik des Staates sowie die Innovationen der Arts-and-Crafts-Bewegung studiert hatte. Mit der Fülle der daraus resultierenden Publikationen und internen Memoranden stieg er schnell zur Schlüsselfigur sowohl der längerfristigen Planung des Ministeriums als auch generell der Reformbewegung dieser Jahre auf. Sie bestimmte die Neuausrichtung der Kunstschulen in Breslau, Düsseldorf und Berlin ebenso wie in Weimar, Wien und München und erhielt mit dem 1907 gegründeten Deutschen Werkbund ein zentrales Diskussions- und Organisationsforum.81 Mit klarer, in England kritisch geschulter Einschätzung des deutschen künstlerischen und industriellen Potenzials verschaffte Muthesius den zunächst regional gewachsenen Reformen eine breitere Bühne, die privatwirtschaftliche Unternehmungen stimulierte. Diesen Reformen waren nicht zuletzt die in St. Louis erzielten Erfolge zu verdanken. Dank der strategischen Vorarbeiten und publizistischen Präsenz von Muthesius, der harte Kämpfe gegen die in Gestaltungsfragen hartnäckig konservativen Wirtschaftsverbände des Kunsthandwerks und der Kunstindustrie ausfocht, vermochte das preußische Handelsministerium der deutschen Gewerbeindustrie den Weg zum internationalen Erfolg über Reformen der Berufsausbildung und Designpraxis ebnen.82 Im Kultusministerium war es der Ministerialdirigent Friedrich Althoff, der in intensivem Austausch mit den ausländischen Entwicklungen – wohlinformiert über deren kräftige Modernisierungssprünge – der deutschen Wissenschaft teilweise sehr schmerzhafte Strukturreformen auferlegte, mit der sie sich vom lange Zeit gefeierten Elfenbeinturm der Universitäts- und Forschungshierarchien verabschieden und den Gegenwinden des akademischen und wirt-

80 John V. Maciuika, Before the Bauhaus. Architecture, Politics, and the German State, 1890–1920. Cambridge: Cambridge University Press, 2005, 20–22. 81 Ebd., 69–103; Kunstschulreform 1900–1933, hg. von Hans M. Wingler. Berlin: Mann, 1977. 82 Kurt Junghanns, Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt. Berlin: Henschelverlag, 1982, 16.

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schaftlichen Weltmarktes aussetzen musste.83 Als größter Einzelstaat des Reiches mit zwei Dritteln sowohl der Fläche als auch der Bewohner besaß Preußen auch die meisten Universitäten, allen voran die einstige Reformuniversität Berlin. Seit Langem war damit auch die Dynamik der Wissenschaftsentwicklung an Preußen übergegangen, was allerdings – darauf achtete Althoff – nicht unbedingt Zentralisierung bedeutete. Ohnehin war Althoff nicht der Inbegriff des Kommandopreußens und stand damit im Gegensatz zu seinem obersten Dienstherrn, dem Kaiser, dem er dank seiner selbst- und kontinuitätsbewussten Verwaltungspolitik viele potenzielle Stolpersteine aus dem Wege räumte. Was wiederum nicht verhinderte, dass Wilhelm  II. bei seiner selbstgezimmerten kulturellen Außenpolitik oft genug ins Stolpern geriet. Der Arbeit von Friedrich Althoff als Leiter der Hochschulpolitik im preußischen Kultusministerium, zunächst als vortragender Legationsrat ab 1882, später als Ministerialdirektor, häufig als heimlicher Kultusminister tituliert, war es zu verdanken, dass die Wirkung der deutschen Wissenschaft nicht allein an die Universitätsromantik, Forschungsmentalität und Professorenhierarchie gekoppelt blieb, auch wenn diese Faktoren im In- und Ausland lange Zeit als Aushängeschild deutscher Kultur verstanden und gepflegt wurden. Wie die Londoner Jahre für Muthesius’ Reformgeist ihre Inspiration behielten, blieb auch für Althoffs Initiativen der Schritt über die Grenzen in eine andere Kultur prägend. In seinem Falle ergab sich die Herausforderung aus der Teilhabe an dem größten kulturpolitischen Unternehmen auf (fast) fremdem Terrain, mit dem das neu gegründete Reich einen einst deutschen ‚Stamm‘ aus den Armen Frankreichs zurückerobern und seine Stellung als Kulturmacht im übrigen Deutschland und vor aller Welt in Szene zu setzen versuchte: der Neugründung der Universität Straßburg als moderner Eliteuniversität in dem neu angeschlossenen Reichsland Elsass-Lothringen. Althoff wurde Zeuge und Mitarbeiter dieses eindrucksvoll konzipierten Unternehmens kultureller Rückeroberung. Er erlebte die Begeisterung, mit der führende deutsche Nationalökonomen und Staatswissenschaftler wie Gustav Schmoller, Wilhelm Lexis und Lujo Brentano, der Germanist Wilhelm Scherer, der Kunsthistoriker Georg Dehio und der klassische Philologe Wilhelm Studemund dem Ruf Preußens auf die neuen Lehrstühle nachkamen, und verfolgte die Erwartungen, die sich an die Tatsache knüpften, dass die deutsche Wissenschaft zum zentralen 83 Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiser� reich 1882–1907. Das „System Althoff“, in: Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, hg. von Peter Baumgart. Stuttgart: Klett-Cotta, 1980, 9–118. Eine kritische Einschätzung Preußens als ‚Kulturnation‘, die allerdings die Entwicklung nach 1880 nicht berücksichtigt habe, bei Klaus von Beyme, Kulturpolitik und nationale Identität. Studien zur Kulturpolitik zwischen staatlicher Steue� rung und gesellschaftlicher Autonomie. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998, 36–54.

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kulturpolitischen Akteur wurde. Er lernte verstehen, warum die Mission, die zunächst auch im Reich weit gefächerte Impulse gab, an der Arroganz und Selbstisolation der deutschen Professoren scheiterte; ebenso, wie fragwürdig die Berufung auf gemeinsame Sprache und Überlieferung war, wenn sie von einer preußischen Verwaltung forciert wurde, deren ungemildert autoritärer Habitus verhinderte, eine zivile und lebensfrohe Bevölkerung für sich zu gewinnen, die mit den Freiheiten der Französischen Revolution in einen anderen Staat integriert worden war.84 Althoff hatte die Distanz zwischen der deutschen Beamtenschaft, die sich wie in einem besetzten Land bewegte, und den Einheimischen mit seiner süddeutschen Mentalität zu überbrücken verstanden, wurde aber nicht zuletzt deshalb von seinen Universitätskollegen ausgegrenzt, sodass er dem Experiment mit der Berufung ins preußische Kultusministerium nicht ungern den Rücken kehrte. Die Umsicht und Ausdauer, mit der er sich in den folgenden Jahren der Reform der deutschen Universität und ihrer internationalen Verflechtung mit Frankreich, Großbritannien, den USA und anderen Ländern widmete, resultierte nicht zuletzt aus diesen Erfahrungen. Dazu gehörte, dass er Professoren häufig genug zeigte, wie wenig er von ihrem Auftreten beeindruckt war. Preußens Kulturpolitik in Elsass-Lothringen machte sich als Germanisierungspolitik einen schlechten Namen, da sie im Westen unter den Augen vieler Beobachter stattfand. Das Scheitern des Germanisierungsprojekts in der 1871 dem Reich zugeschlagenen Provinz Posen, die zu einem nicht geringen Teil von Polen bewohnt wurde, geriet hingegen kaum in die Öffentlichkeit. Ohne auf die kulturelle Minderheitenpolitik hier eingehen zu können, muss dieses Projekt zumindest erwähnt werden, da es, im Namen des neuen Reiches gegenüber den Polen auf den Weg gebracht, die Nachtseiten von Preußens Mittlerstellung in der Kulturpolitik erkennen lässt. Militär- und Kolonialgesinnung verbanden sich, angeheizt von den Stereotypen ‚Kultur gegen Unkultur‘ sowie ‚Fortschritt gegen Rückständigkeit‘, zu einer brutalen Unterdrückungspraxis im Osten, bei der die Berufung auf Kultur bei den davon Angesprochenen ihre Glaubwürdigkeit verlor.85

84 John E. Craig, Scholarship and Nation Building. The Universities of Strasbourg and Alsatian Society, 1870–1939. Chicago/London: University of Chicago Press, 1984. 85 Thomas Serrier, „Deutsche Kulturarbeit in der Ostmark.“ Der Mythos vom deutschen Vorrang und die Grenzproblematik in der Provinz Posen (1871–1914), in: Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, hg. von Michael G. Müller und Rolf Petri. Marburg: Herder-Institut, 2002, 13–33.

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Kaiser Wilhelm II. als Schausteller auswärtiger Kulturpolitik Für die zentrale Rolle, die Kaiser Wilhelm II. in der deutschen Außenpolitik gespielt hat, lassen sich in der Verfassung von 1871, auch in ihren Lücken, einleuchtende Begründungen finden. Das allein vermag jedoch nicht das bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges überproportional hohe Gewicht seiner Persönlichkeit zu erklären. Mindestens ebenso bedeutsam ist die Tatsache, dass Wilhelm II. in einer zweiten Phase der Reichsentwicklung, in der die Außenpolitik aus dem Stadium Bismarck’scher Konsolidierung heraustrat und sich zu einer Politik der Außenwirkung des wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig expandierenden Reiches wandelte, als integrierende Symbolfigur unverzichtbar wurde. Ohne den Drang breiter Bürgerschichten, diesen nach wie vor in Regionen lebenden und regierten Bundesstaat mit einem wirksamen Prestigeauftreten unter den Weltmächten repräsentiert zu sehen, ist das Gewicht des Kaisers nicht zu verstehen. Die Tatsache, dass Wilhelm es selbst war, der diesen Drang am geräuschvollsten als seine ureigene Mission formulierte, verstanden seine deutschen Untertanen lange Zeit nicht als Selbstüberschätzung, im Gegenteil, sie empfanden die Entschlossenheit, mit der er Prestige selbst zum Inhalt seines, wie er betonte, göttlichen Auftrages als Kaiser machte, als Gunst des Schicksals bei der Annahme der weltpolitischen Rolle, die dem Reich zugewiesen worden war. Der Gewinn von Prestige wurde bereits als Machterwerb verstanden. In diesem Denken kam der Außenpolitik insofern ein zentraler Platz zu, als sie der Prestigeentfaltung eine weithin beachtete internationale Bühne bescherte. Zudem waren die Entscheidungsprozesse zwischen Auswärtigem Amt und Reichskanzlei von der Verfassung so wenig geregelt worden, dass Wilhelm II. mit seinen Initiativen dem langsamen Mahlen des Amtes und der internationalen Diplomatie häufig einen Schritt voraus war, was im Inland als Zeichen deutscher Kraft, im Ausland als Beweis deutscher Aggressivität gewertet wurde. „Das Auswärtige Amt?“, fragte er einmal. „Wieso? Ich bin das Auswärtige Amt!“86 Was sich als ein weiteres Loch in der Verfassung kennzeichnen lässt – dass die für den Funktionsmodus des Staates wesentliche „Durchsichtigkeit“87 der politischen Entscheidungsprozesse gerade für die Außenpolitik fehlte – führte dazu, dass der Hohenzollernmonarch die äußere Erscheinungsform des Reiches als kaiserliches Prestigeprojekt definieren konnte. Das festzustellen, ist nach einer Myriade von Untersuchungen zu Kaiser Wilhelm II. und seiner fatalen Behandlung der deutschen Außenpolitik nicht um86 Zit. nach Röhl, Kaiser, Hof und Staat, 171. 87 Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte. Berlin: Volk & Welt, 1996, 169.

Kaiser Wilhelm II. als Schausteller auswärtiger Kulturpolitik  | 2 „L’Empereur d’Allemagne en Voyage“. Karikatur zur Türkeireise von Wilhelm II. von Henri Meyer, In: Le Petit Journal 1898. In: Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz Nr. 00022848

werfend. Dennoch hilft diese Einsicht bei der Beantwortung der Frage, wie die deutsche Regierung auf dem außenpolitischen Terrain agierte, auf dem bürgerliche Eliten neben der militärischen Selbstdarstellung und wirtschaftlichen Einflussnahme die Wirkung einer Kulturmacht ausspielen wollten. Überspitzt formuliert: Für die Welt trat nicht die deutsche Regierung in Aktion, sondern der deutsche Kaiser. Was er von deutscher Kultur in monarchischer Mission lieferte, konkurrierte mit dem, was der Nachbarstaat als Kultur der französischen Republik präsentierte. Womit füllte Wilhelm II. die kulturelle Prestigepolitik, die ihm die Lücken in der Verfassung ermöglichten? Er berief sich selten auf die Wirkung von Beethoven, Goethe oder Kant. Ihm ging es vor allem um die Erzeugung großer, visuell profilierter Momente, mit denen er, dank einer wachsenden Massenpresse, dem Reichsgedanken eine bisher ungewohnte Öffentlichkeit verschaffte.

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Dabei kam der militärischen Inszenierung, genauer: der Inszenierung des Militärischen großes Gewicht zu. Noch wichtiger aber war die Zurschaustellung des Monarchen selbst, die eine ebenso persönliche Anziehung wie Abneigung von Tausenden, ja Millionen Beobachtern auslöste. Insofern Monarchenbegegnungen und Staatsbesuche in ihrer medialen Vermittlung am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Teil der Unterhaltungsindustrie geworden waren, konnte der Kaiser darauf rechnen, dass persönliche Gesten als Signale nationaler Größe weithin wahrgenommen wurden.88 Als Beispiel für die Erzeugung eines solchen historischen Moments, bei dem sich Kolossales mit Komischem, Monarchenpomp mit Geschäftlichem vermischten, sei ein Tag aus seiner vielpublizierten Orientreise 1898 herausgegriffen, wie ihn einer der unterhaltsameren Historiker des Hohenzollernhauses exemplarisch ins Bild gesetzt hat: „Weiß und strahlend wie Lohengrins Schwan fuhr Ende Oktober 1898 die ‚Hohenzollern‘ in den Hafen von Konstantinopel ein. Umwallt von einem weißen Umhang, ging Wilhelm an Land und trat auf seinen Gastgeber Sultan Abd ul-Hamid II. zu. Anschließend wurde er auf geradezu märchenhafte Weise bewirtet: Essen von massivgoldenem Geschirr, nach Tisch ein Schälchen voll Smaragden und Rubinen für die Damen (Auguste Viktoria war mit von der Partie). Noch später ging es ums Geschäft; der Kaiser erwies sich als recht geschickter Interessenvertreter der deutschen Industrie. Als die ‚Hohenzollern‘ weiterfuhr, hatten sich Türken und Deutsche über mehrere Großprojekte geeinigt, das spektakulärste davon: die Verlängerung der von Dresdner Bank und Deutscher Bank finanzierten Anatolischen Eisenbahn über ihre damalige Endstation Konya hinaus bis Bagdad.“89 Dass Wilhelms Begegnung mit dem Herrscher des Osmanischen Reiches und die Verhandlungen über die Bagdadbahn als Erfolg gewertet werden konnten, war allerdings eher die Ausnahme. Auf den weiteren Stationen der Reise nach Jerusalem zur Einweihung der Erlöserkirche konnte der Kaiser nicht nur mit positiver Resonanz rechnen. Einerseits verkündete er den Christen im Lande gegenüber eine Art Schutzverpflichtung, die die Muslime als gegen sich gerichtet aufnehmen mussten, andererseits ließ er sich nach dem Besuch von Saladins Grab in Damaskus zu Äußerungen verleiten, die den anderen Kolonialmächten, besonders Großbritannien, nur als Affront erscheinen konnten: „Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Khalifen verehren, dessen versichert sein,

88 Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg. Paderborn: Schöningh, 2000, 416. 89 Gerhard Herm, Glanz und Niedergang des Hauses Hohenzollern. Düsseldorf: Econ, 1996, 328.

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dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“90 Wer nach Ermutigungen des entstehenden Pan-Islamismus sucht, kann an den Äußerungen des deutschen Kaisers nicht vorübergehen. Islamische Zeitungen brachten sie mit wohlwollenden Kommentaren über die freundschaftliche Haltung der Deutschen.91 Wilhelm bestätigte das bei seinem Besuch in Tanger, wo er den marokkanischen Sultan betont als Herrscher eines freien und selbstständigen, keiner fremden Souveränität unterworfenen Reiches ansprach und damit Frankreich provozierte.92 Was Wilhelm als Ausfluss seines Interesses am Orient und Teil eines von Deutschland getragenen kulturellen Brückenschlages zwischen Okzident and Orient ansah, erschien dem Ausland als Deckmantel einer aggressiven Expansionspolitik. Bezeichnenderweise beschrieb Hans Delbrück, der Herausgeber der einflussreichen Preußischen Jahrbücher, die Intentionen der Damaskus-Rede und der Marokkopolitik als „Kulturmission“, „vermöge welcher mohammedanische Reiche der europäischen Kultur geöffnet und zugänglich gemacht werden.“93 Daran ist gewiss nicht falsch, dass sich im Buhlen um das Wohlwollen islamischer Völker in der Tat sowohl politische und wirtschaftliche Bestrebungen als auch von aktivem Sponsorentum begleitete kulturelle Interessen manifestierten, die in Deutschland zunehmend institutionelle Unterstützung fanden. Sie halfen dabei, die Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Türken weit über die eigentlich wirtschaftspolitischen Interessen hinauszuheben und als Baustein zur Modernisierung des Osmanischen Reiches zu kennzeichnen. Beim Versuch, mit den führenden Positionen Frankreichs und Großbritanniens gleichzuziehen, konnte der Kaiser aktiv werden. Sein Prestige wurde von deutschen Interessengruppen bewusst eingesetzt. Bei der Behandlung Chinas, der anderen im Rahmen der Weltpolitik in den Blick genommenen Region, leistete sich Wilhelm eine so grobe Entgleisung, dass andere Völker daraus noch im Ersten Weltkrieg eine fatale Kennzeichnung der Deutschen als ‚Hunnen‘ ziehen konnten. Als der Kaiser im Juni 1900 in Bremerhaven das Deutsche Ostasiatische Expeditionskorps verabschiedete, das als Teil eines internationalen Kontingents den Boxeraufstand in China niederschlagen sollte, tat er das unter Hinweis darauf, das Attentat auf den deut90 Die Reden Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1896–1900, Teil II, hg. von Johannes Penzler. Leipzig: Reclam, 1904, 127. Über die politischen Implikationen dieser Widersprüche s. Suzanne L. Mar� chand, German Orientalism in the Age of Empire. ����������������������������������������������� Religion, Race, and Scholarship. New York: Cam� bridge University Press, 2009, 341. 91 Abdel-Raouf Sinno, The Emperor’s Visit to the East as Reflected in Contemporary Arabic Journalism, in: Baalbek. Image and Monument, 1898–1998, hg. von Héléne Sader, Thomas Scheffler und Angelika Neuwirth. Beirut: 1998, 133. 92 Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871–1918. München/Wien: Oldenbourg, 1969, 166. 93 Zit. nach ebd., 166 f.

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3 Boxeraufstand – Verabschiedung des deutschen Ostasien-Expeditionskorps durch Kaiser Wilhelm II. 27.7.1900 in Bremerhaven (Hunnenrede). In: Bundesarchiv, Bild 183-00313-0014-067

schen Gesandten zu rächen, mit den Worten: „Ihr sollt fechten gegen eine gut bewaffnete Macht, aber Ihr sollt auch rächen, nicht nur den Tod des Gesandten, sondern auch vieler Deutscher und Europäer. Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzu­se­hen.“94 Radikalisiert aufgrund falscher Information über das chinesische Vorgehen, artikulierte Wilhelm in seiner ‚Hunnenrede‘ nicht nur koloniales Gehabe, wie es die Besatzernationen in China generell demonstrierten. Er projizierte eine Bestrafergeste als Selbstzweck, eine deutsche Machtdeklaration bei der ersten Entsendung deutscher Truppen nach Übersee. Schon drei Wochen zuvor hatte er bei der 94 Zit. nach Bernd Sösemann, Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven, in: Historische Zeit� schrift, Nr. 222 (1976), 342–358, hier 350.

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Verabschiedung des ersten Expeditionskorps für China die Solidarität europäischer Nationen beschworen: „Ihr habt gute Kameradschaft zu halten mit allen Truppen, mit denen ihr dort zusammen kommt. Russen, Engländer, Franzosen, wer es auch sei, sie fechten alle für die eine Sache, für die Zivilisation.“95 Ausschlaggebend war die Bemühung, Deutschlands bisher marginale Position unter den Besatzungsmächten im Namen der westlichen Zivilisation durch besondere Militanz und zivilisatorischen Missionsgeist aufzubessern. Bei diesem Geschäft verbargen die Begriffe Kultur und Zivilisation die Absichten des Kolonialismus, und der pompöse Titel des englischen Bestsellers The War of Civilizations (1901) korrespondierte durchaus mit Wilhelms Verwendung dieser von Deutschen später als Gegensatz gebrauchten Begriffe.96 Seine Version von „the white man’s burden“ tat es nicht unter der Rhetorik der abendländischen Kulturmission, bei der sich Deutschland unter Berufung darauf, Kultur und Christentum zu verbreiten, an die Spitze stellen konnte. In seiner Skizze zu „Völker Europas, wahrt Eure heiligsten Güter“, die der Maler Hermann Knackfuß zu einem großen Gemälde ausarbeitete, stattete Wilhelm sein Wunschbild Deutschlands mit den Zügen des Erzengels Michael aus, der den anderen Völkern den Weg weist, eine Illustration der unendlich oft zitierten und verspotteten Gedichtzeile von Emanuel Geibel: „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen.“ Aus ähnlichem Geiste stammte Wilhelms viel zitierte Warnung vor der „Gelben Gefahr“. Hiermit zielte der Kaiser vor allem auf Japan, dessen Potenzial als politische und wirtschaftliche Macht in den erfolgreichen Kriegen gegen China und Russland zu Beginn des Jahrhunderts zutage trat. Es deckte sich nicht mit der zu dieser Zeit noch wenig kontinuierlichen Ostasienpolitik des Auswärtigen Amtes. Es galt als unnötige Brüskierung angesichts der Ausrichtung Japans an den deutschen Verfassungs‑, Justiz‑, Erziehungs- und Militärstrukturen, die von geschickten Experten des Reichs in den 1880er-Jahren erfolgreich gefördert worden war.97 Immerhin hatte sich das Reich in der an westlichen Vorbildern orientierten Modernisierung des Landes seit der MeijiRestauration von 1868 eine zentrale Stellung erworben. „Durch eindeutige Präferenz für preußisch-deutsche Lösungen mit einer Restauration des Kaisers 95 Die Reden Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1896–1900, 206. 96 George Lynch, The War of Civilisations. Being the Record of a ‘Foreign Devil’s’ Experiences with the Allies in China. London/New York/Bombay, 1901. Über die Bedeutung der Beteiligung des Reiches am Boxerkrieg für den deutschen Kolonialismus siehe Yixu Lü, Germany’s War in China. Media Coverage and Political Myth, in: German Life and Letters 61:2 (2008), 202–214. 97 Rolf-Harald Wippich, Das Auswärtige Amt und Ostasien 1871–1945, in: Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, hg. von Jost Dülffer, Bernd Martin und Günter Wollstein. Frankfurt/Berlin: Ullstein, 1990, 117–134.

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und des für diese Ordnung stehenden traditionellen Systems“ war die Phase der Reformen abgeschlossen worden. Das Deutsche Kaiserreich galt den Japanern „als Muster geordneter staatlicher Verhältnisse und eines loyalen Patriotismus des Volkes gegenüber der monarchischen Spitze.“98 Ausgerechnet der Kaiser suchte sich auf Kosten dieser Annäherung Pluspunkte in der Verteidigung des Abendlandes zu erwerben. Die meisten dieser Deklarationen des höchsten Repräsentanten musste das Auswärtige Amt mit Zittern nachvollziehen oder ausbügeln. Sie verband die Manifestation von Prestige als einen Beweis von Macht, den die Medien vehement mitvollzogen. Dafür spannte Wilhelm alles Mögliche ein: Richard Wagners Opern ebenso wie Röntgens Entdeckungen, die technischen Erfindungen der Deutschen, die steigende Industrieproduktion, die preußische Militärtradition, die ‚Dicke Berta‘ der Firma Krupp ebenso wie die Schlachtflotte, aber auch das eigene Interesse an Archäologie, der Antike, der britischen Königsfamilie und nicht zuletzt seine direkte Beziehung zu Gott, für die er sich als Landesherr und oberster Bischof der protestantischen Kirche privilegiert fühlte.99 All das summierte sich wohl am eindrucksvollsten in dem Enthusiasmus für Richard Wagners Opern, den der Kaiser selbst aktiv und öffentlich, unter anderem mit dem Besuch Bayreuths, bekundete. Hierin fanden in- und ausländische Beobachter die neben dem Militär wichtigsten Attribute für das neue Reich insgesamt: eine kulturvolle, aber laute und bombastische Inszenierung, die nie genau erkennen ließ, was genuin innovativ und was nur aufgesetzte Fassade war. Auf die Frage, wie der Kaiser die kulturelle Prestigepolitik ausfüllte, ergibt sich somit eine Fülle von Antworten, die zusammengenommen erkennen lassen, dass die Lücken in der Verfassung einerseits gewaltigen Missbrauch obrigkeitlicher Gewalt im Bereich außen- und innenpolitischer Entschei­dungsprozesse zuließen, andererseits es der kulturellen Identitätsfindung des neuen Reiches erlaubten, sie in einer Weise zu füllen, an die man zuvor kaum gedacht hatte und die nun in der Phase enormen Industriewachstums unter diesem ehrgeizigen, adaptiven, selbstbewussten und zugleich unsicheren Regenten mit künstlerischen Ambitionen offizielle Sanktionierung erhielten. Mit seiner aggressiven Version des Idealismus belastete er allerdings die Referenz auf Kunst als Repräsentation der Nation so einseitig, dass ihm viele sonst kaisertreue Bildungsbürger auf diesem Gebiet die Gefolgschaft aufsagten. Geradezu verhängnisvoll war 98 Bernd Martin, Verhängnisvolle Wahlverwandtschaft. Deutsche Einflüsse auf die Entstehung des mo� dernen Japan, in: ebd., 97–115, hier 98, 100. 99 Gisela Brude-Firnau, Preussische Predigt. Die ��������������������������������������������������������� Reden Wilhelms II., in: The Turn of the Century. Ger� ���� man Literature and Art, 1890–1915, hg. von Gerald Chapple und Hans H. Schulte. Bonn: Bouvier, 1981, 149–170.

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sein Nachvollzug dessen, was sich Bismarck verbeten hatte: die Zuordnung von Kultur und Militär als Ausdruck des Nationalen. Mit Wilhelm II. konnte im Vorfeld des Ersten Weltkrieges die Anschauung gedeihen, dass die deutsche Kultur des Militärischen bedürfe, um ‚ganz‘ zu sein. Wilhelm störte sich nicht an den darin inhärenten Spannungen, so lange beide Elemente dem nationalen Prestige Ausdruck gaben. Ganz im Stil feudaler Kunstgesinnung umarmte Wilhelm den Historismus des späten 19. Jahrhunderts. Das lag im Trend der Zeit, korrespondierte mit den Repräsentationsbemühungen anderer regierender Fürsten Europas und republikanischer Staats- und Stadtwesen, aber auch liberaler Bürgerschichten in Wien, Mailand, Zürich, Kopenhagen und London, die unter Kultur vornehmlich die eigene Legitimierung durch Demonstration von Traditionen (invention of traditions) verstanden. Wo die Repräsentationsbauten der Gründerzeit dem internationalen Historismus eine Reichsfassade verschafft hatten, setzte Wilhelm eine von Liberalen bis dahin nicht zugelassene Zentralisierung der Entscheidungen über Stil- und Symbolformen durch.100 Als der deutschamerikanische Harvard-Professor Kuno Francke um die Jahrhundertwende dem Ansehen der deutschen Kunst in den USA aufhelfen wollte und für die Gründung des Germanischen Museums an der Harvard University Replikate berühmter deutscher Kunstwerke sammelte, gewährte ihm der Kaiser großzügige Hilfe. Aber das kam nicht ohne Auflage: Zu klassischen Werken wie der Goldenen Pforte vom Freiberger Dom und den Naumburger Stifterstatuen Ekkehard und Uta musste unbedingt das Hohenzollernerbe mit dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten und Schadows Standbild Friedrichs des Großen hinzugefügt werden, was bei Amerikanern auf Befremden und Protest stieß.101 Bei Deutschamerikanern überwog die Befriedigung darüber, dass der deutsche Herrscher mit dieser Schenkung die Initiative, die Francke mit großem Geschick zu einem Symbol kulturpolitischer Annäherung der beiden Nationen erhöhte, mit persönlichem Engagement unterstützte. Mit seiner unermüdlichen Tätigkeit als Professor für deutsche Kultur- und Literaturgeschichte hob Kuno Francke diese neben dem Kaiser von Deutschamerikanern wie dem „Brauereikönig“ Adolphus Busch finanzierte Unternehmung – später als Busch-Reisinger Museum auch der modernen deutschen Kunst verpflichtet – über die übliche filiopietistische Propagierung deutschen Erbes hinaus. 100 Über Wilhelms Rolle im Wilhelminismus s. die grundsätzlichen Überlegungen von Rüdiger vom Bruch, Wilhelminismus – Zum Wandel von Milieu und politischer Kultur, in: Handbuch zur ‚Völ� kischen Bewegung‘ 1871–1918, hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München: Saur, 1996, 3–21. 101 Franziska von Ungern-Sternberg, Kulturpolitik zwischen den Kontinenten. Deutschland und Ame� rika. Das Germanische Museum in Cambridge/Mass. Köln: Böhlau, 1994, 89 f.

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Die modernste Ausprägung kaiserlicher Prestigepolitik bestand in Wilhelms Interesse an dem Fortschritt, den moderne Wissenschaft und Technik signalisierten, etwa bei der modernen stählernen Rheinbrücke, auf der ein steinerner Hohenzollernkaiser nach Köln einreitet. Am besten war es natürlich, wenn das Neue in Gestalt der mit modernster Technik konstruierten deutschen Schlachtflotte aller Welt vor Augen geführt wurde. Aber das musste nicht sein. In seinen Memoiren betonte Wilhelm seine generelle Vorliebe für den Aufstieg technischer Wissenschaften, was die Kollision mit dem „klassisch-wissenschaftlichen Gelehrtenstolz“ einschloss. Er konstatierte mit Befriedigung, dass er den Widerstand der traditionellen Universitäten gegen die Gleichstellung der Technischen Hochschulen 1899 per Erlass gebrochen habe.102 Dieselbe Faszination durch Technik, Tempo und Amerikanismus, die Nietzsche als Zerstörer der Kultur gebrandmarkt hatte (es sei denn, dass sie einem neuen Heroismus den Weg bahnten), hielt der Kaiser für unabdingbar für Deutschlands Zukunft.103 Allerdings verblieb Wilhelms intensives und förderndes Interesse an der technischen Welt, indem es die in der französischen culture technique so zentrale Verknüpfung mit der künstlerischen Moderne ausließ, an die kaiserliche Paradeuniform gebunden. Dabei war sich Wilhelm  II., was die Repräsentation des Reiches auf der europäischen Bühne anging, seiner Sache nicht immer sicher. So sträubte er sich gegen die von der Industrie mit größtem Nachdruck vertretenen Vorschläge, eine Weltausstellung nach Berlin zu bringen, um den Aufschwung der deutschen Wirtschaft zu veranschaulichen. Ausnahmsweise mit Bismarck übereinstimmend, der gegen eine Weltausstellung 1885 ins Feld geführt hatte, dass Berlin zu wenig Anziehungskraft auf Fremde besitze, machte er ähnliche Gesichtspunkte gegen die Planung einer Ausstellung 1896 geltend, wobei selbst der Vorschlag, dabei mit einem großen Orchester- und Choraufgebot Deutschlands führende Stellung in der Musik zu bekräftigen, keine Resonanz fand.104 Nichts könnte Wilhelms Ambivalenz in dieser Frage besser kennzeichnen als sein 1892 an Reichskanzler Caprivi gerichteter Brief, in dem er seine Ablehnung der deutschen ebenso wie der französischen Hauptstadt im drastischen Kasinoton formulierte, ein Dokument liebloser Herablassung eines Feudalherrschers im Hinblick auf das Vordringen der Kommerz- und Popularkultur, die Paris bereits ganz unterworfen habe und der man mit einer deutschen Weltausstellung nicht begegnen könne. „Paris ist nun mal – was Berlin hoffent102 Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918. Leipzig/Berlin: Koehler, 1922, 164. 103 Eine ausführliche Darstellung dieser Seite des Kaisers bei Wolfgang König, Wilhelm  II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt. Paderborn: Schöningh, 2007. 104 Ilja Mieck, Deutschland und die Pariser Weltausstellungen, 52 f.

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lich nie wird – das große Hurenhaus der Welt, daher die Anziehung auch außer der Ausstellung. In Berlin ist nichts was den Fremden fesselt als die paar Museen, Schlösser und die Soldaten in 6 Tagen hat er alles mit dem rothen Buch [dem Baedeker] in der Hand gesehen und zieht dann erleichtert weiter nachdem er das Gefühl seine Pflicht getan zu haben empfunden. Das macht sich der Berliner nicht klar, und würde es auch gründlich übel nehmen wenn man ihm das sagte. Aber das ist eben das Hindernis der Ausstellung.“105Auf dieser Ebene wollte der Kaiser deutsche Kultur nicht repräsentieren. Er schloss den Ausruf an: „Ich will die Ausstellung nicht, weil sie meinem Vaterland und Stadt Unheil bringt!“ Die einzige Veranstaltung, der Wilhelm auf diesem Gebiet sein Placet erteilte, war die – bescheiden titulierte und im Wesentlichen lokal organisierte – Berliner Gewerbe-Ausstellung, die 1896 in Treptow mit Erfolg, aber einer gegenüber den Weltausstellungen wesentlich geringeren Ausstrahlung stattfand. Wilhelms angestrengte Bemühungen, mit dem Hohenzollernaufputz, etwa den Denkmälern der Siegesallee, der Hauptstadt Reichssymbolik zu verschaffen, bildete die Kehrseite seiner Verachtung für die Kommerzialisierung der großen Stadt. Es überrascht kaum, dass ihn beim Besuch besonders die Demonstration deutscher Kolonialtätigkeit anzog. Das erschien als konkrete Bestätigung der Nation. Ähnlich engagierte sich der Kaiser an der Selbstdarstellung des Reiches in den offiziellen Gebäuden. Er untermauerte sein Verlangen, dass die Neuromanik bestimmend sein sollte, mit detaillierten Skizzen.106 Dieses Vereinheitlichungsstreben aus dem protestantischen Norden stieß bei Bewohnern anderer Gebiete auf Widerstand. Eine solche kaiserliche Definition deutscher Kultur marginalisierte deren sprachlich-historische Vielfalt, die in protestantischen wie katholischen Gebieten, unter Hohenzollern, Wettinern und Wittelsbachern ebenso wie unter Habsburgern regional gewachsen war. Dass dies ausgerechnet den Provinzmetropolen mehr Freiraum verschaffte, um einer modernen, konsumorientierten Lebenskultur neue Wege zu weisen, sorgte bereits bei Zeitgenossen für einige Verwirrung. Der Kaiser als Förderer der regional gewachsenen Moderne? Die Regionalmetropolen als Anker eines ästhetischen Internationalismus? Genau das war es, was Wilhelms Ablehnung des Secessionismus zur Folge hatte, als die ‚Modernen‘ Ende 1903 der Einladung von Großherzog Ernst Ludwig und Harry Graf Kessler nach Weimar folgten, um die gegen den Kaiser gerichtete Vereinigung der deutschen Secessionen zum Deutschen Künstlerbund zu begründen. Für den Weimarer Groß105 Zit. nach Hans Herzfeld, Berlin als Kaiserstadt und Reichshauptstadt 1871–1945, in: ders., Ausge� wählte Aufsätze. Berlin: de Gruyter, 1962, 281–313, hier 311. 106 Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln/Opladen: Westdeut� scher Verlag, 1961, 72–87; Martin Stather, Die Kunstpolitik Wilhelms II. Konstanz: Hartung-Gorre, 1994, 89.

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herzog war das eine heikle Veranstaltung, die von Wilhelm dementsprechend abqualifiziert wurde. In seinen Lebenserinnerungen überliefert der damalige Kunstreferent im preußischen Kultusministerium, Friedrich Schmidt-Ott, den Kommentar des Großherzogs, der etwas von den Paradoxien deutscher Kulturpolitik durchscheinen lässt: „Es ist nur gut, daß der Kaiser gegen die moderne Kunst ist, sonst würden wir kleineren Staaten nichts mehr für uns haben.“107 Nicht ohne Schadenfreude setzte die Münchener satirische Zeitschrift Simplicissimus über eine witzige Karikatur, auf der eine blonde Maid und eine malerische Wilhelmfigur die deutschen Ausstellungsschätze in einer von einem gekrönten Schwan gezogenen Gondel nach St. Louis brachten, die Überschrift: „Die offizielle Berliner Kunst in Saint Louis.“ (Abb. 1) Das war nicht unbedingt die Rolle, welche die Berliner ihrer Stadt zudachten. Aber unbestreitbar zogen sie ihren Vorteil daraus, dass der Kaiser mit dem traditionellen preußischen Kunstpatronat Berlin, wie es sich für die Hauptstadt einer Kolonialmacht gehörte, um bleibende Institutionen bereicherte. Sein individuellster und am meisten geschätzter Beitrag zum kulturellen Engagement in anderen Ländern bildete seine Förderung der Deutschen Orient-Gesellschaft mit ihren diversen Ausgrabungen und Restaurationen. Auch hier kamen wichtige Impulse aus der Konkurrenz mit England und Frankreich, vor allem aus dem Ehrgeiz, die Berliner mit den Pariser und Londoner Museen gleichziehen zu lassen. Kunstpatronat bedeutete hier nicht nur Einflussnahme auf die innerdeutsche Kunstdebatte, sondern auch die Förderung kolonialer Requisitionen. Allerdings wäre die weltberühmte ägyptische und vorderasiatische Sammlung der preußischen Museen ohne die in die Millionen gehende finanzielle Förderung und Stiftungsaktivität des einflussreichsten Berliner Mäzens James Simon nicht zustande gekommen.108 Dem jüdischen Industriellen verdankte die Deutsche Orient-Gesellschaft mit ihren erfolgreichen Ausgrabungen ihre Existenz; mit den Ausgrabungen in Palästina signalisierte Simon auch sein Engagement für die jüdische Geschichte.109 Auswärtige Kulturpolitik im engeren Sinne manifestierte sich in den vom Staatsoberhaupt geforderten Akten nationaler Repräsentation, etwa der ständigen Ermunterung an Hunderte von Auslandsvereinen und Auslandsschulen sowie an Tausende von Auslandsdeutschen, der deutschen Kultur und Sprache treu zu bleiben, oder einer prominenten Initiative wie dem deutsch-amerikani107 Friedrich Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes 1860–1950. Wiesbaden: Steiner, 1952, 59. 108 Olaf Matthes, James Simon. Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter. Berlin: Bostelmann & Siebenhaar, 2000, 225–229. 109 Wilhelm Treue, Jüdisches Mäzenatentum für die Wissenschaft in Deutschland, in: Jüdische Un� ternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Werner E. Mosse und Hans Pohl. Stuttgart: Steiner, 1992, 285–308.

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schen Professorenaustausch zwischen den Universitäten von Berlin, Harvard und Columbia. Schwieriger in dieser Rubrik zu fassen war, dass der Kaiser einerseits den viel behaupteten Primat der Außenpolitik und damit das Interventionspotenzial des Staates aller Welt deutlich machte, andererseits die Diplomaten beiseiteschob, indem er die Darstellung des Reiches zu einer Sache öffentlicher Begutachtung deklarierte. Wilhelms II. größtes Talent lag darin, dem Bedürfnis der Medien nach Emotionalisierung, Individualisierung und Personalisierung unbegrenzt Nahrung zu geben, was selbst die negative Resonanz seiner Skandale, so lange sie die Aufmerksamkeit für seine Person steigerten, einschloss. Er verstand es, als „Angelpunkt politischer Kommunikation und öffentlicher Konsensbildung“ im Kaiserreich zu fungieren.110 Wie schon Lothar Schücking in einem scharfsinnigen Essay 1913 in der Zeitschrift März konstatierte, lag es an dieser „Persönlichkeit und Berufsauffassung“ des Kaisers, dass die Monarchie ausgerechnet in einer Zeit zunehmender Demokratisierung in Deutschland gestärkt wurde: „Die Monarchie ist etwas Konkretes. Die Republik ist etwas Farbloses, Konstruiertes ohne Fleisch und Bein, eine Abstraktion. Der monarchische Gedanke hat etwas Märchenhaftes, nicht nur auf die Sinne, sondern auf das Gemüt Wirkendes, die Republik ist etwas Ausgeklügeltes, Grundgesetze, Verfassungen, Wahlrechte usw. Voraussetzendes.“111 Mithilfe der Herstellung großer Momente und der Selbstinszenierung als Herrscher kam Wilhelm der „Klischeesehnsucht der Massenpresse“ entgegen und personalisierte das Deutsche Reich, auch wenn es, wie Schücking einschob, „eigentlich, nämlich staatsrechtlich, eine Republik“ darstelle, in der „der Kaiser nur Zentralbeamter“ sei, mit monarchischem Glanz. Vor diesem Hintergrund monarchischer Selbstinszenierung wird verständlich, dass die Klischeesehnsucht breiter Bevölkerungsschichten auch das kaiserliche Auftreten im Ausland einbezog. Eine der typischen Festschriften zu Wilhelms 25. Regierungsjubiläum im selben Jahr 1913 vergaß nicht, die Außenpolitik zu erwähnen, reduzierte sie jedoch zu einer Funktion seines persönlichen Erscheinens: „Sollten aber die Nachbarvölker und ihre Fürsten uns, soweit es möglich ist, befreundet bleiben und nicht so leicht und schnell feind werden, dann mußte Kaiser Wilhelm II. seine Reisen auch zu den fremden Hauptstädten der Nachbarländer ausdehnen und ihre Herrscher sich in Freundschaft verbinden. Und weil ihm Kaiser Wilhelm I. auf seinem Sterbebette zugeflüstert hatte: ‚Halte Frieden und Freundschaft mit Rußland‘, so galt 110 Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie. Berlin: Akademie, 2005, 445. 111 Lothar Engelbert Schücking, Kaiser Wilhelm II. und die Demokratie, in: März 7:1 (1913), 199–203, hier 200.

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sein erster Besuch, seine erste größere Reise diesem mächtigen Reiche und seinem Herrscher. Von dort ging es nach Stockholm und dann nach Kopenhagen, später nach Wien, Rom, London, Athen, Konstantinopel, und überall, wohin unser Kaiser kam, gewann er sich die Herzen der Herrscher und ihrer Völker.“112 Aus derartigen Popularisierungen nährte sich Wilhelms Symbolmacht auch noch in den Jahren, da die deutsche Presse längst die unablässige Selbstinszenierung routinemäßig direkt oder indirekt angriff, mit ebenso routinemäßigen Hinweisen auf die abträgliche Wirkung im Ausland. Dem Opportunismus der Jubiläumsschriften 1913 ist es wohl zuzuschreiben, dass ausgerechnet der liberale Herausgeber von Nord und Süd, Ludwig Stein, Wilhelm als „Kultur-Kaiser“ feierte oder dass ihm Karl Lamprecht zugutehielt, neuerdings seine Aufmerksamkeit „auf die höheren Fragen des geistigen Lebens“ zu richten, „auf das, was man seit einigen Jahren Kulturpolitik nennt“ und worin England eine zentrale Rolle spiele.113 Oft berichtet, gelang es dem Kaiser lange Zeit, die Fehlschläge der Prestigepolitik im Ausland zu verdrängen. Selbst das Scheitern der Marokkopolitik bei der Konferenz in Algeciras 1906 erschütterte seine außenpolitischen Ambitionen nur vorübergehend. Als dann nach seinem beleidigenden Interview im Daily Telegraph über das deutsch-britische Verhältnis 1908 der öffentliche Unwille in heftigen Debatten des Reichstages gipfelte, bei denen Sozialdemokraten und Liberale Forderungen nach Verfassungsänderungen zugunsten größerer parlamentarischer Aufsicht über die Außenpolitik vorbrachten – die schnell abgewürgt wurden –, setzte die Dämmerung über dem ein, was die Zeitgenossen als sein persönliches Regime bezeichneten und aus Prestigeerwägungen nie voll verdammten.114 Die Ernüchterung, für welche Friedrich Naumann als prominenter Zeuge gelten kann, insofern er zu Beginn des Jahrhunderts noch die Idee der Versöhnung von Kaisertum und Demokratie vertreten hatte, ließ das Interesse an neuen und gründlicher durchdachten Formen kultureller Außenpolitik anwachsen. Als Reichskanzler Bethmann Hollweg kurz vor dem Krieg die Öffentlich112 C. Th. Müller, 25 Jahre Deutscher Kaiser. Eine Festschrift zum Regierungsjubiläum 15. Juni 1913. Oldenburg: Stalling, 1913, 68. Wie weit die Figur des Kaisers „zum Standardarsenal identitätsstiftender Symbole“ des Reiches gehörte, bezeugte die monumentale Ehrenhalle für Wilhelm  II. auf der im selben Jahr stattfindenden Weltausstellung in Gent; vgl. Christiane Heiser, Der Deutsche Werkbund auf der Weltbühne oder wie Deutschland 1913 doch noch an der Weltausstellung teilnahm, in: Archiv für Kulturgeschichte 92, 2010, 363–398. 113 Karl Lamprecht, Der Kaiser. Versuch einer Charakteristik. Berlin: Weidmann, 1913, 111 f. Ludwig Steins Huldigung wurde von Wilhelm Herzog scharf ablehnend zitiert in: „Wie sie Ihn umjubeln“, in: März 7:1 (1913), 199–203, hier 200. 114 Als Belege die Karikaturen in der deutschen Presse, s. Jost Rebentisch, Die vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm II. in der deutschen und britischen Karikatur (1888–1918). Berlin: Duncker & Humblot, 2000, bes. 132–136.

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keit aufforderte, solche Formen zu suchen und zu diskutieren, vermied er allerdings ausdrücklich, die kaiserlichen Unternehmungen auf diesem Gebiet beim Namen zu nennen. Er selbst unterstützte die Politik kultureller Expansion, die Wilhelm II. relativ früh im Hinblick auf die in aller Welt lebenden Deutschen mit jenem Adjektiv nationaler Selbsterhöhung kennzeichnete, das sich in den Begriffen „Greater Britain“ und „La plus grande France“ manifestierte: dem Wort vom „größeren Deutschen Reich“. Dieses Wort hatte der Kaiser 1896 in einen Kontext eingebettet, in dem es als imperiale Geste verstanden werden sollte, aber als imperialistische Maxime daherkam: „Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute. Deutsche Hüter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat. An Sie, Meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, Mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern.“115 Wie alles, was Wilhelm in den Griff nahm, auf seine Person zugeschnitten war, so auch diese expansive Agenda, mit der er die weltumspannenden wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten der Auslandsdeutschen als auf Deutschland zentriert definierte und kraft seiner Ausstrahlung tatsächlich an das Deutsche Reich schmieden zu können glaubte. Nach all den Entgleisungen des Kaisers, zu denen die Alldeutschen eine schrille Begleitmusik produzierten, machte sich Bethmann Hollweg nach 1911 daran, der wirtschaftlichen Agenda der Außenpolitik auch eine kulturelle Dimension hinzuzufügen, bei der er darauf baute, dass Auslandsdeutsche als Stützpunkte Beachtung verdienten. Wie das Auftreten des Kaisers im Ausland empfunden wurde, fasste der britische Premierminister Lloyd George auf der Versailler Konferenz in die Worte: „Wilhelm II. ist der größte Handlungsreisende Deutschlands und der Welt gewesen.“116

Internationalismus als Faktor auswärtiger Kulturpolitik Kaiser Wilhelm II. steigerte das nationale Symbolkapital von Kunst und Kultur für die äußeren Belange des Reiches mit Unternehmungen, die im einzelnen Widerspruch hervorriefen, oft genug aber Deutschlands Mangel an institutio115 Tischrede im königlichen Schloß (1896), in: Die Reden Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1896– 1900, Teil II, 9. Die Bedeutung dieser Rede für die Politik gegenüber den Auslandsdeutschen spiegelt der Artikel: Nationale Arbeit zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande, in: Die Post, Nr. 233 vom 20.5.1914 (Politisches Archiv des AA, R 60430). 116 Zit. nach Paul Mantoux, Les Délibérations du Conseil des Quartre (24 mars – 28 juin 1919), Bd. 1. Paris: Éditions du Centre National de la Recherche Scientifique, 1955, 187.

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nalisierter auswärtiger Kulturpolitik überdeckten. Insofern um 1900 die Beschwörung der Nation einen zentralen Bestandteil internationaler Kontakte ausmachte, verhalf Wilhelm II. dem Reich zu einem markanten Profil persönlicher Extravaganz. Jedoch erschöpfte sich internationale Kulturpolitik keineswegs in diesen Formen nationaler Selbstdarstellung. Zur Entwicklung kulturpolitischen Denkens zwischen den Nationen gehörte seit Langem die Thematisierung internationalen Agierens, das als ‚Internationalismus‘ um 1900 eine Hochkonjunktur erfuhr. Auch dabei nahm Frankreich, dem man entgegenhielt, die äußere Kulturpolitik einzig zum Zweck nationaler Erhöhung zu betreiben, eine Vorbildstellung ein. Als ein französischer Besucher der Pariser Weltausstellung 1900 versuchte, für die von der österreichisch-ungarischen Monarchie beschickte Ausstellung angewandter Künste einen Begriff zu finden, verfiel er auf den Terminus „nationaler Internationalismus“. Wie seit 1867 üblich, verteilte sich die Ausstellung der Donaumonarchie auf zwei Pavillons, den Österreichs und den Ungarns. Bei der angewandten Kunst jedoch wurden beide in einem Pavillon an der Esplanade des Invalides zusammengebunden. Während die kaiserliche Verwaltung ein Image von Einheit der Doppelmonarchie zu projizieren versuchte, für die das Jugendstildesign Wiener Künstler wie Joseph Maria Olbrich und Josef Hoffmann ein internationales Flair kreierte, stellte Ungarn demonstrativ einen stark auf Folklore basierten nationalen Stil dagegen. Der französische Besucher, Louis de Fourcard, erklärte den Begriff des nationalen Internationalismus mit dem Zusatz, dass die Ausstellung unverkennbar „danubisch“ sei, „das heißt regional gefärbt“.117 In dieser widersprüchlichen Kombination, bezeichnenderweise von einem Franzosen auf einer Ausstellung in Paris artikuliert, ist nicht nur der fragile Kompromiss von übernationalem Kaisertum und Nationalitätsbewusstsein in der Habsburgermonarchie eingefangen, sondern auch die in dieser Epoche ständig erneuerte Spannung zwischen Internationalismus und Nationalismus im Generellen. Im „Danubischen“ artikulierte sich zu dieser Zeit in der Tat eine spezifisch regional gefärbte Internationalität, die sich in den Jugendstilfassaden von Prag über Brünn und Wien bis nach Ljubljana ablesen lässt. Was einzelne Nationalitäten, allen voran die ungarische, mit der Belebung von Volks- und Folkloretraditionen als nationalem Stil in Kunst, Architektur, Musik und Literatur entwarfen, löste sich als eine Form kultureller Außenpolitik aus dem Formenmaterial des Internationalismus heraus, bestätigte aber im

117 Zit. nach Rebecca Houze, National Internationalism. Reactions to Austrian and Hungarian Deco­rative Arts at the 1900 Paris Exposition Universelle, in: Studies in the Decorative Arts 12:1 (2004/2005), 55–97, hier 56.

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Nebeneinander der Weltausstellung doch wieder den Internationalismus politisch-ästhetischer Symbolik.118 Der vom offiziellen Frankreich zur Schau gestellte Internationalismus wurde innenpolitisch vom Nationalismus der Rechten ständig herausgefordert, häufig überwältigt. Indem sich die Dritte Republik auf die Revolution berief, bezog sie sowohl die universalen Ideen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als auch die moderne Form des Nationalismus ein. Das äußerte sich bei der Planung der Weltausstellungen in einer Doppelstrategie der Organisationsformen, die erkennen ließ, dass der von der Französischen Revolution hergeleitete Universalismus als Internationalismus genauso sichtbar and handhabbar gemacht werden musste wie der ebenfalls in der Revolution manifestierte Nationalismus. Diese Strategie fand bei der Vorbereitung der Weltausstellung 1878 darin ihren Ausdruck, dass die Regierung alle Anstalten machte, möglichst viele internationale Kongresse auf dieser Veranstaltung stattfinden zu lassen. So wurden 1878 von 47 internationalen Kongressen 32 in Paris abgehalten. Bei der Weltaus­ stellung 1889 waren es sogar 87 von 97 Kongressen. 1900 wurde ein Rekord erreicht: von 175  Kongressen fanden 127 in Paris statt.119 Ein bekannteres Beispiel für die geschickte Regie, die darauf zielte, Nationalismus und Internationalismus in einem Ereignis so zu fusionieren, dass es für alle Seiten zum Ansporn auf beiden Gebieten wurde, ist die Wiederbegründung der antiken Olympischen Spiele durch Baron Pierre de Coubertin 1896. Ihm gelang es, diese Erneuerung über die in anderen Ländern grassierenden Pläne für eindeutig nationale Veranstaltungen hinweg zu einem wirklich internationalen Ereignis zu machen.120 Dies nicht nur 1896 mit der Veranstaltung in Athen demonstrieren zu können, sondern auch in den Olympiaden der Vorkriegsjahre durchzuhalten, dürfte allerdings auch der Tatsache zu verdanken sein, dass hier eine international vernetzte adelige Elite die Führung übernahm, die man als Internationale der Aristokraten etikettiert hat. Neben Frankreich verschafften in dieser Periode neutrale Nationen wie die Schweiz, die Niederlande, Belgien und Schweden dem Internationalismus eine eigene Dynamik. Sie eröffneten dort, wo Nationalismen allzu aggressiv die Szene beherrschten, ein Forum der rationalen Begegnung und Verhandlung. Schweden etablierte 1900 den berühmtesten Kristallisationspunkt konkurrenzgetragener Internationalität: die alljährliche Verleihung von Nobelpreisen in 118 Art, Culture, and National Identity in Fin-de-Siècle Europe, hg. von Michelle Facos und Sharon L. Hirsh. Cambridge: Cambridge University Press, 2003. 119 Francis Stuart Leland Lyons, Internationalism in Europe, 1815–1914. Leyden: Sythoff, 1963, 16. 120 Christiane Eisenberg, The Rise of Internationalism in Sport, in: The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, hg. von Martin H. Geyer und Johannes Paulmann. Oxford: Oxford University Press, 2001, 375–403, hier 391–401.

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Wissenschaft und Literatur. Dass die begehrenswertesten Preise zum Fortschritt der Menschheit ausgerechnet vom König des Dynamits ausgesetzt wurden, dessen Erfindung nicht gerade als friedensfreundlich gelten konnte, verhinderte nicht die gewaltige Resonanz, die Alfred Nobels von der Schwedischen Akademie verwalteter ‚Idealismus‘ bei den europäischen Eliten auslöste. Diese Resonanz signalisierte einerseits die Zugehörigkeit der Staaten zu einer internationalen Gemeinschaft, die sich dem Fortschritt, den hohen Idealen und der Bekämpfung des bloßen Materialismus verpflichtet sah, und gab andererseits dem immer schwelenden Nationalismus im Wettbewerb der Staaten reiche Nahrung. Dennoch verblieb die führende Rolle bei der Gründung von über 400 internationalen Organisationen, in denen Francis Lyons alle Anzeichen einer internationalen Bewegung (international movement) manifestiert fand, bei Frankreich. Nicht nur bereitete das Land Organisation und Satzungen vor, sondern stellte auch die Sprache bereit, die tatsächlich in dieser Phase gegenüber dem Englischen in aller Welt noch einmal eine große Aufwertung erfuhr. Mit dieser Doppelstrategie gewann die nationale Anerkennung nicht trotz, sondern wegen der Förderung des Internationalismus ihre Substanz.121 Dass diese Strategie von Gebildeten der französischen Metropole mitgetragen wurde, zeigte sich in der Aufmerksamkeit, die Kunstverantwortliche und Journalisten deutschen Künstlern auf den Weltausstellungen 1878 und 1889 zollten. Entgegen den Behauptungen von der Feindseligkeit des französischen Publikums artikulierten sie gegenüber deutschen Malern wie Liebermann, Fritz von Uhde, und Adolph Menzel, der 1885 eine große Retrospektive in Paris erhielt, Hochachtung, sogar Bewunderung. Je stärker die Anerkennung solcher Künstler aus dem Ausland war, umso mehr ließen sie sich, wie es im Figaro 1888 hieß, als Beweis für die Höhe ihrer Vorbilder in der französischen Malerei anführen.122 Anderen Kulturen gegenüber generös sein, machte die eigene Kultur nur umso zentraler. Eine andere Strategie unterlag der Herausstellung der Internationalität auf dem Gebiet der Wissenschaften. Hier entsprang sie nicht dem Gefühl der Überlegenheit, eher dem Gegenteil. Hier mischten sich die Ressentiments gegenüber dem Sieger von 1871 in die Ernüchterung über den Niedergang, den Frankreich seit der Jahrhundertmitte in der Führung in den Wissenschaften 121 Marti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870– 1960. Cambridge: Cambridge University Press, 2002, bes. 270–274 („Internationalism as national� ism: the idea of France“). 122 Rachel Esner, “Art knows no Fatherland.” Internationalism and the Reception of German Art in France in the early Third Republic, in: The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, hg. von Martin H. Geyer und Johannes Paulmann. Oxford: Oxford University Press, 2001, 357–371, hier 365.

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erfahren hatte. Von der These der zwei Deutschland, der zufolge die Militärmacht Preußen das geistige Deutschland unterjochte, war bereits die Rede. Sie fand ihre Anwendung nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der „science allemande“, auf deren Aufstieg in den Folgejahrzehnten französische Wissenschaftler geradezu fixiert waren und deren spontane Aburteilung gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges aus dieser lange währenden Konkurrenzerfahrung resultierte. Im Bestreben, auf den Gebieten von Physik, Chemie und Ingenieurwesen der deutschen Laboratoriums- und Institutskultur überlegen zu sein, investierte man, wie Robert Fox drastisch zusammengefasst hat, zugleich intensiv „in die Welt der Kongresse und Komitees, während Deutschland den kostspieligeren, aber nüchterneren Weg ging, in die Laboratorien zu investieren.“ Das Letztere habe sich auf lange Sicht als fruchtbarer erwiesen. Die Berufung internationaler Führung mittels großer Kongresse und Resolutionen gab dieser Form des Internationalismus die Reputation eines politischen Manövrierens, einer in der Welt der Wissenschaft wenig geschätzten Qualität; demgegenüber erschienen die Deutschen „zunehmend als die Handelnden.“123 In dem Lande, dessen Kulturpolitik vor allem der Nationwerdung galt, rief das Konzept des Internationalismus höchst gemischte Reaktionen hervor. Um 1900, als Internationalismus weltweit Konjunktur hatte und die Liste der Organisationen, in die das Reich bzw. seine Verbände und akademischen Institutionen Vertreter sandte, hier nicht kürzer war als anderswo, entwickelte die nationalistische Rechte mit diesem Begriff einen Diskurs nationaler Bedrohung. Mit Bedacht warf man denjenigen Segmenten der deutschen Bevölkerung, deren Loyalität seit 1871 bezweifelt wurde, Internationalität vor: am nachdrücklichsten den Sozialdemokraten, die für den Kampf des Proletariats aus der internationalen Solidarität Ermutigung bezogen; sporadisch den Katholiken mit ihrer Orientierung an Rom; mit Nachdruck den Juden, die man als Träger einer fremden Mentalität denunzierte und im urbanen Raum auf die ein oder andere Weise mit dem Internationalismus der Moderne assoziierte. Ihnen rückte das konservative Bürgertum gern die avantgardistischen Künstler und Schriftsteller nahe, die den Austausch mit anderen Kulturen für die Schaffung neuer Formen der Modernität als unabdingbar ansahen. Demonstrativ titulierten Kunstorganisatoren die „Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes westdeutscher Künstler“ 1912 in Köln. Mit dem ihrerseits positiv

123 Robert Fox, The View over the Rhine: Perceptions of German Science and Technology in France, 1860–1914, in: Frankreich und Deutschland. Forschung, Technologie und industrielle Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Yves Cohen und Klaus Manfrass. München: Beck, 1990, 14–24, hier 18.

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besetzten Begriff feierten sie das Miteinander von einheimischer und internationaler Avantgarde. Im Bereich der Konferenzen und Komitees dauerte es einige Zeit, bis sich im neuen Reich bei der kulturpolitischen Hoheit der Bundesstaaten Mechanismen etablierten, die eine nationale Vertretung ermöglichten. Die internationale Resolution von 1875, mit der Abgeordnete aus siebzehn Ländern in Paris den freien Austausch amtlicher und nicht amtlicher Publikationen sowie die Errichtung eines Zentralbüros für die wissenschaftliche Kommunikation beschlossen, erfolgte ohne Vertretung des Reiches. Dasselbe geschah 1886 bei der Verabschiedung der Brüsseler Konvention über den Austausch wissenschaftlicher und literarischer Publikationen. Besorgt über den großen bürokratischen Aufwand infolge der bundesstaatlichen Struktur fand man in Deutschland, dass der Buchhandel einen einfacheren und billigeren Austausch ermögliche.124 Demgegenüber gingen bei der Gründung der wichtigsten Dachorganisation internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit, der Internationalen Assoziation der Akademien, die entscheidenden Impulse aus der Zusammenarbeit der Akademien von Göttingen, Leipzig, München und Wien hervor. Die Gründung, die 1899 erfolgte und 1901 in Paris gefeiert wurde, vereinte die deutschen Akademien, einschließlich der Preußischen Akademie der Wissenschaften, mit der Wiener Akademie, der Royal Society, der Pariser Académie des Sciences, der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg und der National Academy of Sciences in Washington, denen sich bald viele andere Akademien anschlossen.125 Bis zum Ersten Weltkrieg initiierte sie eine Anzahl transnationaler Projekte vor allem bibliografischer und enzyklopädischer Art, wurde aber vor allem als Vermittler, weniger als Sprachrohr der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaften wahrgenommen. Andere Organisationen widmeten sich der intellektuellen Kooperation, wie die besonders in Frankreich vielbeachtete Kategorie hieß, wo Émile Lombard 1895 die „Société internationale d’etudes, de correspondance et d’échanges“ gründete, die mit einem vagen humanitären Programm hervortrat und deren Mitglieder der internationalen Friedensbewegung nahestanden. 1905 nahm die von Friedrich Althoff und dem großen jüdischen Mäzen Leopold Koppel gegründete „Koppelstiftung zur Förderung der geistigen Beziehungen Deutschlands zum 124 Eckhardt Fuchs, Räume und Mechanismen der internationalen Wissenschaftskommunikation und Ideenzirkulation vor dem Ersten Weltkrieg, in: Internationales Jahrbuch für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27:2 (2002), 125–143, hier 134. 125 Peter Alter, Internationale Wissenschaft und nationale Politik. Zur Zusammenarbeit der wissen� schaftlichen Akademien im frühen 20. Jahrhundert, in: Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, hg. von Lothar Kettenacker, Manfred Schlenke und Hellmut Seier. München: Fink, 1981, 202–221.

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Ausland“ ihre Arbeit auf, die dann auch 1911 in Dahlem das Kaiser-WilhelmInstitut für Physikalische Chemie und Elektrochemie errichtete. Der deutsche Nobelpreisträger in physikalischer Chemie, Wilhelm Ostwald, stiftete von seinem Nobelpreis 100.000 Mark einer Organisation für intellektuelle Kooperation und Vereinheitlichung von publiziertem Material, die nach 1911 unter dem Namen „Die Brücke“ von München aus Verbindungen zu verschiedenen Ländern herstellte.126 Große Bedeutung besaß die Teilnahme am International Council of Women, der Friedensbewegung und an bestimmten Sportkooperativen. Im eigentlichen Bereich internationaler wissenschaftlicher Kooperation waren, wie an der gleichberechtigten Stellung der deutschen Sprache neben Englisch und Französisch auf Kongressen und in Fachzeitschriften abzulesen, Deutsche und Österreicher auch organisatorisch führend beteiligt. Hier brachte die kontinuierliche Unterstützung der Forschung vonseiten des preußischen Kultusministeriums unter Friedrich Althoff, etwa im Falle der Errichtung der Straßburger Erdbebenstation als internationalem Zentrum, Anerkennung ein.127 Das Auswärtige Amt brauchte nur für die diplomatischen Arrangements zu sorgen. Regierungsamtlicher Internationalismus bestand vor allem in der Förderung wissenschaftlicher und professioneller Organisationen, deren Netzwerke Berlin und Wien sowie Universitäten und regionale Zentren einschlossen. Das Reich initiierte und beschickte wichtige Unternehmungen, die mit ihrer Kooperation in der Seismologie und Astronomie, der Seuchenbekämpfung und öffentlichen Gesundheitspflege, mit ihren Bemühungen um Vereinheitlichung von industriellen Maßen, um Zusammenarbeit bei Flussregulierungen, Handel, Transport, Polizei‑, Eisenbahn- und Postwesen, Telekommunikation und in anderen Bereichen eine erste internationale, in Europa zentrierte Organisationsstruktur anstrebten. Auch zu dem 1905 von Belgien ausgerichteten Congrès d’Expan­ sion Economique Mondiale schickte die Reichsregierung Vertreter. In Brüssel versammelten sich Abgeordnete von 34 Staaten und mehreren Kolonien, die Übereinstimmung darüber erzielen wollten, dass Internationalismus eine von Regierungen akzeptierte Form auswärtiger Beziehungen darstelle, die sich nicht auf Aktivitäten der Außenministerien beschränke.128 126 Lyons, Internationalism in Europe, 204. 127 Roswitha Reinbothe, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt: Lang, 2006, 64–75 und passim. 128 Madeleine Herren, Governmental Internationalism and the Beginnings of a New World Order in the Late Nineteenth Century, in: The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, hg. von Martin H. Geyer und Johannes Paulmann. Oxford: Oxford University Press, 2001, 121–144, hier 132; Akira Iryie, Cultural Internationalism and World Order. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1997, 28–32.

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Eine solche Geste sollte allerdings nicht zu voreiligen Rückschlüssen auf die Einstellung der deutschen Regierung führen. Auf Exportmärkte angewiesen und entschlossen, die deutsche Präsenz in der Welt zu verstärken, zeigten sich vor allem Politiker nicht geneigt, die expandierende Macht des Reiches durch supranationale Organisationen einschränken zu lassen. Bezeichnend dafür war die diplomatische Selbstblockade des Reiches auf der zweiten Haager Friedenskonferenz 1907, aber auch die Art und Weise, wie ausgerechnet Bernhard von Bülow, der Reichskanzler der missglückten wilhelminischen „Weltpolitik“129 von 1900 bis 1909, kurz danach in dem repräsentativen Werk Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. (1913) von einer „Flutwelle des Internationalismus“ sprach, von der die Grundlagen des geltenden Völkerrechts bedroht würden. In seiner Interpretation bedeutete dies, dass die ungebremste Machtausübung der Nationen, die den Krieg einschloss, beschnitten werden sollte. Ein Ja zur Weltpolitik, aber ohne Internationalismus – so lautete seine Maxime, der Bülow hinterherschickte, dass Internationalismus letztlich die Herrschaft der Phrase bedeute: „Es ist hohe Zeit, dass diese Herrschaft der Phrase und der Schlagworte ihr Ende erreicht.“130 Im Zeichen einer vom Deutschen Reich zu verfolgenden Weltpolitik, für die zu dieser Zeit das Reichsmarineamt mit dem Flottenverein ihre geschickt geführte Propaganda für den Ausbau einer Kriegsflotte entwickelte, hatte sich ohnehin Großbritannien („England“) als Modell und Gegner vor Frankreich geschoben. Man kann von einer Ablösung der Stereotype sprechen, insofern das Reich aus dem geschützten Kern nationaler Konsolidierung, der noch von Bismarck definiert worden war, heraus- und in direkte politische Konkurrenz zum britischen Weltreich eintrat, was ganz andere Konfrontationsklischees auf den Plan rief, als sie im 19.  Jahrhundert gegen den ‚Erbfeind‘ jenseits des Rheins angehäuft worden waren. Im Konkurrenzkampf mit England diente die Berufung auf die deutsche Kultur eher zur Identifikation des eigenen ‚Wesens‘ gegenüber der angeblichen Kaufmannsmentalität als zur Ansage eines Wettlaufs um die höhere, tiefere, bedeutendere oder kreativere Kulturleistung wie im Falle der Gegnerschaft mit Frankreich. Noch höher als spezifische Projektionen kultureller Eigenart wertete man allerdings das, was Reichskanzler von Bülow mit dem von den Deutschen sofort in großem Umfang akzeptierten Bild vom „Platz an der Sonne“, der dem Reich zustehe, als Ziel propagierte: die Erarbei129 Zur Definition von deutscher „Weltpolitik“ im Kontext des Imperialismus s. Woodruff D. Smith, „Weltpolitik“ und „Lebensraum“, in: Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871– 1914, hg. von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, 29–48. 130 Bernhard von Bülow, Innere Politik. Der nationale Gedanke und die Parteien, in: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II, Bd. 1, hg. von S. Körte u. a. Berlin: Reimar Hobbing, 1914, 88.

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tung von nationalem Prestige als eines absoluten Maßstabes internationaler Wertschätzung, bei der die Grenzen zwischen Ehrfurcht und Furcht der anderen verschwammen.

Die wissenschaftliche Vormacht und ihre Illusionen Im internationalen Netz der Wissenschaft hatte die deutsche Kulturnation lange vor der Reichsgründung Profil und Präsenz besessen. So uninspiriert das Bemühen war, dieses neue Reich als Hort der deutschen Kultur zu definieren, so intensiv wurde es von Anfang an als Hort der deutschen Wissenschaft verstanden und unterstützt. Zur Zeit der Einigung hatten Deutsche in den naturwissenschaftlichen Fächern, in Medizin, Philologie, Geschichts- und Altertumswissenschaft führende Positionen inne. Für viele Ausländer, die in romantischen deutschen Universitätsstädten studiert hatten, vermischte sich das Bild ihrer Jugend mit dem eines dem Denken, Forschen, Trinken und Musizieren ergebenen Volkes. Dass die Deutschen Goethes Faust neben Beethovens Symphonien und Wagners Opern als die größte Schöpfung der deutschen Kultur propagierten, verstärkte den Nimbus des Forschers als Schlüsselgestalt für einen tieferen, gültigeren Zugang zu den Rätseln der Welt. Indem die deutsche Universität, und hier standen Heidelberg, Berlin und Göttingen obenan, die Erforschung dieser Rätsel in wissenschaftlicher Aufopferung, aber selbstgewählter Zielvorstellung als Teilhabe an einer größeren Gemeinschaft erleben ließ, verschaffte sie der deutschen Kultur die Aura einer Brücke zwischen Romantik und Modernität. Mit Faust und Mephistopheles ließ sich die Verbindung von Romantik und Wissenschaft sogar an dramatischen Figuren festmachen, mit denen man weit über nationale Kulturen hinaus eine Parabel für die schmerzlichen Kosten von Erkenntnis und Fortschritt gestaltet fand. Die Tatsache, dass deutsche Kultur in dieser Weise verbildlicht und popularisiert wurde, dürfte wohl am ehesten dem Fehlen eines Nationalstaates zuzuschreiben sein. Diese Popularisierung resultierte, unter Zutun französischer, englischer und russischer Künstler und Poeten, aus der romantischen Kultursehnsucht des 19. Jahrhunderts, die in der Musik mit den ‚Heroen‘ Beethoven und Wagner ihren sinnlichsten, in der Assoziation von Wissenschaft mit der Ergründung der Weltgeheimnisse mit ‚Heroen‘ wie Hermann Helmholtz, Leopold von Ranke oder Theodor Mommsen ihren geistigsten Ausdruck fand. Trotz der Bestürzung im Ausland über die militärische Herstellung eines deutschen Nationalstaates und die Entgleisungen der darauffolgenden Gründerzeit erhielt sich die Geltung der spezifisch deutschen Beiträge zu Musik und Wissenschaft und deren kulturelle Erhöhung noch lange Zeit. Auf deutscher Seite

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zögerten nur wenige, diese Geltung für die Legitimität des deutschen Staates als Kulturstaat in Anspruch zu nehmen. Sie verstanden die Wiedergründung der Straßburger Universität als Bestätigung des kulturpolitischen Potenzials der deutschen Wissenschaft. Gründerzeit bedeutete hier den Einsatz sowohl spezieller Wissenschaftler als auch den der Universität als kultureller Struktur für die kulturpolitischen Ziele der Re-Germanisierung Elsass-Lothringens.131 Wie skizziert, geriet das Experiment der Reichsuniversität Straßburg, mit großen Fanfaren eingeleitet und vom Reichstag abgesegnet, angesichts des Zusammenspiels von intransigentem Professorenverhalten und einer wenig sensitiven Verwaltungspolitik, die von den Einheimischen lange Zeit als Besatzungspolitik wahrgenommen wurde, ins Stocken. Offensichtlich eilten die Erwartungen, die Universität solle für kulturpolitische Ziele einsatzfähig sein, den vorhandenen institutionellen und habituellen Realitäten davon. Allerdings macht das nicht das ganze Bild der Gründerzeit für die deutsche Wissenschaft und Wissenschaftsverwaltung aus. Die Feststellung, dass das Reich als Hort der Wissenschaft angesehen wurde, gilt nicht erst für die Zeit von Althoffs Wirken am Ende des Jahrhunderts, sondern bereits in dieser Phase. In seiner Einweihungsrede für sein ganz modern ausgestattetes Physiologisches Institut 1877 in Berlin pries der berühmte Naturwissenschaftler Emil Du Bois-Reymond die enge Ausrichtung am Staat als einen Angelpunkt noch größerer Unternehmungen und zeichnete die leuchtende Zukunft des Kaiserreichs unter den Vorzeichen der künftigen Relevanz der Naturwissenschaften: „Gleich der Geschichte der Industrie zeigt die der Medizin, dass auch die scheinbar unbedeutendsten, in rein theoretischem Interesse und ganz idealer Absicht gefundenen Tatsachen plötzlich eine unermeßliche praktische Tragweite erhalten können.“132 Gründerjahre waren es in der Tat, und zwar für den technisch-industriellen Aufstieg des Reiches auf (natur‑)wissenschaftlicher Grundlage. Industrielle, Wissenschaftler und Minister stimmten mit Du Bois-Reymond überein, dass „die wirtschaftliche und politische Stärke des Kaiserreiches in Zukunft von seiner führenden Stellung in der Produktion naturwissenschaftlichen Wissens abhängen werde.“ Die damaligen Investitionen in die naturwissenschaftliche und technische Bildung waren „für den kometenhaften Aufstieg Deutschlands zu einer Weltmacht ersten Ranges ganz wesentlich.“133 Genau genommen resultierte der Erfolg daher, dass die organisatorischen Grundlagen nicht erst begründet werden mussten, sondern dass „Deutschland in den siebzi131 Vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882– 1907, 30. 132 Zit. nach Timothy Lenoir, Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich. Frankfurt/New York: Campus, 1992, 55. 133 Ebd.

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ger Jahren, als die industrielle Nachfrage nach akademischer Naturwissenschaft einsetzte, bereits über Einrichtungen zur organisierten Forschung und Ausbildung in Laboratoriumstechniken verfügte, die nur erweitert zu werden brauchten, um dem neuen Bedarf zu genügen.“134 Mit anderen Worten, während die Konzepte Kultur, Kulturnation und Kulturmacht erst in späteren Jahrzehnten politisch nachvollziehbar für die innere Integration und äußere Repräsentanz des Reiches definiert und genutzt wurden, kam diese Rolle der Wissenschaft in sehr konkreten Formen von Anfang an zu. Die enorme Ausweitung der von einzelnen Bundesstaaten, insbesondere von Preußen, Sachsen und Baden, betriebenen Wissenschaftspolitik schloss eine neuartige Erziehung zu methodisch-naturwissenschaftlichem Denken ein, als geeignetem Bildungsgut nicht nur für die Elite der Nation, sondern auch für die akademischen „Durchschnittsköpfe.“135 Es geschah in diesen Jahrzehnten, dass Wissenschaft – weit über das Kulturdenken des Bildungsbürgertums hinausreichend – die kulturelle Sendung der Deutschen konkretisierte, mit handfesten Investitionen des Staates begründet und in den Folgejahrzehnten von den wachsenden Erfolgen der wissenschaftsbasierten Chemie‑, Elektro- und Maschinenbauindustrien bestätigt. Was andere Länder für ihre Modernisierung von Forschung und Universitäten als wissenschaftliche Haltung importierten, hatte seine Ursprünge in diesem Sendungsbewusstsein. Die bis in die Ausbildung professioneller Eliten hineinreichende Erhöhung der Wissenschaft als eines nationalen Kulturguts besaß anderswo, etwa in Frankreich, ihre Entsprechungen. Das Ausmaß ihrer politischen, statusbasierten Stoßkraft allerdings war in Deutschland wesentlich stärker, insofern sie hier nicht nur als Aushängeschild nationaler Kultur, sondern auch als Denkund Lebensform verinnerlicht wurde. In dieser Verinnerlichung gründet eine Reihe von Eigentümlichkeiten, die ihre eigenen Ausdrucksformen hervorbrachten. Drei dieser Ausdrucksformen seien hier ins Blickfeld gerückt. Zunächst die am Ende des 19.  Jahrhunderts als Inbegriff modernen Denkens deklarierte „wissenschaftliche Haltung“, die nichts mehr mit Fausts Universalismus zu tun hatte, vielmehr im Fachmenschentum mündete. „Es existierte ein strenger moralischer Oberton zugunsten von Spezialisierung“, beschrieb der Soziologe Edward Shils diese „deutsche“ Haltung in seiner Darstellung des Aufstiegs amerikanischer Universitäten. „Er bedeutete keine Leichtfertigkeit, kein Selbstmitleid, vielmehr Erledigung der Aufgabe. Spezialisierung ging einher mit dem säkularisierten protestantischen Puritanismus, der im

134 Ebd., 56. 135 Ebd., 59.

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Vierteljahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg herrschte.“136 Angesichts dieser Ausdrucksform des Spezialistentums, das einerseits die Autorität des wissenschaftlichen Diskurses als neuer „Weltdeutungsmacht“137garantierte, andererseits menschliche Verlusterfahrungen zur Folge hatte, wollte man auf Fausts interdisziplinäres Erbe – die Beschwörung aller Wissenschaften als einer Einheit – doch nicht ganz verzichten. Der Ruf nach Ganzheit, nach Synthese gehört somit als eine weitere Ausdrucksform ebenfalls zur deutschen Wissenschaft nach 1900, und zwar umso dringlicher formuliert, je deutlicher die Vereinseitigung innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen empfunden wurde. Althoff gab dafür seine volle Unterstützung.138 Im Selbstbewusstsein, als Wissenschaftler ein ‚Kulturträger‘ zu sein, banden die Naturwissenschaftler dieser Periode, allen voran Max Planck, ihre Erkenntnisformen an die vereinheitlichende Sicht der Geisteswissenschaftler zurück, auch wenn sie deren Forschungsverfahren mit Argwohn betrachteten.139 Bezeichnend für den Drang zur Synthese war der gewaltige Aufwand, mit dem etwa zur Vorbereitung von Weltausstellungen mehrbändige Darstellungen des deutschen Schul- und Wissenschaftssystems produziert wurden. Diesem Denken entsprach die Planung für die wissenschaftliche Tagung in St. Louis 1904, die der deutschamerikanische Harvard-Professor Hugo Münsterberg ganz unter das Thema der (erstrebten) Einheit der Wissenschaften stellte. Den Gipfel erreichte Paul Hinneberg mit dem als „Enzyklopädie der modernen Kultur“ angelegten Publikationsunternehmen Die Kultur der Gegenwart, von dem 22 Bände erschienen. Besonders repräsentativ war der Eröffnungsband Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart (1906) mit dem grundlegenden Artikel „Das Wesen der Kultur“ von Wilhelm Lexis. Kultur wurde darin nicht im Sinne ästhetischer Hochkultur, vielmehr im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Gestaltungskraft definiert, in einer den Kulturstaat implizierenden Praxis. Trotz internationaler Zielrichtung gründeten die Beiträger allerdings ihre systematischen Darstellungen weitgehend auf die deutsche Entwicklung zur Moderne, mit einigen Seitenblicken auf Europa und Frankreich. Als dritte Ausdrucksform kann man die Verinnerlichung des Professorenstatus hinzuzählen, eine 136 Edward Shils, The Order of Learning in the United States from 1865 to 1920. The Ascendency of the Universities, in: Minerva 16 (1978), 159–195, hier 186. 137 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck, 2009, 1107. 138 Friedrich Paulsen, Friedrich Althoff, in: ders., Gesammelte pädagogische Abhandlungen, hg. von Eduard Spranger. Stuttgart/Berlin: Cotta, 1912, 526–536. 139 Joseph Ben-David, The Scientist’s Role in Society. Englewood Cliffs: Prentice Hall, 1971, 108–138; Russell McCormmach, On Academic Scientists in Wilhelmian Germany, in: Daedalus 103:3 (1974), 157–171.

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von einer autoritären Gesellschaft begünstigte Selbstillusionierung, welche die im 19. Jahrhundert gefeierte Spitzenstellung der deutschen Universität und des deutschen Professors zu einer Zeit fortführte, da diese selbst im eigenen Lande nicht mehr garantiert war. Der Widerstand der Professorenschaft gegen Althoff resultierte nicht zuletzt daraus, dass dieser die Universitäten für die Forschung als weniger zentral einschätzte und dementsprechend behandelte. Ihm war bewusst, dass sich die Weltgeltung der deutschen Wissenschaft nur aufrechterhalten lasse, wenn neue, auch außeruniversitäre Organisierungs- und Finanzierungsmodelle entstünden und mit der internationalen Verknüpfung der Forschung Ernst gemacht würde. Die deutschen Professoren müssten sich voll der Konkurrenz anderer Wissenschaftssysteme aussetzen. Indem Althoff in souveräner Weise Berufungspolitik, Disziplinenerweiterung und Institutsgründungen miteinander verknüpfte und sowohl technische Intelligenz als auch Industrie- und Wirtschaftsinteressen voll einbezog, baute er die Basis für ein System moderner Wissenschaftspolitik auf, das unter dem von Max Weber geprägten Titel als „System Althoff“ in die Geschichte eingegangen ist. Dass er diese Entwicklung zum „Großbetrieb der Wissenschaft“, wie sie der andere große Wissenschaftsorganisator Adolf von Harnack nann­ te,140 erkannte und mit zuweilen fragwürdigen Mitteln umzusetzen vermochte, nahmen ihm viele Ordinarien übel, die ohnehin ihr Sozialprestige in der industrialisierten Massengesellschaft verschwinden sahen. Kritiker wie Werner Sombart und Max Weber wiesen auf die Tendenz hin, dass die Universität bei aller Umformung der institutionellen und finanziellen Grundlagen, die anscheinend eine Ablösung der Forschung von der Staatsabhängigkeit signalisierten, nur umso fester „in eine bürokratisierte Massenfunktion des Staates“ umgewandelt werde, „in der die Studenten nur die Benutzer und die Professoren nur die Angestellten waren – was sie außerdem durch ihr passives und stillschweigend einverstandenes Betragen hauptsächlich verdient hatten.“141 In seinem Enga­ gement für eine wertneutrale Praxis der Universitätsforschung und ‑lehre reflektierte Max Weber das Bedürfnis der Professorenschaft, aus einer interessenfreien Position heraus dem Gesamtinteresse des Staates – gegen die Einzel­ interessen der Industrie – zu dienen. 140 Adolf Harnack, Vom Großbetrieb der Wissenschaft, in: Preußische Jahrbücher, Bd.  119 (1905), 193–201. 141 Pierangelo Schiera, Das Politische der „Deutschen Wissenschaft“, in: Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, hg. von Christoph König und Eberhard Lämmert. Frank� furt: Fischer Taschenbuch, 1999, 163–180, hier 172; Rüdiger vom Bruch, Max Webers Kritik am „System Althoff“ aus universitätsgeschichtlicher Perspektive, in: ders., Gelehrtenpolitik, Sozialwis� senschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Björn Hofmeister und Hans-Christoph Liess. Stuttgart: Steiner, 2006, 205–221.

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Wenn sich die Selbstillusionierung der akademischen Welt im Deutschen Reich – man empfand sie tatsächlich als eine Welt, mit der man dem Ausland voraus war – auch zu einer Zeit erhielt, da die strukturellen Probleme des deutschen Universitätssystems besonders für Naturwissenschaftler erkennbar wurden, so hatte daran die Tatsache Anteil, dass das Ausland seinen Bildungsund Forschungsintentionen nach wie vor breite Anerkennung zollte. Das Humboldt’sche Universitätsmodell – oder das, was man dafür hielt – fand große Resonanz unter Reformern, mitsamt den Maximen von Einsamkeit und Freiheit, Bildung durch Wissenschaft, Erkenntnis durch Forschung. Gefördert vom Interesse zahlreicher Ausländer, die von der deutschen Wissenschaft entscheidende Eindrücke erfahren hatten, und der Bemühung deutscher Universitätspolitiker, sich durch Rückbezug auf Wilhelm von Humboldt eine stets abrufbare Tradition zu verschaffen, gewann die erst 1900 erfolgte Veröffentlichung seiner kurzen Abhandlung Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin besondere Beachtung. Universitätsreformern verschiedener Länder diente sie als Referenz, wenn auch nicht unbedingt als Vorbild für eine Verbindung von humanistisch orientierter Bildung ‚durch‘ Wissenschaft und Spezialistenausbildung für Eliten, die im Modernisierungswettbewerb der Nationen gebraucht wurden.142 Man verwies auf das humanistische Fundament, interessierte sich aber vor allem für die Ausbildungs- und Forschungsstätten in den technischen und Ingenieurswissenschaften. Beim genauen Hinsehen ließ die viel gepriesene Wissenschaftskultur des Reiches erkennen, dass man hier in der Zusammenführung von Industrie und Wissenschaft, wie sie Althoff institutionalisierte, in ihren avanciertesten Segmenten längst dabei war, zu einer bildungsneutralen Technik- und Forschungskultur überzugehen. Die im 19. Jahrhundert entwickelte Integration von Vorlesungen, Seminaren, Laboratoriumsarbeit und anderen Ausbildungsmustern unter dem Dach der Universität hatte in anderen Ländern Resonanz und Nachahmung gefunden, insbesondere in Skandinavien, Amerika, Russland, Spanien, Italien, Japan und den Niederlanden. Sie war in Österreich-Ungarn und der Schweiz voll präsent und gewann Modellcharakter für China und die Türkei, wo die Reichsregierung mit Schul- oder Hochschulgründungen aktiv wurde.143 Während man sich im Reich beim Ausbau spezialisierter Ausbildungsinstitute oftmals auf Frankreich und besonders die École Polytechnique berief, errichteten Franzosen am Ende des Jahrhunderts Universitäten, die mit dem Forschungsimpe142 Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel: Schwabe, 2001. 143 Ebd., 8, 163–230, 323–334 und passim.

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rativ eine umfangreiche Ausstattung mit Bibliotheken und Seminaren erforderlich machten und unter Bezug auf das deutsche System eine gewisse Verselbstständigung gegenüber dem Staat einschlossen.144 Britische Beobachter, die die Verschiebung des „Weltzentrums der Wissenschaft“ nach Deutschland vor allem der Überlegenheit des deutschen Ausbildungssystems zugutehielten, tendierten in ihrem Interesse, die Öffentlichkeit aufzuwecken und den englischen Staat zu größerer Unterstützung zu animieren, zu einer idealisierenden Überhöhung der deutschen Verhältnisse. Königliche Untersuchungskommissionen nahmen diese 1882 und Ende der 1890er-Jahre in Augenschein. Richard Haldane, der mit seiner bekannten Mission in Berlin 1912 das deutsch-britische Verhältnis zu verbessern suchte, war im Jahrzehnt zuvor die treibende Kraft dafür gewesen, nach dem Vorbild der Technischen Hochschule in BerlinCharlottenburg ein Londoner „Charlottenburg“ zu errichten, was 1907 in der Gründung des „Imperial College of Science and Technology“ auch geschah.145 Im Klima der internationalen Konkurrenz des späten 19. Jahrhunderts entsprang der Wissenschaftsvergleich, gerade wenn er eine Negativbilanz der eigenen Institutionen produzierte, eher dem Bedürfnis, den eigenen Staat zu größerer Unterstützung zu animieren, als wirklicher Bewunderung des anderen. Das war sowohl in Frankreich wie in Großbritannien der Fall. Schon 1906 stellte Karl Fischer fest, dass die Zahlen in der naturwissenschaftlichen Ausbildung in Großbritannien, Frankreich und Deutschland gar nicht so weit auseinanderlagen, wie oft behauptet wurde.146 Frank Pfetsch errechnete, dass die Staatsausgaben Englands für wissenschaftliche Zwecke nach 1880 bald einen wesentlich höheren Prozentsatz des Staatsetats ausmachten als in Deutschland, was „die übertrieben hohe Einschätzung des deutschen und die Unterschätzung des englischen Staates“ widerlege.147 Und Fritz Ringer, Autor der klassisch gewor144 Christophe Charle, L’élite universitaire française et le système universitaire allemand (1880–1900), in: Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe–XIXe siècle), hg. von Michel Espagne und Michael Werner. Paris: Editions Recherche sur Les Civilisations, 1988, 353–377; Matthias Middell, Das „Spiel mit den Maßstäben“ gestern und heute. Kompatibilität oder Diversität europäischer Wissenschaftssysteme, in: „…  immer im Forschen bleiben.“ Rüdiger vom Bruch zum 60.  Geburtstag, hg. von Marc Schalenberg und Peter Th. Walther. Stuttgart: Steiner, 2004, 199–212, bes. 209. 145 Peter Alter, Das Imperial College of Science and Technology – Deutsches Vorbild und britischer Ansatz, in: Interne Faktoren auswärtiger Kulturpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Zeitschrift für Kulturaustausch 31 (1981), 68–79. 146 Karl Fischer, Der naturwissenschaftliche Unterricht bei uns und im Auslande. Abhandlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaft, Bd.  1/3, 1906, zit. nach Frank R. Pfetsch, Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750–1914. Berlin: Duncker & Humblot, 1974, 327 f. 147 Ebd., 336.

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denen Analyse zum ‚Mandarinentum‘ des deutschen Professorentums, zog in Education and Society in Modern Europe aus dem systematischen Vergleich der französischen, britischen, deutschen und amerikanischen Wissenschaftssysteme den Schluss, dass die französische technische Erziehung der deutschen keineswegs unterlegen war, auch wenn man ihre Mängel ebenso wie in Großbritannien für das Zurückbleiben der Industrieleistung mitverantwortlich machte.148 In Deutschland hatte der Wettbewerb unter den verschiedenen, regional finanzierten Universitäten der Innovationskapazität der Forschung starke Impulse gegeben. So leicht es ausländischen Beobachtern fiel, diese Struktur als Kernstück des deutschen Erfolges zu werten, so schwer hatten es Professoren und Kultusverwaltungen in den Einzelstaaten, die eingefahrenen Wege zu verlassen und die Notwendigkeit einer reichsbasierten Förderung der Wissenschaften anzuerkennen, die der internationale Wettbewerb nach 1900 immer dringlicher machte. Bezeichnenderweise wurde die Gründung der KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften offiziell auf einer Veranstaltung verkündet, die den Respekt der Reichsregierung für die illustre Tradition der im Humboldt’schen Geiste geführten deutschen Universitäten demonstrierte und damit den Empfindlichkeiten Rechnung trug. Kaiser Wilhelm II. war es selbst, der bei dem groß aufgezogenen hundertjährigen Jubiläum der Berliner Universität 1910 zur Überraschung der akademischen Repräsentanten diese Ankündigung machte, die ja eigentlich eine konkurrierende außeruniversitäre nationale Wissenschaftsinstitution ins Leben rief. Die Selbstfeier der größten deutschen – preußischen – Universität, die der Rektor, der Germanist Erich Schmidt, mit dem rhetorischen Schwung des akademischen Potentaten administrierte, nahm durch die „zuerst mit merkbarer Erregung, dann mit tiefer Ergriffenheit und heiligem Ernst“ vorgetragene Rede des Staatsoberhaupts zur Inauguration der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eine ganz andere Wendung. Finanziell vom Staat wie von der Wirtschaft getragen, sollte diese Gründung die deutsche Forschung außerhalb der Lehre in einzelnen Instituten voranbringen.149 Als Argument stellte Wilhelm II. Wilhelm von Humboldts Verlangen heraus, „neben der Akademie der Wissenschaften und der Universität selbständige Forschungsinstitute als integrierende Teile des wissen148 Fritz K. Ringer, Education and Society in Modern Europe. Bloomington: Indiana University Press, 1979. Vgl. ders., The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890– 1933. Cambridge: Harvard University Press, 1969. 149 So im Bericht der Täglichen Rundschau, zit. nach Bernhard vom Brocke, Die Kaiser-WilhelmGesellschaft im Kaiserreich. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung bis zum Ausbruch des Er� sten Weltkrieges, in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, hg. von Rudolf Vierhaus und dems. Stutt� gart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1990, 17–162, hier 27.

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schaftlichen Gesamtorganismus“ zu errichten.150 Das Fehlen solcher Anstalten mache sich in der wissenschaftlichen Ausrüstung immer empfindlicher bemerkbar. Wilhelm II. scheute sich allerdings, vor den versammelten Professoren genauer auszuführen, dass es sich, wie Adolf von Harnack in seiner Denkschrift zur Gründung dieser Institute unmissverständlich darlegte, nicht nur um eine Lücke handelte, sondern um größere Unterlassungen des Universitätssystems. Harnack breitete die Versäumnisse des letzten Jahrzehnts in allen Einzelheiten aus und läutete die Alarmglocke so stark, dass die Kultusbürokratien aufwachen mussten. Seine unerbittliche Kritik der wissenschaftlichen Defizite wich in der Form kaum von den jeweiligen Interventionen in Frankreich und Großbritannien ab, die auf eine Erhöhung der Staatssubventionen zielten, klang im Inhalt jedoch höchst besorgniserregend in dem Land, das anderen zum Vorbild dienen sollte. „Zwar ist es eine Übertreibung“, konstatierte Harnack in der Denkschrift, „wenn jüngst von einem Hochschullehrer behauptet worden ist, die deutsche Wissenschaft sei bereits (namentlich von der amerikanischen) überflügelt, und ihre Universitäten ständen nicht mehr an der Spitze; wahr aber ist, dass die deutsche Wissenschaft auf wichtigen Linien der Naturforschung hinter der anderer Länder zurückgeblieben ist und in ihrer Konkurrenzfähigkeit aufs stärkste bedroht ist.“ Worauf er mahnte: „Es gilt, die Unterlassungen eines Jahrzehnts mit allen Mitteln wieder gut zu machen!“151 Ihm dürften zudem Klagen wie die des Harvard-Professors Hugo Münsterberg über den schlechten Ruf nicht unbekannt geblieben sein, den der deutsche Doktorgrad inzwischen in den USA habe und der dazu führe, dass amerikanische Studenten bereits deutsche Universitäten mieden.152 Althoff jedenfalls war sich der schwindenden Reputation der deutschen Hochschulen unter ausländischen Studenten bewusst. Ihm entging nicht, dass französische, englische und amerikanische Universitäten mit neuen Zulassungsbestimmungen, Stipendien und überlegt gesteuerter Werbung eine Vielzahl ausländischer Studenten und Forscher an sich zogen, denen die deutsche Universität zu wenig gastfreundlich erschien. Im Jahr 1904 ließ Althoff nach dem Vorbild des seit 1903 an der Sorbonne bestehenden „Bureau de renseignements scientifiques“ eine „Akademische Auskunftsstelle an der Kgl. Friedrich150 Hundertjahrfeier der Berliner Universität. Rede Kaiser Wilhelms II., in: 50 Jahre Kaiser-WilhelmGesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 1911–1961. Beiträge und Dokumente. Göttingen: Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft, 1961, 113. 151 Denkschrift von Harnack an den Kaiser (Berlin, den 21. November 1909), in: ebd., 80–94, hier 81, 87. 152 Hugo Münsterberg, Das Studium der Amerikaner an deutschen Hochschulen. (Berlin, 1911), 8, zit. bei Peter Drewek, Limits of Educational Internationalism. Foreign Students at German Universi� ties between 1890 and 1930, in: Bulletin of the German Historical Institute (Washington), H. 27 (2000), 39–63, hier 49.

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Wilhelms-Universität zu Berlin“ errichten. Die Berliner Auskunftsstelle sollte „Deutsche und Ausländer über die akademischen Einrichtungen in Deutschland informieren sowie Deutsche über die Studien- und Prüfungsbedingungen, wissenschaftlichen Anstalten, Kongresse und Ferienkurse im Ausland unterrichten. Sie sollte darüber hinaus durch regelmäßige wissenschaftliche Berichterstattung über die verschiedenen Kulturvölker dem Kultusministerium Material sammeln, ‚damit man genau erkennen könne, worin das Ausland uns voraus ist, und worin wir ihm überlegen sind.‘“153 Zum Zwecke solcher Erkundigungen sandte Althoff den Leiter der Auskunftsstelle, Wilhelm Paszkowski, 1905 zum Studium der Hochschulen und Bibliotheken nach Frankreich, USA und den Niederlanden. 1907 beauftragte er Paszkowski mit der Leitung der Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, die als zentrales Forum der neuen Bemühungen um die internationale Verflechtung der deutschen Wissenschaft geplant war und diese Funktion glanzvoll wahrnahm. Als der preußische Landtag dann im Ersten Weltkrieg die 1913/14 öffentlich diskutierte grundsätzliche Neubesinnung auf eine auswärtige Kulturpolitik zu einem wichtigen Thema machte, bei dem die Wissenschaft helfen sollte, den schwachen Kenntnisstand der Deutschen über das Ausland zu heben, diente die Wochenschrift als Sprachrohr. Althoffs Anstöße bildeten die Grundlage dafür, dass sich die Professoren Hugo Münsterberg und Karl Lamprecht mit ihren Institutsgründungen bzw. ‑erweiterungen, dem Amerika-Institut in Berlin und dem Institut für Kulturgeschichte in Leipzig, nach 1910 als Experten einer regierungsnahen Politik internationalen Kulturaustauschs profilieren konnten. In beiden Fällen gingen akademischer Organisationseifer und hochfliegende Rhetorik eine den Behörden nicht ganz geheure Mischung ein. Sie führte jeweils zu ersten Vorschlägen über eine auswärtige Kulturpolitik, denen jedoch vor dem Kriege keine Chance zur Verwirklichung gegeben wurde. Beide Professoren nutzten das Podium von Veranstaltungen, die der internationalen Zusammenarbeit gewidmet waren, Münsterberg 1911 bei der Gründung des Internationalen Studentenvereins in Berlin, Lamprecht 1912 auf der Tagung des Verbandes für internationale Verständigung in Heidelberg.154 Beide lieferten erste Konzepte einer interdisziplinären Auslandskunde, die erst nach dem Ableben der Verfasser in der Denk153 Bernhard vom Brocke, Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspo� litik, internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kultur� politik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 31 (1981), 128–182, hier 153. 154 Hugo Münsterberg, Die internationalen Kulturbeziehungen und das nationale Bewußtsein. Rede, gehalten bei der Eröffnung des „Internationalen Studentenvereins“ in Berlin am 20. Februar 1911, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 5 (1911), Sp. 399–412; Rede Karl Lamprechts, gehalten am 7. Oktober 1912 auf der Tagung des „Verbandes für internationale

Die wissenschaftliche Vormacht und ihre Illusionen  |

schrift des Orientalisten Carl Heinrich Becker über die einzurichtenden Auslandsstudien, die 1916/17 im Preußischen Landtag verhandelt wurde, offizielle Befürwortung fanden. Im Alltag der Universitäten und Kultusministerien allerdings sah dieser Internationalismus weniger einladend aus, wenn es darum ging, auswärtige Kulturpolitik als auswärtige Wissenschaftspolitik zu verwalten. Alarmierend war bereits die häufig ablehnende Einstellung der Bevölkerung gegenüber ausländischen Studenten. Paul von Salvisberg, der weltoffene Herausgeber der gut informierten Hochschul-Nachrichten, mahnte, dass die Behandlung von Studenten innerhalb und außerhalb der Universität für die kulturelle Ausstrahlung des Reiches nicht weniger folgenreich sei als der Austausch von Professoren. Neben Professoren entschieden auch die Bürokraten der Kultusverwaltungen darüber, welches Bild ausländische Eliten von Deutschland mit nach Hause nähmen. Dabei stelle man Weichen für künftige intellektuelle und ökonomische Auslandsbeziehungen. Da Salvisberg eine Seite der deutschen Wissenschaft zur Sprache brachte, die bei den Kriegs- und Nachkriegskonflikten im Ausland wohl nicht unbeachtet blieb, sei sie hier ausführlicher zitiert. Bereits der Eröffnungssatz seines Grundsatzartikels „Die Ausländer auf deutschen Hochschulen“ umriss das Problem: „In einer Zeit, wo der ‚Deutsche Gedanke in der Welt‘ so stark betont und deutsche Kulturarbeit im asiatischen Osten wie im amerikanischen Süden mehr denn je verlangt, ja sogar organisiert wird, erscheint es ebenso paradox wie kurzsichtig, wenn der Welt der deutsche Gedanke an seinem Urquell bzw. in seiner wissenschaftlichen Verdichtung auf den deutschen Universitäten und Hochschulen nunmehr löffelweise oder gar in national abgezirkelten Hungerportionen verabreicht werden soll. Wo soll das hinaus?“155 Deutschland grenze nicht nur das Studium ausländischer Studenten ein, sondern diskutiere ernsthaft, ob diese Form der Wissenschaftserziehung nicht anderen Nationen einen Vorteil verschaffe, welcher der deutschen Exportwirtschaft schaden werde. Mit den neuen Absperrungsregelungen in Preußen und Sachsen, weniger strikt in Bayern und Baden, jage man auch „gefährlicheren Konkurrenten auf dem Weltmarkt und im internationalen Völkerleben […] die Hasen direkt in die Küche“, warnte Salvisberg. „In Sonderheit Frankreich und Nordamerika. Vor diesen beiden Ländern hat zwar das deutsche Hochschulwesen bisher noch immer mustergültig abgeschnitten. Jetzt soll es auf einmal wegen Mangel an Schulbänken zurücktreten. Dabei hat Frankreich Verständigung zu Heidelberg“, in: Kurt Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918–1932, 255–267. 155 Paul von Salvisberg, Die Ausländer auf deutschen Hochschulen, in: Hochschul-Nachrichten, H. 277, 24 (Okt. 1913), 9–12, hier 9.

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bereits ca. 8000 Auslandsstudenten gleich 20 Prozent seiner Studentengesamtzahl gegenüber nicht ganz 5000 (8,1 Prozent) in Deutschland, während der smarte Amerikaner seine Boxer-Millionen direkt in Auslandsstudenten angelegt hat und sich dafür Tausende von Chinesen als Hochschulabsolventen zu exportpflichtigen Kulturpionieren macht. Unterdessen berechnet bei uns der deutsche Nationalist ängstlich, wie viele Emchen den Staat jeder Auslandsstudent kostet und vergisst über seinem offiziellen Finanzkrampf, dass eine richtige Buchführung auch eine Habenseite hat und dass dem amtlichen Soll durch das, was der fremde Student im Lande liegen lässt, noch viel mehr aber durch das, was er infolge seiner Studien exportiert, draussen einführt und nachbezieht, ein ungleich grösserer nationalökonomischer Gewinn gegenübersteht.“156 Diese Rechnung traf einen Nerv damaliger Außen- und Kolonialpolitik nicht nur in Deutschland. Was die heimische Situation anging, fügte von Salvisberg an, werde das Land, das ohnehin in der Welt wenig beliebt sei, mit solchen Restriktionen seinen Ruf noch mehr schädigen und seiner Exportindustrie keineswegs nützen. Salvisberg ließ in diesem wie in anderen Artikeln keinen Zweifel daran, wie sehr die innere Kulturverfassung des Landes – wenn es denn eine hatte und sie nicht nur über die Regionen administrativ ausdrückte – die auswärtigen Beziehungen mitbestimmte. Im Weiteren machte er deutlich, dass die Restriktionspolitik am meisten dem Verhältnis der Deutschen zu den östlichen Nachbarn schade, für die die deutschen Universitäten seit Langem zum bevorzugten Ausbildungsplatz der Eliten dienten. Mit den Schikanen, führte er aus, ziele man vor allem auf „die Russen“, die im Sommersemester 1912 immerhin 45 Prozent der 4.187 Auslandsstudenten ausmachten. Unter ihnen treffe man insbesondere polnische Juden, die das Hauptkontingent stellten. Sie von der Ausbildung in Deutschland abzuhalten, gehöre ebenfalls zu der „falschen Rechnung“.

Erprobungsterrain Amerika Amerikanische Besucher, die auf der Weltausstellung in St.  Louis 1904 im deutschen Haus von Anton von Werners Historiengemälde „Kaiser Wilhelm gratuliert Moltke zum 90. Geburtstag“ zu der Frage angeregt wurden, ob das 156 Ebd., 9  f. Die von Peter Drewek, Limits of Educational Internationalism, aufgrund neuerer For� schungen errechnete Gesamtzahl von 7.000–8.000 ausländischen Studierenden vor 1914 übersteigt Salvisbergs Zahl von nicht ganz 5.000 beträchtlich. Der Tenor seines Artikel entspricht allerdings Salvisbergs kritischer Bestandsaufnahme. Die von Salvisberg erwähnten „Boxer-Millionen“ beziehen sich auf Gelder, welche die USA und andere Nationen nach dem Boxer-Krieg von China als Entschä� digung erzwangen.

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4 „German Applied Arts“, Ausstellung des Deutschen Werkbundes 1912 im Cincinnati Art Museum (Vitrine mit Tapeten und Geschirr) © Cincinnati Art Museum

Kaiserreich noch etwas Moderneres auf dem Gebiete der Kunst zu bieten habe, konnten sich, wie eingangs beschrieben, in den vielen Räumen umsehen, in denen deutsche Künstler und Designer eine moderne Ausstattungskultur vorstellten, die an breiteren Marktbedürfnissen ausgerichtet war. Das kam beim Publikum an, allerdings forderte es den Einwand heraus, ob man diese Objekte nicht zu nahe an die Domäne der Kunst heranrücke, die im Allgemeinen von den Franzosen besetzt war. Offensichtlich ging es hier um eine Auflockerung des Verständnisses von Kunst, die dem amerikanischen Publikum, das Kunst nur in Distanz zu Industrie und Kommerz zu definieren gelernt hatte, Unbehagen bereitete. Diese Einwände kamen dann acht Jahre später noch stärker zum Tragen, als der Deutsche Werkbund, zusammen mit dem Deutschen Museum für Kunst in Handel und Gewerbe, auf Einladung des Museumsdirektors John Cotton Dana in Newark 1912/13 die erste große – und vor dem Krieg einzige große – Ausstellung moderner angewandter Kunst, „German Applied Arts“, organisierte, die als Wanderausstellung ebenfalls in St. Louis, Chicago, Indianapolis, Cincinnati, Pittsburgh und schließlich im National Arts Club in New

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York gezeigt wurde. Bezeichnenderweise wies das Metropolitan Museum sie mit der Begründung zurück, sie stünde dem Kommerziellen zu nahe.157 Aus privaten Initiativen und ohne staatliche Gelder veranstaltet, stellte die Ausstellung „German Applied Arts“ 1912/13 das Musterbeispiel kulturpolitischer Außenwirkung dar, mit der Deutschland auf dem Gebiet moderner Lebensformen in einem Land, das sich zunehmend auch kulturell um ein eigenes modernes Profil bemühte, eine Art Schrittmacherdienst wahrnahm. So jedenfalls formulierte es John Cotton Dana, der die Ausstellung als Anstoß für die amerikanische Ausstattungsindustrie konzipierte, ihre Produkte modern und ansprechend zu gestalten und damit zum europäischen Standard aufzurücken. Die Rekordbesucherzahlen und die Presseberichte zeigten, dass diese Intention von den unmittelbar Beteiligten verstanden wurde. Wie Karl Ernst Osthaus, der die Kooperation auf deutscher Seite koordinierte, im Katalog schrieb, war die Ausstellung „weniger auf die Herstellung gewerb­ licher Einzelerzeugnisse als auf die Neugestaltung des gesamten Lebens gerichtet.“158 Trotzdem waren die 1.060 Objekte in den Bereichen Architektur, Grafik, Reklame, Buchgewerbe, Tapeten, Textilien, Metall- und Holzarbeiten, die ebenfalls österreichische Werke einbezogen, auch im Einzelnen von großem Interesse für Designer, Fabrikanten und ‚normale‘ Konsumenten. Insgesamt allerdings blieb eine solch umfassende Neukonzeption ästhetischer Lebensgestaltung, die den Ambitionen des Werkbundes Ausdruck gab, dem geschmacklich konservativen amerikanischen Publikum generell fremd. In ihrer sozialen Reformagenda schlossen die Progressivisten im Unterschied zu deutschen Reformern wie Naumann die ästhetische Dimension komplett aus.159 Es dauerte bis nach dem Krieg, dass Danas Initiative auf fruchtbaren Boden fiel und sich auch in den USA ein neues Qualitätsgefühl für modernes Design und entsprechende Raumausstattung entwickelte. Bezeichnenderweise kam dann nach dem Krieg der französischen Ausstellung „Modern French Fine and Applied Arts“ 1919/20 der entscheidende Impuls zu, während die von Dana und dem Werkbund organisierte Ausstellung „Applied Arts in Modern Germany“, die 1922 wiederum viele Besucher anzog, dem 157 Barry Shifman, Design für die Industrie. Die Ausstellung ‚German Applied Arts‘ in den Vereinigten Staaten, 1912–13, in: Das Schöne und der Alltag. Die Anfänge modernen Designs 1900–1914. Deutsches Museum für Kunst in Handel und Gewerbe, hg. von Michael Fehr, Sabine Röder und Gerhard Storck. Köln: Wienand, 1997, 377–389. 158 Ebd., 380. 159 Frank Trommler, Reformkultur oder Progressivism? Modernisierungskonzepte um 1900 in Deutsch� land und den USA, in: Zwei Wege in die Moderne. Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehun� gen 1900–1918, hg. von Ragnhild Fiebig-von Hase und Jürgen Heideking. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1998, 27–44.

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Museum in Newark den Vorwurf einbrachte, so kurz nach dem Krieg Arbeiten des ehemaligen Feindes auszustellen. Wesentlich vertrauter waren die gebildeten Schichten mit dem Import aus Deutschland, der sich vor dem Krieg am wenigsten mit der konservativen Definition hoher Kultur rieb, die teilweise selbst auf deutsche Quellen zurückging: der Wissenschaft. Auch hier brachte die Weltausstellung in St. Louis einen markanten Beitrag, insofern der aus Deutschland nach Harvard berufene Psychologe Hugo Münsterberg den damit verbundenen wissenschaftlichen Kongress unter die Programmatik der Synthese der Wissenschaften stellte, gemäß dem von vielen deutschen Forschern vertretenen Postulat. Das vom Reich entsandte und bezahlte Kontingent an Wissenschaftlern war das größte und enthielt prominente Namen wie die von Adolf von Harnack, Max Weber, Karl Lamprecht, Werner Sombart, Ernst Troeltsch und Ferdinand Tönnies. Ihr Auftritt in St. Louis war als glanzvolle Zurschaustellung geplant, fiel dann aber aus noch zu erörternden Gründen hinter den Erwartungen zurück. Hier waren die Schrittmacherdienste bereits historisch geworden, und die amerikanischen Beobachter sahen sich zu unerwarteter Kritik veranlasst. Amerikanische Wissenschaftler, um die Modernisierung ihrer Hochschulen bemüht, lieferten in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg die wohl sorgfältigste Auseinandersetzung mit den europäischen Universitätssystemen. Dabei hatten sich die deutschen Universitäten als mögliches Modell nach vorn geschoben. In Burton J. Bledsteins grundlegender Studie der amerikanischen Universitätsentwicklung spielt die Frage eine wichtige Rolle, warum Amerikaner mit ihren religiösen Impulsen, unternehmerischen Gewohnheiten und ihrem Argwohn gegen Privilegien und Zentralregierungen in der Alten Welt ausgerechnet die deutsche höhere Erziehung bevorzugt hätten. Anders als die europäischen Nachbarn, die sich zwischen Animositäten und Selbstreklame den deutschen Universitäten gegenüber ein bereits hochwertiges Hochschulwesen attestierten, brachten Amerikaner zu diesem Thema lange Zeit die erfrischende Neugier des Außenstehenden ein, der sich allerdings so schnell und gründlich wie möglich ein eigenes Universitätssystem schaffen wollte, um auch auf diesem Gebiet unabhängig zu werden. Laut Bledstein, der sich stark an Friedrich Paulsens in Amerika weitverbreiteter Studie der deutschen Universität orientierte, entsprang die Vorliebe der Amerikaner für das deutsche System seiner Fähigkeit, die Studenten, ungeachtet ihrer intellektuellen Herkunft, Selbstreflexion und Achtung vor Ideen zu lehren, sie darüber hinaus zu wirklich wissenschaftlichem Engagement zu inspirieren und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, Selbstbewusstsein aus wissenschaftlicher Qualifikation zu gewinnen, die sich über die häufig allzu kurz-

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atmige Beschäftigung der Amerikaner mit Problemen erhob.160 Dies ließ, so Bledstein, den Beobachter das politische Arrangement der deutschen Universitäten, die Arroganz der Professoren, die fragwürdige Natur der akademischen Freiheit und die schäbige Behandlung der Privatdozenten übersehen. Er weist auf die Universitätsgründer Henry P. Tappan (Michigan), Andrew Dickson White (Cornell), Daniel Coit Gilman ( Johns Hopkins) hin, die, vom deutschen wissenschaftlichen Ethos inspiriert, ihre Universitäten gegen das Ausbildungsmodell vom jungen Gentleman im College schufen, woraus das entstand, was später Forschungsuniversität (research university) genannt wurde. Worauf er nicht eingeht, ist die Tatsache, dass Wissenschaft im Amerika des 19. Jahrhundert lange Zeit der Systematik der französischen Tradition, insbesondere der École Polytechnique, verpflichtet war und in der Militärakademie West Point in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre erste Institutionalisierung fand, deren Traditionen militärisch bestimmter Wissenschaft im 20.  Jahrhundert wieder aufgenommen wurden. Was er ebenfalls nicht erwähnt, sind die Anregungen, die in den USA von bildungsorientierten, um nicht zu sagen ‑besessenen deutschen Flüchtlingen der 1848er-Revolution ausgingen, die bei verschiedenen Gelegenheiten in den 1850er-Jahren und dann wieder im Zuge der Alexander-von-Humboldt-Begeisterung in den 1860er-Jahren deutsche Universitäten im Lande forderten.161 Die Tatsache, dass im Jahrhundert vor 1914 über 9.000 Amerikaner an deutschen Universitäten studierten, was die Zahlen für Großbritannien und Frankreich weit überstieg, rückt die positive Reaktion Amerikas gewiss in ein besonderes Licht. Hier öffnete sich ein Transferpotenzial nach beiden Seiten, das sich ebenfalls bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten hat, auch wenn ihm im Ersten Weltkrieg erst einmal das Ende prophezeit wurde. Insofern sich Amerikaner im klar definierten Eigeninteresse, nicht mehr auf die europäischen Universitäten angewiesen zu sein, so intensiv mit den Vorzügen und Nachteilen des deutschen Systems beschäftigten, wurden sie tatsächlich zu einer Art Kontrollöffentlichkeit seiner Theorie und Praxis.162 Sie wurden es früher und kritischer, als es die deutsche Professorenschaft wahrhaben wollte. Das geschah ausgerechnet in 160 Burton J. Bledstein, The Culture of Professionalism. The Middle Class and the Development of Higher Education in America. New ������������������������������������������������������������������ York: Norton, 1976, 309–331. Vgl. Friedrich Paulsen, Die deut� schen Universitäten und das Universitätsstudium. Berlin: Asher, 1902. 161 Lewis Pyenson, Civilizing Mission. Exact Sciences and French Oversees Expansion, 1830–1940. Baltimore/London: Johns Hopkins Unversity Press, 1993, 348; Carl Wittke, Refugees of Revolution. The German Forty-Eighters in America. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1952, 308, 313. 162 Anja Werner, The Transatlantic World of Higher Education. Americans at German Universities, 1776–1914. New York/Oxford: Berghahn: 2013.

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5 „Onkel Sams Dilemma“ 1916 (USA zwischen Deutschland und Frankreich, verkörpert in Frauen), in: Deutschamerikanische Monatsschrift Jg. 1, H. 1 (Okt. 1916), S. 11

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St. Louis beim Auftritt der prominenten deutschen Professoren. Die deutschen Gäste verstanden es, ihre amerikanischen Kollegen, zu denen Woodrow Wilson, Professor an der Princeton University, zählte, spüren zu lassen, dass es ihnen schwerfiel, sie als Gleiche auf gleichem Niveau zu behandeln. Gerade die Hochachtung, die die amerikanische Presse diesem Congress of Arts and Sciences als einmaliger historischer Zusammenkunft der Elite der internationalen Wissenschaft entgegenbrachte, bei der von den hundert Europäern vierzig aus dem Reich kamen, vergrößerte die Enttäuschung über das arrogante Auftreten und das Desinteresse der deutschen Gelehrten an einem breiteren Publikum. Nur Adolf von Harnack zog als bekannter Theologe eine große protestantische Hörerschaft an, während Max Weber, Ernst Troeltsch, Ferdinand Tönnies, Wilhelm Ostwald, Karl Lamprecht und andere Prominente bei ihren Reden mehr oder weniger unter sich blieben. Insofern amerikanische Kenner der deutschen Wissenschaft, zumal aus der jüngeren Generation, dazu tendierten, zentrale Charakteristika ihrer Erscheinungsformen mit Begriffen wie „habits“ und „manners“ zu erfassen (heute würde man „Habitus“ sagen), fanden sie im Auftreten deutscher Professoren genügend Anschauungsmaterial. Der wissenschaftliche Habitus, den man als Haltung der Sachlichkeit, Wahrheitssuche und asketischen Forschungshingabe von Deutschen gelernt hatte, zeigte hier die Kehrseite: Gelehrtenhochmut, Kulturarroganz, Mangel an ziviler Kommunikation. Wenn der Besuch der deutschen Hochschullehrer in St. Louis für die deutsche Wissenschaft etwas Positives bewirkt hat, sollte man es nicht auf der Ebene der persönlichen Verständigung suchen, sondern dort, wo sie sich als Gelehrte den Eindrücken des anderen Kontinents öffneten: in der wissenschaftlichen Reflexion seiner Andersartigkeit. Vor allem Max Weber, Lamprecht und Sombart vermochten der Literatur über Amerika, für die die Werke von Alexis de Tocqueville und James Bryce als Klassiker zitiert wurden, eine neue kultursoziologisch basierte Erkenntnisdimension hinzuzufügen. Im Falle von Webers Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) und Sombarts Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? (1906) entstanden Zeugnisse einer Gesellschaftsanalyse, die dazu beitrug, aus dem eurozentrischen Theoriekäfig herauszutreten. Lamprecht, der in New York Station machte und an der Columbia University in der Folgezeit für seine Kulturgeschichte neue Anhänger fand, nahm von der Begegnung mit Amerika insgesamt wichtige Anregungen für sein wachsendes Engagement an auswärtiger Kulturpolitik mit (Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, Geschichtliche Gesamtansicht, 1906).163 Noch stärkere Folgen hatte der Amerikaaufenthalt für 163 Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856–1915). Atlantic Highlands: Humanities Press, 1993, 406–409; Günther Roth, ‚Americana‘: Bildungsbürgerliche Ansichten und

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Adolf von Harnacks Wissenschaftspolitik. Er gab dem prominenten Gelehrten Gelegenheit, mehr über den Stand der amerikanischen Wissenschaft zu erfahren, der durch die Gründung staatsunabhängiger, von privatem Mäzenatentum geförderter Forschungseinrichtungen wie der Carnegie Institution of Washington for Fundamental and Scientific Research und des Rockefeller Institute for Medical Research in New York geradezu alarmierend wirkte. Offiziell wurde dem Treffen in St. Louis zugutegehalten, dass es die Weichen für den Professorenaustausch zwischen Berlin und Harvard gestellt habe, der im Narrativ des Auswärtigen Amtes eine Schlüsselstellung für die Auslandskulturpolitik vor dem Kriege erhalten hat.164 Er beinhaltete, dass, wie von Althoff geplant und vom Kaiser abgesegnet, zwischen 1905 und 1915 neun Professoren von Harvard und acht aus Deutschland am jeweils anderen Ort Vorlesungen hielten. Ihm folgte, ebenfalls unter Förderung des Kaisers, unter dem Namen der Roosevelt-Professur ein weiterer Austausch zwischen Berlin und der New Yorker Columbia University. Was bei den Beamten bleibenden Eindruck hinterließ, war offensichtlich nicht der wissenschaftliche Nutzen, sondern die Tatsache, dass hier ein Programm des preußischen Kultusministeriums wegen des kaiserlichen Interesses unter die Obhut des Reiches gestellt wurde.165 Immerhin hielt es Wilhelm 1905 für angebracht, vom Schloss zum ersten Mal zu der (ihm persönlich nicht) nahe liegenden Universität hinüberzueilen und die Antrittsvorlesung des amerikanischen Theologen Francis G. Peabody mit seiner Anwesenheit zu beehren. Für die offizielle Präsenz des Reiches in den USA, welcher der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, auf einer von viel Pomp und Medienresonanz begleiteten Reise 1902 vorgearbeitet hatte, die den Besuch von Harvard und New York einschloss, besaß der Professorenaustausch somit einen gewissen Symbolwert. Wie kritische Beobachter feststellten, brachte er den Beteiligten kaum wissenschaftlichen Nutzen und hatte auf die Einschätzung der deutschen Wissenschaft keinen Einfluss.166 auswärtige Kulturpolitik im wilhelminischen Deutschland, in: ders., Politische Herrschaft und per� sönliche Freiheit. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1983. Frankfurt: Suhrkamp, 1987, 175–200. 164 Franz Schmidt, Anfänge deutscher Kulturpolitik im Auslande. 165 Bernhard vom Brocke, Internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer auswärtigen Kulturpolitik. Der Professorenaustausch mit Nordamerika, in: Wissenschaftsgeschichte und Wissen� schaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive, hg. von dems., Hildesheim: Lex, 1991, 185–242, bes. 185; Ragnhild Fiebig-von Hase, Die politische Funktionali� sierung von Kultur. Der sogenannte ‚deutsch-amerikanische‘ Professorenaustausch von 1904–1914, in: Zwei Wege in die Moderne, 45–88. 166 Gustav Cohn, Universitätsfragen und Erinnerungen. Stuttgart: Enke, 1918, 109–114; Friedrich Paul� sen, Ein Kartell zwischen deutschen und amerikanischen Universitäten (1905), in: ders., Gesammelte pädagogische Abhandlungen, hg. von Eduard Spranger. Stuttgart/Berlin: Cotta, 1912, 434–439.

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Dennoch ist die Forschung der Einschätzung des Amtes gefolgt und hat die von Gelehrten eifrig betriebene Offizialität des Ganzen als Signum der Auslandskulturpolitik herausgearbeitet, etwas, das Althoff selbst nicht ins Zentrum gerückt hatte. Großbritannien und Frankreich hatten schon vorher mit den USA Gelehrtenaustausch betrieben. Damit ist die 1910 gegründete Institution, der tatsächlich eine neue Konzeption zugrunde lag und die für den Kulturaustausch zwischen dem Reich und Amerika viele Jahrzehnte lang eine zentrale Vermittlerrolle spielte, allzu sehr an den Rand gerückt worden: das erwähnte Amerika-Institut in Berlin. Sein Gründer Hugo Münsterberg, der deutsche Harvard-Professor für Psychologie, der sich mit einer ersten psychologisch begründete Filmtheorie in die Filmgeschichte eingeschrieben hat, provozierte mit seinem interdisziplinären Ansatz beim Studium Amerikas seitens seiner Kollegen den Vorwurf des Dilettantismus (wie es ähnlich Karl Lamprecht vonseiten der deutschen Historiker widerfuhr), vermochte aber zum ersten Mal ein deutsches Auslandsinstitut zu schaffen, dem die Ermöglichung einer wechsel­seitigen Begegnung von Kulturen zur Legitimationsbasis wurde, nicht die kulturverbrämte Repräsentationsübung mit offizieller Absegnung. Für die Finanzierung gewannen er und Althoffs Nachfolger Friedrich Schmidt-Ott die Koppel-Stiftung sowie das preußische Kultusministerium, auf amerikanischer Seite die Finanziers Jacob Schiff und James Speyer. Mit seiner Betreuungsarbeit für amerikanische Publikationen und Hunderte von US-Besuchern, seiner kultur- und rechtspolitischen Vermittlungsarbeit, seiner schnell zu einem zentralen Umschlagplatz wachsenden Bibliothek sowie der Vorbereitungsarbeit für US-Reisen deutscher Lehrer, Professoren, Journalisten und Geschäftsleute nahm das Amerika-Institut bis zur Gründung der Carl-Schurz-Vereinigung in Berlin 1926 eine einmalige Stellung als ‚Clearinghouse‘ für den deutsch-amerikanischen Kulturaustausch ein. Reisemöglichkeiten für deutsche Gelehrte nach den USA wurden Ende 1912 weiter verbessert, als der New Yorker Bankier Speyer eine weitere Spende von 13.000 Dollar an den Kaiser gab, deren „Jahresertrag zu Reisunterstützungen für solche Persönlichkeiten verwendet werden soll, die vom Amerika-Institut zu bestimmten wissenschaftlichen Studien in die Vereinigten Staaten gesandt werden.“167 Andrew Carnegie, der sich der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen als Teil gegenwärtiger Friedenspolitik annahm und darüber sogar ein attraktiv eingebundenes Büchlein veröffentlichte, 168 trug 167 Zit. nach Christian H. Freitag, Die Entwicklung der Amerikastudien in Berlin bis 1945 unter Be� rücksichtigung der Amerikaarbeit staatlicher und privater Organisationen. Diss. FU Berlin, 1977, 39–54, hier 49 f. 168 Andrew Carnegie, Deutschland und Amerika in ihren wirtschaftlichen Beziehungen zueinander un� ter besonderer Berücksichtigung Englands, hg. von Cornelius Gurlitt, übers. von J.  M. Grabisch. Berlin: Marquardt, 1905.

Probleme kultureller Auslandsarbeit  |

sich 1913 ins Gästebuch des Amerika-Instituts mit den Worten ein: „Success to every step that tends to draw our Teutonic race closer together.“169

Bethmann Hollweg, Lamprecht und die Probleme kultureller Auslandsarbeit Die Stellungnahme, die Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in einem Antwortschreiben an den Leipziger Professor Karl Lamprecht 1913 formulierte, hat seit jeher als Beweis dafür gegolten, dass die Reichsregierung bereits vor 1914 eine auswärtige Kulturpolitik zu etablieren begann, allerdings auch als Beweis dafür, wie wenig der Kanzler davon überzeugt war, mit der jeweils von der ganzen Kultur des Landes gestützten Kulturpolitik Frankreichs und England mithalten zu können. „Ich bin mit Ihnen von der Wichtigkeit, ja der Notwendigkeit einer auswärtigen Kulturpolitik überzeugt“, schrieb Bethmann Hollweg, gab aber zu bedenken: „Was Frankreich und England auf diesem Gebiet leisten, ist nicht eine Leistung ihrer Regierungen, sondern eine solche der nationalen Gesamtheit, der Einheit und Geschlossenheit ihrer Kulturen, des zielsicheren Geltungswillens der Nation selbst. Wir sind noch nicht so weit. Wir sind unserer Kultur, unseres inneren Wesens, unseres nationalen Ideals nicht sicher und bewußt genug.“ Umso mehr zeigte sich der Kanzler beeindruckt vom französischen Begriff des „Imperialismus der Idee“: „Erst vor einigen Tagen hat Edmond Rostand bei der Gründung einer französischen Gesellschaft für Kulturpropaganda von dem Imperialismus der Idee gesprochen und dabei gesagt, c’est au moment qu’on veut redoubler de force, qu’il faut redoubler de grace.“ Hierauf folgte aber sofort der Zusatz: „Für diese Seite des Imperialismus scheinen mir noch nicht alle Deutschen reif zu sein.“170 Bethmann Hollwegs Worte sind später noch oft zitiert worden, um die schwachen Voraussetzungen für eine kraftvolle Außenkulturpolitik in Deutschland zu bestätigen. Aber sie ließen doch noch mehr erkennen als nur die Einsicht in die innere Unsicherheit der Deutschen im Umgang mit ihrer Kultur. Sie steckten unter Hinweis auf Frankreich auch in verblüffender Klarheit Vorbild und Möglichkeiten für eine solche Außenkulturpolitik ab – in einem aktiven Umgang mit der Macht, als „Imperialismus der Idee.“ Bethmann Hollweg selbst spielte nicht mit diesem Feuer. In seiner Unterstützung der deutschen 169 Zit. nach Freitag, Die Entwicklung der Amerikastudien in Berlin, 51. 170 Schreiben Lamprechts an den Reichskanzler vom 19.5., dessen Antwort vom 21.6.1913, zit. nach vom Bruch, Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Paderborn: Schöningh, 1982, 149.

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Exportoffensive, bei welcher der Deutsche Werkbund ab 1912 eine Mittlerstellung einnahm, gab der Kanzler sein Einverständnis zu einer die Kulturarbeit einbeziehenden Außenpolitik zu erkennen. Dennoch verhielt er sich distanziert, um dem Vorwurf der Alldeutschen zu entgehen, er wende sich damit vom politischen Machtdenken des Reiches ab.171 Ständig darum besorgt, Autorität und Militanz auszustrahlen, stellte sich der Kanzler, als sich das preußische Militär 1913 im elsässischen Städtchen Zabern skandalöse Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung leistete, im Reichstag hinter das Militär. Auswärtige Politik von kulturpolitischen Initiativen her anzugehen, wurde von der Rechten als Zeichen der Verweichlichung verstanden. Die konservative Süddeutsche Correspondenz verdammte eine Definition von Kultur, die nicht zugleich deren Machtpotenzial betone: „Erzeugt die Kultur nicht die Gewalt als eine ihr wesensverwandte Macht – dann war diese Kultur nur Schein-Kultur, Über-Kultur, After-Kultur.“172 Mit Bedacht versah Lamprecht den Briefwechsel mit dem Kanzler für die Veröffentlichung im Berliner Tageblatt mit der Überschrift „Epilog“, was eine Anspielung auf das skandalöse Verhalten des preußischen Militärs in Zabern darstellte und implizierte, dass die Schaffung auswärtiger Kulturpolitik eine Reaktion auf dieses Verhalten darstelle.173 Im Reichstag zog sich Bethmann Hollweg schwere Vorwürfe dafür zu, dass er sich hinter das Militär stellte, fühlte sich aber dazu gedrängt, Härte zu zeigen. Zugleich wollte sich der Kanzler aber auch vom Gewaltgehabe der Alldeutschen abgrenzen. So konstatierte er in der Antwort auf Lamprecht, „wir“ seien ein „junges Volk, haben vielleicht allzuviel noch den naiven Glauben an die Gewalt, unterschätzen die feineren Mittel und wissen noch nicht, dass, was die Gewalt erwirbt, die Gewalt allein niemals erhalten kann.“174 Trotzdem blieb offen, was denn nun die Inhalte dieser expansiv intendierten auswärtigen Kulturpolitik darstellen sollte. Denn jeder Gedanke, das vom Kaiser umrissene Konzept vom „größeren Deutschen Reich“ als Aktionsplan für imperiale Eroberungen des Reiches in der Welt, wo immer Deutsche gesiedelt hatten, aufzufassen, widersprach den Intentionen, in einer Welt harter Rivalitäten dieses Auslandsnetz friedlich einzubeziehen. Wenn Admiral Tirpitz mit der imperialen Propaganda des Flottenvereins ebenso wie die Alldeutschen die so lange vernachlässigten Auslandsdeutschen zu den äußeren Stützen eines deutschen Weltreiches erkoren, bekamen Wilhelms Worte genau jenen militärisch-ag171 Maciuika, Before the Bauhaus, 252–258. 172 Zit. nach Klaus Wernecke, Der Wille zur Weltgeltung. Außenpolitik und Öffentlichkeit im Kaiser� reich am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Düsseldorf: Droste, 1970, 307. 173 Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918–1932, 19. 174 Bethmann Hollweg an Lamprecht, 21.  Juni 1913, in: vom Bruch, Weltpolitik als Kulturmission, 149.

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gressiven Klang, den Bethmann Hollweg und das Auswärtige Amt vermeiden wollten. Vom Auswärtigen Amt als Referenz aufbewahrt, fasst der Artikel, in dem Die Post die Kaiserworte im Mai 1914 aktualisierte, die Intentionen zusammen: „Das vom Kaiser erwähnte ‚Größere Deutsche Reich‘ besitzt einen rein volkserhaltenden, höchstens noch einen wirtschaftlichen Charakter und gefährdet keine politischen Besitzrechte eines fremden Staates, obwohl ohne weiteres zuzugeben ist, dass Deutschland für seine ständig zunehmende Bevölkerung eines für Mitteleuropäer bewohnbaren Gebietszuwachses sehr wohl gebrauchen könne.“175 Hier zeichnete sich bereits die Problematik ab, welche die Verquickung der Außendarstellung des Reiches mit den bisher weitgehend ignorierten deutschsprachigen Minderheiten für die Zukunft bereithielt. Zwar fühlten sich diese mit der neuen Beachtung seitens des Reiches in ihrem selbst konstruierten Lebensentwurf bestätigt, lernten aber sehr schnell, dass dies nicht nur Vorteile brachte. Auch wenn es nahelag, die Interessen der Exportwirtschaft mit denen von Siedlern zu vermengen, blieb das Verhältnis immer höchst problematisch. Im Gefühl, vom Reich missverstanden zu werden, beklagten Experten des Auslandsdeutschtums, dass die deutsche Exportwirtschaft sich ebenso wenig wie die Diplomaten der strategischen Rolle bewusst sei, die die Minderheiten in ihren kulturellen Traditionen und Praktiken spielten.176 Die Simultaneität von nationaler Repräsentanz und kulturell-ideeller Werbung für den „deutschen Gedanken“ in aller Welt signalisierte einen Widerspruch, der die deutsche Kulturpolitik, soweit sie anderen Ländern galt, während der folgenden Jahrzehnte begleitete und behinderte. Ver­einfacht gesagt, stand die Ausstellung der (endlich geeinigten) Nation als Kulturmacht der Absicht im Wege, anderen Gesellschaften eine kulturell-politische Botschaft zu bringen, die diese zu einer engeren Zusammenarbeit mit Deutschland zu begeistern vermochte. Einsichtige Beobachter, allen voran „friedliche Imperialisten“ wie Paul Rohrbach, Friedrich Naumann und Ernst Jäckh, begriffen, dass es mit der machtvollen Ausstellung dieses Reiches nicht getan war, wenn es nicht auch eine moralisch attraktive Kulturmission vorweisen konnte. Es war die Zeit, da die Eliten, von Rohrbachs eher kritischer als anfeuernder Bestandsaufnahme Der deutsche Gedanke in der Welt (1912) angeregt, die Erfindung einer deutschen Mission als Kern der neuen kulturpolitischen Initiative verstanden. So wenig ihnen vor dem Krieg dazu einfiel, so viel gaben sie nach Kriegsaus175 Nationale Arbeit zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande, in: Die Post, Nr. 233 vom 20.5.1914 (Auswärtiges Amt, PA R 60430). 176 Vgl. die Diskussion in Das Deutschtum im Ausland: Walter Lambach, Kaufleute als Pioniere des Deutschtums, ebd., Bd. 33 (1917), 237–247; Gustav Schneider, Die nationalen Aufgaben des Kauf� manns, ebd., Bd. 36 (1918), 353–358.

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bruch 1914/15 in zahllosen Deklarationen, Pamphleten und Zeitungsartikeln von sich. Zu diesem Zeitpunkt allerdings war es um die (mögliche) internationale Dimension dieser Mission geschehen: Franzosen und Engländer, die schon vorher aufgrund ihrer Berufung auf Demokratie und Internationalismus diese Form des Missionsgeschäfts dominiert hatten, drehten den Spieß um und ließen alle Welt erkennen, dass die deutsche Kultur nur eine nationale Verschleierung militärischer Macht darstelle. Während sich die Regierungsinitiative zugunsten einer die Kulturpolitik einbeziehenden Außenpolitik vor 1914 selbst blockierte, weckte sie bei Einsichtigen zumindest die Erkenntnis, dass sich zwischen der traditionellen Auffassung einer über die Grenzen hinausreichenden deutschen Kultur und der politischen Aktivierung deutscher Kultur große Diskrepanzen auftaten. Dem politischen Scharfsinn von Kurt Riezler, dem engen Mitarbeiter von Bethmann Hollweg, ist es zuzuschreiben, dass dies als Widerspruch zwischen „Reichspolitik“ und „Volkspolitik“ kurz vor Kriegsbeginn artikuliert wurde. In einem Artikel in den Grenzboten verdeutlichte Riezler die Abgrenzung beider Faktoren, indem er auf die oft übersehenen Worte in der Reichsverfassung hinwies: „… schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege und Wohlfahrt des deutschen Volkes“. Riezler folgerte: „also ausdrücklich: nicht zur Pflege und Wohlfahrt der Staatsangehörigen des Deutschen Reiches, sondern des deutschen Volkes schlechthin. Das deutsche Volk deckt sich nicht mit der Staatsgrenze des Reiches. Millionen von Deutschen wohnen in Rußland, Österreich, Siebenbürgen, in der Schweiz, in den amerikanischen Erdteilen, kurz über die ganze bewohnte Welt zerstreut. Das deutsche Volk hat mehrere Staaten mitbegründet und arbeitet an ihrer Erhaltung mit all der Hingebung, mit der ein Deutscher an der Erhaltung eines eigenen Werkes zu arbeiten pflegt. Was das Volk zu einer überstaatlichen Einheit zusammenhält, ist vor allem die deutsche Sprache und mit ihr die deutsche Kultur.“ Das Reich verkörpere „die verhältnismäßig reinste Ausprägung des sozialen und politischen deutschen Wesens“. „Indem wir die Augen auf diesen Zustand unseres Volkes heften, fragen wir: ist für unser Auswärtiges Amt das Deutsche Reich Selbstzweck oder soll dieses Reich dem ganzen deutschen Volk dienen? Es gab einst eine großdeutsche Frage, als es sich um die Reichsgründung handelte. Nun taucht im Weltgeschehen von neuem eine großdeutsche Frage auf: soll die Reichsangehörigkeit oder die Volkszugehörigkeit zur Grundlage der deutschen Politik gemacht werden?“177 Es verwundert kaum, dass dieser Artikel, der mit Recht Kurt Riez177 Prolegomena zu aller deutschen Weltpolitik, in: Die Grenzboten 73:2 (1914), 97–105, hier 99. Kein Autor ist angegeben, aber Jürgen Kloosterhuis’ Annahme, es handle sich um Kurt Riezler, überzeugt

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ler zugeschrieben worden ist, anonym erschien. Er fasste in simple Worte, dass Bismarck bei seiner eigenen Verfassung das Prinzip des Nationalstaates keineswegs konsequent formuliert hatte, sodass seine Nachfolger, sobald sie das Thema der deutschen Kultur im nationalen Rahmen berührten, mit höchst konträren Auffassungen jonglieren mussten. Noch weniger verwundert es, dass sie am liebsten davon absahen, wenn sie in offiziellen Funktionen agierten. So geschehen, als Reichskanzler Bethmann Hollweg bei der öffentlichen Bekundung seines Interesses an auswärtiger Kulturpolitik keine volle Bereitschaft erkennen ließ, jedoch für den internen Dienstgebrauch Anweisungen an die Ministerien des Äußeren, des Inneren sowie das Reichsschatzamt gab, „Unternehmungen oder Veranstaltungen“ zu unterstützen, „die es sich zur Aufgabe gestellt haben, fremde Kulturerscheinungen dem Deutschen zugänglich zu machen oder umgekehrt deutsches Kulturleben im Auslande zu fördern“.178 In seinen Denkschriften an das Auswärtige Amt hatte Lamprecht wohlweislich den Vorschlag eingebracht, einer Mittlerstelle als ‚Clearinghouse‘ die Hauptarbeit für die Kulturbeziehungen aufzuerlegen und nicht selbst Akteur zu sein. Sicherlich war ihm die Distanz der Diplomaten zur Kulturpolitik ebenso geläufig wie den Diplomaten seine Unberechenbarkeit als Verhandlungspartner. Als Friedrich Heilbron, der Leiter der 1920 im Auswärtigen Amt eingerichteten Kulturabteilung, 1922 den Akten zum Briefwechsel zwischen Bethmann Hollweg und Lamprecht nachforschen ließ, da sie für die Fragen des „Kulturbureaus“, wie er es nannte, „von Nutzen sein könnten“, stellte der Referent Lamprechts beide Denkschriften vom Dezember 1913 ins Zentrum einer ausführlichen „Aufzeichnung“.179 In diesen Denkschriften habe der Leipziger Professor vorgeschlagen, die Koordination der vielen auslandsorientierten Organisationen und Tätigkeiten nicht ins Auswärtige Amt selbst zu verlegen, sondern einer Gesellschaft zur Förderung auswärtiger Kulturpolitik zu überantworten. Diese sollte 1) als ein „geistiges Clearing-House“ für die vielen privaten Initiativen fungieren, 2) als „Executivstelle“ auswärtiges Schulwesen, Ausländer auf deutschen Hochschulen, Austauschprofessoren, „Vorführungen spezifisch deutscher Phantasietätigkeit im Auslande“ (Theater, Musik usw.) koordinieren und 3) eine wissenschaftliche Abteilung erhalten, „der dann die aufgrund des Stils und der Argumentation. Sie entspricht vergleichbaren Passagen in Riezlers unter dem Pseudonym R. R. Ruedorffer erschienenem Buch Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart (Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1915). Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“, Teil 1, 161 f. 178 Erlass des Reichskanzlers vom 5.8.1913, in: vom Bruch, Weltpolitik als Kulturmission, 152. 179 Dr. Noebel, Aufzeichnung v. 26.8.1922: Grundsätze über die Pflege kultureller Beziehungen 1920– 1922 (Politisches Archiv des AA, R  60430). Im Frühsommer 1914 kam es zur Gründung einer Vermittlungsstelle für auswärtige Kulturpolitik, die aber kurz nach Kriegsbeginn aufgelöst wurde.

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Ausbildung und Förderung einzelner für spezielle Zwecke des genannten Gebietes errichteter Einrichtungen, Gesellschaften und dergleichen mehr, wie zu gleicher Zeit, in eigener Arbeit, die Führung von einer Art Statistik des deutschen Auslandslebens obliegen würde.“180 In der Tat fertigte Lamprecht nach der Besprechung im Auswärtigen Amt noch eine zweite (und Ansätze zu einer dritten) Denkschrift mit verschiedenen Anlagen an, in denen einzelne Punkte erläutert wurden, insbesondere, wie der Referent 1922 mit Genugtuung nachvollzog, die Entwicklung „einer höheren auswärtigen Schulpolitik, die zugleich auch dem Inland zu Gute kommen würde.“181 Lamprechts Einsicht, dass sich auswärtige Kulturpolitik am besten in gewisser organisatorischer Distanz zum Auswärtigen Amt entwickeln könne, fand in späteren Jahrzehnten immer wieder Resonanz. Im Aufbau von Mittlerorganisationen wie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst verwirklichten sich einige der Grundgedanken in den zwanziger Jahren. Im Jahre 1914 allerdings wies das Amt Lamprecht unsanft zurück. Für die Arbeit mit China und der Türkei, den dringlichsten kulturpolitischen Schauplätzen, setzte es auf die entsprechenden Auslandsvereine als „zwei lebensfähigen Zentral-Organisationen“ und wehrte die konzeptionelle Arbeit des ehrgeizigen Professors ab, der vor allem sein Leipziger Institut für Kulturwissenschaft zur Schaltstelle auswärtiger Kulturpolitik zu machen versuchte.182 Insgesamt hat die amtliche Beschäftigung mit Lamprecht 1913/14 und ihre archivalische Dokumentation weitgehend den Blick davon abgelenkt, dass seine Vorstöße nur Teil einer wachsenden Bemühung um Auslandsstudien an deutschen Universitäten und eine bessere Berichterstattung über Auslandsdeutsche darstellten.183 Der Plan, dem immer dringlicher werdenden Mangel an Kenntnissen über das Ausland bei Diplomaten, Kolonialbeamten und Politikern, aber auch Exportkaufleuten, Journalisten und Ingenieuren durch die Gründung einer Auslandshochschule abzuhelfen, stieß angesichts des Anspruchs einzelner Universitäten, die jeweiligen Länderstudien abzudecken, auf so viele Hindernisse, dass er sich zerschlug und bei den Verantwortlichen nur die Überzeugung hinterließ, dass eine erfolgreiche auswärtige Kulturpolitik auf der Einrichtung einer kompetenten Auslandswissenschaft aufbauen müsse. Das trug allerdings erst Früchte, nach180 Karl Lamprecht, Darlegung der bisher in kleinem Kreise erörterten An- und Absichten (Denkschrift Lamprecht vom 8.12.1913), zit. nach vom Bruch, Weltpolitik als Kulturmission, 155–159. 181 Zit. nach Politisches Archiv des AA, R 60430; vgl. den Abdruck u. d. T. Aufzeichnung Lamprechts vom 30.12.1913 und Anlagen, in: vom Bruch, Weltpolitik als Kulturmission, 160–175. 182 Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“, Teil 2, 602. 183 Einen breiten Überblick bietet Paul von Salvisberg, der sogar von einer (akademischen) „Auslands� bewegung“ sprach, mit seiner kontinuierlichen Berichterstattung in den von ihm herausgegebenen Hochschul-Nachrichten der Jahrgänge 23–26, 1912–1916.

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dem der Krieg das Informationsdefizit eklatant sichtbar gemacht hatte. Zunächst intensivierte sich die Diskussion darüber, wie unvermögend die deutsche Diplomatie im Ausland operiere und wie sehr ihre Ausbildung durch eine solche Auslandshochschule verbessert werden könne.184 Dem seit 1887 existierenden Berliner Seminar für Orientalische Sprachen traute man am ehesten zu, die Lücken der Sprach- und Konsularausbildung ebenso wie die in Völkerrecht und internationalem Privatrecht, in Weltwirtschaft und jeweiliger Geografie und Kultur zu schließen. Paul Rohrbach vergaß nicht, das Argument hervorzuheben, „daß das nationenwissenschaftliche Studium fremder Völker zugleich der nationalen Selbsterkenntnis zu dienen vermag.“185 Aber auch dieser Dienst kam vor dem Krieg nicht mehr zum Tragen. Bei der Diskussion zugunsten einer solchen Ausbildungsinstitution setzte sich der Reichstag nicht durch. Darüber hinaus zeichnete sich ein Umdenken des Verhältnisses von Politik, speziell Außenpolitik, und Kultur ab, bei dem die öffentliche Sprache über diese Dinge selbst zur Diskussion gestellt wurde. Der finnische politische Wissenschaftler Kari Palonen hat als Schreckbegriff der Zeit den der „Politisierung“ herausgearbeitet, der eine Art Verrat an der Authentizität von Politik als Kunst von Eliten signalisierte. In Palonens Worten: „Das für das Politikverständnis des 19. Jahrhunderts etatistische bzw. gouvernementarische Politikverständnis kann, selbst als Denkmöglichkeit, die Politisierung kaum erlauben. Die Dinge sind entweder ‚politisch‘ bez. ‚Politik‘ oder nicht, es geht höchstens um die Grenzziehung.“186 Solange allerdings die „Überzeugung von einer Eigengesetzlichkeit der Außenpolitik als dem Kerngehalt der Staatsräson älterer Form“ vorherrschte – Karl Dietrich Bracher hat auf ihr Fortwirken in der Zwischenkriegszeit aufmerksam gemacht –, standen die Chancen für eine definitorische und damit organisatorische Verselbstständigung auswärtiger Kulturpolitik schlecht, sei sie nun bürokratischer oder privater Provenienz.187 Beispiele für diese „Politisierung“ im kulturellen Bereich lieferten in diesen Jahren Zeit184 Heinrich Pohl, Die deutsche Auslandshochschule. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1913; Anton Palme, Die deutsche Auslandshochschule und das nationenwissenschaftliche Studium des Auslandes. Berlin: Reimer, 1914; Paul Eltzbacher, Die deutsche Auslandshochschule. Ein Organisationsplan. Berlin: Reimer, 1914; Karl Helfferich, Hochschulbildung und Auslandsinteressen, in: Die Grenzboten 73:2 (1914), 193–201. 185 Paul Rohrbach, [Rezension von] Anton Palme, Die deutsche Auslandshochschule, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 157 (1914), 157–163, hier 162. 186 Kari Palonen, Korrekturen zur Geschichte von „Politisierung“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87), 224–234, hier 230; ders., Politik als Handlungsbegriff. Horizontwandel des Politikbe� griffs in Deutschland 1890–1933. Helsinki: Societas Scientiarum Fennica, 1985. 187 Karl Dietrich Bracher, Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik, in: Faktoren der politischen Entscheidung. Festgabe für Ernst Fraenkel, hg. von Gerhard A. Ritter und Gilbert Zi� bura. Berlin: de Gruyter, 1963, 115–148, hier 120.

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schriften der Expressionisten wie Die Aktion und Die weißen Blätter, in denen jüngere Schriftsteller den unpolitischen Charakter der Literatur infrage stellten. Bezeichnenderweise war es auch hier der Leipziger Professor Karl Lamprecht, in dessen Seminar sich spätere Koryphäen des Expressionismus wie Walter Hasenclever und Kurt Pinthus Inspiration holten.188 Mit der Prägung des Begriffs „Politisierung der Gesellschaft“ förderte er solche Prozesse des Umdenkens.189 Was Lamprecht nicht im Auswärtigen Amt zu bewerkstelligen vermochte, gelang ihm in der Studentengeneration.

Die Werkbundausstellung in Köln 1914 Als mit den Kriegserklärungen im August 1914 das zivile Leben in großen Teilen Europas zum Stillstand kam, geriet auch das umfassendste Unternehmen, der Welt den Beitrag der deutschen Kultur zu der viel beschworenen Moderne zu demonstrieren, abrupt ins Stocken. Lange vom Deutschen Werkbund geplant, entstand im Frühjahr 1914 auf den Kölner Rheinwiesen eine groß angelegte Architektur- und Designausstellung, die einerseits der deutschen Fertigwarenindustrie mit ansprechenden Produkten Weltgeltung verschaffen, andererseits der deutschen Gegenwartskultur aufgrund ihrer Erarbeitung moderner Formen in Kooperation mit der Industrie einen Führungsanspruch ermöglichen sollte. Diesen Anspruch hatte Hermann Muthesius seit Längerem vertreten, wobei er den Nexus von Modernität und nationalem Anspruch immer über die Notwendigkeit herstellte, den Konsumenten als Verbraucher, nicht nur als Kunstgenießer ernst zu nehmen. Nur über den Markt würde sich die entsprechende Finanzierung moderner Formen ermöglichen lassen. Als die Ausstellung, keineswegs voll etabliert, nach wenigen Wochen schließen musste und zu einem Lazarett für Kriegsverwundete mutierte, blieb ihre Mission unvollendet und ihr Renommee als Symbol einer kulturellen Transformation umstritten. Gerade das abrupte Ende sorgte jedoch dafür, dass sie überall in Europa als ein Wegweiser für eine industriell basierte Ausstattungskultur zitiert wurde, der auch durch die schlimmsten Kriegskonflikte hindurch einen internationalen Standard setzte. Die Deutsche Werkbundausstellung in Köln („Kunst in Handwerk Industrie und Handel Architektur“, wie es auf dem Plakat hieß) wurde zur größten De188 Christa Spreizer, From Expressionism to Exile. The Works of Walter Hasenclever (1890–1940). Rochester: Camden House, 1999, 10–13; Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Reich (1890–1914). Husum: Mathiesen, 1980, 372 f. 189 Palonen, Korrekturen zur Geschichte von „Politisierung“, 149 f.

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monstration einer nicht mehr kaiserlich-nationalen, sondern bürgerlich-imperialen Kultur. In ihr gipfelte der Durchbruch des Werkbundes von der Phase der Opposition gegen den wilhelminischen Kulturidealismus und ‑feudalismus zu der Phase einer modernen, materiell basierten, nicht militärischen Repräsentanz des Reiches. Der Umschlag zeichnete sich bei dem offiziellen Auftrag an den Werkbund ab, die Innenausstattung des Deutschen Hauses auf der Brüsseler Weltausstellung 1910 zu übernehmen. Karl Ernst Osthaus, der Hagener Unternehmer, hatte mit der Gründung des Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe 1909 dem Werkbund ein Ausstellungforum geliefert, das mit Wanderausstellungen innerhalb Deutschlands und dann mit der großen Wanderausstellung „German Applied Arts“ 1912/13 in den USA den modernen Geschmacks- und Qualitätsprinzipien eine breite Wirkung verschaffte.190 Hierbei gingen privates Mäzenatentum und unternehmerisches Verkaufsdenken eine erfolgreiche Liaison ein, die bei der privaten, ebenfalls von Osthaus koordinierten Beschickung der Weltausstellung in Gent 1913, an der sich das Reich offiziell nicht beteiligte, kulminierte. Osthaus, dessen Wirken als wichtigster Sponsor, Sammler und Organisator der künstlerischen Reformbewegung in Mitteleuropa zusammen mit österreichischen und niederländischen Beiträgen kaum überschätzt werden kann, achtete darauf, dass sich die nationale Komponente in Grenzen hielt. Die nationale Wendung, die der Generalsekretär des Werkbundes, Ernst Jäckh, mit der Verlegung des Hauptsitzes von Dresden nach Berlin betont wissen wollte, stieß auf Widerspruch in der Organisation. Osthaus machte seine Einwände gegen den nationalen Monumentalismus deutlich und beharrte auf der internationalen Ausrichtung des neuen Stils.191 Die Kölner Ausstellung gewann ihren Nimbus nicht daraus, dass sie besonders gewagte und ästhetisch avancierte Gebäude und Designs zeigte. Außer Bruno Tauts Glashaus, Walter Gropius’ Modellfabrik und einigem Produktdesign wurden zahlreiche Ausstellungsstücke sogar als Rückfall in Eklektizismus und Klassizismus kritisiert.192 Entscheidend waren vielmehr zwei Aspekte, die zum einen aus dem Stellenwert der Ausstellung in der neuen publikums- und marktorientierten Auffassung deutscher Kultur resultierten, zum andern aus ihrem Stellenwert in der Entwicklung des Modernismus als Nexus ästhetischer 190 Laurie A. Stein, „Der neue Zweck verlangte eine neue Form“ – Das Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe im Kontext seiner Zeit, in: Das Schöne und der Alltag. Die Anfänge modernen Designs 1900–1914. Deutsches Museum für Kunst in Handel und Gewerbe, hg. von Michael Fehr, Sabine Röder und Gerhard Storck. Köln: Wienand, 1997, 19–25. 191 Heiser, Der Deutsche Werkbund auf der Weltbühne, 363–398. 192 Astrid Gmeiner und Gottfried Pirhofer, Der Österreichische Werkbund. Alternative zur klassischen Moderne in Architektur, Raum- und Produktgestaltung. Salzburg/Wien: Residenz, 1985, 37 f.

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|  Die kulturelle Ausstellung der (neuen) Nation 6 Bruno Taut: Glas­haus der Werkbundausstellung 1914 in Köln. © Bildarchiv Foto Marburg, Foto: Franz Stoedtner; AufnahmeNr. 1.172.175

und technologischer Innovation. Der eine Aspekt betrifft die Zurschaustellung einer deutschen Kultur in Architektur, Stadtplanung, Ausstattung und Design, bei der die kaiserliche Nation zugunsten der „bürgerlich geprägten Nation“ abgelöst wurde, „die sich über ihre Norm- und Wertorientierungen unabhängig von der konservativen Staatsführung und dem Reichsoberhaupt, ja sogar gegen diese mit sich selbst verständigt.“193 In ihrer praktisch-materiellen Form demonstrierte die Ausstellung die realen Faktoren der von Naumann optimistisch skizzierten Kohärenz einer deutschsprachigen Kultur- und Wirtschaftssphäre in Mitteleuropa, eine Kohärenz, die, streng nach politischen und militärischen Kategorien beurteilt, entweder als vage oder imperialistisch kritisiert wurde.194 Naumann nahm die Kölner Ausstellung zum Anlass, um diejenigen Argumente genauer zu artikulieren, die er als Vorbedingung für Deutschlands Führung im Fertigwarenexport wertete: dass diese Führung, wie es zum ersten Mal der Direktor der Berliner Gewerbeakademie, Franz Reuleaux, bei der Weltausstellung in Philadelphia 1876 umrissen hatte, nur über eine ästhetisch moderne 193 Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland, 1500–1914, 272. 194 Francesco Dal Co, Figures of Architecture and Thought. German Architectural Culture, 1880–1920. New York: Rizzoli, 1990, 171–237.

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und ansprechende Gestaltung erworben werden könne, welche die von Frankreich mit aristokratischen Formen dominierte Geschmacksindustrie ablöse. „Wir wollen das beste machen für die weite Welt, so gut wir können, wir wollen ihnen dienen mit unseren Gaben“, führte Naumann vier Wochen vor Kriegsbeginn vor den Werkbundmitgliedern aus. „Diese Legende aber muß der großen französischen Kunst gegenüber begriffen und verstanden sein. Denn der kennt die Welt auf diesem Gebiet noch wenig, der die ältere und größere Legende von der französischen Kunst unterschätzt. […] Und damit kämpft die neue Legende, sie kämpft für eine Art neuen gewerblichen Glauben gegen einen alten gewerblichen Glauben. Die beiden ringen miteinander, und in all den Hunderten und Tausenden Debatten, wo zwei oder drei Menschen abends am Wasser unter den Bäumen hinspazieren gehen, statt zu fragen: Sag mal, wie hältst Du’s mit der Religion? Fragen sie dann: Wie gefällt Dir das Haus von Behrens! Sage es mir aber ganz ehrlich!“195 Hier vermerkt das Protokoll „Heiterkeit“. Es vermerkte Heiterkeit noch öfters. Naumann, ein mitreißender Redner, steigerte sich hier zu der wohl witzigsten Rede, die je über die Aspirationen des Werkbundes, die Notwendigkeit künstlerischen Produktdesigns und die „gemeinsame Auslandsarbeit“ von Künstlern und Industriellen gehalten worden ist. Am Schluss rückte Naumann die Bilanz über die Kulturmacht Deutschland zurecht. Er wies darauf hin, dass die Arbeit an der modernen Kultur wohl nationale Interessen verfolge, aber nur im engen Austausch mit anderen Kulturen zustande komme: „Wir Deutsche haben von anderen Völkern künstlerisch und seelisch so unendlich viel genommen und bekommen. Unsere ganze alte Erziehung ist ja von den andern. Griechenland, Italien, Frankreich, England, die mußten alle erst da sein, damit wir überhaupt etwas werden konnten. Auch der Dom in Köln ist nicht geworden, ohne dass vorher die hohen Bauten in Frankreich angefangen waren. Was wir haben, und selbst, was wir als sehr deutsch bezeichnen, ist Fremdes, hineingesetzt in das Deutschtum. Was andere uns taten, das sollen wir nun den anderen tun. Gebt weiter! Tragt Euren geschichtlichen Dank ab, auch wieder an Völker und Kinder und Kindeskinder, so wie die Deutschen eine Philosophie geschaffen haben, die sozusagen heute von allen gebraucht wird, eine Musik, eine Methode des Kanonengusses, so haben die Deutschen noch vieles vor, was sie weitergeben wollen, und wenn

195 Friedrich Naumann, Werkbund und Weltwirtschaft. Öffentlicher Vortrag in der Festhalle der Deut� schen Werkbund-Ausstellung am 4.  Juli 1914, in: ders., Werke, Bd.  6, 331–350, hier 345  f. In dieser Ausgabe sind die im Erstdruck 1914 enthaltenen Hinweise auf Heiterkeit und Beifall nicht verzeichnet, dagegen beim Abdruck in: Hermann Muthesius, Die Werkbund-Arbeit der Zukunft. Jena: Diederichs, 1914, 105–118.

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dazu der Werkbund hilft und die Kölner Tagung dazu beiträgt, dann sollen sie uns gesegnet sein. (Langanhaltender, lauter Beifall).“196 Der andere Aspekt betrifft den Stellenwert der Kölner Ausstellung für die Entwicklung und das Selbstverständnis der internationalen Moderne im Zusammenhang ihrer technischen Reproduktion. Bei der erregten, viel kolportierten Debatte in der Versammlung der Werkbundmitglieder klang das Echo nach, das die Forderungen von John Ruskin und William Morris nach künstlerischer Individualität in einer modernen Produktkultur fanden, insofern nun der Anspruch postuliert wurde, die ästhetische Formung aus der Zuordnung des künstlerischen Entwurfs zur industriellen Produktion zu entwickeln. Diesen Schritt forderte Muthesius in zehn Leitsätzen als Vorbedingung für eine erfolgreiche Produktionskultur und „einen kunstindustriellen Export“ und machte „Typisierung“ zum Zentralbegriff der Debatte über die Zukunft der Werkbundarbeit.197 An diesem Begriff nahmen Anstoß sowohl die traditionell arbeitenden Mitglieder als auch, unter der Anleitung von Henry van de Velde, die progressiv Gesinnten wie Bruno Taut, Karl Ernst Osthaus und Walter Gropius. Der Begriff der Typisierung, an sich längst eine Realität in der Alltagsarbeit, lieferte der Verteidigung künstlerischer Individualität wirksame Argumente. Er überschattete auch die spätere Kunstgeschichtsschreibung, obwohl ihn Muthesius nicht wirklich definierte (was Peter Behrens und andere sofort anmerkten und in ihrem Sinne auslegten). Muthesius war nicht daran gelegen, künstlerische Innovation zugunsten industrieller Produktionsmechanik aufzugeben. Das wussten auch die Diskussionsgegner. Ihr Unmut wurde in Wirklichkeit von der Tatsache geweckt, dass Muthesius den Übergang des Werkbundes von einer oppositionellen Gruppierung zum Ideengeber und Akteur einer nationalen Exportinitiative zur offiziellen Politik machen wollte. „Dennoch ist nie etwas Gutes und Herrliches geschaffen worden aus bloßer Rücksicht auf den Export“, hielt ihm van de Velde entgegen. „Die Anstrengungen des Werkbundes sollten dahin abzielen, gerade diese Gaben, sowie die Gaben der individuellen Handfertigkeit, die Freude und den Glauben an die Schönheit einer möglichst differenzierten Ausführung zu pflegen und sie nicht durch eine Typisierung zu hemmen, gerade in dem Moment, wo das Ausland anfängt, an deutscher Arbeit Interesse zu finden.“198 Van de Velde wiederum war sich darüber im Klaren, dass sich Muthesius’ Kritik durchaus nicht gegen seine Schöpfungen wandte, von denen der Theaterbau auf der Ausstellung großen 196 Ebd., 349 f. (im Erstdruck 118). 197 Hermann Muthesius, Die Werkbund-Arbeit der Zukunft, außer im Erstdruck (ebd.) zugänglich in: Zwischen Kunst und Industrie. Der Deutsche Werkbund. München: Die Neue Sammlung, 1975, 85–97, hier 96. 198 Henry van de Velde, Gegenleitsätze, ebd., 97–99, hier 98.

Die Werkbundausstellung in Köln 1914  |

Eindruck machte, sondern gegen die „kunstgewerbliche Produktion, wie sie sich in aller Breite und Fülle gerader auch in der Kölner Ausstellung darbot.“199 Während spätere Kritiker dazu tendierten, Muthesius’ Plädoyer, ohne auf seine wirtschaftspolitische Agenda für den Werkbund einzugehen, als eine Art Verrat modernistischer Ästhetik an der industriellen Reproduktion zu charakterisieren, verschaffen Walter Benjamins Überlegungen über die Reproduzierbarkeit als Kern moderner Produktkultur sowohl Muthesius’ Argumenten als auch denen der Opponenten im Umgang mit moderner Kunstpraxis zentralen Stellenwert.200 Der Architekturkritiker Julius Posener hat gemutmaßt, dass der Krieg den Werkbund vor dem Auseinanderbrechen bewahrt habe.201 Sicher ist, dass die Exportkomponente, deren Gewicht der Krieg stark reduzierte, genauer nach der Entschlossenheit der Reformgesinnung und ihrem Erfolg in Deutschland und Österreich fragen ließ. In seiner selbstkritischen Bestandsaufnahme von 1916, Die Kulturarbeit des deutschen Werkbundes, ließ der Stettiner Museumsdirektor Walter Riezler keinen Zweifel daran, dass die von Muthesius 1911 postulierte innerdeutsche Reform noch keineswegs durchgeschlagen habe. „Vor jedem Optimismus muß hier gewarnt werden“, mahnte Riezler, „wahrscheinlich hat niemand für möglich gehalten, dass nach all der Belehrung, die auf das deutsche Publikum in den letzten Jahrzehnten losgelassen wurde, noch eine so umfangreiche Schundproduktion entstehen konnte, wie sie dieser Krieg bei uns gezeitigt hat. Wir stehen hier, wenn wir das Ziel wirklich in einer ‚Durchformung aller Dinge‘ sehen, nicht darin, dass, wie heute schon, überhaupt gut geformte Dinge hergestellt werden, in der Tat erst am Anfang der Entwicklung, und nur eine Organisation von dem Gewicht und Ansehen des Werkbundes, der große Machtmittel zur Verfügung stehen, kann hier nach und nach Besserung schaffen.“202 Riezlers Bestandsaufnahme lässt sich sowohl als Bilanz wie als Auftakt lesen, als Bilanz insofern, als sie nahelegt, dass Muthesius und Naumann die Reformaufgabe unter Verweis auf die Auslandswirkung dramatisch hervorheben wollten und sich dabei taktisch übernahmen; als Auftakt insofern, als sie im Rückblick nahelegt, die Niederlage des Reiches mit seinen Prestigediskursen über Kultur als Vorbedingung für eine willigere Akzeptanz moderner 199 Hans Eckstein, Idee und Geschichte des Deutschen Werkbundes 1907–1957, in: 50 Jahre Deutscher Werkbund, hg. von dems. Frankfurt/Berlin: Metzner, 1958, 7–18, hier 13. 200 Hans-Joachim Hubrich, Hermann Muthesius. Die Schriften zu Architektur, Kunstgewerbe, Indust� rie in der „Neuen Bewegung“. Berlin: Mann, 1981, 239–247; Frederic J. Schwartz, The Werkbund. Design Theory and Mass Culture before the First World War. New Haven/London: Yale University Press, 1996, 147–222. 201 Julius Posener, Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. München: Prestel, 1979, 525. 202 Walter Riezler, Die Kulturarbeit des Werkbundes. München: Bruckmann, 1916, 37.

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Produktkultur zu verstehen, was dann in der Weimarer Republik tatsächlich geschah.203 In jedem Falle nahm diese moderne Kultur dank der Bemühungen um eine neue konsumorientierte und weitgehend gegen die kaiserliche Prestigekultur gewendete Reformkultur bereits vor Ausbruch des Krieges praktische Gestalt an.

203 Matthew Jefferies, Politics and Culture in Wilhelmine Germany. The Case of Industrial Architecture. Oxford/Washington: Berg, 1995, 286–289.

2. Kapitel Deutsche Kultur: nationale Kultur? Eine kritische Gegenbilanz Der Nationalstaat als unzuverlässiger Kompass für Kultur In der Nationalgeschichtsschreibung, die sich an Bismarcks Staatsgründung orientierte, ist der Kultur im allgemeinen die Rolle eines Resonanzraumes zugewiesen worden, in dem die wachsende Dominanz des Reiches als mehr oder weniger selbstverständlich angenommen wurde. An diesem Bild hat das erste Kapitel mit dem Blick auf interne Selbstermächtigungen und externe Wechselwirkungen einschneidende Korrekturen angebracht, aber im wesentlichen festgehalten. Das folgende Kapitel läßt es nicht dabei bewenden. Es bezieht die Einsicht, dass sich Kulturbeziehungen im nationalen Rahmen nur aus der Wechselwirkung der Akteure diesseits und jenseits der Grenzen voll erfassen lassen, auf die spezifische Situation der deutschen Kultur, in der die Dominanz des Reiches keineswegs selbstverständlich war. Es setzt bei der Tatsache ein, dass Bismarck bei seiner Gründung des Deutschen Reiches Millionen Zugehörige deutscher Kultur außerhalb der Grenzen des neuen Staatsgebildes gelassen hatte, und bei der Frage, ob diese Zeitgenossen nun auch mit einem solchen ‚auswärtigen‘ Wechselverhältnis an der kulturellen Repräsentation der neuen Nation teilhatten oder auf weniger distanzierte Weise mit den (nun) Reichsdeutschen kulturell kommunizierten. Die Frage berührt insofern die zentrale Thematik der Untersuchung, als sie Aufschlüsse darüber verspricht, warum der Umgang mit deutscher Kultur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf ganz andere Weise zu einem Politikum wurde, als dies zuvor der Fall gewesen war, insofern nun sowohl für die praktische Propagierung deutscher Sprache und Kultur in der Welt als auch für die Identitätsschaffung dieser Bevölkerungsgruppen neue Bedingungen entstanden. Sie rückt die Kehrseite der Propagierung nationaler Kultur in den Blick, für die sich Wilhelm II. ebenso wie seine Anhänger und Gegner engagierten, die Kehrseite, mit der die Verflechtungen der kulturellen Lebensformen sichtbar werden, die bis zum Ersten Weltkrieg den Begriff deutscher Kultur entscheidend prägten. Die auf Bismarck zurückgehende Durchsetzung der reichsnationalen (staatsbürgerlichen) Identität gegenüber einer kulturell verstandenen Identität von Deutschen bedeutete für viele ein Affront, ja eine Gefährdung ihres Selbstverständnisses. Wo deutsche Kultur und Sprache jahrhundertelang als Referenzmedium des Alten Reiches gedient und Mehrfachidentitäten ermöglicht

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hatten, wurden nun politische Barrikaden errichtet. Im neuen Reich gab es viel Jubel über die Einigung. Zugleich fühlten sich ganze Regionen und Bevölkerungsschichten zunächst verunsichert oder sogar ausgeschlossen. Zahlreiche Sprach- und Kulturpraktiken richteten sich primär nicht an nationalen oder gar politischen Zugehörigkeiten aus, wenngleich sie sich einander zuordneten und miteinander kommunizierten. Spätere Bestrebungen, diese Eigenkulturen über den großdeutschen Leisten zu schlagen, ändern nichts daran, dass sie von den österreichischen Ländern bis zu den Sprachinseln deutscher Migrationsbewegungen seit dem Spätmittelalter ihre eigenen Entstehungs- und Existenzbedingungen besaßen, ihren eigenen Umgang und Austausch mit anderen Kulturen pflegten. Was geschah nun innerhalb und außerhalb des neuen Reichsgebildes mit den Doppel- oder Mehrfachidentitäten, die in vielen europäischen Regionen über Heimat, Dynastie, sprachliche Grenzkämpfe und gemeinsame literarische, künstlerische und geschichtliche Überlieferungen ihre kulturelle Präsenz ausgebildet hatten? Gab es eine Kulturpolitik für sie?

Zugzwänge der Nationalstaatsgründung Die Etablierung des preußisch geführten deutschen Nationalstaates bedeutete eine Herausforderung des kulturellen Zugehörigkeitsgefühls, das sich über Jahrhunderte hinweg in den deutschen Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas herausgebildet hatte. Sie wurde im neuen Reich, im cisleithanischen Österreich und in den deutschen Siedlungsgebieten in Ungarn, Russland und im Baltikum auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen und verarbeitet. Selbst im Reich taten sich zwischen Norden und Süden, protestantischen und katholischen Bevölkerungsteilen, zwischen Grenzlandschaften im Osten und Südwesten, Provinzmetropolen und der neuen Hauptstadt neue Gräben im Umgang mit der Nationalisierung der deutschen Kultur auf, ganz zu schweigen von dem Zwiespalt bei den Deutschen der Habsburgermonarchie, die einer nun deutlich spürbaren Spannung zwischen ihrer politischen Zugehörigkeit zu Österreich und ihrer kulturellen Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation ausgesetzt waren. War die überpolitische Qualität deutscher Sprache und Kultur im Deutschen Bund auch keineswegs so unangefochten gewesen wie oft dargestellt – die Tatsache der Errichtung eines deutschen Nationalstaates führte in jedem Falle zu einer neuartigen, in den einzelnen Gebieten verschieden artikulierten Aufmerksamkeit gegenüber Sprache und Kultur, die sich dem Inhalt nach als „Politisierung“ erfassen lässt. Wie Kari Palonen analysierte, gewann dieses Phänomen um die Jahrhundertwende an Gewicht und wurde zunächst als Bedrohung wahrgenommen, bezeichnen-

Zugzwänge der Nationalstaatsgründung  |

derweise aber nicht der Politik, geschweige denn der Außenpolitik, zugerechnet.1 Bismarck hatte dem Volk, außer dass es den Reichstag wählte, keine verfassungsrechtliche Legitimierung des neuen Staates zuerkannt. Stattdessen gab er der Formel neue Resonanz, dass diese Legitimierung „von Gottes Gnaden“ geschehe und dem preußischen König als erstem unter den deutschen Fürsten zukomme. Die praktische Legitimierung war komplizierter: einerseits durch eine flexible Einpassung des neuen Reiches in die europäische Machtbalance, andererseits über die interne Lebensfähigkeit des neuen Gebildes. Wenn sein Erfolg als Reichsgründer auch zumeist an seiner (Außen‑)Politik festgemacht wurde, war dies für die Bewohner des Deutschen Reiches weniger wichtig als die Legitimierung dieses Staates durch eine effektivere (modernere) Verwaltung innerhalb größerer Einheiten, durch eine geplante Sozialpolitik und vor allem durch eine größere Wirtschaftsleistung. In den Worten von Siegfried Weichlein, der die Forschung des norwegischen Politikwissenschaftlers Stein Rokkan zur Nationalstaatsbildung im 19.  Jahrhundert weiterentwickelt hat: „Im deutschen Falle war der Nationalstaat nicht die logische Schlußfolgerung einer vorausgegangenen kulturellen Nationsbildung, wie es eine lange Tradition der Nationalismusforschung [Friedrich Meinecke, Hans Kohn] sah, die zwischen einer deutschen Kulturnation und einer westlichen Staatsnation unterscheiden wollte. Vielmehr folgte die Loyalitätsbeschaffung in der Reichsbevölkerung auf die Gründung des Reiches. Die Institutionen des Reiches, allen voran der Reichstag und der Kaiser, richteten nach 1871 einen konstanten Loyalitätsappell an die Bevölkerung.“ Anders als die religiöse Ethik, deren Stützung überkommener Ordnungen erfolgsunabhängig geschieht, war die nationale Ethik vom Erfolg des neuen Staates abhängig: „Gerade in diesem immanenten Leistungsaspekt bestand die Säkularität der Nation. War der Nationalstaat erst einmal erreicht, war er zum Erfolg verdammt, um in den Augen seiner Bürger seine Legitimität nicht zu verlieren. Die Legitimität des Nationalstaates über seine Leistungen für die Gesellschaft unterstrich die Bedeutung von Post und Eisenbahn für die Reichsgründer.“2 Die Tatsache, dass die Gründung des deutschen Nationalstaates stark von den Bedürfnissen von Industrie und Handel vorgezeichnet worden war, hatte vor allem zur Folge, dass dieser Nationalstaat sich nun mit industriellen Erfolgen als Modernisierer beweisen musste. Wie intensiv diese Form der Legitimi1 2

Palonen, Politik als Handlungsbegriff. Horizontwandel des Politikbegriffs in Deutschland 1890– 1933. Helsinki: Societas Scientiarum Fennica, 1985. Siegfried Weichlein, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich. Düsseldorf: Droste, 2004, 23 f.

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tätsbeschaffung über technische – und, wie erörtert, wissenschaftliche – Erfolge als nationale Aufgabe verstanden wurde, machte 1876 ein jahrelang nachwirkender Skandal aller Welt anschaulich. Inmitten aller Siegesstimmung über den Erfolg der deutschen Waffen wirkte die Nachricht vom miserablen Abschneiden der deutschen Industrie auf der Weltausstellung in Philadelphia wie eine kalte Dusche. Franz Reuleaux, ein weithin bekannter Professor an der Technischen Hochschule und Direktor der Gewerbeakademie in Berlin, schrieb in seiner Rolle als Reichskommissar in der Jury der Weltausstellung in der liberalen Berliner Nationalzeitung zehn „Briefe aus Philadelphia“, in denen er seinen Landsleuten, allen voran den Industriellen, Gewerbetreibenden und Politikern, zu verstehen gab, dass das Reich im Wettbewerb der Nationen in Amerika den denkbar schlechtesten Eindruck mache. In den Sturm der Entrüstung, der daraufhin losbrach und Reuleaux des Vaterlandsverrats, der Nestbeschmutzung und Sensationshascherei bezichtigte, mischten sich nach und nach auch Stimmen, die ihm recht gaben, ja als mutigen Kritiker priesen, dessen Realismus Deutschland den richtigen Weg weise, im industriellen Wettbewerb durch Qualitätsprodukte auf wissenschaftlicher Grundlage und mit ansprechendem Design zur Spitze vorzustoßen. Reuleaux dosierte seine Provokation mit stilistischer Bravour, indem er im ersten Brief die verheerende Bestandsaufnahme der deutschen Maschinenbauindustrie und Gewerbekunst zusammenfasste, dann auf die einzelnen Branchen einging und im zehnten Brief einen knappen Wegweiser für die Zukunft lieferte, mit dessen Hilfe die „reformatorischen Bestrebungen“ Deutschland zum Erfolg verhelfen würden. Unzählige Male zitiert wurden vor allem seine Urteile: erstens, „daß Deutschland eine schwere Niederlage auf der Philadelphier Ausstellung erlitten hat“, zweitens, „Deutschlands Industrie hat das Grundprinzip ‚billig und schlecht‘“, drittens, „Deutschland weiß in den gewerblichen und bildenden Künsten keine anderen Motive als tendenziös-patriotische, die doch auf den Weltkampfplatz nicht hingehören, die auch keine andere Nation hingebracht“, und viertens, es bestehe „Mangel an Geschmack im Kunstgewerblichen, Mangel an Fortschritt im rein Technischen.“3 Im Vergleich zu dem, was Frankreichs Armee im Kriege erlitten hatte, war diese Niederlage sicherlich weniger dramatisch und sichtbar, hatte aber, zumindest auf dem industriellen Gebiet, ebenfalls den Effekt, die bisherigen Wege infrage zu stellen. Sie bedeutete, dass die deutsche Industrie den Erwartungen nicht standhielt, die man nach dem großen Sieg an sie richtete. Dieses „industrielle Jena von Philadelphia“, wie es Friedrich Engels nannte, war eine Schmach, aber auch ein 3

Franz Reuleaux, Briefe aus Philadelphia. Braunschweig: Vieweg, 1877, 3–5.

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Ansporn.4 Und es wurde zum Ansporn in dem Sinne, den Reuleaux im zehnten Brief vorzeichnete: „Deutschlands Industrie muß sich von dem Prinzipe der bloßen Konkurrenz durch Preis abwenden und entschieden zu demjenigen der Konkurrenz durch Qualität oder Wert übergehen. Um dennoch billige, verkaufbare Ware zu erzeugen, muß sie die Maschine, oder allgemeiner gesprochen, den wissenschaftlich-technischen Apparat in allen denjenigen Fällen zuziehen, wo dadurch die Menschenhand mit Vorteil für das Produkt ersetzt wird.“5 Damit umriss er bereits die drei Faktoren, die in den folgenden Jahrzehnten die Niederlage vergessen machten: die Konzentration auf Qualität in der Produktion, den Ausbau einer wissenschaftlich avancierten Technik und die Entwicklung einer Geschmackskultur, mit der deutsches Design und Kunstgewerbe Modernität über die Grenzen hinweg verkäuflich machten. Was das Kunstgewerbe anbetraf, das in Philadelphia die „Germanien, Borussen, Kaiser, Kronprinzen, ‚red princes‘, Bismarcke, Moltken, Roone“ „geradezu bataillonsweise“ aufmarschieren ließ, verwies Reuleaux auf England als Vorbild, wo sich die Arts-and-Crafts-Bewegung konstituierte, die dann für die deutschen Neuentwicklungen um die Jahrhundertwende entscheidende Anregungen lieferte. Im Wirtschaftlichen ließ sich die Niederlage klarer abgrenzen als im Geistigen, wo Nietzsche den Deutschen im neuen Reich einen grandiosen Verlust voraussagte. Trotzdem sollte die Berufung auf geistige Leistungen, zu denen das neue Reich offensichtlich unfähig sein werde, nicht über eine gewisse Parallelität im Argument hinwegtäuschen. Wenn Kritiker in der enttäuschenden künstlerischen Ausbeute der Gründerzeit und der 1880er-Jahre Nietzsches Verdikt bestätigt sahen, verstanden das nicht wenige Zeitgenossen auch als Forderung an dieses Reich, endlich aufzuholen und jene geistigen Leistungen zu liefern. Zwar bedeutete es in der Kultur etwas anderes als in der Industrie, den neuen Zugzwängen zu entsprechen, aber gerade Nietzsche hatte deutlich gemacht, dass die aktuellen Hervorbringungen des deutschen Geistes unter dem Vorzeichen des neuen Reiches gemessen werden sollten. Hier lagen die Antriebe für eine lebensnähere, jugendlichere Profilierung des Reiches. Um 1900 setzten die Jüngeren die Industrialisierung und die damit verbundene Veränderung der Lebensumstände bereits als Bedingung nationaler Kultur voraus.6 In Reaktion auf ausländische Anregungen und Herausforderungen ent4 5 6

Zit. nach Ernst Barth, Entwicklungslinien der deutschen Maschinenbauindustrie von 1870 bis 1914. Berlin: Akademie, 1973, 50. Barth, Entwicklungslinien, 94 f. Zur Wirkung von Reuleaux’ Briefen s. Kees Gispen, New Profession, Old Order. Engineers and German Society, 1815–1914. Cambridge: Cambridge University Press, 1989, 115–121. Ausführlicher bei Helmuth Plessner, Die Legende von den zwanziger Jahren, in: ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie. Frankfurt: Suhrkamp, 1974, 87–102, hier 94 f.

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wickelte die jüngere Generation die Antriebe, mithilfe derer sie das Denken in dynastisch-feudaler Repräsentation des Reiches, wie es der Kaiser praktizierte (wenn er sich nicht beim Lob deutscher Technik verausgabte), zugunsten moderner Kunst- und Gesellschaftskonzepte zu begrenzen und zu isolieren half. Zwar erhöhte Wilhelm II. im In- und Ausland das Interesse an einer repräsentativen Selbstdarstellung des Reiches und ermöglichte es, dass unter dem Prestigevorzeichen öffentliche und private Gelder mobilisiert werden konnten, doch entwickelte man Neuentwürfe im Allgemeinen ohne Bezug auf ihn. Als Unternehmer, Designer und Beamte 1907 den Deutschen Werkbund gründeten, folgte das einer Periode intensiven Austauschs mit England, Frankreich, Belgien und Österreich; die Bemühung um eine Erneuerung der Kultur verstand sich ebenso als Sache der Nation wie als Teil der internationalen Konkurrenz. Unverkennbar klangen Reuleaux’ Mahnungen in Muthesius’ Worten 1911 nach, als er dem Werkbund zur Aufgabe stellte: „Für die zukünftige Stellung Deutschland in der Welt liegt aber darin, wie wir uns geschmacklich, das heißt in der Handhabung der Form, entwickeln, eine ausschlaggebende Bedeutung. Der Anfang ist die Reform zu Hause. Erst wenn wir hier zu geklärten und harmonischen Zuständen gelangt sind, erst dann können wir hoffen, nach außen zu wirken. Erst dann kann uns die Welt als eine Nation würdigen, die unter anderen Dingen, die man uns zutraut, auch die Aufgabe lösen könnte, dem Zeitalter das verloren gegangene Gut einer architektonischen Kultur zurückzugeben.“7

Die andere kulturelle Präsenz: Auswandererkulturen Für wen galten die Zugzwänge der Reichsgründung? Viele Deutsche, vor allem der unteren Schichten, waren es keineswegs gewohnt, sich ihres deutschen Bewusstseins mithilfe von Wissenschaft und hoher Kunst und Kultur zu versichern und die Nation als Kulturmacht zu imaginieren. Gewohnt, in den Traditionen und dem Dialekt ihrer Regionen Heimat und Vaterland zu lokalisieren, erweckte die Reichsgründung in ihnen, zumal wenn sie katholisch waren, neues Interesse für die Rückversicherung an ihrer Region und Religion. Die Tatsache, dass das neue Reich sich als Bund deutscher Staaten konstituierte, die ihre kulturellen Insignien mitsamt den Königs- und Fürstenkarossen behalten konnten, 7

Muthesius, Wo stehen wir?, Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Dresden 1911. Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1912, 11–26, hier 26. Den geschichtlichen Hintergrund zeichnet Georg Jahn, Wirtschaft und Kunst, in: Die Grenzboten 73:2 (1914), 202–212, nach.

Die andere kulturelle Präsenz: Auswandererkulturen  |

gab diesem Verlangen so viel Freiraum, dass die wirtschaftliche und verkehrstechnische Integration in den Regionen die Bindung zum Reich durchaus zu festigen vermochte.8 Keineswegs wurde der Referenzrahmen des regionalen Staates auf einen Schlag durch den des Reiches abgelöst. Die seit Langem erhoffte und weitgehend begrüßte Komponente des Nationalstaates wurde zunächst einmal auf der Ebene individueller Identität und Zugehörigkeit verarbeitet: Wenn auch nicht immer freiwillig, lernte man sich in einer zusätzlichen Identität einzurichten. Sie musste sich an der regionalen Identität bewähren, nicht andersherum. Über die Grenzen hinweg, aber besonders intensiv in der Erfahrung von Grenze, Fremd- und Anderssein, hatte sich eine deutsche Identität aus Abstammung, Sprache und Lebenskultur erhalten. Die Zugehörigkeit zu Region, Dynastie und Dialekt prägte den Alltag. Unter eigenen und fremden Herrschern hatte man kulturelle Zusammengehörigkeit in tausenderlei sozialen und wirtschaftlichen Kontakten gepflegt, ohne der Bezugnahme auf die Nation große Beachtung zu schenken. Wenn ausgerechnet das neue Reich, das sich in seiner feudal-militärischen Aufmachung um Legitimation bemühte, von dem Volk, das Bismarck bei der Gründung beiseitegeschoben hatte, konstante nationale Loyalitätserklärungen erwartete, war die Zustimmung von Millionen Bauern, Gewerbetreibenden, Arbeitern, Kleinstädtern häufig mit Indifferenz durchmischt. Noch mehr galt das von deutschen Siedlern in anderen Ländern, die sich ihre Lebensgemeinschaften in enger Verflechtung mit oder in Abgrenzung von anderen Sprachen und Kulturen geschaffen hatten und das, was im fernen oder nicht so fernen neuen Reich vor sich ging, als günstigen Lauf der Geschichte wahrnahmen, der viele mit Stolz erfüllte, aber keineswegs zu einem Umdenken in ihren Loyalitäten veranlasste.9 Am ehesten fanden sich die nach Amerika ausgewanderten Deutschen von der Reichsgründung in ihrem ethni-

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Dieter Langewiesche, Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föde� ralismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: Föderative Nation. Deutsch� landkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von dems. und Georg Schmidt. München: Oldenbourg, 2000, 215–242, bes. 241. Als Beispiel seien hier die ältesten, Mitte des 12.  Jahrhunderts vom ungarischen König Geza  II. etablierten, von seinen Nachfolgern weiter privilegierten Siedlerkolonien Siebenbürgens genannt, die über Jahrhunderte hinweg ihre deutschsprachige Kultur erhielten, aber politisch und wirtschaftlich voll in den Donau-Karpathenraum integriert waren. Wie stark sich der Begriff „Deutscher“ in vielen Gegenden Ost- und Südosteuropas nach lokalen Gegebenheiten definierte, analysiert Pieter Judson: „Germanness as a quality often signified a system of social and cultural values that helped people to mark their particular place in local society.“ Pieter Judson, Changing Meanings of “German” in Habsburg Central Europe, in: The Germans and the East, hg. von Charles Ingrao und Franz A. J. Szabo. West Lafayette: Purdue University Press, 2008, 109–128, hier 113.

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schen Stolz gegenüber den anderen Einwanderergruppen bestärkt. Aber auch sie gaben damit ihre Loyalität als Staatsbürger des neuen Staates nicht auf. Allerdings wäre es unrichtig anzunehmen, dass diese Lebensformen nicht auch nach bestimmten, vom Heimatland geprägten Impulsen geformt wurden. Sie wurden es in der Tat, sogar auffallend ähnlich in sehr verschiedenen Weltgegenden, sei es an der Wolga, an der Donau, am Missouri oder am Rio de la Plata. Nur geschah es ohne Vorstellung einer Nation oder nationalen Mission. Was deutschsprachige Auswanderer beflügelte, ob sie nun von der Zarin Katharina der Großen nach Russland oder der Kaiserin Maria Theresia ins Banat eingeladen wurden, um weite Landstriche agrarisch zu erschließen, oder auf eigene Faust loszogen, um in den Ebenen Nordamerikas Siedlungen zu schaffen, war die Vorstellung einer Kolonisierung im Sinne des Kultivierens und Fruchtbarmachens, wie sie es im Alltag ihrer Heimat betrieben hatten und nun auf entfernte Landschaften übertragen konnten. Lange vor der Kolonisation im Namen eines Staates waren die Begriffe ‚Kolonie‘ und ‚Kolonisation‘ von deutschen Siedlern in Ost- und Südosteuropa ebenso wie in Süd- und Nordamerika benutzt worden. Und lange vor der Erhebung des Begriffs der Kultur zu einem Paradigma nationaler Selbstdarstellung war Kultur im Sinne von Kultivierung des Landes als Sache deutscher Siedler verstanden und akzeptiert worden – in Aktualisierung der ältesten, auf die Römer zurückgehenden Definition von cultura. Wie die amerikanische Historikerin Kathleen Conzen in ihren bedeutenden Studien zur deutschen Besiedlung Nordamerikas festgestellt hat, gebrauchten Deutschamerikaner im 19.  Jahrhundert den Begriff „Colonie“ regelmäßig, „wenn sie von einer Personengruppe sprachen, die mit dem gemeinsamen Ziel reiste, eine neue Siedlung – gewöhnlich, aber nicht immer an der ‚Frontier‘ – zu gründen. Das Wort ‚Colonie‘ ließ die Bedeutungen von Gruppenorganisationen, der Einnahme eines leeren Platzes und von Sonderrechten auf den Erhalt der kulturellen Andersartigkeit anklingen, die in den jahrhundertealten deutschen Vorstellungen von der Kolonisierung mitschwangen.“ Conzens Analyse erfasst genau das bewusst regional- und nicht nationalkulturelle Selbstbewusstsein deutscher Siedler (Kolonisten, wie sie sich selbst oft nannten) in den verschiedensten Weltgegenden: „In Deutschland gab es zwar keine Staaten, die kolonisierten, aber eine kolonisierende Bevölkerung aus Bauern und Handwerkern, die Raum suchten, um ihre sehr lokale Lebensweise zu kopieren. Ihre Loyalität galt hauptsächlich der eigenen Gemeinde und nicht dem abstrakteren Staat, zumal sie bis dahin weder theoretisch noch tatsächlich Bürger von Staaten waren, in denen man von einer vorherrschenden kulturellen Einheitlichkeit ausging. Deshalb war die politische Macht, die über das Gebiet herrschte, das sie kolonisieren wollten, für sie weit weniger wichtig als das sichere Auskom-

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men, das das neue Land ihnen versprach, und der Grad an Autonomie, den es ermöglichte.“10 Verglichen mit der halbherzigen, im Bürgertum dennoch mit lautstarken nationalen Fanfaren begleiteten Kolonialpolitik des Kaiserreiches, die wegen dieses Lärms und ihrer Brutalität so viel Beachtung gefunden hat, ist diese Form der Kolonisierung durch Arbeit und Kultivierung wesentlich gewichtiger für die kulturelle Bewusstseinsbildung der Deutschen im Sinne eines über die Auswanderer mit anderen Weltteilen verflochtenen Volkes. Diese Tradition der deutschen Migranten bildet einen Teil deutscher Geschichte, der sich zumindest bis 1914 als solcher nicht vorrangig durch eine Bezugnahme auf die politische Nation ausweist. Die Mission dieser Siedlerkolonisten war nicht die nationale, die ihnen Admiral Tirpitz, sein Flottenverein und die Alldeutschen des Kaiserreichs zuschrieben, und nicht die völkische, wie die neuere Forschung in der Rückprojektion der Volkstumspolitik des Nationalsozialismus insinuiert. Wenn sie eine Mission spürten, so war es „ihre Annahme, dass sie das Wesen ihrer Heimat mitbrachten, um es in einer besseren und reineren Form im kolonisierten Land wieder lebendig zu machen.“11 Das klingt unschuldiger, als es war. Und gewiss kann man die Millionen Migranten – zwischen 1820 und 1930 wanderten allein 5,9 Millionen in die USA aus – nicht alle als Siedler etikettieren. Hunderttausende waren und blieben Landarbeiter, industrielle Arbeiter, Angehörige freier Berufe; viele schlossen sich ihren Sprach‑, Schul- und Kirchengemeinden an, stiegen ins städtische Bürgertum auf.12 In der jahrhundertelangen Verflechtung oder bewussten Nichtverflechtung deutscher Auswanderer mit anderen Gesellschaften war der Widerstand gegen Assimilation nicht überall auch von der Bereitschaft begleitet, sich wie in Amerika dem einheimischen way of life anzupassen, das heißt ‚amerikanische‘ Berufsarbeit und ‚deutsche‘ Häuslichkeit miteinander zu verbinden. In Ost- und Südosteuropa, wo „der Einwanderer als der agrartechnisch-bildungsmäßig Überlegene geworben und gefördert wurde“, kam es zu10 Kathleen Neils Conzen, Phantomlandschaften der Kolonisierung. Die Deutschen und die Entste� hung des pluralistischen Amerika, in: Deutsch-amerikanische Begegnungen. Konflikt und Koopera� tion im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Frank Trommler und Elliott Shore. Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001, 31–45, hier 38. 11 Ebd. Eine detaillierte Analyse dieser Heimat- und Landschaftsorientierung deutscher Siedler in den USA bis ins 20. Jahrhundert bei Thomas Lekan, German Landscape. Local Promotion of the Heimat Abroad, in: The Heimat Abroad. The Boundaries of Germanness, hg. von Krista O’Donnell, Renate Bridenthal und Nancy Reagin. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2005, 141–166. 12 Grundsätzliche Überblicke: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Ge� schichte und Gegenwart, hg. von Klaus Bade. München: Beck, 1992; Christoph Cornelißen, Wan� derer zwischen den Welten. Neuere Forschungsergebnisse zur Migration aus und nach Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), 30–61; Deutsche Migrationen, hg. von Hans-Heinrich Nolte. Münster: LIT, 1996.

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meist zu geschlossenen Ansiedlungen, die der Erhaltung der eigenen Kultur gewidmet waren. „Die deutschen Einwanderer fanden keinen gemeinsamen ‚way of life‘ mit den Einheimischen, was eine Teilanpassung und wechselseitige Übernahme von einzelnen Verhaltensweisen natürlich nicht ausschließt.“13 In Ost- und Südosteuropa geschah es, lange bevor das geeinte Reich seine Machtstellung spüren ließ, dass deutsche Siedler in den agrarischen Gebieten, Gastund Wanderarbeiter in den städtischen Gebieten, Ingenieure und Kaufleute in den Hauptstädten ihre Arbeitswilligkeit und Einsatzkraft als kulturelle Überlegenheit ausspielten und damit gleichermaßen Respekt und Abneigung erzeugten. Wie stark das Deutschenbild der Russen von der deutschen Minorität her geprägt worden ist und ‚der Deutsche‘ in seiner potenziellen Arroganz zur russischen Gesellschaft gezählt wurde, da er selbst wieder die viel umworbene Präsenz Europas im Osten verkörperte, lässt sich in der russischen Literatur, angefangen von Hermann, dem Helden in Puschkins erfolgreicher Novelle Pique Dame, und Gogols satirischen Figuren, in vielen Variationen verfolgen. Diesem Bild fügte die Reichsgründung die Möglichkeit hinzu, sich politisch an Deutschland zu orientieren, was, auch wenn es im Alltag der Deutschrussen nur eine geringe Rolle spielte, den Vertretern der Staatsmacht, insbesondere den Zaren Alexander II. und III., Anlass für eine populistische, antideutsche Enteignungspolitik lieferte. Diese Russifizierungspolitik brachte viele deutsche Siedler dazu, Russland zu verlassen und entweder in ihre deutsche Heimat zurückzukehren oder – wie es an die 100.000 Kolonisten Ende des 19. Jahrhunderts taten – ihr Glück in Nordamerika zu suchen.14 Russland, wo 1897 bei der Volkszählung 1.790.489 Personen Deutsch als ihre Muttersprache angaben (und über 150.000 Reichsdeutsche lebten), liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Siedlermission von beiden Kulturen geformt und über die Zeiten hinweg positiv und negativ verändert wurde, wobei ‚der Deutsche‘ häufig nur als Auslöser für die innerrussische Diskussion über die Annäherung oder Nichtannährung an den Westen diente.15 Dabei ging die Unschuld der Siedlermission verloren, nicht aber unbedingt das Bewusstsein, zwischen verschiedenen Kulturen mithilfe von Kirche und Schule eine Lebensform aufzubauen, die wohl von den deutschen Heimatlandschaften, 13 Ina-Maria Greverus, Auswanderung und Anpassungsbarrieren. Hypothesen zur Integration von Minderheiten, in: Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, hg. von Günter Wiegelmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973, 204–218, hier 208 f. 14 Renate Bridenthal, Germans from Russia. The Political Network of a Double Diaspora, in: The Hei� mat Abroad, 187–218. 15 Handbuch des Deutschtums im Auslande, hg. vom Allgemeinen Deutschen Schulverein zur Erhal� tung des Deutschtums im Auslande, 2. Aufl. Berlin: Dietrich Reimer, 1906, 172; Ernst Hasse, Die Deutschen in Rußland, in: Deutsche Erde 4 (1905), 205–207.

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nicht aber von der Weltpolitik des Kaiserreiches inspiriert war und deren Legitimität in einem jahrhundertelangen Kulturtransfer bestand. Im Fall der von Russland nach Amerika wandernden Deutschen waren es mindestens drei Kulturen, zwischen denen Identitäten geformt und beibehalten wurden – ein besonders anschauliches Exempel für die eigenständigen Qualitäten des weltweiten Netzes deutscher Auswandererkulturen, eigenständig nicht nur in der je verschiedenen Prägung des Alltags, vielmehr auch in der Wirkung auf die andere Kultur. Wie oft festgestellt, stand diese Lebensform mit ihren Mehrfachidentitäten der Auffassung reichsdeutscher Bürgerschichten zunehmend fern, die eine unvermischte nationale Identität anstrebten. Was man im Reich sah, war die Gewohnheit jener Deutschen, deutsche Schulen zu unterstützen, deutsche Lieder zu singen und deutsche Weihnachten zu feiern. Die anderen Gewohnheiten und Alltagsidentitäten dieser Auswanderergruppen entgingen dem Blick. Ihr Auslandsdeutschtum war ein irgendwie vermindertes Deutschtum. Nur als Kaufleute, die dem Reich nützlich werden konnten, erregten sie wirkliches Interesse. Da wurde auch zugestanden, dass ein wichtiger Teil der Vermittler im internationalen Geschäft deutschsprachige Juden waren. Als mit der Diskussion über Kolonien, Weltmacht und Schlachtflotte tatsächlich nationale Stützpunkte in der Welt gesucht wurden, setzte man auf deren Affinität zum Deutschtum und die Verwendung der deutschen, häufig auch jiddischen Sprache. Vereinsgründungen, in denen man diesem Interesse an deutschen Stützpunkten in anderen Ländern Ausdruck geben konnte, nahmen in den Jahren vor dem Krieg gewaltig zu.16 Auch hier sprach man von deutschen Kolonien, verstand unter dem Begriff jedoch eine wesentlich profitablere Form des Ausgreifens in die Welt als bei der politisch-militärischen Verwaltung der Reichskolonien vorwiegend im tropischen Afrika, die Prestige verschafften, der deutschen Wirtschaft aber wenig einbrachten. Ließ sich angesichts dieser Entwicklungen ‚draußen‘ noch von derselben Kulturauffassung sprechen, die im Bürgertum fest mit klassischer Literatur und Musik assoziiert war, mit Lebensformen sozialer Respektabilität und nationalem Stolz? War sie noch verbunden mit den übernationalen Gewissheiten universaler Humanität, die der deutschen Kultur spätestens seit Lessing und Schiller Geltung in der Welt verschafft hatten? Solche Fragen ließen sich nicht mehr eindeutig beantworten, wenn sich die Reichsorientierung dazwischenschob, abgesehen davon, dass sie vielen Auswanderern kaum den Alltag erhellten. Sie gewannen mehr Gewicht, wenn sie auf die Juden zielten, die sich mit ihrer 16 Siehe die eindrucksvolle Aufarbeitung der Auslandsvereine bei Kloosterhuis, „Friedliche Imperiali�� s� ten“.

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Erziehung und Lektüre zur deutschen Kultur bekannten und auch wirtschaftlich an Reich und Habsburgermonarchie ausrichteten, ohne ihnen politisch verpflichtet zu sein.17 In ihrer Verbürgerlichung wirkten Juden, ob sie nun innerhalb oder außerhalb dieser Länder lebten, als besonders aufmerksame und unbeirrte Verwalter des von der Aufklärung inspirierten Denkens einer menschheitsverbindenden ästhetisch-philosophischen Kultur. Ihren Aspirationen, zwischen den verschiedenen weltlichen Regimen einen Weg zu finden, der sie, ohne ihr Erbe aufzugeben, zu einer modernen Daseinsgewissheit führte, kam dieses universalistische Denken in seinen spezifischen sprachlichen Formen am ehesten entgegen. In ihrem Falle legte die Reichsgründung, auch wenn sie reichsdeutschen Juden rechtliche Gleichstellung verschaffte, in ihrer Identifizierung mit deutscher Kultur Stolpersteine in den Weg, die bald zu wirklichen Hindernissen anwuchsen. Andere Beispiele lassen sich unter den zugewanderten Deutschen in Amerika ebenso wie in Russland finden, wo viele sich der Erziehung und dem Aufbau der Universitäten widmeten und eine auf der deutschen Klassik beruhende, in Russland besonders mit Schiller werbende Erziehungsideologie verbreiteten. Solche von deutscher Wissenschaftspraxis und Klassikpflege geprägten Lebensformen dürften für die Verallgemeinerungen verantwortlich sein, mit denen der Historiker und Pädagoge Friedrich Paulsen in der Einleitung zu dem 1904 zum ersten Mal erschienenen Handbuch des Deutschtums im Auslande die kulturelle Statur der in die Welt verstreuten Deutschsprechenden schmück­te. Im Einzelnen waren seine Feststellungen von deren „Menschheitsaufgabe“ und ihrem Beitrag zur Völkerverständigung im Sinne des Denkens um 1900 durchaus ‚idealistisch‘ gemeint, das heißt mit Wunschdenken vermischt; dennoch bezeugt sein Aufsatz in diesem ersten großen Band der Aufarbeitung dieses „Deutschtums“, dass in dieser Zeit die Macht deutscher Kultur nicht unbedingt mit der Macht des Deutschen Reiches verwechselt wurde. Zu einer Zeit, da der Allgemeine Deutsche Schulverein die Perspektive auf die deutschen Migranten in nationalpolitischen Kategorien zu fassen begann, beschwor Paulsen die Verankerung deutscher Kultur im klassischen Humanismus mit den Worten: „Wer für die Erhaltung und Ausbreitung der deutschen Sprache arbeitet, der steht mit seiner Arbeit zugleich im Dienst der Menschheit: das nationale Interesse ist zugleich ein Menschheitsinteresse.“ Er leitete daraus die beste Vorbedingung für 17 Den Zusammenhang zwischen der Verbreitung der deutschen Sprache unter dem von Paris bis Wla� diwostok „Handel treibenden Judentum“ und dem Export deutscher Waren betont Hans Amrhein, Die politische Bedeutung der deutschen Sprache, in: Das Deutschtum im Ausland, H.  2 (1909), 56–64; vgl. die Bestandsaufnahme des Zionisten Davis Trietsch, der das Jiddische dem Deutschen zurechnet, in seinem Aufsatz Das deutschsprachige Judentum im Ausland, in: Das Deutschtum im Ausland, H. 6 (1910), 274–279.

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den „Einklang zwischen den Pflichten [deutscher Siedler] gegen das politische Gemeinwesen, dem sie angehören, und gegen ihre deutsche Nationalität“ her. Ideale Gesinnung aber hieß nicht Naivität. Paulsen fügte die Feststellung hinzu, dass dieser Einklang infolge der Gründung des deutschen Nationalstaates schwieriger geworden sei, insofern „Argwohn und Feindschaft der Nachbarnationen hervorgerufen“ wurden: „So lange Deutschland nur ein geographischer Begriff, nicht eine politische Macht war, wurde das Deutschtum draußen als politisch neutral und ungefährlich ertragen. Jetzt wird es vielfach, vor allem im Osten, als ein Aggressives und Bedrohliches empfunden. Bei Russen und Polen, Magyaren und Tschechen, überall erhebt sich das lebhafter gewordene Nationalgefühl gegen das Deutschtum, in dem es eine Gefahr, in dessen Geltung es eine Demütigung sieht.“18 Paulsens Hinweis, dass die Gründungsdevise des Allgemeinen Deutschen Schulvereins „Deutsche Bildung – Menschheitsbildung“ laute, entsprach der erzieherischen Devise deutscher Schulen im In- und Ausland und fand besonders bei den deutschsprachigen Juden großen Widerhall (die eine zentrale Stütze deutscher Schulen im Ausland darstellten). Wie lange das Denken, das dahinterstand, allerdings dem nationalistischen Druck alldeutscher Propaganda im Namen der deutschen Sprache und Kultur widerstehen konnte, wollte Paulsen nicht diskutieren. Seine Vorbilder waren Amerika und die Schweiz, die erkennen ließen, „dass die polyphone Kultur die kräftigere und reichere sei.“ Der Deutsche Schulverein solle die Deutschen im Reich ermutigen, die Deutschen im Ausland dabei zu unterstützen, ihre kulturelle Identität zu bewahren, den anderen Nationen zu zeigen, dass sie sich damit nicht gegen sie wendeten, sondern „der Erhaltung höchster Kulturgüter dienen wollen, die allen Völkern gemein sind.“19 Allerdings blieb es dabei doch zumeist bei der Bewahrung der eigenen kulturellen Identität, ohne wirklich die Tür zu den anderen Kulturen zu öffnen. Paulsens Ermahnungen standen an prominenter Stelle, im Handbuch des Deutschtums im Auslande, einem Werk, das man wohl als repräsentativ für die halb engagierte, halb distanzierte Einstellung selbst der einschlägigen Organisationen im Reich anführen kann: eine fast 600 Seiten starke Aufarbeitung der außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Personen, die man dem deutschen Kulturkreis, zumindest der deutschen Sprache zurechnen konnte. „Handbuch“ hieß, man zählte, reihte auf, ordnete, summierte, kategorisierte, was sich unter dem Terminus „Deutschtum“ im Ausland entdecken ließ, wobei die Unterscheidung zwischen Reichsdeutschen und „den anderen“ eine Rolle spielte, die 18 Friedrich Paulsen, Einleitung, in: Handbuch des Deutschtums im Auslande, XXIII. 19 Ebd., XXIV.

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„Auslandsdeutsche“ zu nennen bereits den nationalisierenden Zugriff signalisierte, der dem, was sich in jenem Netz über Jahrhunderte entwickelt hatte, aus der Perspektive der Betroffenen nicht gerecht werden konnte. Zwar war man auf den deutschen Sprachinseln dankbar für die neue Aufmerksamkeit, kaum aber dafür, dass sie ohne die nationale Hierarchisierung nicht zu haben war. Zudem ließ das Handbuch eine kritische Erörterung des Sprachkriteriums aus, was bedeutete, dass es, ohne die weite Verbreitung des Deutschen unter ausländischen Juden und als Lingua franca in Osteuropa zu beachten, die nicht unbedingt nationale oder ethnische Zugehörigkeit signalisierte, nur unvollständigen Einblick in die tatsächliche Verbreitung des Deutschen und die jeweils selbst gewählte Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis zuließ. Damit geriet der statistisch-wissenschaftliche Diskurs, mit dem man das Phänomen des Auslandsdeutschtums aus der unmittelbar politischen Verantwortung des Reiches herauszuhalten suchte, schließlich doch in den Sog nationaler Zugzwänge, die aus der Reichsgründung resultierten und nach 1900 außenpolitisch zurückschlugen. Paulsen vermied es, diesen Sog genauer zu charakterisieren, gab jedoch Hinweise darauf, dass er eine bedauerliche Eskalierung nationaler Emotionen auf beiden Seiten zur Folge hatte, bei den Deutschsprechenden ebenso wie bei den anderen Nationalitäten. Die Litanei war bei allen gleich: Jeder nahm für sich in Anspruch, seine Sprache und Kultur verteidigen zu müssen. Im multinationalen Habsburgerreich lebte eine zunehmende Anzahl von ethnischen Berufsfunktionären davon, und die Aktivitäten der einschlägigen Organisationen begannen, das innenpolitische Klima zu bestimmen.20 Auf deutscher Seite gab die Umwandlung des 1881 gegründeten Allgemeinen Deutschen Schulvereins zum Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) im Jahre 1908 der Intensivierung dieses Kampfes insofern Ausdruck, als man den Schritt von der Verteidigung der deutschen Sprache zur Verteidigung des Deutschtums auch organisatorisch manifestieren wollte. Während die 1902 gegründete Zeitschrift Deutsche Erde dem statistisch-wissenschaftlichen Diskurs erste umfassende Materialien über die Vielfalt der deutschen Auswandererkulturen lieferte, ging man mit der Veröffentlichung der Vereinszeitschrift Das Deutschtum im Ausland ab 1908 daran, diese Kulturen aus der Beobachterperspektive des Reiches sichtbar zu machen und zu unterstützen. Die Würdigung der deutschen Auswandererkulturen vonseiten des Reiches hatte einen hohen Preis: Die kulturellen Verflechtungen und Konfrontationen, die am jeweiligen Ort verschiedene Bedeutung besaßen, erhielten ihren Stellenwert in einem Kontext, der von außen, dem Reich, reguliert wurde. Die de20 Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria. Cambridge: Harvard University Press, 2006.

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zentralisierte Vielfalt deutschsprachiger Auswandererkulturen, deren gegenseitige Resonanzen einem älteren, praktischeren Kulturbegriff ihre Elastizität verdankten, wurde nun zu einem Netz zusammengezogen, das sich zunehmend auf das Reich orientierte. Dieser Orientierung leistete das Reich 1913 mit dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Vorschub, indem es das von Bismarck verfolgte Territorialprinzip der Staatsangehörigkeit weitgehend außer Kraft setzte und mit der Anerkennung blutsmäßiger Abstammung ein Staatsangehörigkeitsprinzip legalisierte, das deutschen Siedlern jenseits der Grenzen offenstand, insofern sie ihre Kultur bewahrt hatten. Mit solcherart offengelassener Reichszugehörigkeit brachte man Bewegung in das Netz, insofern deutsche Identität im Hinblick auf einen Kern und eine (anderssprachige) Peripherie verwaltbar gemacht wurde, das heißt, dass die Mehrfachidentität, die über Jahrhunderte hinweg deutsche Sprache und Kultur unter deutschen und anderen Herrschern in aller Welt attraktiv und flexibel erhalten hatte, ihren Status einbüßte. In der Essenzialisierung des Nationalen lagen die Antriebe für eine Abwertung von Mischloyalitäten, mehrkulturellen Existenzen, Mehrfachidentitäten. Hier zeigte sich die harte Zielrichtung des Gesetzes: die Abwehr „östlicher Einwanderer und Angehöriger dänischer Nationalität“. In einem Moment, da das Deutsche Reich wider Willen von einem Auswanderer- zu einem Einwandererland wurde, wollte man „mit einer administrativen Entscheidung gegen ein integratives Staatsangehörigkeitskonzept“ einen Damm aufrichten.21 Dass damit viel Unglück heraufbeschworen wurde, ist reich dokumentiert. Zugleich sollte aber nicht übersehen werden, dass eine solche Essenzialisierung des Nationalen eher symbolische als praktische Erfolge zu zeitigen vermochte, insofern das Reich gerade zu dieser Zeit als Folge der Industrialisierung und Modernisierung auf größte Mobilität ausgedehnter Bevölkerungsgruppen angewiesen war. Es beherbergte weit über eine Million ausländischer Arbeitskräfte, sah mehr als fünf Millionen Transitwanderer aus Osteuropa, zählte selbst knapp drei Millionen Auswanderer und über elf Millionen Binnenwanderer.22 Das setzte der politischen und kulturellen Homogenisierung klare Grenzen, lieferte jedoch auch Begründungen für die wachsende Bedeutung völkischer Abwehrideologien. Gegenüber anderen europäischen Migrantenkulturen des 19. Jahrhunderts, die ebenfalls eine Vielzahl von Verflechtungen schufen, stellt die deutsche Ent21 Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, 294. 22 Thomas Mergel, Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft, in: Das Deutsche Kaiserreich in der Kon� troverse, hg. von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 374–391, hier 388.

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wicklung keine Ausnahme dar. Selbst in der Größe und Ausdehnung hatte sie ihresgleichen: Die italienischen Migranten überschwemmten Nachbarländer und vor allem Nord- und Südamerika am Ende des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1876 und 1885 bewarb sich eine Million Italiener um die Emigration, in der folgenden Dekade waren es schon zwei, und zwischen 1896 und 1905 schnellte die Zahl auf über vier Millionen hoch.23 Wenn es einen von Zeitgenossen häufiger kommentierten Unterschied gab, so war es die Tatsache, dass sich der italienische Staat viel eher und viel intensiver als der deutsche Staat darum kümmerte, die Auswanderer in der Nation zu halten. Es ist bereits erwähnt worden, wie früh man damit begann, mit der 1889 gegründeten Società Dante Alighieri von staatlicher Seite her den italienischen Auswanderern über Sprach- und Kulturpflege, insbesondere Auslandsschulen, ein Nationalitätsbewusstsein zu vermitteln, das die Etikettierung dieser Sprachinseln als ‚Diaspora‘ rechtfertigt. Was einer genaueren Diskussion bedürfte, wäre die Frage, inwiefern dieser von Donna Gabaccia in Italy’s Many Diasporas gebrauchte Begriff für die deutschen Auswandererkulturen ebenso anwendbar ist, insofern er die ebenfalls stark von Regionalbewusstsein geprägten italienischen Migranten- als Minderheitskulturen – „Little Italies“ – in einer von der Nation abgelösten, aber auf sie orientierten Situation kennzeichnet. Gegenüber der versteinerten Etikettierung der deutschen Enklaven und Subkulturen unter den Aspekten der völkischen, später nationalsozialistischen Bewegung ist diese Diskussion befreiend, insofern sie den Blick auf die Vielfalt der Migrantenkulturen vor 1914 öffnet.24 Für die Zwischenkriegszeit, als Mussolinis faschistisches Regime die Nationalisierung der großen Anzahl an Italienern in aller Welt verstärkte, beriefen sich die Verantwortlichen in Deutschland häufig auf dieses Modell von Auslandskulturpolitik.

Kolonialismus und Westorientierung Mit der Reichsgründung 1871 in die Arena der Nationalstaaten eingetreten, oder besser: einmarschiert zu sein, hieß für das Deutsche Reich mit Berlin als 23 Donna R. Gabaccia, Italy’s Many Diasporas. Seattle: University of Washington Press, 2000, 58; vgl. Matthew Frye Jacobson, Special Sorrows. The Diasporic Imagination of Irish, Polish, and Jewish Im� migrants in the United States. Cambridge: Harvard University Press, 1995. 24 Dirk Hoerder, The German-Language Diasporas: A Survey, Critique, and Interpretation, in: Dias� pora 11:1 (2002), 7–44; Rainer Ohliger und Rainer Münz, Minorities into Migrants. Making and Un-Making Central and Eastern Europe’s Ethnic German Diasporas, in: ebd., 45–83; Clarissa Clò und Teresa Fiore, Unlikely Connections. Italy’s Cultural Formations Between Home and the Dias� pora, in: Diaspora 10:3 (2001), 415–441.

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Hauptstadt, dass nun, gewollt oder nicht, die metropolitanen Lebensformen, die sich in London und Paris herausgebildet hatten, zur Definition der nationalen Kultur herangezogen wurden, wenn vom Reich als Akteur auf der Bühne der Weltmächte die Rede war. Einmal in dieser Arena engagiert, versicherte man sich beim Wort ‚deutsche Kultur‘ nicht mehr notwendigerweise der Referenz auf die Universalien der Weimarer Klassik und die von ihr vorgezeichnete Erziehung zur gebildeten Individualität. Hatten sich die deutschsprachigen Bildungsschichten Europas, wenn sie Kultur als Träger einer über Politik und Macht hinausreichenden Menschheitsmission definierten, zumeist auf Dichter, Denker und Musiker bezogen, mit deren Kult sie zugleich ihren sozialen Status befestigten, so gewann dieser Begriff, insofern er Internationalität signalisierte, nun aus sehr konkreten politischen Konstellationen seine Signifikanz. So wurde im Osten, wo die Willkür nationaler Grenzziehungen offensichtlich war und keine irgendwie moralisch klingende Idee die nun etablierten Grenzen rechtfertigte, dem Begriff der Kultur besonders viel Legitimierungslast aufgeladen. Den breit und vage beschworenen Gegensatz von Germanen und Slawen, für den später ethnische und schließlich rassische Argumente ins Feld geführt wurden, verpackte man mit einem ebenso breit und vage definierten Begriff von Kultur, erfand sogar unter Berufung auf Ostwanderungen im Mittelalter eine Mission der Deutschen als Kulturträger und Kulturbringer. Darin steckte einerseits der traditionelle Begriff von Kultivierung des Landes mit fortgeschrittenen Techniken, andererseits die Behauptung von Höhe und Überlegenheit geistig-kultureller Leistungen, die man gegenüber ‚dem Osten‘ als besonders herausragend empfand. Damit sind bereits die Umrisse der Denkformen angedeutet, die die Bismarck’sche Gründung Kleindeutschlands für die Reichsdeutschen zur Folge hatte, wenn sie den Begriff deutscher Kultur nun in der Relation zu diesem Staat definieren, erhöhen und als Identitätsträger im Wettbewerb mit anderen Nationen zwischen West und Ost einsetzen wollten. Diese Denkformen erhielten von dem gewaltigen industriellen und wissenschaftlichen Aufschwung, vor allem der Steigerung der deutschen Präsenz im Welthandel in den Folgejahrzehnten, eine Dynamik, die ab Ende der 1890er-Jahre mit der Verinnerlichung der Weltmachtambitionen auch im Individuellen eine Haltungsänderung anzeigte. Über die ‚Anmaßung‘ des Reiches, deutsche Kultur als Loyalitätsbeschaffung neu zu codieren, entbrannte ein heftiger Meinungsstreit. Diese Loyalitäts- und Legitimitätsbeschaffung unterschied sich von den geläufigen Anschauungen deutscher Kultur darin, dass sie sich einem Prestigebegriff zuordnete, der sich zwar innerhalb der europäischen Hochkultur definierte, aber nach 1880 seine Konturen in der Wechselwirkung mit den westlichen Kolonialreichen gewann. Die Kolonialmächte demonstrierten ihre Weltgeltung bei-

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spielhaft im Verhältnis von Metropole und Peripherie. Anders als London, Sankt Petersburg und Wien aber beherrschte Berlin kein Imperium, aus dessen Peripherien die inneren Fernwirkungen stammten, die der Metropole ihren besonderen Glanz verschafften. An der erwähnten Gewerbeausstellung 1896 in Berlin-Treptow, die eine erste ausführliche Begegnung mit den Menschen, Erzeugnissen und Handelsmöglichkeiten deutscher Kolonien einschloss, lässt sich ablesen, wie wenig dies vom Publikum als Peripherie und wie stark als Exotikum eingeordnet wurde, als eine Art Realisierung der „Phantasiereiche“ des deutschen Kolonialismus.25 Entscheidend aber war, dass diese den Weltausstellungen nachempfundene Veranstaltung, die über sieben Millionen Besucher, den Kaiser eingeschlossen, anlockte, das Reich tatsächlich zu den westlichen Kolonialmächten aufrücken zu lassen versprach und mit den Initiativen des deutschen Außenhandels eine legitime Verankerung in der fernen Welt geschaffen hatte. Im Jahrzehnt zuvor hatte Bismarck gegen seine Devise verstoßen, sich nicht mit Kolonien zu belasten. Unter dem Druck des Exporthandels und dem Prestigeverlangen nationaler bürgerlicher Kreise hatte er eingewilligt, von der informellen Kolonisierung überseeischer Handelsstützpunkte zur politischen Kolonialverwaltung durch das Reich überzugehen. Eindringlich hatten Großbritannien und Frankreich ihr Weltmachtprofil in einer in Europa breit popularisierten Literatur konsolidiert; lange hatten sich die deutschen Kolonialfantasien an diesen Ländern orientiert.26 Nachdem man versäumt hatte, dem Reich bei der Gründung eine Mission außer der der nationalen Einigung mitzugeben, die die bürgerliche Jugend zu inspirieren vermochte, bemühten sich Offizielle und nationalbewusste Lehrer darum, mit der Kolonialliteratur und ihrer Berufung auf die zivilisatorische Mission des weißen Mannes die Machtfantasien der Jugend zu füttern. Von der Expansion der deutschen Außenhandelswirtschaft nur indirekt berührt, entstand unter dem Vorzeichen eines neuen Abenteuertums eine Diskursebene, auf der das Engagement der Deutschen in der 25 Alexander Honold, Ausstellung des Fremden – Menschen- und Völkerschau um 1900, in: Das Kai� serreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, hg. von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, 170–190; Nana Badenberg, Zwischen Kairo und Alt-Berlin. Sommer 1896: Die deutschen Kolonien als Ware und Werbung auf der Ge� werbe-Ausstellung in Treptow, in: Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, hg. von Alexander Honold und Klaus R. Scherpe. Stuttgart/Berlin: Metzler, 2004, 190–199; Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, hg. von Birthe Kundrus. Frankfurt/New York: Campus, 2003. 26 Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870). Berlin: Schmidt, 1999; Bradley Naranch, Inventing the Auslandsdeutsche. Emigration, Colonial Fantasy, and German National Identity, 1848–71, in: Germany’s Colonial Pasts, hg. von Eric Ames, Marcia Klotz und Lora Wildenthal. Lincoln/London: University of Nebraska Press, 2005, 21–40.

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Welt nicht mehr nur über von der Not bedingte Auswandererfantasien im Alltag verankert werden konnte. Zu der von Wilhelm II. dann hektisch propagierten Weltmachtpolitik lieferte der Kolonialdiskurs eine Art volkserzieherischen Unterbau, dessen Sinn darin bestand, die außereuropäische Welt als Handlungsraum des ‚neuen‘ Deutschen zu installieren, auch wenn die Helden sich zumeist (noch) aus anderen Nationalitäten speisten. Ohnehin manifestierte sich im politisch und literarisch verbrämten Paradigma vom Aufholen und Anteilgewinnen die eigentlich ‚deutsche‘ Variante in der Begegnung mit dem Fremden, eine Verinnerlichung der Handlungsappelle der Reichsgründung in Auseinandersetzung mit den ‚älteren‘ Weltmächten, die man dank modernerer Techniken, kühnerer Taten and stärkerem Willen zu überflügeln gedachte.27 Diese Rückversicherung an der eigenen Modernität bei gleichzeitiger Anerkennung der Verspätung verlor in der breiten Bevölkerung allerdings bereits um 1900 an Ausstrahlungskraft, zumal sich die Verwaltung der Kolonien in Kompetenzrangeleien und Konzeptionslosigkeit aufrieb. Während man um die Jahrhundertwende bereits von Kolonialmüdigkeit sprach, fand die wirksamste Eingliederung des Kolonialinteresses in den Bereichen der Werbung und der Wissenschaften statt, sieht man von den Anregungen ab, die Künstler und Schriftsteller vom Exotismus im Hinblick auf eine modernistische Herausforderung an das etablierte Kunstdenken bezogen.28 Wurde der kaum profitable Kolonialerwerb auch von Bismarck und selbst Wilhelm II. bespöttelt, entsprach er doch den Zugzwängen des neuen Nationalstaates, die es mit sich brachten, dass der Prestigeerfolg im Gleichziehen mit anderen Nationalstaaten über ökonomische Eigeninteressen triumphieren konnte. Erfolg bedeutete hierbei eine weitere Aufwertung Berlins in der Rolle der Reichshauptstadt – übertragen gesagt, eine Ausweitung der metropolitanen Kultur, mit der die Stadt eines Tages Weltstadt werden konnte. Und Erfolg lag darin, dass nun auch das Deutsche Reich an der westlichen Kulturmission in den Peripherien der Welt beteiligt war, obgleich es von den dort ausgetragenen Stellvertreterkämpfen politisch nicht profitierte. Vom Burenkrieg überschattet, lieferten die mit einer Brutalität sondergleichen durchgeführten militärischen Strafaktionen gegen die Eingeborenen in Ost- und Südwestafrika nur eine bestürzende Verabsolutierung rein militärischen Denkens. In der Praxis zeigte die geringe Bereitschaft von Deutschen, der Aufforderung nach Ansiedlung in den Kolonien zu folgen, dass das Missionsgefühl vor allem in der Fantasiewelt 27 Ein großer Überblick in: Mit Deutschland um die Welt. 28 Zur allgemeinen Diskussion: Birthe Kundrus, Von der Peripherie zum Zentrum. Zur Bedeutung des Kolonialismus für das Deutsche Kaiserreich, in: Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, hg. von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 359–373.

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des Bürgertums zu Hause war. Die Zugkraft der Kultivierung fremden Bodens, die Millionen deutschsprachiger Auswanderer noch bis in die frühen 1890erJahre den Atlantik überqueren ließ, übertrug sich kaum auf die Werbung für die Kolonien. Nur im Falle Deutschsüdwestafrikas entwickelte sich eine gewisse Dynamik; hier fand das Konzept deutscher Kultur als Kultivierung, für das der Begriff der Kolonisierung seine eigene Bedeutung gewonnen hatte, tatsächlich in einer Kolonie Gestalt. Was den politisch relevanten Kolonialdiskurs in Presse und Regierung an­ betraf, der sich vom internen wissenschaftlichen Fachdiskurs der Kolonial­ kongresse unterschied,29 folgte er in der Herstellung seiner Leitlinien im Wesentlichen englischen und französischen Modellen.30 Unbestritten gab Groß­britannien mit seinem souveränen, die Rassendifferenzen klar markierenden Herrschaftsstil den Ton an. Frankreich legitimierte seinen Imperialismus mit der mission civilisatrice, in der die Kulturvölker unter seiner Führung die anderen Rassen zu der neuen, aufgeklärten Weltordnung emporführten. Für die Erziehung der Eingeborenen Ostafrikas konnten sich die Deutschen nicht auf Schillers ästhetische Erziehung oder andere Marksteine deutscher Kultur berufen. Ihre Inspiration bezogen sie von der französischen Berufung auf Kultur und Wissenschaft als Kern der kolonialen Mission.31 Das Bewusstsein der Tatsache, dass sich die Formen nationalen Aufstieges an den seit Langem von Großbritannien und Frankreich geprägten metropolitanen Haltungen messen lassen mussten, brachten allerdings auch gewaltige Widersprüchlichkeiten und Verdruss mit sich. Zwar gewährte die Berufung auf deutsche Wissenschaft, Philosophie und Musik einen Resonanzraum für Gleichgesinnte in anderen Ländern, aber man gewann damit nur selten besondere Aufmerksamkeit unter Politikern, Diplomaten und Kaufleuten. Zudem ließen die unter deutschen Bürgern und Adligen gepflegten Umgangsformen die Weltläufigkeit, die man für die Kontakte jenseits der Grenzen als notwendig erachtete, zumeist vermissen, ganz zu schweigen vom Fehlen ‚kolonialer‘ Umgangsformen gegenüber unterworfenen ‚Naturvölkern‘. Großbritannien, an dem die deutschen Eliten zunehmend den Aufstieg des Kaiserreichs als Industrie‑, Kolonial- und Seemacht maßen, lieferte die Umgangsformen, die den Angehörigen einer Welt29 Stephan Besser, Die Herstellung des kolonialen Wissens: 10. Oktober 1902: In Berlin tagt der erste Deutsche Kolonialkongreß, in: Mit Deutschland um die Welt, 271–278. 30 Russell A. Berman, Der ewige Zweite. Deutschlands Sekundärkolonialismus, in: Phantasiereiche, 19–32. 31 Vgl. Science across the European Empires, 1800–1850, hg. von Benedict Stuchtey. Oxford: Oxford University Press, 2005, darin insbes. Lothar Burchardt, The School of Oriental Languages at the University of Berlin – Forging the Cadres of German Imperialism?, 63–105, und Patrick Petitjean, France and the Colonial Enterprise, 106–128.

Kolonialismus und Westorientierung  |

macht anstanden.32 Und gerade Großbritannien, dessen imperiales Benehmen man mit Neid verinnerlicht hatte, erwies sich als schärfster Kritiker der deutschen Bemühungen um eine gleichwertige imperiale Haltung. Die Logik, dass gerade Briten die deutschen Bemühungen um imperiale Lebensformen am klarsten durchschauten, fachte nicht nur in Wilhelm II., der sich in seiner Jugend als „halber Engländer“ gefühlt hatte, eine scharfe Anglophobie an; in weiten Kreisen erwuchs ein von Hassliebe gekennzeichnetes Verhältnis zu der Großmacht jenseits des Kanals. Kulturelle Minderwertigkeitsgefühle wurden mit militärisch polierter Arroganz kompensiert, deren Basis das studentische Couleurwesen darstellte. Wer höher griff, setzte auf die Hoffnung, unter Deutschen einen Menschentypus zu kreieren, der dem bewunderten englischen Gentleman an gesellschaftlicher Haltung nahekam, ihn aber dank größerer Dynamik und stärkerem Machtwillen überflügeln würde. Angesichts der englischen Aufmerksamkeit für Umgangsformen wuchs die Bereitschaft, die Militarisierung des Alltagsverhaltens in Deutschland als nationale Ausdrucksform zu sanktionieren. Die negativsten Ausprägungen dieser Verhaltensformen manifestierten sich dann im Ersten Weltkrieg, von Kritikern wie Max Scheler und Max Weber als ein Schlüssel zu den Irrungen und Wirrungen der Nation herausgestellt. Schelers Verurteilung des korpsstudentischen Ideals der „‚Schneidigkeit‘ in der Künstlichkeit und Gemachtheit seiner ganzen Erscheinung“33 korrespondierte mit Webers scharfer Analyse des deutschen „Couleurmenschen“ und „satisfaktionsfähigen Prüfungsdiplommenschen“, dessen „Parvenüzüge“ das deutsche Vorhaben, „‚Moralische Eroberungen‘ bei Feinden, d. h. Interessengegnern zu machen“, als „eitles, von Bismarck mit Recht verspottetes Treiben“ bloßstellten.34 Weber argumentierte, dass die Parvenümanieren schlimm genug gegenüber den Feinden seien, noch schlimmer aber gegenüber den wenigen Freunden und Bundesgenossen, insbesondere den Österreichern. Er konstatierte eine Zunahme dieses Verhaltens, das 1917 mit der unverhüllten Arroganz der Obersten Heeresleitung unter Ludendorff gegenüber dem Bundesgenossen tatsächlich zu einem internen Abrücken der Habsburgermonarchie unter dem 32 Jürgen Osterhammel, Gentleman-Kapitalismus und Gentleman-Charakter. Eine neue Gesamtdeu� tung des britischen Imperiums, in: Neue Politische Literatur 39 (1994), 5–13; ders., Die Verwand� lung der Welt, 1173–1228; Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. München: Beck, 2006. 33 Max Scheler, Die Ursachen des Deutschenhasses. Eine nationalpädagogische Erörterung, 2.  Aufl. Leipzig: Der Neue Geist-Verlag, 1917, 80. 34 Max Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in: ders., Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Gangolf Hübinger (Gesamt� ausgabe Bd. 15). Tübingen: Mohr, 1984, 347–396, hier 385–389.

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neuen Kaiser Karl führte. Norbert Elias, der nach England emigrierte Soziologe, hat später diese Ausrichtung an der „militärisch-aristokratischen Schicht“ Preußens für seine Studien der Deutschen als „satisfaktionsfähiger Gesellschaft“ zur Grundlage gemacht.35 Allerdings verführte die Assoziation mit der Macht, zumal im Nachhall des Ersten Weltkrieges und angesichts des katastrophalen Militarismus der Nationalsozialisten, auch dazu, diesen Habitus für den Aufstieg dieser Gesellschaft im Kontext von Industrialisierung und kapitalistischem Imperialismus zu überzeichnen. Im Habitus der Satisfaktionsfähigkeit kulminierte sichtbar der Wille zur Machtentfaltung, aber er deckte sich nicht unbedingt mit den Transformationen und Antrieben, die Deutschland in dieser Periode zu einer führenden Wirtschafts- und Kulturmacht aufsteigen ließ. Wie weit die habituellen Veränderungen mit dem Drang zu moderner Lebensgestaltung unter Ausrichtung an England (und Amerika) Anfang des 20. Jahrhunderts gediehen waren, hielt der französische Journalist Jules Huret, der für den Pariser Figaro schrieb und ausgedehnte Reisen vom Rheinland über Hamburg, Berlin, die „polnischen Ostmarken“ und Sachsen bis nach Süddeutschland unternahm, in seinen soziologisch genauen Beschreibungen der Deutschen fest. Mit seinen auch in Deutschland erschienenen Reisereportagen suchte er die Frage zu beantworten, die „jeden aufgeklärten Franzosen aufs leidenschaftlichste interessieren muß“: „Wie hat dieses arme Volk, das noch vor fünfzig Jahren aus kleinen Ladenbesitzern, Beamten, knickrigen Bauern und elenden Krautjunkern bestand, es vermocht, sich in so kurzer Zeit dazu aufzuschwingen, Frankreich auf wirtschaftlichem Gebiet und in absehbarer Zeit auch die hochmütigen Engländer in ihren bisher unbestrittenen Monopolen zu besiegen?“36 Huret knüpfte nicht an den ausgedehnten Analysen an, mit denen seine Landsleute in den vorhergehenden Jahrzehnten deutscher Wissenschaftsund Industrieorganisation Tribut gezollt hatten. Er sprach nicht über die Transformation der Infrastrukturen, sondern über die Transformation des Verhaltens. Wohlinformiert über die Dynamik der Prussifizierung und ohne Illusionen über deren abstoßende Seiten – Machtanmaßung, menschliche Kälte, militärisches Gebaren –, bemühte er sich in seinen Alltagsbeobachtungen darum, über die Klischees hinauszugehen und die tatsächlich wirksamen Haltungsformen beim Namen zu nennen. Anders als die meisten ausländischen Beobachter, die von den autoritären Manifestationen feudaler Eliten auf die Geschäftsformen der Industriegesellschaft zurückschlossen, sah er den Schlüs35 Norbert Elias, Die satisfaktionsfähige Gesellschaft, in: ders., Studien über die Deutschen. Macht� kämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Schröter, Frankfurt: Suhrkamp, 1989, 61–158. 36 Jules Huret, In Deutschland. II. Teil: Von Hamburg bis zu den polnischen Ostmarken, übers. von E. v. Kraatz. Leipzig/Berlin/Paris: Grethlein, 1908, 223.

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sel zu dem Erfolg der Deutschen in der erstaunlichen, dem Franzosen unheimlichen Anpassungsfähigkeit des Wirtschaftsbürgertums (wobei er die jüdische Komponente nannte, aber nicht eigens herausstellte). Diese Schichten erwiesen den Aristokraten und Offizieren eine gewiss allzu große Reverenz, kümmerten sich aber vor allem darum, die effektivsten Produktions- und Verkaufsmethoden zu entwickeln, wobei das „Nachahmen amerikanischer Gewohnheiten“ bei der Herstellung von Effizienz und Schnelligkeit eine wichtige Rolle spielte.37 In der Welt von Industrie, Technik und Geschäft dominiere ein moderner Geist, in dem Organisations- und Umgangsformen bewusst zivil und sachlich gehalten würden. Insofern hier der Habitus der Sachlichkeit erkennbar wird, der dann in der Weimarer Republik zu einer kulturellen Leitvorstellung avancierte, ergeben sich wichtige Folgerungen für das Entstehen modernen Verhaltens in dieser Kultur. Sie konnte zur Liberalität führen, sogar zu Demokratie. Aber sie konnte sich auch im autoritären, ja totalitären Staat einrichten.38

Das Verhältnis zum Osten In seiner Bestandsaufnahme des neuen Deutschland versäumte Jules Huret indes nicht, seinen französischen Lesern die wenig attraktive Behandlung der polnischen Minderheit in den preußischen Ostprovinzen seitens der staatlichen Funktionsträger vor Augen zu stellen, ebenso wenig wie die Vorbehalte der Bürger gegen Fremde, insbesondere die osteuropäischen Juden. Er spiegelte damit einen Konsensus darüber, dass das Verhältnis der Deutschen mit den Völkern und Ethnien im östlichen Europa, mit denen sie seit Jahrhunderten eine gemeinsame und vielmals berufene Geschichte besaßen, mit Bismarcks preußischer Reichsgründung eine deutlich negative Wendung genommen hatte. Dass die Prussifizierung deutscher Haltungen mit diesem Verhältnis eng verbunden war, deutete er an, verfolgte es aber in seiner an der Gegenwart orientierten Perspektive nicht weiter. Es resultierte zweifellos aus Wandlungen innerhalb einer entstehenden Industriegesellschaft, deren Spezifik erst volle Antworten auf seine Frage erlaubten, wie es dieses arme Volk von „kleinen Ladenbesitzern, Beamten, knickrigen Bauern und elenden Krautjunkern“ schaffte, sich zum Stand von Frankreich und bald auch Großbritanniens aufzuschwingen. 37 Jules Huret, Berlin. In Deutschland. III. Teil, übers. von Nina Knoblich. München: Langen, o. J, 225. Siehe auch die Neuausgabe: Jules Huret, Berlin um Neunzehnhundert. Berlin: Tasbach, 1997. 38 Frank Trommler, The Creation of a Culture of Sachlichkeit, in: Society, Culture and the State in Germany, 1870–1930, hg. von Geoff Eley. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1996, 465– 485.

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Ein entscheidender Schlüssel zur Beantwortung liegt in der Behandlung der östlichen, zumeist slawischen Völker durch die Deutschen, insbesondere die Preußen, und in diesem Umgang kam der Auseinandersetzung um Kultur und Sprache ein zentraler Platz zu. Hier waren deutsche Kultur und Sprache für das Hegemonialstreben Preußens in einer Form instrumentalisiert worden, bei der man die militant-administrative Ausgrenzung von ‚anderen‘ als Baustein zu einer kulturellen Selbsterziehung betrieb. Ihr zentraler Impuls zielte gegen die traditionelle Verflechtung deutscher Kultur mit anderen Kulturen; dies galt zunehmend als Zeichen der Schwäche. Demgegenüber glaubte man, sich in dieser Ablösung eine neue Haltung der Überlegenheit und Stärke verschaffen zu können. Nachdem die deutsche Nationalbewegung noch bis 1848 in engem Austausch mit der polnischen Nationalbewegung gestanden hatte, die ihr in Organisationsformen und Risikobereitschaft in vielem vorausgegangen war, setzte die militant-administrative Ausgrenzung slawischer, zumeist polnischer Staatsbürger Preußens in der Folgezeit ganz andere politische Markierungen. Die Nähe und Verflochtenheit mit den Polen wurde nun als Störfaktor des preußischen Integrationsstrebens angegriffen und mit einer restriktiven deutschen Schul‑, Verwaltungs- und Sprachpolitik unter den Augen und mit zunehmender Anteilnahme des deutschen Bürgertums zum Kampfgebiet gemacht. Kern dieser Politik bildete die zunehmende Herabsetzung der Polen, ihre Kategorisierung als schwach und faul, dem Lebensgenuss verfallen, kurz, als Gegentypus des Arbeitsmenschen, der seinen Boden, sein Geschäft kraftvoll bestellt. Was der in Schlesien geborene Schriftsteller Gustav Freytag seinem Helden Anton Wohlfahrt in dem 1855 publizierten, bis in die 1930er-Jahre als Bestseller im Bürgertum verbreiteten Roman Soll und Haben in den Mund legte, wurde unendlich oft als Credo des Deutschen als Träger einer nationalkulturellen Mission zitiert: „Welches Geschäft auch mich, den Einzelnen, hierher geführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Cultur einer schwächern Race die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben. Wir und die Slaven, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir: auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust, der Credit. Was die polnischen Gutsbesitzer hier in der Nähe geworden sind – und es sind viele reiche und intelligente Männer darunter – jeder Thaler, den sie ausgeben können, ist ihnen auf die eine oder andere Weise durch deutsche Tüchtigkeit erworben.“39 Als Triumph deutscher Kultur entfaltete sich hier die Herstellung einer nationalen Verhaltensform, die sich von dem noch lange im 19. Jahrhunderts im Ausland gepflegten Stereotyp des langsamen und schwer39 Gustav Freytag, Soll und Haben, Bd. 2, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5. Leipzig: Hirzel, 1896, S. 155.

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fälligen Deutschen abhob. Er war nicht militaristisch, sondern arbeitsbezogen modern, nahm insofern die von Huret beobachtete Ausrichtung an praktischen Zwecken voraus, die das Wirtschaftsbürgertum der Jahrhundertwende im internationalen ökonomischen Wettbewerb so erfolgreich machte. In Freytags Negativfolie besetzten neben den Polen, wenn auch mit anderen Eigenschaften, Juden einen prominenten Platz, am nachdrücklichsten mit der Figur von Veitel Itzig, Anton Wohlfahrts Schulkameraden und Konkurrenten. Natürlich lässt sich mit diesem literarischen Dauererfolg nur eine Umdefinition des Begriffs der deutschen Kultur illustrieren, der sich aus den Universalismen und Verflechtungen löste, welche gerade im östlichen Europa und Russland, zumal bei Juden seit der Aufklärung (Haskala), so viel Resonanz hervorgerufen hatten. Sie gibt nicht die politisch und administrativ mit der Reichsgründung ständig restriktiver werdenden Maßnahmen wieder, die Bismarck mit dem gegen den katholischen Klerus gerichteten Schulaufsichtsgesetz 1872 und dem Verbot der polnischen Sprache an den höheren Schulen zu einem zentralen Bestandteil des Kulturkampfes machte. Dass das allen katholischen Seminaristen auferlegte Examen über deutsche Sprache, Kultur und Geschichte „Kulturexamen“ betitelt wurde, dürfte zur Verbreitung des Begriffs vom Kulturkampf beigetragen haben. Wenngleich sich Bismarck, wie die Lücke in der Reichsverfassung zu erkennen gab, gegen die Legitimierung des deutschen Staates durch Kultur wandte und darauf achtete, die in anderen Ländern lebenden deutschsprachigen Minderheiten nicht in ein reichsdeutsches Kalkül einzubeziehen, hinderte ihn das keineswegs daran, bei seiner Durch­ setzung nationaler Staatlichkeit gerade Kultur und Sprache zum Konstitutions(und Repressions‑)Instrument zu machen. Für die Homogenisierung des Reiches stellten Kultur und Sprache, abgesehen vom Rechts- und Verwaltungssystem, die zunächst sichtbarsten Äußerungsformen dar. Zu ihnen trat dann ab den 1880er-Jahren eine nationale Bodenpolitik, die als innere Kolonisation betrieben wurde, um an die Stelle von polnischen Bauern, teilweise mit rechtswidrigen Mitteln, deutsche Siedler zu setzen.40 Wie stark sich mit diesem Vorgehen der Begriff der deutschen Kultur von den in diesen Regionen tradierten Vorstellungen entfernte, hat am drastischsten der Literaturkritiker Samuel Lublinski 1909 in seiner Analyse der deutschen Bemühungen um die Moderne zusammengefasst: „Wie kommt es, dass die deutsche Kultur in den Grenzprovinzen des Reiches nicht längst durch ihre innere Anziehungskraft, durch ihren geistigen Reichtum und ihre schöpferische Taten das Polentum überwunden und entweder in sich aufgesogen oder zu seinem dankbaren und verehrenden Schüler gemacht hat? Das kommt daher, weil dort drüben in Posen der deut40 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, 211–218.

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sche Gedanke nicht von dem deutschen Kulturmenschen vertreten wird, sondern von Polizeibüttelseelen, von freiwilligen Schutzleuten und ‚patriotischen‘ Faust- und Pöbelnaturen, von Buben mit einem Wort, die von einer Kultur nichts wissen, sondern nur von Gendarmen- und Ausnahmegesetzen und dem wüsten Fuselhass gegen andere Nationalitäten.“41 Bekanntermaßen weckte diese Form kultureller Politik gerade die kulturellnationalen Emanzipationsbedürfnisse der Polen, die sie zu ersticken suchte. Was ihre kolonisierenden Ziele betraf, scheiterten sie an der Ablehnung durch diejenigen bäuerlichen Schichten im Reich, die diese Ansiedlung im Osten hätten bewerkstelligen sollen. Der Wind der Migration wehte in dieser Periode der Industrialisierung von Osten nach Westen, und deutsche Anwohner dieser Gebiete wählten nicht nur wie viele Polen den Weg an die Ruhr, sondern noch weiter, nach Amerika. Allein zwischen 1885 und 1890 gingen über 600.000 Menschen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie nach Westen. Unter den Millionen, die diese „Ostflucht“ über die Jahre hinweg ausmachten, wie diese Migration in Deutschland genannt wurde, nahm man hier vor allem die Slawen wahr, die einerseits in den östlichen Gebieten ‚nachrückten‘, andererseits ins Reich oder weiter westwärts wanderten.42 Die Idee von Kultur als Kultivierung des Bodens gegen die Unkultur östlicher Völker fand nur unter Bürgern wirkliche Resonanz. Einen Eckpfeiler bildete die von Wilhelm Heinrich Riehl 1861 im Buch Die deutsche Arbeit gegen das Vordringen des Sozialismus formulierte, auf Arbeit am Boden, in Gewerbe und Gemeinschaft beruhende Agenda einer bürgerlichen Ethik. Der 1894 gegründete Ostmarkenverein erweiterte diese Idee zu einem aggressiven Programm, wobei sich modernisierende mit regressiven und völkischen Elementen überkreuzten. Der Kulturbegriff verengte sich zum Ideologem zwischen Aggression und Verteidigung gegen ‚das Slawentum‘ oder die ‚slawische Flut‘. Man verwischte den Modernisierungssog, den das Reich mit der Industrialisierung selbst auslöste, und projizierte in die Ostflucht eine Eroberungsstrategie der Slawen hinein, mit der man wiederum die Militanz eigener Kolonisierungspolitik im Osten rechtfertigte. Dieses Muster erhielt sich in den folgenden Jahrzehnten als Sache der Politiker, während sich die deutschen Bauern selbst unter der Propaganda der Nationalsozialisten kaum mehr zur Kultivierung östlicher Erde breitschlagen ließen. 41 Samuel Lublinski, Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition. Dresden: Reissner, 1909, 244. 42 Kamusella, Silesia and Central European Nationalisms. The Emergence of National and Ethnic Groups in Prussian Silesia and Austrian Silesia, 1848–1918. West Lafayette: Purdue University Press, 2007, 152.

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So zwiespältig die Deutschen dem Ideologem vom Osten gegenüberstanden, so eindeutig hörten Polen, soweit sie im Hoheitsgebiet des Reiches lebten, eine Drohung heraus. Seit Langem wurde das Feld von beiden Seiten beackert, um in der Landwirtschaftssprache zu bleiben: Auch aufseiten der Polen arbeitete man kräftig daran, den Deutschen eine immerwährende Offensivstrategie zu unterstellen, die man zur Rechtfertigung eigener Politik gebrauchte. So entstand der Begriff vom Drang nach Osten nicht unter Deutschen, sondern wurde von dem Polen Julian Klaczko 1849 in Umlauf gesetzt. In Deutschland bis in die 1930er-Jahre kaum verwendet, geriet er zu einem weiteren Beispiel dafür, wie die Projektion gegnerischer Absichten das Profil eines Landes auf Dauer prägen kann – wenn auch nicht immer mit derselben Resonanz militanter Verinnerlichung, wie es unter Deutschen später geschah.43 Was von ihnen alles unter dem Begriff des Ostens gebündelt wurde, ist ohnehin ein Gemisch widersprüchlichster, zumeist abwehrender Vorstellungen, die hier nicht erörtert zu werden brauchen, soweit es nicht ihre Funktion im Diskurs über deutsche Kultur betrifft. Ein Aspekt allerdings muss im Hinblick auf diesen Diskurs über die Reichskultur als Erarbeitung eines neuen Habitus verdeutlicht werden: dass in der Abwertung der Polen als schwach und faul, dem Lebensgenuss verfallen, auch andere Motivationen Ausdruck fanden. Was literarisch in der Schilderung der maßgebenden polnischen Gesellschaftsschichten, der Bauern und des Adels, vielfachen Niederschlag fand, offenbarte ja außer Konspirationen und Trotz das Klischee, dass Polen dem einfachen Lebensgenuss verfielen, wenn sie zu den niederen Schichten gehörten, und dem dekadenten Lebensgenuss, wenn sie zum Adel gehörten. In dieser Abwertung äußerten sich, auf beide Gesellschaftsschichten bezogen, zugleich die Ängste von Deutschen, sich diesen Lebensformen, die sie jahrhundertelang teilten, doch nicht entziehen zu können – keineswegs nur in einem neubürgerlichen Schwächeanfall, sondern in einer Gefährdung des nationalen Machtwillens. Hier besaß die ‚Angst vor dem Osten‘, die dann im Ersten Weltkrieg den Kampfwillen nicht nur mit Verweis auf russische Brutalitäten in Ostpreußen befördern sollte, ihre tieferen Motivationen. Unordnung, Lässigkeit, Eleganz, ‚polnische Wirtschaft‘ – das war negativ, zugleich aber verbanden sich damit Lebensformen einer offeneren Kultur, die viele Deutsche in anderen Ländern und eben auch in osteuropäischen Regionen teilten.

43 Wolfgang Wippermann, Der ‚deutsche Drang nach Osten‘. Ideologie und Wirkung eines politischen Schlagwortes. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981; Henry Cord Meyer, Drang nach Osten. Fortunes of a Slogan-concept in German-Slavic Relations, 1849–1990. Bern: Lang, 1996.

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Wie stark Preußisches und Polnisches ineinander verflochten war, lässt sich an Theodor Fontanes Schilderungen verfolgen, besonders erhellend in seinem ersten Roman Vor dem Sturm von 1878, aber auch in den Werken der 1880er-Jahre wie Cecile und Schach von Wuthenow. Ihr Realismus ist in eminentem Sinne kultur� voll, das heißt offen für den Einbezug des Fremden. Dass dafür auch in Preußen viel Sinn bestand, sollte nicht übersehen werden: „In fast jeder seiner Erzählungen trifft man auf Motive des Fremden, und je bereitwilliger eine Gesellschaft ist, Fremdes aufzunehmen, umso eher bewahrt sie sich in der Optik der Erzählung die Kraft zur Erneuerung. Daher erklärt es sich, dass es im Roman Fontanes so viele fremdländische Namen gibt: solche französischer, russischer, polnischer, englischer oder skandinavischer Herkunft. Sie sind ihm Zeichen der Weltläufigkeit, allen Bestrebungen des Sichverschließens und des Sicheinmauerns entgegengesetzt. Wenn sich eine Gesellschaft offen gegenüber den Mitgliedern anderer Gesellschaf� ten verhält, muß es diesen auch freigestellt sein, die Nation zu wechseln und sich einem anderen Staatsverband anzuschließen.“44 Lange ein Bewunderer Bismarcks, aber in den 1880er-Jahren zunehmend desillusioniert über dessen Verdächtigungs� wut – „Er ist ein großes Genie, aber ein kleiner Mann“45 –, hielt Fontane seine Maximen kultureller Verflochtenheit als Grundlage seiner Schilderungen von Preußen davon unbeeinflusst. Er wurde zum Zeuge dafür, dass Freytags Einengung und Umdeutung deutscher Kultur nur einen Strang des Spektrums deutsch-slawi� scher Beziehungen abdeckte, obzwar einen zunehmend konstitutiven und das Deutschenbild verändernden Strang. In Fontanes von engem Nationalismus unbeschwertem Gesellschaftspanorama lassen sich die Stärken des älteren deutschen Kulturbewusstseins erkennen, auf dessen Grundlage erst die von Huret gestellte Frage nach dem neuen Weltformat der Deutschen voll beantwortet werden kann. Die Schilderungen Fontanes, der einer hugenottischen Familie entstammte, nährten die Gewissheit, dass die Ausprägung kultureller Identitäten der „Verflechtungsgeschichte“ bedurfte, und dafür lieferte das östliche Europa mit seinen „Kontaktzonen“ in diesem Zeitalter der Modernisierung und Migration besonders kräftige Energien.46 Auf Letzteres allerdings wollte sich Fontane nicht mehr voll einlassen. 44 Walter Müller-Seidel, Fontane und Polen. Eine Betrachtung zur deutschen Literatur im Zeitalter Bismarcks, in: Studien zur Kulturgeschichte des Polenbildes 1848–1939, hg. von Hendrik Feindt. Wiesbaden: Harrassowitz, 1995, 41–64, hier 62. 45 Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung, Bd.  2, hg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Berlin: F. Fontane, 1910, 42, zit. nach Müller-Seidel, Fontane und Polen, 52. 46 Anna Veronika Wendland, Randgeschichten? Osteuropäische Perspektiven auf Kulturtransfer und Verflechtungsgeschichte, in: Osteuropa 58:3 (2008), 94–116; Philipp Ther, Beyond the Nation. The Relational Basis of a Comparative History of Germany and Europe, in: Central European History 36 (2003), 54–73.

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Insofern er sich zumeist auf ländliche Zustände und ein älteres Berlin beschränkte, kennzeichnete er nicht mehr die neue Stufe der östlichen Verflechtungen unter den Vorzeichen von Industrialisierung, multikultureller Urbanisierung und der wachsenden Magnetwirkung Berlins. Erst auf dieser Stufe entwickelte sich das Bewusstsein davon, dass das neue Deutschland nicht nur Preußens militärische Ordnungskultur offerierte, sondern eine für den ländlichen Osten zugleich attraktive und bedrohliche Gelegenheit bot, die modernen Entwicklungen in Geschäft, Produktion, Presse, Wissenschaft, Unterhaltungskultur und einer nun ökonomischen Verflechtung mit der Welt für sich nutzbar zu machen. Auf dieser Stufe wurde es möglich, dass bisher unterprivilegierte und marginalisierte, dennoch der deutschen Sprache und Kultur gegenüber offene Schichten in diesen Sog gerissen wurden und dazu beitrugen, dem neuen Deutschland als einem Magneten der Modernisierung – und nicht nur als einer Maschine kaiserlicher Repräsentation – Profil zu verschaffen. Dass ostdeutsche und osteuropäische Juden dabei eine führende Rolle spielten, hat ihnen unter Nichtjuden immer wieder die Mischung aus Abscheu und widerwilliger Anerkennung eingetragen, die nicht verbergen kann, wie sehr Deutsche die Angst und den Widerwillen gegenüber der gemeinsam vorangetriebenen Modernisierung auf die Außenseiter lenkten, also gerade das den Juden ankreideten, was für den nationalen Aufstieg aus dem vormodernen Phlegma unerlässlich war.47 Voraussetzungen bildeten räumliche Beweglichkeit, zugleich aber auch die Beweglichkeit, aus den traditionellen Denkformen herauszutreten und dort Geschäftssinn anzuwenden, wo er bisher nicht angewendet worden war oder werden durfte; Voraussetzungen bildeten soziales Aufstiegsstreben, das sich in der Schaffung neuer Bildungsangebote und ihrer vollen Ausnutzung manifestierte; Voraussetzungen bildeten nicht zuletzt die Säkularisierung der überkommenen Glaubenswelten, die auf Dörfern und Gütern ebenso wie in den Schtetls gewachsen und versteinert waren. Wer konnte, ergriff die Gelegenheiten, die das neue Reich mit seinen Kapitalinvestitionen, seinen zugleich autoritären und ungezügelten Machterwerbungen bot. Das Resultat sah in der Tat nicht besonders attraktiv aus. So hat der aus dem deutschen Judentum stammende amerikanische Historiker Fritz Stern eine nicht nur ironische Gemeinsamkeit in der Profilierung dieser abstoßenden Züge analysiert, wenn er feststellte, dass „die Deutschen selbst bis zu einem gewissen Grade dasselbe Schicksal erfuhren wie die Juden, sowohl im Inland wie auch in ihren Beziehungen zum Ausland. Versetzten nicht die Deutschen des neuen 47 Als Beispiel sei auf die Karrieren der acht Söhne des aus Posen stammenden Markus Mos(s)e zwischen 1865 und 1920 verwiesen; s. Elisabeth Kraus, Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert. München: Beck, 1999.

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Kaiserreichs die Welt in Erstaunen mit ihren materiellen Triumphen, ihrer großen Macht und ihrem, so wie es allen erschien, disziplinierten Intellekt? Und doch rief ihr Erscheinen nicht nur Ressentiments, sondern sogar Verachtung hervor, denn auch von ihnen dachte man, dass sie gleichzeitig feige und anmaßend seien. Die Deutschen standen der Welt in Reitstiefeln und Bombast gegenüber und wünschten, zugleich geliebt und gefürchtet zu werden. Sie vermischten Arroganz mit Angst, erfaßt von tiefer Unruhe und voller Sehnsucht nach verlorenen Traditionen. Und litten nicht die Deutschen – zumindest diejenigen, die keine Titel oder Macht besaßen – unter derselben Art nicht enden wollender Inferiorität, wie sie den Juden zugeschrieben wurde.“48 Massive Evidenz für diese Zuordnung lieferten besonders die osteuropäischen, speziell städtischen Gesellschaften, in denen man auf Bevölkerungssegmente, die man in verschiedenen Variationen als fremd empfand, häufig das Attribut ‚deutsch‘ anwendete. Das signalisierte nicht unbedingt ethnische Zugehörigkeit. Der Begriff ‚Jude‘ enthielt häufig jenes fremde, mit Deutschen assoziierte Kulturelement. Diese Zuschreibung wurde in der Epoche des Ersten Weltkrieges in den westlichen Gebieten des Zarenreiches prekär, als man Deutsche wie Juden als potenzielle Spione für Deutschland oder Österreich diffamierte, die Juden aber in besonders brutaler Weise verfolgte. Innerhalb des Russischen Reiches riefen Juden, die den gesellschaftlichen Aufstieg betrieben, ähnlich widerstreitende Reaktionen hervor wie unter Deutschen. Bei der schubweisen Öffnung des Landes zum Westen prägten sie die Modernisierung in so entschiedenem Maße, dass viele der antiwestlichen Argumente, häufig aus Deutschland übernommen, eine antisemitische Färbung annahmen.49 All das reflektiert den gleichermaßen zentralen Anteil der Juden an der Öffnung dieser Gesellschaften gegenüber den harten und widrigen Notwendigkeiten dieser Transformationen, die sie zugleich in die kulturelle und ökonomische Verflochtenheit der größeren Welt einbanden. Vor diesem Hintergrund ist aufschlussreich, dass Leo Baeck, der große Repräsentant des deutschen Judentums, 1935 in seinem Rückblick „Die Gestalt des deutschen Judentums“ gerade diesen Anteil der ostdeutschen und osteuropäischen Juden an der Modernisierung Deutschlands seit zwei Jahrhunderten 48 Fritz Stern, Die Last des Erfolgs. Gedanken zum deutschen Judentum, in: Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, hg. von Manfred Funke u. a. Düsseldorf: Droste, 1987, 95–108, hier 105 f. 49 John D. Klier, Westjuden. Germany and German Jews through East European Eyes, in: The German Lands and Eastern Europe. Essays on the History of Their Social, Cultural and Political Relations, hg. von Roger Bartlett und Karen Schönwälder. New York: St. Martin’s Press, 1999, 136–156; Dietrich Bertau, Katastrophen und sozialer Aufstieg. Juden und Nicht-Juden in Osteuropa, in: Osteuropa 58: 8–10 (2008), 29–51.

Einbezug und Ausgrenzung Österreichs  |

als unvergängliches Verdienst anführte, zu einer Zeit, da die Mythologie vom Osten als Kolonialland der Deutschen schriller den je verbreitet wurde. Die Geschichte in nuce: „Von Bedeutung für die jüdische Gesamtheit wurde es dann, dass mit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die deutsche Geschichte mehr und mehr das Schwergewicht staatlicher Kraft und staatlichen Lebens nach dem Osten verlegte. Die Tatsache, dass in der Persönlichkeit Friedrichs des Großen und in seinem sich dehnenden Herrschaftsbereich die stärkere Bewegung gegeben war, die Tatsache ferner, dass der Befreiungskrieg nicht von dem alten Deutschland, von dem alten Reiche, sondern von dem östlichen Siedlungslande ausging, hat über ein Zeitalter entschieden, und auch für das jüdische Leben in Deutschland ist das wichtig geworden. Die ostdeutschen Juden haben mit ihrer Art dadurch ein gewisses Übergewicht erhalten. Auch das Aufwachen der neuen Hauptstadt, zu der es viele von ihnen und verhältnismäßig wenige aus dem Westen und Süden hinzog, hat dazu beigetragen. Zudem tat sich ihnen der geistige Raum der neuen Zeit, all das Vielfältige, Bewegte und Erregte, das in ihm war, mannigfach auf; so manches sprach hier zu ihrer Besonderheit und vermochte diese auch zu vernehmen; ihrem Eigentümlichen war hier oft der Platz geboten.“50 Baeck sprach vom östlichen Siedlungslande, in dem aus den Verflechtungen der Deutschen, Juden und Slawen jene wirtschaftliche und geistige Dynamik hervorging, welche die Modernisierung Deutschlands über den Sog Berlins, die preußische Macht und den Aufstieg der Juden entscheidend voranbrachte. Gegen die Mythologisierung eines ‚deutschen Ostens‘ deutete er auf die wechselseitigen Wirkungen der universal und auch preußisch geprägten Aufklärung als Teil des Engagements an der Kulturvielfalt des Ostens, in enger Verbundenheit mit dem Aufstieg der Juden im östlichen Europa. Er gab noch einmal den Blick darauf frei, dass nicht in der Mythologie der Kolonisierung, die bald grausig einseitige Umsetzung erfuhr, sondern im Geben und Nehmen auf diesem Terrain die Wahrheit über die Kulturschöpfung des Ostens lag.

Einbezug und Ausgrenzung Österreichs Den Konflikten, die der gewaltsame Einschluss nicht deutschsprachiger Bewohner dem Reich im Osten bescherte, stellten sich, zumindest auf dem Gebiet der Kultur, nicht weniger gewichtige Konflikte mit der Ausschließung deutschsprachiger Bewohner im Süden und Südosten zur Seite. Die kritische, beinahe 50 Leo Baeck, Die Gestalt des deutschen Judentums (1935), in: Jüdische Geisteswelt. Zeugnisse aus zwei Jahrtausenden, hg. von Hans Joachim Schoeps. Wiesbaden: Fourier, 1980, 291–298, hier 297.

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selbstkritische Form, in der Friedrich Paulsen in seiner Einleitung zum Handbuch des Deutschtums im Auslande das Verhältnis zwischen den Deutschen im Reich und den deutschsprachigen Einwohnern der Habsburgermonarchie ansprach, lässt erkennen, wie zentral dieses Verhältnis für die Definition von Deutschtum und deutscher Kultur ihm und seinesgleichen erschien. Zentral war es in der Tat, insofern hier, im vorwiegend deutschsprachigen Raum Europas, eine neue ‚innerdeutsche‘ Kulturgeografie Gestalt gewann, mit der die Gewinne und Verluste der Nationalisierung je nach Ort, Ethnie, Tradition, Identität verschieden beurteilt wurden, etwas, wonach den Eliten im Reich bei der Ausrichtung auf das Modell der metropolitanen Kultur der Kolonialmächte kaum der Sinn stand. Die Habsburgermonarchie, deren Hauptstadt Wien jahrhundertelang zugleich kultureller Mittelpunkt des Alten Reiches gewesen war, hatte als Imperium Leitlinien für die Herrschaft über und das Zusammenleben mit verschiedenen Völkerschaften geschaffen, aus denen der deutschen Sprache und Kultur im ständigen Umgang mit den anderen Ethnien und Sprachen eine besonders schöpferische und flexible Variante erwuchs. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass man von zwei Partnerländern nur im politischen Bereich sprach, während im ethno-kulturellen Bereich die Vorstellung einer gemeinsamen Kulturnation vorherrschte. Allerdings sicherten sich darin die protestantischen Eliten, bestärkt durch den Kulturkampf, einen kulturellen Führungsanspruch, mit dem das Deutsche Reich, einer früheren Reformation folgend, als Kerngebiet deutscher Sprache und Kultur angerufen werden konnte. Das formte nach und nach Mentalitäten, aber auch offizielle und halboffizielle Darstellungen. Die Struktur des Handbuchs des Deutschtums im Auslande gab dem an der Jahrhundertwende unmissverständlich Ausdruck. Unter dem Etikett „Die Deutschen im Auslande“ registrierte es zunächst in einem großen Abschnitt die Deutschen in Österreich, dann in Ungarn, der Schweiz, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden, denen die statistische Aufarbeitung der Deutschen in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern folgte.51 Das bedeutete, dass die Statistiker des Auslandsdeutschtums die Deutschösterreicher in der Habsburgermonarchie mit den Deutschen in anderen Ländern gleichstellten, weil sie alle „im Auslande“ lebten. Was sich hier wissenschaftlich-statistisch darbot, folgte dem von Bismarck gesetzten Reichszentrismus in Definition und Handhabung des Begriffs Auslandsdeutschtum. Wie es Reichskanzler von Bülow vorgezeichnet hatte, warnte Paulsen jedoch eindringlich davor, daraus politische Führungsansprüche abzuleiten. Als „Auf51 Die statistische Erfassung der Deutschen in aller Welt geschah systematisch zuerst nach 1900 und wurde im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich veröffentlicht. S. Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, 178–181.

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gabe der Deutschen draußen“ definierte Paulsen, „einerseits gegen den wachsenden Druck mit wachsender Energie sich ihre Nationalität zu wahren, andererseits sich durch keine Herausforderung zu abenteuerlichen politischen Bestrebungen verleiten zu lassen, vielmehr durch ihre unzweifelhafte Loyalität die Gutgläubigen unter ihren Gegner zu entwaffnen. Es gilt, politische Treue gegen den Staat, dem sie angehören, mit der Treue gegen ihr Volkstum und ihre Sprache zu verbinden.“52 Die Warnung, in die Paulsen diese Definition doppelter Loyalität deutscher Auswandererkulturen kleidete, war eindeutig an seine reichsdeutschen Landsleute gerichtet. Zwar verhehlte er nicht, dass die Existenz dieser Kulturen im Reich wenig Aufmerksamkeit fand, war sich jedoch über die imperialistische Agitation der – zu dieser Zeit lauten, zahlenmäßig eher schwachen – Alldeutschen im Klaren, die aus der zunächst vor allem in Österreich entwickelten sprachlich-kulturellen Konfrontationsstrategie ‚Deutschtum gegen Slawentum‘ politisches Kapital schlugen. Im Falle Österreichs richtete er seine Warnung sowohl an die Scharfmacher unter den deutschsprachigen Österreichern, unter denen Georg von Schönerer den Anschluss an das Reich propagierte, als auch an die im eigenen Lande: „Die Deutschen in Österreich-Ungarn erweisen der deutschen Sache den größten Dienst, wenn sie ihrem Heimatstaat Treue erweisen; jede Bestrebung, die auf eine Auflösung der Nachbarstaaten, an eine Angliederung an das Deutsche Reich gerichtet ist, stellt sich, und so wird sie von jedem einsichtigen Reichsdeutschen empfunden, zugleich als Bedrohung der Sicherheit des Reichs und als Schädigung für die deutsche Nationalität dar.“53Angesichts der politischen und menschlichen Katastrophen, die sich mit dem Ersten Weltkrieg aus diesen Spannungen entwickelten, möchte man geradezu innehalten, um das geschichtliche Potenzial zu ermessen, das Paulsen hier noch mit wenigen Warnungen erfasste, das aber bald von nationalistischer Propaganda den Einsichtigen aus den Händen genommen wurde. Die Nationalisierung von Sprache und Kultur, die Besessenheit, kulturelle Grenzen zu ziehen, die sich nur selten aus der Geschichte eindeutig rechtfertigen ließen, äußerte sich im neuen Reich anders als in der Habsburgermonarchie; die Folgerungen der neuen Deutschtümler aber unterschieden sich nicht allzu sehr in beiden Ländern, ob sie nun den Kampf des Deutschtums gegen das Slawentum beschworen oder die Effektivität der österreichischen Regierung bezweifelten, sie könnte die Führung der Deutschen in der Monarchie bewahren. In Deutschland maß man der multinationalen Ausrichtung der Habsburgermonarchie zunehmend eine der nationalen Kultur abträgliche Unbestimmtheit und 52 Friedrich Paulsen, Einleitung, in: Handbuch des Deutschtums im Auslande, XXIII. 53 Ebd.

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Unzuverlässigkeit zu. In der Doppelmonarchie realisierten Österreicher, die sich ab 1867 in ständiger Auseinandersetzung mit den noch stärker vom Nationalisierungsfieber erfassten Magyaren befanden, dass sie bei der Erhaltung ihrer Großmachtstellung von der Macht abhingen, die sie geschlagen hatte und nun mit neuer Großmachtallüre die Definition dessen, was deutsche Kultur bedeutete, vereinnahmte. In der Gründungsphase der prominentesten Zeitschrift des Reiches, der ab 1874 erscheinenden Deutschen Rundschau, war das von Julius Rodenberg, Berthold Auerbach und Gustav Putlitz geplante Projekt noch mit dem Titel Berlin und Wien ausgestattet worden. Die Gründer gingen von zwei „Hauptcentren deutschen Geistes und Kunstlebens“ aus, die, jedes auf seine Weise, die Kulturnation repräsentierten.54 Trotz politischer Trennung wollte man keine Spaltung der Kulturnation anerkennen. Dem Kritiker Friedrich Kreyßig galt DeutschÖsterreich 1876 als „jener wichtigste Teil unseres deutschen ‚Auslandes‘ […], der sich seit einem Jahrzehnt in dem Maße geistig, menschlich, gesellschaftlich uns genähert hat, als seine politische, längst thatsächliche Trennung von uns zu ehrlichem, offenen Ausdruck gelangte.“55 Offensichtlich lag dieser Annäherung zunächst das rasche Wachstum des deutschen literarischen Marktes zugrunde, dessen Sog sich österreichische und schweizerische Autoren nicht entziehen konnten. Deutsche Beobachter missverstanden das als Zustimmungserklärung zum neuen Reich und nahmen es als weiteren Beweis für dessen kulturelle Führung im deutschsprachigen Raum. Sehr bald blieb auch in der Deutschen Rundschau von der Offenheit gegenüber der speziellen Bedeutung Wiens als dem ‚anderen‘ deutschen Kulturzentrum nicht mehr viel übrig. Die Zeitschrift erwarb sich ihre repräsentative Stellung in den 1880er-Jahren unter anderem mit einer Kanonisierung von Autoren, die sich an der neuen Reichsnation orientierten. Das schloss eine große Zahl österreichischer und schweizerischer Schriftsteller aus. Wenn sie die Schweizer Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer sowie die Österreicherin Marie von Ebner-Eschenbach in ihrem Kanon besonders hoch platzierte, so geschah das, weil diese, dem literaturgeschichtlichen Modell der wiederkehrenden Klassik entsprechend, als deutsche Klassiker des Realismus fungieren und ihm internationale Anerkennung verschaffen konnten. Anderen schweizerischen oder österreichischen Autoren garantierte sie keineswegs Zugang zu einer solcherart kreierten nationalkulturellen Ruhmeshalle. Was die Deutsche Rundschau anfangs noch in der Neben­ 54 Günter Butzer, Manuela Günter und Renate von Heydebrand, Strategien zur Kanonisierung des ‚Realismus‘ am Beispiel der Deutschen Rundschau, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24:1 (1999), 55–81, hier 69. 55 Ebd.

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einanderstellung von Berlin und Wien als Zentren der Kulturnation anerkannte, verlor nun den paradigmatischen Status für deren Definition. Kulturnation als mehrpolares Gebilde, das seine wichtigste Verkörperung im kleinen Landstädtchen Weimar im deutschen Irgendwo gefunden hatte, blieb als Referenz auch während der Nationalisierung des Reiches lebendig und hatte Bestand, wofür unzählige Zeugnisse von schweizerischen, österreichischen oder anderswo lebenden deutschsprachigen Schriftstellern sprechen.56 Der Begriff der Kulturnation verhinderte aber nicht, dass sich hier nun politisch basierte Hierarchisierungen breitmachten. Diese Entwicklung ist vielmals analysiert und kommentiert worden. Ihre Spuren gruben sich tief in die Mentalitäten ein. Dazu gehört auf österreichischer Seite die nicht selten geäußerte Anschauung, dass das wahre Deutschtum von Preußen zerstört, von Österreich aber bewahrt werde, eine kulturelle Markierung zumeist konservativer Eliten, aus der diese nach 1866 ebenso wie nach 1933 Rechtfertigungen österreichischer Eigenstaatlichkeit bezogen.57 Auf reichsdeutscher Seite markierte man die Trennung mit zunehmender Distanz zu dem, was in dem mit 1866 separat entstehenden Kommunikationsraum der Habsburgermonarchie mit Wien und den kulturell gemischten Zentren Prag, Krakau, Lemberg, Czernowitz, Laibach (Ljubljana), Agram (Zagreb) und Triest kulturell geschah. Häufig schlug diese Distanz in Desinteresse, ja Ignoranz um. Dass dieses Desinteresse keineswegs verhinderte, ausgeprägte Meinungen über Österreich zu äußern, ja über die Schwächen dieser Vielvölkermonarchie politisch oder wissenschaftlich Kolleg zu halten, hat bis heute seine Spuren hinterlassen. Warum diese Beurteilung Österreich-Ungarns in den verschiedensten politischen Lagern des Reiches verwandte Argumente förderte und gleichbleibende Defizite aufwies, lässt sich, abgesehen von den Problemen räumlicher Ferne, an dem spezialisierten Handbuch des Deutschtums im Auslande ablesen, das auf der für die Reichsdeutschen typischen Betrachtungsweise basiert.58 Zwar ordnete zunächst nur derjenige die Deutschösterreicher mit deutschsprechenden Auswanderern in fernen Ländern gleich, der in Deutsch56 Andreas Schumann, Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwi� schen 1815 und 1914. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2002, über Autoren in der Schweiz und Öster� reich bes. 46–54. 57 Markus Haider, Deutsche Reichsgründung und österreichisches Selbstverständnis in politischer Spra� che, in: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Klaus Amann und Karl Wagner. Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 1996, 207–231, hier 210 f.; Ingo Reiffenstein, Deutsch in Österreich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Das problema� tische Verhältnis von Sprache und Nation, in: Föderative Nation, hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt,301 f. 58 Über die Beurteilung Österreichs in verschiedenen politischen Lagern des Reiches s. Wolfgang Mommsen, Österreich-Ungarn aus der Sicht des deutschen Kaiserreiches, in: ders., Der autoritäre

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land Statistiken zusammenstellte und Habsburgs deutsche Reichsgeschichte ausblendete. Weiter verbreitet und für österreichische Kritiker schwer abzuschütteln war jedoch das Vorgehen, die Identität der Deutschösterreicher in der Habsburgermonarchie allein mithilfe ihrer sprachlichen Zugehörigkeit zu definieren. Der statistisch-wissenschaftliche Anspruch förderte die Sichtweise, das Zusammenleben der verschiedenen Nationalitäten, die das Besondere der benachbarten Monarchie ausmachte, nur nach der sprachlichen Abgrenzung der verschiedenen Gruppen zu beurteilen. Daraus erwuchs die Tendenz, das Funktionieren dieses Staates danach zu bewerten, inwiefern er die gegebene Konstellation der Nationalitäten unter gebührender Bevorzugung der Deutschen aufrechterhalten konnte. Ein Absinken der Zahlen von Deutschsprechenden, ein Zugewinn der tschechischen oder anderer Sprachen ließ sich damit leicht als Zeichen der Herrschaftsschwäche interpretieren. Woraus sich wiederum Forderungen nach intensiverer Stützung der deutschen Schulen und überhaupt der deutschsprachigen Institutionen entwickelten. Mit der einseitigen Konzentration auf die Nationalitätenpolitik wurde Österreich-Ungarn, das sich zudem mehr und mehr in eine unliebsame Balkanpolitik verwickelte, zu einem Grenzland stilisiert, das sich, wolle es überleben, auf seine deutschen Qualitäten besinnen müsse. Aus der Indifferenz Österreich gegenüber wachte man im Reich nur dann auf, wenn sich Anzeichen häuften, dass der deutschen Sprache das Wasser abgegraben werden sollte. Berühmtestes Beispiel war der Zornausbruch des alten Liberalen Theodor Mommsen, wohl des angesehensten Gelehrten Deutschlands Ende des 19. Jahrhunderts, über die Sprachenverordnungen, mit denen der österreichische, im polnischen Galizien beheimatete Ministerpräsident Kasimir Graf Badeni 1897 die Stellung der Deutschen den Tschechen gegenüber erschütterte (worüber er stürzte). Mommsen sah die Kulturnation selbst infrage gestellt: „Dass die Alpen von Salzburg bis Tirol der Gesamt-Nation auch ferner gehören würden, dass die Donau so deutsch bleiben würde wie der Rhein, die Gräber von Mozart und Grillparzer so deutsch wie die von Schiller und Goethe, daran hat auch im heißesten Ringen bei uns kühlen Norddeutschen Niemand gezweifelt […]. Deutschlands und Österreichs Zusammengehörigkeit glaubten wir felsenfest gesichert. Und nun sind die Apostel der Barbarisierung am Werke, die deutsche Arbeit eines halben Jahrtausends in dem Abgrund ihrer Unkultur zu begraben.“59 Dass Mommsens norddeutsche Polterei ausgerechnet bei den Alldeutschen, deren Nationalismus und Pan-GermaNationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich. Frankfurt: Fischer Ta� schenbuch, 1990, 214–233. 59 Zit. nach ebd., 226.

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nismus er scharf bekämpfte, Widerhall fand, war wohl der zornigen Wortwahl zuzuschreiben. In ihrer Folge unterzeichneten 95 Professoren einen Protestaufruf gegen die Sprachenverordnungen. Liberale Zeitungen reagierten im Allgemeinen kühl, die Regierung distanzierte sich von jedem Tadel. Mommsens früheres Bekenntnis zu einer auf Vielfalt beruhenden Kulturnation, dem er mit seinem Eintreten für die Juden gegen Heinrich von Treitschkes antisemitische Polemik 1880 beredten Ausdruck gegeben hatte, geriet hier ins Zwielicht. Interventionen dieser Art nützten vor allem denen, die es auf eine Radikalisierung von Grenzziehungen anlegten. Darüber war sich der Allgemeine Schulverein bei seinen Aktionen für die Stützung deutscher Schulen in der Monarchie im Klaren und legte auf eine gemäßigte Tonart Wert.

Österreich und die deutsche Kulturnation In Österreich selbst wurden die Badeni’schen Sprachverordnungen 1897 als Ausdruck einer seit Langem schwelenden Krise verstanden.60 Deutschsprachige argumentierten, die geforderte Zweisprachigkeit werde die Tschechen begünstigen, da diese ohnehin zumeist Tschechisch sowie Deutsch beherrschten. Ein Erschrecken ging durch die Monarchie, als die Verordnungen schwere Zusammenstöße zwischen Tschechen und Deutschen in Prag zur Folge hatten, bei denen sich antideutsche und antisemitische Anwürfe mischten, und der Reichsrat in Wien mit tumultuarischen Szenen zum gesetzgeberischen Stillstand kam.61 Karl Kraus, der selbstberufene Wächter der Sprache als Ermöglicher von Kultur, war in seiner Wortwahl von Mommsens Empörung nicht allzu weit entfernt: „Bei uns sind die Empfindungen einer Kulturnation in der beispiellosesten Weise verletzt, in einer Weise, die selbst denjenigen, der jeder Betonung des nationalen Moments und jeder Gefühlspolitik aus dem Wege geht, zu Empörung und Pathos aufstacheln muß.“ Kraus stellte sogar seine sonstige Ablehnung der antisemitischen Deutschnationalen zugunsten der gemeinsamen Front gegen die „dauernde Slavisirung [sic] Österreichs“ zurück.62 In seinen Polemiken gab er seinen Zeitgenossen zu verstehen, dass mit diesen 60 Hans Mommsen, Die habsburgische Nationalitätenfrage und ihre Lösungsversuche im Licht der Ge� genwart, in: Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, hg. von Heinrich August Winkler und Hartmut Kaelble. Stuttgart: Klett-Cotta, 1993, 108–122, hier 119 f. 61 Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897. Ihre Genesis und ihre Auswir� kungen auf die innerösterreichischen Alpenländer, Bd.  1. Graz: Böhlau, 1960, 260–262; Stephan Braese, Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930. Göttingen: Wall� stein, 2010, 224–232. 62 Karl Kraus, „Wiener Brief“, in Breslauer Zeitung vom 21.11.1897, zit. nach Braese, ebd., 227 f.

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Ereignissen die ethnische Vereinnahmung von Sprache kaum noch rückgängig gemacht werden könne, es einer Entthronisierung des Deutschen nicht nur als integrierender Verwaltungssprache der Monarchie gleichkomme, sondern als Trägerin universalistischer, übernationaler Ordnungen, die von Juden ebenso wie den Verantwortlichen in Bürokratie, Armee und Dynastie vertreten wurden. Sicher ist, dass diese auf österreichischem Boden ausgetragene dramatische Politisierung der Sprache dazu beitrug, nicht nur das Deutsche in seinem prekären öffentlichen Stellenwert, sondern Sprache überhaupt in ihrer kulturellen Funktion kritisch zu reflektieren. Ohne diese Umstände wäre die von Nietzsche und Ernst Mach initiierte und von Fritz Mauthner ausgebaute Kritik der Sprache als Faktor der Wirklichkeitserfahrung nicht zu einer so wichtigen Basis der literarischen Produktion österreichischer Schriftsteller um 1900 geworden. Was auf dem österreichischen Theater, besonders im Volkstheater Johann Nestroys, einen Unterhaltungswert gewonnen hatte, der in dieser Form in Deutschland ungewohnt war, verschaffte innerösterreichischen Auseinandersetzungen zu dieser Zeit eine über bloße Argumentation hinausreichende rhetorische Qualität. Deren Bedeutung innerhalb eines dynastisch legitimierten Staatsgebildes abzuschätzen, das sich nicht auf die Homogenität der Nation berief, fiel deutschen Beobachtern besonders schwer. Offenbar standen die anschwellende Lautstärke der Politiksprache und der Zweifel an der Effektivität von Sprache in einem engen Verhältnis zueinander. Karl Kraus’ Satire lebte nicht zuletzt davon, in der Sprache der von Wien bis zu den Provinzmetropolen reichenden Demonstrationskultur der Sozialisten, Christlich-Sozialen und Deutschnationalen die Ritualisierung aufzudecken, die selbst wieder, ähnlich den Proklamationen und Festumzügen zu Ehren des Kaisers, zur Selbstverständlichkeit wurde. Nur so lassen sich Robert Musils Einleitungssätze seines Essays zur „Politik in Österreich“ verstehen, die sich mit Bemerkungen von Kraus und Hermann Broch über den Ritual- und Theatercharakter österreichischer Politik berühren: „Man denkt bei diesem Begriff [Politik in Österreich] zu einseitig an die Schwierigkeiten der Nationalitätenfrage. Denn die – obgleich eine Schwierigkeit – ist längst eine Bequemlichkeit geworden; über einen ernsten Anlaß hinaus ein uneingestandenes Ausweichen und Verweilen. […] Es gibt wenig Länder, die so leidenschaftlich Politik treiben, und keines, wo Politik bei ähnlicher Leidenschaft so gleichgültig bleibt wie in diesem; Leidenschaft als Vorwand. Nach außen ist alles so sehr parlamentarisch, dass mehr Leute totgeschossen werden als anderswo, und es stehen alle Räder alle Augenblicke wegen der nächstbesten Parteidrehung still; hohe Beamte, Generäle, Ratgeber der Krone dürfen beschimpft werden, man kann Vorgesetzten mit einer Drohung vor dem Parlament bange machen, verdient Geld mit Hilfe

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der Politik, ohrfeigt einander. Aber alles ist halb wie eine Konvention, ein Spiel nach Übereinkommen.“63 Mit dieser Analyse brachte Musil ein in Österreich nicht nur zu dieser Zeit weitverbreitetes Verhalten auf einen Nenner, das mit seiner Tendenz zum Abwiegeln in starkem Gegensatz zu dem in Deutschland üblichen Drang zur Zuspitzung von Konflikten stand. Dass Konflikte, die im bestehenden System als unlösbar erschienen, gerade nicht auf voller, sondern niedriger Flamme, dafür aber permanent, gekocht wurden, ließ die deutschen Nachbarn an den politischen Fähigkeiten der Österreicher zweifeln – eine nicht nur zu dieser Zeit irrtümliche Beurteilung. Worin sich indes einsichtsvollere Beobachter im Reich mit dem Wiener Besitz- und Bildungsbürgertum berührten, war deren Ansicht, dass sich Österreich nicht von aktueller Politik, sondern vor allem der Aufrechterhaltung einer ästhetischen Lebenskultur unter dynastischer und staatlicher Aufsicht her definiere, eine Ansicht, bei der die Aussparung von Politik bei Reichsdeutschen wie Max Weber oder Werner Sombart von einer gewissen Herablassung begleitet wurde. Unter diesen Umständen fiel die Mythisierung der gewachsenen Schönheit Wiens und des Zusammenwirkens vieler europäischer Kulturen umso nachdrücklicher aus.64 Im Gegensatz dazu bekräftigte Musil in seiner Analyse, dass sich eben auch die Politik eng mit dieser ästhetischen – Hermann Broch sagte später: theatralischen – Lebenskultur konstituiere.65 Diese fungiere nicht als Kompensation, sondern als Stabilisierung der labilen, ja brisanten Hinhaltepolitik der Doppelmonarchie. Kulturpolitik als Einsatz der Künste für bestimmte politische Zwecke hatte seit jeher zum Instrumentarium der Habsburger Dynastie und des Imperiums gehört. In den ersten Jahrzehnten seiner Regentschaft hatte sich Kaiser Franz Joseph  I. aktiv darum gekümmert. Mit der Aufgabe, dieses Reich nach den Niederlagen der 1850er- und 1860er-Jahre wieder in seiner Machtfülle, aber auch Modernität der Welt darzustellen, war die Weltausstellung in Wien 1873 als prominenter Baustein kultureller Außenpolitik organisiert worden. Kunst galt als Gradmesser für das geistige Wohlergehen eines Staates und damit für die politische Stabilität.66 Während Ungarn sich in den Folgejahren in einer 63 Robert Musil, Politik in Österreich [1913], in: ders., Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hg. von Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt, 1955, 589. 64 Birgitt Morgenbrod, „Träume in Nachbars Garten.“ Das Wien-Bild im Deutschen Kaiserreich, in: Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, hg. von Gangolf Hübinger und Wolfgang J. Mommsen. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 1993, 111–123. 65 Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6, hg. von Hannah Arendt. Zürich: Rhein, 1955, 43–181. 66 Jeroen Bastiaan van Heerde, Staat und Kunst. Staatliche Kunstförderung 1895–1918. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau, 1993, 38.

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zunehmend nationalkulturell orientierten Eigenständigkeit darstellte, konzentrierte sich die Präsentation Österreichs bei Ausstellungen im Ausland auf Wien und seine international verflochtene Kunst und Kunstausstattung. Kulturpolitik bedeutete für das kaiserliche Unterrichtsministerium, das in Korrespondenz mit dem Kaiser die Federführung innehatte und vom Finanzministerium nur sparsam dafür ausgestattet wurde, zunächst eine Ausstellungs- und Erziehungspolitik, welche die verschiedenen Nationalitäten in den Gesamtstaat integrieren sollte.67 Nirgendwo verstand sie sich als Teil einer integrativen Zwangspolitik gegenüber den Slawen wie in den östlichen Provinzen Preußens. Während Bismarck den Kulturkampf durchsetzte, gewährte Habsburg den Polen in Galizien zwischen 1867 und 1873 politische und kulturelle Autonomie. Das von Habsburg aus der polnischen Teilung einbehaltene Galizien wurde zum Zentrum der kulturellen Selbstbestätigung von Polen. Das Wiener Unterrichtsministerium lieferte den international am meisten gewürdigten Beitrag mit der systematischen Förderung der Kunstgewerbereform, deren Erfolge dem österreichischen Export zugutekamen. Anders als im Deutschen Reich geschah die Präsentation der in Österreich selbst umstrittenen modernen Kunst, sprich Kunst der Secession, mit Unterstützung des Kaisers, der 1898 deren erste Ausstellung mit seinem Besuch würdigte. Berta Zuckerkandl, eine der prominenten Stimmen österreichischer Kulturpolitik, betonte, dass die Secessionisten ganz bewusst das „Gesamtösterreichische“ repräsentieren wollten.68 Die in Europa einmalige „Internationale Theater und Musikausstellung Wien“ führte 1892 in der Stadt ein halbes Jahr lang französische, polnische, tschechische, deutsche und andere Theater- und Operntruppen zu einem Festival zusammen, das, zugleich mit nationalen Pavillons ausgestattet, dem Format von Weltausstellungen nacheiferte. Es bestätigte Wiens Vormachtstellung als Theater- und Musikstadt im deutschen Kulturraum und zugleich die habsburgische Tradition mit ihrem multinationalen Verständnis von Kultur, welches das Unterrichtsministerium in seiner Praxis einzuhalten suchte, auch wenn die meisten Aktionen über das Deutsche vermittelt wurden. Als man sich 1893 im Ministerium über die „Herausgabe einer periodischen Publikation über den Stand der zeitgenössischen Dichtung in den verschiedenen Sprachgebieten Österreichs“ beriet, gerieten die Teilnehmer allerdings in Schwierigkeiten. Sie zielten auf eine Definition der österreichischen Literatur für die „verschiedenen Sprachstämmigen“, gaben aber angesichts des Problems, „einen Maßstab zu finden, welcher dem literar-ästhetischen wie dem nationalen Gesichtspunkten bei den verschiedenen sprachlichen Literaturkreisen Ös67 Robert Scheu, Kulturpolitik. Wien, 1901. 68 Van Heerde, Staat und Kunst, 53.

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7 Josef Hoffmann, Palais Stoclet, Brüssel (1905/11). © Bildarchiv Foto Marburg, Foto: Paula Deetjen (?), Aufnahme-Nr. 606.444

terreichs in gleicher Weise Rechnung träge“, die Verwirklichung auf.69 Eine solche multikulturelle Definition österreichischer Literatur wäre der Kultur des Vielvölkerreiches gemäß gewesen. In späteren Jahrzehnten ging diese Offenheit der Regierungsstellen verloren, machte erst der Ansicht von der österreichischen als der besseren deutschen Literatur Platz, dann dem Bemühen, sie in der Abgrenzung von der deutschen Literatur zu definieren. Man hat dem Prestigefaktor als Movens der Politik des Habsburgerreiches vor und im Ersten Weltkrieg nicht weniger Bedeutung als in anderen europäischen Gesellschaften zugeschrieben.70 Kultur besaß dabei besonderes Gewicht. Sie verschaffte diesem Staat mit den in Wien, Prag, Budapest und Triest besonders aktiven internationalen Kontaktzonen eine Präsenz, die ihm, wie Hofmannsthal bei seinen Reisen im neutralen Ausland feststellen konnte, noch

69 Ebd., 232. 70 Solomon Wank, Some Reflections on the Habsburg Empire and Its Legacy in the Nationalities Question, in: Austrian History Yearbook 28 (1997), 131–146.

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während des Krieges positive Resonanz einbrachte.71 In seinem Reisebericht von 1919 stellte Hofmannsthal die Anerkennung des kulturellen Profils von Österreich im Vergleich mit der weniger attraktiven Kulturpolitik des Reiches im Kriege mit ihrer abstrakten Berufung auf Kultur heraus. Solche Vergleiche zwischen den deutschbestimmten Monarchien war ohnehin im Ausland gang und gäbe. Einerseits rückten sie beide Staaten voneinander ab, insofern sie die Unterschiede im Umgang mit der gemeinsamen historisch-kulturellen Grundsubstanz herausstellten, andererseits bezogen sie diese aufeinander, indem sie diese Grundsubstanz voraussetzten. Für das Ausland wirkte die Weltkriegsallianz der beiden Monarchien, obgleich sie kaum eine Koordination von Propaganda oder auswärtiger Kulturpolitik mit sich brachte, als Bestätigung der kulturellen Gemeinsamkeiten; sie verstärkte die Tendenz, den einen Staat nicht ohne Referenz auf den anderen einzuordnen. Dabei zeigte sich, wie stark die österreichische Monarchie als ein Faktor verstanden wurde, der die national ausgerichtete Politik des Reiches ausbalancierte und die germanische Herausforderung an den Osten mit historisch sanktioniertem Einbezug slawischer, ungarischer und italienischer Kultur abmilderte. Auf reichsdeutscher Seite fühlte man sich davon weniger erhoben als belastet, wobei die vom Auswärtigen Amt verwehrte Einflussnahme auf Österreich außerhalb des Militärs im Allgemeinen eingehalten wurde. Die mit Ausbruch des Krieges im Reich zur Flut anwachsende öffentliche Verteidigung der deutschen Kultur reflektierte nur mit wenigen Ausnahmen das Verhältnis zu Österreich als substanziell. Demgegenüber war die österreichische Selbstdefinition in der Vielvölkermonarchie stärker auf die Vergangenheit gerichtet und bezog die gemeinsame kulturelle Basis mit ein. Mit diesen Bezügen lässt sich verfolgen, wie die von Deutschnationalen und Ethnopolitikern in beiden Ländern als Gefahr beschworene Grenzlage Österreichs zugleich mit einer ungewöhnlichen kulturellen Sensibilisierung einherging, die in der Sprachkritik ebenso ihren Ausdruck fand wie in einer Amalgamierung und Formung fremder Einflüsse in künstlerischen, musikalischen, kulinarischen und habituellen Lebensbereichen. Man bildete Fronten zwischen den verschiedenen Einschätzungen von Sprache und Kultur. Der auf- und abschwellende Lärm machte einen beträchtlichen Teil der von Musil analysierten Konfrontationsrhetorik in Wien und gegen Wien aus. Letztere Frontstellung – gegen Wien – entsprach der in vielen Ländern gepflegten Antipathie der Provinz gegen die Hauptstadt (und andersherum). Im Falle Österreichs allerdings entfachte sie zusätzlich Nationalitätenantipathien, abgesehen von den 71 Hugo von Hofmannsthal, Die Bedeutung unseres Kunstgewerbes für den Wiederaufbau (1919), in: ders., Prosa III, hg. von Herbert Steiner. Frankfurt: Fischer 1952, 453–470.

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hier besonders aggressiven antijüdischen Vorurteilen, mit denen die Ablehnung der international und modern ausgerichteten Kulturpräsenz der Kaiserstadt ihr ethnisches, später rassistisches Ventil fand. Ebenfalls spezifisch war, was der Franzose Louis de Fourcard bei der Weltausstellung 1900 angesichts des österreichischen Pavillons „danubischen“ Internationalismus genannt hatte: die Mischung aus regional-eigenständigem Kulturhumus und internationalem Modernismus, eine Mischung, die Wien von anderen Hauptstädten einschließlich Berlins unterschied, die eine nicht regionale metropolitane Kultur auszustrahlen versuchten. Die Aktivierung regionaler, eigentlich lokaler Kulturpraktiken fand hier in Dialekt, Walzer und volksfrommer Barockinszenierung seine von den Massen getragene und in Sprachkritik, Psychoanalyse, Design und Theaterskandalen von den Bildungseliten gestützte Manifestation. Wiens Moderne, eher als Lebensform denn als Stil definiert, erschien dem internationalen Publikum damit besser zugänglich, weniger befremdlich, weniger entfremdend. Innerhalb des nach wie vor regional ausgerichteten deutschen Kulturraums erkannte man Wien, zumindest im nichtpreußischen Teil, die kaiserlich legitimierte Vorzugsstellung als Metropole deutscher Kultur zu, noch vor München und Dresden das beste Beispiel dafür, wie regionale Faktoren Modernität international durchsetzbar machen konnten und dem Staat, der vielen als längst überholt galt, Anerkennung einbrachten. Die Tatsache, dass ein Großteil der künstlerischen und wissenschaftlichen Wiener Eliten nicht aus Wien und häufig nicht aus der Monarchie, sondern aus dem Reich stammte, spricht umso mehr für die stimulierende Kraft des Genius Loci und seines Publikums. Auf die Frage, was denn österreichisch an dieser Kultur sei, hat man nur wenige verallgemeinerungswürdige Formulierungen gefunden.72 Die im Reich oft als Grenzort des Deutschtums titulierte und kritisierte Stadt Wien stellte zu dieser Zeit einen Berlin ebenbürtigen Entwicklungsort kultureller und wissenschaftlicher Innovationen dar, die der deutschsprachigen Kultur im 20. Jahrhundert eine nicht wieder erreichte innere Spannung und Vielfalt verschafften. Es entging ausländischen Beobachtern nicht, dass Berlins Rekrutierungspotenzial um 1900 vor allem in wissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Modernisierung zu finden war, die Modernisierung künstlerischer Lebensformen mitsamt ihrer Umerziehung des Konsumenten aber eher in anderen Zentren wie München, Dresden und vor allem Wien Gestalt annahm. Berlins Streben nach metropolitaner Kultur äußerte sich stärker im Wettbewerb mit den Kolonialmetropolen London und 72 Steven Beller, What is Austrian about Austrian Culture? In: Weltanschauungen des Wiener Fin de Siècle 1900/2000, hg. von Gertraud Diem-Wille, Ludwig Nagl und Friedrich Stadler. Frankfurt: Lang, 2002, 25–41.

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Paris. Dabei wurde die offizielle Repräsentation nach Osten den etablierten Eliten oder den preußischen Ministerien überlassen. Ging es darum, im Nebeneinander der Kulturen und Ethnien Mittel- und Osteuropas Brücken zu schlagen, erwies sich hingegen die Habsburgermonarchie mit Wien aufgrund ihrer multikulturellen Ausrichtung als wirksamerer Akteur.

Mehrfachidentitäten und Außenperspektiven Innerhalb Deutschlands wurde bis 1918 die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft über die Zugehörigkeit zu den Einzelstaaten reguliert. Man war Hesse und Bayer und damit auch Deutscher. In der Habsburgermonarchie zählte man sich zum österreichischen Staat und zur deutschen Kultur, oft auch zur deutschen Nationalität. Es ist kurios, aber bezeichnend, dass der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal sich bei der Definition der Doppelheit im deutschen Nationalgefühl ausgerechnet auf BismarcksSätze in den Gedanken und Erinnerungen berief: „Das spezifische Wesen des deutschen Nationalgefühles äußert sich darin, dass es nur wirksam wird durch das Wesen der besonderen Nationalitäten, die sich bei uns auf der Basis des dynastischen Familienbesitzes gebildet haben“, und: „Das Deutsche Reich beruht auf dem Dualismus der nationalen Motive.“73 Bismarck hatte sich auf dynastische, nicht regionale, religiöse oder kulturelle Loyalitäten berufen. Er unterschlug die anderen Loyalitäten, die vielen Bewohnern im Reich die Identitätsfindung bisweilen aufs Äußerste erschwerten, vor allem sozialdemokratischen Arbeitern, Polen, Juden, Dänen, Elsässern und, bis zum Aufstieg der Zentrumspartei, Katholiken. Was Hofmannsthal im Anschluss an Bismarck „Dualismus des Gefühls“ nannte und auf Österreich und Deutschland bezog, war in der Habsburgermonarchie stärker noch als im Reich von sozialen Schichtungen abhängig. In den Worten des Historikers Ernst Hanisch: Eine „starke deutsche [Identität], vermittelt durch Herkunft, Sprache, Erziehungssysteme, Literatur, Kommunikationskreise“, stand neben einer „schwächeren, österreichischen“ Identität, „die sich auf die Donaumonarchie bezog und durch dynastische Symbole gestützt wurde. In der Hocharistokratie, in der Hochbürokratie, in den oberen Rängen der Armee, in der Großbourgeoisie, teilweise auch in der katholischen Kirche wurde diese österreichische Identität häufig als ‚übernational‘ verstanden, als Mischkultur, die Elemente anderer Nationalitäten symbiotisch in sich aufnahm. Die Stützung der österreichischen Identität ging mehr von oben aus – von der 73 Hugo von Hofmannsthal, Österreich im Spiegel seiner Dichtung (1916), in: ders., Prosa III, hg. von Herbert Steiner. Frankfurt: Fischer, 1952, 333–349, hier 345.

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Krone und Oberschicht; sie war im Kern konservativ adjustiert. Die Formierung der deutschen Identität trug den Geruch des Aufsässigen – führend die Studenten, denen ein gewisses Revoluzzertum zustand. Meist lief diese doppelte Identität problemlos nebeneinander, in Krisenzeiten indessen, bei bestimmten sozialen Schichten zumal, geriet das Deutsche mit dem Österreichischen in einen harten Konflikt. Die Mittelschichten, besonders die Intelligenz, fühlten sich prononcierter ‚deutsch‘ als die Ober- und Unterschichten.“74 Wenn der Begriff der Identität bei dieser Analyse ein wenig klischiert wirkt, so liegt das daran, dass etwas als essenziell angesprochen wird, das zumindest ebenso sehr als konstruiert und projiziert gelten muss. Gerade in diesen Projektionen spielte sich ein Großteil der Nationalitätenpolitik ebenso wie der Kaiserhul­ digungen ab, das Erstere in der von Agitatoren angeheizten Konfrontation deutscher, tschechischer, ungarischer Nationalitäten in Lokal- und Schulpolitik – wo Bevölkerungen ihre kulturelle ‚Identität‘ je nach Opportunität ‚konstruierten‘75 –, das Letztere in den Feiern des Staatspatriotismus, die auf regionaler Ebene zur Selbstinszenierung regionaler Größen und auf Staatsebene zur Affirmation dynastischer und bürokratischer Eliten verwendet wurden.76 Die Kapazität der österreichisch-ungarischen Monarchie, Mehrfachidentitäten zu produzieren, war unbegrenzt. Das machte das Land denjenigen Deutschen, die ihre Identität im Prozess kultureller Nationalisierung verfestigten, zunehmend fremd, anderen aber eher attraktiv, insofern es der kulturellen Vielfalt, für die Deutsche früher keine Grenzen anerkannt hatten, ihre Schauplätze erhielt. Dass dies im Zuge der zunehmenden Nationalitätenkonflikten von dem Gefühl begleitet wurde, deutsche Sprache und Kultur befänden sich in einem Belagerungszustand, ließ allerdings Konfrontationsfantasien anwachsen, die die Vorstellung vom Mittlertum der Donaumonarchie zwischen Germanen- und Slawentum in frage stellten. Spätestens mit dem Aufruhr um die Badeni-Verordnungen fühlten sich diejenigen bestätigt, die ihr Lebensgefühl als Österreicher nicht von ihrem Verhältnis zu Deutschland her, sondern in der Konfrontation mit ‚den Slawen‘ definierten, worunter sie vor allem Tschechen verstanden. Das führte dazu, dass man auch in Österreich daranging, Mehrfachidentitäten abzubauen, ein Vorgang, der sich in die Zäsuren österreichischer Geschichte des 20. Jahrhunderts eingegraben hat und dessen Abschluss 74 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahr� hundert. Wien: Ueberreuter, 1994, 154. 75 Judson, Guardians of the Nation; Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, hg. von Nancy M. Wungfield. New York: Berghahn, 2003. 76 Daniel L. Unowsky, The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria, 1848–1916. West Lafayette: Purdue University Press, 2005.

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zu konstatieren ein Ingredienz neuerer österreichischer Kulturpolitik geworden ist. Nun wäre es allerdings verfehlt, die ‚innerdeutschen‘, jedoch grenzüberschreitenden Diskurse in der Periode um 1900, die mit den vielfältigen Innovationen in Kunst und Literatur in Wien und anderswo als Moderne historisch geworden ist, nur unter dem Nationalitätenaspekt zu beleuchten. Wie im Hinblick auf die grenzüberschreitenden Einflüsse in Architektur und Ausstattungskultur am Beispiel des Werkbundes angedeutet worden ist, konstituierte sich unter dem Vorzeichen der Moderne der Internationalismus als ein bewusst ästhetisches Phänomen, als eine Intervention über die politischen Spannungen zwischen den Nationen hinweg. Bürgerliche Eliten, insofern sie von Jugendstil und Art Nouveau fasziniert waren, verschafften ihm als Kunden größere Resonanz. Auch hier kamen die Maßstäbe vom Westen, die eigentlichen Neuerungen aber entsprangen häufig den regionalen Zentren, oftmals auch unter nationalen oder ethnischen Vorzeichen. Aufgrund der Vielfalt, Verstreutheit und innerkultureller Wettbewerbsorientierung entwickelte der deutschsprachige Kulturbereich in den Bemühungen um Modernität eine Mannigfaltigkeit, die ihm im europäischen Zusammenhang eine ungewohnt zentrale Mittlerstellung eintrug. Grundlegend wurde dafür als eine der wichtigsten Folgeerscheinungen der Reichsgründung das ungehemmte Wachstum eines zentralen Marktes für alle Formen der Buch‑, Zeitschriften- und Bildproduktion. Was ausländischen Beobachtern, die den Erfolgen der deutschen Wissenschaft auf den Grund zu gehen versuchten, bald als Schlüssel erschien – die dezentralisierte, aber im Konkurrenzstreben der Universitäten stimulierte und weitgehend durch die preußische Wissenschaftspolitik koordinierte Wissenschaftsorganisation –, fand zwar auf dem wesentlich offeneren Gebiet der Buchkultur kein Äquivalent, lieferte aber auch hier das Ferment für das Wachstum einer ungewöhnlichen Vielfalt von Neuerungen: eine dezentralisierte, dennoch miteinander kommunizierende Kulturlandschaft. Die Präponderanz des Reiches basierte nicht unbedingt auf seiner besonders innovativen künstlerischen Produktion, sondern auf der Macht des größeren Marktes, des größeren Publikums, des größeren Prestiges. Wenn Berlin dabei zum Magneten wurde, geschah das, abgesehen von seiner zentralen Position in der Wissenschaftsorganisation, genau auf dieser Grundlage; noch lange wurde ihm, wie Friedrich Naumann bezeugte, gerade der Mangel an künstlerischen Hervorbringungen vorgehalten. Allerdings gewann der Kulturbetrieb dieser Stadt dann noch vor dem Ersten Weltkrieg aus den Konfrontationen und Verflechtungen der verschiedenen, oft ostdeutsch und osteuropäisch verwurzelten Mentalitäten ein neues metropolitanes Profil. Hieran hatten Presse und Kommunikations- und Verlagsindustrie

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ebenso Anteil wie das rapide wachsende und finanziell zunehmend einflussreiche Publikum von sozialen Aufsteigern. Seine urbane Ausrichtung äußerte sich in der zunehmenden Verwischung von hoher und Unterhaltungskultur, etwas, wofür ein Regisseur wie Max Reinhardt im Deutschen Theater ein viel zitiertes und nachgeahmtes Beispiel lieferte, wenn er am Abend eine blendende Klassikerinszenierung von „Hamlet“ bot und in derselben Nacht im ‚Kleinen Theater‘ eine kabarettistische Parodie des Stückes lieferte. Wien – wo Reinhardt gleichermaßen Triumphe feierte – führte die Fähigkeit zur Amalgamierung verschiedenartiger Kulturen und Einflüsse um die Jahrhundertwende zu besonderer Blüte. Aber auch Prag und Böhmen entwickelten ein neues Profil eigenständiger und doch mit dem Nachbarn verbundener Kultur. Hier brachte die dichteste Industriekonzentration in der Habsburgermonarchie eine stärkere Ausrichtung auf reichsdeutsche Entwicklungen mit sich. Bereits 1895 veröffentlichten tschechische Schriftsteller eine programmatische Schrift mit dem Titel Die tschechische Moderne – ein Manifest.77 Prag hatte seine eigene Form des Nebeneinanders tschechischer, deutscher und jüdischer Einflüsse entwickelt, ähnlich bewusst als Kapitale einer zentralen Region Europas, deren deutsche Minderheit sich kritisch der kulturellen Identität bediente und deren Literatur sich im Nebeneinander der Sprachen mit der Verbindung zum deutschen Kulturraum zwar regional, aber nicht eigentlich provinziell verorten ließ. Franz Kafka, für den Berlin in den späteren Jahren ein wichtiges Stimulans bedeutete, lieferte in seinen Vorlieben und Kommentaren zur deutschen Kultur – eingeschlossen die prägende Lektüre von Thomas Manns Außenseitererzählung „Tonio Kröger“ – ein eindrucksvolles Beispiel für die schöpferische Kraft einer derart reflektierten Außenperspektive. Anders als die ‚Prager‘ Franz Werfel oder Rainer Maria Rilke bemühte er sich um die tschechische Sprache, engagierte sich nach dem Besuch des jiddischen Theaters für den Gedanken einer „kleinen Literatur“ (Tagebuch vom 25.12.1911), der allerdings, entgegen der Auslegung von Gilles Deleuze und Felix Guattari, nicht auf Kafka, sondern die jiddische Literatur anwendbar ist.78 Gerade die Verbindung mit der ‚großen‘ Literatur, die zugleich einen großen Markt mit entsprechendem Publikum repräsentierte, verhalf kulturellen Enklaven oder 77 Johann Dvorak, Politik und die Kultur der Moderne in der späten Habsburger-Monarchie. Inns� bruck/Wien: Studien, 1997, 101 f. 78 Gilles Deleuze und Felix Guattari, Kafka: pour une literature mineure. Paris: Éditions de Minuit, 1975. Vgl. die Kritik von Stanley Corngold, Kafka and the Dialect of Minor Literature, in: College Literature 21:1 (1994), 89–101, sowie die Diskussion bei Andreas Kramer, The Politics of Place. Me� tropolis and Province in German Modernism, in: Berlin – Wien – Prag. Moderne, Minderheiten und Migration in der Zwischenkriegszeit, hg. von Susanne Marten-Finnis und Matthias Uecker. Bern: Lang, 2002, 45–60.

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selbstständigen deutschsprachigen Regionen zu einem eigenständigen intellektuellen Profil. Wie eine künstlerischen Gruppierung, die scheinbar am Rande der ‚großen‘ Literatur ins Leben gerufen wurde, dank ihrer bewusst betonten Regionalität breitere Beachtung fand, lässt sich an dem von René Schickele und Ernst Stadler angeführten „Jungen Elsass“ ablesen, das von Straßburg nach München und Berlin wirkte, anerkannt als Teil der ohnehin stark regional sich entwickelnden expressionistischen Bewegung. Ernst Stadler definierte in Abgrenzung zu dem Elsässer Fritz Lienhard, dem berühmt-berüchtigten Ideologen von Provinz und Heimatkunst gegen die kalte Millionenstadt Berlin, ein „geistiges Elsässertum“, das die preußische Unterwerfung des Reichslandes hinter sich ließ und aus der kulturellen Doppelidentität zwischen Deutschland und Frankreich einen kreativen Zugang zur Moderne schaffte. So erklärte er René Schickele 1912: „Elsässertum ist nicht etwas Rückständiges, landschaftlich Beschränktes, nicht Verengung des Horizontes, Provinzialismus, ‚Heimatkunst‘, sondern eine ganz bestimmte und sehr fortgeschrittene Haltung, ein fester Kulturbesitz, an den romanische sowohl wie germanische Tradition wertvollste Bestandteile abgegeben haben.“79 Ein derart definiertes geistiges Elsässertum setzte sich zugleich von der Verabsolutierung des Elsass als eigenständiger Kulturprovinz ab, wie sie in der Bewegung vom erwachenden Elsass eine auch im Dialekt klassenübergreifende Opposition gegen deutsche Superiorität darstellte. Sie fand in den Komödien von Gustave Stoskopf ihren Ausdruck, in denen ähnlich antipreußische Sentenzen das Publikum unterhielten wie im österreichischen Volkstheater.80 René Schickele hatte sich bereits 1901 einen Namen gemacht, als er in der Münchner Zeitschrift Die Gesellschaft unter der Überschrift „Jung Elsaß“ die Gründung einer literarischen Bewegung verkündete, mit der junge elsässische Autoren, zunächst in der antibürgerlichen Halbmonatsschrift Der Stürmer, ihren eigenen Weg zur Moderne einschlugen, in selbstbewusster Kritik am deutschen Literaturbetrieb.81 Für Schickele stellte sich die schöpferische Stimulation durch den „Dualismus des Gefühls“ anders als für Hofmannsthal dar, insofern er, zwischen zwei Ländern stehend, die sich als Gegner oder zumindest Konkurrenten verstanden, aus den Gegensätzen Funken schlug. Er hielt sich, 79 Ernst Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe, hg. von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider. München: Beck, 1983, 280. 80 James Wilkinson, The Uses of Popular Culture by Rival Elites. The Case of Alsace, 1890–1914, in: History of European Ideas 11 (1989), 605–618. 81 Gunter Martens, Stürmer in Rosen. Zum Kunstprogramm einer Straßburger Dichtergruppe der Jahrhundertwende, in: Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, hg. von Roger Bauer u. a., Frankfurt: Klostermann, 1977, 481–507.

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ähnlich wie die Elsässer überhaupt, aufgrund der preußischen Klassenherrschaft im Reichsland von der naheliegenden Gemeinsamkeit mit Baden und den anderen süddeutschen Regionen fern. Ähnlich aber wie Hofmannsthal nutzte er die Außenperspektive, um seine Entscheidung für deutsche Sprache und Kultur zum Argument für die Notwendigkeit kritischer Interventionen zu erhöhen. Diese Sichtweise machte ihn zu einem der profiliertesten Kritiker preußisch-deutscher Machtpolitik, vor allem als Herausgeber der Zeitschrift Die Weissen Blätter, der mit Wilhelm Herzogs Das Forum und Franz Pfemferts Die Aktion wohl wichtigsten Antikriegspublikation deutscher Schriftsteller. Als die deutsche Zensur 1915 die Zeitschrift, die in Leipzig gedruckt wurde, ‚entdeckte‘, musste Schickele in die Schweiz gehen, wo er sie ab 1916 voll etablierte. Damit ist eine weitere europäische Region genannt, in dem eine deutschsprachige Kultur in ihrer selbstständig kritischen, aber auch abhängigen Entwicklung eine wichtige Mittlerstellung für deutsche Kultur und Literatur einnahm. Seit Langem hatten schweizerische Demokratie und die liberale Bürgerlichkeit Zürichs deutschen Künstlern und Schriftstellern ein Refugium ermöglicht, in dem diese ihre kritische Außenperspektive, die sie, wie etwa Richard Wagner bei der Revolution 1849 in Dresden, im Lande selbst vertreten hatten, nun jenseits deutscher Grenzen mit ästhetischen Mitteln entwickeln konnten. Schickeles Ausweichen vor der deutschen Zensur war exemplarisch für eine Vielzahl deutscher, französischer und anderer europäischer Intellektueller, denen die neutrale Schweiz oder zumindest die Großstadt Zürich eine wenn auch eingeschränkte Möglichkeit bot, ihre publizistische und künstlerische Arbeit während des Krieges fortzusetzen. Allerdings hatte sich die Schweiz in der Zwischenzeit von der progressiven Republik, die den deutschen Demokraten als eine Art Erfüllung ihrer Wünsche erschienen war, in ein Land verwandelt, dessen Bürgertum sich als eine konservative Macht verstand, „die ihre Aufgaben im 20. Jahrhundert weniger im Neugestalten als im Erhalten des Überlieferten“ erblickte, wie es der schweizerische Schriftsteller Kurt Marti taktvoll benannte.82 Taktvoll insofern, als sich dahinter ein immenser Ruck zum kulturellen Konservativismus auftat, der im Zusammenhang mit der Ideologisierung von Region, Provinz, Heimat gesehen werden kann, die dem Elsass im Reich zu dieser Zeit den Ruf einer ‚noch gesunden‘ Landschaft verschaffte. Um wie viel mehr geschah das in der Schweiz, die dank ihrer Grenzen sowohl von dem Sündenbabel Paris wie von dem reichsdeutschen Eifer nach Modernisierung und Industrialisierung getrennt war, als Hort einer unversehrten Kultur, 82 Kurt Marti, Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz, 1966, zit. nach Paul Nizon, Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst. Zürich/Köln: Benziger, 1973, 116.

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die, wie es Eduard Korrodi, Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, 1918 von der „Schweizerliteratur“ sagte, „nie zersetzenden Geistes war.“83 Während Deutschland schon für Gottfried Keller eine andere, größere Welt repräsentierte, deren Schwächen er in den Grünen Heinrich und andere Werke genau einzeichnete, behielt die Schweiz für Deutsche, wenn auch unter sehr verschiedenen Vorzeichen, die Kennzeichen jener anderen Möglichkeit, welche die wilhelminische Nationalisierung verdrängt hatte und die Thomas Mann, nachdem ihm die deutsche Niederlage die Augen geöffnet hatte, mit leicht herablassender Wortwahl definierte: „Vor unseren Augen lebt eine Spielart deutschen Volkstums, die, vom Hauptstamm politisch frühzeitig getrennt, seine geistigen, sittlichen Schicksale nur bis zu einem gewissen Grade geteilt, die Fühlung mit westeuropäischem Denken niemals verloren und die Entartung des Romantismus, die uns zu Einsamen und outlaws macht, nicht miterlebt hat.“84 Was Thomas Mann ausließ, war die Tatsache, dass die Schweiz diese Verbindung zu anderen Sprachen und Kulturen konstitutionell als Teil der „Willensnation“ verankert hatte, dass also der besagte Volksstamm die Bindung zu Deutschland selbst als eine Art freiwillige Entscheidung rationalisierte, bei der die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation so lange galt, als sie nicht von Deutschen vorausgesetzt oder behauptet wurde.85 Man kann die konservative Schweiz der Vorkriegsjahre aus der Betrachtung der intellektuellen und künstlerischen Aufbruchsbewegung dieser Zeit ausnehmen, wird aber trotzdem wichtige Aufschlüsse darüber bekommen, wie, in dieser Außenperspektive besonders klar erkennbar, die deutsche Kultur dort am ehesten Anerkennung fand, wo sie Modernisierung ohne die Insignien der Macht vorantrieb. Von hier ebenso wie von Österreich aus wurden Modernisierung und Urbanisierung als bestimmende Kriterien in der Bewertung des Reiches schnell zum stehenden Klischee, an dem sich die kulturpessimistischen Abwehrreaktionen, die in jeder Gesellschaft einen ‚anderen‘ brauchen, ohne Zögern festmachen ließen. In dieser Situation sich nach Berlin orientieren, 83 Zit. nach Ursula Amrein, Nationale Identität und Erinnerungspolitik. Die deutschsprachige Schwei� zerliteratur in der Vor- und Nachgeschichte des Nationalsozialismus, in: Kulturtopographie deutsch� sprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz, hg. von Michael Böhler und Hans Otto Horch. Tübingen: Niemeyer, 2002, 245–268, hier 250. 84 Thomas Mann, Brief über die Schweiz [1923], in: Gesammelte Werke, Bd. 13, hg. von Hans Bürgin und Peter de Mendelssohn. Frankfurt: Fischer, 1974, 53, zit. nach ebd., 251. 85 Albert Tanner, Willensnation versus Kulturnation. Nationalbewußtsein und Nationalismus in der Schweiz, in: Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktionen von Identitäten, hg. von Catherine Bosshart-Pfluger u. a. Frauenfeld: Huber, 2002, 179–203; Adolf Muschg, Gibt es eine schweizerische Nationalliteratur? In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Jahrbuch 1980, Heidelberg: Lambert Schneider, 1980, 59–68.

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bedeutete, Hässlichkeit, Fremdheit, Hast in Kauf zu nehmen, dafür aber Modernität einzuhandeln. Was bereits in deutschsprachigen Regionen als negatives Charakteristikum einer nicht mehr aufzuhaltenden Ausbreitung industrieller Lebensformen galt, führte im anderssprachigen Ausland umso mehr zu Stereotypisierung und Argwohn. Gesehen von Rom oder Sofia, Kiew oder Warschau, verband sich die auftrumpfende Politik des Reiches schnell mit den abstoßenden Eigenschaften der Moderne. Das hatte mit Goethe, den man zu verehren gelernt hatte, nicht mehr viel zu tun. Wenn deutsche Gastredner zu dieser Zeit die Größe der deutschen Kultur zugleich in der Auslegung Goethes beschworen, stellte sich bei den Einheimischen unweigerlich die Frage ein, wer und was diese Kultur eigentlich repräsentiere.

Juden und die deutsche Kultur Deutschland als Kulturmacht, oder in diesem Falle besser als kulturelle Macht: Man kann es nur tragische Ironie nennen, dass eine solche Kategorisierung, wenn sie nicht der Machtambition des Kaisers und akademischer Eliten entsprang, am meisten den Juden Mittel- und Osteuropas verdankte, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert unter dem Dach deutscher Kultur ihre moderne Identität verschafften.86 Was jüdische Gelehrte, Rabbiner, Lehrer und Schriftsteller, vor allem aber jüdische Bürger des Mittelstandes trotz des wachsenden Antisemitismus mit dem Begriff deutscher Kultur an praktischer Verehrung und idealistischer Erhöhung in die internationale Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts einbrachten, trug entscheidend zu dem Dekorum kultureller Macht bei, das Deutschland jenseits der politischen Querelen auszeichnete. Von Lessings Freundschaft mit Moses Mendelssohn in den Gründungsjahren aufklärerisch-humanistischer Weltgesinnung beflügelt, war es, unter kräftiger Beteiligung der Juden, die universalistische Tendenz, die im Nebeneinander der Weltkulturen das deutsche Kulturkonzept als eine Denkanleitung über alle 86 Zum Gebrauch der Begriffe ‚Jude‘ und ‚Judentum‘ stellt der Historiker Werner E. Mosse fest: „A Jew is then a member of an ethnic group described by a number of different criteria. In practice, with some borderline cases, there exists among historians a well-established consensus as to who should be considered a Jew.“ Werner E. Mosse, Jewish Entrepreneurship in Germany 1820–1935, in: Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Werner E. Mosse und Hans Pahl. Stuttgart: Steiner, 1992, 54–66, hier 54. Vgl. auch Till van Rahden, Weder Milieu noch Konfession. Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: Re� ligion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, hg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann. Gütersloh: Kaiser, 1996, 409–434.

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Grenzen hinweg attraktiv und verfügbar machte. Dass Kultur eine Mission habe, deren individualistisches Freiheitspathos sich neben dem der Französischen Revolution behaupten konnte, erfuhr von der Rezeption und idealistischen Unterstützung aufseiten der Juden in der Epoche ihrer Säkularisierung gewaltige Bekräftigung.87 Am intensivsten profilierte sich diese Mission in Mittel- und Osteuropa als Medium geistiger Emanzipation einer religiös und sozial marginalisierten Minderheit, obgleich die politische Emanzipation in Preußen und Österreich nur schleppend voranschritt und im zaristischen Russland nicht nur nicht vorankam, sondern beständig konterkariert wurde. Während deutsch sprechende Österreicher, Schweizer, Deutschungarn, Deutschrussen, Deutschamerikaner in ihrer kulturellen Identität von der Durchsetzung des deutschen Nationalstaates und der nachfolgenden Nationalisierung deutscher Kultur häufig irritiert, oft auch in einen Konflikt zwischen Politik und Kultur gestoßen wurden, brachte die Reichsgründung für Juden, die in Deutschland lebten, eine Bestätigung ihrer kurz zuvor erfolgten politischen Gleichstellung und für solche, die außerhalb lebten, eine Bestätigung ihrer Ausrichtung an der deutschen Kultur. Sie hatten sich in den spezifischen Reflexionen ihrer Mehrfachidentitäten über die Jahrzehnte hinweg, oftmals schmerzhaft, eingerichtet, integrierten sich damit leichter im multinationalen Österreich – obwohl sie auch dort keine eigene Nationalität bilden konnten – als im Deutschen Reich, erkannten und ergriffen in Letzterem aber die besonderen Chancen einer im industriellen Aufbruch befindlichen, sich rapide modernisierenden Gesellschaft. Mit Recht empfanden sich die Juden in ihrer deutschen Verbürgerlichung nicht nur als Rezipienten, sondern auch als Mitschöpfer des universalistischen Kulturdenkens seit dem 18. Jahrhundert. Damit hatten sie in den Salons von Rahel Varnhagen und Henriette Herz den Kult der Dichtung, insbesondere Goethes, vorangetrieben, der dann, von Professoren verabsolutiert, das Gesicht der deutschen Kultur bis ins 20. Jahrhundert prägte. Mit diesem Besitzdenken hatten sie in noch mitreißenderer Form den Kult um den Freiheitspropheten Schiller bis in die kleinsten Orte Osteuropas hineingetragen, wie der jüdische Schriftsteller Karl Emil Franzos 1875 beispielhaft aus Galizien berichtete: „Vielleicht kommt einmal die satte, die gräßlich satte Zeit, da Schiller tot ist; manches Zeichen spricht dafür, manches dagegen; jedenfalls ist diese Zeit noch sehr ferne. Heute lebt er noch für Millionen und wird jährlich neu geboren in tausend und abertausend Herzen und erhebt diese Herzen

87 George L. Mosse, German Jews beyond Judaism. Cincinnati: Hebrew Union College Press, 1985, 42–54; Peter Gay, Freud, Jews, and Other Germans. Masters and Victims in Modernist Culture. New York: Oxford University Press, 1978, 93–169.

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und wird ihnen ein rechter Heiland und Erlöser, der sie aus der Tiefe der Vorurteile und dumpfer Not emporführt zu den Höhen freien Menschentums.“88 Wie stark hierbei Dichtung und ihre Helden im Prozess der Rezeption selbst erst ihre volle Aussage, ihre ‚Höhe‘ gewannen, ist heute als Aktivum einer Nationalkultur längst anerkannt worden. Dass Juden die universalistische Mission der deutschen Klassik interpretierten und umsetzten, gehört zu ihrer kokonstitutiven Rolle in der Schaffung dessen, was als deutsche Kultur in Theatern, Lesebüchern und Staatsfeiern definiert und als Zeugnis einer Kulturmacht besonders im Osten Europas beschworen wurde.89 Einen wichtigen Teil ihrer bürgerlichen Vergesellschaftung bildete ein generöses Mäzenatentum, insofern die Förderung von Kunst, Theater und Kultur in Deutschland generell konstitutiv für das aufsteigende Bürgertum waren. Sowohl als Publikum wie als Sponsoren wirkten sie intensiv auf die Entwicklung moderner Theater- und Darstellungsformen ein, ermutigten die Verfügbarmachung kultureller Produktion, da sie Minderheiten mit einschloss. Ko-konstitutiv ist zugleich auch die ironische Ausstattung, die Heinrich Heine den in philosophischem Tiefsinn ertrinkenden deutschen Denkformen verpasste, eine von der internationalen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert als Labsal empfundene Erleichterung im Umgang mit den weltumstürzenden Büchern deutscher Professoren und Poeten. Dem Lyriker und Essayisten Heine verdankte die deutsche Literatur, dass sie als romantisch, aber auch ironisch, als provinziell, aber auch urban angesehen wurde. Die Tatsache, dass er an der engagierten Darstellung deutscher Zustände auch im Pariser Exil festhielt, trug ihm den Hass der deutschen Konservativen ein, die weder über seine sozialistischen Neigungen noch über seine Fähigkeit hinwegkamen, deutsche Kultur als etwas Gemachtes, Gefiltertes, Verletzbares in Reime zu bringen. In den verschiedensten Funktionen, als Schöpfer und Kritiker ebenso wie als Publikum, prägten Juden die Aussage- und Überzeugungskraft, aber auch die Selbstreflexion der deutschen Kultur. Gegen die Verinnerlichung des Regionalen, die am Ende des Jahrhunderts weniger auf ethnische Vielfalt als auf nationale (völkische) Einordnung zielte, insistierten sie auf der Bedeutung des universalistischen Anspruchs der deutschen Bildungskultur. Das Ko-Konstitutive als Kategorie kultureller Mitschöpfung gilt andersherum aber auch für die Transformation der jüdischen Kultur unter dem Vorzeichen der deutschen Aufklärung. Für H. G. Adler, den aus Prag stammenden 88 Karl Emil Franzos, Schiller in Barnow, in: ders., Aus Halb-Asien. Kulturbilder aus Galizien, der Buko­wina, Südrußland und Rumänien, 4. Aufl., Bd. 1. Stuttgart/Berlin: Cotta, 1901, 153. 89 Steven E. Aschheim, German History and German Jewry: Boundaries, Junctions, and Interdepen� dencies, in: Leo Baeck Institute Yearbook XLIII (1998), 315–322.

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deutsch schreibenden Überlebenden des Holocaust, war dies eine selbstverständliche Voraussetzung moderner jüdischer Kultur. „Durch die deutsch-jüdische Assimilation“, resümierte Adler 1960, „und was mit ihr, wie die religiöse Reform, einherging, wurden die Juden Ungarns, Skandinaviens, Hollands, Englands, Nordamerikas, in geringerem Maße auch Frankreichs und Italiens in den deutschen Bannkreis gezogen. Die Anzahl der aus Mitteleuropas stammenden Rabbiner war in diesen Ländern bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts erheblich; sie alle standen unter dem Einfluß Deutschlands und des Judentums Deutschlands, ihre Nachwirkung auf die Juden vieler Länder bis heute ist nicht zu unterschätzen.“90 Solche Feststellungen wurden von deutschen Juden mit Stolz vorgebracht – vor dem Holocaust. In ihnen lagen gewichtige Argumente, wenn von den kulturellen Einflüssen Deutschlands in anderen Ländern die Rede war, Einflüssen, die nicht über staatliche Vermittlungsinstanzen liefen. In prominenter Form legte Leo Baeck davon Zeugnis ab, als er 1928 in einem Repräsentativband über die neue deutsche Republik die Weltstellung der deutschen Juden heraushob. Baeck bilanzierte die große historische Leistung der „jüdischen Renaissance“ im 19. Jahrhundert als Ausfluss jüdischer und deutscher, jüdisch-deutscher Säkularisierung, die damit eine der „Weltgeltung“ der deutschen Kultur entsprechende Geltung innerhalb des Weltjudentums erreichte: „Seit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, diesem Beginn der neuen Zeit im Judentum, waren in ihm die deutschen Juden, zumal wenn dieses Wort im Sinne des großen deutschen Sprachgebietes genommen wird, die führenden geworden. Die bestimmenden religiösen Gedanken waren von ihnen ausgegangen, ihre Theologie und Philosophie hatte den Weg zu den Juden aller Länder genommen, im sozialen und kulturellen Wirken für die Gesamtheit standen sie vornan. Die geistige Geschichte der Juden im neunzehnten Jahrhundert ist ganz wesentlich eine Geschichte der deutschen Juden. Auch der deutschen Sprache war damit ein weitreichender Einfluß gewährt, sie war die Sprache der Wissenschaft vom Judentum geworden.“91 Der frühe Zionismus wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Wien geprägt, wo Theodor Herzl das Feuilleton der Neuen Freien Presse redigierte, sowie von Berlin und anderen deutschsprachigen Zentren, zu denen man auch Prag rechnete. So stellte Adolf Böhm in der aufsehenerregenden, für die Diskussion des Zionismus zentralen Sammlung Vom Judentum (1913) den Zionismus zwar als 90 H. G. Adler, Die Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. München: Kösel, 1960, 107. 91 Leo Baeck, Die jüdischen Gemeinden, in: Zehn Jahre Deutsche Geschichte, 1918–1928. Berlin: Otto Stollberg, 1928, 439–44, hier 440.

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Reaktion auf die missglückende Assimilation dar, ließ aber keinen Zweifel am Einfluss der umgebenden Kultur: „Erst als assimilierte Juden haben sie die Unmöglichkeit ihrer Situation empfunden, und was daraus entstand, war nicht etwa eine Strömung zur Rückkehr zum früheren Judentum, sondern eine Bewegung zum Aufbau eines modernen Judentums, d. h. eines solchen, das auch die nichtjüdischen Kulturelemente der Jetztzeit aufnehmen sollte. Niemals hätte eine zionistische Bewegung entstehen können, ohne dass durch die nichtjüdische Kulturwelt der innere Habitus der jüdischen Psyche von Grund auf verändert worden wäre.“92 Das bedeutete nicht zuletzt, dass der frühe Zionismus, auch wenn er als politische Bewegung gewertet werden wollte, mit der deutschen Kulturgesinnung auch den Protest innerhalb dieser Kulturgesinnung verinnerlichte. Es hieß ebenfalls, dass Nietzsche gleichermaßen die Jungintellektuellen inspirierte, die sich als Expressionisten, und diejenigen, die sich als Zionisten definierten, etwa in der Aufbruchslosung des Bandes Vom Judentum, die, ohne die jüdische Spezifik, genauso in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion hätte stehen können: „Leben war stets Kampf, Zionismus ist der Kampf der Jugend, die höher will, gegen die Alten, die Trägen, die Müden, die nicht mehr wachsen können und die kein Sturm der Begeisterung mehr aufrütteln kann. Wie im Judentum die Glühenden, Mutigen und Schaffenden stets mit dem Volke rangen, so ist es auch unsere Aufgabe, mit diesem Volke zu ringen, um es zu neuem, reinem, freien Dasein zu führen.“93 Wiederentdeckung des Volkes als Selbstentdeckung der jungen Generation hatte René Schickele zur Neuschöpfung von „Jung Elsaß“ geführt; als „jungjüdische Bewegung“ artikulierte sich der kulturelle Zweig junger deutschsprachiger Zionisten, die im Gefolge von Martin Buber und Ahad Ha-am und deren Rückbesinnung auf die Tradition in der künstlerischen Aufbruchsbewegung dieser Jahre eine Neuformulierung des Jüdischen bewerkstelligten.94 So wie die Deutschen die Inspirationen von jüdischer Seite verdrängten, ganz zu schweigen von den ‚deutschen‘ Artikulationen der frühen Zionisten, haben Juden diese Inspirationen im Zionismus später verdrängt.95 Als Leo Baeck seine stolzen Bemerkungen über das deutsche Judentum äußerte, sprach er bereits in Kenntnis der Kriegsniederlage, das heißt der Tatsache, dass die Wirkung des Deutschen als Lingua franca im Osten stark beschnitten, damit 92 Adolf Böhm, Wandlungen im Zionismus, in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hg. vom Verein jüdischer Hochschüler BAR KOCHBA in Prag. Leipzig: Wolff, 1913, 139–154, hier 142. 93 Hans Kohn, Geleitwort, in: ebd., VIII. 94 S. die umfassende Darstellung der jungjüdischen Bewegung im kulturellen Zionismus von Mark H. Gelber, Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen: Niemeyer, 2000. 95 Gelber, Melancholy Pride, 277.

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die Interventionsmöglichkeiten der jüdischen Bürgerschichten eingeschränkt oder auf die jüdische Selbstbesinnung gelenkt worden waren. Über diesen sich bald weiter verdüsternden Konstellationen gab Baeck die größere Perspektive nicht auf. Sie ist ein unverrückbarer Teil der aus der Verdrängung zurückzuholenden Geschichte: der Anteil ostdeutscher und osteuropäischer Juden an der Transformation Deutschlands zu einem führenden Land der europäischen Moderne.96 Die Ambivalenz, mit der deutsche Zeitgenossen den Aufstieg der Juden aufnahmen, geriet mit den 1880er-Jahren, dem Jahrzehnt der Kolonialeroberungen, unter die Rhetorik des politischen Antisemitismus. Sie produzierte eine Ausschließungsrhetorik, welche die Betreuung deutscher Kultur durch jüdische Hände zu einer Quelle des Unbehagens, häufig der Feindseligkeit machte. Allerdings wurde gerade der Fremdheitsvorwurf von Verteidigern der Juden nicht voll angesprochen oder mit Bekenntnissen zugunsten kultureller Pluralität überdeckt. So geschah es in der vor dem Dreyfus-Skandal wohl bedeutsamsten öffentlichen Auseinandersetzung über den Status der Juden in der deutschen Gesellschaft, dem Antisemitismusstreit um Heinrich von Treitschkes Pamphlet Ein Wort über das Judentum von 1880, in welchem Theodor Mommsen gegen Treitschkes pöbelhafte Aufreizung zum Antisemitismus protestierte, die in dem berüchtigten Satz gipfelte: „Die Juden sind unser Unglück.“97 Mit dem Vorwurf, den Antisemitismus salonfähig zu machen, traf Mommsen in seinem Gegenpamphlet Auch ein Wort über unser Judentum den Tenor liberaler Entrüstung über die Verletzung bürgerlich-liberaler Positionen. In das Bild einer multiethnischen Gesellschaft zeichnete er die Juden als besonderen „Stamm“ ein, gipfelnd in der Frage: „In wie fern stehen nun die deutschen Juden anders innerhalb unseres Volkes als die Sachsen oder die Pommern?“ Tatsächlich stehe der deutsche Israelit „ebenso mitten im deutschen literarischen Leben wie der englische mitten im englischen.“ Und gegen Treitschke gewendet: „Was heißt das, wenn er von unseren israelitischen Mitbürgern fordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sind es ja, so gut wie er und ich.“ Auch die Mitgestaltung deutschen Lebens und deutscher Kultur durch die Juden, die Treitschke mit dem abwertenden Wort von der „deutsch-jüdischen Mischcultur“ abtat, begrüßte Mommsen: „Ein gewisses Abschleifen der Stämme an einander, die Herstellung einer deutschen Nationalität, welche keiner bestimmten Landsmannschaft entspricht, ist durch die Verhältnisse unbedingt geboten und die großen Städte, 96 Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von Gotthold Rohde. Marburg: Herder-Institut, 1989. 97 Zuerst in Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten (1879), in: Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, Teil 1, hg. von Karsten Krieger. München: Saur, 2003, 6–16, hier 14.

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Berlin voran, deren natürliche Träger. Dass die Juden in dieser Richtung seit Generationen wirksam eingreifen, halte ich keineswegs für ein Unglück, und bin überhaupt der Ansicht, dass die Vorsehung weit besser als Herr Stöcker begriffen hat, warum dem germanischen Metall für seine Ausgestaltung einige Procent Israel beizusetzen waren.“98 Mommsen stolperte nicht über die Anerkennung, dass Juden an der Formung deutscher Nationalität und Kultur beteiligt waren. Worüber er gegen Ende seines Gegenpamphlets stolperte, war die Zustimmung dazu, dass diese Beteiligung von einer Minorität wahrgenommen wurde, die an ihrer Doppelidentität als Deutsche und Juden festhielt. Hier geriet Mehrfachidentität schließlich doch unter Verdacht. „Außerhalb dieser Schranken zu bleiben und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll“, resümierte Mommsen. Es entstehe eine Fremdheit, die abzulegen Pflicht der Juden sei. Damit entzog er seinem Bekenntnis zur multiethnischen Qualität der deutschen Kultur ihre Basis. Das entging Zeitgenossen nicht, aber nur jüdische Kritiker gingen so weit, eine nationale Assimilation auch bei den anderen Deutschen, nicht nur den Juden zu fordern. Am griffigsten formulierte das der Rezensent der Allgemeinen Zeitung des Judentums, als er Hermann Cohen, dem bekannten jüdischen Kantforscher, der sich in der Erwiderung auf Treitschke geradezu anbiedernd für volle Assimilation ausgesprochen hatte, vorhielt: „Warum richtet Ihr diese Aufforderung [immer deutscher zu werden] allein an die Juden? Ist sie etwa nur im geringsten weniger notwendig an die christ­ lichen Deutschen zu richten? Gehört nicht ein großer Teil der Bevölkerung kirch­lichen Überzeugungen an, denen die Kirche über der Nation steht und auch einer solchen, deren Gravitationspunkt jenseits der Berge ist? Gibt es nicht noch Deutsche genug, die auf das Welfentum, Sachsentum, Bojarentum, Österreichertum schwören, und deren Deutschtum sehr zweifelhafter Art ist?“99 Bei der Umsetzung dieser beschwerlichen Nationalisierung wurde zweifellos mit zweierlei Maß gemessen, insofern man Juden häufig die sprachliche Kompetenz oder völkische Substanz absprach, Konzept und Gehalt deutscher Kultur mitbestimmen zu können. Anders als bei Sachsen oder Welfen fielen bei Juden, zumal den der jüdischen Kultur entfremdeten, ‚Provinz‘ und ‚Region‘ zumeist ins Dunkel der Geschichte, wenn sie nicht von der Assoziation an ostjüdische Schtetl in Galizien oder Litauen absorbiert wurden. In dieser 98 Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum (1880), in: Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881, Teil 2. München: Saur, 2003, 695–709, hier 698, 700, 700, 703. 99 Rezension von: Ein Bekenntnis in der Judenfrage (I). Von Dr. Hermann Cohen, ordentlicher Professor an der Universität Marburg, in: Allgemeine Zeitung des Judentums, Nr. 10, 9.3.1880, zit. nach ebd., 431–433, hier 432.

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Assoziation lag für die meisten akkulturierten Juden in Deutschland eine Herausforderung, mit der sie ihren Status als Teil des deutschen Bürgertums in ein kritisches Licht gestellt sahen. Zwar behielten Regionalkulturen auch in dieser Zeit dank ihrer völkischen Authentizität ihren Stellenwert im Nationalisierungsprozess, jedoch übertrug sich das Interesse nicht auf die Ostjuden mit ihrer jiddisch-‚mittelalterlichen‘ Sprachkultur, im Gegenteil. So trafen sich in der Bezugnahme auf die Ostjuden Antisemiten mit Zionisten, wenngleich unter entgegengesetzten Vorzeichen. Der Abwertung der Ostjuden als Bedrohung des deutschen Volkskörpers seitens der Antisemiten stand ihre Auf­ wertung als Quelle jüdischer Tradition und ethnischen Volkstums durch die Zionisten gegenüber. Wenn Mommsen die deutschen Juden einen deutschen Stamm nannte, so entsprach das der geläufigen Auffassung vieler Zeitgenossen. Die von ihm mit Ironie formulierte Feststellung, dass die Beimischung „einiger Procent Israel“ dem germanischen Metall gut getan habe, machte unmissverständlich deutlich, dass die Juden seit Langem einen höchst stimulierenden Teil der deutschen Nationwerdung darstellten, der sie zu derselben Achtung wie andere Deutsche berechtigte. Für diese Gleichordnung zitierte er die gemeinsame Geschichte als Legitimation, nicht die formale Gleichstellung infolge der Reichsgründung. Wie Jacques Ehrenfreund im Hinblick auf diese Legitimation aus Geschichte und Kultur analysiert hat, entsprach sie der deutschen Tradition im Definieren der Nation, die im Gegensatz zu der französischen Referenz auf die Revolution und den damit hervorgebrachten Universalismus der Republik stand. Zugleich barg diese Legitimation den Schlüssel zu einer kollektiven Identitätsfindung der Juden in ihrer Segmentierung innerhalb der deutschen Gesellschaft.100 Geweckt von der deutschen Historiografie, verband jüdische Geschichtsforschung nationale und partikulare Elemente in einer Zuordnung, die von Juden generell vertreten wurde; dazu gehörte die nationale Zugehörigkeit ebenso wie das gemeinsame Leiden als Minorität. „Jüdische Geschichte war daher mit einer widersprüchlichen Funktion ausgestattet. Auf der einen Seite stellte sie eine Rechtfertigung für die Integration in die deutsche Nation bereit; auf der anderen Seite sollte sie als Zement einer neuen, kollektiven jüdischen Identität dienen. […] Der innere Widerspruch im Zentrum des jüdischen historischen Diskurses – die Tatsache, dass er sowohl Integration fördern als auch jüdische partikulare Identität bestätigen

100 Jacques Ehrenfreund, Mémoire juive et nationalité allemande. Les Juifs berlinois à la Belle Èpoche. Paris: Presses universitaires de France, 2000, 121–190.

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sollte – ließ nicht zu, dass die jüdische Vergangenheit in derselben Weise wie die Vergangenheit anderer ethnischer Gruppen nationalisiert werde.“101 Mit Ehrenfreunds Analyse lässt sich die Besonderheit der jüdischen Segmentierung im wilhelminischen Reich im Vergleich mit anderen Partikularkulturen, etwa der katholischen oder sozialdemokratischen, genauer fassen.102 Er begründet die Verwundbarkeit der jüdischen Minderheit aus ihrer Verwobenheit mit der deutschen Geschichte, in der gerade das, was Mommsen im Widerspruch zu seiner multiethnischen Agenda als „Fremdheit“ von den Juden zurückgenommen wissen wollte, jenes von ihm gepriesene „Procent Israel“ ermöglichte, das sich über Jahrhunderte hinweg als eigenständiger kultureller Faktor erhielt. Der besondere Wert von Ehrenfreunds Analyse liegt darin, dass er sie aus einem Vergleich mit der Situation der französischen Juden in der Dritten Republik gewann. Deren Verwundbarkeit trat in der Dreyfus-Affäre zutage, als die Verwobenheit der Juden mit zentralen Institutionen des Staates – Dreyfus diente als Offizier in der Armee – dem latenten Antisemitismus zum Durchbruch verhalf. Im Unterschied zu Deutschland, wo den Juden nur die Bereiche von Wirtschaft, Kultur und, in begrenztem Maße, Wissenschaft offenstanden, signalisierte aber bereits die Zugehörigkeit zum französischen Offizierskorps, der sich höhere Regierungsstellen und Beamtenschaft sowie Universitäten zur Seite stellten, eine politisch gewichtigere Akkulturation, die damit einherging, dass französische Juden ihre Identität vornehmlich aus dem universalistischen Projekt der Revolution und ihrer Gleichstellung als Staatsbürger, nicht aus der Berufung auf gemeinsame Geschichte und Bildungskultur bezogen. In diesem Sinne traten ihnen auch die Verteidiger des Republikanismus und Universalismus zur Seite und machten diese für Frankreich überaus schädliche Affäre zu einer öffentlichen Manifestation ihrer Werte. Auf dieser Vergleichsebene lässt sich zugleich auf den für Partikularkulturen offeneren wilhelminischen Staat, einen Bundesstaat, allgemein zurückschließen. Insofern sich nach 1871 die Durchsetzung der Dritten Republik mit einer Festigung des Zentralismus verband, der auch die bäuerlichen Landstriche im Süden voll einbezog, fanden in Frankreich Partikularkulturen, wie sie im Reich bis zum Ersten Weltkrieg trotz aller nationalisierenden „Verreichlichung“ mit Publikationen, Lehrplänen und Veranstaltungen gepflegt wurden, keinen ver101 Jacques Ehrenfreund, Citizenship and Acculturation. Some Reflections on German Jews during the Second Empire and French Jews during the Third Republic, in: Jewish Emancipation Reconsidered. The French and German Models, hg. von Michael Brenner, Vicki Caron und Uri R. Kaufmann. Tübingen: Mohr (Siebeck), 2003, 155–163, hier 159 f. 102 Über diese (Sub-)Kulturen: Margaret Stieg Dalton, Catholicism, Popular Culture, and the Arts in Germany, 1880–1933. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2005; Frank Trommler, Sozia� listische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick. Stuttgart: Kröner, 1976.

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gleichbaren Platz auf der nationalen Bühne. Zwar gewährte Frankreich Angehörigen der Minderheiten in der Praxis mehr Gleichstellung als das Reich; die breite Beachtung von Partikularkulturen, die innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen als Teil deutscher Kultur Legitimität und Identität gewährt bekamen (und angefeindet wurden), war westlich des Rheins nicht möglich. Im Falle der Juden führte dies in Deutschland, abgesehen von der wesentlich größeren Anzahl (570.000 deutsche gegenüber 75.000 französische Juden in den 1890er-Jahren), zu der für die Juden in aller Welt exemplarischen Erneuerung des Judentums, die den deutschen Sprach- und Kulturraum zu einer Art jüdischem Heimatraum machte, der nicht staatlich determiniert wurde. Das verschaffte dem multiethnischen Deutschen Reich noch keinen multikulturellen Charakter, doch macht die Überraschung über die faktisch erfolgende Integration der verschiedenen kulturellen und politischen Segmente, der das national orientierte deutsche Bürgertum bei Kriegsausbruch 1914 beredten Ausdruck gab, die Tatsache deutlich, wie stark, wenn auch widerwillig man die Präsenz der Partikularkulturen immer wahrgenommen hatte.103 Dass in diesem hierarchisch überschatteten, kulturellen Pluralismus ein Antisemitismus breite Resonanz gewann, der die Ausschließung der Juden mehr noch im Bereich der Rasse als dem der Kultur propagierte, signalisiert die Entschlossenheit der Rechten, die Ausschließung auf einem anderen, weniger ambivalent besetzten Felde voranzutreiben. Angesichts der herausragenden Position, die sich die Juden im deutschen Kulturleben erarbeiteten, ergab sich ein breites Spektrum von Reaktionen, das von zurückhaltender Anerkennung und Indifferenz bis zu Ressentiments und Antisemitismus reichte. Die Tatsache, dass sich die meisten Debatten über diese Position innerhalb jüdischer Zirkel abspielten, in denen das Vordringen junger Zionisten deutlichere Abgrenzungen zwischen deutscher und jüdischer Kultur brachte, ist vielmals, bis hin zu Gershom Scholem, als Beweis für die Abstinenz nicht jüdischer Deutscher von einem deutsch-jüdischen Dialog gewertet worden.104 Noch Jakob Wassermann ließ in seiner für die Selbstfindung der jüdischen Deutschen in der Weimarer Republik zentralen Schrift Mein Weg als Deutscher und Jude (1921) keinen Zweifel daran, dass er von nicht jüdischer deutscher Seite kaum Identifikationshilfe, im Zweifelsfall antisemitische Vorurteile erwarten musste. Was die Außenwirkung der deutschen Kultur angeht 103 Für eine Kritik an Ehrenfreunds relativ positiver Wertung des Pluralismus im wilhelminischen Deutschland siehe Paula E. Hyman, Comment, in: Jewish Emancipation Reconsidered,, 163–167. 104 Gershom Scholem, Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch; Noch einmal: das deutschjüdische Gespräch; Juden und Deutsche, in: ders., Judaica  2. Frankfurt: Suhrkamp, 1970, 7–46. Dazu im Widerspruch: Paul Mendes-Flohr, German Jews. A Dual Identity. New Haven/London: Yale University Press, 1999, 91–95.

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– und nur dieser Aspekt kann hier abgedeckt werden –, lag den meisten nicht jüdischen und jüdischen Deutschen jedenfalls viel daran, bei der Darlegung der deutschen Kultur partikularistische Aspekte herunterzuspielen, was ebenso die österreichischen, elsässischen und Prager wie die jüdischen Varianten betraf. Das wurde der inneren Vielfalt und Originalität der jeweiligen Kulturen nicht gerecht und marginalisierte, wie dargelegt, ihre fruchtbaren Wechselwirkungen untereinander und im Austausch mit nicht deutschen Kulturen. Es besteht kein Zweifel, dass mit diesem Verschweigen im Verfolg der Nationalisierung der deutschen Kultur den Juden als wichtigen Akteuren am meisten Unrecht widerfuhr. Im Sinne kultureller Assimilierung all dieser Tendenzen lehnte es das liberale Berliner Tageblatt ab, als Forum für den Vorstoß des jungen, den Zionisten verbundenen Publizisten Moritz Goldstein zu dienen, dieses Unrecht anzuprangern. Goldsteins Aufsatz „Deutsch-Jüdischer Parnass“ wurde hingegen 1912 von Ferdinand Avenarius in dem kulturreformerischen Journal Der Kunstwart abgedruckt, was eine Woge von Kommentaren auslöste, die der zentralen Anklage Goldsteins weithin wirksame Präsenz verschaffte: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht.“105 In auffallender Weise berief sich Goldstein mit den Hinweisen auf die innovativen Leistungen von Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Max Liebermann auf drei Österreicher und einen Deutschen, ging also souverän über regionale – und staatliche – Zugehörigkeiten hinweg, die anderen Beobachtern (besonders Hofmannsthal) wichtiger als jüdische Kriterien erschienen. Nach eigener Aussage lag ihm allerdings neben dem Plädoyer für die Anerkennung jüdischer kultureller Prominenz unter Deutschen noch mehr daran, die deutschen Juden für dieses Thema aufzurütteln und der Wahrnehmung ihrer jüdischen Eigenheit Argumente zu schaffen. Als angehender Zionist, der in dem erwähnten Band Vom Judentum vertreten ist, stellte sich Goldstein gegen die Liberalen und ihre „Überwindung“ der Doppelidentität, wenn er auch außer dem Bekenntnis, als Jude zur deutschen Kultur zu gehören, bei der Benennung der Alternative im Vagen verblieb.106 Wenn selbst Theodor Mommsen, der Gegner von Treitschkes Antisemitismus, den Juden ihre Fremdheit vorwarf und sie aufforderte, diese abzu105 Moritz Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Kunstwart 25 (1912), 281–294, hier 283; Wie� derabdruck mitsamt der Debatte in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 13 (2002). Eine ausführliche Erörterung in Elisabeth Albanis, German-Jewish Identity from 1900 to the Af� termath of the First World War. A Comparative Study of Moritz Goldstein, Julius Bab and Ernst Lissauer. Tübingen: Niemeyer, 2002, 43–145, 274 f. 106 Steven E. Aschheim, 1912: The publication of Moritz Goldstein’s ‘The German-Jewish Parnassus’ sparks a debate over assimilation, German culture, and the ‘Jewish spirit’, in: Yale Compendium to

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legen, obwohl er kurz zuvor ihre volle Zugehörigkeit und ihren Beitrag zur deutschen Kultur heraushob, hatte Goldstein recht, die Widersprüche des Konflikts um kulturelle Integration und Anerkennung zum Kern seines publizistischen Aufschreis zu machen.107 Gegenüber dem zu dieser Zeit geweckten Bedürfnis deutscher Regierungsvertreter, dem Deutschen Reich als Kulturmacht nach außen politische und wirtschaftliche Vorteile zu erringen, zielte Goldsteins bittere Bestandsaufnahme auf eine genuine Pflege und Befruchtung dieser Kultur, sprach aus ihrer langjährigen Kenntnis und engagierten Betreuung. Dass die kulturelle Prestigesucht der Offiziellen mit dieser Betreuung zumeist nicht zur Deckung kam, hat auch ihre Außenwirkung beeinflusst und hinterlässt eine breite Spur in der Gegenbilanz zu den offiziellen und nicht offiziellen, kaiserlichen und regionalen Initiativen zu einer auswärtigen Kulturpolitik, in welcher der Begriff der deutschen Kultur eine so große Rolle spielte. In dem weitläufigen Kulturaustausch und Kunstwettbewerb vor dem Ersten Weltkrieg, der im ersten Kapitel skizziert worden ist, haben Juden eine zentrale Rolle gespielt. Nicht zuletzt auf ihr Engagement an der deutschen Kultur lässt sich zurückführen, dass bei dem marginalen Einsatz der Reichsbehörden, insbesondere des Auswärtigen Amtes, eine so breite Dynamik kultureller Repräsentation des Reiches im Ausland entstehen konnte. Für die Pragmatik des Internationalismus brachten sie sowohl im Osten wie im Westen gewichtige Erfahrungen ein.108 Sie waren führend daran beteiligt, die deutsche Kultur zu entprovinzialisieren, indem sie mit ihrer immensen Sponsorentätigkeit dazu beitrugen, dass Theater, Labo­ ratorien, Museen, Kliniken, Bibliotheken jenes hohe Niveau erreichten, das im Ausland gepriesen wurde. Zugleich stellten sie für diese Unternehmen einen wichtigen Teil des kritischen Publikums, das die hohen Leistungen verlangte und mit denen des Auslands verglich. Eigentlich verdienten sie schon im ersten Kapitel eine eigene Sektion, die dem entgegenwirken würde, was Goldstein der deutschen Gesellschaft vorwarf: dass sie den Anteil der Juden verdränge. Hier muss der Hinweis genügen.109

Jewish Writing and Thought in German Culture, 1096–1996, hg. von Sander L. Gilman und Jack Zipes. New Haven/London: Yale University Press, 1997, 299–303. 107 Eine breitere Diskussion dieses Themas bei Steven M. Lowenstein, Der jüdische Anteil an der deut� schen Kultur, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd.  III: Umstrittene Integration 1871–1918, hg. von Michael A. Meyer. München: Beck, 1997, 302–332. 108 Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte, hg. von Wolfgang Schmale und Martina Steer. Frankfurt/ New York: Campus, 2006. 109 Eine gedrängte Zusammenfassung bei Werner E. Mosse, The German-Jewish Economic Élite 1820– 1935. A Socio-cultural Profile. Oxford: Clarendon, 1989, 297–330 („A Cultural Élite“).

3. Kapitel Der Krieg um die Kulturmacht Die Gleichsetzung von Kultur und Militär Wie stark Kultur das Profil des Reiches nach außen mitbestimmt hatte, bezeugte die Propaganda der Alliierten in den ersten Kriegswochen 1914. Ohne großes Zögern legten Frankreich und Großbritannien ihre Polemik darauf an, neben dem Kaiser und seiner Militärmacht die deutsche Kultur bloßzustellen und das Land als Hort der Barbarei zu denunzieren. Die deutsche Seite lieferte dazu die Entsprechung, indem sie deutsche Kultur und die Militärmacht Deutsches Reich gleichsetzte. Zwar vollzogen alle kriegführenden Staaten ihre innere Einigung unter dem Vorzeichen nationaler Kultur, jedoch klang die Berufung der Deutschen darauf, dass diese Einigung erst dem Militäreinsatz zu verdanken sei, zu überzeugt und begeistert, als dass nicht daraus geschlossen werden konnte, damit erfülle sich eine lange gehegte Strategie. Den Alliierten fiel die Behauptung nicht schwer, der deutsche Geist sei nun endgültig vom preußischen Militärgeist geschluckt worden. Bei der polemischen Zuspitzung auf die politisch-militärischen Implikationen deutscher Kultur lag die Initiative zunächst beim Ausland, spontan und direkt in Frankreich, kurz darauf auch in Großbritannien; eine ähnliche Anschuldigung kam von russischer Seite. Was Adolf von Harnack in der Denkschrift zur Begründung der Kaiser-WilhelmGesellschaft 1909 als Garant der Größe Deutschlands herausgestellt hatte, die Zuordnung von Wissenschaft und Militär, wurde nun mit dem Kulturbegriff amalgamiert.1 Die Gleichsetzung von Kultur- und Militärmacht verschaffte dem deutschen Bürgertum in den aufgeregten Monaten nach Kriegsausbruch Sicherheits- und Selbstgefühl. Das erklärt, weshalb die zentrale Proklamation dieser Gleichsetzung, der Aufruf von 93 der berühmtesten deutschen Wissenschaftler und Künstler unter der Überschrift „An die Kulturwelt!“, der im September 1914 in Tausenden Exemplaren an ausländische Kollegen verschickt und am 4. Oktober in der deutschen Presse veröffentlicht wurde, im Reich selbst nur wenige kritische Kommentare erhielt. Die schnell wachsende Presseabteilung 1

„Die Wehrkraft und die Wissenschaft sind die beiden starken Pfeiler der Größe Deutschlands, und der Preußische Staat hat seinen glorreichen Traditionen gemäß die Pflicht, für die Erhaltung bei� der zu sorgen.“ Denkschrift von Harnack an den Kaiser, in: 50 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Göttingen: Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft, 1961, 89.

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des Auswärtigen Amtes hatte zusammen mit dem Nachrichtenbüro des Reichsmarineamtes den Aufruf und seine Veröffentlichung gefördert. Mit ihm suchten Schriftsteller und Gelehrte die Anschuldigungen des Auslands zurückzuweisen, das Reich sei am Kriegsausbruch schuld, habe die Neutralität Belgiens freventlich verletzt und die Gesetze des Völkerrechts missachtet. Bereits die dilettantische Form des Zustandekommens – zu der gehörte, dass berühmte Unterzeichner nicht einmal den Text richtig kannten – machte deutlich, wie hier eine geistige Elite die lange Separierung von der Politik mit einem plötzlichen Adrenalinschub überwinden zu können glaubte, mit dem Ergebnis, dass diese Solidarisierungsaktion im Namen von Goethe, Kant und Beethoven mit der Verdrehung der Fakten im Ausland zugleich als Inbegriff des Selbstverrats einer stolzen Kulturmacht verstanden wurde. Von den Schriftstellern Ludwig Fulda und Hermann Sudermann als Antwort auf die ausländischen Anschuldigungen konzipiert, vereinte das Manifest mit den provokativ wiederholten Worten „Es ist nicht wahr …“ eine Reihe der berühmtesten und im Ausland geachtetsten Autoren und Gelehrten, darunter Fritz Haber, Max Planck und Wilhelm Röntgen ebenso wie Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, Adolf von Harnack und Karl Lamprecht. Viele von ihnen fanden sich kurz darauf in dem in diesem Geist gegründeten Kulturbund deutscher Gelehrter und Künstler zusammen. Die von dem Berliner Professor der Medizin, Georg Friedrich Nicolai, unter Mitwirkung von Albert Einstein, Wilhelm Foerster und Otto Buck verfolgte Gegenaktion, einen „Aufruf an die Europäer“ zu verbreiten, wurde nicht ausgeführt. Nicolai wurde später zur Zielscheibe scharfer Attacken der Rechten. Einstein hielt an seinem Internationalismus fest, der ihm, abgesehen von antisemitischen Vorwürfen, das Misstrauen der Kollegen einbrachte, das auch in der Nachkriegszeit andauerte. Bis dahin hatten sich nicht wenige der Unterzeichner von dem Manifest distanziert, als dessen Kern der Satz galt: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt“.2 Auch wenn die genauere Lektüre des Textes die von gegnerischer Seite daraus gefolgerte absolute Militarisierung von Kultur und Wissenschaft nicht hergibt, legte das brutale Vorgehen der deutschen Truppen bei der völkerrechtswidrigen Besetzung Belgiens, bei dem das „Strafgericht“ der Zerstörung der Bibliothek von Löwen die internationale Öffentlichkeit besonders empörte, 2

An die Kulturwelt!, in: Jürgen von Ungern-Sternberg und Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Steiner, 1996, 145. Vgl. die ausführliche, ausländische Stimmen berücksichti� gende Dokumentation „Der Krieg der Gelehrten und der Aufruf an die Kulturwelt“, in: Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914, hg. von Her� mann Kellermann. Weimar: Vereinigung Heimat und Welt, 1915, 27–113.

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eine solche Folgerung nahe. Kultur wurde nicht nur für den Ursprung, sondern auch die Formen der deutschen Kriegsführung verantwortlich gemacht.3 Ähnliches gilt für den kürzeren Text der „Erklärung der Hochschullehrer des deutsches Reiches“ vom 16.  Oktober 1914, den der weltberühmte Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff verfasste und der die Unterschrift von über 3.000 Hochschullehrern trug.4 Besonders im neutralen Ausland zeigte man sich darüber bestürzt, in welch selbstzufriedenem Ton deutsche Gelehrte und Schriftsteller verkündeten, die deutsche Armee sei völlig im Recht. Hier verschwand die Distanz zwischen Militär und Kultur, die 1871 als prekär hingestellt worden war. Das Wort von den „deux Allemagnes“, mit dem der französische Philosoph Emile Caro den Sieg Preußens über das geistige Deutschland angeklagt hatte, machte nicht nur im Ausland die Runde. Deutschlands geistige Eliten ließen keinen Zweifel mehr daran, dass dieser Sieg vollzogen war. Wer bei Kriegsbeginn noch die Unterscheidung der zwei Deutschland als mildernden Umstand vertreten hatte, musste nun konzedieren, dass es nur noch das eine Deutschland gab, in dem Kultur und Militär untrennbar zueinandergehörten. In Frankreich, Großbritannien und Russland verstand man, diese Ineinssetzung als ein Skandalon propagandistisch auszuschlachten, während die Deutschen sie als Teil der Solidarisierung einer bis dahin unvollständig integrierten Nation feierten. Aus dem Unverständnis über die ausländische Reaktion rührte der Schock, dem Ernst Troeltsch als grundlegend für die Reaktion der Deutschen in den ersten Kriegsmonaten mit den Worten Ausdruck gab: „Wir waren auf die imperialistische Auseinandersetzung gefaßt, aber nicht auf die Verflechtung mit einem solchen Kulturkrieg.“5 Angesichts der einmütig angenommenen, von Reichskanzler Bethmann Hollweg am 4. August 1914 vor dem Reichstag formulierten These vom Defensivkrieg war es in der Tat schockierend zu hören, dass der vom Reich mit dem Einmarsch in Belgien begonnene Krieg nun aller 3

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Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker, 14–18, Understanding the Great War (übers. aus dem Franz. von Catherine Temerson). New York: Hill & Wang, 2002, 148; Jürgen von UngernSternberg, Wie gibt man dem Sinnlosen einen Sinn? Zum Gebrauch der Begriffe ‚deutsche Kultur‘ und ‚Militarismus‘ im Herbst 1914, in: Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, hg. von Wolfgang J. Mommsen. München: Oldenbourg, 1996, 76–96, hier 91–93; Wolfgang Schivelbusch, Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus der Zeit der Weltkriege. München: Hanser, 1988, 25–31. Bernhard vom Brocke, Wissenschaft und Militarismus. Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg, in: Wilamowitz nach 50  Jahren, hg. von William Calder  III u.  a. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985, 649–719, hier 707–719. Ernst Troeltsch, Die Ideen von 1914. Rede, gehalten in der ‚Deutschen Gesellschaft von 1914‘, in: Neue Rundschau 27 (1916), 605–624, hier 607.

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8 “The Triumph of ‘Culture’“, Karikatur in Punch or the London Chiarivari, 23.8.1914 Bd. 147 (23.8.1914)

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Welt vor Augen führe, wie sich in der von den Deutschen als unpolitisch etikettierten Kultur ihre Hegemonialsucht und Militanz manifestiere und wie die Berufung auf Kultur nur verschleiere, was der preußische Militärgeist verkörpere: ebenjene Barbarei, vor der er die Welt zu schützen vorgebe.6 Die Schnelligkeit, mit welcher Franzosen wie Henri Bergson bereits kurz nach den Kriegerklärungen mit dem Vorwurf der Barbarei reagierten, entsprang dem seit der Niederlage von 1871 vor allem von den Eliten gepflegten Misstrauen und Revanchedenken gegen den deutschen Nachbarn, der im Wettbewerb in Wirtschaft, Militär und Wissenschaft mit wachsender Energie führte und den Stolz auf die eigene Kultur wie eine Fahne hisste, die herabzureißen einer militärischen Eroberung gleichkam. Bergsons Wort in der Rede vor der Académie des sciences morales et politique am 8. August 1914 gab den Ton vor: „Der Kampf gegen Deutschland ist der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei.“7 In Großbritannien wandelte sich die zunächst um Ausgleich mit Deutschland bemühte Debatte mit der geschickt konzipierten Rede des Außenministers Edward Grey am 3. August zu einer Solidaritätserklärung vieler Gelehrter zugunsten des Kriegseintritts gegen das Deutsche Reich.8 Anders als in Frankreich, wo die Abneigung gegen Deutschland gleichsam staatlich sanktioniert worden war, entwickelte sich jenseits des Kanals erst in diesen Tagen eine Politik der Gegnerschaft, die sich aus der lange angenommenen Nähe zum ‚deutschen Verwandten‘ löste und eine plötzliche Dynamik erfuhr. Wissenschaftler, die noch kurz zuvor mit ihren deutschen Kollegen enge Kontakte unterhalten hatten, machten dem damit verbundenen Gefühl Luft, von den Deutschen betrogen worden zu sein. Noch am 1. August 1914 publizierte die Times den Aufruf britischer Gelehrter gegen den Krieg, in dem es hieß: „Wir betrachten Deutschland als eine Nation, die in Kunst und Wissenschaft den Weg weist, und wir alle haben gelernt und lernen weiterhin von deutschen Wissenschaftlern“. Ein militärischer Konflikt „mit einer uns so verwandten Nation, mit der uns so viel verbindet“, sei „eine Sünde gegen die Zivilisation“.9 Die wenig später publizierte antideutsche Polemik nährte sich in ihrer schnellen Eskalierung in starkem Maße aus der Anstrengung, die engen Kontakte zur deutschen Wis6 7 8 9

John Horne und Alan Kramer, German Atrocities, 1914. A History of Denial. New Haven: Yale University Press, 2001. Audoin-Rouzeau/Becker, 14–18, Understanding the Great War, 146. Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn: Schöningh, 2004, 117–122. Scholars’ Protest against War with Germany, in: The Times (1.8.1914), zit. nach Peter Alter, Bewun� derung und Ablehnung. Deutsch-britische Wissenschaftsbeziehungen von Liebig bis Rutherford, in: Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, hg. von Lothar Jordan und Bernd Kortländer. Tübingen: Niemeyer, 1995, 296–311, hier 299.

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senschaft vergessen zu machen; sie wurde umso aggressiver, je mehr man sich mit Deutschland verbunden gesehen hatte. Es lag in der Natur der angenommenen Verwandtschaft, dass sich jede Seite von der anderen betrogen fühlte. In Deutschland schoss man sich sehr schnell auf das „perfide Albion“ ein, nachdem die Nachricht, Großbritannien habe Deutschland wider Erwarten den Krieg erklärt, einen gewaltigen Schock ausgelöst hatte. In Russland waren es nicht die Gelehrten, die sofort reagierten, sondern größere Segmente der städtischen Bevölkerung, die nach der deutschen Kriegserklärung ihren Ärger und Hass an den dort lebenden Deutschen oder Deutschrussen ausließen. So erlebte die deutsche Gemeinde in St. Petersburg im Juli und August 1914 den Ausbruch einer antideutschen Hysterie, bei der die erst ein Jahr zuvor errichtete, von Peter Behrens herausfordernd herrschaftlich entworfene Botschaft geplündert wurde und die krönende Figurengruppe über der Säulenfront einbüßte. Was man in den vorhergehenden Jahrzehnten – eigentlich Jahrhunderten – an den Deutschen, die beim Aufbau des Landes entscheidend beteiligt gewesen waren, an Herrschaftsanmaßung, Arroganz und Kälte kritisiert hatte, sah man in diesem Botschaftsbau verkörpert. Der Gebrauch des Deutschen in der Öffentlichkeit wurde verboten, deutsche Zeitungen wurden im Dezember 1914 eingestellt, deutsche Institutionen geschlossen. Künstler und Schriftsteller machten ihre scharf ablehnenden Reaktionen durch die Presse weithin zugänglich, die Gelehrten brauchten etwas länger. Bei ihnen äußerte sich das Dilemma den Deutschen gegenüber besonders schmerzlich, insofern viele von ihnen ihre akademische Schulung an deutschen Universitäten erfahren hatten und nun die Übergabe der Kultur an den Militarismus bei denselben Professoren konstatieren mussten, die sie als Lehrmeister anerkannten. Auch hier musste man den Gesichtsverlust überwinden, so eng mit dem nunmehrigen Feind verbunden gewesen zu sein. Von Betrug war die Rede, und alle Negativstereotypen schienen nun zu passen. Der Behauptung im Aufruf „An die Kulturwelt!“, dass die deutsche Kultur ohne den deutschen Militarismus längst vom Erdboden getilgt wäre, hielten Kiewer Professoren in ihrer öffentlichen Stellungnahme entgegen: „Wenn die deutschen Gelehrten, statt sich in einer Atmosphäre der Selbstentzückung einzuhüllen, ihren Nachbarn mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, hätten sie erkannt, dass der deutschen Kultur von jenen keine Gefahr drohte, da sie ihr immer mit unwandelbarer Achtung begegneten, ‚vielleicht sogar mehr, als sie verdient‘“.10 Das Skandalon wirkte. Wer die Gräuelnachrichten über den Einmarsch der Deutschen in Belgien las, schreckte angesichts der Härten dieser Militärmacht 10 Zit. nach Trude Maurer, Der Krieg der Professoren. Russische Antworten auf den deutschen Aufruf „An die Kulturwelt!“, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/1, 221–247, hier 237.

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auf. Wurden die Meldungen über die Brutalitäten der deutschen Armee in den Kontext der von Deutschen als universal ausgegebenen deutschen Kultur gestellt, gewann das Argument vom Krieg als Kulturkrieg Substanz. Hier schlug die alliierte Propaganda zu. Immer wieder bezog sie sich, zumal in Großbritannien, darauf, dass das Dreigestirn Nietzsche–Treitschke–Bernhardi (Friedrich von Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg, 1913) Deutschlands Weg in den Krieg vorbereitet habe. Deutsche Gelehrte erkannten sich in dieser Assoziation nicht wieder, wohl aber in den Angriffen auf die deutsche Kultur. Dass Kultur so schnell und eindringlich ins Zentrum der Propaganda rücken konnte, traf die deutsche Seite unvorbereitet. Der unpolitischen Definition von Kultur verpflichtet, war sie sich nicht bewusst, dass mit dem Überschreiten der belgischen Grenze die Demonstration der Kulturmacht als Teil der Kriegshandlung verstanden würde. Die Fahne, die man im Frieden aufgerichtet hatte, zog nun selbst das feindliche Feuer auf sich. Als erste Aufgabe sah man die Notwendigkeit, sie zu verteidigen. Was die internationale Öffentlichkeit von der deutschen Seite zu hören bekam, waren Richtigstellungen und Dementis, keine werbende kulturelle Programmatik. Der Schlüssel zur Wirksamkeit der alliierten Kulturpropaganda lag weniger in der Reaktionsschnelligkeit öffentlicher Polemik – darin standen die Deutschen ihren Gegnern in den Herbstwochen 1914 keineswegs nach – als an der Fähigkeit, über den direkten Austausch von Vorwürfen des Barbarentums hinauszugehen und der Öffentlichkeit in neutralen Ländern wie den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Spanien, Schweden und den Niederlanden Argumente zu liefern, die den deutschen Überfall auf das neutrale Nachbarland als Ausdruck eines grundsätzlich antizivilisatorischen Denkens und Handelns, nicht als bloßen Fehltritt erscheinen ließen. Mit dem Vorwurf, die Deutschen hätten auf furchtbare Art die Kultur verraten, mussten die Verantwortlichen allerdings gegen eine große Tradition deutscher Verdienste um die Kultur antreten, die in diesen Ländern – wie auch in Frankreich, Großbritannien oder Russland selbst – keineswegs über Nacht weggewischt werden konnte. Umso mehr versteifte sich die Presse der Alliierten darauf, dass der Krieg nur offenbare, was der deutschen Kulturexpansion in den Jahren zuvor zugrunde gelegen habe: die Ausdehnung nationaler Macht. Kultur und Wissenschaft hätten dem preußischen Militarismus nur Steigbügeldienste geleistet. Demgegenüber versäumte es die deutsche Seite mit ihrer These, man führe einen Defensivkrieg zur Verteidigung der deutschen Kultur, der angesichts der großen kulturellen Leistungen der Deutschen keiner Propaganda bedürfe, der Öffentlichkeit in diesen Ländern Argumente zu liefern, mit denen sich die Sache der Mittelmächte nicht nur als vertretbar, sondern als verteidigenswert akzeptieren ließ. Bezeichnend für die Naivität beim Appell an diese Nationen ist der Brief, den Ernst Haeckel und

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Rudolf Eucken, zwei weltbekannte Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur, am 31. August 1914 an die amerikanischen Universitäten richteten und in dem sie folgerten: „Diese Universitäten wissen, was die deutsche Kultur der Welt bedeutet, so werden sie zu Deutschland stehen.“11 Auch in anderen Ländern hatte man vor 1914 die Bereiche von Kultur und Politik auseinandergehalten. Das war keine deutsche Spezialität. „Gewalt und Kultur waren in getrennten Abteilungen“, stellte George Bernard Shaw fest.12 Die Ausnahme bildete Frankreich mit dem Verständnis von civilisation als gesellschaftlichem, alle Lebensbereiche umfassendem Begriff, der „nicht trennscharf abgegrenzt [war] gegenüber dem Begriff der Politik“ und der die Praxis der Kulturpolitik mitbestimmte.13 In vielen Ländern stimmte man der Ansicht der gebildeten deutschen Mittelklassen zu, dass Kultur „einen Raum des Rückzugs und der Freiheit von den drückenden Zwängen eines Staates“ bedeutete, der ihnen „den Zugang zu den meisten seiner Führungspositionen und zu den Verantwortungen, der Macht, dem Prestige, die damit verknüpft waren, verweigerte.“14 Umso schockierender war es zu hören, dass Deutschland die guten Sitten internationalen Zusammenlebens verletze, indem es Kultur mit militärischer Eroberung vermische. Auch diese Mischung war, wie die neuere Geschichte Großbritanniens und Frankreichs zeigte, keineswegs neu, nur hatte sie sich in deren Fall an der weltpolitischen Peripherie, bei den Kolonialeroberungen des 19. Jahrhunderts, abgespielt. So ließ sich die brutale Niederschlagung der Herero-Revolte in Südwestafrika und der Maji-Maji-Revolte in Deutsch-Ostafrika vonseiten deutscher Kolonialtruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar als Teil eines deutschen ‚Aufholens‘ werten, brachte tatsächlich aber eine unheilvolle Aktualisierung und Intensivierung kriegerischer Durchsetzung der eigenen Mission mit sich.15 Grob gesprochen, manifestierten sich zu Beginn des Krieges in der Erschießung und brutalen Behandlung belgischer Zivilisten – als „Franctireurs“, das heißt Partisanen – und in der Verwüstung des Stadtkerns von Löwen mit seiner Bibliothek Taktiken kolonialer Unterwerfung, bei denen das, was anfänglich noch kulturell – oder in den Ko11 Ernst Haeckel und Rudolf Eucken, An die amerikanischen Universitäten. To the Universities of America. Jena 1914, 5, zit. nach Hoeres, Krieg der Philosophen, 123. 12 Zit. nach Roland N. Stromberg, Redemption by War. The Intellectuals and 1914. Lawrence: The Regents Press of Kansas, 1982, 181. 13 Rudolf von Thadden, Aufbau nationaler Identität. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neu� zeit, hg. von Bernhard Giesen. Frankfurt: Suhrkamp, 1991, 493–510, hier 508. 14 Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Schröter. Frankfurt: Suhrkamp, 1989, 166. 15 Isabel V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany. Ithaca: Cornell University Press, 2005, 1–4, 174 f., 226–242 und passim.

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lonien zivilisatorisch – motiviert war, von der Eigendynamik militärischen Durchbruchswillens absorbiert wurde. Die zahllosen deutschen Versicherungen, man halte an den Grundsätzen von der unpolitischen Natur der deutschen Kultur fest, erweckten daher umso mehr Misstrauen, je mehr sie die angesichts des Einmarsches in Belgien und Frankreich fragwürdige Auffassung vom Verteidigungskrieg stützen sollten. Kern der alliierten Angriffe bildete das Argument, Deutschland habe sich selbst aus dem internationalen Zusammenleben ausgeschaltet; das Land müsse als Störenfried dieser Ordnung die Konsequenzen erfahren; die Welt müsse den Kampf nicht nur gegen den deutschen Militarismus, sondern auch die deutsche, mit dem Militarismus verbundene Kultur führen. Kultur fungierte dabei, wie in den meisten Analysen und Verlautbarungen vor 1914, als Sammelbegriff für nationale wie internationale Formen der Zivilisation, allerdings geschah nun die Kontrastierung mit den potenziell entfremdend und negativ codierten ökonomischen und industriell-technischen Aspekten auf Kosten des Feindes. So schob man in Frankreich und Russland den Barbarismus moderner Technik und Rationalität auf Deutschland und seine militärische Kultur, während man in Deutschland das Etikett vom entseelenden Materialismus an den Begriff der kapitalistisch-rationalistischen Zivilisation des Westens heftete. Die Gleichsetzung deutscher Kultur mit Barbarei bezog den Ruch des Bösen, Auszuschließenden sowohl von ihrer Verkoppelung mit dem Militär wie von der Assoziation mit den Negativkräften der modernen Zivilisation. In der 1915 entstandenen Schrift Das deutsche Volk und die Politik, der neben Friedrich Naumanns Mitteleuropa und Max Webers Kommentaren wohl bedeutendsten Analyse des politischen Potenzials Deutschlands zu dieser Zeit, gab sich Hugo Preuß, der später wesentliche Teile der Weimarer Verfassung entwarf, nicht erst lange mit dem Kulturkrieg der „Intellektuellen hüben und drüben“ ab, als er auf sein Hauptthema, die peinvolle Isolierung des deutschen Reiches in der Welt, zusteuerte. Preuß, der den Aufruf der 93 Hochschullehrer nicht unterzeichnet hatte, beließ es bei der Feststellung: „Die volle Ebenbürtigkeit des deutschen mit jedem anderen ersten Kulturvolk in Wissenschaft und Kunst, in Technik und Wirtschaft ist so unzweifelhaft, dass es gleich widersinnig erscheint, sie bestreiten oder sie beweisen zu wollen. Und doch liegt in dem Versuch solcher Beweisführung schon ein bedeutsamer Hinweis auf das, worauf es hier ankommt; es spricht aus ihm die starke volkspsychologische Abneigung, politische Dinge rein politisch zu betrachten.“16 Preuß war sich bewusst, dass ein Großteil intellektueller Energien der Mittelmächte in die Abwehr des Vorwurfs investiert wurde, sie seien Barbaren. Ihm war bewusst, dass dieser Krieg, 16 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena: Diederichs, 1916, 49.

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indem er von den Eliten als Kulturkrieg behandelt wurde, entscheidende politische Auseinandersetzungen verbarg und verdrängte. Die kulturell begründete Einmaligkeitserklärung sei zwar wichtig, konstatierte er, jedoch stelle die nun machtvoll angekurbelte „Legende vom Störenfried“ Deutschland eine andere, politisch gefährlichere Sache dar. Diese Legende zu fassen und zu widerlegen, bemühte sich Preuß in dem gleichnamigen Aufsatz im Jahre 1916, in dem er vor ihrer Tendenz warnte, den Krieg ungebührlich zu verlängern. „Die Menschheit gegen Deutschland aufzubringen, ist ja der eigentliche Zweck der Legende“, stellte er fest. „Hat sich nun in dem furchtbaren Ringen dieser Staat gegen mehr als die halbe Welt doch behauptet, so soll jene Legende die blindwütige Stimmung wach erhalten, die den Erschöpfungskrieg gegen den Störenfried als eine sittliche Pflicht ohne Rücksicht auf die gegebenen Tatsachen fordert. Das ist das Verhängnis der gegenwärtigen Lage.“17 Preuß’ Befürchtungen bewahrheiteten sich. So vage das Konzept vom Störenfried Deutschland war, so mächtig wirkte es in Politik und Propaganda weit über den Ersten Weltkrieg hinaus. Es projizierte eine internationale Gemeinsamkeit, deren Existenz vom Gegner, dem Störenfried, mehr als von irgendwelchen Institutionen garantiert wurde. Damit tat es seine Dienste sowohl bei Kriegsausbruch als auch bei der Erhaltung der vielfach kompromittierten Kriegspartnerschaft der Nationen und schließlich bei den Versailler Verhandlungen über die internationale Nachkriegsordnung. Hier ging es nicht mehr nur um eine Legende. Daran, dass das Konzept vom Störenfried im 20. Jahrhundert, besonders nach 1933, einer erneuten Solidarisierung der Nationen gegen Deutschland entscheidende Impulse verschaffte, hatten die Deutschen wiederum zentralen Anteil. Insofern dieses Konzept mehr assoziierte als den Gegensatz von Deutschland mit dem Westen, aus dem die Intellektuellen von 1914 so viele Funken schlugen, nämlich den Gegensatz zur Welt generell, behielt es für die verschiedenen antideutschen Koalitionen unter Einschluss der Russen seine politische Durchschlagskraft.

Kulturkrieg und die „Ideen von 1914“ Die Gleichsetzung deutscher Kultur mit der Militärmacht Deutsches Reich, welche die Bildungseliten als Kern nationaler Identität erhöhten und verteidigten, hatte zur Folge, dass das Bewusstsein von der Vielfalt deutschsprachiger Kultur im Zentrum Europas verlorenging. An deren Stelle kristallisierte sich 17 Hugo Preuß, Die Legende vom Störenfried (1916), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Lothar Albertin. Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 583–599, hier 596.

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eine eher grobkörnige Vorstellung kultureller Erneuerung durch den Krieg heraus. Verführt von dem Denken, dass der kulturelle Niedergang infolge des Vordringens von Industrie, Materialismus und Entpersönlichung vom einheitsstiftenden Aufbruch der Nation 1914 nicht nur aufgehalten, sondern in eine Erneuerung der deutschen Kultur von ‚unten‘, den Kräften des Volkes her, überführt werden könne, mischten Gelehrte und Publizisten aus dem Miteinander von Militär, Volk und Kultur ein nationales Erneuerungsprogramm, die „Ideen von 1914“, das dem furchtbaren Kriegsgeschehen einen weithin vertretbaren Sinn verleihen sollte. So hoch der Preis an Menschenleben auch war, in der ersten Phase des Krieges erfuhr das Sprechen über Kultur in der nationalen Erneuerung eine neue Konjunktur als Sinngeber des Krieges. Vor 1914 ausgiebig mit dem Lamentieren über den Niedergang der deutschen Kultur beschäftigt, konnten sich deutsche Gelehrte nun an deren Größe und Macht nicht genug berauschen. Bezeichnenderweise prägten im Herbst 1914 die Bildungsbürger, nicht die Alldeutschen den Propagandakrieg auf deutscher Seite. Während die Alldeutschen, die als politische Organisation bereits vor dem Kriege mit ihren Weltmachtplänen den Ruf des Reiches schwer geschädigt hatten, in der zweiten Phase des Krieges, nach 1915, den expansionistischen Ton wieder aufnahmen und die auswärtige Propaganda des Reiches durch Annexionsforderungen irreparabel kompromittierten, war es zunächst an den politisch zuvor nicht aktiven Bildungseliten, den Ruf des Landes im nationalen Sinne zu verteidigen. Hierin lag die Empfindlichkeit begründet, mit der die deutsche Seite auf den Vorwurf der Alliierten, ihre Kultur sei Barbarei, einging und sich daran festhakte. Einflussreiches Beispiel dafür wurde Thomas Manns viel zitierter Essay vom Herbst 1914, „Gedanken im Kriege“. Mit dem Hinweis darauf, er fasse die deutsche Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation, die sich auf Nietzsche und Schiller zurückführen lasse, zusammen, hat man ihn als Zeugnis eines ‚deutschen‘ Kulturdenkens kanonisiert. Was dabei unter den Tisch fiel, ist Manns Eingeständnis, dass beide Begriffe in Deutschland häufig gleichgesetzt würden, er also nicht eine Tradition zusammenfassen, vielmehr eine spezifische Abgrenzung privilegieren wolle.18 In der Herabsetzung westlicher Zivilisation als Hort oberflächlichen Materialismus und moralischer Verwilderung ließ seine Definition nichts zu wünschen übrig. Dass sie kanonisch werden konnte, 18 „Die später im 20.  Jahrhundert verbreitete Antithese von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ war also um 1914 vorbereitet. Dennoch ist keineswegs sicher, ob sie ohne den Ersten Weltkrieg je zu einer Selbst� verständlichkeit geworden wäre.“ Jörg Fisch, Zivilisation, Kultur, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhard Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 2004 (Studienausg.), 679–774, hier 750, s. auch 759–769.

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hat wenig mit Schiller und Nietzsche, jedoch viel mit dem Krieg, genauer dem um Kultur als Identitätsmuster geführten Propagandakrieg zu tun, in dem die deutsche Seite viel Energie darin investierte, eine tiefere Verankerung ihrer Kultur zu belegen. So sehr verinnerlichte Mann den Vorwurf der Barbarei, dass er einleitend so ziemlich alles, was wild und kontraproduktiv erscheinen konnte, zugunsten seiner doppelten deutschen Kulturdefinition aufführte, die einerseits auf Haltung und Form, andererseits auf vitale Authentizität zielte: „Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzi, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist. Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer Widersinn, wenn man sagt, dass er auch antigenial ist.“19 Wäre diese Gegenüberstellung ironisch verpackt worden, könnte man meinen, Thomas Mann hätte die Ausgrenzung der deutschen Kultur aus der westlichen Zivilisation nicht kritischer bewerkstelligen können. Das Entscheidende des Essays ist jedoch, dass er die Ausgrenzung unironisch, in voller Kenntnis der Qualitäten westlich-demokratischer Zivilisation als Teil deutscher Genialität hinstellte.20 Wie unironisch er es meinte, beweist die darauffolgende Attacke auf die demokratische Agenda seines Bruders Heinrich Mann, den Thomas als „Zivilisationsliteraten“ abtat, und die Gleichsetzung des Künstlers mit dem Soldaten (und die Verteidigung der Beschießung der Kathedrale von Reims). Seine Version der Kopulation von Kultur und Militär lautet: „Jenes siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation – es ist ja das erste Prinzip, das Wesen der Kunst.“21 Und in anderer Übertragung des Ästhetischen auf den Krieg: „Ob aber ein Volk wahrhaft kriegerisch ist, zeigt sich daran, ob es sich, wenn der Krieg Schicksal wird, verschönt oder verzerrt. Deutschlands ganze Tugend und Schönheit – wir sahen es jetzt – entfaltet sich erst im Kriege. Der Friede steht ihm nicht immer gut zu Gesicht – man konnte im Frieden zuweilen vergessen, wie schön es ist.“22 Im Propagandadiskurs über deutsche Kultur befangen, bestätigte Thomas Mann in erschreckender Weise das Skandalon der Gleichsetzung von Kultur19 Thomas Mann, Gedanken im Kriege, in: Neue Rundschau 25 (1914), 1471–1485, hier 1471. 20 Als Beispiel für die ans Absurd-Triviale grenzende Verteidigung der deutschen Kultur, einschließlich des Barbarenvorwurfs, von gelehrter Seite: Oskar Fleischer, Vom Kriege gegen die deutsche Kultur. Ein Beitrag zur Selbsterkenntnis des deutschen Volkes. Frankfurt: Keller, 1915. 21 Mann, Gedanken im Kriege, 1473. 22 Ebd., 1479.

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und Militärmacht. Gegen die ‚befreiende‘ Wirkung dieser Privilegierung von „Kultur“ über „Zivilisation“ erhoben nur wenige Zeitgenossen öffentlich ihre Stimme. Auf überzeugende Weise tat das der Publizist Wilhelm Herzog, der Anfang 1915 unter dem Titel „Klärungen: Kultur und Zivilisation“ in der neben den Weissen Blättern kritischsten Zeitschrift Das Forum deutlich machte, dass die Trennung von Kultur und Zivilisation das Produkt einer vom Politischen abgehobenen intellektuellen Kaste darstelle. „Ein modernes Volk jedoch, das andern ein Beispiel sein will, wird auf jede Kultur verzichten, die sich mit Vitzliputzli, Götzenglauben, ungerechter Gewalt und Brutalität dem Geistigen gegenüber verträgt.“ Eine Reinigung sei nötig, sodass bei Kriegsende „in jedem Hirn Kultur und Zivilisation nicht mehr trennbare Begriffe geworden sind.“ 23 Genau dieser Reinigung stellte sich Thomas Mann in den folgenden kriegsbegleitenden Reflexionen, Betrachtungen eines Unpolitischen, entgegen, mit denen er für den Abwehrkrieg gegen die westliche Zivilisation in Russland, mit dem ein mörderischer Krieg im Osten ausgefochten wurde, einen mächtigen Bundesgenossen berief, dem er geradezu eine Prärogative im Stoß gegen den ‚bloß‘ rationalistischen, ‚bloß‘ zivilisatorischen Westen einräumte. Kein Geringerer als Dostojewski lieferte ihm zu Beginn der Betrachtungen den Weihrauch für die Segnung Deutschlands als des „protestierenden Reiches“ gegen den Westen seit 2.000 Jahren, und wenn sich Mann in seiner Wendung nach Osten auch von den Propagandaklischees des Antislawismus freihielt, erkaufte er das für den Preis der Mythisierung einer deutsch-russischen Seelenverwandtschaft, mit der er den Diskurs über Russland noch weiter von den Problemen entfernte, die der ab 1915 erfolgreiche Vorstoß der deutschen und österreichischen Armeen für eine konstruktive Nutzung deutscher Kultur bei der Behandlung Russlands aufwarf.24 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Mythisierung der schöpferischen Kräfte Russlands vor allem aus den eindrucksvollen Innovationen in Theater, Tanz, Musik und Malerei gespeist, am sensationellsten bei den Ballets Russes von Serge Diaghilew, die in den großen Städten Europas jene Verknüp23 Wilhelm Herzog, Klärungen: Kultur und Zivilisation, in: Das Forum 1 (1915), 553–558, hier 558. Eine noch ausführlichere Kritik von Thomas Manns „Gedanken im Kriege“ führte Herzog in Die Überschätzung der Kunst, in: ebd., 445–458. 24 „Nein! Wenn Seelisches, Geistiges überhaupt als Grundlage und Rechtfertigung machtpolitischer Bündnisse dienen soll und kann, so gehören Rußland und Deutschland zusammen: ihre Verständigung für jetzt, ihre Verbindung für die Zukunft ist seit den Anfängen des Krieges der Wunsch und Traum meines Herzens, und mehr als eine Wünschbarkeit: eine weltpolitisch-geistige Notwendigkeit wird diese Verständigung und Verbindung sein, falls, was wahrscheinlich ist, der Zusammenschluß des Angelsachsentums sich als dauerhaft erweisen sollte.“ Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, hg. von Hermann Kurzke (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd.  13.1). Frankfurt: Fischer, 2009, 480.

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fung der Kulturen vor Augen führte, die man als internationale Moderne feierte. Thomas Mann machte sich nun zum Sprachrohr einer politischen Inanspruchnahme der russischen Selbst- und Neuerfindung, die bei Deutschen zu einer Zeit neuer Bemühungen um die politische Definition ihrer Kultur Resonanz fand. Allerdings bedeutete das keine genauere Beschäftigung mit Russlands gegenwärtiger Politik. Da blieben Experten wie Otto Hoetzsch, Paul Rohrbach oder Hans Delbrück, der Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, mehr oder weniger unter sich. Die akademische Intelligenz setzte den Tolstoiund Dostojewski-Kult fort, engagierte sich im Übrigen aber an der Polemik gegen „den Westen“, die in den „Ideen von 1914“ eine neue Begründung fand. Diese in vielerlei Ausformungen virulenten „Ideen von 1914“ gründeten auf Gedanken von Johann Plenge, einem Professor für Staatswissenschaft in Münster, und denen des deutschfreundlichen schwedischen Geopolitikers Rudolf Kelljén. Gelehrte wie Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke suchten in ihnen die vom Westen aufgrund der militärisch-autoritären Regierungsform vorgenommene Ausgrenzung des Reiches aus der internationalen Gemeinschaft mithilfe einer ‚deutschen‘ Agenda ins Positive zu wenden. Aus der un­ erwarteten Solidarisierung der segmentierten deutschen Bevölkerung bei Kriegsbeginn, die rasch zu dem politischen Mythos des „Augusterlebnisses“ avancierte, bezogen sie die Argumente für eine neue Form der Organisierung des Volkes und seiner Freiheit. „Dass das eine andere Idee als die der Westeuropäer ist, wußten wir längst. Aber wie sehr sie anders ist, wissen wir erst seit diesem Krieg“, stellte Troeltsch in seiner vielzitierten Rede „Die Ideen von 1914“ fest. „Gerade hier stehen die Ideen von 1914 denen von 1789 heute scharf und deutlich, aber auch zukunftsreich und schöpferisch gegenüber, nicht als ihre Aufhebung und Vernichtung, aber als eine ganz andersartige Formung des auch in ihnen enthaltenen Strebens nach Freiheit und Würde, Gehalt und Lebenstiefe der Person. Jene haften am isolierten Individuum und seiner überall gleichen Vernunft, diese am Leben des Volksganzen und der persönlichen Einsetzung und Einreihung in dieses.“25 Troeltsch, nicht weniger als Thomas Mann mit der westeuropäischen Argumentation vertraut, zögerte nicht, deren berechtigte Vorwürfe in die Argumentation einzubringen, nämlich den „Gegensatz der westeuropäischen demokratischen Zivilisation gegen das autoritäre, reaktionäre Deutschland mit seiner militärischen Monarchie und seiner Beamtenherrschaft, seinem Unteroffizierston und seiner Schneidigkeit, seinen Kastentrennungen und seinem gebundenen Lebensstil.“26 Nicht viel anders formulierte es 1915 Heinrich Mann in seinem gegen Thomas gerichteten 25 Troeltsch, Die Ideen von 1914, 618. 26 Ebd., 617.

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„Zola-Essay“. Dem Bruder aber verzieh Thomas das nicht. Er warf Heinrich vor, er verrate, indem er als „Zivilisationsliterat“ für die westlichen Ideale eintrete, das Vaterland. Auch der weithin angesehene Historiker Friedrich Meinecke machte die Vorwürfe der Feinde zur zentralen Referenz, als er das mit der „deutschen Erhebung von 1914“ neu entstehende Deutschland pries, das den Erhebungen von 1813, 1848 und 1870 würdig nachfolge. Da es so aussehe, dass der Krieg ein „Kampf der westeuropäischen Kultur gegen die deutsche Kultur“ werden solle, der die geistige, nicht nur politische Isolierung zum Ziel habe, müsse man sich überlegen, ob man mit gleichen Waffen entgegnen solle. Meinecke mahnte, sich an dem Kampf der Ausgrenzungen nicht zu beteiligen, solle der internationale wissenschaftliche und künstlerische Austausch nicht zugrunde gehen. Er bestand darauf, die Vorwürfe der Westeuropäer nicht durch schnelle Rechtfertigungen zu würdigen: „Wir besiegen die Kulturen unserer Gegner nicht dadurch, dass wir ihre Schwächen nachahmen und uns ebenso einkapseln wie sie, sondern dass wir weltweit und aufgeschlossen bleiben wie bisher.“27 Im Herbst 1914 deutete Meinecke, der ja im Weltbürgertum die ‚andere Seite‘ der deutschen Kultur lokalisiert hatte, die Gefahren an, die der Rhetorik der Ausgrenzung innewohnten. Sehr viel deutlicher betonte er das im April 1915 bei einer der Reden in schwerer Zeit, „Deutsche Kultur und Machtpolitik im englischen Urteil“.28 Nachdem sich im Winter 1914/15 der intellektuelle Propagandakrieg mit vielen redundanten Ansprachen und Reden voll entfaltet hatte, ging Ernst Troeltsch im Juni 1915 in derselben Serie von Ansprachen zum ersten Mal daran, die Gefahren des „Kulturkrieges“ aufzuzeigen. Offensichtlich begannen sich für Troeltsch zu dieser Zeit einige der Nebel zu lichten, die er mit seinen öffentlichen Stellungnahmen zum Kampf der Kulturen selbst versprüht hatte. Seine Rede wurde zu einer mahnenden Bilanz der Tatsache, dass sich die deutsche Intelligenz allzu ausschließlich auf einen Kulturkampf hatte festlegen lassen, der, wie er argumentierte, eigentlich von der Entente geschaffen worden war, um deren eigene Mobilisierung als „künstlichen Defensivkrieg“ zu kaschieren. Deutschland bedürfe keines Kulturkrieges, um seine Stellung zu rechtfertigen, die gegen den englischen Imperialismus „die freie Entfaltung der Völkerindividualitäten in ihren geistigen Sonderarten und ihren politisch-wirtschaftlichen Bedürfnissen“ zum Ziele habe.29 Im englischen, demokratisch ausgerichteten 27 Friedrich Meinecke, Die deutsche Erhebung von 1914. Vorträge und Aufsätze. Stuttgart/Berlin: Cotta, 1914, 37. 28 Deutsche Reden in schwerer Zeit, hg. von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und dem Verein für volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern. Berlin: Heymanns, 1915, 69–94, bes. 92. 29 Ernst Troeltsch, Der Kulturkrieg, in: ebd., 209–249, hier 222, 233.

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9 „Demonstriere zu Hause!“ Professor Thuisko Groller in Berlin versetzt zum Zeichen seines unentwegten Protestes jeden Morgen dem Globus ein paar schallende Ohrfeigen‘‘, Karikatur von Olaf Gulbransson in Simplicissimus Jg. 24, H. 3 (15.4.1919) , S.40. © Olaf Gulbransson/VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Moralismus äußere sich, wenn er den deutschen Militarismus angreife, „der Trieb zur Ausschaltung jeder deutschen Macht überhaupt.“ Daraus ergebe sich die Einsicht: „Unter diesen Umständen wäre es eine Naivetät von uns, wollten wir diesen Kulturkrieg anders nehmen als eben auch politisch. Es hat gar keinen Sinn, ihn feierlich ernst beim Wort zu nehmen und Stück um Stück zu widerlegen. Jede Apologetik ist nicht bloß überflüssig, sondern schädlich. Wir beharren bei unserem Wesen, wie wir sind und sein müssen, und setzen dem ganzen Kulturkrieg nur den beharrlichen Willen der Selbstbehauptung ent­

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gegen.“30 Troeltsch gelangte zu der Überzeugung, dass in dem inzwischen mythisierten Einheitserlebnis vom August 1914, nicht im Kulturkampf der entscheidende Antrieb lag, aus dem sich Deutschland als endlich integrierte Nation mit innerer Loyalität und vertretbaren äußeren Zielen neu forme. Kulturfragen sollten sogar bewusst aus dieser „wunderbaren Einigung“ ausgeschaltet werden – in ihnen hatte Troeltsch schon vorher das Erschrecken über den Hass gegen Deutschland lokalisiert. Wie arrogant sich zahlreiche Gelehrte in dieser Selbstisolierung eingerichtet hatten, machte Werner Sombart in seiner gegen England gerichteten Schrift Händler und Helden 1915 deutlich, in der er konstatierte: „Gott sei Dank wird für die nächste Zeit das Maß der internationalen Beziehungen dieser Art von den feindlichen Nationen bestimmt, so dass wir uns selbst darum nicht zu sorgen brauchen.“31 Allerdings konnte sich auch Troeltsch nicht aus der von ihm als idiosynkratisch durchschauten Westfixierung akademischer Eliten lösen – als ob dieser Krieg nicht ebenfalls über die Selbstbehauptung Deutschlands gegenüber dem Osten geführt wurde, aus dem es gerade in der Phase seiner Industrialisierung und Modernisierung einen riesigen Energiezuwachs sowohl an Arbeitskraft wie an intellektuellem Talent bezogen hatte. Dass sich akademische Eliten bei der Legitimierung nationaler Identität so sehr am Westen abarbeiteten, jedoch die Auseinandersetzung mit dem Osten, die im Bürgertum ihre eigene Dynamik entwickelt hatte, im Krieg nur einigen Spezialisten und ansonsten dem Militär überließen, dürfte bereits die verengenden Effekte ihrer Nationalisierung erkennbar machen. Fixiert auf die Selbstermächtigung des deutschen Machthabitus, die die polnischen Nachbarn als bloßes Klischee des Niederen abtat, wie es Gustav Freytag im Roman Soll und Haben exemplifiziert hatte, versagten diese Eliten der intellektuell unterernährten Politik des Reiches gegenüber Ostmitteleuropa die notwendige Unterstützung. Damit öffnete sich ein Vakuum, in welchem militärisches, später auch rassistisches Kolonialdenken die politischen und geistigen Brückenschläge verdrängen konnte, für die sich während der Besatzungszeit durchaus Akteure fanden (und die bezeichnenderweise bisher kaum aufgearbeitet sind). Ausgerechnet das Militär beförderte deutsche Kultur zu einem Agens seiner Behandlung jener riesigen Gebiete im Osten. Kultur erschien ihm gut genug, um bei dieser ungewohnten Form von 30 Ebd., 236. Das entsprach allerdings keineswegs bereits der „‚Demobilisierung‘ der Geister, d. h. einer planmäßigen Dämpfung der Kriegsleidenschaften“ der Professoren, die erst gegen Kriegsende eintrat. S. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politi� schen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen: Musterschmidt, 1969, 180. 31 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München/ Leipzig; Duncker & Humblot, 1915, 134.

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Kriegsführung als Besatzungsherrschaft, die sich vom Stellungskrieg im Westen grundsätzlich unterschied, politische Hilfestellung zu geben. Dem entsprach, dass Thomas Mann Russland auf dessen Ablehnung westlich-moderner Zivilisation reduzierte, die von Dostojewski beispielhaft formuliert und mit der Beschwörung des aus der russischen religiösen Gemeinschaftskultur aufsteigenden Messianismus versehen worden war. Offensichtlich bot Russland mit der Philosophie einer Menschheitserneuerung, der große Schriftsteller wie Dostojewski und Tolstoi ihre Kunst widmeten, für die übrige Welt eine Referenz, deren Wirksamkeit Deutsche mit Neid und Bewunderung wahrnahmen. Was (nicht nur) Thomas Mann imponierte, war die Selbstverständlichkeit, mit welcher Russen ihre Mission an die Welt richteten, etwas, das er auch in der Revolution der Bolschewisten fortgeführt fand. Angesichts der nüchternen Überlegungen, mit denen Kurt Riezler 1916 unter dem Titel „Deutsche Mission“ Deutschlands Potenzial für eine solche Mission als gering einschätzte, verwundert das kaum. „Das aber eben war es“, notierte Bethmann Hollwegs enger Vertrauter, „Deutschland schien den anderen Völkern nichts unmittelbar Brauchbares für die Gestaltung des eigenen Lebens zu sagen zu haben und es fehlte bis vor kurzem jene in die Welt hinausgreifende Politik, die erst das, was ein Volk zu sagen hat, in die Welt hinausträgt.“32

Das andere Augusterlebnis Alle Nationen verstanden die Verteidigung ihrer Kultur als Argument für ihre Beteiligung am Kriege. Überall diente es in der Anfangsphase dazu, dem tödlichen Einsatz junger Männer einen Sinn zu verschaffen. Kurt Flasch hat neben Professoren als Träger dieser Sinnbeschaffung in Deutschland Geistliche und Militärpsychiater herausgestellt.33 In diesen Berufen entsprang diese zunehmend beschwerliche Tätigkeit nicht nur vaterländischer Verpflichtung, sondern bildete Teil vom Dienst. Das Berufsethos der Professoren als Staatsbeamte verlangte zwar nicht die Betreuung der ausfahrenden Truppen, wohl aber den geistigen Einsatz für diesen Staat, besonders wenn ihm ausländische Gelehrte und Publizisten Schuld am Ausbruch der Feindseligkeiten, Barbarei in der Kriegsführung und Verrat an der Kultur vorwarfen. Und sie nahmen diese Aufgabe freiwillig im Sinne ihrer Präzeptorenrolle wahr, engagierten sich in rheto32 Kurt Riezler, Tagebücher – Aufsätze – Dokumente, hg. von Karl Dietrich Erdmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1972, 561. 33 Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin: Alexander Fest, 2000, 372–376.

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rischen Gefechten, die auf intellektuellen Gleisen geführt wurden, die lange vor dem Krieg durch die europäische Landschaft gelegt worden waren. In Troeltschs Bemerkung über das Erschrecken der deutschen Eliten angesichts des aggressiven Verdikts des Auslands über Deutschlands Aktionen manifestierte sich die Bindung an die eingefahrenen Gleise besonders anschaulich: Was bei den wissenschaftlichen und organisatorischen Wechselbezügen als gewohnte Rivalität wahrgenommen und erwidert worden war, kam nun plötzlich auf Geschützwagen vor die Tore der deutschen Festung gefahren. Die viel geforderte Selbstbesinnung über die durch Krieg integrierte Nation verlor sich, zumindest unter Gelehrten und Schriftstellern, einige Zeit lang an das Hin- und Herzerren dieser Geschützwagen auf den Gleisen kultureller Gegnerschaft. In der Wissenschaft nahm die Konfrontation nach einiger Zeit eine Härte an, welche die Tore zur Internationalität schloss, sodass es auch nach Kriegsende lange Zeit dauerte, bis ein einigermaßen produktiver Verkehr wieder aufgenommen werden konnte. Bei der kriegerischen Dienstverpflichtung des akademischen Beamtentums durch den Staat kam dem Konzept Kultur vor allem deshalb Sinnträgerschaft zu, weil es, solange das Reich keine offizielle Kriegsmission besaß – die auch nie geliefert wurde –, der zu verteidigenden Festung eine vertraute Gestalt verschaffte, mit der bürgerliche Schichten zumindest in den beiden ersten Jahren ihr Bedürfnis nach Sinn, Eigenbeteiligung und Erneuerungshoffnungen befriedigen konnten. Das geschah auch dann noch eine Zeit lang, nachdem einsichtige Debattanten wie Troeltsch die politisch-mentale Sackgasse erkannten, in welche man geraten war, indem man die Verteidigung der deutschen Seite auf Kultur sowie ihre Gleichsetzung mit dem Militär verengt hatte. Ohnehin ließ sich die Beschaffung von Sinn aus dieser Quelle nur dann verwirklichen, wenn die Argumentation von den Realitäten der Front, des Kriegsalltags, des Sterbens und Verwundetwerdens einigermaßen unbehelligt blieb, und das konnte nur im Rahmen einer sozial und mentalitätsmäßig einigermaßen homogenen Schicht geschehen, die zudem die Gewissheit besaß, nicht mehr zum aktiven Frontdienst einberufen zu werden. Damit kommt zugleich in den Blick, wo sich die (Schützen‑)Gräben innerhalb der deutschen Intelligenz auftaten: in dem generationsbedingt verschiedenen Verständnis des Krieges. Während die ältere Generation, der sich die Gelehrten zurechneten, den Krieg vorwiegend als Angriff auf die kulturellen Traditionen verstanden, begriffen ihn viele der Jüngeren als Gelegenheit zum Ausbruch aus diesen Traditionen. Abgesehen vom Heeresdienst, der den Jüngeren das äußerste Opfer abverlangte, waren diese frei, ihr Aufbegehren gegen das Alte im nationalen Kriegsidealismus oder expressionistischen Pazifismus auszutragen (soweit es die Zensur zuließ). Auf beiden Seiten heizte sich die Rhetorik des Protests und der Verkündigung ge-

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waltig auf, hin und wieder in Berührung miteinander, im Allgemeinen aber voneinander planetenweit entfernt – einerseits das akademische Beamtentum in militanter Verteidigung von Kultur als Kern nationaler Identität, andererseits expressionistische Autoren und Künstler im Angriff auf eine solche nationale Kultur als Inbegriff der überlebten patriarchalischen Ordnung. In beiden Gruppierungen verband sich die polemische Protesthaltung mit der Bemühung, den Einbruch von Gewalt auch als Vorbedingung für die Entstehung eines Neuen zu deuten, in einem Falle die erhoffte Reichsnation unter Einschluss der bisher Beiseitestehenden, einschließlich der Sozialdemokraten und Juden, im andern Falle die Entfaltung einer neuen Kunst jenseits nationaler Abgrenzungen und bürgerlichen Philistertums. Nicht nur in Deutschland wurde der Einbruch der Gewalt, genauer die Reaktion der Bevölkerung auf den Kriegsausbruch im August 1914, zu einem Mythos erhoben. In Frankreich geschah die Mythisierung des Einheitserlebnisses in den Folgejahren im Begriff der „union sacrée“.34 Unter Deutschen gewann das „Augusterlebnis“ zumindest in den gebildeten Bürgerschichten zentrale Bedeutung für die Sinngebung des Krieges. Troeltsch ließ keinen Zweifel daran, dass die darauf beruhenden „Ideen von 1914“ beziehungsweise der „Geist von 1914“ mit dem Einbezug des Volkes eine viel breitere Basis bildeten als der Kulturkrieg. Seit Langem ist über die Realität des Augusterlebnisses eine heftige Debatte geführt worden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Auffassung einer von allen Deutschen geteilten Begeisterung, in dem das Glücksgefühl nationaler Einigung alle Bedenken übertrumpfte, in den Bereich der Propagandamythen gehört, von denen dieser Krieg viele produziert hat.35 Sicher ist, dass sowohl die Gebildeten in ihrer Einheitseuphorie als auch die junge Bürgergeneration in dem Hochgefühl, hier sei die Tür zu einer neuen Welt aufgestoßen worden, nur für einen Ausschnitt der Gesellschaft repräsentativ waren, wenngleich es sich dabei um die Schichten handelte, die in der Öffentlichkeit am meisten Gehör fanden. Inzwischen hat die Forschung ge34 Jean Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre. Contribution à l’étude de l’opinion publique printemps-été 1914. Paris: ����������������������������������������������������������� Presses de la Fondation nationale des sciences poli� tiques, 1977, 583. Zur Mobilmachung der deutschen, französischen und britischen Öffentlichkeiten siehe die verschiedenen Beiträge in: The Legacies of Two World Wars. European Societies in the Twentieth Century, hg. von Lothar Kettenacker und Torsten Riotte. New York: Berghahn, 2011. 35 Wolfgang Kruse, Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Ent� stehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen, in: Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, hg. von Marcel an der Linden und Gottfried Mergner. Berlin: Duncker & Humblot, 1991, 73–87; Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914. Essen: Klartext, 1998; Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany. Cambridge: Cambridge University Press, 2000.

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klärt, wie begrenzt dieser Ausschnitt war, wie stark in Großstädten konzentriert und wie nicht nur die unteren Schichten, zumal auf dem Land, sondern auch viele Bürger, viele Frauen, viele Sozialdemokraten mit Besorgnis, Angst und Sorge reagierten. Ebenso in Deutschland wie in Frankriech manifestierten sich diese Reaktionen neben denen des Gemeinschaftserlebnisses.36 Genau gesehen, lässt sich der Begriff des Augusterlebnisses 1914 im Sinne der Einheitseuphorie nur zusammen mit den Realitäten des Schocks, der Besorgnis und der Ausgrenzung verwenden, die bisher jeden Kriegsbeginn in der Geschichte gekennzeichnet haben.37 Dies ist umso zutreffender, je mehr sich die Perspektive von den Deutschen im damaligen Reich zu den deutschsprachigen Bewohnern jenseits der Grenzen verschiebt, deren kulturelle Identität mit dem 1871 geschaffenen Reich verbunden war, das sich nun mit halb Europa im Krieg befand. Wenn dieser Krieg so stark um die deutsche Kultur geführt wurde, wie die Zeitungen behaupteten – nahmen diese Kulturdeutschen ebenfalls an diesem Krieg teil, und wenn ja, auf welcher Seite? Damit ist genau der wunde Punkt genannt, der sich daraus ergab, dass deutsche Kultur nach dem Kriegsausbruch im August 1914 mit der Militärmacht Deutsches Reich gleichgesetzt wurde. Hier gerieten die Mehrfachidentitäten, die im Reich selbst von Polen, Sorben, Juden, Dänen, Elsässern und Lothringern gelebt wurden, unter großen Entscheidungsdruck, insofern der Kriegsausbruch das bisherige Selbstbewusstsein zwischen den Kulturen infrage stellte. Deutsche Staatsbürger elsässischer, lothringischer, nordschleswiger und preußisch-polnischer Provenienz sahen sich inneren Konflikten ausgesetzt, die ihnen das Bekenntnis – und bei jungen Männern die Rekrutierung – zum Reich schwer machten, was wiederum die Bereitschaft der Deutschen nährte, sie als Handlanger der Feinde zu verdächtigen.38 Was die jüdischen Deutschen anbetraf, die ihrem Patriotismus in diesen Wochen weithin sichtbaren Ausdruck gaben, erfreuten sich viele an dem Gefühl, als Mitglied der Volksgemeinschaft endlich anerkannt zu sein, wie es Ernst Toller in seiner Autobiografie Eine Jugend in Deutschland (1933) bewegend geschildert hat. Andere fühlten sich mit ihrer Identität als Deutsche und Juden in ihrem „Selbstverständnis als Mitglied einer alten Kulturnation in Frage gestellt. Gerade die so erfolgreich akkulturierten deutsch-jüdischen Intellektuellen wußten freilich auch, dass ihre Integration in die Mehrheitsgesell36 Thomas Raithel, Das ‚Wunder‘ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffent� lichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges. Bonn: Bouvier, 1996. 37 Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918 (Propyläen Geschichte Deutschlands Bd. 7/2). Berlin: Propyläen, 1995, 564. 38 Als Beispiel Alan Kramer, Wackes at War. �������������������������������������������������������� Alsace-Lorraine and the Failure of German National Mobi� lization, 1914–1918, in: State, Society, and Mobilization in Europe during the First World War, hg. von John Horne. Cambridge: Cambridge University Press, 1997, 105–121.

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schaft unvollständig geblieben war. Dieses Spannungsverhältnis erklärt einen Teil der Gereiztheit und ausladenden Rhetorik ihrer politischen Stellungnahmen. Dies gilt gerade für jene Denker, die“ – wie Jakob Wassermann – „fest von der kulturellen Mission Deutschlands überzeugt waren.“39 Wenn sich durch den Kriegsausbruch schon innerhalb des Reiches so viele Menschen in ihrer kulturellen Identität infrage gestellt sahen, um wie viel mehr geschah das außerhalb der Grenzen, wo sich deutschsprachige Einwohner im Russischen Reich, in Rumänien, Brasilien und den USA von heute auf morgen vor die Entscheidung gestellt sahen, ob sie sich aufgrund ihrer Herkunft, Kultur und Sprache mit dem Deutschen Reich solidarisieren oder davon distanzieren sollten. Davon hing, etwa im Falle der Deutschen im zaristischen Russland, dem das Reich den Krieg erklärt hatte, die Fortführung des bisherigen Lebens oder die Vertreibung in unbekannte Gegenden ab. Davon blieben auch viele in Nord- und Südamerika voll integrierte Staatsbürger nicht unberührt, die ihrer kulturellen Zugehörigkeit in Bindestrichbezeichnungen wie „deutsch-amerikanisch“, „deutsch-brasilianisch“, „deutsch-kanadisch“ Ausdruck gaben, insofern die deutschlandkritischen Tendenzen in der Öffentlichkeit trotz der Neutralität der Staaten schnell zunahmen und bald dazu führten, dass diese Minderheit als potenzieller – oder wirklicher – Feind markiert wurde. Gerade diejenigen Elemente, die in Sprache, Kirchen- und Vereinsritualen, Schul- und Erziehungsprogrammen die kulturelle Identität am sichtbarsten manifestierten, gerieten am schnellsten unter Verdacht. Das schüchterte ein, hatte aber zunächst häufig zur Folge, dass sich kulturelles Selbstbewusstsein auch bei denen artikulierte, die sich vom Reich mit seinem Kaiser weit entfernt wähnten. Wo nicht, wie im Falle des zaristischen Russland, staatliche Maßnahmen die Fortführung des bisherigen Lebens verhinderten, kam es in den bis dahin neutralen Ländern unter den deutschen Minderheiten bis 1916 zu einer Welle der Solidarisierung, bei der die Amtsträger in deutschsprachigen Kirchen und Organisationen eine zuvor wenig beanspruchte Führung ausübten. Die Minderheitsgruppen fanden sich zumeist in umfangreichen Solidaritätsaktionen, speziell Geld‑, Nahrungsund Kleidersammlungen für die Bewohner im Reich und in Österreich zusammen. Hingegen erlebten jüdische Minderheiten in den kriegführenden Ländern häufig ihre eigene Form des ‚anderen‘ Augusterlebnisses, insofern sie nicht selten den Deutschen als Feinden zugerechnet und angegriffen wurden. Das geschah in den westlichen Grenzgebieten des Russischen Reiches, wo die Armee unter dem Vorwand, die Juden seien Spione für Deutschland, deren Dörfer zerstörten oder plünderten. Selbst in Großbritannien kam es zu Ausschrei­ 39 Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debat� ten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin: Akademie, 2001, 85.

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tungen, als die radikale Rechte eine spezifische Form des Antisemitismus propagierte, bei der sie die dort lebenden deutschen Juden für die Misere verantwortlich machte. „German“ und „Jew“ dienten dabei als austauschbare Feindbestimmungen. „Der Sieg Deutschlands“, hieß es, „ist aus mysteriösen Gründen ein desideratum von nahezu der gesamten jüdischen Rasse.“40 Die Bandbreite der Reaktionen auf den Kriegsausbruch ist so vielfältig wie die Lebensumstände der deutschsprachigen Minderheiten in aller Welt. Keineswegs ließ sich die ‚Schicksalsfrage‘ „Willst du dich zum Deutschtum bekennen, oder willst du es verleugnen?“, mit der sich ethnische Deutsche jenseits der Reichsgrenzen konfrontiert sahen, einfach frei nach Luther beantworten: „Hier stehe ich auf deutscher Seite, ich kann nicht anders!“ Diesen Satz formulierte der Verbandssprecher Alfred Geiser im Oktober 1914 vor einer Versammlung des Vereins für das Deutschtum im Ausland.41 Das war Wunschdenken eines Berufsfunktionärs, dem es darauf ankam, die Deutschen an der Bedeutung deutscher Minderheiten für das kriegführende Reich stärker zu interessieren, als es bis dahin geschehen war. In Wirklichkeit zogen zahlreiche deutsche Immigranten in den jeweiligen Ländern Schweigen oder Absage vor, oft unter Pein, oft unter Zwang. Reichsdeutsche ‚konnten‘, häufig um die Preisgabe ihrer Karriere im Ausland, zurückkehren (wenn sie es konnten). Jedoch hielt sich Geiser mit anderen Aussagen genauer an die Tatsachen. Dazu gehörten vor allem drei Feststellungen: erstens, dass „diese Deutschen im Ausland, zum großen Teil längst nicht mehr dem Deutschen Reiche als Staatbürger verbunden“, gewaltige Geldsummen für die Reichsdeutschen aufbrächten; zweitens, dass sie in neutralen Ländern die Sache des Reiches öffentlich verträten; drittens, dass sie von den Feinden mit den Deutschen gleichgesetzt und stellvertretend für das Deutsche Reich verfolgt, enteignet und zu Opfern gemacht würden. Letzteres geschah in ebenso vielen Varianten, wie die staatlichen Instanzen und privaten Akteure feindlicher Länder Krieg führen wollten. Das galt auch für diejenigen Länder, die ihre Neutralität aufgaben und nun offiziell ins Lager der Alliierten wechselten; etwas, das etwa China so lange wie möglich hinauszögerte. Dieser unberechenbare Vorgang stellt das dramatischste Beispiel dafür dar, wie der Umgang mit deutschen Lebensformen und das Profil deutscher 40 Zit. nach Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, 143; vgl. Matthias Thorns, Britisches und deutsches Judentum in der Krise. Antisemitismus und Zionismus als Bedrohung und Herausforderung für die jüdischen Gemeinschaften in Deutschland und Groß� britannien in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges 1918–1921. Hannover: ESH Working Paper No. 7, 2004. 41 Alfred Geiser, Das Auslandsdeutschtum und der Krieg, in: Das Deutschtum im Ausland, H.  26 (1915), 389–398, hier 389.

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Kultur und Sprache von der Aufnahmenation wie der Ursprungsnation jeweils unterschiedlich geformt wurden.

Russische und amerikanische Reaktionen Deutschsprachige Minderheiten, die seit Generationen im Russischen Reich ansässig waren, erlebten einige der schärfsten Folgen der Germanophobie nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land. Viele von ihnen wurden aus Wolhynien und anderen westlichen Regionen in den Osten, häufig nach Sibirien, umgesiedelt. Das geschah aufgrund der 1915 erlassenen „Liquidationsgesetze“, die sich zwar formell gegen den Besitz der Angehörigen von Feindstaaten, das heißt Reichsdeutschen, richteten, de facto aber auch auf russische Untertanen deutscher Nationalität angewendet wurden. „Am 2. Februar 1917 wurde schließlich ein Gesetz zur Auflösung der weit im Hinterland liegenden, geschlossensten deutschen Siedlungen in Rußland, der Wolgakolonien, und zur Zwangsdeportation ihrer Bewohner verabschiedet. Die Provisorische Regierung verhinderte nach der Februarrevolution zwar die Ausführung dieses Gesetzes, aber auch ohne diesen letzten Akt war deutlich geworden, dass die Deutschen, die man ihrer Fähigkeiten und Vorzüge wegen unter Gewährung vieler Privilegien in den ständisch gegliederten russischen Staat geholt hatte, im Zuge der ‚verspäteten‘ Nationalstaatsbildung aus Fremden an sich zunächst zu störenden Minderheiten und schließlich zu Feinden an sich geworden waren.“42 Das Augusterlebnis der etwa 20.000 in Moskau ansässigen Deutschen und russischen Staatsbürger deutscher Nationalität bestand darin, dass man sie, während das Botschaftsgebäude des Deutschen Reiches verwüstet wurde, öffentlich und privat umgehend zu den Feinden rechnete, obgleich sie und ihre Familien seit Generationen in Moskau als Kaufleute, Handwerker, Gelehrte, Angestellte, Ingenieure und Unternehmer gewirkt hatten und viele ihrer Söhne in der Armee gegen Deutschland oder Österreich-Ungarn kämpften. Zumeist längst ihren deutschen oder österreichischen Ursprüngen entfremdet, wurden sie im Winter 1914/15, als die russische Armee schwere Niederlagen hinnehmen musste, zum Ziel des organisierten „Kampfes gegen die deutsche Übermacht“, bei dem, wie es im Russischen hieß, die „inneren“ Deutschen für die Taten der „äußeren“ Deutschen büßen mussten. Das kulminierte in dem Pog42 Bernd Bonwetsch, Fremde, Minderheiten, Feinde. Deutsche und Juden in der Geschichte des Zarenreichs, in: Geist und Gestalt im historischen Wandel. Facetten deutscher und europäischer Geschichte 1789–1989, hg. von Bert Becker und Horst Lademacher. Münster: Waxmann, 2000, 113–134, hier 122 f.

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rom vom 27.–29. Mai 1915, als die unterversorgten und frustrierten Massen mit Ermunterung der Regierung viele Hunderte von Geschäften, die ein deutsches oder deutsch klingendes Namensschild trugen, verwüsteten und plünderten, wobei fünf Personen deutscher Abstammung, darunter vier Frauen, ums Leben kamen.43 Als Unternehmer, die sich stets um ihren Einfluss und Absatz im Lande sorgten, hatten sich die Deutschen wenig um nationale Vereine gekümmert, waren aber im Stadtbild Moskaus seit Langem sichtbar – das Pogrom, das für die meisten Geschäftsleute den Ruin brachte, speiste sich auch aus sozialen, nicht nur nationalen Motivationen. Die Deutschen wurden zum Inbegriff sozialen Parasitentums oberer Schichten. Dazu kam, dass Deutsche in den oberen Rängen des Militärs unverhältnismäßig stark vertreten waren und so zu Spekulationen über Sabotage von ihrer Seite Anlass gaben (jeder fünfte bis sechste höhere russische Offizier hatte deutsche Wurzeln).44 Solche Spekulationen wurden von ihrem enormen Einsatz für den Zaren und seine Armee widerlegt, ein viel kommentiertes Ergebnis traditioneller, oftmals Jahrhunderte zurückreichender Loyalität, die ebenso für Tausende deutschrussischer Soldaten galt. Vielfältig sind die Zeugnisse herzzerbrechender Loyalitätskonflikte, am schlimmsten von der Front selbst, als sich gleich zu Beginn mit dem Einfall in Ostpreußen unter Führung von General Rennenkampf (der selbst als „Deutscher“ wahrgenommen wurde und später, nach den Niederlagen, furchtbar dafür büßen musste) Deutschrussen mit Deutschen konfrontiert sahen.45 Beeindruckend sind die Zahlen derer, die als Deutschstämmige loyal in der Armee des Zaren dienten; sie wurde auf annähernd 300.000 Soldaten geschätzt.46 Nicht von ungefähr bekannte Max Weber, der eine tiefe Hassliebe zu Russland pflegte, er vermeide es bewusst, auf die Lage der Russlanddeutschen näher einzugehen: „Es ist unmöglich, dabei ‚objektiv‘ zu bleiben.“47 Nicht viel anders war es später an der westlichen Front, als das amerikanische Expeditionskorps unter General Pershing in Lothringen eingesetzt wurde und sich Deutschamerikaner im Kampf gegen Deutsche wiederfanden, in einigen Fällen sogar Mitglieder derselben Familie. Auch in den Vereinigten Staaten 43 Victor Dönninghaus, Die Deutschen in der Moskauer Gesellschaft. Symbiose und Konflikte (1894– 1941). München: Oldenbourg, 2002, 367–516. 44 Ebd., 384. 45 Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1986, 458–475; über Rennenkampf ebd., 465. 46 Ebd., 458. 47 Zit. nach Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München: Hanser, 2005, 390.

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wurde die Loyalität auf eine harte Probe gestellt; auch hier stellten sich die Dienstpflichtigen dem neuen Vaterland zur Verfügung. Auch das konnte, so wenig wie im Russischen Reich, das Misstrauen, die Ausgrenzung und letztendlich die Verfolgung nicht verhindern. In beiden Ländern war der Beitrag deutschsprachiger Einwanderer zum Aufbau einer mächtigen wirtschaftlichen und zivilisatorischen Infrastruktur bedeutend, die in Russland, anders als in Amerika, bis zur monarchischen Staatsspitze reichte, aber ebenfalls in Landwirtschaft, Industrieaufbau und Erziehung ihre Schwerpunkte besaß. Wenn deutsche Minderheiten in den USA neben anderen Einwanderergruppen ein niedrigeres soziales Profil hatten als im Russischen Reich, waren sie doch aufgrund ihrer aufrechterhaltenen Kultur und Sprache kaum weniger exponiert. In beiden Ländern wurden die ‚eigenen‘ Deutschen, deren Loyalität man anzweifelte, sowohl als Prügelknabe für die deutschen (oder, besonders in Russland, österreichischen) Feinde genommen als auch als Ventil für innen- und sozialpolitische Konflikte. In den Vereinigten Staaten, von deren Alltag die Schützengräben noch viel weiter entfernt lagen als in Russland, geschah das im Zuge der Vorbereitung des Kriegseintritts gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn. Er kam mit der Kriegserklärung im April 1917, nachdem das Reich am 1. Februar 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg als Antwort auf die Seeblockade („Hungerblockade“) wieder aufgenommen hatte. Insofern man die weit zerstreuten deutschsprachigen Minderheiten überhaupt zusammenfassend als GermanAmericans („hyphenated Americans“) etikettieren konnte, zählten sie als amerikanische Staatsbürger, die mit ihrer Kompetenz in Erziehung, Landwirtschaft, Industrie (als Unternehmer wie Arbeiter) breites Ansehen erworben hatten. Politisch wenig interessiert – und tatsächlich ungleich weniger effektiv als die Iren – standen sie dem Deutschen Reich im Allgemeinen freundlich, häufig indifferent, bisweilen mit enthusiastischer Teilnahme gegenüber. Angesichts der abnehmenden Einwanderung seit dem späten 19. Jahrhundert hatten die ethnischen Organisationen, zumal der 1900 gegründete Deutsch-Amerikanische Nationalbund mit nominell etwa zwei Millionen Mitgliedern, eine stärker auf Deutschland ausgerichtete Repräsentativagenda entwickelt, die den Amtsträgern im Reich, mit Ausnahme des äußerst klar blickenden deutschen Botschafters Johann-Heinrich von Bernstorff, die Illusion verschaffte, sie könnten die Deutschamerikaner für ihre politischen Zecke nutzbar machen. Was dann im August 1914 in einer ersten Welle antideutscher Polemik, vor allem in der Presse, über die Deutschamerikaner hinwegging, sprengte bereits die Grenzen der Neutralität, insofern es sowohl einen Teil der britischen Propagandaargumente mit neuer Intensität versah als auch dem Unbehagen an German-Americans, die mit dem Bindestrich ihre Herkunft deutlich machten,

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ein Ventil lieferte. Die Polemik gruppierte sich um drei Schwerpunkte: zunächst um die Identifikation des Reiches mit dem Kaiser als Anführer einer brutalen Militärdiktatur, dann um die Identifikation alles Deutschen mit „Kultur“ als einem Prinzip usurpierter Dominanz über andere Völker und Kulturen, schließlich die Identifikation der Deutsch-Amerikaner mit dem Bindestrich als Zeichen einer nur halben Loyalität zu den Vereinigten Staaten. Über diese Gleichsetzungen gelangten viele Amerikaner zu der Gleichsetzung der Deutschamerikaner mit den Aktionen des Reiches. Diese Welle wurde mit einem einzigen Ereignis zu einer Flut: der Versenkung des britischen Luxusdampfers Lusitania durch den Torpedo eines deutschen U-Bootes am 7. Mai 1915, mit dem 128 Amerikaner untergingen.48 Unverblümt kabelte Botschafter Bernstorff dem Auswärtigen Amt in Berlin daraufhin, dass es mit der ohnehin wenig effektiven Propaganda von deutscher Seite her endgültig vorbei sei:49 Hier wurde gleichsam das ‚andere‘ Augusterlebnis mit seinem schmerzhaften Dilemma für alle, die einen Teil ihrer Identität vom Deutschen her definierten, nachgeholt, wie es der im Atlantic Monthly 1917 publizierte Bericht einer Deutschamerikanerin vor Augen stellte: „Dann kam die Versenkung der Lusitania. Nie werde ich den Moment vergessen, da ich die Zeitung aufhob und die Schlagzeile las. Mit wurde schwarz vor Augen. Ich setzte mich mit der Zeitung in meinen Händen nieder und starrte ins Dunkel. Ich glaube jetzt, dass dieses Ereignis in vielen deutsch-amerikanischen Häusern eine Krise auslöste. […] Ich beginne erst langsam zu verstehen, was in den Köpfen der deutschen Sympathisanten vorging, die in diesem Land lebten. Sie machten einen Bürgerkrieg in ihren Köpfen und Herzen durch. Die Bitterkeit, die Zerrissenheit müssen größer sein als jede andere, die man sich vorstellen kann. Warum sie so extrem waren, hat zwei Ursachen: sie zwingen sich zu unnatürlichen Schlußfolgerungen, und sie werden verrückt vor Schmerzen.“50 Zwei Jahre später, als Hindenburgs und Ludendorffs Militärdiktatur die Zivilregierung Bethmann Hollwegs an die Wand drückte, den unbeschränkten U-Boot-Krieg wieder aufnahm und damit Präsident Wilson in Zugzwang versetzte, wurden die psychischen Schmerzen physisch. Wenn Deutschamerikaner bis dahin immer tiefer in das Dilemma ihrer Stellung zwischen amerikanischem Alltag und ethnischem Sonntag gerieten, das sie mit lautstark-trotzigen Bekenntnissen und Spendenaktionen für Deutsche und Österreicher ebenso wie mit Schweigen und Absagen zu bewältigen suchten, wurde ihnen mit der 48 Frank Trommler, The Lusitania Effect. America’s Mobilization against Germany in World War I, in: German Studies Review 32 (2009), 241–266. 49 Graf Johann-Heinrich Bernstorff, Deutschland und Amerika. Erinnerungen aus dem fünfjährigen Kriege. Berlin: Ullstein, 1920, 142. 50 M. L. S., The Wives of German-Americans, in: Atlantic Monthly 119 (1917), 787–792, hier 789.

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Kriegserklärung im April 1917 die Entscheidung aus den Händen und Köpfen genommen. Nun gehörten sie zu den Feinden, ja wurden, solange das amerikanische Expeditionskorps nicht an die Front in Frankreich gelangte (das dauerte ein ganzes Jahr), stellvertretend im Lande als Feinde behandelt, schikaniert, finanziell ruiniert, gesellschaftlich boykottiert, sogar physisch malträtiert, wobei ein junger Immigrant in Illinois gelyncht wurde. Wilson selbst, obwohl nicht ohne Bedenken gegenüber einer solchen Entfesselung nationaler Leidenschaften, regte diesen Feldzug gegen die Bindestrich-Deutschen in seiner Kriegsbotschaft im Kongress an, als er Illoyalität mit starker Hand und gesetzlichem Nachdruck zu unterdrücken befahl – was der Kongress mit besonderem Beifall quittierte.51 Der deutsche Sprachunterricht wurde in den Schulen weitgehend abgeschafft und Deutsch verschwand aus dem öffentlichen Leben. Dass die antideutsche Hysterie besonders im Mittleren Westen, dem Zentrum der deutschamerikanischen Bevölkerungsgruppe, bisher unvorstellbare Brutalität, aber auch Überwachung des Privatlebens und finanzieller Existenz, Verbrennung deutscher Bücher und Verbot deutscher Zeitungen mit sich brachte, zeigt umso mehr, wie dort, wo der Feind siebentausend Kilometer entfernt war, seine Stellvertretung gerade in ihrer größten Dichte geschlagen werden sollte.52 Die von deutschamerikanischen Organisationen einmütig vertretene Politik der Aufrechterhaltung amerikanischer Neutralität hatte nur wenig Erfolg gezeitigt. Sie wurde bald durchkreuzt, zum einen von der Lusitania-Katastrophe, zum andern 1916 durch Sabotageakte wie die Sprengung des Black Tom Terminal im New Yorker Hafen und 1917 der Canadian Car and Foundry Company in New Jersey, welche die militärische Sabotageorganisation des Reichs am Auswärtigen Amt vorbei in Szene setzte. Die Propagandareisen des deutschen Professors Eugen Kühnemann 1914–1917 ließen sogar den kaum für seine Diplomatie bekannten Militärattaché Franz von Papen nach Berlin berichten, dass Kühnemanns nationalistisch-überheblicher Ton den deutschen Interessen schade.53 Die Bemühung von Deutschamerikanern und zahlreichen jüdischen Unternehmern, Anwälten und Publizisten, deutsche Kultur als weithin sichtbaren historischen Baustein für die Schaffung der amerikanischen Kultur herauszuhe-

51 Paul Finkelman, The War on German Language and Culture, 1917–1925, in: Confrontation and Cooperation. Germany and the United States in the Era of World War I, 1900–1924, hg. von HansJürgen Schröder. Providence/Oxford: Berg, 1993, 177–205, hier 183. 52 Katja Wüstenbecker, Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen. Stuttgart: Steiner, 2007. 53 Reinhard R. Doerries, Promoting Kaiser and Reich. Imperial German Propaganda in the United States during World War I, in: Confrontation and Cooperation, 135–165, hier 141.

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ben, kollidierte mit dem neu entflammten Nativismus.54 Insgesamt war der staatliche Einsatz gegen den „inneren Feind“, verglichen mit dem begrenzten, wenn auch unverhältnismäßig viele Opfer fordernden Einsatz des amerikanischen Expeditionskorps in Lothringen 1918 gegen den „äußeren Feind“, den die Franzosen wenig unterstützten, ungleich ausgedehnter und radikaler. Die amerikanischen Doughboys fochten, wenig vorbereitet, überaus tapfer „over there“, bezeugten aber mehr Zukunftspotenzial denn aktuelle Entscheidungsmacht. Die angekündigte, alles zermalmende Offensive 1919 fand nicht mehr statt. Was hingegen Polizisten, Richter, Bürokraten, Journalisten, Nachbarn, Vermieter, Zensoren, Schuldirektoren sowie Tausende von Vigilantes, mit den Propagandamaterialien von George Creels Committee of Public Information bewaffnet, 1917/18 in den USA selbst bewerkstelligten, war mit der Zerschlagung der ausgedehntesten ethnischen Subkultur des Landes der Sieg über die deutsche Kultur und Sprache. In ihm manifestierte sich der amerikanische Nationalismus in der scharfen Verfolgung von Mehrfachidentitäten, unbeirrt von der Abscheu gegen europäische Praktiken nationaler Homogenisierung und weit entfernt von dem Multikulturalismus und Kosmopolitismus, den der aufmüpfige Progressivist Randolph Bourne 1916 in „Trans-National America“ seinen Landsleuten empfahl.55 Gerade die Überhöhung deutscher Kultur und ihres Beitrages zur amerikanischen Nationwerdung machte die Deutschamerikaner zur Zielscheibe des kriegsgeborenen Nationalismus. Dabei ereignete sich, was die deutsche Intelligenz bei ihrer Teilnahme an dem Kulturkrieg 1914/15 erfuhr: dass die zuvor beim Aufstieg Deutschlands so wirksame Berufung auf Kultur und Sprache, die nach wie vor das stärkste Band zwischen den weitverstreuten und politisch so verschieden regierten deutschsprachigen Regionen bildete, in der Assoziation mit der Militärmacht ihre Glanzqualität und Argumentationskraft verlor, insofern militärische Untaten diesen Glanz leicht als Tünche erscheinen lassen konnten. Die Feinde wiederum wurden nicht müde, ihre Verurteilung der Idee deutscher Kultur im Allgemeinen, ihrer Doppelzüngigkeit und ihres Einsatzes im Interesse der Macht im Besonderen für die antideutsche Propaganda in den Kampf einzubringen. Kritiker wie John Dewey und George Santayana, die sich 54 Frank Trommler, Inventing the Enemy. German-American Cultural Relations, 1900–1917, in: ebd., 99–125. 55 Randolph S. Bourne, Trans-National America, in: ders., War and the Intellectuals, 1915–1919, hg. von Carl Resek. New York: Harper & Row, 1964, 107–123; Jörn Leonhard, Vom Nationalkrieg zum Kriegsnationalismus. Projektion und Grenze nationaler Integrationsvorstellungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg, in: Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, hg. von Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard. Göttingen: Wallstein, 2001, 204–240.

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im Verfolg ihrer eigenen Bemühungen um eine nationale Kultur zu Beginn des 20.  Jahrhunderts ausgiebiger als selbst Franzosen mit deutscher Kultur und Gesellschaft auseinandergesetzt und deren Potenzial als Muster hochgeschätzt hatten, diskreditierten diese nun als undemokratisch und unamerikanisch. Amerikas neue Weltkultur entspringe eigenen Wurzeln. Nicht weniger schmerzhaft waren die Folgen für deutsche Einwanderer, als Brasilien, das sich 1917 wie die USA von der deutschen Verkündung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges herausgefordert sah, zum Feind Deutschlands erklärte. Frederick Luebke, der den Erfahrungen der Deutschamerikaner im Kontext amerikanischer Geschichte nachgegangen ist, stellte die wesentlichen Punkte des ‚anderen‘ Augusterlebnisses dieser ebenfalls ausgedehnten Minderheit zusammen: „Im Gefolge des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland im April 1917 wurden Deutschbrasilianer Opfer zahlreicher bösartiger Krawalle. Enormer Sachschaden entstand, als erregte Massen Hunderte von Wohnhäusern, Redaktionen deutschsprachiger Zeitungen, Kirchen, Schulen, Vereinslokale, Geschäftsräume jeglicher Art, Fabriken und Lagerhäuser beschädigten oder zerstörten. Als Brasilien sechs Monate später, im Oktober, den Krieg erklärte, brachte eine zweite Welle von Krawallen neue Zerstörungen. In Rio de Janeiro und allen südlichen Staaten, wo die große Mehrheit der Teuto-Brasilianer lebte, wurde das Kriegsrecht verhängt. Alle Publikationen in deutscher Sprache wurden verboten. Jeglicher Deutschunterricht in den Schulen jeder Stufe mußte aufhören. Unter den Bann fielen auch alle Gottesdienste in deutscher Sprache. Der Präsident erhielt das Recht, den Besitz von feindlichen Ausländern zu beschlagnahmen und alle für sie bestimmten Waren zu verkaufen.“56 Obwohl nicht alle Maßnahmen, wie Luebke einräumt, konsequent durchgesetzt wurden, bedeuteten sie die Ausschaltung einer deutsch-brasilianischen Doppelidentität, bei der deutsche Kultur und Sprache den Anker vieler mitteleuropäischer Gemeinschaften, Kirchen und Vereine gebildet hatte. Weniger assimiliert als deutschsprachige Immigranten in Nordamerika und zumeist wirtschaftlich erfolgreicher als die Bevölkerung generell, hatte man sie sowohl wegen ihrer andersartigen Kultur als auch ihrer sozialen Besserstellung zum Gegner der „inneren Kriegsführung“ bestimmt. Nicht alle waren brasilianische 56 Frederick C. Luebke, Das Bild des deutschen Einwanderers in den Vereinigten Staaten und in Brasi� lien 1890–1918, in: Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, hg. von Frank Trommler. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986, 222–234, hier 231. Zur Bedeutung Brasiliens als eines „Labors“ der deutschen Nation siehe Sebastian Conrad, Globalisierungseffekte. Mobilität und Nation im Kaiserreich, in: Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, hg. von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 406–421, hier 411 f.

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Staatsbürger; deutsche Enklaven in Großstädten wurden oft von reichsdeutschen Kaufleuten, Bankiers, Ingenieuren und Industriellen dominiert, die aus ihrer Herablassung gegenüber der brasilianischen Kultur kein Hehl machten. Sie wurden zur Zielscheibe scharfer Angriffe und gerieten in politisches und ökonomisches Unglück, aber sie mussten nicht ihre ethnische Mehrfachbindung aufgeben, die den Deutschbrasilianern mit der Pflege deutscher Sprache, deutschen Gottesdienstes, deutscher Schulen ihren eigenen Status verschafft hatte. Während sich das Augusterlebnis der Reichsdeutschen unter den Schlägen des Krieges auch in seiner mythisierten Form verflüchtigte, um sich bei der Weimarer Rechten als Nebel über den Gräbern der Gefallenen festzusetzen, behielt das ‚andere‘ Augusterlebnis der Deutschsprachigen in aller Welt seine schmerzliche Aktualität als dasjenige Erdbeben, bei dem sich die Anker losrissen, um nie wieder in gleicher Weise kultureller Identität tief unter allen politischen Stürmen festen Halt geben zu können.

Reichsdeutsche, Auslandsdeutsche und die völkische Intervention in der Kultur Mit dem Ersten Weltkrieg wurde die Besonderheit der deutschen Kultur als eines Konglomerats kultureller und sprachlicher Identitätspraktiken, die sich über Jahrhunderte entwickelt und in der Habsburgermonarchie, in der Weimarer Klassik und dem kleindeutschen Reich 1871 ihre zentralen Orientierungen gefunden hatte, den Einsichtigen in demselben Moment zur Anschauung gebracht, in dem sie dabei war, zerschlagen oder zumindest so schwer geschlagen zu werden, dass das Gewebe ihrer Gegenseitigkeiten zerriss. Dieses Gewebe, durch Publikationen, Musik, Schulen, Kirchen, Partnerschaften sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit über viele Grenzen hinweg verflochten, war Außenstehenden nur schwer erkennbar. Im Ansturm gegen deutschsprachige Minderheiten verlor es seine Elastizität. Durch den Krieg zur Zielscheibe gemacht, mussten die Minderheiten ihre selbst geschaffenen Lebensformen und Mehrfachidentitäten für die gewollte oder von außen oktroyierte Zuordnung zu den beiden Monarchien als Kriegspfand einsetzen – und verloren sie zumeist ohne Ersatz. Dieses vielförmige Gewebe in seinen kulturellen und sprachlichen Ausformungen wertzuschätzen und nicht mit nationalen Hegemonialerwartungen zu beladen, war innerhalb des Reiches schon vor 1914 nur schwer möglich. Was Friedrich Paulsen in seiner hochherzigen Einleitung zum Handbuch des Deutschtums im Auslande 1904 im Hinblick aufs internationale Brückenschla-

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gen formulierte, fand nicht nur Sympathie. Bereits die Reichsgründung 1871 hatte mit der Nationalisierung deutscher Kultur das Leben in Mehrfachloyalitäten komplizierter gemacht. Die im Krieg erfolgende Gleichsetzung deutscher Kultur mit deutscher Militärmacht ließ eine Nischenexistenz deutscher Auswandererkulturen und Mehrfachidentitäten kaum zu; noch wichtiger war aber, dass nun, entgegen Bismarcks Ausgrenzung der Auslandsdeutschen, die von der nationalistischen Rechten vertretene Volkstumsideologie bewusst auf den Einbezug der Auslandsdeutschen zielte, in einer vor 1914 zumeist von den Alldeutschen betriebenen, zunächst marginalen, bald jedoch breiter ausgreifenden Propagandapolitik, bei der das Wort völkisch eine zentrale Funktion erhielt. Ordnete man das, was bereits beim länderübergreifenden Gebrauch des Begriffs ‚deutsche Kultur‘ Sensibilität erforderte, den Begriffen ‚völkisch‘, ‚völkische Kultur‘, ‚deutsches Volkstum‘ oder ‚Volksgemeinschaft‘ unter, entfesselte man das, was bereits Bismarck ausschließen wollte: die Auslandsdeutschen zu Mitträgern einer Expansion des Reiches zu machen. Dafür reichte ihre Identifikation mit deutscher Kultur und Sprache nicht aus, ganz abgesehen von ihren individuellen und gruppenspezifischen Bindungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. Das Wort vom „größeren Deutschland“, mit dem der Publizist Constantin Frantz 1882 eine föderale, von wirtschaftlichen Argumenten getragene Einigung Mitteleuropas anvisierte, hatte Wilhelm II. 1896 als Parole für seine weltpolitischen Ambitionen gebraucht. Dabei meinte er offensichtlich den kulturellen und wirtschaftlichen Brückenschlag über die Ozeane zu den deutschen Auswanderern, nicht deren politische Einbindung. Bei Paul Rohrbach, dem erfolgreichen Autor von Der deutsche Gedanke in der Welt (1912), entwickelte sich das Wort zum Kernbegriff einer nicht militärischen Expansion des Reiches, die anstelle eines nicht mehr zu errichtenden und ohnehin schwer zu verwaltenden großen Kolonialreichs auf wirtschaftliche und kulturelle Stützpunkte in aller Welt zielte. Rohrbach, der sich in seinem Buch vor allem der geringen Befähigung der Deutschen zu diesem Brückenschlag und dem Fehlen einer ideellen Mission widmete, bevor er schließlich die Ausrichtung auf China als aussichtsreichsten Schritt vorzeichnete, suchte einen „ethischen Imperialismus“ zu etablieren, den von der alldeutschen Rechten abzugrenzen nicht immer leicht fiel. Seine 1914 zusammen mit Ernst Jäckh gegründeten Zeitschrift Das größere Deutschland geriet 1915 – ohne die Herausgeber – in die Hände der Alldeutschen.57 Demgegenüber verfolgte Kanzler Bethmann Hollweg in seinem Erlass an die Staatssekretäre 1913 sehr viel engere Ziele, als er über aus57 Walter Mogk, Paul Rohrbach und das ‚Größere Deutschland‘. Ethischer Imperialismus im Wilhelmi� nischen Zeitalter. München: Goldmann, 1972, 171–183.

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wärtige Kulturpolitik feststellte: „Denn wenn eine solche äußere Kulturpolitik erfolgreich nur sein kann, wo sie in der Haltung der Auslandsdeutschen eine Stütze findet, so wird sie doch in gesunder Wechselwirkung das nationale Empfinden unserer Volksgenossen vertiefen und stärken.“58 Während dieser Kanzlererlass in den Korridoren der Bürokratie hängenblieb, gelangten jedoch die Verlautbarungen der Alldeutschen, welche die Auslandsdeutschen betrafen, an die Weltöffentlichkeit. Ihnen zufolge sollten deutsche Minderheiten zu Mitträgern territorialer Expansion gemacht werden. Solche Parolen und die damit begründeten Netze trugen stark dazu bei, dass deutsche Minderheiten zur Zielscheibe eines Ansturmes von Feindseligkeit und Hass wurden. Am 3. August 1914 verkündeten die Alldeutschen Blätter: „Nun ist sie da, die heilige Stunde!“ Im September trat der Vorsitzende des Alldeutschen Vereins, Heinrich Claß, mit der Denkschrift betreffend die national‑, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege, in der er weitgehende Annexionen im Osten wie im Westen forderte, an die Spitze der deutschen Kriegszielbewegung (die allerdings erst 1916 mit der Freigabe der öffentlichen Diskussion dieses Themas beherrschend wurde).59 Die meisten Deutschen wurden so stark vom Kriegs- und Propagandaalltag absorbiert, dass sie für das, was den Angehörigen der deutschen Minderheiten außerhalb der Grenzen der beiden Monarchien geschah, kaum Geduld und Interesse aufbrachten. Erst als Pakete und Spenden von draußen eintrafen, als außer verwundeten Soldaten auch zivile Flüchtlinge versorgt werden mussten und die Zeitungen von alarmierenden Unterdrückungsmaßnahmen berichteten, kam das Gefühl dafür auf, dass dieser Krieg auch fernab der Fronten und nicht mit bloßen Bekenntnissen zu Deutschland und deutscher Kultur ausgefochten wurde. „Seien wir ehrlich“, schrieb Leonore Niessen-Deiters in einer der ersten mahnenden Bestandsaufnahmen dieses Phänomens 1915, „das Verhältnis unzähliger Inlanddeutschen zu den Deutschen im Auslande war vor den Offenbarungen dieses Kriegs etwa das des friedlichen Spießbürgers zum Onkel aus Amerika.“ Man habe die harten Taler, die der Arbeit von Auslandsdeutschen auf fremder Erde oder beim Außenhandel entsprangen, gern eingestrichen, aber kaum Verständnis dafür gehabt, welchen Anstrengungen sie zu verdanken waren. „Wir im Inlande, wir erlebten das ungeheure Schauspiel eines mit sich einigen Volkes in Waffen – die draußen standen plötzlich isoliert. Zu allen seelischen und materiellen Nöten des Krieges an sich gellte ihnen auch noch das gehässige Geheul gegen alles Deutsche in den Ohren, wo sie gingen 58 Erlass des Reichskanzlers vom 5.8.1913, zit. nach vom Bruch, Weltpolitik als Kulturmission, 152. 59 Michael Peters, Der „Alldeutsche Verband“, in: Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München: Saur, 1996, 302–315, hier 312.

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und standen – von den schweren Ausschreitungen gegen Deutsche in Feindesland erst gar nicht zu reden.“ Niessen-Deiters ließ es nicht beim Hinweis auf die Isolation der Auslandsdeutschen bewenden, die von der Nachrichtensperre bei Kriegsbeginn verstärkt wurde. Sie legte dar, welche Isolation die Reichsdeutschen selbst aufgrund ihrer Indifferenz gegenüber allem, was „bei den Fremdvölkern“ vor sich ging, für sich geschaffen hätten. So habe es dazu kommen können, dass „die Deutschen im Auslande unsere einzigen Freunde draußen“ darstellten, „die einzigen, die uns verstanden.“60 Die solcherart begründete Aufwertung der deutschen Minderheiten band allerdings das zerfasernde Netz kultureller Mehrfachidentitäten nicht wieder zusammen. Immerhin erhielt der Verein für das Deutschtum im Ausland mit seinen Verbandsaktivitäten sowie der Zeitschrift Das Deutschtum im Ausland breitere Aufmerksamkeit. Eine Reihe von publizistischen und organisatorischen Unternehmungen, die sich nicht den Alldeutschen zuordneten, brachte das Phänomen Auslandsdeutschtum in die kriegsbedingte Bestandsaufnahme deutscher Kultur ein. Bereits vor Kriegsausbruch war als Teil der Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik (BUGRA) im Sommer 1914 in Leipzig eine erste Sonderausstellung „Deutsche Geisteskultur und Deutschtum im Auslande“ organisiert worden, bei deren Vorbereitung sich herausstellte, dass im Inland kaum Material dafür vorhanden war und man „die verschiedenartigsten Zeugnisse der deutschen Tätigkeit im Auslande zumeist von fernher“ beschaffen musste.61 Ein damit verbundener erster „Deutscher Kongress“ über das Auslandsdeutschtum, für den 3.–8. August 1914 geplant, wurde mit der Eröffnung vertagt.62 In zwei Zentren konzentrierte sich danach die Aufarbeitung solchen Materials, zum einen in Leipzig, wo Hugo Grothe im Auftrage der Zentralstelle für Kulturpolitik (ab November 1915 Deutsche Kulturpolitische Gesellschaft) mit der Zeitschrift Deutsche Kultur in aller Welt ein wichtiges Forum schuf, auf dem unter anderem die von Karl Lamprecht angeregte Institutionalisierung einer die Auslandsdeutschen einbegreifenden auswärtigen Kulturpolitik diskutiert wurde.63 (Eine von Lamprecht angeregte Gesellschaft für Erforschung des Deutschtums im Auslande wurde im Juni 1914 gegründet.) Zum andern geschah die Aufarbeitung in Stuttgart, wo 1917 das zunächst im Linden-Museum als „Institut und Museum zur Kunde des Auslanddeutsch60 L.  Niessen-Deiters, Krieg, Auslandsdeutschtum und Presse. Stuttgart/Berlin: Deutsche VerlagsAnstalt 1915, 18. 61 Eduard Wagner, Deutsche Geisteskultur und Deutschtum im Auslande, in: Deutsche Kultur in der Welt 1 (Januar 1915), 3–7, hier 4. 62 Für das ausgedehnte Vortragsprogramm der Tagung s. Wissenschaft und Kunst kulturpolitischer Richtung im In- und Auslande, in: ebd., 84–86. 63 Eine Zentralstelle für Kulturpolitik, in: ebd., 86–87.

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tums und zur Förderung deutscher Interessen“ gegründete Deutsche AuslandInstitut (DAI) residierte, das sich, privat und öffentlich gut finanziert, in der Weimarer Republik mit Zweigstellen in verschiedenen Städten zum zentralen Umschlagplatz der Arbeit mit den Auslandsdeutschen entwickelte.64 Vor dem Krieg wurden nur wenige Stimmen wahrgenommen, die sich über die Vernachlässigung seitens der Reichsdeutschen beschwerten. Das hatte beispielhaft der Hermannstädter Bischof Friedrich Teutsch 1910 für die älteste und angesehenste deutschsprachige Siedlung, die Siebenbürger Sachsen, getan, als er darüber Klage führte, dass die siebenbürgische Buchproduktion im Reich kaum wahrgenommen werde, und schlicht anmerkte: „Dabei haben wir allerdings die Empfindung, dass, was wir hier auf dem Gebiet deutscher Literatur und Kunst geleistet haben und leisten, was Volksbrauch und Sitte Altes festgehalten und Neues geschaffen hat, zuletzt ebenso eine Bereicherung deutschen Wesens ist, wie ein Schmuck und Dienst dem neu gewonnenen Vaterlande.“65 Während der Verein für das Deutschtum im Ausland derartige Feststellungen ernst nahm und neben seinem Drang, bei der Verteidigung deutscher Sprache und Kultur im Ausland Organisationsdienste zu leisten, auch recht genau die ausländische Kritik an Deutschland und deutscher Kultur wahrnahm, waren die deutschen Bildungseliten für diese Kritik kaum sensibilisiert und brachten den spezifischen kulturellen Praktiken der Auslandsdeutschen gegenüber keine Toleranz auf. Siebenbürger Sachsen mochten aufgrund ihrer ehrwürdigen Geschichte noch recht gut abschneiden, dagegen gab die größte Ansammlung solcher Migranten, die Deutschamerikaner, ihnen im Jahrzehnt vor dem Krieg zu scharfer Kritik Anlass. Der Vorwurf, die deutschen Auswanderer gingen entweder als „Kulturdünger“ dem Reich verloren oder gäben allzu schnell ihre Kultur an die fremde Umwelt auf, fügte sich ganz in den seit dem späten 19. Jahrhundert geführten Diskurs über den Niedergang der Kultur ein. Speziell Deutschamerikaner – die als Auslandsdeutsche zu bezeichnen bereits mehr als ein Missverständnis darstellte – verschafften dem Pessimismus der Gelehrten und Publizisten im Blick auf die Zukunft der deutschen Kultur im Zeitalter des Materialismus und der Massenkultur breite Nahrung. Die Bildungseliten, die Amerika traditionell mit Unkultur assoziierten, hegten wenig Zweifel daran, dass die Deutschamerikaner nicht nur amerikanische Lebensformen über64 M. Bernath, Das Deutsche Auslands-Museum in Stuttgart, in: Das Deutschtum im Ausland, H. 33 (1917), 261–263; Friedrich Kochwasser, Das Institut für Auslandsbeziehungen, 1917 gegründet als Deutsches Ausland-Institut. Die Geschichte eines weltweiten Kulturinstitutes (Ein Rechenschaftsbe� richt). Stuttgart: als Ms. im IfA, 1955. 65 Fr. Teutsch, Die Siebenbürger Sachsen als Volksindividualität, in: Das Deutschtum im Ausland, H. 3 (1910), 103–107, hier 105. Die Gesellschaft für Erforschung des Deutschtums im Ausland publi� zierte als erste Veröffentlichung Teutschs Die Siebenbürger Sachsen. Leipzig: Köhler, 1916.

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nahmen, sondern in dieser „Amerikanisierung“ die Verpflichtung zur deutschen Hochkultur aufgaben, wenn sie es nicht schon lange getan hatten. Was von ihren Geschäftspraktiken, ihren Bierfesten und ihrem akzentuierten Deutsch herüberdrang, war nicht dazu angetan, das Vertrauen in die Widerstandskräfte der deutschen Kultur gegen Die Amerikanisierung der Welt zu stärken, wie das aufsehenerregende Buch des Engländers William T. Stead hieß, das sofort in deutscher Übersetzung erschien.66 1901 publiziert, sollte es den „Trend des zwanzigsten Jahrhunderts“ auf den Nenner bringen und wurde sofort als Herausforderung an die Weltmachtpläne des Reiches verstanden. In der Intention, die Welt zu amerikanisieren, erspürten deutsche Kritiker die Erneuerung der britischen kulturellen Dominanz, gegenüber der sich deutsche Sprache, deutsche Hochkultur in der Verteidigung befanden. Die Einfallschneise bildete die Massenkultur mit amerikanischen Konsumgewohnheiten, die auch in Deutschland den kulturellen Bestand bedrohte. Die Tatsache, dass für die Deutschamerikaner gerade die Berufung auf die höhere Qualität der deutschen Kultur zum Verhängnis wurde und die Anklage der Illoyalität bestärkte, wirkt im Rückblick als exemplarischer Abgesang auf die Wirkung deutscher Kultur im Ausland zu dieser Zeit. Auf tragisch-ironische Weise wurde diese Auswandererbevölkerung, der man im Reich den Verlust des Deutschtums nachsagte, gerade für ihre Assoziation mit deutscher Kultur so hart bestraft. Infolge der im traditionsbewussten deutschen Bürgertum weiter bestehenden Ausrichtung des Begriffs der Kultur am ‚Hohen‘, sei es in der ästhetischen Verfeinerung, sei es bei der Gewährung eines sozialen Status, hat sich diese Abwertung deutscher Minderheitenkulturen bis weit über jene Periode hinaus erhalten, ganz zu schweigen von ihren jüdischen Komponenten. Der auch nach 1945 weitergeführten nationalen Geschichtsschreibung standen transnationale Minderheiten mit ihren kulturellen Äußerungen im Wege, wenn sie nicht den Vorwurf völkischer Expansionsideologie riskieren wollte. Die Darlegung einer weit über deutsche Grenzen hinausgehenden Vernetzung deutschsprachiger Kulturen war ebenso inopportun wie die Anerkennung ethnisch, religiös oder sprachlich ‚anderer‘, ‚fremder‘ Gruppen als eigenwertige Geschichtssubjekte innerhalb der seit dem Ersten Weltkrieg national reduzierten Definition deutscher Kultur. Außerdem ließ sich nicht abschütteln, dass das Wort völkisch aus eben dieser Vernetzung hervorging, in diesem Fall zwischen Deutschland und Österreich. 66 W. T. Stead, The Americanisation of the World, or the Trend of the Twentieth Century. London: Markley, 1901. Siehe Michael Ermarth, Hyphenation and Hyper-Americanization. Germans of the Wilhelmine Reich View German-Americans, 1890–1914, in: Journal of American Ethnic History 21:2 (2002), 33–58.

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Völkisch wurde 1875 von dem Germanisten und Sprachreiniger Hermann von Pfister-Schwaighusen als Ersatzwort für national vorgeschlagen. Pfister hatte „die deutschnationale Bewegung Österreichs vor Augen, in welcher gerade die ethnische Bedeutungskomponente aktiviert wurde. In diesem Sinne fast gleichbedeutend mit ‚national‘ und stark auf die Parteienszene bezogen, kam ‚völkisch‘ um 1880 in österreichischen, um die Jahrhundertwende auch in reichsdeutschen Umlauf. 1919 notierte der Grazer Germanist Hugo Schuchardt, dass man künftig eine ‚Verbreitungskarte dieses Neuworts‘ anlegen müsse: ‚Wie es scheint, ist die Bewegung hauptsächlich von den Alldeutschen Österreichs ausgegangen, und so hat das Wort zunächst einen politischen Beigeschmack gehabt.‘“67 Ohne die Tatsache zu übersehen, dass der Begriff völkisch zugleich einem wachsenden Sammelsurium nationaler Bewegungen als Selbstkennzeichnung diente, lässt sich das Wechselverhältnis erkennen, in dem sein Aufstieg zur Entleerung des hohen Kulturbegriffs stand. Wie am neu geweckten Interesse an den im Ausland lebenden Deutschstämmigen zu erkennen, gewann anstelle hochkultureller Erfahrungen die Partizipation am ‚Authentischen‘ neues Gewicht. Lebensformen, die im Reich lange als Rest- oder Außenposten deutscher Kultur abgetan wurden, erhielten die ebenso zweifelhafte Auszeichnung, ‚authentisch‘, ‚urwüchsig‘, ‚urdeutsch‘ zu sein. Das verschaffte den kulturellen Traditionen und Praktiken der Auslandsdeutschen nach dem Ersten Weltkrieg innerdeutsche Anerkennung, allerdings um den Preis ihrer politischen Vereinnahmung. Dem mit dem Krieg gewachsenen und dann vom Versailler Vertrag verstärkten Gefühl der Isolation Deutschlands verhalf die Ansicht, dass die Auslandsdeutschen die einzigen Freunde seien, welche die Deutschen verstünden, zu zweifelhafter Prominenz. Unter Deutschen wuchs die Überschätzung von deren kulturellem, wirtschaftlichem und politischem Potenzial in den jeweiligen Ländern. Unter den Minderheiten wurde die Anerkennung mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, führte aber nach dem Versailler Vertrag auch zu gefährlichen Erwartungen hinsichtlich der Hilfe vonseiten des Reiches.

Zerstörung der Kultur? In der Kulturberichterstattung aus dem Ersten Weltkrieg steht die Tatsache, dass im Herbst und Winter 1914/15 Millionen von Kriegsgedichten in Europa 67 Günter Hartung, Völkische Ideologie, in: Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, 22–43, hier 23; Julia Schmidt, Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und im Deutschen Reich 1890–1914. Frankfurt: Campus, 2009.

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verfertigt wurden, obenan. Wurde hier Kultur zerstört? Zunächst bezeugt die Wucht, mit der nun plötzlich Tausende mithilfe literarischer Ausdrucksformen ihrer persönlichen Überwältigung Form und Inhalt zu geben versuchten, die Macht kultureller Traditionen, Rituale, Diskurse. In allen kriegführenden Ländern erlebte die jeweils national erfahrene Kultur mitsamt ihrer Klassik neue Beachtung und Bestätigung. Zwar fühlten sich die intellektuellen Eliten überall zur Sinnbeschaffung privilegiert und profilierten sich gleichsam neu als Verfasser und Träger der Kriegstransparente, unter denen die Massen marschieren sollten, aber diese Massen nahmen, wenn sie im Zug an die Front fuhren, im Schützengraben oder in der Etappe ihren Einsatz überdachten oder fern von der Aktion ihre Gefühle meistern wollten, ihre Sinnsuche selbst in die Hand, ließen sich selbst auf diese Begegnung ein. Außer Gedichten schrieben sie Tagebuch, Briefe an die Heimat und lasen. Millionen lasen. Der Erste Weltkrieg ist als das größte Leseereignis in der neueren Geschichte bezeichnet worden.68 Angesichts der gewaltigen Buch‑, Broschüren- und Zeitungsflut, die über Europa hinwegströmte, muss das Wort vom Krieg als Zerstörer der Kultur sehr genau nach seiner Kulturdefinition befragt werden. Zumindest sollte deutlich werden, dass die Ansicht, in diesem Krieg stehe die Kultur auf dem Spiel, nicht allein von den Frustrationen intellektueller Eliten erprobt und entschieden wurde. Erst wenn diese millionenfache Zuwendung zu traditionellen Literaturformen ins Blickfeld gerückt wird, mit der man sich der jeweiligen Kulturnation verbunden fühlte, ob man nun Victor Hugo, Johann Peter Hebel oder Anthony Trollope las, lässt sich ermessen, dass sich in der Misere der Folgejahre nicht nur der Verschleiß an Menschenleben und Material, sondern auch die Abnutzung der – besonders von diesen Eliten benutzten – Worte und Kultursymbole tief ins Bewusstsein eingruben. Zunächst äußerte sich in dieser gewaltigen Schreib- und Lesewelle eine solche Zuversicht in die Wirkungskraft ästhetischer Sinngebung, dass die Beschäftigung mit den Verlustmeldungen als ein davon kaum tangierter Diskurs angesehen werden konnte. In Deutschland und Österreich organisierte die Verlags- und Zeitungsbranche eine Mobilisierung, die der Mobilisierung der Militärbehörden kaum nachstand, sie vielmehr – bis 1916 weitgehend unter privater Kontrolle – in der Erfassung und Versorgung der Armeen aufs Effektivste ergänzte. „Unter allen kriegsführenden Ländern hielt Deutschland die Spitze der literarischen Produktion. Schon die erste in Leipzig veröffentlichte 68 Wolfgang Natter, Literature at War, 1914–1940. Representing the “Time of Greatness” in Germany. New Haven/London: Yale University Press, 1999; Karl Kurth, Die deutschen Feld- und Schützen� grabenzeitungen des Weltkrieges. Leipzig: Noske, 1937; Anne Lipp, Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003.

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10 „Sind wir die Barbaren?“ Propagandaplakat von Louis Oppenheim, Deutsches Reich 1914/18. Entnommen aus: Die letzten Tage der Mensch­heit. Bildes des Ersten Weltkrieges, Ausstellung des Deutschen Histori­schen Museums, Berlin, hg. von Rainer Rother. DHM: Ars Nicolai, 1994, S.155. © Deutsches Historisches Museum, Berlin/ A. Psille

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Statistik zeigt, dass in den ersten Kriegsmonaten die Zahl der thematisch mit dem Krieg in Beziehung stehenden Publikationen aus deutschen Verlagen sich mehr als verdoppelt hatte. So hat es zwischen Kriegsbeginn und Anfang Dezember 1914 bereits 1416 neue Titel gegeben.“69 Zusammen mit Reclam führte der Ullstein-Verlag mit seiner 45-bändigen Kriegsserie, seinen Feldbuchhandlungen und Millionen Büchern und Broschüren die Liste an. Alle großen Verlagshäuser produzierten und vertrieben die Bücher in enger Zusammenarbeit mit Zensur und militärischen Behörden, die dann nach 1916, als Ludendorffs Oberste Heeresleitung die Propagandaorganisationen unter sich vereinigte, die volle Kontrolle auch über die Produktion übernahmen.70 Nie fanden Goethes Faust, Nietzsches Zarathustra, Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung so viele Leser wie 1914/15 in der deutschen Armee. Selbst der Vorläufer einer solch breiten Volksbildungsaktion, die Bildungsarbeit der Sozialdemokraten (der sich die Auswahl teilweise entgegenstellte), hatte nie derartige Ressourcen besessen. Die Verschmelzung deutscher Kultur mit dem Militär, welche die deutschen Gelehrten im Aufruf „An die Kulturwelt!“ zur Bestürzung der Welt als Kriegsthese behaupteten, wurde auf dem Gebiet der geistigen Mobilisiereng profitbringende Wirklichkeit. Ob tatsächlich Schopenhauers Volksausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung vom Volke studiert wurde, lässt sich leicht bezweifeln. Dennoch gehört die Anstrengung, diesem Text ein nie zuvor vorhandenes Publikum zu verschaffen, zu der Mobilisierung nationaler Kultur, die vor allem darauf hinauslief, etwas substanziell vor Augen zu führen, was sich sonst in der abstrakten Parole vom Krieg um die deutsche Kultur verflüchtigte. Die erfolgreichste Form dieser Mobilisierung ist mit Recht auf dem Gebiet des Theaters als „Selbstmobilisierung“ gekennzeichnet worden, insofern sich „Kultur-“ und Unterhaltungstheater in den ersten Kriegsmonaten von Berlin und Wien bis weit in die Provinzen – und bald auch an den Fronten – mit solcher Energie der Kriegsthematik bemächtigten, dass die Militärbehörden in den traditionellen Institutionen öffentlicher Bildung und Unterhaltung überraschend kooperative Bundesgenos-

69 Murray G. Hall, Das Buch als ‚Bombengeschäft‘, in: Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte, hg. von Klaus Amann und Hubert Lengauer. Wien: Brandstätter, 1989, 139–144, hier 140; Siegfried Lokatis, Der militarisierte Buchhandel im Ersten Weltkrieg, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1871–1918, hg. von Georg Jäger. Berlin/New York: De Gruyter, 2010, 444–469. 70 Natter, Literature at War, 122–173; Claudia Albert und Harald Weilnböck, Der Schützengraben als Lese-Ecke des Frontkämpfers. Topos und Realität des lesenden Soldaten, in: Traditionsanspruch und Traditionsbruch. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik II, hg. von Georg Bollen� beck und Thomas La Pesti. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2002, 31–55.

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sen fanden.71 In den ersten Kriegsmonaten war die Offenheit gegenüber klassischen Texten am stärksten, allerdings äußerte sich schon hier das Bedürfnis, den Krieg im Theater als ein Ereignis zu fassen, welches das Volk kulturell mobilisierte. Trotz des Widerstandes des Militärs gegen die Unterstützung des nationalen Kampfes durch Unterhaltungstheater entwickelte sich gerade dieses mit Musik, Couplets, Komödien und agilen Wandertruppen zum wichtigsten Träger patriotischer Stimmungsmache. Nach 1916 wurde es auch dem kritischsten Offizier klar, dass das Fronttheater, das zunächst aus den Initiativen von Theaterleuten zu einem riesigen Netz aufgebaut worden war, eine unentbehrliche Rolle bei der Aufrechterhaltung einer gewissen Normalität spielte und damit der militärischen Kontrolle untergeordnet werden müsse.72 Die Militärbehörden, die zunächst Mühe hatten, den ihnen per Verfassung zufallenden Zensuraufgaben gerecht zu werden, lernten, nicht rein kampfbezogene Organisationsaufgaben unter Begriffe wie Kultur und Kulturpolitik zu stellen. Wenngleich nicht wie in Österreich um die Einbindung literarischer Prominenz bemüht, suchten sie die generelle Aufmerksamkeit für Kultur in integrativen Unternehmungen nutzbar zu machen, was dann in die Besatzungspolitik Eingang fand. Am prominentesten geschah das in dem ab 1915 Hindenburg und Ludendorff unterstellten Besatzungsgebiet Ober Ost, das sich einer exemplarischen Kulturarbeit von Soldaten in Literatur, Theater und Musik rühmte, die von der Presse des Reiches viel Aufmerksamkeit erhielt. Wenn Kontakte mit den einheimischen Kulturen der Litauer, Juden, Weißrussen, Polen und Letten allerdings überhaupt eine gewisse Gegenseitigkeit zuließen, so geschah das am ehesten im Bereich des Theaters, wo Wilna mit seinem ausgezeichneten jiddischen Theater eine zentrale Stellung einnahm.73 In Ermangelung anderer Unterhaltungsmöglichkeiten (die im Westen eher zugänglich waren) bezogen die Besatzungstruppen im Osten bis zum Kriegsende 1918 aus Frontbüchereien, Frontkinos und Fronttheatern einen wesentlichen Teil ihrer Überlebensstrategie in fremder Umwelt. Niemals erlebte Schillers Wallensteins Lager so viele Laienaufführungen auf improvisierten Waldbühnen wie hier, wo das multikulturelle Soldatenleben des Dreißigjährigen Krieges den Bedarf nach sinngebender Selbstdarstellung in Knittelversen befriedigte. 71 Martin Baumeister, Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914–1918. Essen: Klartext, 2005, 292–294 und passim. 72 Ebd, 211–289. 73 Das Land Ober Ost. Deutsche Arbeit in den Verwaltungsgebieten Kurland, Litauen und BialystokGrodno, hg. von der Presseabteilung Ober-Ost. Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1917, 421–428; Vejas Gabriel Liulevicius, War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity and German Occupation in World War I. Cambridge: Cambridge University Press, 2000, 141–143.

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Ließ sich diese Form der Regeneration kultureller Partizipation als Kultur ernst nehmen? Und wenn ja, bedurfte es des Krieges, um sie anzufachen, damit sie umso heller brannte und umso schneller erlosch? Die erste Frage hat man angesichts der furchtbaren Opferstatistiken später zumeist als unpassend beiseitegeschoben. Die zweite Frage hat man bejaht, eingedenk der machtvollen Stimmen der Zeitgenossen, die in diesen Krieg mit einer prall gefüllten Kultur­ agenda hineingingen, dann aber, als er nicht die erhoffte geistige Neugeburt hervorbrachte, dazu tendierten, Kultur überhaupt zum Opfer dieses sinnlosen Völkermordens zu erklären. An die Stelle des kulturellen Prestigediskurses, der die europäischen Eliten in den vorangegangenen Jahren gefesselt hatte, trat nun der Kulturzerstörungsdiskurs. Über alle Grenzen hinweg fand er selbst bei solchen Schriftstellern Resonanz, die nach wie vor an ihrer nationalen Bekenntnisliteratur festhielten. Seine neuere Aufarbeitung hat sich an vergleichbaren Mobilisierungen in Großbritannien und Frankreich orientiert, wie es Paul Fussell in The Great War and Modern Memory (1975) im Hinblick auf die Sturm­ aktion britischer Verlage auf das klassische Bildungserlebnis dargelegt hat.74 Allen kriegsbeteiligten Ländern war demnach gemeinsam, dass das Leserinteresse an allem, was der Sinngebung durch Kultur und Literatur in der Bewältigung des Kriegsinfernos eine besondere Stellung einräumte, abflaute. 1916, im Jahr von Verdun, war der Sinnvorrat klassischer Literatur für die meisten dieser Leser erschöpft, wenn er nicht wie in Walter Flex’ Bestseller Der Wanderer zwischen zwei Welten (1917) jugendbewegt verpackt wurde.75 Der Lesehunger wurde von nun an vorwiegend von aktuellen kriegs- und technikbezogenen Texten befriedigt, von autobiografischen Aufzeichnungen und Abenteuergeschichten. Im Theater suchte man keine Erhebung mehr, sondern vor allem Ablenkung durch Unterhaltung. Auf diese Zeit datiert auch das zunehmend oppositionelle Engagement jüngerer Intellektueller gegen jede positive Literarisierung der Kriegserfahrung. In Deutschland fand es im sogenannten Aktivismus, der die politische Radikalisierung anzeigte, seinen Ausdruck.76 Nachdem die Expressionisten den Repräsentationsanspruch der hohen Kunst mit ihrer Suche nach dem Authentischen, der sie ins Kriegserlebnis eintauchen ließ (dem viele zum Opfer fielen), noch 74 Paul Fussell, The Great War and Modern Memory. London: Oxford University Press, 1975; Nicolas Beaupré, New Writers, New Literary Genres (1914–1918). The Contribution of Historical Com� paratism (France, Germany), in: Warfare and Belligerence. Perspectives in First World War Studies, hg. von Pierre Purseigle. Leiden: Brill, 2005, 323–345. 75 S. „Die Wandlung der Lektüre mit den Verdun- und Sommekämpfen bis zur ‚Großen Schlacht‘“, in: Inge Ehringhaus, Die Lektüre unserer Frontsoldaten im Weltkrieg. Berlin: Junker & Dünnhaupt, 1941, 76–82. 76 Der Aktivismus 1915–1920, hg. von Wolfgang Rothe. München: DTV, 1969.

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einmal bestätigt hatten, verschoben sie die Gewichte nun in Richtung auf die Beschwörung einer neuen, besseren Gesellschaft. Allerdings ging in dieser Desillusionsphase des Krieges, wie Troeltsch zu erkennen gab, selbst bei offiziellen Kulturträgern das Vertrauen in die Sprache kultureller Sinngebung verloren, sodass sich Expressionisten häufig nur durch ihre rhetorisch-sprachmagische Zukunftsorientierung von den Älteren unterschieden. Nachdem sich 1914/15 die Luft mit mächtigen Wolken nationaler Sinnbeschaffung gefüllt hatte, fielen in der folgenden Windstille die Phrasen zu Boden, wie es selbst die konservativ-nationalen Süddeutschen Monatshefte konstatierten. Sie brachten unter dem Titel „Das Kulturgeklapper“ das Problem im Hinblick auf den Gründungsprospekt des „Deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum“ 1917 auf den Nenner: „Wir können uns nachgerade nirgends mehr retten vor dieser Phrase, die uns auch hier wieder um die Ohren knallt wie Fuhrmannspeitschen: ‚edelste Kulturwerte … solche Werte … diese Werte … Kulturausstellung … deutsche Geisteskultur … Halle der Kultur … Zeitschrift für geistige Kultur … Halle der Kultur‘ – das alles auf dreiviertel Seiten! Das unausstehliche Auftrumpfen mit unserer sogenannten Kultur hat uns im Ausland nicht nur lächerlich, sondern geradezu verhaßt gemacht.“77 Hier ist der Kriegseinsatz einer zuvor schon fragwürdigen Phraseologie in ihrer Trivialisierung generell charakterisiert. Verlustanzeigen für die Kultur beschränkten sich nicht auf Deutschland und Österreich, sie wurden vielmehr aus ganz Europa gemeldet. So konstatierte Henry James, alles andere als ein Deutschenfreund, in einem Interview mit der New York Times 1915: „Der Krieg hat Worte aufgebraucht; sie sind schwächer geworden, abgenutzt wie Autoreifen; […] wir sind jetzt mit einer Abwertung all unserer Begriffe konfrontiert, oder anders gesagt, mit einem Verlust an Ausdruckskraft aufgrund wachsender Schlaffheit, die uns im Zweifel lässt, welche Geister zum Weitermachen übrig bleiben.“78 Paul Fussell zog die Schlussfolgerung, dass in der Anwendung einer im Wesentlichen überlebten poetischen Sprache auf die inkommensurablen Grausamkeiten des Krieges nur Ironie übrigbleiben könne.79 Das war aus der Retrospektive des späteren 20. Jahrhunderts auf die westlichen Fronten gemünzt und von Amerika her gesehen. Den unmittelbar Beteiligten war Zynismus, jedoch nicht Ironie zugänglich. Sie reagierten in aller Heftigkeit – wobei diejenigen, die sich in der neutralen Schweiz der deutschen, französischen, italienischen und rumänischen Zensur entziehen konnten, in der Erfindung des Dadaismus die provokanteste Absage 77 Das Kulturgeklapper, in: Kriegshefte der Süddeutschen Monatshefte, Mai 1917, 327. 78 Zit. nach Peter Buitenhuis, The Great War of Words. British, American, and Canadian Propaganda and Fiction, 1914–1933. Vancouver: University of British Columbia Press, 1987, 61. 79 Fussell, The Great War and Modern Memory, 35.

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an Kunst und Kultur als Phrase artikulierten. In dem 1916 im Cabaret Voltaire in Zürich verlesenen „Dadaistischen Manifest“ verkündeten Hugo Ball, Tristan Tzara, Pierre Albert Birot, Hans Arp, George Grosz, Maria d’Arezzo und andere: „Der Dadaismus steht zum erstenmal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt.“80 Dadaismus, der Zensur entzogen, wurde zu dem am häufigsten beschworenen Beispiel dafür, wie der Kulturzerstörungsdiskurs selbst ein Narrativ, ein Stimulans, eine kulturelle Schöpfung darstellte, die sich ohne den Krieg nicht in solcher Radikalität ausgeformt hätte. Aber auch andere Ausdrucksformen ließen den akademisch verbrämten Prestigediskurs über deutsche Kultur hinter sich, expressionistische ebenso wie bewusst sachliche Ausdrucksformen, die sich als Teil der Reformbewegung im internationalen Austausch entwickelten und vom Krieg mit neuer Bedeutung versehen wurden. Wiederum andere kulturelle Neuentwicklungen verdankten dem, was man später als „Kultur des Krieges“ bezeichnet hat, ihre Existenz, eine höchst explosive Mischung aus militärischer Kommandogewalt und Kulturbringerideologemen, die ebenfalls die Referenz auf die nationale Hochkultur hinter sich ließ, ohne damit gesellschaftlich progressiv zu werden (etwa bei den Kriegsmythisierungen Ernst Jüngers). All das entzieht sich dem einfachen Verdikt, der Erste Weltkrieg, in dem sich kriegführende und neutrale Länder in ständigem Austausch miteinander verflochten, habe die Kultur zerstört, mit Ausnahme der Prestigekultur der europäischen Gesellschaft, in welcher sich der deutsche Nationalstaat eine führende Rolle zumaß. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kriegsereignisse die Einstellung zu Kultur veränderten und damit deren Definition von den Traditionen der europäischen Hochkultur ablösten. Schwerer zu entscheiden ist, ob die erzwungene Ernüchterung allein vom furchtbaren Massensterben her bewertet werden kann. Wenn sich selbst der Kulturzerstörungsdiskurs bei jüngeren Eliten zu einem Elixier neuer Erkenntnis- und Darstellungsformen verflüssigte und im revolutionären Russland und quasirevolutionären Deutschland mit einem Weltänderungsdiskurs zu vereinigen anschickte, lässt sich nachvollziehen, dass diese Periode der Schrecken und Entbehrungen auch als Schockbeschleuniger des Modernismus gewirkt hat.

80 Dadaistisches Manifest, in: Expressionismus und Dadaismus, hg. von Otto F. Best. Stuttgart: Reclam, 1974, 293–296, hier 295.

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Unter Verbündeten: Kultur in den deutsch-österreichischen Beziehungen Was der Krieg im einen Fall zerriss, straffte er im anderen Fall. Das betraf die Beziehung des Deutschen Reiches zur Habsburgermonarchie, die 1866 auf Trennung, 1879 mit Bismarcks Zweibund auf Kooperation gebaut wurde. Der Weltkrieg, als österreichischer Krieg gegen Serbien begonnen, zwang die beiden Mittelmächte zu einer gemeinsamen Mobilisierung, die plötzlich das Miteinander von Trennung und Kooperation in der Koordinierung staatlicher, militärischer und ökonomischer Ressourcen auf die Probe stellte. Von Kultur war dabei zunächst nur in der Propaganda die Rede, insofern man sie entweder als Hauptfaktor für die Abwehr der russischen Barbarei beschwor oder als Ausdruck gemeinsamer Denk- und Lebensformen gegen die westlichen Attacken intellektuell verteidigte. Jedoch ließen sich der deutsche und der österreichische Staat nicht zusammenzwingen, ohne dass der Kernbereich der Gemeinsamkeit, die Kultur, erneuter Gewissenserforschung ausgesetzt wurde. Mit dem gemeinsam geführten Krieg verlor das Ausschließungsdenken, das vor 1914 bei der Nationalisierung der Kultur im Reich gegenüber deutschsprachigen Minderheiten sowie den deutschsprachigen Bewohnern Österreich-Ungarns praktiziert worden war, seine Überzeugungskraft. Plötzlich ließ sich auch in Deutschland, wo man besonders im Norden gegenüber der Habsburgermonarchie bis auf die Anerkennung Wiens indifferent geworden war, deren Nähe und Verwandtschaft nicht mehr aus der Debatte kultureller Werte heraushalten. Gemeinsam war die Mythisierung des Einheitserlebnisses bei Kriegsausbruch, gemeinsam die Hoffnung auf eine Erneuerung des jeweiligen Landes durch die innere Einigung. Verschieden war der Schock, den die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo bei den Untertanen von Kaiser Franz Joseph I. auslöste. Die Frage, ob sich die Einheit dieses Staates erweisen und die gegenwärtige Balance – die Mehrfachidentitäten im Vielvölkerstaat – erhalten würde, schien die Armee mit ihren vielsprachigen Truppenteilen positiv zu beantworten. Dieses Augusterleben war von einem Erschrecken durchsetzt, zumal bei der Landbevölkerung und den vielen Gruppierungen, die von einem unglücklichen Ausgang des Krieges mit der Möglichkeit, dass dieser Staat insgesamt zugrunde gehe, Schlimmes für ihre Existenz erwarteten. Von den jüdischen Schriftstellern Prags berichtete Max Brod: „Unsere Grundstimmung war, offen herausgesagt, eine ungeheure Angst.“81 Höchst 81 Max Brod, Eine Unterredung mit Professor Masaryk, zit. nach Andreas Herzog, Deutsche, Juden oder Österreicher? Zum nationalen Selbstverständnis deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller in Prag (1866–1918), in: Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfi�

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unpopulär war für Tschechen die Aussicht, Krieg an der Seite des Deutschen Reiches gegen Serbien, Russland und Frankreich zu führen, mit denen die tschechische Öffentlichkeit lange Jahre sympathisiert hatte.82 Allerdings gab Thomas Masaryk, der nachmalige Präsident der Tschechoslowakei, auch später seine Zweifel darüber zu.83 Unter Deutschösterreichern jedoch war zumindest anfangs das Gefühl überwältigend, in der „Waffenbrüderschaft“ mit den Reichsdeutschen jene Trennung von 1866 wieder zu heilen und als ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gesamtnation zu kämpfen. Der Sozialistenführer Victor Adler meinte, dass es bei dem Krieg nicht um Österreich, sondern um das „Schicksal des deutschen Volkes“ gehe.84 Prominente Autoren wie Hermann Bahr, Stefan Zweig und Robert Musil stellten als Habsburgische Untertanen zunächst die Verteidigung der deutschen Kultur ins Zentrum. Zwei prominente Gestalten aus Deutschland und Österreich lassen in ihren Publikationen paradigmatisch erkennen, inwiefern die Beschäftigung mit Kultur für die innen- und außenpolitischen Strategien in den ersten zwei Kriegsjahren über Propagandaarbeit hinausgehen und das Verhältnis der beiden Staaten zueinander und zu Europa in neue Denkbahnen lenken konnte. Beide reflektierten deutsche Kultur als einen transnationalen Kern Europas, in dem Österreich, gerade wenn Deutschland ein Führungsstatus zugesprochen wurde, seine Einmaligkeit und Sonderstellung erhalten musste. Beide reagierten auf die Distanz, die man seit Langem im Reich gegenüber der Habsburgermonarchie hatte erkennen lassen, die jedoch nicht leicht zu überwinden war, ohne die traditionellen Stereotypen auszulösen. Beide verfolgten, wenn auch auf verschiedene Weise, die Intention, das vom Krieg ausgelöste Zusammengehen der beiden Monarchien zu einer Präzisierung der jeweiligen Mission zu nutzen. Beide versuchten, Trennung und Kooperation aufeinander abzustimmen, der eine vorwiegend im wirtschaftlichen, der andere im kulturellen Bereich. Der eine war ein gewandter Redner, liberaler Politiker und der kulturellen Modernisierung leidenschaftlich verpflichteter Organisator, der andere ein zugleich moderner und konservativer Dichter, vielgerühmter Stilist und Bekenner einer aus zahlreichen ausländischen Quellen schöpfenden deutschen Kultur. Der gurationen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Hanni Mittelmann und Armin A. Wallas. Tübingen: Niemeyer, 2001, 141–160, hier 154. 82 Jiri Koralka, Die Tschechen und der Zweibund, in: Der ‚Zweibund‘ 1879. Das deutsch-österreichi� sche Bündnis und die europäische Diplomatie, hg. von Helmut Rumpler und Jan Paul Niederkorn. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften, 1996, 365–379, hier 378. 83 R. J. W. Evans, The Habsburg Monarchy and the Coming of War, in: The Coming of the First World War, hg. von dems. und Hartmut Pogge von Strandmann. Oxford: Clarendon, 1988, 33–55, hier 44. 84 Birgitt Morgenbrod, Wien – Berlin und die ‚deutsche Kulturnation‘, in: Der ,Zweibund‘ 1879, 338; Jörg Kirchhoff, Die Deutschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie – ihr Verhältnis zum Staat, zur deutschen Nation und ihr kollektives Selbstverständnis. Berlin: Logos, 2001, bes. 143 f.

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eine, Friedrich Naumann, veröffentlichte 1915 den wohl erfolgreichsten deutschen politischen Bestseller der Kriegsjahre, Mitteleuropa, der andere, Hugo von Hofmannsthal, stellte mit dem 12. August 1914 seine Publizistik der österreichischen Kriegspropaganda zur Verfügung, bei der vom Kriegsministerium in Abgrenzung vom deutschen Verbündeten Werbung für die „österreichische Idee“ in Mitteleuropa beim selben Verbündeten gefragt war. Beide begegneten harscher Kritik mit ihrer vom Krieg ausgelösten Publizistik. Hofmannsthal, bis Mai 1915 Leiter des Pressebüros des Kriegsfürsorgeamtes des k. u. k. Kriegsministeriums, lieferte zum Neujahr 1915 die poetischste Version des Augusterlebnisses zur höheren Glorie des Staates: „Nie war die Schönheit Österreichs gewaltiger hervortretend als im August 1914, und nie wurde diese Schönheit von Millionen Herzen reiner und stärker aufgenom­ men.“85 Dass es sich bei seiner Tätigkeit um Sinnbeschaffung für den Krieg handelte, flocht Hofmannsthal unumwunden in seine poetische Sprache ein: „Die heutige Schlacht aber bedarf der geistigen Schöpfung, um für die Phantasie der Mitlebenden erst zu entstehen, ja am meisten für den Mitkämpfer selber. Denn für alle, die darin verstrickt waren, ist es ein wüstes chaotisches Geschehen, und nur wenige, die höchsten Führer, lesen die geheime Chiffrenschrift und erkennen Geist und Notwendigkeit.“86 Solch geheimnistuerische Sinnbeschaffung lieferte Karl Kraus willkommenes Material für seine Satire „In dieser großen Zeit“: „Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter ist ihr Eintritt in den Journalismus. Hier steht ein Hauptmann, stehen die Herren Dehmel und Hofmannsthal, mit Anspruch auf eine Dekoration in der vordersten Front und hinter ihnen kämpft der losgelassene Dilettantismus.“87 Dass Hofmannsthal nicht nur als Interpret des Massensterbens, sondern als Interpret Österreichs in Deutschland wirken sollte, bezeugte sein dreimonatiger Aufenthalt in Berlin im Winter 1915/16, wo er auch Friedrich Naumann sprach, dessen Mitteleuropa-Buch gerade die Kriegszieldebatten der Beamten dominierte. Naumann wurde mit seinem Bestseller innerhalb der Habsburgermonarchie von Tschechen und Ungarn sowie außerhalb der Mittelmächte von englischen und französischen Kritikern als deutscher Imperialist angegriffen, der dem 85 Hugo von Hofmannsthal, Aufbauen, nicht Einreißen, in: ders., Gesammelte Werke. Prosa III, hg. von Herbert Steiner. Frankfurt: Fischer 1952, 234–241, hier 234; vgl. Die Bejahung Österreichs, in: ebd., 189–194. Hierzu Alfred Berger, Lyrische Zurüstung der ‚Österreich‘-Idee. Anton Wildgans und Hugo von Hofmannsthal, in: Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte, hg. von Klaus Amann und Hubert Lengauer. Wien: Brandstätter, 1989, 144–152. 86 Hofmannsthal, Die Taten und der Ruhm (1915), in: ebd., 242–251, hier 250. 87 Karl Kraus, In dieser großen Zeit, in: Die Fackel, Nr.  404 (5.12.1914), 15–19, hier 16. Zum österreichischen Propagandaapparat siehe Edward Timms, Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven: Yale University Press, 1986 („The Unimagined War and the Apparatus of Propaganda“, 273–284).

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deutschen Machthunger, sich ganz Mitteleuropa einzuverleiben, die Agenda geschrieben habe.88 Die Alldeutschen dagegen lehnten das Buch ab, da es den deutschen Machtstandpunkt gegenüber anderen Völkern in ihren Augen zu wenig zur Geltung brachte. Später ließ sich die Erwähnung des Begriffs ‚Mitteleuropa‘ nicht mehr von seinem Namen trennen, was ihm bis heute den zweifelhaften Ruf eines deutschen Annexionisten erhalten hat. Dessen ungeachtet verdienen Hofmannsthals und Naumanns vom Krieg inspirierte und jeweils prominent gewordene Konzepte zum deutsch-österreichischen Verhältnis eine genauere Prüfung. Hofmannsthal deutete in einem Brief an Naumann seine Zustimmung zum Mitteleuropa-Konzept an; es entsprach seinen Einstellungen zum deutsch-österreichischen Verhältnis in den ersten Kriegsjahren bis zu einem gewissen Punkt.89 Damit stand er nicht allein in Österreich, wo eine lebhafte Mitteleuropa-Diskussion mit entsprechenden Denkschriften im Gange war, deren erfolgreichste, die „Denkschrift aus Deutsch-Österreich“ (1915), von Heinrich Friedjung stammte, einem Historiker, der damit auch in Berlin mitsamt ausführlicher Unterredung mit Bethmann Hollweg Erfolg hatte.90 Hofmannsthals Abkehr von diesen hauptsächlich wirtschaftlich begründeten Anschauungen – er konnte bei seinem Aufenthalt in Berlin keine solche Resonanz erzielen – entsprach der allgemeinen Ernüchterung 1916 im Hinblick auf die zunehmend arrogante Behandlung seitens der Deutschen, insbesondere deren militärischer Führung und der annexionistischen Rechten im Reich. Er widmete sich nun noch stärker der von Anfang an verfolgten „österreichischen Idee“.91 In verschiedenen Essays, die ebenso für das österreichische wie das deutsche Publikum geschrieben waren, umriss Hofmannsthal diese Idee nicht einfach als Glorifizierung der Vielvölkereinheit unter der habsburgischen Krone, Armee und Bürokratie, auch wenn er das seinem Dienst als Oberleutnant schuldete, sondern in 88 Harm-Heinrich Brandt, „Mitteleuropa“ in der Zeit der Paulskirche und des Ersten Weltkrieges, in: Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Gehler u. a. Stuttgart: Steiner 1996, 327–352; Jürgen Frölich, Friedrich Naumanns „Mitteleuropa“. Ein Buch, seine Um� stände und seine Folgen, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch. Berlin/ New York: de Gruyter, 2000, 245–267. 89 Jacques Le Rider, Die österreichische Idee eines mitteleuropäischen Reiches, in: ders., Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Wien: Böhlau, 1997, 229–252, hier 231. 90 Fritz Fellner, Denkschriften aus Österreich. Die österreichische Mitteleuropa-Diskussion in Wissen� schaft und Politik 1915/16, in: ders., Vom Dreibund zum Völkerbund. Studien zur Geschichte der internationalen Beziehungen 1882–1919. Wien: Geschichte und Politik, 1994, 221–239. 91 Heinz Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit in den Jahren 1914 bis 1917. Frankfurt: Lang, 1981, 171–178.

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einer noch zu erarbeitenden Einordnung Österreichs in Europa, mit der seine Zugehörigkeit in einer Sonderstellung zur deutschen Kultur garantiert sei: „Mitteleuropa ist ein Begriff der Praxis und des Tages, aber in der höchsten Sphäre, für Europa, wofern Europa nun bestehen soll, in der Sphäre der obersten geistigen Werte und der Entscheidungen über die Kultur der Jahrtausende ist Österreich nicht zu entbehren.“92 Aus Mangel an konkreten Zielen lief das auf eine Definition Österreichs ex negativo hinaus, die einerseits darin gipfelte, deutsch, aber nicht preußisch zu sein (wie er in dem berühmten Schema „Preuße und Österreicher“ im selben Jahr 1917 festhielt), und andererseits europäisch, aber nicht materialistisch-modern zu sein (wofür er nach dem Kriege Gedanken der konservativen Revolution einsetzte). Was davon bei seinen Dichterkollegen und Lesern hängenblieb, war jene Idee des unvollendeten Österreich, die sich dann über die Literatur, von Hermann Broch ebenso wie von Joseph Roth reflektiert, bis zur späten Wiederaufnahme nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt, als der Triestiner Germanist und Schriftsteller Claudio Magris den habsburgischen Mythos als Fata Morgana enthüllte, der er selbst verfiel.93 In der Definition Österreichs aus der Analyse dessen, was es nicht war oder wozu es in einem Gegensatz stand, machte sich eine politische Erschöpfung bemerkbar, die nach dem verlorenen Kriege tatsächlich nur, solange sie am Übernationalen festhielt, in Literatur, Musik und Theater, mit Grillparzer und den Salzburger Festspielen, aufgefangen werden konnte. Was positiv zu dieser Zeit kaum zu füllen war, entwickelte in der Satire umso mehr Vitalität. Karl Kraus lieferte dafür mit seinem Antikriegs-Pandämonium Die letzten Tage der Menschheit das berüchtigste Beispiel. Auf einem imaginären Welttheater machte er die Habsburgermonarchie in ihrer dilatorischen Behandlung des Krieges zu einer satirischen Metapher der Menschheit, die ihre Apokalypse selbst herstellt. Robert Musil behandelte sie gnädiger, aber nicht weniger satirisch in seinem essayistischen Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Zumeist in Berlin arbeitend, erschuf Musil ein höheres Österreich in der Distanzierung von der technisch-materiellen Modernität des nördlichen Nachbarn. Mit seinem Plädoyer für einen dem Wirklichkeitssinn entgegengestellten Möglichkeitssinn öffnete er die Augen für eine Modernität, die vielversprechender und zugleich beständiger war als alle danubische Nostalgie oder deutsche Neuerungssucht. Bezeichnenderweise baut die Handlung auf einer „Parallelaktion“ auf, in der die Suche nach der Selbstdefinition Österreichs sich in der Distan92 Hofmannsthal, Die österreichische Idee (1917), in: ders., Gesammelte Werke. Prosa  III, hg. von Herbert Steiner. Frankfurt: Fischer, 1952, 401–406, hier 406. 93 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg: Müller, 1966, 214–234.

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11 „Gott mit uns! Lieb Vaterland, magst ruhig sein!“ Postkarte mit Portraits von Wilhelm II. und Franz Joseph I. und marschierenden und Abschied nehmenden Soldaten 1914. In: Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz Nr. 00073238

zierung sowohl von Preußen-Deutschlands machtvoller Selbstdarstellung wie von der amerikanisch beschleunigten, nur scheinbar sachlichen Modernität vollzieht. In seinem Mitteleuropa-Buch platzierte Friedrich Naumann Österreich ebenfalls in eine Parallelbeziehung zu Deutschland, jedoch eher als Ergänzung und Korrektur denn als Negation spezifischer Charakteristika. Hofmannsthals Schema „Preuße und Österreicher“ vorausnehmend, aber vom deutschen Standpunkt aus gesehen und damit dem Deutschen gegenüber wohlwollender, eröffnete er dieses Buch, das er nicht als Explikation aktueller Thesen zur Machtausdehnung anlegte, wie es später zumeist kategorisiert worden ist, sondern nach dem Scheitern weltpolitischer Ambitionen des Reiches als Anstoß zum Umdenken innerhalb Europas, vor allem gegenüber Österreich-Ungarn und den anderen Völkern Mitteleuropas. „Wir Reichsdeutschen“, ermahnte Naumann seine deutschen Leser, „müssen [dem] Zentralproblem der verbündeten Monarchie viel mehr echte Aufmerksamkeit und Sorgfalt widmen als bisher, und zwar nicht nur dem staatstechnischen Problem selber, sondern vor allem auch den Gefühlen der mit uns auf Tod und Leben verbündeten Völkerschaften. Daran hat es vor dem Kriege sehr gefehlt, denn wenn schon unsere Anteilnahme an den Geschicken unserer deutschen Brüder in Österreich und

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Ungarn nicht hinreichend groß war, so ist offenbar, dass unsere Vertiefung in die Vorgeschichte und das Wesen der Ungarn, Böhmen, Polen, Südslawen noch viel geringer gewesen ist. Unsere Augen waren westlich gewendet.“94 Dafür lieferte Naumann in der Folge eine stilistisch fulminante, von keinem deutschen Autor je so sensibel und umfassend geschriebene Einführung in die deutsch-österreichische Trennung und Kooperation in Geschichte und kriegsbedingter Gegenwart. Sie lässt erkennen, dass ihm jenes Gewebe kultureller Identitäten und Zuordnungen, das in diesem Gebiet besonders kompliziert geknüpft worden war, als Faktor für eine engere Kooperation tragend erschien. Jedoch hielt er sich von völkischen Argumenten fern, ließ nur erkennen, dass ihm das Problem kultureller Minderheiten, im Krieg ihre Mehrfachidentitäten zwischen den Nationen zu bewahren, vertraut war. („Man denke an die vielen Deutschen, die leider drüben im russischen Heere kämpfen! Das sind nicht nur Gezwungene. So wie sie zog der russische Pole mit den Russen, der preußische Pole mit den Deutschen, der galizische Pole mit den Österreichern.“95) Was Naumann selbst erst mit dem Krieg klargeworden war, hatte, so glaubte er, auch erst mit dem Krieg Realität gewonnen. Er sah nicht, dass der Krieg nur erkennbar machte, was schon dabei war, zerstört oder im Sinne völkischer Expansion umfunktioniert zu werden. Naumann brachte nicht Politik, sondern „Stimmungskapital“ hervor, wie es sein Freund Max Weber 1916 im Essay „Deutschland unter den europäischen Weltmächten“ nannte. Dennoch verhehlte er nicht das Dilemma, die deutschen Leser einerseits aufzumuntern, sich intensiv mit Österreich einzulassen, andererseits in dem im Wesentlichen wirtschaftlich konzipierten Programm, ein gemeinsames Mitteleuropa zu schaffen, die deutsche Dominanz klarzustellen. Etwas anderes hätten Leser in der Vielvölkermonarchie, die sich der Dynamik des deutschen Nordens bewusst waren, auch nicht erwartet. Dennoch schmerzte die Feststellung in ihrer Ambivalenz: „Mitteleuropa wird im Kern deutsch sein, wird von selbst die deutsche Welt- und Vermittlungssprache gebrauchen, muß aber vom ersten Tage an Nachgiebigkeit und Biegsamkeit gegenüber allen mitbeteiligten Nachbarsprachen zeigen, weil nur so die große Harmonie emporwachsen kann, die für einen allseitig umkämpften und umdrängten Großstaat nötig ist.“96 Besonders die Tschechen, deren Industrialisierung und kulturelle Separierung, wie Naumann anerkannte, am weitesten entwickelt waren, wollten sich auf diese Form reichsdeutscher Dominanz nicht einlassen, und auch von den Ungarn, deren Partikularismus im Ökonomischen 94 Friedrich Naumann, Werke, Bd. 4. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag, 1964, 595 f. 95 Ebd., 568. 96 Ebd., 595.

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und Kulturellen er mit Samthandschuhen anfasste, erfolgte scharfer Einspruch. Deutsch sollte zwar Lingua franca dieses Gebietes bleiben, kulturelle Angelegenheiten aber wurden in jedem Falle den Einzelstaaten und ‑parlamenten zugeordnet. Es waren andere, die zu dieser Zeit die Bedeutung deutscher Siedler, deutscher Schulen und deutscher Kultur in dieser Weltgegend für den Absatz deutscher Erzeugnisse betonten und mahnten, man müsse die Kontinuität wahren, damit nicht Frankreich bei den Polen und Rumänen neue Anhänger und Kunden gewinne.97 Was von Politikern und Historikern – außer von seinem Biografen Theodor Heuss – als Ausfluss eines unsteten Geistes abgetan wurde, ist Naumanns innovativer Einbezug kulturpolitischer Argumente in die politische und sozialpolitische Programmatik. So zielte er in der Darlegung zum deutsch-österreichischen Wechselverhältnis einerseits auf die Herstellung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsblocks, der neben dem russischen, dem britisch-amerikanischen und möglicherweise ostasiatischen Wirtschaftsblock seine Existenzberechtigung beweisen sollte, benannte andererseits aber auch bereits die Bedingungen einer solchen Selbstermächtigung, die sowohl in wirtschaftlicher Expansion wie in kultureller Produktion lagen. Bei beidem ging er von der deutschen Dominanz aus, und das bedeutete eine etwa von norddeutschen Handelskaufleuten keineswegs akzeptierte Abwendung vom Atlantikraum und Zuwendung zu dem wirtschaftlich weniger ergiebigen ost- und südosteuropäischen Raum, eine unter der harten britischen Seeblockade keineswegs unrealistische Wendung, die nach 1918 noch große Folgen zeitigen sollte. Eng damit verbunden war die Naumann’sche Konzeption einer kontinental bestimmten, das heißt sozial verpflichteten ästhetischen Modernität, für die der Werkbund als Labor und wirtschaftspolitisches Sammelbecken internationales Profil gewonnen hatte. Die Tatsache, dass der Kriegsausbruch die Kölner Werkbundausstellung um die geplante Wirkung brachte, konnte die Pläne und Hoffnungen auf eine dem modernen Zeitgeist entsprechende Gestaltung und internationale Vermarktung der deutschen Produktkultur nicht auslöschen. Hier liegen die Antriebe für Naumann, der das Österreichische Haus in Köln zum „Sieger über alle anderen“ erklärte, Österreich für seine in Architektur, Design, Produktkultur anvisierte moderne deutsche Kultur zum unabdingbaren Bestandteil zu erklären. Mit Österreich lasse sich „die Sorge von der Alleinherrschaft des geschäftlichorganisatorischen Verstandes“ des Berliner Nordens wirksam beantworten, insofern es in seiner ästhetisch und mentalitätsmäßig viel ansprechenderen Veranlagung die moderne deutsche Wirtschaftskultur erst erträglich mache. 97 Raimund Friedrich Kaindl, Deutsche Siedlung im Osten. Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1915, 33.

Kultur in den deutsch-österreichischen Beziehungen  |

Naumann gebrauchte tatsächlich das Wort „erträglich“ – was auf der Gegenseite „Unerträglichkeit“ implizierte – und gab damit zu erkennen, dass er seinen Imperialismus nicht ohne die ausgleichenden Faktoren innerhalb des größeren deutschsprachigen Kulturraums verwirklicht sehen wollte. Er wies „alle Vorstellungen ab, als sei das gemeinsame Wirtschaftsvolk nur einseitig eine Ausdehnung unserer norddeutschen landwirtschaftlichen und gewerblichen Methoden bis an die untere Donau und nicht gleichzeitig eine umgekehrte Flutung vom Süden nach dem Norden. Nicht Beherrschung, sondern Mischung! Wir haben mehr Pferdestärken und ihr mehr Melodie. Wir denken mehr in Quantitäten, die Besten von euch aber mehr in Qualitäten. Laßt uns zusammengießen, was wir beide vermögen, so bekommt erst die harte neudeutsche Kultur durch eure Mithilfe denjenigen Hauch von Anmut, der sie für die Außenwelt erträglich macht.“98 Kritisch angesichts der begrenzten Ressourcen dieses „Kriegswirtschafts­ge­ fängnisses“99 Mitteleuropa gegenüber anderen Machtblöcken, sah Naumann dessen Chancen nur in einer durch modernes Design attraktiv gemachten Produktkultur auf dem Weltmarkt liegen. Hierbei schien ihm Österreich unentbehrlich. In dieser Form der Kooperation fanden sich die Gründer des Österreichischen Werkbundes (1913) mit ihrem weniger auf Industrie als auf Handwerk gestützten Beitrag richtig platziert (wobei sie einem tschechischen ebenso wie einem polnischen Werkbund zur Geburt verhalfen). Stolz auf den Erfolg des Österreichischen Hauses auf der Kölner Werkbundausstellung und entschlossen, im handwerklichen Vorsprung ihren eigenen Weg zu kultivieren, sprachen sie über „unsere besondere Rolle im Rahmen deutscher Gemein­ arbeit“.100 Das machte die österreichisch-ungarische Monarchie zu keinem ökonomischen Schwergewicht, förderte aber die Bereitschaft, auch diese Monarchie eher über ihre Produkte als über die dynastische Symbolik politisch wahrzunehmen. Den Beweis dafür vernahm Hofmannsthal, selbst Mitglied des Werkbundes, auf der Skandinavienreise 1919, als ihm trotz der Niederlage Österreich-Ungarns klargemacht wurde, dass von den Kunstleistungen des Österreichischen Werkbundes eine „außerordentliche Werbekraft, Kraft, Sympathie“ ausgehe, die sich positiv abhebe von der propagandistischen Kulturpolitik des Deutschen 98 Naumann, Werke, Bd. 4, 627. Politisch ineffektiv, zeigt der 1916 gegründete Arbeitsausschusses für Mitteleuropa in seiner Besetzung mit deutscher und österreichischer Prominenz, u.  a. Rathenau, Ballin, Seeckt, Conrad, Renner, Stolper, Max Weber, ein generelles gegenseitiges Interesse in dieser Kriegsphase an. 99 Ebd., 767. 100 Max Eisler, Österreichische Werkkultur, hg. vom Österreichischen Werkbund. Wien: Schroll, 1916, 54.

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Reiches während des Krieges. Diese beinhalte „das Unvermögen aller absichtsvollen deutschen – das Wort im Sinne des deutschen Kulturkomplexes genommen – Äußerungen, welche irgendwie auf die öffentliche Meinung des Auslandes wirken wollten, also Kundgebungen der Hochschullehrerschaften, der Intellektuellen und so weiter.“101 Selbst davon nicht unbetroffen, entwarf Hofmannsthal in dieser „Ansprache an die Mitglieder des Österreichischen Werkbundes“ den Gedanken, den neuen österreichischen Staat im Zeichen der Werkbundideen aufzubauen: „Dieser Staat muß sich ja irgendwo selbst finden, da er existieren muß, und wo er sich finden wird, scheint mir ganz klar: Er wird sich genau auf Ihrem Gebiet finden, er wird sich in den inneren Übereinstimmungen des Ästhetischen und Ethischen genau in diesen Dingen finden, die Ihre Arbeit beseelen.“102 Zweifellos eine überraschende Bestätigung der „ästhetisch-ethischen“ Wirkungskraft des Werkbundes im Vorfeld der Staatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das hatte wohl noch mehr Folgen für die Weimarer Republik, an deren Verfassung und ,Installierung’ Naumann mitarbeitete. Es half noch dreißig Jahre später dem westdeutschen Nachkriegsstaat, zu dessen erstem Präsidenten der liberale Politiker und Naumann-Mitarbeiter Theodor Heuss aufstieg, bei der Suche nach einem modernen Profil.

Trotz Krieg: Die internationale Resonanz der Werkbund-Kultur Im Januar 1915 verfassten sieben Briten, die der Stagnation englischer Ausstattungskunst, Architektur und Druckkunst begegnen wollten, für den Board of Trade ein Memorandum. Von ihnen hatten mehrere die Werkbundausstellung in Köln 1914 besucht und waren von Produktdesign und Ausstattungskultur tief beeindruckt zurückgekommen. Sprititus Rector war der Architekt William Richard Lethaby, Direktor der Londoner Central [Arts] School und bekanntester Schüler von William Morris aus den besseren Tagen der Arts-andCrafts-Bewegung. In dem Memorandum wiesen sie auf die bedrohliche Ausweitung des deutschen Vorkriegshandels hin, die den „unermüdlichen Bemühungen“ zu verdanken seien, „mit denen die Deutschen die Qualität ihrer Produkte verbessert“ hätten.103 Dabei wurde ausdrücklich die Arbeit des Deutschen Werkbundes erwähnt. Das Memorandum zeitigte schnelle Erfolge: Im März 1915 veranstaltete der Board of Trade eine Ausstellung, die unter dem 101 Hofmannsthal, Die Bedeutung unseres Kunstgewerbes für den Wiederaufbau, 454 f. 102 Ebd., 467. 103 Nikolaus Pevsner, Studies in Art, Architecture and Design, Bd.  2: Victorian and After. London: Thames & Hudson, 1968, 227.

Die internationale Resonanz der Werkbund-Kultur  |

Titel „Exhibition of German and Austrian Articles typifying successful design“ ansprechende Werkbundobjekte vorstellte, worauf im Mai die dem Werkbund nachgebildete Organisation „Design and Industries Association“ (DIA) in der Kombination von Künstlern, Designern und Herstellern gegründet wurde. Diese Organisation verfolgte in den nächsten Jahrzehnten in Großbritannien das vom Werkbund zuerst verkündete und praktizierte Programm, Designer und Hersteller zu direkter Zusammenarbeit zu bringen sowie Erziehung, Produktion und Distribution zu koordinieren. Es gelang ihr nie ganz, den kunstgewerblichen Charakter, der die Arts-and-Crafts-Bewegung geprägt hatte, zugunsten typisierender Modernität zu überwinden. In der Ausstellungsbroschüre hieß es ausdrücklich: „Die Gründer der modernen Bewegung“ in Deutschland hätten nicht „durch Überfluss an Ornamentik“ ihre Erfolge erzielt, sondern durch „Zweckmäßigkeit, technische Perfektion und anständige Qualitäts­ arbeit.“104 Zwar hatte man in Großbritannien lange vor dem Krieg bei der Suche nach dem „Efficiency Style“ nach Deutschland geblickt und von dort Anregungen über industrielle Organisation übernommen. Aber nun herrschte Krieg, und britische Politiker und Akademiker stempelten deutsche Kultur zum Exempel feindlicher Hypertrophie. Offensichtlich entzog sich die Herausarbeitung einer modernen Geschmackskultur, die auf der Sachlichkeit und Gediegenheit der Produkte aufbaute, den Ausschließungsdiskursen der Kulturverwalter auf beiden Seiten. Die Kommentare belegen neben dem britischen Sinn für Fairness die Überzeugungskraft künstlerischer Herstellung von Modernität im deutschen Kulturbereich. Berühmt wurde der Satz des Times-Korrespondenten Clutton Brock in der ersten Broschüre der DIA: „Wenn ein Feind eine noble Lehre zu geben vermag, kann man sie von ihm nur auf noble Weise lernen.“105 Lethaby machte kein Hehl aus seiner Ablehnung deutscher Aggressivität und Maßlosigkeit bei der Weiterentwicklung der Künste und Wissenschaften, aber auch er gestand zu, dass den Deutschen, auf der Arts-and-Crafts-Bewegung fußend, bewundernswerte Innovationen in Architektur, Produktion und Städtebau gelungen seien.106 In seiner ansonsten prahlerischen Autobiografie hat Ernst Jäckh Informationen über die Wirkung des Werkbundes in Frankreich festgehalten. Er zitierte aus dem unter anderem in La Renaissance abgedruckten Alarmruf eines Franzosen von 1916: „Ich halte diejenigen keineswegs für Patrioten, die in Bausch 104 Ebd., 228. 105 Ebd. 106 William Richard Lethaby, Moderne deutsche Architektur und was wir davon lernen können, in: Ju� lius Posener, Anfänge des Funktionalismus. Von Arts and Crafts zum Deutschen Werkbund. Berlin/ Frankfurt/Wien: Ullstein, 1964, 38–41.

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und Bogen das Streben der deutschen Kunst verdammen. Unsere Feinde haben einen klugen Versuch unternommen, die verschiedenen Stile des 19. Jahrhunderts, vom Directoire-Stil an, durch einen Stil unserer eigenen Zeit zu ersetzen; und ich muß sagen, weil es die Wahrheit ist und weil man der Wahrheit die Ehre geben soll, dass bei uns ein ähnlicher Versuch nicht gemacht worden ist. Nehmen wir nur ein Beispiel: der Leipziger Bahnhof ist schöner als der Pariser Orsay-Bahnhof. Als Franzose leide ich darunter. Das ist um so weniger zu verzeihen, als wir in Wirklichkeit mehr Geschmack haben als sie. Mit Hilfe der Staatsregierung, die ihre Aufgabe nicht begreift und sich auf mittelmäßige Berichte hoher Stellen verläßt, ruhen wir faul auf der Vergangenheit aus, ohne den Versuch zu machen, das Kommende vorzubereiten.“107 Die Staatsregierung handelte dann aber doch, insofern Albert Dalmier, der Unterstaatssekretär der schönen Künste, 1916 ein „Comité Centrale des arts appliqués“ einrichtete und bei der Gründung mahnte: „Wir haben die Pflicht, uns zusammenzuschließen, um, was an uns ist, in der Welt die Vorherrschaft der französischen Kunst und des französischen Geschmacks zu sichern. Wir haben an Boden verloren. Es ist sehr notwendig, das offen zuzugeben, denn nicht dadurch, dass wir vor unserer Schwäche die Augen verschließen, gewinnen wir unseren Platz zurück.“108 Zwei Jahre später brachte der Werkbund in seinen DWB Mitteilungen André Lebeys Bericht „Französische Nachahmung des Deutschen Werkbundes“, der mit der Nachricht beginnt: „Frankreich ist Englands Beispiel nachgefolgt und hat eine Organisation geschaffen, die dem Niedergang seiner künstlerischen Gewerbe entgegenwirken und den Vorsprung der deutschen Entwicklung ausgleichen soll.“109 Mit der behördlichen Gründung sei man in Frankreich in der „Anlehnung an das Muster des Deutsches Werkbundes“ nicht so schematisch vorgegangen wie England, nehme aber immer wieder auf das deutsche Muster Bezug. Zudem habe man 1917 die in diesem Sinne wirkende Zeitschrift Les Arts Français (Arts, Metiers, Industrie) gegründet. Solche Reaktionen, denen die vom Werkbund inspirierten, jeweils lokale Traditionen verarbeitenden Organisationen in neutralen Ländern wie Schweden und der Schweiz zur Seite gestellt werden können, belegen, dass der publizistische Propagandakrieg zwar eine eigene Dynamik entwickelte, die mit ihrem enormen Aufwand an Papier und Rhetorik bei Lesern und Historikern 107 Zit. nach Ernst Jäckh, Der goldene Pflug. Lebensernte eines Weltbürgers. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1954, 200. 108 Ebd., 201. 109 André Lebey, Französische Nachahmung des Deutschen Werkbundes, in: DWB Mitteilungen, Nr. 1 (1918), 1–17, hier 1; Die französische Bewegung, in: ebd., Nr.  2 (1918), 14–16; Die englische Bewegung, in: Das Werk. Mitteilungen des Deutschen Werkbundes [Nachfolgezeitschrift der DWB Mitteilungen], Nr. 1 (1920), 17–18.

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besonderen Eindruck machte, die kulturellen Auslandskontakte des Reiches während der Kriegsjahre aber nur in Teilen beschnitt. Das war den Feindmächten wohl bewusst und mag dazu beigetragen haben, im Bereich der Wissenschaften, wo Deutschland und Österreich besonderes Gewicht besaßen, wirkliche Kampfmaßnahmen zur Blockierung, Isolierung und institutionellen Schwächung einzusetzen. Wie scharf die Waffen auf dem Gebiet der Wissenschaften gekreuzt wurden, das am ehesten als international galt, wird noch zu sehen sein. Dennoch hat man angesichts der gegenläufigen Tendenzen wohl zu Recht von einer „Zeit erhöhter wechselseitiger Beobachtung und des Austausches auf fast allen Gebieten: in Kunst und Wissenschaft, gerade aber auch in Wirtschaft und Technik“ gesprochen. Die Gründung des britischen DIA, wenngleich mit friedlichen Zielsetzungen, lässt sich als Illustration der Feststellung bewerten: „Mit der Verschärfung der militärischen – und damit auch technischen – Gegnerschaft von 1914 wuchs die Bereitschaft, vom Gegner zu lernen, um mitzuhalten und bestenfalls sogar Überlegenheit erzielen zu können.“110

Ein (halb) offenes Fenster: Neutrale Länder Wichtigster Umschlagplatz für diesen internationalen Austausch stellten neutrale Länder wie die Schweiz und Niederlande, Schweden, Norwegen, Dänemark, Spanien und zunächst auch China sowie die Staaten Nord- und Südamerikas dar. In ihren Hauptstädten blähten sich die Botschaften der Kriegführenden personell und finanziell auf, um Informationsgewinnung, Spionage, Propaganda, aber auch etablierten wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kontakten eine Aktionsbasis zu verschaffen.111 Hierbei ging es sowohl um die Nutzung dieser Plätze als Kontaktstationen für Informationen, die von den Kriegshandlungen sonst blockiert wurden, als auch um das Werben um diese Länder als materielle (wirtschaftliche) oder geistige (propagandistische) Zulieferer der eigenen Militärmacht. Unter dem Dach der zu dieser Zeit in allen Ländern immens anwachsenden Bedeutung der Propaganda erwarb die dazu 110 Olivier Dard und Dieter Gosewinkel, Planung, Technokratie und Rationalisierung in Deutschland und Frankreich während der Weltkriegsära, in: Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20.  Jahrhunderts, hg. von Martin Aust und Daniel Schönpflug. Frankfurt/New York: Campus, 2007, 209–233, hier 211. 111 Für einen Überblick s. Heinz Gollwitzer, Die Sympathisanten der Mittelmächte im Lager der europäischen Neutralen 1914–1918, in: Preußen, Deutschland und der Westen. Auseinandersetzungen und Beziehungen seit 1789, hg. Heinrich Bodensieck. Göttingen/Zürich: Musterschmidt, 1980, 133–154.

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entwickelte Kommunikation den Status einer eigenen Macht, die vielen Akteuren und Beobachtern bald als eine Art freilaufender Tiger erschien, dessen vernichtende Kraft feststand, dessen Einsatz aber höchst unsicher war, nicht von einer Seite allein zu bändigen, ein seltsames Äquivalent zum Phänomen des Krieges selbst.112 Die Verselbstständigung der Propaganda über organisierte Kommunikation ist nicht zu Unrecht als ein fatales kulturelles Eigenprodukt des Ersten Weltkrieges gewertet worden, insofern sie die Feindbilder derart verfestigte, dass sie die Möglichkeiten der diversen Friedensbewegungen und ‑sondierungen stark einschränkte und auch nachher noch weitgehend aus den Kriegsdarstellungen ausblendete. Auf deutscher Seite verband sich damit die Assoziation eines Versagens der Behörden, diesen Tiger zu fesseln, und damit die Ansätze zu dem, was dann als Dolchstoßlegende von der Rechten gegen die Tatsache der deutschen Niederlage ins Feld geführt worden ist. Zweifellos bildete dafür den Schauplatz weniger das Ausland als das Inland; Ludendorffs Eingriffe in die Propaganda galten der Heimatfront und zielten gegen linke Sozialdemokraten und ‚Radikale‘ nicht weniger als gegen den Feind an der Front. Ebenso zweifellos schob man den neutralen Ländern von Anfang an eine schiedsrichterliche Rolle zu, in der sie Erfolge und Niederlagen im Umgang mit Propaganda für die Weltöffentlichkeit markierten. Im Schatten dieser mit Nachrichten, Fehlnachrichten, Gegennachrichten, Zeitungen, Flugblättern, Büchern, Broschüren, Gerüchten, Statistiken, Verlautbarungen und anderen Kommunikationsmethoden betriebenen Propagandaschlachten nahm sich der Einsatz eigentlich künstlerisch-ästhetischer Praktiken weniger dramatisch aus, besaß aber mit dem bürgerlichen Zielpublikum in den neutralen Ländern ein eigenes Gewicht, zumal er die dortige Presse oft ausführlich beschäftigte.113 Solange der verbale Krieg um Kultur als Propaganda Widerhall erfuhr, also bis etwa 1916, war bis auf Frankreich die Neigung gering, offizielle Vorstöße zugunsten des Einsatzes künstlerischer Aktionen und Veranstaltungen in anderen Ländern zu unternehmen.114 Die vom Auswärtigen Amt im Oktober 1914 in der Zentralstelle für Auslandsdienst installierte Koordination galt der Nachrichtenpolitik, das heißt einer Versorgung anderer Länder mit Nachrichten aus Deutschland sowie der Auswertung der fremden

112 Jacques Driencourt, La propagande, nouvelle force politique. Paris: Armand Colin, 1950. 113 In der ersten umfassenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen Propaganda bezog Harold D. Lasswell die künstlerisch-kulturelle Selbstdarstellung der beteiligten Länder mit ein (Propaganda Technique in the World War, London: Kegan Paul, 1927, Neuausgabe 1971). 114 Für Frankreich siehe das Bulletin der Alliance Française mit seiner kulturellen Berichterstattung während des Krieges.

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Nachrichtenquellen für die deutsche Seite.115 Wie wenig erfahren auch lernwillige Beamte sowie die zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter im Umgang mit anderen Ländern und Kulturen waren, machte sich in der zumeist geringen Durchschlagskraft dieses Informationsunternehmens bemerkbar. So wurde von neutraler Seite den Deutschen vorgeworfen, sie hätten propagandistisch nicht viel mehr zu bieten als wenig überzeugende, oft inaktuelle und schlecht übersetzte Rechtfertigungen der militärischen Operationen als Verteidigungskrieg. Da die Reichsregierung kein Programm ihrer Ziele bereitstellte, blieb den Bemühungen profilierter Organisatoren wie Matthias Erzberger und, vorübergehend in den USA, Bernhard Dernburg größerer Erfolg versagt, ganz zu schweigen vom Einsatz einzelner Botschaften beim Versuch, die öffentliche Meinung des jeweiligen Landes dem Reich gegenüber günstig zu stimmen.116 Die britische und französische Beherrschung des Weltnachrichtenverkehrs mit den Agenturen Reuter und Havas verschaffte diesen Ländern einen enormen Vorsprung auch bei den eigentlichen Propagandakampagnen.117 Während Paris 1916 und London 1917/18 die behördliche Zentralisierung durchsetzten, kam es im Reich 1916, als das Militär, in verschiedene Besetzungen fremder Länder verwickelt, diesen Bereich für sich fruchtbar zu machen suchte, zu einem Kompetenzkampf zwischen dem Auswärtigen Amt und der Obersten Heeresleitung. Als Ludendorff unter Hinweis auf die bedrohlich effektive Arbeit des britischen Propagandabeauftragten Lord Northcliffe eine Zentralbehörde – ein Propagandaministerium – vorschlug, wie es ähnlich auch in Österreich gefordert wurde,118 wandte sich das Auswärtige Amt dagegen, musste aber die Einrichtung der Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes hinnehmen, während die Zentralstelle ihre Arbeit als Teil der Nachrichtenabteilung fortsetzte. In dieser Zentralstelle kristallisierten sich schließlich Initiativen, die 1917 zu einer ersten ausdrücklich dem Einsatz von Kunstpropaganda, wie es damals 115 Kurt Koszyk, Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf: Droste, 1968, 239–249; Jür� gen Wilke, Deutsche Auslandspropaganda im Ersten Weltkrieg. Die Zentralstelle für Auslandsdienst, in: Pressepolitik und Propaganda. Historische Studien vom Vormärz bis zum Kalten Krieg, hg. von J. Wilke. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1997, 79–129. 116 Matthias Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg. Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1920, 1–21; David Welch, Germany, Propaganda and Total War, 1914–1918. The Sins of Omission. New Bruns� wick: Rutgers University Press, 2000. 117 P. D. Fischer, Der internationale Nachrichtenverkehr und der Krieg. Leipzig: Hirzel, 1915. 118 Walter Vogel, Die Organisation der amtlichen Presse- und Propagandapolitik des deutschen Reiches. Berlin: Duncker & Humblot, 1941, 53–55, 98–101; Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18, hg. von Erich Ludendorff. Berlin: Mittler, 1920, 280–289, darin auch die österreichische Initiative für eine zentrale „Propagandastelle“, 284 f. Umfassend über die österreichi� sche Kriegspropaganda Mark Cornwall, The Undermining of Austria-Hungary. The Battle for Hearts and Minds. London: Macmillan, 2000.

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hieß, gewidmeten Kulturpolitik in neutralen Ländern führten. Dass sich diese Initiativen mit denen der Habsburgermonarchie überkreuzten, dürfte keinen Zufall darstellen und verdankte sich wohl vor allem der Einsicht, dass es mit der Behauptung nicht getan sei, Kultur zu besitzen, man vielmehr der anderen Gesellschaft die lebendigen, wenn auch teuren Beweise dafür erbringen müsse. Süffisant wies der schweizerische Oberst Karl Egli, der für die Basler Nachrichten Militärkommentare schrieb, auf die überraschend generöse Entsendung erstklassiger Ausstellungen, Konzert- und Theaterensembles im „Wettbewerb um unsere Seelen“ hin: „Deutsche und französische Tonkünstler, Schauspieler und bildende Künstler kommen zu uns – und wir nehmen dankbar alles an und freuen uns dessen, was uns geboten wird – aber auf die politische Meinung wird das unmittelbar keinen großen Einfluß ausüben.“ Man halte an der Meinung fest, dass „die Deutschen nicht die Barbaren sind, als die man sie in welschen Landen verschreit“. Ansonsten könne als Erfolg dieser Anstrengungen gefolgert werden, „wenn den einer Sache vertrauenden Neutralen gezeigt wird, dass auch während des Kampfes um das Dasein des Staates doch auch noch das Schöne gepflegt wird. In dieser Hinsicht hat z. B. die Ausstellung des deutschen Werkbundes erfrischend gewirkt, und manche Dame, die bisher glaubte, ihre Toiletten nur aus Paris beziehen oder doch wenigstens nur nach Pariser Mustern arbeiten lassen zu können, besuchte die Wiener Modenschau nur darum, um nachher über den Ungeschmack der austro-boches spotten zu können – und war verblüfft über das, was sie gesehen hatte.“119 Aus den kulturpolitischen Aktivitäten des Auswärtigen Amtes ragen, soweit es eine gewisse Unabhängigkeit von dem von der Obersten Heeresleitung verwalteten Propagandaapparat bewahrte und die erforderlichen Geldmittel für Sonderaktionen besaß, am ehesten solche Veranstaltungen in neutralen Ländern heraus, bei denen klassische Musik sowie deutsche Gegenwartskunst, Architektur und Design zur Geltung kamen. Das waren Kunstausstellungen in Zürich und Basel, Werkbundausstellungen in Bern (1917) und Kopenhagen (1918), die viel Resonanz fanden, wogegen die Ausstellung expressionistischer Künstler 1918 weniger gut ankam. Mit der unbürokratischen Bestallung von Harry Graf Kessler an der deutschen Gesandtschaft in der Schweiz tat das Auswärtige Amt einen guten Griff. Kessler nutzte seine breit gefächerten Verbindungen zu Schriftstellern, Künstlern, Musik- und Theaterleuten für ein opulentes Kulturprogramm, das Zuschauern wie Karl Egli mehr als genug die 119 Karl Egli, Der Weltkrieg von außen gesehen, in: Kriegshefte der Süddeutschen Monatshefte (August 1917), 628–634, hier 632. Über die vom Werkbund geförderten Bemühungen, der französischen Vorherrschaft in der Mode Konkurrenz zu machen, siehe Norbert Stern, Die Weltpolitik der Welt� mode (Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften, H. 30/31). Stuttgart/Berlin: Deutsche VerlagsAnstalt, 1915.

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kulturelle Macht des Nachbarstaates bewies, etwas, das im Auswärtigen Amt auch zu dieser Zeit kaum Priorität besaß.120 Kessler selbst, zugleich mit Friedenssondierungen beauftragt, war sich dessen bewusst, dass es mehr darum ging, die „Leute während des Krieges bei Laune zu halten“, als darum, große Aktionen zu starten. Mit dem deutschen Gesandten in der Schweiz, KonradGisbert von Romberg, der ihn nach Bern geholt hatte, war er sich einig, dass Propaganda „immer nur eine Beihülfe sein [könne], die ohnehin vorhandene Stimmungen verstärke“.121 Gerade in dieser praktischen Gesinnung lagen die Erfolge begründet. Ähnliches geschah in Stockholm auf weitgehend privater Basis, wo der Generalvertreter der Kathreiner Malzkaffee GmbH für Skandinavien, Walther Bintz, mit der Unterstützung deutscher Exportfirmen und unter misstrauischer Aufsicht der Kaiserlichen Gesandtschaft 1917/18 eine Fülle von Theatergastspielen und Konzerten organisierte. Unter Künstlern waren solche Verpflichtungen in der Schweiz, in Schweden und den Niederlanden angesichts der Isolierung und miserablen Versorgung in Deutschland sehr begehrt; erwähnt seien Theatergastspiele des Deutschen Theaters unter Max Reinhardt und des Lessingtheaters unter Victor Barnowsky, Konzerte des Komponisten Richard Strauss mit einheimischen Orchestern und des Diri­ genten Arthur Nikisch mit den Berliner Philharmonikern, Gastspiele des Gewandhaus-Orchesters und des Berliner Domchors. Gegeneinladungen erfolgten an schweizerische und schwedische Ensembles. Das geschah in beständigem Konflikt mit Aktionen der Entente, insbesondere Frankreichs in Dänemark und Norwegen. Mehrere Male mussten deutsche Kulturveranstaltungen abgesetzt werden.122 In den Niederlanden setzte man sich angesichts der Ausrichtung der Gebildeten auf Frankreich, was die Malerei betraf, mit Konzert‑, Opern- und Theatergastspielen in Szene.123 Spanien, wo das Reich relativ viele Sympathiebekundungen in der Presse und an den Universitäten erfuhr, lag für derartige Unternehmungen zu ungünstig. Am ehesten war das Land für Film-

120 Peter Grupp, Voraussetzungen und Praxis deutscher amtlicher Kulturpropaganda in den neutralen Staaten während des Ersten Weltkrieges, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hg. von Wolfgang Michalka. München/Zürich: Piper, 1994, 799–824, bes. 807 f. 121 Harry Graf Kessler, Das Tagebuch, Bd. 6, 1916–1918, hg. von Günter Riederer. Stuttgart: Cotta, 2006, 322; Peter Grupp, Harry Graf Kessler als Diplomat, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 40 (1993), 61–78. 122 Grupp, Voraussetzungen und Praxis deutscher amtlicher Kulturpropaganda, 815 f. 123 Nicole P. Eversdijk, Kultur als politisches Werbemittel. Ein Beitrag zur deutschen kultur- und presse� politischen Arbeit in den Niederlanden während des Ersten Weltkrieges. Münster: Waxmann, 2010, 299–315.

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propaganda erreichbar, wenngleich die deutschen Filme mit denen der Alliierten an Attraktivität nicht mithalten konnten.124 Dass Ludendorff und seine Vertrauten bei der Bemühung, auch die Auslandspropaganda, um die sie sich bis 1916 nicht gekümmert hatten, dem Militär zu unterstellen, sehr schnell dem Film besondere Bedeutung zumaßen, hinterließ zunächst in der deutschen Filmgeschichte mehr Spuren als bei ausländischen Zuschauern. Die von ihm gegründete Universum Film-AktienGesellschaft (UfA) wurde dann jedoch nach der Niederlage und kulturellen Isolierung Deutschlands zu einem der wenigen Exporteure künstlerischer Erzeugnisse, mit denen man tatsächlich ausländisches Publikum erreichte. Offensichtlich wirkte in diesem Zweig der Popularkultur, die im Amt wenig geschätzt wurde, die nationale Ausrichtung auf mögliche Geldgeber höchst anziehend; in der Tat trat die UfA mit einer erstaunlich großen Anfangsfinanzierung ins Leben. Damit konnte sie sich gegenüber der von oben verordneten Propagandapolitik etwas freier bewegen und achtete in ihren Produktionen von Anfang an darauf, auch jenseits der Grenzen Absatz und Widerhall zu finden. Für die Intensivierung der Kulturarbeit in neutralen Ländern durch die Habsburgermonarchie zeichnete 1917 ein österreichisches Propagandakomitee für Edelarbeit und Kunst verantwortlich. Es organisierte „künstlerische Propaganda“ unter Verwendung von Kunst und Kunsthandwerk, „damit die von den Gegnern ausgestreuten Gerüchte über Österreich-Ungarns Erschöpfung an Menschen, Geld und Lebensmitteln am besten ad absurdum“ geführt würden.125 In verschiedenen Ländern fanden „Österreich-Wochen“ statt, auf deren Programm Kunstausstellungen in Amsterdam, Stockholm, Kopenhagen und Zürich, unter anderem mit Arbeiten der Wiener Werkstätten (allerdings auch mit den von der Armee verlangten unvermeidlichen Kriegsbildern), standen, ebenso Orchesterkonzerte klassischer Wiener Musik und Modevorführungen.126 Mit der Thronbesteigung Kaiser Karls ließ man bei der Propagierung solcher Veranstaltungen zunehmend eine gewisse Distanzierung vom deutschen Waffenbruder durchscheinen, wie die Handels- und Gewerbekammer 1917 deutlich machte: „Die Politik hätte dabei absolut nicht in den Vordergrund zu treten, sondern es würde sich nur darum handeln, Österreich als ein blühendes Land moderner Hochkultur, das auch im Kriege ausgezeichnete 124 Jens Albert, Worte wie Waffen. Die deutsche Propaganda in Spanien während des Ersten Weltkrieges. Essen: Klartext, 1996, 113–116. 125 Zit. nach Jeroen Bastiaan van Heerde, Staat und Kunst. Staatliche Kunstförderung 1895–1918. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau, 1993, 311. 126 Martina Nussbaumer, Musik im ‚Kulturkrieg‘. Politische Funktionalisierung von Musikkultur in Österreich 1914–1918, in: Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, hg. von Petra Ernst u. a. Wien: Passagen, 2004, 299–317.

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Friedensarbeit betreibt, darzustellen. Bei entsprechender Lösung dieser Aufgabe würden indirekt die notwendigen politischen Erfolge erzielt werden und gleichzeitig würden auch durch solche Vorführungen der Friedenssehnsucht in den neutralen und alliierten Gebieten Rechnung getragen, was im gegebenen wichtigen Zeitpunkte nicht zu unterschätzen ist.“127 Offizielle Instanzen, welche die kulturpolitischen Aktivitäten der beiden Mittelmächte koordinierten, scheinen nicht bestanden zu haben. Die hier angedeutete Konkurrenzsituation ist eher symptomatisch für ihr Verhältnis im kulturellen Bereich, besonders augenscheinlich in der Behandlung der polnischen Besatzungsgebiete, die ab 1915, wie noch zu zeigen sein wird, als Generalgouvernements von Warschau (Reich) beziehungsweise Lublin (Österreich) verwaltet und mit einer rivalisierenden Kulturpolitik bedacht wurden. Konkurrierende Kulturpolitik bestimmte auch den Umgang mit dem verbündeten Osmanischen Reich, das, der österreich-ungarischen Monarchie benachbart und dieser mit zahlreichen ethnischen, religiösen und kulturellen Querverbindungen viel vertrauter als dem Reich, von der Wiener Regierung als natürlicher Investitionsraum seiner politischen und wirtschaftlichen Ambitionen behandelt wurde. Bei der Ablösung des französischen Kultureinflusses auf die Bildungsschichten gewann Österreich-Ungarn mit Gastspielen und anderen Veranstaltungen sowie seiner Schulpolitik und einem bald funktionierenden Schüleraustausch ein besonderes Profil, während das Reich, als führender Berater im militärischen Bereich und mit dem Projekt der Bagdadbahn als imperiale Macht angesehen, bei der Sprach- und Schulpolitik, die die Modellschule Adana und ebenfalls einen Schüleraustausch einschloss, eher zurückhaltend agierte, wohl um seine ambitiösen Ziele zu verschleiern. Dass das Auswärtige Amt die dafür unter Ernst Jäckh federführende, 1914 gegründete DeutschTürkische Vereinigung mit einem kulturpolitischen, nicht aber einem wirtschaftspolitischen Mandat ausrüstete, verschaffte dieser Politik Resonanz unter Gebildeten, kostete aber die ungeteilte Unterstützung der deutschen Wirtschaft.128

127 Schreiben der Handels- und Gewerbekammer vom 22.1.1917, zit. nach van Heerde, Staat und Kunst, 311. 128 Jürgen Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“, Teil II, 595–657. Guido Müller spricht sogar von einem Scheitern der „deutschen Kulturmission“ im Osmanischen Reich: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908–1930. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1991, 217.

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Hässliche Deutsche, moderne Deutsche: Wertungen von außerhalb An prominenter Stelle, in der amerikanischen Zeitschrift Atlantic Monthly als renommierter Stimme der neutralen Länder platziert, veröffentlichte der holländische Publizist und Herausgeber der populären „Wereld-Bibliotheek“ in Amsterdam, Leo Simons, 1916 eine kritische Abrechnung mit der Kriegsführung auf beiden Seiten, insbesondere Großbritanniens und Deutschlands. Simons schob die Kriegsrhetorik beiseite und skizzierte die Optionen der Neutralen, je nachdem wer den Kampf gewinne. Er entschied: Keine der Optionen sei erfreulich für die Neutralen. Beide Seiten stünden sich, nach dem schockierend inhumanen Verhalten der deutschen Armee zu Beginn, an inhumanem Militarismus und Verachtung der Freiheit und Wahrheit nicht nach. Weder verspreche ein Sieg der Mittelmächte noch einer der Alliierten den kleineren Nachbarvölkern gute Zeiten. Simons’ Überlegungen zum möglichen Sieg der Alliierten nehmen in erstaunlicher Treffsicherheit die folgenschwere Politik des Versailler Vertrages mitsamt der Gewissheit eines von Deutschland eingeleiteten Revanchekrieges vorweg. Was Simons’ Abrechnung im Zusammenhang der Kulturpolitik besonders aufschlussreich macht, ist die darin enthaltene Gegenüberstellung der britischen „Culture“ mit der deutschen „Kultur“. Er äußerte seine Vorbehalte gegen die Militärpolitik des Reiches, schob aber die geläufigen Klischees über die deutsche Kultur beiseite und skizzierte die deutschen Anstrengungen um eine moderne, arbeits- und wissenschaftsorientierte Industriekultur als bedenkenswert. Ihr gegenüber signalisierte die britische Kultur mit ihrer Aversion gegen Modernisierung Stagnation, ja Dekadenz. England müsse diesen Spuren folgen; die Preußen seien agiler und in ihrer Haltung dem (ausländischen) Kunden gegenüber flexibler. Der holländische Publizist ließ selbst im Kriegsjahr 1916 erkennen, dass der französische Journalist Jules Huret zu Beginn des Jahrhunderts bei seinen Reisen durch Deutschland mit seinen Beobachtungen nicht unrecht gehabt hatte: dass das Land, überdeckt von der kaiserlichen Feudalkultur mit ihrem Befehlston, in seinem Bestreben nach Modernisierung der Lebens‑, Verhaltens- und Geschäftsformen durchaus vorankomme.129 Der neutrale Beobachter machte deutlich, dass sich in diesen Kriegsjahren auch andere Konfrontationen als die um Schützengräben und Festungen entschieden.

129 L. Simons, Neutral Europe and the War, in: Atlantic Monthly 118 (1916), 666–681; Jules Huret, In Deutschland, 4 Bde., insbes. Teil II. Leipzig/Berlin/Paris: Grethlein, 1908, 222–249, und Teil IV. München: Langen, 1910, 131–157.

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In den Vereinigten Staaten konzentrierte sich die Diskussion von Publizisten und Gelehrten demgegenüber darauf, wie aktiv man als bisher neutrale Macht in diesen Kampf, der auch einen um die Weltherrschaft darstellte, eingreifen solle. War das Land auch, wie Henry Louis Mencken mit Groll konstatierte, längst als „Kriegslieferant“ auf die britische Seite getreten, ging es Diskutanten wie John Dewey und den Intellektuellen im Umkreis von Präsident Woodrow Wilson um die Frage, inwiefern die Bedürfnisse nach Überwindung der internen Konflikte und Ausweitung weltpolitischer Einflussmöglichkeiten Amerikas Eintritt in den Krieg erstrebenswert machten.130 Ihre Entscheidung war schon gefallen, als der von Ludendorff durchgesetzte uneingeschränkte UBoot-Krieg Anfang 1917 Wilson in Zugzwang versetzte und die seit Langem vorgezeichnete Konfrontation mit der autoritären Militärmacht Deutsches Reich Wirklichkeit werden ließ. Dewey wurde von seinem Schüler, dem Publizisten Randolph Bourne, entgegengehalten, dass er mit der Ansicht, man könne den Krieg für die demokratischen Ziele unter Kontrolle halten, seinem bei Kriegsausbruch selbst gegebenen ethischen Demokratiekonzept widerspreche. Die Opfer des Krieges gegen Deutschland würden letztlich zur Machtausweitung des Staates und der Weltmachtposition gebracht.131 In keinem anderen Land wurden zu Beginn des 20. Jahrhundert die deutschen Beiträge zu einer wissenschaftlich basierten Modernisierung von Sozialund Wirtschaftspolitik derartig gründlich diskutiert wie in den USA, wo die Progressivisten ihre reformerische Agenda schmiedeten – allerdings ohne den Einbezug der ästhetischen Lebensreformen, die ein Sozialreformer wie Naumann so prominent förderte. Bezeichnend ist, dass die berühmt gewordene Analyse Thorstein Veblens, Imperial Germany and the Industrial Revolution, bei der Darstellung der erfolgreichen modernen Industrieorganisation den mit Preußen assoziierten Klischees über die dynastisch-feudale Herrschaftsform so viel Raum gewährte, dass es kaum auffiel, wie wenig Veblen mit den neueren Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft vertraut war. Seine gleichzeitige Beschäftigung mit dem imperialen System in Japan dürfte darauf abgefärbt haben.132 Veblens modellhafte Analyse, die Historiker später gern benutzten, 130 Henry Louis Mencken, Prejudices, third series. New York: Knopf, 1922, 45. 131 Dewey ist der indirekte Adressat von Randolph Bournes Aufsätzen „War and the Intellectuals“ (Juni 1917) und „The Collapse of American Strategy“ (August 1917), in: ders., War and the Intellectuals. Collected Essays, 1915–1919, hg. von Carl Resek. New York: Harper & Row, 1964, 3–14, 22–35. Über Deweys kurz darauf erfolgende Zurücknahme seiner Pro-Kriegseinstellung siehe Robert B. Westbrook, John Dewey and American Democracy. Ithaca: Cornell University Press, 1991, 196–212. 132 Thorstein Veblen, The Opportunity of Japan, in: ders., Essays in Our Changing Order, hg. von Leon Ardzrooni. New York: Viking, 1934, 248–266. Dazu Joseph Dorfman, Thorstein Veblen and His America. New York: Viking, 1934, 347–349. Zum Verhalten deutscher Unternehmer konstatiert Peter Hayes: „In sum, German businessmen as a class developed an increasing sense of pride in their

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machte den Kontrast zwischen Herrschenden und Beherrschten zum Kern einer Rückständigkeit, bei welcher das Argument vom Mangel an Demokratie alle Formen von Modernisierung, die nicht direkt auf die industrielle Organisation bezogen waren, außerhalb der Diskussion beließ. Bereits im Jahre der Veröffentlichung, 1915, hielt ihm Randolph Bourne entgegen, dass man offene Türen einrenne, wenn man deutschen Militarismus und deutsche Autokratie als Anachronismus darstelle. Dass die Deutschen demokratischen Geist und das angelsächsische Freiheitskonzept vermissen ließen, sei hinreichend bekannt. Längst gehe es darum zu erkennen, wie die Vermischung von ästhetischer und sozialer Kultur sowie militantem Ordnungsgeist zur Herstellung von Modernität verknüpft würden.133 Bourne, den seine Deutschlandreise kurz vor Kriegsbeginn mit vielen Eindrücken, aber auch strenger Kritik an diesem Land versorgt hatte, fasste in der wohl einsichtigsten Charakterisierung des deutschen Dranges nach Organisation und Modernität als Kultur seine Analyse in dem Aufsatz „A Glance at German ‘Kultur’“ zusammen, die er um Ermahnungen hinsichtlich der Unzulänglichkeiten im eigenen Land ergänzte. Deutschlands Modernität werde von drei Faktoren bestimmt: einem vorbildlich entwickelten Sozialgefühl, das sich auf die Allgemeinheit, nicht den Einzelnen beziehe; einem nüchternen Wissenschaftsgeist, mit dem das Regieren erleichtert werde; und einem Militarismus, den man nur verabscheuen könne. In dem kurz darauf in der New Republic erschienenen berühmt-berüchtigten Artikel „American Use For German Ideals“ setzte er mit der Feststellung ein: „Wir haben so viel von deutschem Industrialismus und Militarismus gehört, dass wir das Reservoir an geistiger Energie übersehen haben, mit dem Deutschland im 20. Jahrhundert geradezu platzt.“ Ohne auf die 1912/13 in verschiedenen amerikanischen Städten gezeigte Werkbundausstellung „German Applied Arts“ einzugehen, pries Bourne die neue Kunst, die „in öffentlichen Gebäuden und häuslicher Architektur mit sauberen, massiven und aufstrebenden Linien“ gezeigt werde, endlose Variationen dekorativer und grafischer Kunst, Druck und Haushaltdesign, ästhetische Stadtplanung, dazu eine Industriearchitektur, in der die Form aus der Funktion resultiere. Diese Kunst werde von der Welt abgetan, aber gerade in ihr zeige sich, dass „die deutschen Ideale sichere geistige Fruchtbarkeit besitzen“. Die Welt werde deutsche Organisation und deutschen Kollektivgeist adown achievements, and they supported the existing regime not out of deference, but out of common interests – interests in a unified, efficient administration and the suppression of social democracy.“ Peter Hayes, German Businessmen and the Crisis of the Empire, in: Imperial Germany. Essays, hg. von Volker Dürr, Kathy Harms und Peter Hayes. Madison: University of Wisconsin Press, 1985, 46–61, hier 51. 133 Randolph Bourne, A Glance at German ‘Kultur’, in: Lipincott’s Monthly Magazine, Februar 1915, 22–27.

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optieren müssen.134 Wenn Amerika mit diesen Idealen der Modernität mithalten wolle, müsse es sich anstrengen, um sie zu überbieten. Es müsse den demokratischen die ethischen und ästhetischen Faktoren hinzurechnen. Bourne verurteilte lautstark den deutschen Militarismus und verwies auf das Problem, dass die Deutschen ihre modernen Errungenschaften den anderen Völkern denkbar ungeschickt anböten. Es überrascht kaum, dass ihm dieser Artikel zu einer Zeit besonders viel Misstrauen eintrug, da die Versenkung der Lusitania in den USA die Gewissheit verstärkt hatte, dass die Kultur, deren sich die Deutschen (und Deutschamerikaner) brüsteten, letztlich Barbarei darstelle. In der Mischung von Abscheu und Bewunderung trafen sich neutrale Beobachter wie Simons und Bourne. Beide beförderten das Argument, dass gerade die bewunderte deutsche Ausrichtung an Organisation und Arbeitskultur den Widerwillen anderer erregte, eine Ansicht, die in Deutschland, wo man die Feindschaft der Briten gern auf den Wirtschaftsneid reduzierte, ihre eigene Anhängerschaft besaß. Ihr umsichtigster Sprecher war der Philosoph Max Scheler, der sich in der Schrift Die Ursachen des Deutschenhasses (1917) darum bemühte, der Ablehnung Deutschlands durch andere Völker Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allerdings schneiderte sich Scheler mit dem Begriff Hass für die verschiedenartigen Ablehnungen, deren Berechtigung er in den tatsächlichen Auswüchsen deutscher Arbeitshast, Unkultiviertheit, Herrschaftsattitüde nachwies, einen allzu engen Anzug, mit dem er, wie Graf Kessler ironisch bemerkte, „in einer schlafwandelnden Weise an Problemen herumtastet, aber manchmal ganz treffend beobachtet.“135 Das illustriert Schelers viel zitierte Formulierung von der „Vertreibung aus dem Paradiese“, mit der er den vermeintlich fremdverschuldeten Ausgang der Völker aus ihren gewohnten Traditionen in die Modernität auf den Begriff brachte. In dieser Vertreibung lokalisierte er den tieferen Vorwurf westlicher Gesellschaften gegen die Deutschen und ihre Arbeits- und Technikbesessenheit.136 In Deutschland verkörpere sich gleichsam die Kälte, Entindividualisierung, Arbeits- und Profitgier, die man mit der Moderne assoziierte, ein Vorwurf, der sich in Deutschland zunächst mit England, dann mit Amerika verband und der in fast allen Ländern, speziell in Russland, Deutschland, Frankreich und Amerika, häufig genug gegen die Juden gerichtet wurde. Max Webers Wendungen von der „Entzauberung der Welt“ 134 Ähnlich der Progressivist Frederic Howe in: Socialized Germany. New York: Scribner’s, 1915, und der Sozialist Max Eastman, Understanding Germany. The Only Way to End War and Other Essays. New York: Mitchell Kennerley, 1916. 135 Kessler, Das Tagebuch, Bd. 6, 347. 136 Scheler, Die Ursachen des Deutschenhasses. Leipzig: Der Neue Geist-Verlag, 1917, 55–102. Vgl. das Echo in Friederich Meineckes Rezension, Die Ursachen des Deutschenhasses, in: Neue Rundschau 29 (1918), 13–23.

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und vom „stahlharten Gehäuse“ der modernen bürokratischen Systeme erfassten die zugrunde liegende Erfahrung im übernationalen Kontext der Modernisierung; jedoch trugen sie in ihrer Unbedingtheit die Spuren deutscher Praktiken immer in sich und wurden auch so verstanden. Scheler, den Troeltsch den „katholischen Nietzsche“ nannte, mit einem vielfarbigen süddeutschen Erbe und großer Rednergabe ausgestattet, berührte sich in seiner Schrift mit einigen der schonungslosesten Bemerkungen von Max Weber über den neudeutschen Habitus, der die Verteidigung der Deutschen, soweit sie nicht das Militär betraf – da folgten beide der offiziellen Sprachregelung –, so schwierig machte. In Schelers Argumentation blieb die Tatsache, dass er 1917/18 im Auftrag des Auswärtigen Amtes in neutralen Ländern Vorträge hielt, nicht ohne Spuren; ihm lag daran, die Faktoren aufzuspüren, die zur Isolation und Selbstisolation des Deutschen Reiches geführt hatten. Er versäumte nicht, auf die internationale Arbeit des Werkbundes hinzuweisen, dessen Wirken er im Ausland begegnete. Doch merkte er im gleichen Atemzug an, dass der Werkbund, der bewiesen habe, dass der starke Formwille der Deutschen nur „niedergehalten“ werde, nicht zu seiner besonderen Bedeutung gekommen wäre, wenn es nicht Geschmacklosigkeit allerorten gegeben hätte und ästhetische Maßstäbe in Deutschland und bei deutschen Waren gefehlt hätten.137 Anders Max Weber, der zu dieser Zeit das deutsche Regierungssystem als das eines kommandierten Militärstaates im Lichte des englischen Parlamentarismus einer viel genaueren Kritik unterzog, dabei aber mit seinem militanten Nationalismus die Selbstisolierung nicht durchbrach, vielmehr eher befestigte. An Machthaltungen interessiert, biss er sich in seinem Festhalten am Primat der Außenpolitik an der Gleichung von Kultur-Prestige und Macht-Prestige fest und fand sich, obwohl er den Kulturkrieg der Intellektuellen als Schaumschlägerei verurteilte, letztlich doch in dessen Nähe wieder.138 Mit der Aussage: „Ein Volk von 70 Millionen zwischen solchen Welteroberungsmächten hatte die Pflicht, Machtstaat zu sein“, zimmerte er sich sein eigenes „stahlhartes Gehäuse“ zurecht, aus dem erst die folgende Aussage verständlich wird: „Die Ehre unseres Volkstums gebot es. Um Ehre, nicht um Änderungen der Landkarte und des Wirtschaftsprofits – das wollen wir nicht vergessen – geht der deutsche

137 Scheler, Die Ursachen des Deutschenhasses, 76. 138 S. Webers Notizen zu „Die Nation“: „Kultur-Prestige und Macht-Prestige sind eng verbündet. Jeder siegreiche Krieg fördert das Kultur-Prestige (Deutschland, Japan usw.) Ob er der ‚Kulturentwicklung‘ zu gute kommt, ist eine andre, nicht mehr ‚wertfrei‘ zu lösende Frage.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann. 2.  Halbbd. Tübingen: Mohr, 1956, 530.

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Krieg.“139 Den Gegendruck gegen einen solchen Prestigenationalismus erfuhr Weber bezeichnenderweise nicht vom Ausland her, vielmehr, besonders schockierend, von Vertretern der jüngeren Generation. Studenten und Autoren wie Ernst Toller sagten ihm auf den Lauenburger Tagungen, die Eugen Diederichs 1917 eigens zur Neuformulierung der Nationalkultur einberief, die Gefolgschaft auf, obwohl – oder gerade weil – sie von ihm eine befolgbare Zukunftsperspektive erhofft hatten. Sie wollten die zu schaffende Nation auf Emotion und Läuterung der Gesinnung, nicht auf nüchternem Machtkalkül aufbauen.140

Die preußische Denkschrift über Auslandsstudien Vom Versagen der deutschen Diplomatie war im Reichstag bereits vor dem Krieg die Rede. Karl Lamprechts Vorstoß zugunsten des Einbezugs auswärtiger Kulturpolitik in die Außenpolitik bildete einen Teil der umfassenderen Reformdiskussion. Angesichts der Machtlosigkeit des Parlaments, das Amt selbst zu reformieren, blieb auch die öffentliche Diskussion im Planungsstadium stecken. Besonderer Unwille richtete sich gegen die mangelnde Ausbildung der Diplomaten für die wachsenden Anforderungen, die der ausgedehnte Exporthandel des Reiches an die Auslandsvertretungen stellte. Zentral waren Vorschläge für eine Reform der diplomatischen und konsularischen Ausbildung mit dem Ziel, an die jeweilige Außenstelle eine bessere Kenntnis von Politik, Wirtschaft, Sprache und Kultur des Landes mitzubringen.141 Die Debatte konzentrierte sich auf die Frage, ob die Ausbildung besser an einer Stelle, etwa dem erweiterten Orientalischen Seminar in Berlin, oder an verschiedenen Hochschulen konzentriert werden solle. Nachdem sich der Krieg in der ungünstigsten diplomatischen Konstellation als Zweifrontenkrieg entwickelt hatte, richtete sich ein Großteil des Schuldvorwurfs gegen den diplomatischen Dienst und seine Versäumnisse. Die Forderungen nach Reform nahmen gewaltig zu. Aber nicht im Reichstag, sondern im preußischen Abgeordnetenhaus gewann eine Reforminitiative offizielle Gestalt. 139 Max Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1917), in: ders., Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918 (Gesamtausgabe Bd. 15), hg. von Wolfgang J. Mommsen und Gangolf Hübinger. Tübingen: Mohr, 1984, 161–194, hier 192. 140 Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918. Frankfurt/Berlin: Ullstein/Propyläen, 1994, 163–167. 141 Zur Diskussion vor Kriegsausbruch s. Anton Palme, Die deutsche Auslandshochschule und das na� tionenwissenschaftliche Studium des Auslandes; Paul Eltzbacher, Die deutsche Auslandshochschule. Ein Organisationsplan. Berlin: Reimer, 1914; Karl Helfferich, Hochschulbildung und Auslandsinter� essen, in: Die Grenzboten 73:2 (1914), 193–201 (dieser Aufsatz wurde 1917 wieder abgedruckt).

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Von Ministerialdirektor Friedrich Schmidt-Ott in Auftrag gegeben und von Carl Heinrich Becker erarbeitet, verfolgte die im Winter 1916 von Kulturminister August von Trott zu Solz im preußischen Abgeordnetenhaus vorgetragene „Denkschrift des preußischen Kultusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien“ vor allem das Ziel, die Ignoranz der Deutschen dem Ausland gegenüber, die ihnen in diesem Krieg stark geschadet habe, mithilfe wissenschaftlich ausgerichteter Auslandsstudien zu überwinden und damit das Universitätsstudium generell zu reformieren. Zugleich nahm die Denkschrift die Versäumnisse des Auswärtigen Amtes in der Ausbildung seiner Beamten ins Visier. Die Forderungen richteten sich einerseits darauf, das Orientalische Seminar in Berlin ähnlich wie das Kolonialinstitut in Hamburg für die professionelle Ausbildung auszubauen, und zielten andererseits darauf ab, das preußische (und deutsche) Universitätssystem in der Breite für Auslandsstudien zu öffnen. „Die Erziehung zum Weltvolk“, hieß es in der Denkschrift, „erfolgt nicht durch Konsuln und Diplomaten, sondern durch eine den neuen Tatsachen unserer Weltstellung gerecht werdende Erweiterung unserer Bildungsinhalte.“142 Im preußischen Abgeordnetenhaus wurde somit unverblümt über das Versagen des auswärtigen Dienstes im Umgang mit anderen Ländern gesprochen. Selbst die kulturelle Mobilisierung der Deutschen in der ersten Kriegsphase kam unsanft zur Sprache, wurde nicht als nationales Erweckungserlebnis glorifiziert, sondern als fehlgegangen verurteilt, um als Begründung für den Erwerb besserer Kenntnisse über das Ausland zu dienen. Der Sozialdemokrat Konrad Haenisch, der später zum ersten Kultusminister des republikanischen Preußen aufstieg, spitzte das im März 1917 in den Worten zu: „Meine Herren, dieses Fiasko der weltpolitischen Mobilmachung in den ersten Kriegsmonaten hat – wenn ich den Sinn der Denkschrift recht verstanden habe – den Herrn Kultusminister nicht zum wenigsten veranlaßt, der Frage der Auslandsstudien, die ja schon vor dem Kriege hier erörtert worden ist, nun auch wirklich ernsthaft nahezutreten und sie endlich in Fluß zu bringen […].“143 Carl Heinrich Becker, ein bedeutender Orientalist und Reformer seines Faches vor 1914, bekam dann in Haenischs Ministerium sowie später als Kultusminister die Chance, seine Vorstellungen umzusetzen; vorangegangen war im April 1916 der Pädagoge Eduard Spranger mit der „Denkschrift über die Einrichtung der Auslandsstudien an den deutschen Universitäten“, in der er die Voraussetzungen gegensei142 Die Denkschrift des preußischen Kultusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 11 (H. 5, 1.2.1917), Sp. 513– 532, hier 520. 143 Die Auslandsstudien im preußischen Landtag, in: ebd., 11 (H.  8, 1.5.1917), Sp.  899; siehe auch ebd., 11 (H. 7, 1.4.1917) Sp. 769–820.

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tigen Verstehens im Sinne der neuen geisteswissenschaftlichen Strömung darlegte („eine Erziehung des Volkes zum Verkehr mit anderen Völkern“).144 Die Absicht, auswärtiger Kulturpolitik über ein pädagogisches Reformprogramm eine neue Fundierung zu verschaffen, die in besseren Auslandskenntnissen sowohl der Diplomaten als auch der Bevölkerung resultierte, stellt gewiss eine unerwartete Wendung auf ihrem schlingernden Kurs durch die wilhelminische Epoche dar. Offensichtlich hatte die Frustration über die Ignoranz dem Ausland gegenüber, vor allem aber über die bornierten Kampagnen gegen „Ausländerei“, die lange vor dem Krieg eingesetzt hatten, einen Höhepunkt erreicht.145 Die Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus entwickelte Impulse zu institutioneller Unterstützung auswärtiger Kulturpolitik, bei der die Ressourcen der deutschen Universitäten zur Verwendung kommen sollten, auch wenn den Professoren Weltferne vorgeworfen wurde.146 Damit öffnete man das Terrain für eine akademische Erarbeitung des Auslandswissens, das sich mit seiner Verteilung auf ausgewählte Universitäten in der Zwischenkriegszeit als eine Modernisierung verstehen lässt, die dem internationalen Trend zum Expertentum im politischen Bereich entsprach. Neben den Hinweisen auf das erfolgreiche Wirken des Amerika-Instituts und des Orientalischen Seminars in Berlin, des Kolonialinstituts in Hamburg und des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel berief man sich auch auf das Potenzial der Universitäten Königsberg, Breslau, Leipzig und München. Angesichts der materiellen Not und der wachsenden innenpolitischen Unruhe fehlte dem Programm allerdings die Durchsetzungskraft, und es lieferte nur im Bereich der Diplomatenausbildung Impulse zu der 1918/20 tatsächlich vorgenommenen Reform des Auswärtigen Amtes. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Aufmerksamkeit für andere Länder und Sprachen während des Krieges zur Reflexion eigener Versäumnisse führte. Als in den zwanziger Jahren tatsächlich Gelder eingeworben und entsprechende Institute gegründet wurden, berief man sich zur Recht-

144 Eduard Spranger, Denkschrift über die Errichtung der Auslandsstudien an den deutschen Universi� täten, in: ebd., 11 (H. 9, 1.6.1917), Sp. 1025–1064. 145 Ludwig Fuldas Broschüre Deutsche Kultur und Ausländerei (Leipzig: Hirzel, 1916) legt von dieser Borniertheit Zeugnis ab. 146 Über Innovationswert und Reichweite der Denkschrift s. Hugo Grothe, Neue Bildungsideale des deutschen Volkes, in: Deutsche Kultur in der Welt 2 (H. 4, 1916/17), 197–199; Paul von Salvisberg, Deutsche Kulturarbeit im Ausland, in: Hochschul-Nachrichten 26 (H. 301, 1915/16), 279–286; E. Schott, Auslandsstudium und Auslandsdeutschtum im erneuerten Deutschland, in: Deutschlands Erneuerung 2 (1918), 846–854. Zusammenfassend: Müller, Weltpolitische Bildung und akademische Reform, 153–181.

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fertigung immer wieder darauf, dass die Deutschen nicht zuletzt deshalb den Krieg verloren hätten, weil sie so wenig vom Ausland wussten.147

Sympathisanten: Die Juden im Ersten Weltkrieg Der Blick auf die neutralen Länder lässt erkennen, in welch starkem Maße kulturelle Austauschprozesse neben dem Kulturkrieg der Kriegsgegner weiterliefen. Zweifellos veränderten sich ihre Strukturen, teilweise auch ihre Märkte. Was blieb, waren, zumindest in den ersten Kriegsjahren, ihre Trägerschichten. Sie rekrutierten sich aus den europäischen Eliten, deren enge Vernetzung über die Grenzen hinweg mit den Feldzügen von 1914/15 nicht einfach abbrach. Obgleich nur in einigen Segmenten zu diesen Eliten gehörend, bildeten Juden die für Deutschland und Österreich wichtigste Vernetzung über die Grenzen hinweg, sieht man von den ebenfalls nicht voll integrierten, vom nationalen Kriegseinsatz allerdings ebenfalls absorbierten Sozialdemokraten ab.148 In ihren jeweiligen nationalen Loyalitäten mehr oder weniger akkulturiert (und dem Kriegsdienst verpflichtet), waren die Juden von der Tatsache sensibilisiert worden, dass die Mittelmächte den ihnen am wenigsten gewogenen Staat, das Russische Reich, bekämpften. Die Entscheidung westlicher Demokratien, die mit ihren Bürgerrechten den Juden an sich attraktiv erschienen, sich mit der zaristischen Gewaltherrschaft gegen die Deutschen und Österreicher zu verbünden, verstärkte die jüdischen Sympathien für die Mittelmächte, mit deren Kultur, oft auch Sprache sie in ihrer langen Geschichte verbunden waren. Obwohl die Zionisten ihre Exekutive in Berlin hatten, widerstanden sie den halbherzigen Bemühungen des Auswärtigen Amtes, sich offiziell für die Seite der Mittelmächte zu erklären. Die Erhaltung ihrer Neutralität war ihr zentrales Anliegen in diesem Konflikt, der sie in zunehmende innere Kämpfe angesichts der Werbungen der beiden Kriegsparteien verstrickte. Andererseits suchten sie diese Werbungen auch, denn sie sahen eine Chance, ihrem Ziel näherzukommen, für ihr Volk eine Heimstatt in Palästina sicherzustellen. In seinen Memoiren wies der britische Premierminister David Lloyd George darauf hin, wie stark die Verkündigung der Balfour Declaration, die den Juden im November 147 Bezeichnenderweise wurde die Festschrift zu Beckers 50.  Geburtstag 1926 diesem Gedanken ge� widmet. Sie stellte die von ihm an verschiedenen preußischen Universitäten unterstützten Schwer� punktinstitute für Auslandsstudien vor: Weltpolitische Bildungsarbeit an Preußischen Hochschulen. Berlin: Hobbing, 1926. 148 Boris Barth, Weder Bürgertum noch Adel – Zwischen Nationalstaat und kosmopolitischem Ge� schäft. Zur Gesellschaftsgeschichte der deutsch-jüdischen Hochfinanz vor dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 94–122.

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1917 diese Heimstatt versprach, propagandistisch darauf angelegt war, die jüdischen Sympathien für die Mittelmächte zu schwächen: „Die Feststellung erscheint seltsam, dass die Deutschen die Ersten waren, die den Wert der Juden der Diaspora erkannten. In Polen waren sie es, die der deutschen Armee halfen, die zaristischen Unterdrücker zu bezwingen, die ihre Rasse so grausam verfolgt hatten. Sie besaßen Einfluss in anderen Ländern – bezeichnenderweise in Amerika, wo einige ihrer mächtigsten Führer einen bremsenden Einfluss auf Präsident Wilsons Impulse in Richtung auf die Alliierten ausübten. Der deutsche Generalstab drängte 1916 die Türken, den Forderungen der Zionisten im Hinblick auf Palästina nachzugeben. Glücklicherweise waren die Türken zu beschränkt oder zu lahm für eine Entscheidung.“149 Dass Großbritannien schließlich aufwachte und die Zionisten auf die Seite der Alliierten zog, sei dem großartigen Wirken des in England residierenden Zionistenführers Chaim Weizmann zu verdanken. Er, Lloyd George, habe Weizmann mit Außenminister Arthur James Balfour bekannt gemacht, der im September 1917 das Kriegskabinett zu überzeugen vermochte. Lloyd George insistierte darauf, dass die Verkündung zu einem Zeitpunkt, da die Kriegslage für die Alliierten sehr bedenklich war, das rein propagandistische Ziel hatte, die russischen und amerikanischen Juden auf ihre Seite zu ziehen. Die Deutschen hätten ihre Chancen erkannt, aber zu lange gezögert.150 Trotz der Tatsache, dass die Wirksamkeit von Propaganda für den Ausgang des Ersten Weltkrieges besonders im Nachhinein – und besonders auf der Verliererseite – im Allgemeinen überschätzt worden ist, kommt Lloyd Georges Erfolgsmeldung ein gewisser Wahrheitswert zu. Es gab wohl nur wenige Großunternehmungen der kriegführenden Mächte im Kampf um die diversen Öffentlichkeiten, denen man breiteren Erfolg und nicht nur taktische Stimmungsmache bescheinigen kann. Dazu gehören die antideutsche Propaganda der ersten Kriegsmonate und die amerikanische Mobilisierung gegen die Deutschamerikaner zum Kriegseintritt gegen Deutschland und Österreich, die Kampagne der Österreicher vor der siegreichen Schlacht von Caporetto gegen die Italiener und die alliierte Propaganda zur Auflösung der Habsburgermonarchie in der Endphase des Krieges. Dazu zählt die deutsche und österreichische Propaganda gegen das zaristische Regime im östlichen Europa, insbeson149 David Lloyd George, Memoirs of the Peace Conference, Bd. 2. New York: Howard Fertig, 1972, 722. 150 Ebd., 722–726. Über die innerbritische Reaktion auf die Balfour Declaration siehe Jonathan Schneer, The Balfour Declaration. The Origins of the Arab-Israeli Conflict. New York: Random House, 2010, 165–207; C. J. Lowe und M. L. Dockrill, The Mirage of Power, Bd. 2: British Foreign Policy 1814– 1922. London/Boston: Routledge & Kegan Paul, 1972, 231: „British support of Zionism was for export.“ ������������������������������������������������������������������������������������� Zur deutschen Situation: Isaiah Friedman, Germany, Turkey, and Zionism 1897–1918. Ox� ford: Clarendon, 1971.

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dere nach der erfolgreichen Niederschlagung des russischen Angriffs 1915. Und dazu gehört eben auch die alliierte Propaganda, die sich der Aufgabe widmete, die einflussreichen jüdischen Minderheiten in Russland und Amerika auf ihre Seite zu ziehen, eine Aufgabe, die ab 1916, als das deutsche Armeekommando eine antisemitisch motivierte „Judenzählung“ im Heer durchführen ließ, von deutscher Seite ungewollte Förderung erhielt. Mit der Balfour Declaration markierte die alliierte Seite sichtbar ihre Unterstützung des Zionismus, die, auch wenn sich die große Mehrzahl der Juden keineswegs mit dem Zionismus identifizierte, die Sympathiewerte für die Mittelmächte senkte, vor allem nachdem das zaristische Regime von den Revolutionen 1917 beseitigt worden war. Viele europäische Juden verstanden als Zielgruppe für das Versprechen einer Heimstatt in Palästina ohnehin nur die Ostjuden.151 Den beiden deutschsprachigen Mächten ging dabei, langfristig gesehen, ihre Dominanz bei der Formung jüdischer Identitäten verloren, sowohl in den Mustern kultureller und nationaler Teilhabe als auch bei der historischen Neubestimmung einer eigenen jüdischen Nationalität, und kurzfristig gesehen – von den Umwälzungen des Krieges ermöglicht und begrenzt – ihre Chance, das kulturelle und wirtschaftliche Potenzial der Ostjuden auf ihre Seite zu ziehen. In beiden Prozessen äußerte sich eine Vielzahl von Faktoren, keineswegs nur die Unschlüssigkeit und Engstirnigkeit der politischen und militärischen Akteure, vielmehr auch Entscheidungen unterer Dienststellen, Traditionen und Gewohnheiten der Betroffenen sowie Auseinandersetzungen und Annäherungen zwischen West- und Ostjuden aufgrund der Kriegsverhältnisse. Besonderes Gewicht kam den Einstellungen der nicht jüdischen Deutschen und Österreicher gegenüber den Juden in ihren vielen politischen und kulturellen Abstufungen zu. Zunächst schien der Krieg für die Integration der Juden in den deutschsprachigen Reichen einen Durchbruch gebracht zu haben. Je länger er jedoch an der Integrationswilligkeit aller Beteiligten zehrte, umso mehr führte er zu gegenseitiger Entfremdung, Polemik, Beschuldigung und Gehässigkeit. Als sich die Erfolgsaussichten der Mittelmächte verdüsterten, wuchs die Bereitschaft, den Juden Internationalismus und „Flaumacherei“ vorzuwerfen und sie zusammen mit den Sozialdemokraten als Schuldige anzugreifen. Mit der „Judenzählung“ 1916 konnte sich der in der ersten Kriegsphase von der Militärzensur unterdrückte Antisemitismus wieder im öffentlichen Diskurs breitmachen. Die Tatsache, dass deutsche Juden mit über 12.000 Gefallenen einen, gemessen an der Bevölkerungszahl, überdurchschnittlich hohen Blutzoll entrichteten, wurde übergangen. 151 Über die zurückhaltende Aufnahme der Balfour Declaration unter deutschen Juden siehe Sieg, Jüdi� sche Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, 75 f.

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Diese Abwendung unterminierte die von deutschen Wirtschaftseliten, insbesondere den Juden, zum Ausland unterhaltenen Beziehungen, die den deutschen Interessen außerhalb der Kampfzonen zugutekommen sollten. Daran ließen vor allem amerikanische Juden kaum Zweifel. Von ihnen hatte sich ein beträchtlicher Teil gegen die antideutsche Welle gestellt und, wie Lloyd George anmerkte, für die Beibehaltung der amerikanischen Neutralität eingesetzt. Dieses Engagement wurde zunehmend von Konzessionen seitens der deutschen Regierung abhängig gemacht, Juden den Zugang zu den bisher versperrten Regierungs‑, Beamten- und Professorenstellen zu öffnen sowie den Ostjuden volle politische und wirtschaftliche Freiheiten zu gewähren. Die Konzessionen wurden dann weder von der deutschen Militärverwaltung in Ober Ost noch vom neu geschaffenen polnischen Staat voll eingehalten. Dazu traten andere innerdeutsche Faktoren, die der wohl bedeutendste deutschjüdische Vermittler mit dem neutralen Ausland, Max Warburg, exemplarisch zu spüren bekam. Warburg leitete das Hamburger Bankhauses Max M. Warburg & Co; seine Brüder Felix und Paul Warburg hatten im New Yorker Bankhaus Kuhn, Loeb & Co, der neben J. P. Morgan größten amerikanischen Privatbank, leitende Stellungen inne.152 Max Warburg begegnete den größten Hindernissen für mögliche Vermittlungsaktionen auf deutscher Regierungsseite sowie bei Admiral- und Generalstäben. Sein wirtschafts- und finanzpolitisches Denken, das ihn im internationalen Geschäftsleben zu einem der großen Akteure machte, differierte grundsätzlich vom Denken der Land- und Seemilitärs, die „alle ökonomische Rücksicht als niederes Interesse“ bezeichneten. Als Warburg sie 1916/17 über die enormen finanziellen Verschuldungen Großbritanniens und Frankreichs bei den USA in Kenntnis setzte, waren sie unfähig, diese gravierende Schwächung in das Kalkül möglicher Verständigungen einzubeziehen.153 Dass die Reichsleitung die Juden diesseits der Grenzen im ersten Kriegsrausch ähnlich den Sozialdemokraten zunächst zur Volksgemeinschaft rechnete und dass die Heeresleitung den Ostjuden und ihrer jiddischen Sprache mit den Kämpfen gegen die zaristischen Armeen offizielle Aufmerksamkeit widmete, war eine Sache; dass das Auswärtige Amt für die Beeinflussung öffentlicher, zumal jüdischer Meinung im Ausland neue Strategien brauchte, eine andere. Gegen die deutschen Diplomaten gewendet, schrieb Paul Rohrbach 1916, vom 152 Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1969, 471. 153 Alfred Vagts, M. M. Warburg & Co. Ein Bankhaus in der deutschen Weltpolitik 1905–1933, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 45 (1958), 289–388, hier 361; Niall Fer� guson, Max Warburg and German Politics. The Limits of Financial Power in Wilhelmine Germany, in: Wilhelminism and Its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meaning of Reform, 1890–1930, hg. von Geoff Eley und James Retallack. New York: Berghahn, 2003, 185–201.

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letzten kaiserlichen Reichskanzler Max von Baden überliefert: „Die Herren wissen nicht, dass von der ‚Moral‘ der Völker der Ausgang des Krieges abhängt. Es fehlt das Feingefühl für die öffentlichen Strömungen“ sowie „die Phantasie, d. h., die Fähigkeit, das nicht Sichtbare oder gar das Zukünftige als eine lebendige Wirklichkeit vor Augen zu stellen.“154 Ihre Selbstisolierung verstanden die Diplomaten nur allzu leicht als eine Funktion der vielzitierten Einkreisung des Reiches, was zu einer Unterschätzung ihrer Wirkungsmöglichkeiten führte; ließen sie sich aber auf den Internationalismus ein, den der ehemalige Reichskanzler von Bülow schon vor dem Kriege, wie zitiert, als „Herrschaft der Phrase und der Schlagworte“ denunziert hatte, geschah das nur halbherzig gegen die Anwürfe seitens der Alldeutschen, jüdischen Interessen in die Hände zu arbeiten. So kam es, dass von den deutschfreundlichen Sympathien, die Lloyd George in anderen Ländern benannte, nur diejenigen der osteuropäischen Juden eine Zeit lang den deutschen Interessen direkt zugutekamen. Das wiederum resultierte aus gewissen kulturellen und sprachlichen Bindungen, die von deutschen Juden selbst nur distanziert wahrgenommen wurden, in erster Linie aber aus dem Hass der Ostjuden auf den Zarismus und die brutalen Verfolgungen und Deportationen, die sie beim Vormarsch der russischen Truppen in den Grenzregionen erlitten.155 Ohnehin lässt sich all das, was im Krieg mit dem Begriff des Internationalismus benannt wurde, nur durch die Tatsache verknüpfen, dass es zumeist als verdächtig, ja in der Assoziation mit Juden und Sozialisten als Verrat, Bedrohung, im besten Falle als undeutsch galt. Diese Ausgrenzung machte vor den Direktiven der Regierung nicht halt, unter prominenten Wirtschaftsführern zahlreiche Juden zu berufen, die wie Walter Rathenau mit der Rohstoffversorgung und Albert Ballin mit der Lebensmittelversorgung entscheidend zur Schaffung einer funktionsfähigen Kriegswirtschaft beitrugen. Die Alldeutschen warfen der Regierung vor, sich bei einem „internationalen vaterlandslosen Händlertum“ Rat für ihre wirtschaftlichen Maßnahmen zu holen.156 Dieser Form der Denunzierung der Juden stellte sich der Antisemitismus gegen die Ostjuden zur Seite, wobei die Regierung, insbesondere die Armeeführung, für ihre Zusammenarbeit mit den jüdischen Minderheiten in den ehemaligen zaristischen Gebieten kritisiert wurde. An all dem waren viele Entscheidungsträger beteiligt, die eine konstruktive Politik auf den Weg zu bringen suchten. Dass sie sich letztlich nicht durchsetzen konnten, hatte seine Wurzeln im Ver154 Zit. nach Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 445. 155 Frank M. Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919). Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2004, 164–234. 156 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 522.

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fehlen einer genuinen Kooperationsmentalität im Verhältnis zum Judentum. Der fehlende (oder verloren gegangene) Sinn für Internationalität als Denkform hatte zur Folge, dass man unterschätzte, wie bedeutsam die Behandlung der Ostjuden für jene von Rohrbach genannten „internationalen Strömungen“ war. Mit dieser Behandlung stand nicht nur die Verschiebung des Machtgewichts zwischen Russland und den Mittelmächten zur Debatte, wie die Diplomaten und Militärs argumentierten, sondern auch jene weltweite, von Zionisten und anderen jüdischen Organisationen mit Mühe aufrechterhaltene Neutralität. Das Interesse, das Außenstehende der Behandlung der Ostjuden seitens der Deutschen und Österreicher sowie der Juden in Palästina seitens der Türken entgegenbrachten, galt in einem von Deutschen nicht erfassten Maße auch der Frage, ob sich diese Neutralität zwischen Entente und Mittelmächten erhalten lasse. An zentraler Stelle, in der von Martin Buber seit 1916 herausgegebenen Zeitschrift eines engagierten, zionistisch gewendeten Judentums, Der Jude, erhielt diese Frage Anfang 1918 eine wenig verheißungsvolle Antwort. Der mit Amitai unterzeichnete Beitrag erörterte die Situation nach der Balfour Declaration im Zusammenhang mit der Behandlung der Juden seitens der deutschen Regierung: „Eine klare Erfassung der Bedürfnisse und Ansprüche des Ostjudentums, ein wirkliches Verständnis für seine Lebensnotwendigkeiten und eine aufrichtige und klare Politik, die die Daseinsrechte des Ostjudentums sichern wollte, müßte Deutschland zu der eigentlichen Vormacht in allen jüdischen Fragen machen; und es ist, vom Jüdischen eigentlich schon ganz abgesehen, rein sachlich gewertet, ein kaum erträglicher Anblick, zu sehen, wie die deutschen Staatsmänner diese ganz außergewöhnliche politische Konstellation, die ihnen gestattet, in jüdischen Fragen einen entschiedenen Einfluß auszuüben und sich in der Seele des jüdischen Volkes dauernd zu verwurzeln, nicht nur ungenutzt lassen, sondern sie zu einer Ursache vielfacher Mißstimmungen und Gegnerschaft werden lassen. Und all dies infolge des Mangels einer wirklichen Einsicht in das innere Wesen der jüdischen Fragen im Kriege.“157 Als Beispiel für diese unaufrichtige Politik wies Amitai auf die vom Unterstaatssekretär für Litauen und die baltischen Provinzen, Ludwig von Falkenhausen, abgegebene Erklärung hin, die „in klaren Worten den litauischen Juden die kulturelle Autonomie“ versprach: „In der Tat hat die gesamte jüdische Öffentlichkeit mit froher Genugtuung und gespanntem Aufhorchen auf die Erklärung reagiert“. Wenige Tage später habe aber der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes bei der Antwort auf eine Eingabe jüdischer Organisationen die Kulturautonomie nicht mehr erwähnt und die jüdische Nationalität als eine Sache der Bevölke157 Amitai, Chronik, in: Der Jude 3 (1918/19), 197–202, hier 201.

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rung ausgegeben. „Was Wunder, wenn dieser Satz die Wirkung der vorangegangenen Erklärung schwächt, beinahe aufhebt und die jüdische Öffentlichkeit wiederum nicht weiß, woran sie mit Deutschland ist.“158 Die kulturelle Autonomie der Juden war in den von den Mittelmächten besetzten Gebieten zunächst gefördert worden, weil man sich davon eine Brückenfunktion der Ostjuden für die deutsche Sprache und Kultur versprach. Während es im Generalgouvernement Warschau nicht gelang, Jiddisch als Verkehrssprache anzuerkennen, geschah dies in dem unter Ludendorff stehenden Besatzungsgebiet Ober Ost, das das Baltikum einschloss. Ludendorff selbst, der nach dem Krieg schlimmsten Judenhass verbreitete, sorgte in dieser Phase für eine sachliche Zusammenarbeit zwischen der deutschen Militärverwaltung und den Juden. Der von ihm im Sommer 1917 eingesetzte Leiter des Referats für Jüdische Angelegenheiten in Ober Ost, der Künstler und Zionist Hermann Struck, erwarb sich auf allen Seiten größtes Vertrauen. Arnold Zweig, dessen autobiografisch fundierte Darstellung der Ostjuden Struck illustrierte, setzte ihm in dem Roman Einsetzung eines Königs als Leutnant Perl ein literarisches Denkmal. An dieser Figur zeigte Zweig, wie eine umsichtige Politik des kulturellen Brückenschlags aussehen könnte: „Das war der Regent der Judenschaft des besetzten Gebiets, geboren zu Berlin in wohlhabender Kaufmannsfamilie und bestallt von Ober Ost, um die jüdischen Massen den deutschen Bedürfnissen anzugleichen. Er erfüllte seine Pflicht, indem er Härten milderte, Unmögliches verhinderte, die Rechtlosigkeit seiner Glaubensgenossen allmählich durch Gesetze und Vorschriften in eine gewisse Ordnung verwandelte.“159 Allerdings ließ Zweig keinen Zweifel daran, wie stark auch eine solche Arbeit angefeindet wurde. Die Militärverwaltung war voll nur an der wirtschaftlichen Ausnutzung der Gebiete, nicht an einer Verselbstständigung jüdischer Kultur interessiert. Falkenhausens Vorstoß wurde wieder zurückgenommen. Zugleich lag der jüdischen Seite viel daran, in ihrer kulturellen Brückenfunktion wahrgenommen zu werden. Max Bodenheimer, der langjährige Vorsitzende der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, initiierte bereits im August 1914 ein „Deutsches Komitee zur Befreiung der russischen Juden“. Auf deutsche Ambitionen ausgerichtet, schrieb sein Mitarbeiter Adolf Friedemann in den konservativen Süddeutschen Monatsheften, die sechs Millionen Juden im russischen Zarenreich „können der deutschen Vormachtstellung im Osten Pio158 Ebd., 200. 159 Arnold Zweig, Einsetzung eines Königs. Berlin: Aufbau, 1962, 108. Siehe auch Karol Sauerland, Preußen, das Ostjudentum und die Literatur, in: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Lite� raturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, hg. von Horst Turk. Göttingen: Wall� stein, 1998, 239–260.

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niere sein, deutsche Kulturwerte in die Ferne tragen und dem deutschen Handel unschätzbare Dienste leisten.“160 Davis Trietsch, Mitbegründer der für die Aufklärung über die Ostjuden lange wichtigsten Zeitschrift Ost und West, widmete dem Gedanken der „Sprach- und Interessengemeinschaft“ von Juden und Deutschen eine mit Zahlenmaterial untermauerte Darstellung. In Juden und Deutsche wies Trietsch auf die enorme Bedeutung der Juden für die Präsenz und Vitalität der deutschen Sprache in aller Welt hin, die angesichts der zumeist antideutschen Haltung zahlreicher Länder bei der Behandlung der „Judenfrage“ diesseits und jenseits der Grenzen zu Buche schlagen sollte. Jedoch böten die Deutschen den Juden für „ihre hohen Leistungen im In- und Ausland“ kein „Äquivalent“. Trietsch mahnte: „Soll die Deutschsprachigkeit der Juden ein wichtiger Faktor deutscher Auslandsbestrebungen bleiben, und als solcher an Bedeutung wachsen, so muß Deutschland sich bemühen, in der jüdischen Welt ‚moralische Eroberungen‘ zu machen.“161 Trietschs allzu glatter Einbezug des Jiddischen in die statistische Auflistung des Deutschen – er zählte über 12  Millionen ‚deutsch‘ sprechende Juden – entsprang zweifellos dem Bestreben des Zionisten, seinem Argument zusätzliches Gewicht zu verschaffen; andererseits hatte er sicherlich recht bei seiner Kritik, dass das Handbuch des Deutschtums im Auslande die deutschsprechenden Holländer, Buren und vor allem Juden nicht berücksichtige – wenn es sich denn ausdrücklich auf die „Deutschsprechenden“ berufe.162 Bei der Erörterung des „Sprachenstreits in Palästina“ 1913 über die Frage, ob das weitgehend vom Hilfsverein der deutschen Juden und seinem Vorsitzenden James Simon finanzierte Technikum in Haifa hauptsächlich auf Deutsch oder Hebräisch unterrichten solle, spielte Trietsch die Konfrontation mit den Zionisten, die Hebräisch bevorzugten, herunter.163 Ihm war bewusst, welche Sprengkraft diese Konfrontation besaß: Sie galt nicht nur der Abwägung der beiden Sprachen für die Zukunft der jüdischen Nation, sondern hinterließ große Risse im deutschen Judentum, als die Zionisten sich aus dem Hilfsverein zurückzogen und dessen beide Führer Simon und Paul Nathan dem Antizionistischen Komitee beitraten.164

160 Adolf Friedemann, Die Bedeutung der Ostjuden für Deutschland, in: Süddeutsche Monatshefte 13 (5. Februar 1916), 680, zit. nach Peter Pulzer, Der Erste Weltkrieg, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, hg. von Michael A. Meyer. München: Beck, 1997, 364. 161 Davis Trietsch, Juden und Deutsche. Eine Sprach- und Interessengemeinschaft. Wien: Löwit, 1915, 6. 162 Ebd., 8. 163 Ebd., 11. Eine ausführliche Erörterung des Sprachenstreits in Yehuda Eloni, Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Gerlingen: Bleicher, 1987, 313–356. 164 Steven M. Lowenstein, Ideologie und Identität, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. III: Umstrittene Integration 1871–1918, hg. von Michael A. Meyer. München: Beck, 1997, 299.

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Trietsch versäumte nicht, die Repräsentanz des Deutschen durch die Juden „innerhalb der konkurrierenden Weltsprachen“ sowohl in Ost- und Südosteuropa als auch im Nahen Osten als Argument für die „Sprach- und Interessengemeinschaft“ zu betonen, warnte aber zugleich, dass die Deutschen und Österreicher dabei seien, diese Hereinnahme der jüdischen Kultur unter Wahrung der verschiedenen Identitäten durch den virulenten Antisemitismus zu verspielen. Auf die Situation in der Habsburgermonarchie ausgerichtet, zitierte er dafür ausführlich aus dem Alarmruf eines unbestechlichen Beobachters, des international bekannten Rechtssoziologen Eugen Ehrlich an der Universität Czernowitz, in der für das Zusammenleben verschiedener Ethnien exemplarischen Region der Bukowina. In Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten, insbesondere in der Bukowina (1909) umriss Ehrlich als Ausgangssituation die Bereitschaft aufseiten der Juden in diesen Gebieten, sich der Ausweitung des deutschen Kulturbereichs einzuordnen. Wenn dieser Plan nun aufgegeben werden müsse, liege es am Antisemitismus. „Wem die Interessen des deutschen Volkes in Österreich und die Weltstellung des Deutschtums am Herzen liegen, – und zu denen gehöre ich auch –, der kann das nur bedauern; ich glaube, dass dieser nicht sehr gescheite Studentenulk, der Antisemitismus, hier eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat, dass er die Deutschen um ein Machtgebiet oder mindestens um eine Einflußsphäre gebracht hat, die einst vom Böhmerwald bis Odessa gereicht hatte. Hier hat der Deutsche überall Menschen gefunden, die deutsch sprachen, ihre Kinder mit Schiller und Goethe erzogen, sich zu den Deutschen in einem besonderen Nahverhältnis und zur Wahrung der politischen und wirtschaftlichen Interessen des Deutschtums berufen fühlten, – nicht selten sogar aus durchaus slawischen Gegenden deutsche Abgeordnete nach Wien entsendeten – und eigentlich nichts dafür verlangten, als dass man ihnen erlaubt, sich Deutsche zu nennen. Ein Volk mit einigem politischen Verständnis hätte sich solche Vorteile schon zu sichern gewußt. Der Mann, der einmal die Geschichte schreiben wird, wie Österreich aufgehört hat, ein deutscher Staat und ein Vorposten deutscher Kultur im Osten zu sein, der wird dem deutschen Antisemitismus einen längeren Abschnitt widmen müssen. Es ist ja schließlich nicht ganz gleichgültig, ob man die anderthalb Millionen österreichischer Juden für sich oder gegen sich hat.“165 Ehrlichs düstere Prognose wurde vom Krieg aufgeschoben, als die Juden der Monarchie sich eindeutig für diesen Staat einsetzten und dafür Anerkennung erhielten. Mit dem Tode von Kaiser Franz Joseph I. allerdings ließen die Christlichsozialen und die Alldeut-

165 Zit. nach Trietsch, Juden und Deutsche, 18 f.

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schen ihre Hemmungen fallen, und der Staat büßte die Kraft ein, die Zensur gegen den Antisemitismus aufrechtzuerhalten.166 Zahlreiche Zionisten distanzierten sich von Ehrlichs Bedauern, da sie inzwischen an Alternativen zur Befestigung der jüdischen kulturellen Identität arbeiteten, insbesondere mit der ‚Entdeckung‘ der Ostjuden als religiös-kultureller Gemeinschaft, die auf verunsicherte westeuropäische Juden zunehmend attraktiv wirkte.167 Die Mehrheit deutschsprachiger Juden jedoch vollzog diese Wendung nicht mit; einerseits begrüßte sie die offiziellen Wandlungen im Umgang mit den Ostjuden, andererseits sah sie ihre eigene Position innerhalb der Gesellschaft durch den Krieg erneut gefährdet und befürchtete in der Herausstellung der Ostjuden ein schädliches Zusammenwirken zionistischer und antisemitischer Impulse. Insofern Deutschland und Österreich spätestens ab 1915 mit der Notwendigkeit konfrontiert wurden, eine Politik für Ostmitteleuropa zu entwickeln, mussten sie für den Bereich von Kultur und Sprache, der sich bisher im Mit- und Gegeneinander von deutschen, österreichischen, jüdischen, polnischen, litauischen, baltischen, ukrainischen und rumänischen Traditionen abgespielt hatte, verwaltungsmäßige Lösungen finden. Hierbei stand, wie der Czernowitzer Professor Ehrlich klarmachte, mehr als nur die Gültigkeit kultureller Heroen zur Debatte, hier entschieden sich zentrale Prozesse von Sprachverbreitung und Wirtschaftsbeziehungen über große Landstriche hinweg, über umstrittene Einflusszonen, die wiederum Österreichs und Deutschlands zukünftige Stellung zwischen Ost und West bestimmen würden. Wurden Juden in ihrer Vermittlungstätigkeit im Westen von deutschen Offiziellen eingeschränkt, sei es durch Vorschriften, sei es durch Antisemitismus, hatte das für die Vermittlungstätigkeit im Osten ebenfalls Auswirkungen. Der Erste Weltkrieg verstärkte durch die erneuten Einschränkungen der Gleichbehandlung die Desillusionierung deutscher Juden. Das fand ein Pendant in der Desillusionierung osteuropäischer Juden über die Aufrichtigkeit des Reiches, ihnen Gleichberechtigung und kulturelle Autonomie zu verschaffen. Diese zweifache Desillusionierung war für den weiteren Kurs der Kulturmacht Deutschland in Europa folgenreicher als der Kulturkrieg der Bildungseliten. 166 Pulzer, Der Erste Weltkrieg, 379, 411; Marsha L. Rosenblit, Sustaining Austrian ‘National’ Identity in Crisis, in: Constructing Nationalities in East Central Europe, hg. von Pieter M. Judson und Mar� sha L. Rosenblit. New York: Berghahn, 2005, 178–191. 167 Delphine Bechtel, Cultural Transfers between ‘Ostjuden’ and ‘Westjuden’. German-Jewish Intellec� tuals and Yiddish Culture 1897–1930, in: Leo Baeck Institute Year Book 42 (1997), 67–83; Steven E. Aschheim, Eastern Jews, German Jews and Germany’s Ostpolitik in the First World War, in: ebd. 28 (1983), 351–365; Bernd Hüppauf, Ende der Hoffnung – Anfang der Illusionen? ��������������� Der Erste Welt� krieg in den Schriften deutscher Juden, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationa� len Germanisten-Kongresses, hg. von Albrecht Schöne, Bd. 5. Tübingen: Niemeyer, 1986, 196–207.

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Militärmacht als Kulturmacht Die öffentliche Gleichsetzung von Kultur und Militär nahm die Armee zunächst mit gemischten Gefühlen wahr. Sie wollte sich davon in keinem Falle festlegen lassen. Das enorme, zunächst von der Verlags- und Medienindustrie angekurbelte Lese- und Schreiberlebnis Krieg schien der ernsthaften Verfolgung des Kriegshandwerks abträglich zu sein. Darin unterschied sich die deutsche Armee nicht von den anderen Armeen. Überall aber drängten sich die Bedürfnisse nach Aufrichtung nationaler Gesinnung durch Literatur und Lektüre nach vorn. Überall vollzog sich ein Prozess der Adjustierung dieses Bereichs, schließlich seiner Administration durch staatliche oder militärische Beauftragte. Die deutsche Armee, zunächst damit beschäftigt, eine einigermaßen flächendeckende Zensur durch 57 Militärbefehlshaber auf die Beine zu stellen, wandte ab 1916 ihr volles Interesse der Koordination und schließlich der Kontrolle dieser Form kultureller Kriegsunterstützung zu. Eine Zeit lang hatte sie sich überhaupt erst dazu durchringen müssen, Propaganda in die taktischen Entscheidungen mit einzubeziehen – ähnlich den Diplomaten, die sich von allem fernhielten, was sachlich gerechtfertigte Ziele durch ‚Werbung‘ desavouieren konnte. Die gründliche Umstellung auf eine der Obersten Heeresleitung direkt unterstellte Propagandaarbeit korrespondierte mit der im November 1916 von Hindenburg und Ludendorff erzwungenen Aufhebung des Verbots der öffentlichen Erörterung von Kriegszielen.168 Von da an verlor die Referenz auf eine kulturelle Mission, ausgenommen bei der Verwaltung besetzter Gebiete, stark an Bedeutung, sieht man einmal davon ab, dass Militärkommandeure ihre Truppenbewegungen und Frontlinien gern mit Namen aus der Heldenwelt Richard Wagners veredelten, wie bei der Siegfriedlinie oder der Operation Alberich. Das Auswärtige Amt nahm die Chance wahr, bisherige Versäumnisse im Umgang mit den neutralen Ländern nachzuholen, allerdings unter dem immer stärker lastenden Gewicht der Propaganda der Obersten Heeresleitung, die unter dem Ludendorff-Vertrauten und Annexionisten Walter Nicolai die deutsche Öffentlichkeit systematisch über den Gang des Krieges täuschte. Wie schon bei der verfassungsmäßigen Ermächtigung des Militärs als Zensor ziviler Öffentlichkeit operierte die Armee, einzig dem Kaiser untertan, auch auf dem Gebiet der Informationspolitik weitgehend selbstherrlich, war damit bei der Zähmung des Tigers Propaganda auch dafür verantwortlich, das Vertrauen der 168 Wilhelm Deist, Zensur und Propaganda in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, in: ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte. München: Ol� denbourg, 1991, 153–163.

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Bevölkerung im Entscheidungsjahr 1918 zu sehr strapaziert zu haben. Die späteren Vorwürfe, dass es den überlegenen Methoden der alliierten Propaganda zuzuschreiben sei, wenn sich die Bevölkerung gegen weitere Kriegsanstrengungen gewendet habe, bildeten nur besonders unverfroren konstruierte Bausteine der Dolchstoßlegende. Demgegenüber stand für die Einsichtigen fest, dass die vom Militär kontrollierte, von der Vaterlandspartei annexionistisch aufgeblähte und mit dem 1917 eingeführten ‚vaterländischen Unterricht‘ zum Alltagsspeisezettel zubereitete deutsche Propaganda, wenn sie auch bei anderen Völkern kaum Erfolge zeitigte, für die Deutschen lange genug wirksam blieb. Sie hatte ihre Chance gehabt, genutzt und im Prozess der Selbsttäuschung verspielt. Diese pauschale Feststellung hat an dieser Stelle insofern ihren Platz, als sie die Gesamtsituation markiert, in deren Rahmen ein im Einzelfall oft differenzierter Umgang des Militärs mit kulturpolitischen Aktionen gegenüber nicht deutschen Nationalitäten stattfand. Während das im besetzten Belgien bis auf einige Interventionen in der Politik für ein unabhängiges Flandern keinen Erfolg hatte, bot sich dafür nach den 1915 gemeinsam mit Österreich errungenen Siegen in Ostmitteleuropa ein wesentlich größeres und eher aufnahmebereites Aktionsgebiet an. Da für die militärisch besetzte Zone zwischen Ostsee und dem Schwarzen Meer, die eine Vielzahl von Nationalitäten und Ethnien umfasste, keine feste politische Planung existierte (abgesehen davon, sie der Dominanz Deutschlands und Österreichs zu unterstellen), war es Sache des Militärs, den Umgang mit der Bevölkerung in einer Form zu regeln, die deren Trennung von Russland bewerkstelligen würde, ohne sie wirklich unabhängig werden zu lassen. Das erforderte ein Denken, bei dem sich die Überlegenheit der deutschen Seite in einer über das rein Militärische hinausgehenden Präsenz manifestieren musste, ohne deutlich werden zu lassen, dass es ihr an einer politisch attraktiven Agenda für andere Völker mangelte. In dieser Macht- und Mangelsituation wurzelt das praktische Engagement der deutschen Militärführung für Kulturpolitik. Es fand seine erste Ausformung zu Kriegsbeginn, als dem Militär eine überwältigende Woge der Zustimmung entgegenflutete, ohne dass es in der Öffentlichkeit mehr als die von Bethmann Hollweg artikulierte Doktrin von der Verteidigung des Vaterlandes zur Verfügung hatte. Die Zustimmung entsprang der seit Langem im Reich geformten Bereitschaft, dem Militärischen eine der politischen und intellektuellen Intervention überlegene Kapazität zuzuschreiben, die nun, angesichts des Ernstfalles, selbst von sonst liberalen Publizisten und Poeten gegen ihre eigene Schriftstellerei in Anschlag gebracht wurde. In den Worten von Siegfried Jacobsohn, dem Herausgeber der Weltbühne, als sie noch Schaubühne hieß: „Wer von uns hat nicht aufgeatmet, als das Kommando der Zeit von den Diplomaten auf den Soldaten überging? Wer hat nicht den Plakatstil des Generalquartier-

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meisters als eine Erlösung vom geheimnisvoll wurstelnden Leitartikel empfunden?“169 Wenn gegen die Hektik und Hysterie der Künstler „der sachliche Ernst, die phrasenlose Ruhe der Berufsoffiziere“ ins Feld geführt wurde, lag es nicht fern, den Krieg als „Reiniger und Befreier“ zu preisen und den militaristischen Geist Deutschlands als Triumph der Ordnungsidee gegen die Missverständnisse des Auslands zu rechtfertigen, wie es der Zionist Nahum Goldmann 1915 in seiner „politischen Flugschrift“ Der Geist des Militarismus tat.170 In der Invasion und Besetzung des neutralen Belgien durch die deutsche Armee manifestierte sich die seit Langem vorbereitete Prärogative des Militärs, die im Mechanismus des Schlieffen-Plans nicht nur die Handlungsräume der Politiker und Diplomaten einschränkte, sondern auch das Völkerrecht verletzte – eine Konstellation, die sich während des Krieges mit dem Einsatz von Giftgas und mit Ludendorffs Usurpation der zivilen und militärischen Ressourcen noch verstärkte. In Belgien führte die Macht- und Mangelsituation zu einem ersten Einsatz von Kulturpolitik durch das Militär jenseits der Reichsgrenzen mit dem nach längerem Zögern akzeptierten Ziel, der Anklage der Feinde gegen deutsche Unkultur und Barbarei entgegenzuarbeiten. Der militärischen Macht stand der Mangel an moralischer Legitimität, Zugang zur Bevölkerung, politischer Zukunftsperspektive gegenüber. Wie schon im Elsass setzte die militärisch und zivil gemischte Führung des Generalgouvernements Belgien darauf, mithilfe der Unterstützung kultureller Autonomiebestrebungen die französische Dominanz zurückzudrängen, was dem flämischen Teil eine Schlüsselrolle zuwies. Von Bethmann Hollweg unterstützt, suchte man, vor allem mit der Wiedergründung der Universität Gent als flämischer Institution unter deutscher Aufsicht, kulturelle Autonomieforderungen in politisches Kapital umzuformen. Das weckte großes Interesse unter Deutschen, denen der im Brüsseler Besatzungsapparat tätige Schriftsteller Rudolf Alexander Schröder mit seinen Übersetzungen aus dem Flämischen und Wilhelm Hausenstein, der Herausgeber der 1916–1918 erscheinenden Zeitschrift Der Belfried, die Stärke deutschflämischer Wechselbeziehungen bezeugten. Demgegenüber versuchte die flämische Bewegung, sich nicht durch allzu enge Kontakte mit den Besatzern zu kompromittieren, wenngleich die Vorzugsbehandlung seitens der Deutschen dem Unabhängigkeitsstreben auf lange Sicht Vorschub leistete.171 In Brüssel 169 Siegfried Jacobsohn, Verteidigung der Phrase, in: Die Schaubühne 10 (10.9.1914), 137. 170 Hortense von Beulieu, Waren wir vor dem Kriege zu ästhetisch? In: Das Forum 2 (1915), 138– 142, hier 139; Nahum Goldmann, Der Geist des Militarismus. Stuttgart/Berlin: Deutsche VerlagsAnstalt, 1915, bes. 14 f. 171 Sophie de Schaepdrijver, Occupation, Propaganda and the Idea of Belgium, in: European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment, and Propaganda, 1914–1918, hg. von Aviel Roshwald und Richard Stites. Cambridge: Cambridge University Press, 1999, 267–294; Lutz R. Reuter, The

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stationierte jüngere Schriftsteller wie Gottfried Benn, Otto Flake, Carl Einstein – der Dramatiker Carl Sternheim war seit 1913 dort ansässig – blieben ebenso wie die Künstler Erich Heckel und Max Beckmann, die im Kriegsdienst standen, außerhalb der belgischen Kunstszene, die vor dem Krieg für die deutschen Entwicklungen in Design, Architektur und Literatur höchst einflussreich gewesen war. Offensichtlich lockerte sich jedoch ab 1916 unter einigen jüngeren belgischen Künstlern die Distanz, zumal wenn diese in Sternheims Villa eine von Avantgardedenken belebte Szene kennenlernten oder sich, wie der Künstler und Dadaist Clément Pansaers, mit Carl Einstein anfreundeten, dem Expressionisten, Sammler afrikanischer Kunst und Mitarbeiter der führenden expressionistischen Zeitschrift Die Aktion. Wohl mit deutscher Unterstützung gab Pansaers 1917/18 die literarische Monatsrevue Résurrection heraus, die Holzschnitte aus dem Sturm brachte; die Aktion gehörte zum Repertoire der Avantgarde.172 Das Schicksal des wohl bekanntesten belgischen Wissenschaftlers, des Historikers Henri Pirenne, wurde oft als Beispiel dafür zitiert, wie schwer der Krieg auf den lange Zeit engen Kulturbeziehungen zwischen beiden Ländern lastete. Als Pirenne, der vor dem Kriege wichtigste Vermittler zwischen deutscher und französischer Geschichtswissenschaft, gegen die Wiedereröffnung der nun „flamisierten“ Universität Gent protestierte, deportierte ihn die Besatzungsmacht in ein Internierungslager nach Deutschland. Die Deportation Tausender Belgier zur Arbeit nach Deutschland wurde 1916 zum Symbol des Unrechtsregimes. Selbst der prominenteste Belgier der deutschen Kunstszene, der Architekt und Mitbegründer des Werkbundes, Henry van de Velde, erfuhr Diskriminierung als Angehöriger einer Feindnation. Er gab 1915 seine Stellung als Leiter der Weimarer Kunstschule auf und siedelte in die Schweiz über. Auf Drängen bekannter Gelehrter entschloss man sich im Reich nach und nach zu Maßnahmen, um die vom Kampfgeschehen gefährdeten belgischen Bibliotheken, Architekturdenkmäler und Kunstschätze vor weiteren Zerstörungen zu bewahren.173 Als die deutsche Besatzungsmacht beabsichtigte, sämtliche Metallteile vom Jugendstilpalais Stoclet in Brüssel als Kriegsbedarf zu entferGerman Occupation of Belgium. Politics and Policies of Reich Government and Generalgouvernement, the Flemish Movement and Flemish Socialism, in: The Ideological Crisis of Expressionism. The Literary and Artistic German War Colony in Belgium 1914–1918, hg. von Rainer Rumold und Otto K. Werckmeister. Columbia, SC: Camden, 1990, 41–74.; Luc De Vos und Pierre Lierneux, Der Fall Belgien 1914 bis 1918 und 1940 bis 1944, in: Erster Weltkrieg –Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, hg. von Bruno Thoß und Hans-Erich Volk� mann. Paderborn: Schöningh, 2002, 527–553. 172 Schaepdrijver, Occupation, Propaganda and the Idea of Belgium, 279. 173 Wolfgang Schivelbusch, Die Bibliothek von Löwen, 35–39.

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nen, protestierten die österreichischen Behörden; das Meisterwerk Josef Hoffmanns, das Paradestück der Wiener Moderne im westlichen Ausland anzugreifen, säte Unfrieden zwischen den Waffenbrüdern. (Abb. 7) Dennoch musste das Kupferdach, das den geringsten künstlerischen Wert hatte, am Ende dran glauben.174 Während man im Westen dem Projekt Kulturpolitik unter der Aufsicht des deutschen Militärs wenig Vertrauen entgegenbrachte, vermochte diese Agenda im Osten, wo die Mittelmächte ihren Kampf gegen das Russische Reich als einen Kampf zur Verteidigung der Kultur gegen die Barbarei rechtfertigten, wesentlich positivere Assoziationen zu wecken. Ihrer bediente sich die Armee mit gewisser Selbstsicherheit, gestützt von der seit Langem gehegten Anschauung vom Kulturgefälle von West nach Ost, mit welcher Deutsche ihr Verhältnis zum Osten im Diskurs kultureller Überlegenheit zu formulieren pflegten. Mit Kultur definierte man einen zivilisatorischen Anspruch, mit dem man sich von der Mission Frankreichs zu unterscheiden glaubte, indem man die Kolonisierungs- und Kultivierungspraxis deutschsprachiger Siedler in aller Welt einbrachte, nicht nur die Ausrichtung an Sprache und Hochkultur. Kultur als Kultivierung vermittels individueller Arbeit und gemeinschaftlicher Ordnungen, als Kern jahrhundertealter Siedlervisionen: das stellte ein Konzept dar, das den Deutschen in einem Raum fließender Grenzen und schwacher Institutionen zunächst auch dann Achtung eintragen sollte, wenn sie in Uniform eindrangen und als Besatzungsmacht fungierten. Mit anderen Worten, als Modernisierungskonzept trug es in dieser immer noch vom Kolonialismus der europäischen Mächte geprägten Phase entscheidende Züge der Kolonisierung, artikulierte sich aber in einer von der französischen mission civilisatrice abgesetzten ‚deutschen‘, auf Arbeit und Kulturvierung basierenden Programmatik. Ludendorff vermied bei der Übernahme des Verwaltungsgebietes Ober Ost in Litauen und dem Baltikum eine zu enge Assoziation mit der Provinz Posen und ihrem konfrontativen Verwaltungsstil; mit der Markierung seiner Agenda als Kulturpolitik sorgte er für größere Sorgfalt bei der Durchführung sowie für größeres Interesse im Reich. Das verhinderte nicht, dass das Gebiet schließlich rücksichtslos für die deutsche Kriegsversorgung und Ernährung ausgeplündert wurde. Jedoch erledigt sich die Definition dieser Form der Kulturpolitik keineswegs mit der Unterordnung unter den Begriff der Kolonialpolitik. Kulturpolitik zielte hier außer auf Selbstdarstellung, Ordnungspolitik und (deutschsprachige) Erziehung darauf, die bei den Völkern und Ethnien in den Randgebieten des Russischen Reiches durch den Krieg angefachte Identitätsund Sinnfindung durch Aktualisierung eigener kultureller Praktiken zu fördern. 174 Van Heerde, Staat und Kunst, 321.

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Zumindest in diesem Punkt trafen sich militärische und politische Zielsetzungen; sowohl Reichskanzlei als auch Auswärtiges Amt ermunterten diese Politik zumindest so lange, als sie keine volle politische Handlungsfähigkeit in die Wege leitete. Die Notwendigkeit einer mehr als nur politischen Lösung stellte sich Mitte 1915, als die deutschen und österreichischen Armeen die polnischen Gebiete des Russischen Reiches eroberten und besetzten. Angesichts des Mangels an politischer Planung gegenüber Ostmitteleuropa schien es zunächst, als ob Österreich, das mit Galizien selbst eine polnische Nationalität beherbergte, die Zukunft Polens bestimmen würde. Das wurde von deutscher Seite, die militärisch ausschlaggebend gewesen war, beiseitegeschoben, hatte aber zur Folge, dass die deutschen Militärs bei der Behandlung der Polen eine zurückhaltendere Gangart wählten. Insofern die Habsburgermonarchie bei der Besatzungsarbeit selbst auf Polen (zumeist aus Galizien) zurückgreifen konnte, entspannte sie das durch eine Überfülle an Freund-Feind-Stereotypen belastete Verhältnis zwischen deutschsprachiger Besatzung und Polen. Hinzu kam, dass die von den Staatskanzleien beider Monarchien dekretierte Aufteilung des bisher russischen Polens in zwei Generalgouvernements eine gewisse Konkurrenz in der Behandlung der Bevölkerung förderte. Sie führte dazu, dass die deutsche Besatzungsverwaltung auf eine Polenpolitik einschwenkte, die, vor allem in der zunächst geschickten Verwendung kulturell orientierter Aktionen, der bisher von Preußen in der Provinz Posen betriebenen, scharf antipolnischen Germanisierungspolitik zuwiderlief. Angesichts der Propaganda gegen den Barbarismus der Deutschen agierte man im stillschweigenden Konsens, dass das Deutsche Reich auch im Osten alle Glaubwürdigkeit als Kulturmacht verlieren würde, wenn sich das Militär bloß als Instrument der Germanisierung erwiese. Allerdings konnten weder Generäle noch Diplomaten Assoziationen an die diskriminierende Polenpolitik des Landes Preußen vermeiden. Es gelang nicht und konnte nicht gelingen. In gewisser Weise war die „polnische Frage“ tatsächlich unlösbar, denn „Preußen selbst gehörte ja zu den Teilungsmächten, es konnte keinen polnischen Staat gegen Rußland gründen, den es nicht auch gegen sich selbst gründete. Die erbitterten Gegensätze zwischen dem preußisch-deutschen und dem polnischen Nationalismus hatten eine Atmosphäre geschaffen, in der es fast unmöglich erscheinen mußte, daß Deutschland und ein polnisches Staatswesen friedlichnachbarlich nebeneinander existierten.“175 Um so gewichtiger war Österreichs Präsenz als Ko-Besatzungsmacht, um so verständlicher waren die zeitweiligen Äußerungen Bethmann Hollwegs und des Staatssekretärs des Auswärtigen 175 Peter Graf Kielmannsegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg. Frankfurt: Athenaion, 1968, 293 f.

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Amtes, Gottfried von Jagow, zugunsten der von Wien verfochtenen „austropolnischen Lösung“, das heißt einer losen Angliederung des zukünftigen polnischen Staates an die Habsburgermonarchie.176 Dass nun ausgerechnet die eindrucksvollste kulturpolitische Aktion des deutschen Generalgouverneurs Hans Hartwig von Beseler im Herbst 1915, die von den Russen versprochene, aber nicht verwirklichte Wiedereröffnung der Warschauer Universität und Technischen Hochschule als polnische Institutionen in die Tat umzusetzen, von dem Repräsentanten der Wiener Regierung beim deutschen Generalgouvernement, dem Schriftsteller Leopold von Andrian, als ein geschickter „Schachzug gegen die austropolnische Lösung“ bezeichnet wurde, zeigt nur, wie bedeutsam, weil symbolisch Kulturpolitik in dieser Phase der Besatzungssituation war und wie sehr sie darin von der politischen Konkurrenz der beiden Besatzungsmächte abhing. Andrians weiterer Kommentar ist zugleich für die Bemühung um die polnische Intelligenz aufschlussreich, die sich, obgleich stark auf Russland ausgerichtet, als Trägerschicht der polnischen Nation ansah und Kultur als zentrales Medium verstand, solange sich die Nation nicht neu als unabhängiger Staat konstituieren konnte. Die Wiedereröffnung der Universität, folgerte Andrian, könne dazu führen, dass die deutsche Regierung nunmehr das Recht der polnischen Nation auf freie kulturelle Entfaltung anerkenne. Die Zurückdrängung von Professoren aus Galizien unter geschickter Ausbeutung der Konkurrenz zwischen dem besetzten Polen und Galizien wertete Andrian als Beleg dafür, dass „die polnische Cultur und Wissenschaft auch durchaus unabhängig von den in Galizien unter österreichischem Schutze entwickelten Culturzentren aufgebaut werden kann“, auch wenn „die hier zusammengebrachten Universitätslehrer, mit wenigen Ausnahmen, nur bescheidenen Anforderungen genügen.“177 Tatsächlich manifestierte sich mit dieser von der polnischen Öffentlichkeit begrüßten Aktion, bei der sich die Besatzungsverwaltung zunächst im Hintergrund hielt, eine Anerkennung polnischer Kultur, wie sie preußische Beamte in ihrem ‚Kulturkampf‘ gegen die Polen im Reichsverband gerade negiert hatten, ganz zu schweigen 176 Ebd., 295. Das stieß in Österreich schließlich selbst auf Widerstand, da es den slawischen Anteil in der Habsburgermonarchie noch verstärkt hätte. Tamara Scheer, Österreich-Ungarns Besatzungs� macht in Russisch-Polen während des Ersten Weltkrieges (1915–1918), in: Zeitschrift für Ostmittel� europa-Forschung 58 (2009), 538–571. 177 Andrian an Burian am 17.10.1915, zit. nach Arkadiusz Stempin, Die Wiedererrichtung einer pol� nischen Universität. Warschau unter deutscher Besatzung, in: Kollegen – Kommilitonen – Kämp� fer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Steiner, 2006, 127–145, hier 138 f. Über die kulturpolitische Konkurrenz s. Ursula Prutsch, Historisches Gedächtnis in kulturpolitischer Machtstrategie. Deutschland, Österreich-Ungarn und die polnische Frage (1915–1918), in: Ambiva� lenz des kulturellen Erbes, hg. von Moritz Csaky und Klaus Zeyringer. Innsbruck/Wien/München: StudienVerlag, 2000, 69–91.

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von dem Antipolonismus, den Gustav Freytag Generationen von Deutschen mit Soll und Haben auf den Weg gegeben hatte.178 Polen, die diese Aktion als Auftakt zu weiterer Liberalisierung polnischer Bemühungen um nationale Vertretung, schließlich einen unabhängigen Staat ansahen, wurden allerdings durch die Hinhalte- und bald auch Ausbeutungspolitik der deutschen Besatzung zunehmend enttäuscht. Mit der öffentlichen Diskussion ging jedoch zugleich eine lange nicht erlebte Anerkennung der Repräsentanz Polens als kultureller Macht einher, in welche die Eliten viel Energie investiert hatten – eine Art kulturelles Erweckungserlebnis durch Krieg und Besatzung, das dann für die innere Stabilisierung des neuen Staates nach dem Krieg eine wichtige Basis bildete.179 Mit der Proklamation einer erblichen Monarchie Polen Ende 1916 wurde diese Politik nur unwesentlich vorangebracht, da deren Abhängigkeit vom Reich, unklare Grenzen und Mangel an Exekutivgewalt allen Beteiligten klar war; sie stellte vor allem eine Kompensation für Ludendorffs Forderung nach polnischen Soldaten für die deutsche Armee dar (die sich dann nicht erfüllte). Bethmann Hollweg hatte 1915 auf die Vorhaltungen von Oberbefehlshaber Erich von Falkenhayn zumindest verhindert, dass Ludendorff Kommandogewalt über Polen gegeben wurde; er musste mit den nördlich von Kongresspolen gelegenen Besatzungsgebieten Litauen und Kurland vorliebnehmen, die bis auf Riga keine solche Metropole wie Warschau aufwiesen und deren kulturelle, ethnische und religiöse Identitäten schwächer ausgebildet waren. Hindenburg und Ludendorff errichteten dann in dem Besatzungsgebiet Ober Ost eine Verwaltung, die, anders als die des polnischen Generalgouvernements, nichts der Zivilaufsicht unterstellte, wenn sie auch zivile Ratgeber und in der aufwendig etablierten Presseabteilung Schriftsteller und Publizisten beschäftigte. Insofern Ludendorff mit dieser Presseabteilung Ober Ost von vornherein zu verstehen gab, dass das Militär die Reorganisation dieser weiten, dünn besiedelten Landschaften nahe an der russischen Front als Großprojekt unternahm, das unter dem Zeichen von Kulturpolitik der Öffentlichkeit zugänglich sein sollte – und das tatsächlich zu einem begehrten Exkursionsziel von Journalisten, Bürgermeistern und sogar dem Kaiser wurde –, liegt es nahe, mit diesem Projekt die Erfolgsmöglichkeiten dieser Form von Kulturpolitik abzuwägen, die auch, 178 Marta Polsakiewicz, Spezifica deutscher Besatzungspolitik in Warschau 1914–1916, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 58 (2009), 501–537; Anita J. Prazmowska, The Experience of Oc� cupation: Poland, in: The Great World War 1914–1945, Bd. 1, hg. von Peter Liddle u. a. London: HarperCollins, 2000, 551–565. 179 Marek J. Siemek, Kultur und Zivilisation. Zwischen Tradition und Modernität, in: Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, hg. von Andreas Lawaty und Hubert Orlowski. München: Beck, 2003, 256–269.

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nachdem Hindenburg und Ludendorff an die Spitze der Obersten Heeresleitung traten, weitergeführt wurde. Ohne Zweifel lag Ludendorff die von Kolonialideen befruchtete Siedlungspolitik zugunsten deutscher Siedler und Landwirte mehr am Herzen als die Kultivierung der einheimischen Ressourcen mitsamt neuer Initiativen in Schule, Verkehrswesen, Forstwirtschaft und der Erweckung russenfeindlicher Identitätskulturen. Nichtsdestoweniger setzte er zunächst darauf, dem Land über den Einsatz deutscher Bewirtschaftungspraktiken und über die Verbreitung und Administration deutscher Kultur und Erziehung (mit Deutsch als zentraler Sprache für Verwaltung und Unterricht) die Grundlagen von Ordnung und Fortschritt zu verschaffen. „Kultur“ avancierte dabei zum populären Gegenbegriff zu der von allen Soldaten als schockierend empfundenen Unsauberkeit, mangelnden Hygiene, Verwahrlosung und Armut, eine Erfahrung, die sich fest mit dem Krieg im Osten verband und traditionelle Stereotype wiedererweckte.180 Zugleich gewann der Kulturbegriff durch seine administrative Erhöhung zu Kulturpolitik zugleich Aussagewert über die politisch-administrativen Eingriffe, ja über die Besatzungsgewalt insgesamt. Hier bestätigten sich nun wiederum die Stereotypen der Einheimischen über die Ordnungswut, Schroffheit, Humorlosigkeit und Machtbesessenheit der Deutschen. Damit ließ der Fortschrittsbegriff, auf den sich die Deutschen beriefen, seine fragwürdige Seite erkennen. Wenn sie den Fortschritt beispielsweise in der bürokratischen Organisierung einer kompletten Zählung der Bevölkerung sahen, zu der die fotografische Erfassung sowie die Ausstellung von Pässen gehörte (bis Ende 1917 wurden „von den Paßkommandos etwa 1 800 000 Personen photographiert, registriert und mit Pässen versehen“181), fanden das viele der Betroffenen zwar aufregend, nicht wenige aber auch bedrohlich, insofern sie ihre Identität nun nicht mehr mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, sondern mit dem Besitz eines bürokratischen Dokuments erwiesen. Geist und Ausmaße dieses riesigen Bewirtschaftungsunternehmens Ober Ost, das wichtige Antriebe aus der Kolonialverwaltung bezog, sich aber als eine neue Form von Kulturpolitik verstand, wurden in dem 1917 erstellten, repräsentativ angelegten Band Das Land Ober Ost, das die Pressestelle in einem großen deutschen Verlag veröffentlichte, mit entsprechender Selbstschmeichelei profiliert. Weniger als amtliche Dokumentation denn als „Überblick über die 180 Dennis Showalter, Comrades, Enemies, Victims. The Prussian/German Army and the Ostvölker, in: The Germans and the East, hg. von Charles Ingrao und Franz A. J. Szabo. West Lafayette: Purdue University Press, 2008, 209–225. 181 Das Land Ober Ost. Deutsche Arbeit in den Verwaltungsgebieten Kurland, Litauen und BialystokGrodny, hg. im Auftrage des Oberbefehlshabers Ost von der Presseabteilung Ober Ost. Stuttgart/ Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1917, 176 f.

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deutsche Arbeit in diesen Landstrichen“ angelegt, deren Geschichte und Folklore miterfasst wurden, arbeitete es mit den Gegensatzpaaren Fortschritt/Rückständigkeit und Kultur/Unkultur und berief sich auf die Tatsache, dass das Gebiet nach Abzug der gesamten russischen Verwaltung und ihrer Zerstörungspolitik einer Tabula rasa gleiche, deren einheimische Kulturen der deutschen Ordnungsarbeit bedürften. Wo immer möglich, setzte es den Begriff Kultur mit dem Zivilisierungs- als Modernisierungsunternehmen gleich, um dann am Ende den Fokus auf die traditionellen Formen der Theaterkultur zu richten, wo eine gewisse Eigenständigkeit der Ethnien und Regionen neben dem deutschen Import registriert wurde.182 In der Erwartung, dass „die Wege zur völkischen Bühne, zur nationalen Kultur“ geebnet seien, schwang noch etwas Herder’scher Emanzipationsgeist mit, bis dann die „große Kulturmission“ der Deutschen ins Bild kam, die es hier zu beweisen gelte. Bekannte Schriftsteller wie Arnold Zweig, Herbert Eulenberg und Richard Dehmel, die mit Hermann Struck, Sammy Gronemann und Hans Frentz unter der Leitung von Friedrich Bertkau in der Presseabteilung in Kowno arbeiteten, haben das Schicksal dieser Kulturmission, unter deren Zeichen sie angetreten waren, als Prozess einer Desillusionierung beschrieben, keiner allerdings mit solcher Wucht und internationaler Resonanz wie Zweig. In dem berühmt gewordenen Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) porträtierte Zweig das unglückliche Schicksal eines russischen Kriegsgefangenen, der zum Tode verurteilt wird, weil die Generalität ein abschreckendes Beispiel schaffen will. Auch wenn Bertkau mit seinen etwa fünfzig Mitarbeitern von Ludendorff genügend Freiraum für seine Presse- und Informationspolitik gelassen wurde (in dem sich, wie Gronemann mit Witz festgehalten hat, sogar ein „Intellektuellenklub“ mit einer lebhaften Debattierszene entwickelte),183 konnte er die Kluft zwischen Besatzungsverwaltung, die neben Zensur auch Informationssammlung, Zeitungsgründungen und Publikationsunternehmungen einschloss, und dem Alltag der einheimischen Bevölkerung nicht überbrücken. Zudem kamen die meisten Besucher aus dem Reich nicht aus Neugierde an den Geschicken von Ober Ost, sondern um an Hindenburgs Kownoer Tafel zu sitzen und sich in seinem Feldherrnruhm zu sonnen.184 Dehmel, zunächst als Zensuroffizier eingesetzt, bat nach wenigen Wochen im November 1916 um seine Entlassung, 182 S. etwa die Kapitel „Landeskultur“ über die Landeskulturabteilung, die sich nicht ästhetischen oder erzieherischen, sondern entwicklungspolitischen Aufgaben widmet (ebd.,185–302), sowie „Völkische Bühnenkunst“ (ebd., 410–428); Liulevicius, War Land on the Eastern Front, 113–150. 183 Sammy Gronemann, Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916– 1918. Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag, 1984, 44–53. 184 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. Berlin: Siedler, 2007, 186–191.

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„da die mir obliegenden Amtsgeschäfte mit meinen kulturpolitischen Ansichten unvereinbar sind.“185 Geschäft und Militär gingen ihm eine allzu enge Verbindung ein. Die Unkenntnis der einheimischen Sprachen verhinderte die Herstellung von wirklichen Kontakten zwischen Deutschen, Litauern, Weißrussen, Letten und Polen. Abgesehen von Baltendeutschen ließ sich nur mit Juden eine einigermaßen kontinuierliche Kommunikation herstellen, bei der wiederum die Nähe des Jiddischen zum Deutschen überschätzt wurde. In dieser Kommunikation ergaben sich für sensible Beobachter Einsichten in die ostjüdische Kultur, die besonders für mitteleuropäische Juden, die sich vom Zionismus ferngehalten hatten, bis weit in die zwanziger Jahre als eine Art kulturelles Erweckungserlebnis debattiert und literarisiert wurden. Für Victor Klemperer, den später einflussreichen Romanisten, der einige Zeit ebenfalls in der Zensurstelle arbeitete, führte diese Begegnung indes zur entgegengesetzten Reaktion: Was Sammy Gronemann in Hawdoloh und Zapfenstreich (1924) mit einem Glorienschein umgab und „als beschämendes Vorbild den haltlosen und verräterischen Assimilationsjuden Deutschlands“ gegenüberstellte, befestigte Klemperers Gewissheit, als Jude zur deutschen Kultur zu gehören und für sie zu arbeiten.186 Die Tatsache, dass sich die Geschichtsschreibung über die Modernisierungseffekte des Ersten Weltkrieges im Allgemeinen an der Industrialisierung des Krieges im Bereich der Westfront ausrichtet, hat dazu beigetragen, dass der Stellenwert der hier beschriebenen Vorgänge in Ober Ost im Hinblick auf ihre spezifischen Entwicklungen innerhalb dessen, was die französische Forschung als „Kultur des Krieges“ oder „Kriegskultur 1914–1918“ bezeichnet hat, kaum gewürdigt worden ist.187 Die Mythisierung des Fronterlebnisses im Stellungskrieg entsprach in Frankreich ebenso wie in Großbritannien und Deutschland der Industrialisierung des Krieges, die sich der möglichst totalen Erfassung der wirtschaftlichen und technologischen Ressourcen unterordnete. Davon unterschieden sich die Erfahrungen deutscher und österreichischer Soldaten im Osten nach 1915 jedoch grundlegend, insofern das Objekt ihrer Tätigkeit tatsächlich nicht die mit den Feinden gemeinsame Arbeit an der „Kriegsmaschine“ darstellte, wie man es im Westen nannte, sondern eine militärisch organisierte, aber zivilisatorisch begründete alltägliche Arbeit zwischen bekannter und fremder Kultur. In Kriegsberichten wird diese Besatzungsarbeit häufig von 185 Zit. nach Hans Frentz, Über den Zeiten. Künstler im Kriege. Freiburg i. Br.: Urban, 1931, 136. 186 Victor Klemperer, Curriculum vitae. Erinnerungen 1881–1918, Bd.  2, hg. von Walter Nowojski. Berlin: Aufbau, 1989, 481. 187 Michael Geyer, Deutsche Rüstungspolitik 1860–1980. Frankfurt: Suhrkamp, 1984, 97–118 („Die Herrschaft der Kriegsmaschinen“); Jean-Jacques Becker u. a., Guerre et cultures, 1914–1918. Paris: Colin, 1994, 8.

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den stereotypen Kontrasten her definiert, wobei überlieferte Ressentiments gegen slawische Kultur sowie traditioneller Stolz auf die Kultivierungspraktiken deutscher Siedler mindestens ebenso prägend sind wie die eigentliche Befehls­ praxis der Militärführung in Ober Ost. Insofern diese Form der Kulturpolitik im Alltag der Soldaten ihre Antriebe und Frustrationen aus einer seit Langem gegenüber den östlichen Nachbarn etablierten ‚deutschen‘ Identität bezog, bedeutete sie mehr als nur eine militärische Strategie oder Utopie. Kultur wurde hier als Erfahrung und Motivation kriegerischer Konfrontation verstanden, nicht nur als symbolische Stellvertretung der kämpfenden Nation, wie es beim Kulturkrieg der Intellektuellen und Bürgerschichten geschah und sich nach einiger Zeit erschöpfte. Wenn man im Westen vom Feind sprach, meinte man den Widersacher im tödlichen Kampf um die Mobilisierung der Nation. Darin waren die Franzosen mit ihrem festen Feindbild wohl noch konsequenter als die Deutschen, erlitten stärkere innere Opposition und mobilisierten wirkungsvollere Einigungskräfte. Als „Kultur des Krieges“, das heißt als spezifische, von diesem Krieg hervorgebrachte „Kultur“, lernte man in den betroffenen Gesellschaften eine veränderte Einstellung zur Gewalt zu verstehen; die Einsicht setzte sich durch, dass die totale Mobilisierung eher der Brutalisierung als dem zivilisatorischen Fortschritt zuarbeite. In dem Anwachsen der Militanz, die dem Kriege folgte, sah man in den Folgejahrzehnten genügend Beweise dafür, dass die Industrialisierung der Gewaltanwendung mitsamt der Mobilisierung aller Gesellschaftsschichten, einschließlich der Kinder, die Wurzel des „ensauvagements“, der Verwilderung und Brutalisierung, darstelle.188 Wenn Deutsche und Österreicher im Osten vom Feind sprachen, war demgegenüber nicht die Industrialisierung des Krieges mitgemeint, vielmehr eine eher diffuse Gegnerschaft zu den Russen, mit der die Erfahrung eines bedrückend unbegrenzten Raumes einherging, in dem auch die Berufung auf die Kulturmission das Gegeneinander von Macht- und Mangelgefühl nicht glätten konnte. Hatte man für eine konstruktive Begegnung mit den fremden Gesellschaften des Ostens zunächst eine erstaunliche Flexibilität gezeigt, konnte die militärische Verwaltungs- und bald auch Ausbeutungspolitik spätestens ab 1917 den Mangel an politisch-gesellschaftlicher Konzeption – das heißt emanzipatorischer Vision – nicht mehr 188 Marc Ferro, Cultural Life in France, 1914–1918, in: European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment, and Propaganda, 1914–1918, hg. von Aviel Roshwald und Richard Stites. Cam� bridge: Cambridge University Press, 1999, 295–307, hier 299; Benjamin Ziemann, Das ‚Fronterleb� nis‘ des Ersten Weltkrieges – eine sozialhistorische Zäsur? Deutungen und Wirkungen in Deutsch� land und Frankreich, in: Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, hg. von Hans Mommsen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2000, 43–82.

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überdecken. Die Berufung auf Kulturarbeit wurde mehr und mehr zu einer Rechtfertigung der Besetzung nicht deutscher Territorien, deren Ziel die wirtschaftliche Ausplünderung für den Kriegseinsatz der Mittelmächte darstellte, zu der auch die Deportation von Tausenden Litauern, Polen und Russen für den Arbeitseinsatz im Reich gehörte. Die Schul- und Sprachenpolitik im Dienste einer Ausweitung des deutschen Kulturraums in bisherige Regionen des Russischen Reiches scheiterte, obgleich gerade das Jahr 1918 noch einmal eine gewaltige Ausweitung des Besatzungsraumes bis in die Ukraine brachte. Zudem entzog die revolutionäre Gärung in Russland dem Feindbild wichtige Energien. Indem es dem revolutionären russischen Staat den diktatorischen Vertrag von Brest-Litowsk im März 1918 aufoktroyierte, demonstrierte das deutsche Militär, dass es Machtpolitik nunmehr ohne jede Rücksichtnahme verfolgte. Die Brutalisierung der letzten Kriegsphase ist als Reaktion auf die wenig leuchtenden Erfolge der Kulturpolitik verstanden worden. Von der Frustration der Besatzungsverwalter dürften sich tatsächlich Linien zu der brutalen Besatzungspolitik von Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg ziehen lassen, die Hitler mit seiner Zerstörungsstrategie zu ungeminderter Inhumanität steigerte.189 Dass die Besatzungspolitik als Kultivierungs- und Modernisierungsprojekt unternommen worden war, bestätigte noch einmal den hohen Stellenwert von Kultur in diesem Krieg; dass das Reich seine Aspirationen als Kulturmacht von Militärs und nicht nur von Wissenschaftlern und Künstlern wahrnehmen ließ, zeigt allerdings auch die Problematik einer solchen Transformation von Traditionen, die ihre Stärke gerade ohne Machtmission entwickelt hatten. Es offenbart eine ethische, nicht nur rhetorische Abnutzung deutscher Kulturideen. Vor allem aber hinterließ es bei der chaotischen Auflösung der deutschen Besatzung Ostmitteleuropas 1918 eine finstere Erbschaft in der Referenz auf deutsche Kultur sowohl in jenen Ländern als auch im Inland: Jenseits der Grenzen im Osten stellte sich bei ihrer Nennung unweigerlich die Assoziation an Expansion und Ausbeutung ein, diesseits zeitigte das Scheitern der kulturellen Politik die verhängnisvolle Folgerung, dass diese Einflussregion nur durch ungemilderte Gewalt- und Ordnungspolitik beherrschbar werden würde. Jene im Westen beobachteten Effekte einer „Kultur des Krieges“ lassen sich im Osten in einer anderen, wohl noch weiter reichenden Form der Brutalisierung ausmachen.190 Sie manifestierte sich in den Gewalttaten der Freikorps und ihrer Gegner, vor allem der Bolschewisten, in gegenseitiger Steigerung. 189 Liulevicius, War Land on the Eastern Front, 219 f. 190 Dirk Schumann, Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit: eine Kontinuität der Gewalt?, in: Journal of Modern European History 1 (2003), 24–43.

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Schlachtfeld Wissenschaft Vor 1914 hatten sich Nationalismus und Internationalismus bei der grenzüberschreitenden Repräsentation von Kultur und Wissenschaft vielfältig überschnitten. Der Kriegsausbruch katapultierte den Konflikt zwischen beiden Kräften sofort in zuvor kaum gekannte Höhen. Für Deutschlands Ausschluss aus der internationalen Gemeinschaft diente Kultur mit großem K als besonders wirksame Projektionsfläche. Demgegenüber hatten Deutsche und Österreicher in der Wissenschaft mit eminenten Forschungsleistungen, Modellinstitutionen und Nobelpreisen eine Bastion internationaler Führung errichtet, die man nicht mit Propagandafeldzügen allein bezwingen konnte. In der Wissenschaft waren in den vorangegangenen Jahrzehnten zentrale Mentalitäten und Diskurse so stark von Deutschen geprägt worden, dass man sich selbst bei der Kritik gegebener Forschungsleistungen von Deutschen solcher Kriterien bediente, die wesentlich von deren moderner experimenteller Praxis exemplifiziert wurden. Ein effizienter Angriff konnte nur dort erfolgreich sein, wo er ihnen entweder ihren Verrat an den eigenen Prinzipien nachwies oder mit einer politisch-organisatorischen Offensive die ausgefeilte Wissenschaftsorganisation, die ihre Dominanz begründete, aus den Händen wand. Dies geschah nach 1914 und reichte, da die letztgenannte Strategie erst 1917/18 volle Aufmerksamkeit fand, bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Es stellte denjenigen Teil des Kulturkrieges dar, der sich, vom Propagandakrieg in Gang gesetzt und mit der militärischen Niederlage des Hohenzollernreiches keineswegs beendet, zum folgenreichsten Angriff auf die Kulturmacht Deutschland entwickelte. Ihm lag die 1917/18 auf alliierter Seite verfestigte Auffassung zugrunde, dass der Sieg über die Mittelmächte fragwürdig wäre, wenn diese ihre wissenschaftliche Dominanz über andere Nationen auch nach dem Kriege weiter behaupten könnten. Das Wort von der Bastion ist insofern gerechtfertigt, als es sich hier, zusätzlich zu spektakulären Entdeckungen in Physik, Chemie, Medizin und anderen Disziplinen, um einen soliden Teil der Infrastruktur wissenschaftlicher Information handelte, den deutsche Forscher, wissenschaftliche Publizisten und Verlage in steter Arbeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Zeitschriften, Katalogen und Referateorganen sowie in Lehrbüchern aufgebaut hatten und der sie dazu verleitete, ihre Stellung in der internationalen Wissenschaft für uneinnehmbar zu halten. Innerhalb der einzelnen zumeist naturwissenschaftlichen Disziplinen hatten sie vorwiegend in deutscher Sprache vermittelte Standardreferenzen für wissenschaftliche Forschungsarbeit entwickelt, die von Forschern in anderen Ländern sowohl mitbeliefert als auch konsultiert wurden. Die deutschen Referatepublikationen und Ausbildungsstätten dominierten den Infor-

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mationsaustausch so nachdrücklich, dass der Leiter der Physikabteilung im Massachusetts Institute of Technology, der Physiker Edwin Bidwell Wilson, 1918 in der führenden Zeitschrift Science feststellte, Professoren und Studenten hätten es so empfunden, „dass die deutsche Sprache für wissenschaftliche Zwecke wesentlicher war als jede andere und dass die deutsche Ausbildung diejenige war, der sich unsere Studenten, die mit dem unzufrieden waren, was sie in unserem Land vorfanden, unterziehen sollten.“ Wilson exemplifizierte diesen Vorsprung in Informationsvermittlung und Lehrbüchern im Detail: „Tatsache ist, dass jeder Wissenschaftler Hilfsmittel braucht, um schnell die Literatur zu einem wissenschaftlichen Sujet nachzuschauen; und Tatsache ist, dass die großen Kompendien, die großen jährlichen Überblicke über wissenschaftlichen Fortschritt von Deutschen erarbeitet und in deutscher Sprache veröffentlicht werden. Für einen Mathematiker ist fruchtbare Arbeit unmöglich ohne Zugang zum Jahrbuch für Mathematik. Die Revue Semestrielle allein genügt nicht, noch ist sie notwendig. Für einen Physiker ist Arbeit ohne Zugang zu Fortschritte der Physik unmöglich; Science Abstracts genügen nicht. Und so ist es in vielen anderen Wissenschaftsgebieten. Der Physiker muss Winkelmanns ‚Handbuch der Physik‘ konsultieren; dazu gibt es kein wirkliches englisches oder französisches Äquivalent.“191 Wilson veröffentlichte seine Überlegungen unter dem Titel „Insidious Scientific Control“, das heißt mit der Etikettierung der in deutscher Sprache erscheinenden grundlegenden Zeitschriften und Lehrbücher als eine Form heimtückischer wissenschaftlicher Kontrolle, welche die Deutschen während des Krieges dafür benutzten, um in den USA die Einstellung zu Deutschland positiv zu beeinflussen. Er fragte: „Sollen die englisch sprechenden Völker mit Kriegsende zu der ziemlich kompletten Abhängigkeit von Deutschland in ihren wissenschaftlichen Standardzeitschriften und ‑handbüchern zurückkehren und damit allen jungen Wissenschaftlern das Erlernen der schwierigen deutschen Sprache auferlegen?“192 Wilson war nicht gegen das Erlernen des Deutschen, eine für die Forschung nützliche Sprache, plädierte aber dafür, diese heimtückische Kontrolle durch eine umfangreiche Gegenoffensive zugunsten der Erstellung einer Standardliteratur auf Englisch zu beenden, das als Sprache leichter zu erlernen sei und von wesentlich mehr Menschen in der Welt gesprochen werde. Er machte unmissverständlich klar, dass der Kampf gegen die deutsche Wissenschaft auch eine gegen die deutsche Sprache darstelle, ein 191 Edwin Bidwell Wilson, Insidious Scientific Control, in: Science 48 (15.11.1918), 491–493, hier 492; siehe Roswitha Reinbothe, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg, 165. 192 Wilson, Insidious Scientific Control, 492.

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Umstand, der von deutscher Seite in seinen langfristigen Konsequenzen nur von der Verlagsindustrie sofort voll wahrgenommen wurde, die von der Abschnürung ihrer Absatzmärkte zumindest ebenso betroffen war wie die Herausgeber der internationalen Fachorgane. Wilsons Behauptung, die deutsche Regierung gebrauche diese Literatur zur Kontrolle, war insofern nicht völlig aus der Luft gegriffen, als das Kriegsministerium 1915 ein Ausfuhrverbot wissenschaftlicher Literatur sowohl in gegnerische als auch in verbündete und neutrale Staaten verhängte, weil es annahm, damit dem Gegner kriegswichtige Informationen vorenthalten zu können. Erst als die Proteste aus dem Ausland sowie die Verleger und Herausgeber den Verantwortlichen klarmachten, dass man damit viele Abonnenten verprelle und den Ruf der deutschen Wissenschaft aufs Schlimmste schädige, stellte man die Maßnahmen ein. Sie erwiesen sich ohnehin als nutzlos und unterminierten das Vertrauen vieler Ausländer in die deutsche Wissenschaft.193 Dies spielte bereits, wenn auch ungewollt, in die Hände britischer und vor allem französischer Wissenschaftler, die den Aufruf der deutschen Gelehrten „An die Kulturwelt!“ als einen Verrat an den Grundsätzen der Wissenschaft deklarierten und es sich vom Herbst 1914 an zum Ziel setzten, diesen Verrat als Grundlage für eine umfangreiche Kampagne der Diskreditierung der deutschen Wissenschaft zu nehmen. Sie suchten die These von Deutschland als Störenfried auch in die Anschauung von der Universalität deutscher Wissenschaft einzupflanzen und damit von innen heraus unwirksam zu machen. Der französische Angriff auf die „science allemande“ griff die bereits nach 1871 gebrauchten Anschuldigungen gegen die Militarisierung deutscher Kultur und Wissenschaft auf, brachte nun aber einen geschärften Blick für die Schwächen des Gegners ein und verfolgte mit wachsender Entschlossenheit das Ziel, den Nachbarn, dessen Truppen einen Teil Frankreichs verwüsteten, als Konkurrenten auszuschalten.194 Um dieses Ziel zu erreichen, musste der Welt einerseits bewiesen werden, dass deutsche Wissenschaft kein Recht habe, sich universal zu nennen, wenn sie doch nur einer idiosynkratischen Dynamik deutscher Selbsterhöhung Gestalt gebe, und andererseits, dass sie in ihren Qualitäten unter der französischen Wissenschaft stehe. Diesem Unternehmen schlossen sich keineswegs alle französischen Gelehrten an. Einige machten selbst in der repräsentativen publizistischen Enquete, die unter dem Titel „Les Allemands et la science“ vom April 1915 an in vielen Folgen im Figaro und dann, 1916, in 193 Reinbothe, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg, 116–123. 194 Harry W. Paul, The Sorcerer’s Apprentice. The French Scientist’s Image of German Science, 1840– 1919. Gainesville: University of Florida Press, 1972, 77.

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Buchform die Beweise erbringen sollte, ihre Einwände unmissverständlich deutlich. Ohne Frage war es ein ehrgeiziges Unternehmen, das seine polemische Überzeugungskraft aus dem jahrzehntelangen Umgang mit deutscher Wissenschaft bezog, beispielhaft bei den prominentesten Kritikern wie dem Mathematiker und vormaligen Präsidenten der Pariser Akademie, Émile Picard, der den Ausschluss des barbarischen Deutschland aus dem Kreis zivilisierter Nationen sowie eine möglichst weit gehende Isolierung des Landes postulierte, und dem Physiker Pierre Duhem, der sowohl die Existenz einer deutschen, das heißt nicht universalen Wissenschaft als auch deren Minderwertigkeit gegenüber der französischen Wissenschaft behauptete.195 Der berühmt gewordenen Feststellung „Es gibt eine deutsche Wissenschaft“ fügte Duhem an, dass sich diese nicht nur aus den gesammelten wissenschaftlichen Werken, sondern einer bestimmten Mentalität konstituiere. Das erläuterte er im Essay „Quelques Réflexions zur la Science Allemande“ mit seinen Kriterien für die Unterscheidung französischer und deutscher Wissenschaft: Die Deutschen besäßen nur den „esprit géometrique“, die mechanistische Kombinationskraft, während die Franzosen reichlich über den „esprit de finesse“ verfügten, mit dem sie große wissenschaftliche Innovationen initiierten.196 Hierin ergaben sich Berührungen mit den plötzlichen Verdammungen jenseits des Kanals. Bei britischen Wissenschaftlern, die enger mit dem deutschen Wissenschaftsmodell verbunden waren, spitzte sich der antideutsche Diskurs darauf zu, dass die Überlegenheit dieses Modells eine Täuschung gewesen sei. Die Fähigkeit deutscher Wissenschaftler bestehe nicht in der kreativen Erforschung des Unbekannten, sondern erschöpfe sich in der geschickten Aneignung und ökonomischen Auswertung von anderswo gemachten Entdeckungen.197 Les Allemands et la Science gibt sowohl über die wesentlichen antideutschen Stereotypen dieser Jahre Auskunft als auch darüber, wie man den Status der Wissenschaft zwischen Nationalismus und Internationalismus einschätzte. Diese Debatte trug dazu bei, die Differenz zwischen Universalismus als dem Ethos übernationaler Wissenschaftlichkeit einerseits und Internationalismus als grenzüberschreitender Organisationsarbeit der Forschungsgebiete anderer195 Émile Picard, L’histoire des sciences et les pretentions allemandes, in: Les Allemands et la Science, hg. von Gabriel Petit und Maurice Leudet. Paris: Felix Alcan, 1916, 283–299, hier 298; Pierre Duhem, Science allemande et vertus allemandes, in: ebd., 137–152. 196 Duhem, ebd., 138; ders., Quelques Réflexions sur la Science Allemande, in: Revue des deux mondes 25 (1915), 657–686. 197 Peter Alter, Das verworfene Modell. Die deutsch-britischen Wissenschaftsbeziehungen im Wandel, in: Pionier und Nachzügler? Vergleichende Studien zur Geschichte Großbritanniens und Deutsch� lands im Zeitalter der Industrialisierung, hg. von Hartmut Berghoff und Dieter Ziegler. Bochum: Brockmeyer, 1995, 187–203, hier 200; Stuart Wallace, War and the Image of Germany. British Academics 1914–1918. Edinburgh: Donald, 1988.

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seits zu profilieren: Das Beharren deutscher Wissenschaftler, zumal Naturwissenschaftler, auf der universalen Natur ihres Tuns deckte sich keineswegs mit dem Internationalismus als Kern organisatorischen Handelns, das französische Gelehrte und Kulturpolitiker seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Element auswärtiger Kulturpolitik erhoben hatten.198 Hier, im kulturpolitischen Bereich des wissenschaftlichen Internationalismus, wies Les Allemands et la Science die Strategie auf, die von der Widerlegung des universalen Anspruchs zur Ausschließung der deutschen Wissenschaft aus der internationalen Kooperation führte und schließlich, mit dem Kriegsende 1918, in deren Boykott mündete. Zwar widersprachen so prominente Gelehrte wie der Mediziner Joseph Grasset und der Biologe Émile Gley der Behauptung, dass Nationalismus die Wissenschaft transformiere („Es gibt keine deutsche Wissenschaft und keine französische Wissenschaft“199), aber die Linie lag fest, und Émile Picards Forderung, man müsse sicherstellen, dass Deutsche von wissenschaftlichen Gesellschaften ausgeschlossen blieben, mutierte zum zentralen Element der Kulturpolitik der Alliierten. Im Versailler Vertrag nahm man den Artikel 282 auf, der bestimmte, dass alle mit Deutschland geschlossenen Konventionen wirtschaftlicher und technischer Natur mit wenigen Ausnahmen ihre Gültigkeit verlieren sollten.200 Damit sind bereits die beiden Strategien im Angriff auf die deutsche Wissenschaft in ihren Grundzügen umrissen. Der Diskreditierung folgte der von Picard, Duhem, zahlreichen französischen, belgischen, britischen, italienischen und amerikanischen Gelehrten und Amtsträgern organisierte Ausschluss aus den internationalen Organisationen, die sich vor 1914 dem Konsens einer übernationalen Gemeinschaft der Wissenschaftler verdankten. An diesem Konsens hielten die deutschen Wissenschaftler fest, besonders prononciert Max Planck, der 1915 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit knapper Mehrheit durchsetzte, dass Mitglieder der Feindstaaten nicht ausgeschlossen würden (wie es aufseiten der Royal Academy und der Académie des Inscriptions et Belles-lettres mit deutschen Mitgliedern geschah); man solle die Haltung zu ausländischen Akademien endgültig nach Kriegsende beschließen. Insofern die deutschen Gelehrten den Universalismus der Wissenschaft als ihre Referenz benutzten, konnten sie zwar behaupten, dem von ihnen immer vertretenen überpolitischen Geist der Wissenschaft die Treue zu halten, blieben damit aber der Illusion verhaftet, sie könnten ihre politische Rolle als Sprecher 198 Gabriele Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur. Deutsche Physiker in der inter� nationalen Community 1900–1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, 12–15, 22. 199 Docteur Grasset, Lettre au professeur Gabriel Petit, in: Les Allemands et la Science, 199–203, hier 200. 200 Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur, 117.

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der Nation davon säuberlich trennen, eine Trennung, die im Ausland kaum akzeptiert wurde, nicht einmal bei den Neutralen. Die Bestürzung der Deutschen über die heftige Reaktion auf ihre Solidarisierung mit dem Militär entsprang dieser Illusion; ihre Trennung zwischen dem universal-wissenschaftlichen und dem nationalpolitisch engagierten Gelehrten, die bereits vor 1914 im Ausland Misstrauen weckte, wurde, wenn sie nun trotz kriegerischer Konfrontation weiterging, als Heuchelei, ja Täuschung angreifbar. Insofern bemühte man sich auf alliierter Seite beim Boykott gegen Deutsche und Österreicher nicht um eine Rechtfertigung aus der Universalität der Wissenschaft, sondern verfolgte eine unverblümte Politisierung der internationalen Wissenschaftsorganisation, indem man sie entweder unter Ausschluss der Deutschen und Österreicher neu begründete oder diese per Beschluss ausgrenzte. Eine exemplarische Neugründung stellte der von Émile Picard und dem amerikanischen Astrophysiker George Ellery Hale 1918 geschaffene Internationale Forschungsrat (Conseil International de Recherches) für die Naturwissenschaften dar, der die von deutschen Akademien dominierte Internationale Assoziation der Akademien ablöste, die prominenteste, wenngleich nur mit einigen großen bibliografischen Projekten wirklich aktive Organisation auf diesem Gebiet. Als Pendant für die Geisteswissenschaften gründete man die Internationale Akademie-Union (Union Académique Internationale), beide in Brüssel, mit einer Laufzeit bis 1931. Dazu kamen Neugründungen in verschiedenen Disziplinen. Damit vollzog sich endgültig der Übergang zu einer politischen Institutionalisierung des Internationalismus als Grundlage moderner Wissenschaftsorganisation.201 Mit den Neugründungen ergaben sich ebenso wie bei der Ausschlusspolitik große Probleme mit Wissenschaftlern aus neutralen Ländern. Diese kritisierten, auch wenn sie gegen die Deutschen eingestellt waren, diese Politisierung als Verstoß gegen den Geist der Wissenschaft, machten dann aber, um den Anschluss an die organisatorische Entwicklung nicht zu verpassen, doch mit. Gelehrte aus neutralen Staaten wie Spanien, Schweden, Norwegen, Dänemark und den Niederlanden waren später federführend bei den Bemühungen um die Wiederaufnahme wissenschaftlicher Kooperation mit deutschen Gelehrten. Auf dieser Linie lag die Zuerkennung der Nobelpreise für Physik an Max Planck (1918) und Johannes Stark (1919) sowie für Chemie an Fritz Haber (1919), eine Demonstration der Unabhängigkeit der Schwedischen Akademie, 201 Brigitte Schröder-Gudehus, Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit 1914– 1928. Genf: Dumaret & Golay, 1966, 89–134; Daniel J. Kevles, “Into Hostile Political Camps.” The Reorganization of International Science in World War I, in: Isis 62 (1971), 47–60; Paul Forman, Scientific Internationalism and the Weimar Physicists. The Ideology and Its Manipulation in Ger� many after World War I, in: Isis 64 (1973), 151–181.

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die von alliierter Seite mit Bestürzung, von deutscher Seite mit Jubel aufgenommen wurde, schien sie doch zu bestätigen, dass die deutsche Wissenschaft ihre Dominanz nicht in dem Maße eingebüßt hatte, wie es die Blockade intendierte. Max Plancks viel zitierten Worte vom 14. November 1918 – wenige Tage nach dem Waffenstillstand und in der Zeit der Verkündung der Nobelpreise – nahmen darauf Bezug: „Wenn die Feinde unserem Vaterland Wehr und Macht genommen haben, wenn im Innern schwere Krisen hereingebrochen sind und vielleicht noch schwerere bevorstehen, eins hat uns noch kein äußerer und innerer Feind genommen: das ist die Stellung, welche die deutsche Wissenschaft in der Welt einnimmt.“202 Dass sich die deutsche Öffentlichkeit in diesen Monaten, als sie das ganze Ausmaß der Niederlage zu begreifen begann, an solche Beweise für die Anerkennung deutscher Wissenschaft klammerte, ist verständlich. Jedoch war es das Ungünstigste, was der deutschen Wissenschaft zu einem Zeitpunkt widerfahren konnte, da der internationale Boykott gegen sie erst seine volle Stärke erreichte und sie noch nicht einmal verarbeitet hatte, was der Ausschluss aus den Wissenschaftsorganisationen sowohl für ihre Forschungsleistung als auch für Deutsch als Wissenschaftssprache bedeutete. Denn die Anerkennung bestärkte ihre Vertreter in der schon im Kulturkrieg entwickelten Einstellung, dass es den Franzosen und Engländern nur um eine Demütigung der Deutschen gehe. Man fuhr fort, mit der Parole des Durchhaltens zu antworten, und glaubte, damit der Schadenskontrolle enthoben zu sein, vor allem aber der Notwendigkeit, sich dieser Form des politischen Internationalismus unterwerfen zu müssen, mit dem sich die Franzosen eine Vormachtstellung aufgebaut hatten. Der Vorwurf lag nahe, dass sie damit die Defizite ihrer Wissenschaft kompensierten. Wenige Monate vor Plancks alarmiertem Selbstlob pries ausgerechnet Akademiesekretär Hermann Diels, der für sein Eintreten für die internationale Verflechtung der deutschen Forschung bekannt war, vor der Akademieversammlung die Erfolge der deutschen Selbstabschließung: „Wie wir es jetzt lernen müssen und gelernt haben, abgeschnitten von den ausländischen Rohstoffen uns mit dem eigenen Wachstum und Erzeugnis des Landes einzurichten oder Unentbehrliches durch kunstreich erdachte Herstellungsweisen aus vorhandenen Urstoffen neu zu gewinnen, so regt es sich überall in deutschen Landen, und vor allem bei der Jugend, auch in der Sprache allen fremden Zierat abzulegen und in rein deutschem Gewande zu erscheinen.“203 Auf die wis202 Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften. 14. November 1918. XLV (1918), 993. 203 Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, 4.  Juli 1918. XXXIII (1918), 685.

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senschaftlichen Disziplinen im weiteren Sinne übertragen, hieß das, die Selbstabschließung als Stimulans wissenschaftlichen Fortschritts gegen das Potenzial internationaler Informations- und Arbeitsteilung auszuspielen und eine kriegsbedingt nationale Form der Organisation zu perpetuieren.204 Das hatte mit dem, was im Jahr zuvor im preußischen Abgeordnetenhaus über die Notwendigkeit debattiert worden war, der Jugend zu einer besseren Kenntnis über andere Länder zu verhelfen, nichts mehr zu tun, geschweige mit dem Lob der kulturellen Verflochtenheit mit dem Ausland, die Friedrich Naumann 1914 vor dem Werkbund als konstitutiv für die künstlerische und wirtschaftliche Kreativität der Deutschen beschworen hatte. In der bewusst angenommenen Selbstabschließung – auch das Wort „wissenschaftliche Autarkie“ wurde verwendet – trafen verschiedene Traditionen und Tendenzen zusammen, die bereits vor dem Krieg bei voller Entfaltung der deutschen Wissenschaftsorganisation illusionär geworden waren. Um wie viel mehr waren sie es angesichts der Menschen‑, Material- und Kontaktverluste des Krieges. Die deutschen Universitäten setzten alles daran, ihre Ausbildungsarbeit möglichst unverändert fortzuführen, was jedoch nur unter Einschränkung der Forschung geschehen konnte und ausländische Studierende in ihrer Studier- und Bewegungsfreiheit einschränkte.205 Wissenschaftsorganisationen wie die Kaiser-Wilhelm-Institute wurden in die Kriegsforschung eingespannt, erfuhren damit aber kaum größere institutionelle Erweiterungen. Dass man in der Notsituation der deutschen Niederlage die nationalen Ressourcen zur Schaffung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zu bündeln vermochte und damit 1920 eine effektive Organisation nicht nur zum Überleben, sondern zur Fortführung teilweise sehr avancierter Forschung schuf, ließ sich durchaus als Beweis der Stärke der deutschen Wissenschaft interpretieren, trug aber durchweg die Spuren einer verminderten, teilweise katastrophal beschnittenen internationalen Präsenz. Brigitte Schroeder-Gudehus, der entscheidende Forschungen zu dieser Periode der deutschen Wissenschaft zu verdanken sind, hat aufgezeigt, wie mit der Haltung der Selbstabschließung einerseits erstaunliche Ressourcen mobilisiert wurden, die etwa in Mathematik und theoretischer Physik in den zwanziger Jahren tatsächlich eine deutsche Führungsrolle ermöglichten, dies aber andererseits ein deutliches Absinken des internationalen Ni204 Andreas Kleinert, Von der Science allemande zur deutschen Physik. Nationalismus und moderne Naturwissenschaft in Frankreich und Deutschland zwischen 1914 und 1940, in: Francia 6 (1978), 509–525. 205 Andrea Wettmann, Ruhmvoll verödet? – Deutsche Universitäten im Ersten Weltkrieg, in: Kolle� gen – Kommilitonen – Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg, 29–38; Daniela Siebe, „Nattern am Busen der Alma mater.“ Ausländische Studierende an deutschen Universitäten 1914–18, in: ebd., 39–55.

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veaus verschleierte, wofür der wirtschaftlichen Misere die Schuld angelastet wurde.206 Nur einmal in der Geschichte ist Wissenschaft so umfassend zu einer Kultur gemacht worden wie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, zu einer erlernbaren Kultur als Lebens- und Denkform ebenso wie als konstante Bemühung um Fortschritt und Moderne.207 Das geschah in verschiedenen europäischen Ländern, wurde in Deutschland aber wohl am konsequentesten auch als Begründung von Identitäten vorangetrieben (und nicht nur als Verwissenschaftlichung von Gesellschaftspolitik, wie es in späteren Jahrzehnten geschah). In der Emphase, mit der Wissenschaftler gegnerischer Länder den Bruch mit deutscher Wissenschaft und Sprache vollzogen, offenbarte sich häufig ihre langjährige bereitwillige Verflochtenheit mit den spezifisch deutschen und deutschsprachigen Insignien dieser Kultur. Dabei hatte die Erinnerung an Studienjahre in romantischen deutschen Universitätsstädten, mehr noch die dort begonnene Identitätsschaffung als Mitglieder einer vitalen, mit vielen Ritualen etablierten wissenschaftlichen Gemeinschaft einen Anteil daran, dass sie so heftig und polemisch reagierten, als sie sich mit der überheblichen Gleichsetzung von Wissenschaft und deutschem Militär seitens der deutschen Kollegen konfrontiert sahen. So viel guten Willen man der deutschen Wissenschaft als Wahrer dieser Gemeinschaft zugestand, so empört reagierte man auf diesen offensichtlichen Vertrauensbruch. In der Attacke auf die deutsche Wissenschaft polemisierte man auch gegen die eigene Verflochtenheit mit einer älteren, nur scheinbar unpolitischen Wissenschaftskultur.

206 Brigitte Schroeder-Godehus, Internationale Wissenschaftsbeziehungen und auswärtige Kulturpolitik 1919–1933. Vom Boykott zum Gegen-Boykott zu ihrer Wiederaufnahme, in: Forschung im Span� nungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-PlanckGesellschaft, hg. von Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1990, 858–885. 207 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1. München: Beck, 1990, 676–679.

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4. Kapitel Die Kulturpolitik der Weimarer Republik Stresemanns Fazit Gustav Stresemann, dem die auswärtige Kulturpolitik der Weimarer Republik wesentliche Impulse verdankt, brachte das Dilemma der Kulturmacht Deutschland nach dem verlorenen Krieg bei einer Reichstagsrede auf den Punkt: „Solange wir im Sonnenglanz der deutschen Machtstellung standen, waren die fremden Völker eher dazu geneigt, ihre Söhne nach Deutschland zu senden, als in der Zeit, in der wir darum kämpfen müssen, einigermaßen die Stellung zu erhalten, die wir früher gehabt haben.“ Was Deutschland vor dem Krieg durch Macht und Ansehen an Interesse erworben habe, könne in manchen Fällen durch Kultur ersetzt werden. Nun aber müsse man vor allem daran arbeiten, dass all das, was an deutschem kulturellem Gut im Ausland bestehe, erhalten und gefördert werde.1 Stresemann setzte erklärend hinzu, dass die Generation in der Welt aussterbe, die mit der deutschen Kultur eng verbunden gewesen sei. Das war in der Tat der Fall, und der Verlust des Krieges hatte sich auch als ein Verlust des Kulturkrieges in die Weltmeinung eingegraben. Der deutsche Außenminister suchte der verminderten Macht des Reiches in der Welt mit einer aktiven Kulturpolitik aufzuhelfen, welche die deutschen Schulen im Ausland und die deutschen Minderheiten in anderen Ländern förderte, zugleich aber auch die Locarno-Agenda der Versöhnung mit den Westmächten, insbesondere nach Deutschlands Eintritt in den Völkerbund 1926, voranbrachte. Stresemann hatte seine politische Laufbahn im wilhelminischen Deutschland angetreten. Er hatte sich im Reichstag bereits 1911 und erneut 1914 dafür eingesetzt, den deutschsprachigen Minderheiten in anderen Ländern mehr Beachtung zu schenken. Von auswärtiger Kulturpolitik war dabei nicht die Rede gewesen. Deutschlands Machtinteressen sah er vornehmlich durch wirtschaftliche Stärke gewährleistet. An dieser Priorität hielt er auch in der Weimarer Republik fest. Sein Interesse an einer aktiven auswärtigen Kulturpolitik nach 1927 reflektierte eine Tendenz, die sich erst zu einer Zeit breiter durchsetzte, als die kriegsbedingten Konfrontationen abgeebbt waren und die außenpolitische Isolierung der neu geschaffenen Republik schwand. Stresemann hielt Kultur nicht für eine Größe jenseits der Politik, wie man sie zumeist vor 1914 1

Reichstagssitzung vom 24.6.1929. Stenographische Berichte der Verhandlungen des deutschen Reichs� tags, Bd. 425, 2881 f., zit. nach Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918–1932, 228.

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definiert hatte, aber auch nicht für eine Macht diesseits von Politik, wie sie Künstler, Politiker und Visionäre in der revolutionären Phase von 1918/19 beschworen. Seine Einstufung der Wirkung einer nationaler Kultur in Abhängigkeit vom Machtstatus des Landes entsprach seinem Realismus oder, wenn man so will, der Sachlichkeit des Machtpolitikers. Ohne Sentimentalität skizzierte er den Modus, in dem die Weimarer Republik als Folgestaat des Kaiserreiches vom Ausland wahrgenommen wurde.

Kulturpolitik als Weimars Chance Stresemanns Vergleich der verschiedenen historischen Ausgangspositionen kultureller Außenwirkung liefert einen Zugang zum Verständnis dessen, was deutsche Reformpolitiker, wenn sie sich von der Niederlege des Kaiserreiches nicht überwältigen ließen, als ihre Chance sehen konnten: Während die auswärtigen Kulturbeziehungen vor 1914 in ihren vielerlei privaten und halboffiziellen Formen sowohl aus der kulturellen Vielfalt als auch von der Machtstellung des Reiches geprägt worden waren, rückte nun die Hoffnung in den Vordergrund, Kultur selbst zum Vorreiter von Politik aktivieren zu können – in einer nicht mehr von Machteroberungen geprägten Politik staatlicher Neubegründung. Von Anfang an wurde die Weimarer Republik von dieser Hoffnung begleitet, die sich dem in den letzten Kriegsjahren gewaltig anschwellenden Klagelied über die Zerstörung der Kultur entgegenstemmte. Offensichtlich hatten die schon vor dem Krieg vom Deutschen Werkbund und anderen liberalen Geistern ausgearbeiteten, von einigen Experten im preußischen Kultusministerium unterstützten kulturellen Reformbestrebungen so weite Kreise gezogen, dass sich in der Waffenstillstandsperiode 1918/19 ein gewichtiger Teil revolutionärer Energien aus solchen Antrieben speiste. Auch wenn der Werkbund für seine industrielle Ausrichtung und die allzu enge Zusammenarbeit mit den Reichsbehörden während des Krieges bald seitens radikaler Mitglieder wie Adolf Behne, Walter Gropius und Bruno Taut unter Beschuss geriet, die im November 1918 den „Arbeitsrat für Kunst“ mitbegründeten, behielt er auch während seiner zeitweiligen Marginalisierung ein allseits wahrgenommenes Profil als Reservoir ästhetischer Reformideen. Dass der von den Radikalen zu dieser Zeit besonders beargwöhnte Generalsekretär Ernst Jäckh mit dem Vorschlag zum Zuge kam, den neuen Staat mit dem Amt eines Reichskunstwarts zu versehen, der dessen symbolisch-visuelle Präsenz nach innen und außen kreieren und überwachen sollte, wurde allseits als Beweis für den großen Einfluss des Werkbundes auf die Staatsgründung, genauer Staatsbegründung, verstanden.

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Der Ruf nach kultureller Begründung des neuen Staatswesens fand zunächst in dieser Gruppierung von Architekten, Künstlern, Unternehmern und Kulturpolitikern seine nachdrücklichste Artikulation. Aber er wurde auch in den Auseinandersetzungen für und gegen die Nationalversammlung sowie in deren Debatten, etwa den Beratungen über die neue Reichsverfassung, vernehmbar. Besonders bemerkenswert, weil nicht literarisch-künstlerisch pro domo im Sinne expressionistischer Verkündigungen ausgerichtet, war in den ersten Nachkriegsmonaten, der Periode größter Erwartung, Unsicherheit und Zerrissenheit, die Berufung auf Kultur, die der Linksradikale Ernst Däumig in seiner großen Rede gegen die Nationalversammlung vor dem Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte im Dezember 1918 vortrug. Solle das alte Deutschland begraben werden und ein neues erstehen, rief Däumig den Räten zu, „gehe ich mit Mitteln neuer Art heran, die geeignet sind, das deutsche Volk zu einem ganz neuen politischen und kulturellen Leben zu erwecken. Ich lege ausdrücklich Wert auf das Wort kulturell und fasse darin alles zusammen, was nur einigermaßen unter dem Begriff höhere Menschheitsentwicklung verstanden werden kann, nicht bloß von der Magenfrage und von der rein politischen Freiheit aus. Sondern die neue Kultur, die aus diesem Weltbrand entstehen muß, ist es, an die wir bei dieser Gelegenheit und in diesem Raume mit zu denken haben. Wir haben unsere Augen nicht allein zu richten auf die engen Grenzen Deutschlands, die wir heute noch nicht kennen, sondern der Blick muß hinausgehen auf die anderen Länder, die gleichfalls aus tausend Wunden bluten und denen nur Heil gebracht werden kann durch die Kräfte aus der Tiefe, durch die Volksmassen, durch die internationalen Verbindungen.“2 Mit Kultur beschwor Däumig eine über die nationalen Trennungen hinausweisende gesellschaftliche Aufbaukraft, die aus dem Kampf gegen den Krieg ihre revolutionäre Mission beziehen sollte – in deutlicher Abwehr der Verengung des Kulturbegriffs, mit der im Krieg ein Großteil der Propaganda betrieben worden war, und in Aufnahme der Rhetorik der internationalen sozialistischen Weltmission, die sich 1914 so kläglich den Nationalismen untergeordnet hatte. Diese internationale Orientierung des Kulturbegriffs hatte es allerdings unter Deutschen, die nach Versailles die ganze Wucht der Boykottmaßnahmen gegenüber deutscher Wissenschaft und Kultur zu spüren bekamen, schwer, die Periode der Antikriegseuphorie zu überdauern. Die Sozialdemokratie, die, marxistisch und international orientiert, nur auf ihrem revisionistischen Flügel ästhetisch-kulturell gestimmten Reformideen 2

Ernst Däumig, Rede gegen die Nationalversammlung vor dem Allgemeinen Kongress der Arbeiterund Soldatenräte, 19.12.1918, in: Politische Reden III 1918–1945, hg. von Peter Wende. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1994, 122–141, hier 129 f.

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einen gewissen Raum gewährt hatte, konnte sich nach Übernahme der Regierungsverantwortung der Berufung auf die deutsche Kultur deshalb nicht entziehen, da diese zur Herstellung eines Einheitsbewusstseins gegen die auf verschiedenen Seiten drohenden Separationstendenzen unabdingbar war. Hatte der wilhelminische Staat diese Beschwörung im Krieg auch sträflich missbraucht, so erhielt sie nicht zuletzt mit der Einberufung der Nationalversammlung nach Weimar eine neue Dringlichkeit. Bekanntermaßen war die Wahl Weimars nicht wegen der Assoziation zur deutschen Klassik erfolgt. Sie geschah vielmehr aus dem Grund, in der kleinen Provinzstadt vor den revolutionären Kämpfen in Berlin geschützt zu sein.3 Sobald aber das Nationaltheater, vor dem Goethe und Schiller sich als Wächter und Propheten des deutschen Geistes die Hand reichen, als Stätte der „Verfassungsgebenden Versammlung der deutschen Nationen“ ausgewählt worden war, bekam die Berufung auf den „Geist von Weimar“ zumindest zu Beginn der Verhandlungen eine gewisse legitimierende Kraft. Friedrich Ebert fand in seiner Eröffnungsansprache viel zitierte Worte für diese symbolische Inanspruchnahme der klassischen deutschen Kultur zugunsten des neuen Staatswesens: „Wie der 9. November 1918 angeknüpft hat an den 18.  März 1848, so müssen wir hier in Weimar die Wandlung vollziehen vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe. Es charakterisiert durchaus die nur auf äußeren Glanz gestellte Zeit der Wilhelminischen Ära, das Lassallesche Wort, dass die klassischen deutschen Denker und Dichter nur im Kranichzug über sie hinweggeflogen seien. Jetzt muß der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen.“ In dem Geiste praktischen Handelns, wie ihn Goethe im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfasst habe, müsse Deutschland eine starke Demokratie „mit wahrem sozialen Geist und sozialistischer Tat“ erfüllen.4 Eberts Worte entsprachen in ihrer Ausrichtung an der literarischen Klassik der Auffassung von Kultur, die in der Sozialdemokratie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben den Schriften von Marx, Engels und Darwin zum Fixpunkt der Bildungsarbeit avancierte. Der Humanismus Lessings, Schillers und Goethes war darin als Versprechen einer besseren Gesellschaft gegen das bloße kulturelle Besitzdenken des wilhelminischen Bürgertums ins Feld geführt worden. Was immer dieser rückwärtsgewandten Beschwörung von Goethe und Fichte an konkreten Inhalten fehlte, Ebert machte mit ihr deutlich, dass diese 3 4

Walter Oehme, Erinnerungen an die Weimarer Nationalversammlung 1919, in: Weimar im Urteil der Welt. Stimmen aus drei Jahrhunderten. Berlin/Weimar: Aufbau, 1977, 291–295. Friedrich Ebert, Rede zur Eröffnung der Verfassunggebenden Nationalversammlung, 6.2.1919, in: Politische Reden III 1914–1945, 244–253, hier 252 f.

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deutsche Staatsgründung in einem Geiste erfolgte, der sich vom Militarismus der Bismarck’schen Gründung grundsätzlich unterschied. Weimar, nicht Potsdam hieß das abgekürzt, und damit kam der Kultur, die Bismarck als politische Kraft bewusst beiseitegeschoben hatte, von vornherein ein repräsentativer Platz zu. Das Problem der Kulturpolitiker, das heißt derer, die sich wie Carl Heinrich Becker und der rechte Sozialdemokrat Konrad Haenisch in der Debatte um die preußische Kulturpolitik einen Namen gemacht hatten, bestand darin, Kultur vom bloß repräsentativen Element als Manifestation deutscher Einheit zu einem Teil der tatsächlichen Verfassungswirklichkeit zu machen. Das geschah im Verfassungsausschuss, dem Becker auf Veranlassung des Initiators der neuen Verfassung, Hugo Preuß, mit der Denkschrift Kulturpolitische Aufgaben des Reiches (1919) zuarbeitete, die häufig als Gründungsdokument der Kulturpolitik der Weimarer Republik angesehen worden ist. Das ist sie insofern, als Becker, ein tief im nationalen Denken des wilhelminischen Staates verankerter Professor, damit argumentierte, dass das Kaiserreich keineswegs ohne kulturpolitische Ansätze geblieben sei, man aber nun darangehen müsse, die falsch konzipierten, durch Militarismus und Wirtschaftsdenken verzerrten Ansätze in eine gesamtgesellschaftlich, am Volk orientierte Kulturpolitik zu überführen. Ganz im Sinne von Hugo Preuß forderte Becker, den geistigen Partikularismus zu überwinden und dem Reich zentrale Verantwortung für eine nationale Bildungspolitik zu verschaffen. Das bedeutete die Übertragung des Kultur- und Erziehungsprivilegs, das Bismarcks Verfassung den Bundesstaaten zuerkannt hatte, auf die Reichsregierung. Es bedeutete darüber hinaus, die Reichsgewalt selbst kulturell zu verankern und auch innenpolitisch, nicht nur im Bereich der auswärtigen Politik als Entscheidungsträger für die Erhaltung und Repräsentation deutscher Kultur zu etablieren. Genau diese Zentralisierung, die der nach wie vor unsicheren Reichsgewalt ein weiteres Fundament verschafft hätte, scheiterte am Widerstand der Einzelstaaten, insbesondere Bayerns. Man nahm in die Verfassung nur eine Reichskompetenz in der Rahmengesetzgebung für das Erziehungswesen auf (Artikel 10, 2: „Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen für das Schulwesen einschließlich des Hochschulwesens und das wissenschaftliche Büchereiwesen.“) Diese Reichskompetenz konnte in der Folgezeit aus finanzpolitischen Gründen kaum praktiziert werden. Die von Becker aufgestellte Forderung nach einem Reichskultusministerium verwirklichte sich nicht. Stattdessen stellte die erwähnte Schaffung der kleinen Behörde des Reichskunstwarts nur eine symbolische Verneigung vor dem Gedanken zentraler Kulturpolitik dar, die ihr Inhaber, Edwin Redslob, zumindest in den ersten Jahren zu einer bemerkenswert wirkungsvollen Kulturinstanz des Staates ausbaute. Die einzige umfassende Zentralisierungsreform, die, abgesehen von der demokratischen Begründung der Reichsregierung, in

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dieser Gründungsphase gelang, war die von dem Finanzminister im Kabinett Gustav Bauer, Matthias Erzberger, geschaffene einheitliche Finanzverfassung, die das Reich fiskalisch absicherte und ein Steuersystem schuf, das das Jahrhundert überdauert hat. Das Scheitern von Beckers Zentralisierungsplänen auf Reichsebene – das auch die mit großer Erwartung einberufene Reichsschulkonferenz 1920 betraf – bedeutete nicht, dass sein mit viel Enthusiasmus vorgetragenes Plädoyer für die Schaffung einer in der schulischen Erziehung wurzelnden gesamtgesellschaftlichen Kulturpolitik verloren ging. Kultusminister Konrad Haenisch und sein Staatssekretär Becker vermochten das preußische Kultusministerium, das bereits 1916/17 mit Beckers pädagogisch untermauerter Denkschrift zugunsten von Auslandsstudien die Debatte über Kulturpolitik vorangebracht hatte, zu einem Umschlagplatz für kulturpolitische Initiativen auszubauen. Trotz der grundsätzlichen Empfehlungen, die Becker in Kulturpolitische Aufgaben des Reiches an den Verfassungsausschuss richtete, lässt diese Denkschrift nur einen Teil des Spektrums von politischen Programmen und Initiativen zur Kulturund Schulpolitik 1918/1921 erkennen. Keine Partei, die im Reichstag vertreten war, wollte versäumen, der nach der Niederlage des Reiches zumindest in diesem Zeitpunkt üblich gewordenen Referenz auf Kultur und Kulturpolitik nachzukommen. Mit Ausnahme der radikalen Linken (USPD, KPD) nahm jede Partei in ihr Nachkriegs- oder Gründungsprogramm eine Sektion über Kultur- und Schulpolitik auf. Gemeinsam war diesen Sektionen die Berufung darauf, dass Kultur das einigende Band des neuen Deutschland darstelle und dem Volke voll zugänglich gemacht werden müsse. Die Reihe der kulturellen Grundrechte erstreckte sich von der freien Ausübung des Glaubens und der künstlerischen Arbeit sowie der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit bis zum Besuch der Einheitsschule. Dem stellte das Zentrum die „Erhaltung und Kräftigung des christlichen Kultur- und Erziehungsideals im Volksleben“ voran und die Deutsche Volkspartei die Feststellung, „[d]eutsches Wesen besteht von alters her in dem Streben nach freier Entfaltung des einzelnen und seiner Eigenart im Rahmen der vom Gemeinsinn beherrschten Volksgesamtheit. Deutsches Wesen zu pflegen und ihm Geltung und Achtung in der Welt zu erringen, ist das Bestreben der Deutschen Volkspartei“. Die Deutschnationale Volkspartei machte ihre Opposition zur Revolution und zur neuen Republik mit scharfem Antisemitismus kund und sagte dem freien Geist unmissverständlich den Kampf an: „Deshalb kämpfen wir gegen jeden zersetzenden, undeutschen Geist, mag er von jüdischen oder anderen Kreisen ausgehen.“5 5

Aufruf und Leitsätze der Deutschen Zentrumspartei vom 30. 12. 1918; Deutsche Volkspartei. Grundsätze. Oktober 1919; Deutschnationale Volkspartei, Grundsätze 1920, in: Deutsche Partei�

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Ganz lapidar konstatierte die SPD im Görlitzer Programm von 1921, als zolle sie bereits der Desillusion über die Möglichkeiten kultureller Politik Tribut: „Recht aller Volksgenossen an den Kulturgütern. Oberstes Erziehungsrecht der Volksgemeinschaft.“ Erwartungsgemäß postierte sich die Deutsche Demokratische Partei unter ihrem ersten Vorsitzenden Friedrich Naumann als die Partei mit der ausführlichsten Agenda auf diesem Gebiet. In Anspielung auf die fehlgegangene Politik des Kaiserreiches postulierte sie die Maxime, aus dem Irrtum zu lernen: „Nicht Unterdrückung der Persönlichkeit, nicht Drill und Abrichtung des einzelnen sind notwendig, sondern die Ehrfurcht vor jeder Überzeugung. Wir glauben an die Kraft der Wahrheit, den Irrtum zu überwinden! Auf solchen Grundlagen erhebt sich die höchste Schöpfung menschlichen Geistes: der Kulturstaat.“6 Rechte und Pflichten der Frauen, die mit der Republik das Wahlrecht erhalten hatten, wurden explizit von SPD, DVP, Zentrum und DNVP erwähnt. Wie am Beispiel von Hugo Preuß weithin wahrgenommen, verstand sich die Integration von Juden ohne spezielle Erwähnung; jedoch gehörte zu den antijüdischen Spitzen der Deutschnationalen der Hinweis, dass die Weimarer Verfassung von einem Juden entworfen worden sei. Das Interesse an den kulturpolitischen Weichenstellungen währte nicht lange, jedoch blieb die dabei artikulierte Programmatik ein entscheidendes Identifikationsmerkmal der Weimarer Parteien. Sie bekam bei der Werbung unter Jugendlichen und Studenten eine aktivierende Funktion. Ihrer war sich Becker, der ab 1925 als preußischer Kultusminister agierte, zunehmend bewusst. Wie zuvor schon Haenisch musste er sich bei der demokratischen Reformierung von Schule und Hochschule harte Attacken von nationalistischen rechten Studentengruppen gefallen lassen. Auf tragisch-ironische Weise entwickelte sich die Berufung auf Kultur, die in der Gründungsphase der Herstellung der größeren Gemeinschaft gegolten hatte, zu einem der Zerklüftungsfaktoren der Weimarer Republik. Nicht zu Unrecht hat man von Teilkulturen gesprochen, die sich in den verschiedenen politischen Milieus der Arbeiterorganisationen, der Rechtsradikalen und Antisemiten, der bürgerlich-linksliberalen und bürgerlich-völkischen Gruppierungen ausbildeten und unter den erneuten Krisensymptomen um 1930 teilweise unter Einsatz von Straßengewalt gegeneinander richteten.7 Wenn später das Etikett ‚Weimarer Kultur‘ zur Charak­ terisierung benutzt worden ist, so geschah das aus historischer Nostalgie ge­ genüber einer kulturell höchst kreativen Periode, beruhte jedoch auf einer 6 7

programme, hg. von Wilhelm Mommsen. München: Isar, 1960, 484, 519, 538. Das Görlitzer Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1921; Deutsche Demokra� tische Partei. Programm, Dezember 1919, in: Deutsche Parteiprogramme, 457, 510. Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weima� rer Republik, hg. von Detlef Lehnert und Klaus Megerle. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990.

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12 Konrad Haenisch, Preußischer Kultusminister 1918–21, vor seinem Wahllokal bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 (vorne links). In: Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz Nr. 30023976

unhistorischen Bereinigung der scharfen Konfrontationen, in denen Kultur – als ideologisches Programm wie als rhetorische, literarische und künstlerische Praxis – im Parteienkampf eingesetzt worden war. Das schloss Entwürfe dafür ein, wie das Reich von den anderen Völkern eingeschätzt werden sollte. All dies lässt sich jedoch nicht ohne den kulturpolitischen Aufbruchsgeist der Monate vor der Verkündung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919 denken. Er erfasste den Linksradikalen Ernst Däumig ebenso wie den Liberalen Friedrich Naumann, preußische Behördenvertreter wie Carl Heinrich Becker und Johannes Sievers und – unter Sozialdemokraten die Ausnahme – den als Nachfolger von Friedrich Schmidt-Ott gekürten Kultusminister Konrad Haenisch. Er erfasste, neben den erwähnten linken Mitgliedern des Werkbundes, die mit bildenden Künstlern im Berliner „Arbeitsrat für Kunst“ zusammen­ arbeiteten, literarische Eliten, die mit expressionistischen Aufrufen zum Sturz der wilhelminischen Kommandogesellschaft hervortraten. Zur zentralen Figur dieser teilweise staatlich, teilweise antistaatlich ausgerichteten kulturpolitischen Aufbruchsphase avancierte Konrad Haenisch, der sich 1916/17 kritisch in die Debatte um die Initiative für Auslandsstudien im Preußischen Abgeordnetenhaus eingeschaltet und dort am 5. Juni 1918 die erste Grundsatzrede für eine

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neue Kulturpolitik gehalten hatte. Haenisch entwarf in dieser Rede bereits vor Kriegsende Gedankengänge einer neuen sozialistischen Nachkriegskultur, die auf dem Volksbegriff, jedoch nicht dem Militarismus und Nationalismus der „Ideen von 1914“ aufbaue. Sie müsse sich der Hervorbringung eines „neuen deutschen Menschentyps auf der einen Seite und der Hervorbringung von neuen deutschen Führerpersönlichkeiten auf der anderen Seite“ widmen.8 Während Haenisch mit der ersten dieser beiden Forderungen sowohl dem expressionistischen Zeitgeist wie dem sozialistischen Ideal Respekt erwies, traf er mit letzterem Postulat einen entscheidenden Schwachpunkt deutscher Politik: den Mangel an geeigneten Eliten und Führern, den Max Weber oft beschwor und für den er England als Gegenbeispiel darstellte, dessen parlamentarisches System diese Führer hervorbringe. Haenisch griff diesen Punkt in seinem rhetorisch mitreißenden Vortrag – wohl dem eindrucksvollsten öffentlichen Plädoyer dafür in dieser Zeit – vor großem Publikum in der Berliner Handelshochschule am 3.  Februar 1919 wieder auf, in dem er seine Vision einer gesamtgesellschaftlichen demokratischen Kulturpolitik ausbreitete. Es sei nun einmal so, dass es „uns während des ‚ganzen Krieges‘ in unserer äußeren und inneren Politik usw. an großen, überragenden Führerpersönlichkeiten gefehlt“ habe; nur das Militär habe sie mit Hindenburg und Ludendorff hervorgebracht. Man müsse sie aber nun durch eine grundsätzliche Reform der Schule und Hochschule heranbilden.9 Den schulischen Reformen widmete Haenisch in der Folgezeit einen Großteil seiner Energie. Hier folgte ihm ein Teil seiner Partei, wenn auch seine Hoffnung, dass auf dem Boden von Demokratie und Sozialismus „eine neue geistige Aristokratie“ entstehe, die nichts mit der Geburts- und Geldaristokratie mehr zu tun habe, die meisten Sozialdemokraten als allzu bürgerlich-elitär anmutete.10 Haenisch machte aus der Tatsache, dass er auf dem rechten Flügel der SPD stand, kein Hehl, nahm das vielmehr zum Anlass, die weitgehende Abstinenz seiner Partei von kulturpolitischer Arbeit zu kritisieren (was er dann 1921, als er nicht mehr preußischer Kultusminister war, in seiner Schrift Neue Bahnen der Kulturpolitik breiter ausführte). Eine ähnliche Kritik kam von einem linken Sozialdemokraten, dem USPD-Ministerpräsidenten von Bayern, Kurt Eisner, der wenige Wochen darauf erschossen wurde. Mit Eisner teilte Haenisch die Teilnahme in der von der Novembergruppe als

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Konrad Haenisch, Sozialdemokratische Kulturpolitik. Berlin: Schwetschke, 1918, 15, 25. Kulturpolitische Aufgaben. Aus dem Vortrag des Kultusministers Konrad Haenisch gehalten am Montag, den 3. Februar 1919 in der Handelshochschule zu Berlin. Berlin: Arbeitsgemeinschaft für staatsbürgerliche und wirtschaftliche Bildung [1919], 18. 10 Kulturpolitische Aufgaben, 13.

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revolutionäres Pamphlet verbreiteten Schrift An alle Künstler!, die mit einem „Aufruf zum Sozialismus“ begann.11 Haenisch vertrat seinen Führungsanspruch mit einer der wilhelminischen Beamtenkultur und der SPD-Hierarchie ungewohnten Nonchalance, deren bestes Zeugnis, abgesehen von dieser Ansprache, sein „Offener Brief“ an Professor Samuel Saenger vom 30. November 1918 darstellt. Dieser Brief, in der Neuen Rundschau zu Beginn des Jahres 1919 abgedruckt, ist ein Meisterwerk informeller Programmvorschau darauf, was das inzwischen in „Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung“ umgetaufte preußische Kultusministerium tun solle und müsse. Der persönliche, ironisch-selbstkritische Ton bezeugt, dass sich die neue Konzentration auf Kultur- als Gesellschaftspolitik seit Längerem vorbereitet hatte, zugleich aber auch, dass ihm, der nun am Schalthebel saß, jegliche pathetische Überhebung im Umgang mit Kultur und Kulturpolitik fernlag. Selbst für den ihm von der USPD beigesellten Ko-Kultusminister Adolph Hoffmann, der wenig Verständnis für Kultur einbrachte, die USPD-Linie hochhielt und mit ihr im Januar 1919 das Kabinett verließ, hatte er gute Worte, wenn er neben Rücksichtslosigkeit und Einseitigkeit dessen Mutterwitz und „reines Wollen“ lobte.12 Schon im Stil seiner Adressen an die Öffentlichkeit strahlte Haenisch somit aus, was dann die Inhalte seines Programms ausmachen sollte: endlich zivil sein, endlich ohne Kommando­ gesellschaft Kunst und Kultur fördern, in einer zivilen Gesellschaft die „großen Berufsorganisationen der deutschen Kulturwelt“ zur Mitarbeit auffordern, Theater- und Musikwelt ohne Auswüchse des Kapitalismus reorganisieren (wozu die Umwandlung der königlichen Theater in Berlin, Hannover, Kassel und Wiesbaden in Nationaltheater gehörte) und alles unter das Motto stellen: „Freie Bahn allen ‚Richtungen‘ und – was wichtiger ist – allen Persönlichkeiten schaffen, auch denen, die bisher im Schatten stehen mußten: das wollen wir allerdings!“13 Noch pointierter und schwungvoller beschwor Haenisch die Aufgaben der deutschen Kulturpolitik in seiner Rede in der Handelshochschule: „Es gibt im parteipolitischen Sinne keine konservative Baukunde, es gibt keine nationalliberale Theaterreform, es gibt keine freisinnige – heute sagt man ja wohl demokratische – Chemie, es gibt keine mehrheitssozialistische oder unabhängige Auffassung von der besten Art und Weise, wie man ein Museum leitet, und ich glaube, es gibt nicht einmal eine spartakistische Liebeslyrik; wenn es eine solche geben sollte, dann wird sie auch danach sein. (Große Heiterkeit.) 11 Joan Weinstein, The End of Expressionism. Art and the November Revolution in Germany, 1918– 19. Chicago: University of Chicago Press, 1990, 50–62. 12 Konrad Haenisch, Aus dem neuen Kultusministerium. Ein offener Brief an Professor Saenger, in: Neue Rundschau 30:1 (1919), 17–27, hier 20. 13 Haenisch, Aus dem neuen Kultusministerium, 22 f.

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Nein, davon ist gar keine Rede, das ganze, vielgestaltige Kulturleben nun irgendwie parteipolitisch einpressen und abgrenzen zu wollen. Ich halte es vielmehr für meine wesentlichste und schönste Aufgabe, anregend, organisierend, fördernd alle lebendigen Kulturkräfte in unserem deutschen Leben zu freier Mitarbeit heranzuziehen. (Lebhafter Beifall.)“14 Sucht man nach einem Gründungsdokument für das Engagement an moderner Kunst und Kultur in der Weimarer Republik, die in Design, Architektur, Musik und Theater Gipfelleistungen hervorbrachte, so kann man es in dieser öffentlichen Rede eines höchst unkonventionellen Repräsentanten der Aufbruchsphase 1918/19 finden. Haenisch berief die große Chance der Künstler, Schriftsteller, Schul- und Universitätsreformer, sich, soweit es sich finanziell einrichten ließ, auf Experimente einzulassen. Er berief die Chance, eine der Zeit und dem Volk gemäße moderne Kultur zu schaffen, und rechnete die konstitutive Rolle der Juden als selbstverständlich hinzu. Aber Haenisch ließ zugleich die Illusion erkennen, die dieser Kultur der Weimarer Republik bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten anhaftete: dass sie sich gegen die Partei- und Partialkulturen ohne Weiteres behaupten werde. Eine langfristig wirksame Stütze dieser Kulturpolitik bildete die Kooperation mit dem Deutschen Werkbund. Haenisch machte dessen erste Ausstellung nach dem Kriege, die sich im April 1919 „einfachem Hausrat“ widmete, im Berliner Kunstgewerbe-Museum möglich. In der Eröffnungsrede betonte er, dass er und seine Freunde schon vor 1914 die Werkbundaktivitäten begrüßt hätten, weil sich hier ein Bund zwischen Kultur und Arbeit anzubahnen schien, „der gefunden werden muß, wenn wir eine Zukunft haben wollen.“15 Vom selben Geiste war die von der (Reichs‑)Zentrale für Heimatdienst im März 1919 herausgegebene Schrift Der Geist der neuen Volksgemeinschaft, in der sich Vertreter der verschiedensten Professionen – Max Scheler, Arnold Zweig, Gustav Radbruch, Wichard von Moellendorff, Karl Korsch, Kasimir Edschmid und Peter Behrens – in der Forderung vereinigten, dass die neue, der Volksgemeinschaft verpflichtete Kulturpolitik „gleichlaufend mit den sozialen und wirtschaftlichen Reformen“ ihre Maßnahmen treffen solle.16 Haenischs Stern sank mit dem Scheitern der Schulreformen (er wurde 1921 abgelöst), und seine Rede wurde vergessen. Jedoch blieb in der Folge das preußische Kultusministerium den Linien der von ihm umrissenen progressiven Kulturpolitik treu, förderte moderne Kunst und Kultur, internationale Hoch14 Kulturpolitische Aufgaben, 11. 15 Zit. nach Kristina Kratz-Kessemeier, Kunst für die Republik. Die Kunstpolitik des preußischen Kul� tusministeriums 1918 bis 1932. Berlin: Akademie, 2008, 174. 16 Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, hg. von der Zentrale für Heimatdienst. Berlin: Fischer, 1919, 2.

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schulbeziehungen und den Abbau der Kriegskonfrontationen in der Wissenschaft. Trotz bürokratischer Verfilzung und regressivem Beamtentum erwies sich das Ministerium unter Becker als Stütze jener gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Kultur der Modernität, die die Republik überlebte, in ihrer Innovationskraft jedoch erst nach ihrer Zerstörung durch die Nationalsozialisten voll erkannt wurde. Was weder Haenisch noch Becker entscheidend beeinflussen konnten, war der Mangel an finanziellen Mitteln, der den Aktivitäten schmerzliche Grenzen zog. Immerhin etablierte sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre besonders in Berlin eine zunehmende Anzahl privater Organisationen und Stifter, die einem weltoffenen Kulturaustausch eine Basis verschafften, auf welcher der Staat entweder nicht in Erscheinung treten sollte oder aus finanziellen Gründen nicht konnte. Hier machte die wieder entstehende Zivilgesellschaft, die zu Beginn der zwanziger Jahre von der Inflation gelähmt worden war, Aktivitäten möglich, die zu der Zeit von Stresemanns Locarno-Kurs auch die kulturellen Auslandsbeziehungen, insbesondere mit den Westmächten, belebten.

Die Widersprüche auswärtiger Kulturpolitik nach dem Kulturkrieg Die Einrichtung der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt 1920 trug das Signum einer Reform, mit der die Weimarer Republik aus dem Schatten des Kaiserreichs, das nichts dergleichen aufzuweisen hatte, heraustreten sollte. Allerdings entsprang die Vorstellung, dass Kulturpolitik zum Aufbau des neuen Staates beitragen konnte, eher der innenpolitischen Dynamik als dem Bedürfnis von Diplomaten, dem Umbruch nach außen offizielle Gestalt zu geben. Ihnen fiel es besonders schwer, diesen Umbruch als Neuanfang, nicht als Niederlage zu verstehen. So fruchtbar sich das Konzept von Kulturpolitik, das die bisher scharf getrennten Sphären von Politik und Kultur vereinigte, in Zusammenschlüssen von Künstlern, Wissenschaftlern, Unternehmern oder Parteiorganisatoren als Referenz benutzen ließ, so problematisch war es, wenn sich ausgerechnet das Auswärtige Amt seiner annahm, das zusammen mit der Obersten Heeresleitung während der Kriegsjahre die Nachrichten- und Propagandapolitik des Reiches verantwortet hatte. Gerade im Ausland blieb die Tatsache gegenwärtig, dass diese Behörde nach dem mit aller Heftigkeit geführten und im Boykott der deutschen Wissenschaft weiter schwelenden Kulturkrieg gerade das repräsentierte, was deutsche Kultur zutiefst verdächtig gemacht hatte: ihr unverhüllter Einsatz als Instrument nationaler Machtinteressen.

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Wenn sich im Ausland im Laufe der zwanziger Jahre dank der expandierenden deutschen Filmindustrie sowie der Ausstrahlung der neuen Architektur, Kunst und Designkultur ein neues Interesse an deutscher Kultur regte, geschah das gerade deshalb, weil diesen stimulierenden und provokativen Neuerungen nicht der Stempel amtlicher Inanspruchnahme aufgedrückt wurde. Was hingegen als Reichspolitik daherkam, dem wollte sich das Publikum in anderen Ländern nicht aussetzen. Gewiss gab es viele legitime Gründe, die zur Einrichtung der Kulturabteilung führten, sie lieferten aber keine Richtlinien dafür, wie deutsche Kultur für diese Republik zu propagieren sei, geschweige wie man Kultur überhaupt definieren und von der gewohnten Propaganda separieren solle.17 Das aber wurde verlangt, wenn man sich von den bisherigen Praktiken distanzieren wollte. Da es nicht geschah, hingen der deutschen auswärtigen Kulturpolitik lange Zeit sowohl bei ihren innerdeutschen Organisatoren als auch ihren ausländischen Empfängern ihre Ursprünge im Kriege an. Ohne neues Konzept konnte der bloße Verwaltungsakt die Spuren nicht verwischen, welche die deutsche Kulturpolitik bei der Verwaltung besetzter Gebiete wie Belgien, Frankreich und den slawischen Regionen im Osten hinterlassen hatte. Wenn es dann in den ersten Nachkriegsjahren besonders bei der nationalistischen Rechten üblich wurde, die Gründe für Deutschlands Niederlage vom Feld der verlorenen Schlachten auf das Gebiet der Medien, sprich Propaganda, zu verschieben, geriet auch die amtliche Kulturpolitik ins Schussfeld. Allerdings vermied man es, da man in den Verlautbarungen die Beschwörung der deutschen Kultur als Referenz für die nationale Regeneration brauchte, der fehlgeschlagenen Verwendung deutscher Kultur als Kriegslegitimierung ebenso den Prozess zu machen wie den Anstrengungen der amtlichen Propaganda. Zur Dolchstoßlegende, wie sie ausgerechnet Ludendorff, der den Propagandaapparat in den letzten Kriegsjahren geleitet und modernisiert hatte, auch aus dem Versagen der Propaganda, nicht nur dem der ‚Heimatfront‘ entwickelte, wurde Kultur im Allgemeinen nicht herangezogen. Das heißt jedoch nicht, dass der Kulturzerstörungsdiskurs der Kriegsjahre nicht sofort auch auf die Akteure der revolutionären Umbruchsjahre 1918/20 angewendet wurde. Im Gegensatz zum preußischen Kultusministerium und dem Reichsinnenministerium, das unter dem liberalen Minister Erich Koch-Weser die Stelle des Reichskunstwarts einrichtete und der Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer das Referat für Schule und Volkswohlfahrt in der neu installierten Kulturabteilung überantwortete, werteten die Verantwortlichen des Auswärtigen Amtes, von denen die meisten nach den revolutionären Unruhen im Winter 1918/19 in 17 Wie schwierig es war, die Definition von Kulturpolitik vom Begriff der Propaganda zu lösen, belegt Düwell in seiner grundlegenden Darstellung: Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918–1932.

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ihre Behördenzimmer an der Wilhelmstraße zurückkehrten, die Revolution eher als Störfaktor denn als Impuls zu einer neuartigen Vertretung der geschlagenen Nation. Während sich die genannten Ministerien, deren Personal sich ebenfalls im Wesentlichen erhalten hatte, mithilfe einer neuen Kulturpolitik die Distanz zum Kaiserreich manifest machten und dafür in der Nationalversammlung und dann im Reichstag die Unterstützung der meisten Parteien erhielten, verwandte das Auswärtige Amt keine Mühe darauf, eine solche Distanz mehr als verwaltungsmäßig zu demonstrieren. Nicht vergessen werden darf, dass der langjährige Leiter der Kulturabteilung, Friedrich Heilbron, bis Kriegsende die mit mehreren Hunderten Beamten und Angestellten arbeitende Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes geleitet hatte. Diese nationalkonservative Kontinuität bleibt auch dann bestehen, wenn man berücksichtigt, dass Heilbron Erfahrung, Takt und Können konzediert worden ist.18 Der auswärtige Dienst stellte sich auf die neuen Machtverhältnisse um, versagte sich aber Äußerungen eines grundsätzlichen Kurswechsels, die den Verdacht schüren konnten, das Deutsche Reich ins Unrecht zu setzen und dadurch die Verhandlungsposition den Siegern gegenüber zu schwächen. Kontinuitäten ergaben sich verwaltungsmäßig vor allem dadurch, dass Referate, die zuvor in der Nachrichten- bzw. Presseabteilung angesiedelt waren, neben dem Schulreferat aus der Rechtsabteilung zur Grundlage der neuen administrativen Einheit „Kulturabteilung“ avancierten. Abgesehen von der neuen Aufgabe, der Pflege des Deutschtums im Ausland, etablierte sich die neue Abteilung (zunächst IX, ab 1922 VI) im Wesentlichen als eine administrative Anlauf- und Kontrollstelle für die grenzüberschreitenden Aktivitäten. So gelangte Kultur als verwaltete Kultur zu einer eigenen Abteilung im Amt, während sie als Teil einer neuen republikanischen Agenda nur zögernd, oft widerwillig in den Gedankenhaushalt eingebaut wurde. (Der geplante Kulturbeirat mit Kultursachverständigen, die der Gestaltung der auswärtigen Kulturpolitik Profil geben konnten, verwirklichte sich nicht und wurde schließlich ganz aufgegeben.19) Die Abteilung verwaltete, grob zusammengefasst, das Auslandsschulwesen, das ab 1906 dem Schulreferat der Rechtsabteilung unterstand und im Krieg völlig zusammengebrochen war; die Betreuung deutscher wissenschaftlicher Institute im Ausland, etwa der archäologischen Institute in Rom und Athen, sowie der internationalen wissenschaftlichen Vernetzung, die, von 18 Über die Nähe Heilbrons zum republikgegnerischen Herausgeber der Deutschen Rundschau, Rudolf Pechel, s. Volker Mauersberger, Rudolf Pechel und die „Deutsche Rundschau“. Eine Studie zur kon� servativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik (1918–1933). Bremen: Schünemann, 1971, 185. 19 Manfred Abelein, Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag, 1968, 114 f.

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den Hochschulen und Akademien sowie vom preußischen Kultusministerium initiiert, vom Boykott seitens der Feindmächte besonders in den ersten Nachkriegsjahren stark beeinträchtigt war; Auswandererfragen, Kirchenfragen und Kontakte mit Reichsdeutschen im Ausland, welche der Rechtsabteilung unterstanden hatten. Neu und besonders arbeitsaufwendig war die Betreuung der Auslandsdeutschen, die als Reichsdeutsche nach dem Krieg zu Tausenden wieder ins Reich zurückströmten, sowie der seit Langem in anderen Ländern lebenden deutschen Minderheiten und der Grenzlanddeutschen, deren Siedlungsgebiete mit dem Vertrag von Versailles 1919 vom Reich abgetrennt und den Nachbarländern Polen, Frankreich, Belgien, Dänemark und Litauen zugeschlagen worden waren. Für Letztere geriet man allerdings konstant in Kompetenzstreitigkeiten mit dem Innenministerium, dem ein Staatssekretariat für die besetzten Gebiete angegliedert war. Schließlich erhielt die Betreuung von Kunstgewerbe, Ausstellungen, Theater und Musik, welche die Nachrichtenabteilung des Amtes seit 1917 aktiviert hatte, ihr Verwaltungsreferat mit einem entsprechenden Fond. Für sie holte man aus dem preußischen Kultusministerium mit Johannes Sievers einen besonders befähigten, der modernen Kunst gegenüber aufgeschlossenen Organisator. Für den Film hatte das Auswärtige Amt zusammen mit der Obersten Heeresleitung bereits 1917 ein Bild- und Filmamt (Bufa) gegründet. Der Film gehörte zu den Zuständigkeitsbereichen der Kulturabteilung ebenso wie die Pressearbeit, in der sich die Debatten um die Propagandaausrichtung auswärtiger Kulturpolitik kristallisierten. Wäre diese Akkumulation von Verwaltungsarbeit in einer eigenen Abteilung nicht als Teil der schon lange antizipierten, intern allerdings nur widerwillig hingenommenen sogenannten Schüler’schen Reformen 1919/20 entschieden worden, hätte sich wohl noch wesentlich mehr Widerstand dagegen entwickelt, als es tatsächlich der Fall war. Nicht unberechtigt war der vielfach geäußerte Unmut über das Neuland kultureller Verwaltung, dem sich Diplomaten und Bürokraten, die sich mit genügend Arbeit eingedeckt fühlten, bis dahin erfolgreich entzogen hatten. Verwaltungstechnisch bedeutete die Einrichtung der Kulturabteilung, dass nun die Botschaften und Konsulate offiziell zur Durchführung kulturpolitischer oder zumindest werbender Initiativen in die Pflicht genommen werden konnten. Das verlangte sowohl auf der diplomatischen wie der konsularischen Ebene, die der Reformer Edmund Schüler integriert hatte, ähnlich wie im Hinblick auf die neuen handelspolitischen Aufgaben Kenntnisse, für die der auswärtige Dienst das Personal bisher nicht vorbereitet hatte.20 All das stellte einen Teil einer viel größeren und schmerzlicheren Umstellung 20 Fritz von Twardowski, Anfänge der deutschen Kulturpolitik zum Ausland. Bonn-Bad Godesberg: Inter Nationes, 1970, 18 f.

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dar, die sich aus der Niederlage eines Staates ergab, der Macht ausgestrahlt hatte und nun einer Republik Platz machte, um deren Anerkennung man werben sollte, obwohl man sie selbst häufig missbilligte. „Tennis spielen, jagen, Gothaer Kalender, diese Zeiten sind für den deutschen Diplomaten vorbei“, mahnte ein Insider des diplomatischen Dienstes im Februar 1919 in den konservativen Süddeutschen Monatsheften. „Wir können es uns wirklich nicht leisten, durch unserer Vertreter Verhalten noch weiter an Achtung einbüßen zu müssen.“21 Als Außenminister Walter Simons 1921 im Hauptausschuss des Reichstages erste Leitlinien für die Arbeit der Kulturabteilung vortrug, unterstrich er, dass die Propagierung der deutschen kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen ohne die Formen der Propaganda erfolgen solle, die Frankreich in aller Welt praktiziere. Zentrale Leitlinie war eine defensive Strategie, die den von der Welt gegen Deutschland vorgebrachten Ressentiments mit Geschick begegnen müsse.22 „Wir müssen ganz anders arbeiten, als Frankreich es kann“, hieß es in einer internen Mahnung. „Frankreich kann sich Geräusch und Phrasen leisten. Wir müssen still und rein sachlich arbeiten. Nur so können wir unsere moralische Geltung in der Welt wieder herstellen.“23Angesichts dieser diplomatischen Zwänge erscheint es kaum verwunderlich, dass, wie erwähnt, der Leiter der Abteilung, Friedrich Heilbron, erst zwei Jahre nach Gründung der Kulturabteilung ernsthaft nach den Einzelheiten der Lamprecht’schen Vorschläge von 1913/14 für eine auswärtige Kulturpolitik forschen ließ. Dem entsprach, anstelle von größeren eigenen Initiativen, die ausgesprochen rege Beobachtung der auswärtigen Kulturpolitik der ehemaligen Feindstaaten Frankreich, Belgien, Großbritannien, Vereinigte Staaten und Italien. Auf Heilbrons Veranlassung wurde 1924 ein Memorandum der Kulturabteilung unter dem Titel „Die Kulturpropaganda der Entente“ erstellt.24 Hier und in anderen Berichten kamen Strategien zur Sprache, die gegenüber den Vorkriegsaktivitäten von der stark gewachsenen Bedeutung auswärtiger Repräsentanz zeugten, Strategien der Sprachverbreitung (wie im Falle Frankreichs), der aktiven wissenschaftlichen Vernetzung zusammen mit erleichterten Studienbedingungen (wie im Falle der 21 Walter Freiherr von Falkenhausen, Aufgaben der neuen deutschen Auslandsvertretungen, in: Süd� deutsche Monatshefte 16 (1919), 340–342, hier 342. 22 Eine erste umfassende Bestandsaufnahme der auswärtigen Kulturpolitik von Jugoslawien bis Japan wurde von Dr.  Werkmeister als Aufzeichnung für Friedrich Heilbron am 8.12.1923 verfertigt (Politisches Archiv des AA, R 60445). 23 Vermerk, ohne Autor, vom 2.7.1921 in der Akte „Grundsätze über die Pflege kultureller Beziehungen 1920–1922“ (Politisches Archiv des AA, R 60430). 24 Im Politischen Archiv des AA in der Akte R 60003 (K 633163-4). Eine ausführliche Würdigung bei Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, 214–220.

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USA), der Betreuung kultureller (und kirchlicher) Minderheiten im Ausland (wie im Falle Italiens) oder einfach der weltweiten Durchdringung von Einflusszonen mit Subventionierung von Kulturarbeit, wie es Frankreich und Großbritannien in Ost- und Nordeuropa sowie Lateinamerika demonstrierten, die Vereinigten Staaten vor allem in Lateinamerika und China. Im selben Jahr erhielt das Amt eine vom Deutschen Industrie- und Handelstag in Auftrag gegebene Denkschrift, die mit dem Titel „Amtliche Werbearbeit im Auslande“ auf den sanften Begriff der Werbung rekurrierte, das bisherige Versagen in Kriegs- und Nachkriegszeit jedoch ohne Umschweife analysierte und eine effektivere Vertretung im Ausland postulierte, die der deutschen Wirtschaft zugutekommen würde.25 Ihr Autor, Otto Brandt, wandte sich gegen eine „Einheitspropaganda“, welche die unterschiedlichen Mentalitäten der Zielvölker übersah, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Vernachlässigung, ja Verhinderung des Ausländerstudiums an deutschen Universitäten, forderte die geschicktere Einbindung der Auslandsdeutschen und gab insgesamt der Frustration der Öffentlichkeit über die Unklarheit auswärtiger Kulturpolitik Ausdruck. Das Fehlen einer tragfähigen kulturpolitischen Mission, die nicht nur in der Vereinheitlichung des Verwaltungsaufwandes und der Vermeidung von Propaganda bestand, führte noch 1923 angesichts der enormen Sparmaßnahmen der Inflationszeit dazu, dass rein fiskalische Kriterien über das Weiterbestehen der Kulturabteilung den Ausschlag zu geben drohten. So teilten die Düsseldorfer Neuesten Nachrichten am 23. Dezember 1923 ihren Lesern mit: „Man will die sogenannte Kulturabteilung des Ministeriums aufheben, das die Auslandsschulen, die Kirchen und die christliche Missionstätigkeit zu betreuen hat.“ Dagegen protestierte das Blatt mit der Begründung: „Da Deutschland ja nur kulturelle und wirtschaftliche Eroberungen zu machen imstande ist, so wäre es ein geradezu verhängnisvoller Fehler, wollte man nun auch noch hier einen mechanischen Schnitt durch Bestrebungen machen, die für die weitere Blüte und das Wachsen des deutschen Geisteslebens im Auslande von größter Bedeutung sein müssen.“ Wie mechanisch hier ein Sparkurs angesetzt hätte, deckte die Zeitung am Beispiel der Auslandsschulen auf: „Dass finanziell auch im Augenblick solche Sparmaßnahmen nur geringen Erfolg haben werden, ist ohne weiteres aus der Notwendigkeit zu erschließen, dass man eine Auslandsschulabteilung beim Reichministerium des Innern einrichten will. Man verschiebt 25 Otto Brandt, Amtliche Werbearbeit im Auslande (im Auftrag des Deutschen Industrie- und Handels� tages). Im Kommentar für Ministerialdirektor Heilbron am 25.1.1924 bemängelt der Sachbearbeiter von Heeren, dass zu wenig konkrete Vorschläge enthalten seien (Politisches Archiv des AA, R 60432). Siehe auch die „Vorschläge zur Durchführung einer systematischen Deutschen Kulturpropaganda“, die der spätere Generalsekretär der 1925 gegründeten Deutschen Akademie, Franz Thierfelder, am 25.2.1925 an Außenminister Stresemann richtete (Politisches Archiv des AA, R 60432).

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also einfach die Ausgaben von einem zum andern Ministerium und nennt das dann ‚Sparen‘.“26 Von einer Abschaffung der Kulturabteilung konnte jedoch intern keine Rede sein. Damit hätte man gegen deren zentrales neues Mandat verstoßen, das bereits in ihrem Namen „Deutschtum im Ausland und kulturelle Angelegenheiten“ von Anfang an festgelegt war. Es reichte über die Verwaltung von Schulen und wissenschaftlichen Stützpunkten im Ausland hinaus und meinte die kulturelle und rechtliche Betreuung sowohl derjenigen Deutschen, die mit dem Versailler Vertrag aus dem Reichsgebiet ausgeschlossen wurden, das heißt also vor allem Bewohner der ehemaligen preußischen Provinzen in Polen und Litauen, als auch derjenigen, die vom Baltikum bis zu den Karpaten und zur Wolga sowie in Übersee seit jeher ihre eigenen Formen des Deutschtums gepflegt hatten. Nach dem Verlust der Kolonien, die dem Reich eine gewisse Präsenz unter den Weltmächten verschafft hatten, erschienen deutsche Minderheiten, die als Auslandsdeutsche, bald auch Volksdeutsche zu bezeichnen nun auch offiziell gefördert wurde, als einzige verlässliche Stützen des geschlagenen Reiches im Ausland. Vor allem aber bildete dieses Mandat eine wichtige Stütze der vom Außenministerium nach Annahme des Versailler Vertrages teils öffentlich, teils geheim verfolgten Politik der Revision dieses Vertragswerkes. Was das im Einzelnen beinhaltete, wurde der Öffentlichkeit, insbesondere den Siegermächten, nicht genauer zugänglich gemacht. Das Mandat, einen Großteil der Kulturpolitik auf die Pflege des Deutschtums im Ausland zu konzentrieren, bereitete dem Amt nicht geringe Schwierigkeiten. Dazu gehörte unter anderem die Abgrenzung vom Reichsinnenministerium bei der Betreuung der Auslandsdeutschen, insofern dieses die Auslandsschulen pädagogisch und personell versorgte und für Reichsdeutsche im Ausland zuständig war. Die Umstellung auf die Sorge um deutsche Minderheiten, die Bismarck so nachdrücklich beiseitegeschoben hatte, fiel den wilhelminisch geprägten Beamten nicht leicht.27 „Erst die Nachkriegszeit hat uns die Fragestellungen aufgezwungen, die sich aus der Nichtübereinstimmung der staatlichen Hoheitsgrenze und des deutschen Siedlungsboden öffnen“, fasste Theodor Heuss 1929 in dem repräsentativen Band Zehn Jahre Versailles die neue Situation zusammen. Er unterschied zwischen „Grenzdeutschtum, Siedlungsdeutschtum der Ferne in einigermaßen geschlossenem Bezirk, Diaspora – hier 26 P. B., Ein Rückblick, in: Düsseldorfer Neueste Nachrichten Nr. 557/8 vom 23.12.1923 (Politisches Archiv des AA, R 60445). 27 Hans Liermann, Das Minderheitenproblem, in: Volk und Reich der Deutschen. Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Bd.  3, hg. von Bernhard Harms. Berlin: Hobbing, 1929, 85–105, bes. 90–93. Eine erste Übersicht über die Probleme der Versorgung deutscher Minderheiten in aller Welt mit Publikationen, Literatur und Unterhaltung in Richard Fick, Auslandsdeutschtum und Kulturpolitik. Neumünster: Dittmann, 1920.

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ist immer an Gruppen gedacht mit fremder Staatsangehörigkeit. Daneben jene Deutschen, die im fremden Staatsverband sozusagen nur als Gast sind, für sich und ihre Familie die deutsche Staatsangehörigkeit aufrechterhalten haben.“28 Während die Beamten bei der Ausarbeitung kulturpolitischer Tätigkeiten in neutralen Ländern und in Übersee auf einige, darunter koloniale Erfahrungen zurückgreifen konnten, mussten sie sich bei der Behandlung deutscher Minderheiten erst Kompetenzen erarbeiten. Das führte dazu, dass das Amt sich bei einem Großteil der Aufgaben auf die nicht staatlichen Verbände wie den Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), den Deutschen Schutzbund und den Bund der Auslandsdeutschen stützte, über die es jedoch mithilfe von Geldzuwendungen Kontrolle ausübte. Im Hinblick auf die zuvor unter preußischer, nun unter polnischer Herrschaft lebenden Deutschen, die sogenannten Grenzlanddeutschen, teilte man sich Kompetenzen mit dem Reichsinnenministerium. Im Unterschied zu den Minderheiten, die seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten als Stadtbewohner oder Bauern von Riga bis Siebenbürgen ihre eigenständige Kultur auf deutschsprachiger Grundlage fortgeführt hatten und zumeist keine direkte Berührung mit Reichsämtern besaßen, waren die Deutschen, die in den vom Reich im Versailler Vertrag abgeteilten Gebieten wohnten, in der Aufrechterhaltung ihrer kulturell-sprachlichen, teilweise auch wirtschaftlichen Lebensformen stark auf ihr Mutterland angewiesen, auch wenn sie sich als mehr oder weniger loyale Staatsbürger der neuen Staaten verhielten. Kultur bedeutete hier eine sehr konkrete Unterstützung von Schule, Kirche, Verein und Sprache, die von den Betroffenen nicht allein finanziert werden konnte. Kultur wurde, da die neuen Staaten vor allem auch im kulturellen Bereich versuchten, ihre nationale Homogenität durchzusetzen, zu einem Kampffeld neuer innen- und außenpolitischer Verwicklungen. Kulturpolitik definierte sich dabei kaum über die repräsentative Selbstdarstellung Deutschlands, sondern vielmehr als Teil der mit der widerwilligen Annahme des Versailler Vertrages von allen Reichskabinetten verfolgten Revisionspolitik. In einem Schreiben an das Auswärtige Amt stellte die deutsche Gesandtschaft in Warschau ausdrücklich fest: „Die Anforderungen für kulturpolitische Zwecke in Polen erstrecken sich ausschließlich auf Zwecke der Förderung der deutschen Minderheit.“29 Konkret brachten die Auflagen des Versailler Vertrages mit sich, dass die Kulturabteilung auch in diesem zentralen Mandat größte Zurückhaltung wal28 Theodor Heuss, Das Schicksal der Auslandsdeutschen, in: Zehn Jahre Versailles, Bd. 2: Die politischen Folgen des Versailler Vertrages, hg. von Heinrich Schnee und Hans Draeger. Berlin: Brückenverlag, 1929, 25–46, hier 25. 29 Zit. nach Norbert Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der Weimarer Republik. Die Subventionierung der deutschen Minderheit in Polen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1973, 21.

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ten lassen musste, um einerseits die Minderheiten in ihren Staaten nicht zu gefährden, andererseits den Argwohn der Siegermächte nicht herauszufordern. Dabei standen Schul- und Bibliotheksarbeit im Vordergrund, die sich dem größeren Ziel unterordnete, die deutsche Minderheit in Polen in ihrer kulturellen Selbstständigkeit zu erhalten, um der Revisionspolitik gegen den Versailler Vertrag Argumente zu liefern. Insofern nach 1919 etwa eine Million Deutscher aus diesen Gebieten nach Deutschland wanderten, kam dieser Bemühung zunehmende Dringlichkeit zu. Ministerialdirektor Heilbron charakterisierte ihre Brisanz mit den Worten: „Wir sind […] bei all der Arbeit, die nach vielen Gesichtspunkten schon geleistet wird, immer der Gefahr ausgesetzt, dass uns die Entente aufgrund des Vertrages sagt: ‚Hier leistet Ihr etwas, was Euch gar nicht zukommt! Bezahlt erst Eure Schulden, kümmert Euch nicht um Dinge, die uns nicht passen!‘ Das Reich muß deswegen sehr vorsichtig operieren und in dieser Arbeit stark zurücktreten.“30 Damit erweiterte sich der Handlungsspielraum der Verbände, die sich, teilweise mit breiter Vernetzung innerhalb des Reiches, um die Deutschtumsarbeit kümmerten und unter denen die konfessionellen Organisationen, der Reichsverband der katholischen Auslandsdeutschen und die Vereinigung Deutsch-Evangelisch im Ausland, später auch die von Rudolf Pechel, dem Herausgeber der Deutschen Rundschau, geleiteten Arbeitsgemeinschaft für die Interessen des Grenz- und Auslandsdeutschtums eine wichtige Rolle spielten. Für ihre Unterordnung unter die Kontrolle des Amtes statuierte man dort 1919 ein Exempel, als der Verein für das Deutschtum im Ausland an die Behörde „die dringende Bitte“ richtete, „uns mit der Verwaltung und Verwendung der dem Amt von dem Reichskabinett überwiesenen und noch zu überweisenden Gelder für die Auslandsdeutschen zu betrauen.“31 Dem Antrag des VDA „auf Gelder für Propaganda“ wurde nicht entsprochen, jedoch gewährte das Amt „Mittel zur Unterstützung notleidender Auslandsdeutscher.“32 Als der VDA, der im Reich ein großes und effizientes Unterstützungsnetz aufbaute und sich jenseits von Politik die Pflege von Schulen, Kultur und Sprache zur Aufgabe stellte, für den Sommer 1924 eine „Tagung des Auslandsdeutschtums“ plante, setzte die Kulturabteilung alles daran, den Veranstaltern Direktiven zu geben, die sicherstellten, dass diese Demonstration von den Feindstaaten nicht als Provokation ausgelegt werden konnte.33 30 Niederschrift über die Zusammenfassung der Deutschtumspflege, 14.2.1923, zit. nach Krekeler, Revisionsanspruch, 35. 31 VDA-Vorsitzender von Reichenau im Brief vom 8.8.1919 an Außenminister Hermann Müller (AA IIId 4565, Politisches Archiv des AA, R 63579). 32 Aktennotiz vom 20.8.1919 (ebd., R 63579). 33 S. die Aufzeichnung über eine Besprechung aller Abteilungen am 19.10.1923, in der von Heeren über die Einwände genau Buch führte (ebd., R 63592).

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Die wichtigste Geste der Verbundenheit der Republik mit deutschen Minderheiten im Ausland, abgesehen von vielen Verlautbarungen der Parteien, kam von Reichsregierung und Nationalversammlung selbst. Das geschah zunächst 1920, als die Regierung im Verlauf des Kapp-Putsches nach Stuttgart auswich und die Gelegenheit benutzte, dem 1917 mit Fanfaren und kaiserlichem und königlichem Ehrenschutz gegründeten Deutschen Ausland-Institut durch einen Besuch die republikanische Weihe zu geben.34 Reichskanzler Wirth und Außenminister Rathenau bekräftigten das im Juni 1922 mit einem Besuch dieser Anstalt des öffentlichen Rechts, die vom Reich, dem Land Württemberg und der Stadt Stuttgart sowie privaten Mitgliedsbeiträgen finanziert wurde. Unter der Leitung des liberalen Unternehmers Theodor Wanner und des liberalen Generalsekretärs Fritz Wertheimer, der zuvor als Journalist dem NaumannKreis verbunden war, nahm sich das DAI in den zwanziger Jahren der Aufgabe, „dem Auslandsdeutschtum und der Verbindung zwischen Ausland und Heimat zu dienen und seine Interessen zu fördern“ sowie „Auslandskunde zu verbreiten“, mit großer Gewissenhaftigkeit jenseits der Parteienauseinandersetzungen an.35 Die in einem Sonderheft der Institutszeitschrift Der Auslandsdeutsche 1920 von Wertheimer umrissenen Aufgabenbereiche umschlossen die wissenschaftliche Aufarbeitung von Information über deutschsprachige Minderheiten sowie deren aktive Betreuungsarbeit mit Ausstellungen, Arbeitsvermittlung, Auswandererberatung und Auskunftserteilung, alles in allem eine eindrucksvolle Agenda, die hätte annehmen lassen, dass sich das Auswärtige Amt ihrer intensiv bediente.36 Das geschah jedoch nur sporadisch und war kennzeichnend dafür, dass nach dem anfangs geäußerten Interesse der Reichsregierung zumindest bis zum Auftreten Stresemanns die konzeptionelle Arbeit im Hintergrund stand. Bei den zumeist geheim gehaltenen Subventionen an Auslands- und Minderheitsorganisationen bemühte sich das Auswärtige Amt bis zum Ende der Weimarer Republik darum, mit ihnen der völkischen Rechten bei ihrer nationalistischen Volkstumspropaganda nicht noch mehr Aufwind zu verschaffen. Eine Irredenta der deutschen Volksgruppen wollte es auf keinen Fall begründen.37 Inwiefern das gelang, ist kontrovers diskutiert worden.38 Unbestritten 34 Der Reichspräsident, die Reichsregierung und die Nationalversammlung im Deutschen AuslandInstitut, in: Der Auslandsdeutsche 3, Nr. 7 (April 1920), 193–196. 35 Ernst Ritter, Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945. Ein Beispiel deutscher Volks� tumsarbeit zwischen den Weltkriegen. Stuttgart: Steiner, 1976, 33. 36 Der Auslandsdeutsche 3, Sonderheft 1920: Fritz Wertheimer, Das Deutsche Ausland-Institut Stutt� gart, 770–793. 37 Krekeler, Revisionsanspruch, 35. 38 Bastiaan Schot, Nation oder Staat? Deutschland und der Minderheitenschutz. Zur Völkerbundspolitik der Stresemann-Ära. Marburg: Herder-Institut, 1988, 34–53.

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bleibt, dass eine Förderung deutscher Minderheiten, zumindest der durch den Versailler Vertrag geschaffenen, durch den deutschen Staat im Ausland in dem Maße angenommen wurde, wie es der Praxis der anderen Staaten entsprach, die ihre Minderheiten in Nachbarländern besaßen. Auch dort wurden die Subventionen geheim gehalten. Am meisten trug eine erkennbar nationale Organisation wie der Deutsche Schutzbund zu diesen Vermutungen bei, der sich der „Betreuung und Verbindung der bedrohten Grenz- und Auslandsdeutschen auf dem Gebiete des Minderheitenrechts und der Selbstbestimmung“ widmete und von dem es im Amt hieß: „[D]ass er an sich nach rechts orientiert ist, ist nicht zu bestreiten; an seiner Verfassungstreue zu zweifeln, besteht aber kein Anlaß.“39 Auch der Deutsche Schutzbund erhielt begrenzte Mittel, wobei es dem Amt hier wie anderswo mehr auf die dadurch gewährleistete Information und Kontrolle ankam als auf direkte Einflussnahme. Die eigentlichen Organe der geheimen Subventionierung von Minderheitsorganisationen im Ausland, insbesondere in Polen, widmeten sich vor allem zwei Bereichen, einmal der Presse, für die 1920 die „Konkordia Literarische Gesellschaft mbH“ mit Sitz in Berlin gegründet wurde, und zum anderen den Schulen, Kirchen, Wohlfahrtsorganisationen und Vereinen, für die man im selben Jahr die „Deutsche Stiftung“ schuf. Während die Erstere unter ihrem Geschäftsführer Max Winkler eine intensive Pressearbeit entfaltete, zu der auch der Ankauf von deutschfreundlichen Zeitungen im Ausland gehörte, entwickelte sich die „Deutsche Stiftung“ unter ihrem machthungrigen Geschäftsführer Erich Krahmer-Müllenberg zu einer Agentur, die mit ihrer geheimen Subventionsvergabe und der damit verbundenen Informiertheit weitreichenden Einfluss auf die Deutschtumspolitik in Osteuropa ausübte.40 Inwiefern die Verwaltungsjuristen und Diplomaten des Amtes der Aufgabe gewachsen waren, die teilweise undurchsichtigen Finanzierungsmanöver, vor allem aber die verwirrende Vielfalt von Auslandsorganisationen zu überschauen, ist bezweifelt worden.41 Mit seiner karitativ-politischen Subventionierungspolitik wurde das Amt der Dynamik der internationalen Minderheitenpolitik nicht gerecht. Erst Stresemanns Engagement in dieser Politik auf Völkerbundebene änderte das. Eine besondere Herausforderung, die mit der Niederlage auf das Reich zukam, war die Rückführung Tausender von Reichsdeutschen, die im Ausland ihre Existenz begründet hatten und in Feindländern enteignet, oft auch interniert worden waren. Ihre Entschädigungsinteressen vertraten der Bund der Auslandsdeutschen und der Deutsche Ostbund. In ihrem persönlichen Schick39 Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, 106 f. 40 Krekeler, Revisionsanspruch, 15 –18 und passim. 41 Ritter, Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945, 30.

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sal, in dem nicht die Kultur, sondern die Staatsbürgerschaft ausschlaggebend war, schlugen sich die weitreichenden Anstrengungen der Ententeländer nieder, die deutsche Wirtschaft durch Enteignungen des gesamten Besitzes, durch Konfiszierung von Patenten und Aufkündigung von Verträgen entscheidend zu schädigen. In dem zitierten Überblick, in dem Theodor Heuss das „Schicksal der Auslandsdeutschen“ behandelte, verwandte er nur wenige Worte auf die kulturellen Aspekte dieser Aktion. Beherrschend waren für ihn vielmehr die enormen wirtschaftlichen Verluste, die das Reich durch die Behandlung der Auslandsdeutschen während des Krieges erlitt und die durch die Artikel 296 und 297 des Versailler Vertrages für die Nachkriegszeit legalisiert wurden. Im Artikel 297, „der die Liquidation des privaten Vermögens in den alliierten Ländern ausspricht und die Verrechnung der Erträge zugunsten der Siegerstaaten anordnet“, das heißt die Auslandsdeutschen mit ihrem Besitz für die Reparationen des Reiches haften ließ, sah Heuss eine Form der Fortsetzung des Krieges: „Im Grunde handelt es sich für die Alliierten, eine Übung des Krieges zu bestätigen und zu befestigen.“42 Die Schwere der Verluste, konstatierte er am Ende des Beitrages, habe eine neue Aufmerksamkeit der Inlandsdeutschen für das Los der Auslandsdeutschen zur Folge, die ihre Existenz im Ausland wieder aufzubauen und der deutschen Wirtschaft erneut Märkte zu eröffnen suchten. Heuss setzte sich damit nüchtern von der geläufigen Praxis ab, den Diskurs über die Auslandsdeutschen an ihrem Kampf für die Erhaltung des Deutschtums festzumachen.

Isolation, Modernität und Kunstdiplomatie des neuen Staates Die Errichtung einer eigenen Kulturabteilung entsprach dem allgemeinen Trend nach größerer Publizität auswärtiger Politik, mit der nach dem Ersten Weltkrieg alle Staaten der in- und ausländischen Öffentlichkeit zu verstehen gaben, dass sie von der geheimen Kabinettspolitik der Vorkriegsjahre abrückten. Inwiefern Letzteres wirklich geschah, lässt sich diskutieren, fest steht aber, dass nun die Öffentlichkeit und mit ihr die Medien, vor allem Presse und amtliche Pressepolitik, eine viel größere Rolle in der internationalen Politik spielten. Die Ausweitung der Nachrichtenabteilung im Auswärtigen Amt zu einem Presseamt, die schon vor 1918 erfolgt war, signalisierte die Erkenntnis, dass die Bemühungen um die Rückführung des Reiches auf die Bühne europäischer Politik ohne intensive Öffentlichkeitsarbeit stecken bleiben würde. Allerdings würde sie auch stecken bleiben, erkannte man, wenn sich der deutsche Staat 42 Heuss, Das Schicksal der Auslandsdeutschen, 31.

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allzu sehr in den Vordergrund drängte und diese Aktivitäten dem Verdacht bloßer Propaganda aussetzte.43 Wenn auch das Amt vermied, der Presse Vorschriften zu machen, nutzte es, wo immer möglich, bei der Anknüpfung der kulturpolitischen Arbeit mit den neutralen Ländern in Europa und Übersee private Kanäle oder halbamtliche Organisationen. In der Person Friedrich Heilbrons, der als Leiter der Kulturabteilung 1923 auch eine Zeit lang als Pressesprecher der Regierung fungierte, manifestierte sich die Überlappung beider Referate. Beide Abteilungen besetzten nur die unteren Ränge im Amt und blieben finanziell unterversorgt, jedoch war die Presseabteilung weniger durch die Strategie der Zurückhaltung, oft auch Geheimhaltung gebunden. Sie stand bei vielen Regierungsinitiativen im Licht der Öffentlichkeit, zumal nachdem Stresemann, ein blendender Redner, das Außenministerium übernommen hatte und ständige Kontakte mit den Vertretern der Auslandspresse pflegte. Was der Kulturabteilung bei all den Verwaltungsaufgaben im Hinblick auf die wieder aufzubauenden Auslandsschulen, die juristischen Aufräumarbeiten gegenüber Reichs- und Auslandsdeutschen sowie den Aufsichtspflichten über die Deutschtumsorganisationen an Spielraum dafür blieb, dem Ausland aus eigener Initiative etwas von der aktuellen deutschen Kunst- und Kulturszene zu vermitteln, war angesichts der leeren Kassen des Staates nicht viel. Für eine auch nach außen wirksame Vermittlungsfunktion, wie sie der Kulturjournalist Friedrich Marcus Huebner 1921 angesichts der Abschnürung des Landes von den westlichen Schauplätzen der Nachkriegskultur als notwendige Aufgabe einer deutschen Kulturpolitik umriss, fehlte der Abteilung jegliche Voraussetzung. In seinem Alarmruf über die „deutsche Ahnungslosigkeit“ machte Huebner die Isolierung deutlich: „Deutschland erfährt durch seine zahllosen Tagesblätter und Monatslieferungen nur einen kläglichen Bruchteil dessen, was außerhalb seiner Grenzen auf dem Gebiete des Ausstellungswesens, der Büchererzeugung, des Theaterbetriebs, der Wissenschaftspflege vor sich geht und das zu wissen ebenso nützlich wie gesundheitsfördernd im gewissen Sinne, ebenso aufklärend wie befruchtend wirken würde. Gegenüber den Ententevölkern, die große gemeinschaftliche Monatsschriften (Le monde nouveau), große gemeinschaftliche Verlage, Auskunftsstellen für Wettbewerbe und Bauaufträge, Filmagenturen gegründet haben, steht Deutschland wie hinter Stacheldrähten eingesperrt, Stacheldrähte, die nur zum Teil der böse Wille der Anderen gezogen hat.“44 Die 43 Über die Unterscheidung von Pressepolitik und Propaganda, die als Kommunikationsstrategien in den zwanziger Jahren nebeneinanderliefen, s. Hans Jürgen Müller, Auswärtige Pressepolitik und Pro� paganda zwischen Ruhrkampf und Locarno (1923–1925). Eine Untersuchung über die Rolle der Öffentlichkeit in der Außenpolitik Stresemanns. Frankfurt: Lang, 1991, bes. 18–20. 44 Friedrich Marcus Huebner, Werkbund, Auswärtiges Amt und Kulturberichterstattung, in: Die Korn� scheuer, H. 5 (1921), 91–94, hier 92.

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Schuld für die Abgrenzung vom Westen ließ sich nicht nur der einen Seite anlasten; allerdings ging Huebner auf den zu dieser Zeit nicht nur in Künstlerund Arbeiterkreisen grassierenden Enthusiasmus für das russische Experiment und die vielen Verbindungen mit Osteuropa nicht ein. Ihm schwebte vielmehr vor, aus der Isolierung durch einen vom Auswärtigen Amt mit seinen vielen Vertretungen getragenen Informationsdienst über die kulturellen Entwicklungen im (westlichen) Ausland herauszukommen, bei dem der Deutsche Werkbund die Sacharbeit übernehmen könne. „Es ist bisher noch von niemandem gefragt worden, was eigentlich zur größtmöglichen Ausnutzbarkeit dieser kulturpolitischen Berichte, Winke, Anregungen geschieht, welche pflichtgemäß aus Frankreich, England, Holland, Italien von den Gesandtschaften an die Zentrale zu richten sind und für deren Bearbeitung ein besonderer Geheimrat Gehalt erhält? Sie kommen zum Vortrag, sie werden mit Randnotizen versehen, sie gehen einer allenfalls interessierten Stelle in einem Schwesterministerium zur Kenntnisnahme oder Rückäußerung zu, und dann werden sie ‚abgelegt‘.“45 Damit würden der Öffentlichkeit, besonders den kulturell interessierten Schichten, entscheidende Informationen vorenthalten. Man müsse versuchen, diese Kulturberichte aus den Händen der Diplomaten „in die Kenntnis der Allgemeinheit“ zu überführen. Huebners Hinweis auf das Informationspotenzial im Amt und das kulturelle Know-how im Werkbund war einseitig nach Westen orientiert, machte jedoch die Defizite der offiziellen Bezugnahme auf Kultur und Kulturpolitik im Umgang mit dem Ausland generell deutlich. In dem mangenden Kontakt lag die Gefahr, dass der Westen das, was mit den Umwälzungen nach der Kriegsniederlage künstlerisch und intellektuell in der neuen Republik vor sich ging, gar nicht verstehen konnte und wollte. Hätten nicht private Organisationen und kommerzielle Unternehmungen beiderseits der Grenzen für einzelne Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller Reisen und Auftritte organisiert, wäre es bei der sichersten Form deutscher Auslandskulturpolitik geblieben: Orchester wie die Berliner Philharmoniker mit klassischer Musik in die europäischen Hauptstädte zu schicken. Sie hatten auch wenige Jahre nach dem Krieg bereits Erfolg in London und Paris. Schon bei der Entsendung moderner deutscher Kunst ins Ausland aber fühlten sich deutsche Diplomaten und Amtsträger herausgefordert, da sie nicht ihrem im wilhelminischen Reich geformten Kunstgeschmack entsprach. Edwin Redslob, der 1920 installierte Reichskunstwart, der die Formgebung der Symbole der neuen Republik zu lenken hatte (und dafür auch expressionistische und Werkbundkünstler einspannte), überlieferte die Einwände der Diplomaten, die ihn in seinem Kampf gegen den immer noch vor45 Ebd., 92 f.

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13 Akademie der Künste Berlin. Eröffnung der Frühjahrsausstellung 1921. Von links: Carl Heinrich Becker, Pierre de Margerie, Max Liebermann, Gustav Böss, Jacob Gould Schurman. In: Bundesarchiv Bild 183-1983-1222-501

herrschenden wilhelminischen Kunstgeschmack anspornten. Als während einer Abendeinladung bei Reichspräsident Ebert die Ausrichtung der ersten Nachkriegsausstellung deutscher Kunst in Den Haag diskutiert wurde, drohte der deutsche Gesandte in den Niederlanden, der Orientalist Friedrich Rosen, die Ausstellung junger Künstler zu blockieren: „Ich werde sie mit aller Macht verhindern. Gerade heute hängt es davon ab, dass wir uns im Ausland nur durch solche Künstler repräsentieren lassen, die bereits in der Welt Rang und Namen haben. Nur jetzt keine Experimente mit diesen lächerlichen neuen Kunstrichtungen!“ Als Redslob dagegenhielt, man müsse sich keineswegs „nach dem Geschmack einiger behäbiger alter Mijnheers“ richten, entscheidend sei vielmehr, „dass die Jugend der Länder überall im neuen Europa“ sich finde, habe er spöttische Blicke erhalten. Doch dann habe sich Ebert eingemischt und „rief mit der ihm eigenen Stoßkraft, die zeigte, wie lebhaft er das ihm doch im Grunde fernliegende Problem durchdacht hatte: ‚Da haben Sie auch vollkommen recht!‘“ Ebert habe sich am folgenden Tag den Fall vortragen lassen. Die Ausstellung junger deutscher Künstler fand 1922 in Den Haag statt.

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Eberts Intervention zugunsten einer modernen Selbstdarstellung des Reiches im Ausland mochte angesichts des Rückgriffs auf die deutsche Klassik, die er bei der Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar zur Begründung des demokratischen Staates vortrug, als Augenblickseingebung erscheinen. Sie kennzeichnete jedoch seinen pragmatischen Stil der Regierungsverantwortung, wie Redslob mit Genugtuung über seine eigene Position als neu installierter Reichskulturwart feststellte. Ihm selbst war am pragmatischen Vorgehen bei der „kulturellen Formgebung des Reiches“, wie er seine Aufgabe benannte, besonders deshalb gelegen, weil er bei der dürftigen Ausstattung seines Amtes vor allem auf seine persönlichen Kontakte jenseits der bürokratischen Gepflogenheiten und auf geschickte Lobbyarbeit für Künstler sowie den „Qualitätsgedanken“ angewiesen war. Hierin lag die Chance, aber auch die Schwäche seines Amtes. Dieser Pragmatismus wurde bei der Gründung auch vom Auswärtigen Amt begrüßt, weil man sich von ihm eine Erneuerung notwendiger symbolischer und baulicher Repräsentation des Reiches dem Ausland gegenüber erwartete. Dann aber erregte schon die Anbindung des Reichskulturwarts an das Reichsinnenministerium, das neben dem Reichsschatzministerium über bauliche und künstlerische Vorhaben (auch im Ausland) das Sagen hatte, Missvergnügen, ganz zu schweigen von seiner Abkehr von den gewohnten Formen staatlicher, sprich kaiserlicher Selbstdarstellung. Ihm oblagen die Gestaltung des neuen Reichsadlers, der ministeriellen Dienstsiegel und staatlichen Hoheitszeichen, der Urkunden, Schilder, Grenzpfähle, der Geldscheine und Münzen, der staatlichen Trauerfeiern, Verfassungs- und Kulturjubiläen wie der zehnjährigen Verfassungsfeier 1929 und des Goethefests 1932. Er sollte das Design der Staatsbauten beaufsichtigen, was ihm bald aus der Hand genommen wurde, und mühte sich um die Errichtung eines Reichsehrenmals zum Gedenken an die Toten des Krieges in Berlin, dem dann im Tannenbergdenkmal unter Hindenburg ein Monument entgegengesetzt wurde, dessen Einweihung zu einer antidemokratischen Kundgebung geriet.46 Mit dieser Ablösung von der bisherigen Repräsentation des Reiches nach innen und außen wurde – für viele nicht unerwartet, dennoch stark bekämpft – das Amt des Reichskunstwarts zu einem Symbol für die Tatsache, dass die neue deutsche Demokratie 46 Annegret Heffen, Der Reichskunstwart. Kunstpolitik in den Jahren 1920–1933. Zu den Bemühun� gen um eine offizielle Reichskunstpolitik in der Weimarer Republik. Essen: Die blaue Eule, 1986; Winfried Speitkamp, „Erziehung zur Nation“. Reichskunstwart, Kulturpolitik und Identitätsstiftung im Staat von Weimar, in: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, hg. von Helmut Berding. Frankfurt; Suhrkamp, 1994, 545–580; Christian Welzbacher, Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in der Weimarer Republik 1918–1933. Weimar: Weimarer Taschenbuchverlag, 2010; ders., Die Staatsar� chitektur der Weimarer Republik. Berlin: Lukas, 2006.

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den Mangel an einem tragfähigen Gründungsmythos mit ästhetisch-moderner Formgebung seiner Symbole kompensierte. Konrad Haenisch hatte diesen Mangel im Auge, als er das Ausbleiben an mitreißenden seelischen und weithin wirksamen revolutionären Energien in dem Umsturz von 1918/19 beklagte.47 Auch das Kaiserreich hatte für seine Gründung außer Bismarcks welthistorischem Kraftakt zunächst keine stimulierende symbolische Repräsentanz eingebracht. Uneins über Hymne, Flagge und eine historische Rechtfertigung hatte man den Persönlichkeitskult um Kaiser Wilhelm II. aufgebaut, genauer: hatte sich der Kaiser als Verkörperung der deutschen Nation im In- und Ausland feiern (und bekämpfen) lassen. Das war ‚angekommen‘. Um wie viel schwerer fiel diese Aufgabe dem neuen Staat, wenn er für seine öffentliche Darstellung nicht auf Symbole der revolutionären Selbstermächtigung des Volkes verweisen konnte (und wollte), wie es in der Geschichte der Nationen, etwa in den Vereinigten Staaten und Frankreich, geschehen ist. Dazu trug nicht zuletzt die Ermordung ihrer radikalsten Revolutionäre auf der Linken, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, durch rechtsradikale Freikorpssoldaten bei, für welche die sozialdemokratische Führung unter Ebert und Noske die Verantwortung trug – kaum der Boden für eine ungeteilte Bezugnahme auf die Kämpfe 1918/19. Das revolutionäre Pathos dieser Periode rührte ohnehin mehr aus dem Befreiungsgefühl her, den Krieg beendet zu haben, als aus der revolutionären Herstellung einer freien, nicht mehr durch den Krieg erzwungenen Volksgemeinschaft. Unstrittig war nur, dass der Bruch mit dem Kaiserreich eine eigene kulturelle Dynamik entwickelte, die völlig konträr wahrgenommen wurde. Einerseits setzte die von Haenisch beschworene Befreiung von Machtpolitik und Macht­ repräsentation künstlerische und intellektuelle Kräfte frei, die bisher nur in kleinen Zirkeln oder überhaupt nicht sichtbar gewesen waren und bei künstlerischen Eliten im östlichen, später auch westlichen Ausland als Beweis einer kulturellen Blüte Resonanz fanden. Andererseits befanden sich die immer noch vom Pomp des Kaiserreiches gebannten Zeitgenossen in einem Zustand konstanter Entrüstung, wobei bereits das Aufziehen der schwarz-rot-goldenen Fahne als Bankrotterklärung an die Sieger verstanden werden konnte. Der Verzicht auf die schwarz-weiß-rote Fahne als Inbegriff des Reichs zugunsten der demokratisch codierten schwarz-rot-goldenen Farben sorgte für besonders bittere Auseinandersetzungen, an denen sich auch der Auswärtige Dienst beteiligte. Gesandtschaften vor allem in Übersee weigerten sich wiederholt, mit dem Aufziehen der schwarz-rot-goldenen Flagge ihre Selbstherabstufung zu einer minderen Macht öffentlich zu bezeugen. Das korrespondierte mit der Ableh47 Konrad Haenisch, Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der deutschen Republik. Berlin: Vorwärts, 1921, 10 f.

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nung, die der Nachfolgestaat des mächtigen Kaiserreiches besonders seitens deutscher „Kolonien“ in solchen Ländern erfuhr, die wie Chile und Argentinien nicht mit Deutschland im Krieg gestanden hatten, oder bei den kolonialen Siedlern in Deutsch-Südwestafrika, dem späteren Namibia. Am weitesten entfernt von den aktuellen Kämpfen in Europa, jedoch in gesellschaftlicher Distanz zur einheimischen Kultur, hatten diese „Kolonien“ den schwarz-weiß-roten Glanz des Kaisertums als höhere Identität verinnerlicht. Auf sie beriefen sich nationalistische Kreise wie die um die Süddeutschen Monatshefte in ihrer Feindschaft zur Republik am liebsten, da sie, ob in Chile, Kolumbien, Argentinien oder anderen Ländern, ihre unverhüllte Verachtung der parlamentarischen Demokratie mit ihrem Parteiengezänk am unverhohlensten zum Ausdruck brachten.48 Für die deutschen Exportinteressen zweifellos von hoher Bedeutung, da ihre Meinungsführer zumeist aus Geschäftsleuten bestanden, gaben diese „Kolonien“ dem Auswärtigen Amt große Probleme auf. Da ließ sich wenig Trost darin finden, dass sich in ihrem Festkrallen an der kaiserlichen Macht und Ordnung ein Phänomen manifestierte, das für Auswanderer seit jeher symptomatisch ist: die psychologische Versteinerung gegenüber der einstigen Heimat, der man, um nicht ein Teil von sich selbst aufzugeben, die Legitimität der Modernisierung abspricht. Hier liegen die Gründe dafür, dass sich in der Nostalgiekultur deutscher Auswanderer über mehrere Generationen hinweg das Kaiserreich als Inbegriff deutscher Machtentfaltung seinen zentralen Platz behauptet hat – umso nachdrücklicher, je weiter sie von Deutschland entfernt lebten. Redslob, ein betont bildungsbürgerlicher Reformer, vermisste das Fehlen politisch revolutionärer Symbole nicht. Dennoch fand er keine Tabula rasa vor, im Gegenteil. Er profitierte davon, dass bereits im Schoß des Kaiserreiches der Deutsche Werkbund als kunstreformerische Bewegung den Weg zu einer nicht feudalen, demokratischen Bürgerkultur geebnet hatte. Bis 1922/23, als der Werkbund sich von seinem Schutz der Handwerkskunst ab- und voll einer modernen Produktkultur zuwandte, betrachtete Redslob den Werkbund als Inspiration und Mittlerorganisation für seine Initiativen zur staatlichen Formgebung. Wenn Redslobs Einfluss in diesen Anfangsjahren am größten war, so lag das nicht zuletzt daran, dass der Werkbund und seine politischen Repräsentanten Friedrich Naumann, Ernst Jäckh und Theodor Heuss den Gedanken, dem neuen Staat ein ästhetisch modernen Profil zu geben, seit Längerem vorbereitet hatten. Diese Agenda mit ihrem später als ‚Neue Sachlichkeit‘ apostrophierten, den Bedürfnissen der Massengesellschaft verpflichteten Modernismus erwies 48 Beispielhaft die Hefte „Deutschland von außen“ (Jg. 21, März 1924) und „Überseedeutsche“ (Jg. 22, Februar 1925) der Süddeutschen Monatshefte.

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|  Die Kulturpolitik der Weimarer Republik 14 Reichskunstwart Edwin Redslob am Reichsfeiertag 1929. Foto Georg Pohl. In: Bundesarchiv Bild 102-08205

sich auf längere Sicht für die Weimarer Republik als ergiebiger denn Redslobs zunehmendes Engagement für traditionelle und volkstümliche Formen. Zwar unterstützte er auch weiterhin Gropius und sein Großexperiment Bauhaus, aber sein Amt wurde in späteren Jahren von der kommerziell und nicht amtlich geschaffenen internationalen Profilierung deutscher Kultur marginalisiert. Immer aber bemühte sich Redslob darum, modernen Künstlern Staatsaufträge zu ermöglichen und sie zu schützen, wenn staatliche Stellen in ihre verfassungsmäßig garantierte künstlerische Entfaltung eingriffen. Johannes Sievers, ein promovierter Kunsthistoriker, hatte vor seiner Zeit im preußischen Kultusministerium auch eine praktische Ausbildung in Berliner Museen, darunter dem Kunstgewerbemuseum, durchgemacht. Im Dienstapparat des Auswärtigen Amtes verkörperte er einen „neuen Beamtentypus“, der einen „demokratischeren“ Umgangston für seine Mitarbeiter etablierte, vor allem aber offene Diskussionen über Gegenwartskunst führte und die Förderung von Internationalität und Moderne betrieb.49 Ihm war es zu verdanken, dass das 49 Carolin Schober, Das Auswärtige Amt und die Kunst in der Weimarer Republik. Kunst- und Kunst� gewerbeausstellungen als Mittel deutscher auswärtiger Kulturpolitik in Frankreich, Italien und Groß� britannien. Frankfurt: Lang, 2004, 33–35.

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Amt, obwohl es sich in diesen Jahren vor allem in der Konfrontationspolitik mit den Siegermächten des Versailler Vertrages engagierte, bei der Unterstützung erster Kontaktversuche mit neutralen Staaten im Hinblick auf die Präsentation von Kunst, Kunstgewerbe, Musik und Theater die Aversionen ausländischer Partner abzubauen vermochte. Sievers gelang es, im Namen moderner Kunstpflege die Isolation der deutschen Kulturszene vom Ausland mit Initiativen zu Ausstellungen und anderen Veranstaltungen zu durchlöchern. Seinen Bemühungen war es zuzuschreiben, dass die erste Beteiligung deutscher Künstler (unter anderen Corinth, Liebermann, Slevogt, Kokoschka, Barlach, Kolbe, Lehmbruck, Sintenis, Kirchner) an der Biennale in Venedig 1922 breitere Beachtung fand, obgleich sich italienische Zeitungen von einigen modernen – „unästhetischen“ – Kunstobjekten aus dem Norden provoziert fühlten. Allerdings öffnete der (halbe) Ausstellungserfolg auf der Biennale noch lange nicht den in Paris konzentrierten Kunstmarkt. Vom Westen her gesehen, erweckte Deutschland am ehesten beim Ankauf alter Kunst Interesse, insofern die Inflation hier wie schon zuvor in Österreich Käufern mit ausländischer Währung ungeahnte Vorteile verschaffte. Eine Zeit lang sahen Verantwortliche, allen voran der Reichskunstwart, die deutsche Kunst ausgerechnet dadurch in Gefahr geraten, dass wertvolle Exemplare ins Ausland abwanderten und dem deutschen Volk verloren gingen. Ohnehin verstärkte sich der Zustrom von Ausländern während der Inflation aufgrund der Geldentwertung in einem Maße, dass die Übernachtungszahlen der großen Touristenstädte Berlin, München, Köln, Leipzig und Hamburg die Zahlen von 1913 weit überschritten. Obwohl man Fremdenpreise als Zweifachpreise einführte, hatte man trotzdem Mühe, xenophobe Ausbrüche zu verhindern.50 Das wiederum schürte die antideutschen Ressentiments bei Reisenden aus westlichen Ländern und vertiefte, sobald mit dem Ende der Inflation der Preisvorteil wegfiel, die Aversion gegen eine nähere Bekanntschaft mit allem Deutschen. Zu den Folgen der Inflation muss man somit auch eine Vertiefung der Spannung mit Ausländern zählen, zu der ein bis dahin kaum erlebtes Gefühl von Minderwertigkeit im Privaten ebenso wie im Staatlichen gehörte. Die Verhärtungen in der Wahrnehmung des Fremden, die der Krieg mit solcher Wucht verursacht hatte, lösten sich weiterhin nicht auf; ostwärts grenzte man sich gezielt gegen Ostjuden und Polen ab, nahm aber große Segmente wie die russische Intelligenzija aus; gegenüber dem Westen bestätigte man gekränkt die eigene kulturelle Isolation. Sievers’ Bemühungen um die Ausrichtung seines Referats in Richtung auf eine zeitgemäße künstlerische Selbstdarstellung des Reiches waren durch den 50 Gerald D. Feldman, Welcome to Germany? The Fremdenplage in the Weimar Inflation, in: Geschichte als Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch, hg. von Wilhelm Treue. Berlin: Colloquium, 1988, 629–649.

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Mangel an Geldern engste Grenzen gesetzt. So wäre ohne die Hilfe des wohl wichtigsten privaten Mäzens dieser Jahre, des jüdischen Kohlenindustriellen Eduard Arnhold, die Beteiligung an der Biennale in Venedig 1922 nicht möglich gewesen. Arnholds bekannteste Vorkriegsstiftung, die Gründung der Villa Massimo in Rom als repräsentatives Künstlerdomizil, wurde vom italienischen Staat im Krieg beschlagnahmt und erst Mitte der zwanziger Jahre ebenso wie die 1912 von Henriette Hertz gegründete Bibliotheca Hertziana zurückgegeben.51 Im Veranstaltungsbereich stützte sich Sievers auf eine ihm vertraute Schicht von Museumsleuten und Experten, deren professionelle Vernetzung mit Partnern im Ausland die „Rückkehr Deutschlands“ im Bereich der Hochkultur, im Wesentlichen in Malerei, Skulptur, Musik, Literatur und Theater, einleitete. Dazu gehörten Fachgelehrte wie Hans Posse (Ausstellungsleiter für Venedig 1922), Gustav Pauli (Stockholm 1922), August Hoff (Rio de Janeiro 1923) und Walter Riezler (Monza 1925). Zudem ebnete Sievers mit seinem Interesse an angewandter Kunst dem Werkbund, als dieser in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wieder eine Vorreiterrolle für Architektur und moderne Produktkultur übernahm, Wege zu internationaler Anerkennung. Damit ging er über den Zirkel von Elitenkunst und ‑geschmack hinaus, in dem die ausländischen Vertreter der internationalen Moderne eine gewisse Garantie sahen, nicht in die Bereiche von Politik gezogen zu werden. Die Gründung der Deutschen Kunstgesellschaft 1929 mit dem Auftrag, Arbeitskontakte mit Verbänden im Ausland zu knüpfen, stellte sicher, dass die Kulturabteilung einen gewichtigen Teil der Kulturveranstaltungen im Bereich von Konzerten, Theatergastspielen, Kunstausstellungen und Vorträgen über eine Mittlerstelle abwickeln konnte.52 Zur Kontrolle der finanziellen Tragfähigkeit von Ausstellungen in dem später überbordenden Ausstellungsboom entstand 1927 das Deutsche Ausstellungs- und Messeamt. Dass von Anfang an dem Expressionismus, insbesondere den „Brücke“-Malern Karl Schmidt-Rotluff, Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner, eine prominente Stellung in der Vertretung deutscher Kunst im Ausland zugestanden wurde, war nicht nur Edwin Redslob zu verdanken, der seiner Vorliebe für sie ungeschmälert Ausdruck gab und SchmidtRotluff sogar beauftragte, eine neue Version des Reichsadlers zu entwerfen,53 sondern auch dem engen Zirkel von modern gesinnten Museumsdirektoren, 51 Kurt Düwell, Eduard Arnhold, Mäzen und Freund des Kunstreferats der Kulturabteilung des Aus� wärtigen Amts im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Sammler, Stifter und Museen. Kunstförderung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Ekkehard Mai und Peter Paret. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1993, 239–254. 52 Johannes Sievers, Aus meinem Leben. Ms. im Politischen Archiv des AA. Berlin, 1966, 326  f.; Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, 185 f. 53 Heffen, Der Reichskunstwart, 93–98.

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mit denen Sievers ab 1921 bei der Konzeption von Ausstellungen zusammenarbeitete. Unter ihnen stand Ludwig Justi vornan, der Direktor der Berliner Nationalgalerie, der das Kronprinzenpalais Unter den Linden ab 1919 zum Präsentierort der wichtigsten deutschen Gegenwartsmalerei installierte.54 Das wurde kaum davon beeinträchtigt, dass der Expressionismus schon 1920 für überholt galt – eben das machte ihn museums- und ausstellungsreif und garantierte steigende Preise auf dem Kunstmarkt. Ihm gestand man zu, trotz seiner überaus kritischen Aufnahme im Ausland eine neue, demokratische deutsche Kunst zu vertreten, eine Auszeichnung, die in den späteren zwanziger Jahren auf Kunst und Design der Neuen Sachlichkeit überging.55 Während die Einladung der Royal Academy für eine Ausstellung der besten deutschen Gemälde und Plastiken der letzten Jahrzehnte, die 1925 in London stattfand, größere Offenheit auf der britischen Seite signalisierte, beharrte man in Frankreich und Belgien auf dem härtesten Widerstand gegen die Rückkehr Deutschlands auf die internationale Kunstszene. Die Länder, die am meisten unter dem Krieg mit dem Reich gelitten hatten und mit der Besetzung des Rheinlandes und 1923 des Ruhrgebietes die Konfrontation in Deutschland fortsetzten, ließen nur private Kontakte und Beiträge deutscher Künstler zu Ausstellungen zu.56 Nur wenige deutsche Maler gelangten vor 1925 nach Paris.57 Demgegenüber fand der Kubismus eines Picasso und Braque nach dem Niedergang des Expressionismus in Deutschland bereitwillige Aufnahme, ja galt bald als schick. „Mit einer Prise Ironie könnte man sagen, dass der Kampf, der von den Franzosen am Rhein verloren worden war, in Berlin durch zwei Deutsche, nämlich Alfred Flechtheim und Daniel-Henry Kahnweiler, gewonnen wurde.“58 In Paris zerschlug sich derweil eine für 1927 vorgesehene Retrospektive von Max Liebermann an dem nach wie vor erhobenen Vorwurf gegen ihn, bei Kriegsausbruch 1914 den berüchtigten „Aufruf an die Kulturwelt!“ 54 Kratz-Kessemeier, Kunst für die Republik, 138 f. 55 Christian Saehrendt, „Die Brücke“ zwischen Staatskunst und Verfemung. Expressionistische Kunst als Politikum in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und im Kalten Krieg. Stuttgart: Steiner, 2005, 18–34. 56 Günter Metken, Deutschland und Frankreich – Wege und Einbahnstraßen. Das Klima der künstleri� schen Beziehungen: die persönlichen Kontakte, Reisen, Publikationen, in: Paris – Berlin 1900–1933. Übereinstimmungen und Gegensätze Frankreich-Deutschland. München: Prestel, 1979, 20–41. 57 George Grosz und Wieland Herzfelde sprechen in ihrer Schrift Die Kunst ist in Gefahr 1925 davon, dass „nach den langen Jahren der Absperrung, der Zeitungslügen und der Inflation“ ein neuer Künst� lerverkehr nach Paris einsetze. Dies., Die Kunst ist in Gefahr. Drei Aufsätze. Berlin: Malik, 1925, 33 f. 58 Alexandre Kostka, Zwischen „feindlicher“ und „freundlicher“ Vermittlung. Deutsch-französische Kunstbeziehungen 1919–1937, in: Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultu� reller Austausch und diplomatische Beziehungen, hg. von Hans Manfred Bock. Tübingen: Narr, 2005, 229–250, hier 241 (mit der französischen Niederlage am Rhein ist die Ruhrbesetzung 1923 gemeint).

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unterschrieben zu haben. Allerdings sollte die französische Aversion gegen deutsche Kunst nicht ohne die Aversion gegen die Moderne generell gesehen werden, die auch unter Franzosen zu finden war, insofern sich diese Moderne nüchtern und „proletarisch“ gab und, besonders im Kunstgewerbe, nicht dem Schönheitsideal gehobener Eleganz anpasste.59 Die Kenntnis dieser Abwehr mag deutsche Diplomaten dazu bewogen haben, die in letzter Minute erfolgte Einladung zur Beteiligung des Bauhauses an der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes 1925 in Paris auszuschlagen, obwohl sich Gropius, das Bauhaus und der Werkbund für diese Aufgabe durchaus gewappnet fühlten.60 Die Nichtvertretung Deutschlands bei dieser als künstlerische Weltausstellung angelegten Schau wurde in Frankreich mit Genugtuung, in Deutschland mit Kritik aufgenommen. Besonders im Werkbund war man der Ansicht, dass diese Ausstellung, wenn auch nach außen nicht erkennbar, von dem großen Erfolg des Werkbundes auf dem Pariser Salon d’Automne 1910 und der Kölner Ausstellung 1914 angeregt worden sei, den man in Frankreich als aktuelle Bedrohung der französischen Vorherrschaft auf dem Gebiet der angewandten Künste wahrgenommen habe.61 Wenn nun die neueren Entwicklungen in Richtung auf eine funktionale Ästhetik, vor allem das Bauhaus und die niederländischen Gruppe de Stijl, fehlten, war der französischen Erfindung des Art Deco die internationale Bühne überlassen. Stellvertretend für das Bauhaus bekam Le Corbusier (Charles-Edouard Jeanneret) für seinen funktionalistischen Pavillon de L’Esprit Nouveau die Abscheu der französischen Kritiker gegen seinen „style boche“ zu spüren, die schon vor und im Krieg den Kubismus von Picasso und Braque als teutonischen Modernismus denunziert hatten.62

Boykott und Selbstboykott der deutschen Wissenschaft Am meisten politisch aufgeladen, zugleich am kritischsten gegen die Weimarer Republik gewendet waren die Initiativen, mit denen die wissenschaftlichen 59 Ebd., 236–239. 60 Kai-Uwe Hemken, Die Zukunft im Räderwerk der Harmonie. Utopievorstellungen zweier Werk� bundausstellungen im Jahre 1930, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 39:1 (1994), 79–90, hier 82, Anm. 8. 61 Yvonne Brunhammer, The Art Deco Style. New York: St. Martin’s Press, 1984, 10 f. 62 Éric Michaud, La France et le Bauhaus: le mepris des vainqueurs, in: Das Bauhaus und Frankreich – Le Bauhaus et La France 1919–1940, hg. von Isabelle Ewig, Thomas W. Gaehtgens und Matthias No� ell. Berlin: Akademie, 2002, 9 f.; Kenneth E. Silver, Esprit de Corps. The Arts of the Parisian AvantGarde and the First Wold War, 1914–1925. Princeton: Princeton University Press, 1989, Kap. 1.

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Eliten nach der Niederlage des Kaiserreichs, das ihnen so viele Privilegien eingeräumt hatte, ihre nationale und internationale Stellung wieder aufzurichten suchten. Wenn es eine Erzählung gibt, die in ihrer Abfolge Hochmut und Erniedrigung der Kulturmacht Deutschland sowie ihren stockenden Nachkriegsaufbau zusammenfasst, so ist es die Geschichte der deutschen Wissenschaft zwischen 1910 und 1925. Wissenschaft war das Paradepferd des deutschen Bürgertums, wenn es sich auf die Kulturmacht berief; Wissenschaft wurde in vielen Ländern von führenden Schichten als Inbegriff nationaler Leistungskraft zum Statussymbol erhoben. Mit dieser Anbindung an die Nation stellte ihre Internationalität, ihr Universalismus, wie die Deutschen unter den peinvollen Umständen des Krieges realisierten, ein Luxus dar, der nur in politisch beruhigten Zeiten oder in Elfenbeintürmen als Grundkonsens dienen konnte. Internationalität, so die Erfahrung aus dem Kriege, war gerade nicht das Unpolitische oder Überpolitische, wie man gemeint hatte, sondern das Politische, das man als Sprecher im Kulturkrieg selbst herausgefordert hatte. 1914 hatte sich eine relativ begrenzte Schicht von akademisch Gebildeten, zumeist Hochschullehrern und Publizisten, in einer Zeit militärischer Konfrontation als Sprecher der Nation hervorgetan, während sich eine Mehrheit von Kollegen in ihre Hochschul- und Forschungsreservate zurückzog. Damit festigte sie den öffentlichen Diskurs über Kriegsgründe und Kriegsziele und zugleich auch ihre eigene gefährdete Stellung in der sich rapide modernisierenden Gesellschaft. Wie sich nach kurzer Zeit herausstellte, erschöpfte sich ihre Wirkungsmacht als Kulturträger, wurde von Kriegsalltag und Massenpropaganda verschluckt. Was sichtbar blieb und damit aufs Äußerste verwundbar, war das weltoffene Verbundnetz, innerhalb dessen sich deutsche Wissenschaft als Pionier und beständiger Zulieferer ihre führende Stellung erworben hatte. Die Zerstörung dieses Verbundnetzes setzten die Alliierten mit ihrem Ausschluss der Deutschen aus internationalen Assoziationen und der Abschaffung der deutschen Sprache auf internationalen Kongressen in Gang, bevor sie mit der Einfügung des Artikels 282 in den Versailler Vertrag zu einem Bestandteil der neuen Nachkriegsordnung wurde. Der Artikel bestimmte, dass alle mit Deutschland geschlossenen „Kollektivverträge, Vereinbarungen und Abmachungen wirtschaftlichen oder technischen Charakters“ mit einigen im Vertrag angeführten Ausnahmen ihre Gültigkeit verlieren sollten. In die auf einen neuen Internationalismus gerichtete Nachkriegsordnung baute man als Strafe ein, Deutschland den Zutritt zum Völkerbund zu verwehren und seine Wissenschaft von der Kooperation mit den wichtigsten internationalen Verbänden auszuschließen. Dafür waren 1919 ohne Beteiligung der Deutschen und Österreicher der Internationale Forschungsrat (Conseil international de recherches) für die Naturwissenschaften und die Internationale Akademie-Union (Union

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académique internationale) für die Geisteswissenschaften gegründet worden. Auch nachdem Deutschland 1926 dem Völkerbund beitrat, kam es aufgrund der tiefen Gräben zwischen französischen und deutschen Wissenschaftsverbänden während der Weimarer Republik zu keiner allseits akzeptierten Beitrittslösung. Ob die geforderte Widerrufung des „Aufrufs an die Kulturwelt!“ von 1914 deutschen Gelehrten die Tore zu einer neuen internationalen Zusammenarbeit geöffnet hätten, ist als müßige Frage beiseitegeschoben worden.63 Festzuhalten bleibt jedoch die Tatsache, dass sich die Mehrheit der deutschen Gelehrten und Wissenschaftsorganisatoren den Konsequenzen des von ihnen mitgeschaffenen Kulturkrieges und den Gründen für ihre internationale Niederlage nie wirklich gestellt hat. Das schließt die noch grundlegendere Tatsache ein, dass sie nicht begreifen oder nicht zugeben wollte, dass es eine Niederlage war, und das wiederum verband sie mit den konservativen und nationalistischen Schichten, die dies auf die gesamte deutsche Kriegsanstrengung anwendeten. Einer der wenigen Universitätsprofessoren, die diese Versäumnisse in aller Öffentlichkeit anprangerten, war der Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster, dem die Münchener Kollegen daraufhin das Leben so schwer machten wie nur möglich. Auch Foerster lehnte den Versailler Vertrag als Grundlage einer besseren Nachkriegsordnung ab, forderte aber auf deutscher Seite eine rückhaltlose Gewissenserforschung, um eine neue Grundlage für die internationale Zusammenarbeit zu finden; dazu gehöre die Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die systematischen Verwüstungen Nordfrankreichs und Belgiens durch die deutsche Kriegsführung.64 Anstatt sich in eine trotzige Isolierung zurückzuziehen, erklärte Foerster, solle man den Deutschen die Haltung des Auslands psychologisch erklären. In der Tat hat „die Dialektik der deutschen Weigerung, sich auf den Krieg und seine Folgen für andere einzulassen“, darin bestanden, so der Historiker Gert Krumeich in einer späteren Analyse, dass auf alliierter Seite „die zunächst eher demagogisch-affektive Betonung des deutschen ‚Verbrechens‘ in kurzer Frist zum politischen Prinzip und zur Rechtsgrundlage der Reparationen umgebaut wurde.“65 Organisatorisch folgte das Wissenschaftsestablishment 1919 mit seiner Gründung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft dem 1916 entstandenen amerikanischen National Research Council, gewann seine breite 63 Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur, 117 f. 64 Friedrich Wilhelm Foerster, Weltpolitik und Weltgewissen. München: Verlag für Kulturpolitik, 1919, bes. 80–127; ders., Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland. Gesichtspunkte zur deutschen Selbsterkenntnis und zum Aufbau eines neuen Deutschland. Stuttgart: Friede durch Recht, 1920, bes. 184–198. 65 Gerd Krumeich, Versailles 1919. Der Krieg in den Köpfen, in: Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, hg. von dems., Essen: Klartext, 2001, 53–64, hier 58.

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Unterstützung aber vor allem damit, dass es die Aktionen zentraler Selbstorganisierung unter Mitwirkung des Staates fortsetzte, die während des Krieges vor allem auf industriellem Gebiet das Durchhalten auf deutscher Seite ermöglicht hatte. Als „letzte Bastion“ deutscher Weltmachtstellung sollte nun die Wissenschaft, wenn auch in der Defensive, die Aufgabe übernehmen, die alliierte Weiterführung des Krieges auf diesem Gebiet zu parieren. In dem Trend zur Selbst­organisierung und wirtschaftsbasierten Finanzierung der Wissenschaft, der schon die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ermöglicht hatte, äußerte sich ein Modernisierungsphänomen, das dem traditionellen Forscher und Hochschullehrer nicht zuletzt deshalb Unbehagen bereitete, als es mit der Ablösung des konstitutionellen Obrigkeitsstaates durch den Weimarer Parteienstaat einherging, „in dem politische Entscheidungen Resultate der Konflikte divergierender gesellschaftlicher Gruppen wurden, in dem die Öffentlichkeit und die sich öffentlich organisierenden Kräfte maßgeblich wurden.“66 Die im September 1920 nach Bad Nauheim einberufene erste Nachkriegstagung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte geriet nicht nur zur Demonstration des Widerstandswillens gegen die „Annektierung“ der deutschen Wissenschaft durch „die Feinde“, die zugleich von Selbstmitleid durchdrungen war, sondern auch zu einer unverhüllten Ablehnung des Weimarer Parteienstaates.67 Davon grenzten sich Vernunftrepublikaner wie Friedrich Meinecke, Hermann Oncken und Ernst Troeltsch ab. Andere führende Wissenschaftspolitiker hielten sich mit Grundsatzerklärungen zugunsten der Republik zurück, so etwa Friedrich Schmidt-Ott, der preußische Kultusminister vor 1918 und erfolgreiche, autoritativ geschickte Präsident der Notgemeinschaft,68 wie auch Adolf von Harnack, der kaisertreue Gründer und Präsident der Kaiser-WilhelmGesellschaft, und Max Planck, der Physik-Nobelpreisträger und spätere KWGPräsident. Wie Brigitte Schröder-Gudehus dargelegt hat, schotteten die Boykott-Bedingungen die deutsche Wissenschaft offiziell von der gewohnten, wenn auch 66 Thomas Nipperdey und Ludwig Schmugge, 50 Jahre Forschungsförderung in Deutschland. Ein Abriß der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Bonn: DFG, 1970, 11. 67 Paul Formann, Die Naturforscherversammlung in Nauheim im September 1920. Eine Einführung in das Wissenschaftsleben der Weimarer Republik, in: Physiker zwischen Autonomie und Anpassung, hg. von Dieter Hoffmann und Mark Walker. Weinheim: Wiley-VCH, 2007, 29–58. 68 Schmidt-Ott bezeugte seine Kaisertreue mit der Schilderung seines Aufenthaltes im Sommer 1921 in Doorn, bei dem er dem abgedankten Kaiser Wilhelm II. drei Wochen lang Gesellschaft leistete, in seiner bereits genannten Autobiographie Erlebtes und Erstrebtes 1860–1950. Wiesbaden: Steiner, 1952, 189–202. Eine Darstellung seiner Persönlichkeit gibt Jochen Kirchhoff, Wissenschaftsförderung und forschungspolitische Prioritäten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 1920–1932. Diss. LMU München, 2003 (PDF 2007), bes. 12–14, 43–46.

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nicht immer geschätzten internationalen Kooperation ab.69 Zugleich hat die Forscherin deutlich gemacht, dass die Abschottung von Anfang an durchlässig war. In der alltäglichen Praxis grenzüberschreitender, wissenschaftlich begründeter Kontaktnahme setzten sich zunächst im Verkehr mit neutralen Ländern, später aber auch unter den ehemaligen Feinden pragmatische Verhaltensformen durch. Indem Berichterstatter die Probleme der Wissenschaftler immer wieder auf die (Nicht‑)Beteiligung von Deutschen und Österreichern an Konferenzen und internationalen Projekten reduzierten, stärkten sie die Sache des Gegen­ boykotts und lenkten von den wirklich drängenden Aufgaben ab, denen die Unterstützungsaktionen der Notgemeinschaft von Anfang an galten. Grob zusammengefasst ging es darum, das aufwendige Netz internationaler Wissenschaftsinformation, das von deutschen Referateorganen, Zeitschriften, Fortschritts­berichten vor 1918 dominiert worden war, trotz der enormen Verschlechterung der deutschen Währung, des Abbrechens der Unterstützung vonseiten ausländischer Kollegen, des Ausfalls von Zeitschriftenlieferungen und des Literaturaustauschs sowie des umfassenden Feldzuges gegen die deutsche Sprache einigermaßen intakt zu halten. Im Namen der Preußischen Akademie der Wissenschaften sprach Max Planck 1919 davon, dass das Reich „für einen günstigen Ausgang des Kampfes, den die deutsche Wissenschaft jetzt um ihre Weltgeltung führen muß“, finanzielle Unterstützung gewähren müsse. Die Hilfsaktion für die deutschen Referateorgane sei dringlich: „Dass auf diesem Gebiete gegenwärtig eine ernste Gefahr droht, beweisen die jetzt in verschiedenen Ländern, besonders in Amerika, Frankreich und England auftauchenden Konkurrenzunternehmen, welche den Augenblick für günstig halten, um die deutsche Berichterstattung zu ersetzen, sie dadurch auszuschalten und ihr Erbe anzutreten. Dem gegenüber gilt es rasch und kräftig zuzufassen und vor Allem dasjenige festzuhalten, was bisher in unserem sicheren Besitz war.“70 Mit der Militanz seiner Sprache traf Planck den Nerv der Verantwortlichen. Dank des großen Verhandlungsgeschicks des Nobelpreisträgers und erfolgreichen Wis69 Schröder-Gudehus, Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit 1914–1928. Eine ausführlichere, das Quellenmaterial erweiternde Darstellung des Boykotts und der Gegenmaßnahmen bei Reinbothe, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg. 70 Zit. nach Reinbothe, 322. Militanter äußerte sich Karl Kerkhoff, der Leiter der 1920 gegründeten Reichszentrale für naturwissenschaftliche Berichterstattung, u. a. in: Der Krieg gegen die deutsche Wissenschaft. Eine Zusammenstellung von Kongreßberichten und Zeitungsmeldungen. Wittenberg: Herrosé & Ziemsen, 1922. Über die Reichszentrale als Informationsstelle für Wissenschaft und Tech� nik s. Elke Behrends, Die Auswirkungen des Boykotts der deutschen Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg auf das Referatenwesen. Die Reichszentrale für naturwissenschaftliche Berichterstattung, in: Fachschrifttum, Bibliothek und Naturwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Chri� stoph Meinel. Wiesbaden: Harrassowitz, 1997, 53–66.

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senschaftsmanagers Fritz Haber entstand die Notgemeinschaft als private Gesellschaft, der das Reich, zunächst mit 20 Millionen Mark für 1921, eine von allen Parteien getragene Unterstützung gewährte. Wie im Bereich geistiger und künstlerischer Kultur, wo erste Kontakte über private und kommerzielle Kanäle geknüpft wurden, hielt sich das Auswärtige Amt im Wissenschaftsbereich zurück, trat nur bei den Bemühungen um die im Ausland, vorwiegend in Italien und Griechenland angesiedelten deutschen Forschungsinstitute, die teilweise enteignet worden waren, stärker in Erscheinung. Diese sollten so weit wie möglich in Distanz von den staatlichen Vertretungen ihre Arbeit in gegenseitigem Einvernehmen mit den Wissenschaftsorganisationen des Gastlandes leisten (was den Botschaften häufig gegen den Strich ging). Mit dieser Zurückhaltung gelang es beispielsweise, mit einem Land, das sich während des Krieges und auch danach höchst fair und freundschaftlich verhalten hatte, intensive wissenschaftliche Verbindungen aufzunehmen: Spanien. Neben der 1927 gegründeten Arbeitsstelle für deutsch-spanische Wissenschaftsbeziehungen (Centro de intercambio intelectual germano-español) gründete die Görres-Gesellschaft in Madrid ein Spanisches Institut, das sich über den Zweiten Weltkrieg hinweg erhielt.71 Eigene Aufmerksamkeit verdient, wie es im Falle der Sowjetunion geschehen ist, die Aufnahme geheimer Kontakte im militärischen und waffentechnischen Bereich, auf dem das Reich die Blockade des Versailler Vertrages auch im Falle Spaniens umging. Die Kooperation von Wissenschaftlern, Technikern und anderen Experten hat sich hier bis weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus fortgesetzt.72 Die Entscheidung, die Notgemeinschaft als private Gesellschaft und nicht als Staatskommissariat zu gründen und in gewisser Distanz zum Staat zu führen, wie es schon bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geschehen war, räumte der selbstverwalteten Institution im Umgang mit dem Ausland Hindernisse aus dem Weg. Denn sie war von Anfang an sowohl als Bollwerk zum Schutze der deutschen Wissenschaft gegen den Boykott der Ententemächte wie auch als Hilfsagentur bei der Bewältigung der enormen Probleme konzipiert worden, die sich aus dem Zusammenbruch des wilhelminischen Staates und der Verar71 Georg Schreiber, Deutsche Wissenschaftspolitik von Bismarck bis zum Atomwissenschaftler Otto Hahn. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag, 1954, 65–69. Über die deutschfreundliche Haltung eines Großteils spanischer Eliten während des Ersten Weltkrieges s. Gerald H. Meaker, A Civil War of Words. The Ideological Impact of the First World War on Spain, 1914–18, in: Neutral Europe between War and Revolution, 1917–1923, hg. von Hans A. Schmitt. Charlottesville: University Press of Virginia, 1988, 9–63. 72 Albert Preses I Puig, Deutsche Wissenschaftler und Spezialisten in Spanien im 20.  Jahrhundert. Kontinuitäten und Umbrüche, in: Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, hg. von Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt und Aleksandra Pawliczek. Stuttgart: Steiner, 2006, 153–166.

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mung des Landes nach vier Jahren Krieg ergaben. Dabei erhofften sich die Gründer finanzielle Unterstützung von ausländischer Seite – die sie auch tatsächlich erhielten, teilweise von überraschenden Geldgebern. Eine wirkungsvolle diskursive Strategie brach das Eis. Unter dem Vorzeichen der Verarmung, aber auch im Zeichen des Versailler Vertrages, von dem man sich über Gebühr bestraft fühlte, zeigte schon der öffentliche Gebrauch der Begriffe „Not“, „Notgemeinschaft“, „deutsche Not und Wissenschaftsnot“, „Notlage der Museen“ oder „Not der geistigen Arbeiter“ die Agenda einer Opferrolle an, die dort, wo die deutsche Wissenschaft als Partner und Innovator, nicht als Gegner galt, Hilfsbereitschaft wecken konnte. Mit der Denkschrift „Die Not der Deutschen Wissenschaft“ lieferte Schmidt-Ott 1920 das Stichwort für die Forderung nach Unterstützung. In diesem Sinne und unter Verwendung der genannten Begriffe trug der wichtigste Kulturpolitiker des Reichstages, der Zentrumsabgeordnete Prälat Georg Schreiber, die alarmierendsten Daten der kulturpolitischen Nöte zu Beginn der zwanziger Jahre in der viel zitierten Schrift Die Not der deutschen Wissenschaft und der geistigen Arbeiter (1923) zusammen, zugleich einem Hymnus ans deutsche Selbstmitleid. Schreiber war maßgeblich für die Bereitschaft des Reichstages verantwortlich, der deutschen Wissenschaft die benötigten Mittel zur Verfügung zu stellen. Er rechnete sich und der Zentrumsfraktion mit Recht als besonderes Verdienst an, 1922 eine zweitägige Debatte initiiert zu haben, in der zentrale Argumente für die Unterstützung der Wissenschaft zur Sprache kamen, die weiterhin das öffentliche Wohlwollen ermöglichten. Neben der Weltgeltung der deutschen Wissenschaft, die ihre historische Gültigkeit beim Aufstieg des Kaiserreichs erwiesen hatte und bewahrt werden sollte, schloss das die Feststellung ein, dass Wissenschaft entscheidend zum volkswirtschaftlichen Reichtum des Landes beitrage. Schreiber griff tief ins nationale Alarmarsenal: „Rückgang wissenschaftlicher Forschungsinstitute ist aber gleichbedeutend mit dem Niedergang deutscher Volksgesundheit, unserer Volkskraft und unserer Volkswirtschaft. Damit sinkt auch ein Stück deutschen Weltruhms und deutscher Weltgröße dahin […] der Niedergang der wissenschaftlichen Bücherherstellung [ist] gleichbedeutend mit dem Niedergang deutschen Ansehens, auch mit der Möglichkeit, moralische Eroberungen im Auslande zu machen […].“73 Der letztere Punkt – die zentrale Bedeutung des deutschen, zumeist wissenschaftlichen Buchs für die auswärtige Kulturpolitik – hatte bereits 1919 zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Auslandsbuchhandel geführt, bei welcher Anton Kippenberg die Notlage sehr konkret beschrieb: „Heute stehen wir fast 73 Zit. nach Ulrich Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Gründung und frühe Ge� schichte 1920–1925. Frankfurt: Lang, 1994, 124 f.

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überall, wohin wir blicken, auf einem Trümmerfeld. Im feindlichen Auslande, d. h. im weitaus größten Teil der Welt, sind die im Besitze von Reichsdeutschen befindlich gewesenen Buchhandlungen zumeist liquidiert, die anderen Buchhandlungen aber, die sich früher mit dem Vertriebe deutscher Bücher befaßten, haben sich in den langen Jahren gänzlich auf den Vertrieb anderssprachiger Bücher eingestellt […].“74 Die Liste der Zuwendungen an die Notgemeinschaft aus dem Ausland ist ein bemerkenswerter Beweis dafür, dass die über Jahrzehnte hinweg entstandene Ausstrahlung der deutschen Wissenschaft zusammen mit der Opferagenda und dem Verbundenheitsgefühl von Auslandsdeutschen zu konkreten Hilfeleistungen führte. Bereits zur Gründungssitzung der Notgemeinschaft überreichte der Präsident des amerikanischen Central Relief Committee und Vorsitzende der Amerikanischen Freunde des Deutschtums, Dr. Lieber, eine private Spende von 50.000 Mark für die ersten Aufgaben der Geschäftsführung. Von dem berühmten deutschgebürtigen Anthropologen Franz Boas in New York ins Leben gerufen, erwies sich die Emergency Society for German and Austrian Science mit Bücher- und Geldspenden besonders großzügig; sie stellte der Notgemeinschaft bis 1922 umgerechnet knapp 1,7 Millionen Mark zur Verfügung, dazu noch direkte Überweisungen an deutsche Wissenschaftler. Ab 1921 finanzierte die Rockefeller Foundation den Ankauf englischsprachiger medizinischer Zeitschriften mit jährlich 10.000 Dollar und begann 1922 eine auf fünf Jahre angelegte Unterstützung mit jährlich 50.000 Dollar, die zunächst für Nachwuchsstipendien in Medizin bestimmt waren.75 Die Informationsabteilung des Obersten Volkswirtschaftsrates der Sowjetunion schickte Referate russischer Arbeiten in deutscher Übersetzung sowie naturwissenschaftliche Fachliteratur und stellte eine größere Summe für den Ankauf deutscher Referateorgane bereit.76 Die Deutsche Überseeische Bank sammelte in Südamerika Spenden in Höhe von 100.000 Mark, der Deutsche Wissenschaftliche Verein in Buenos Aires brachte umgerechnet 250.000 Mark auf. Ein Aufruf an die schweizerischen ehemaligen Studierenden an deutschen und österreichischen Hochschulen ergab über 100.000 Mark, von denen 15.000 an die österreichische Wissenschaft weitergeleitet wurden. Aus skandinavischen Ländern erhielt 74 Bericht über die Gründungsversammlung der Deutschen Gesellschaft für Auslandsbuchhandel im deutschen Buchgewerbehause, Leipzig, den 10.  Mai 1919, 14. (Zu finden in dem im Deutschen Literaturarchiv Marbach zugänglichen Archiv des Cotta’schen Verlags, Stuttgart). Siehe auch Richard Fick, Auslandsdeutschtum und Kulturpolitik. Neumünster: Dittmann, 1920, speziell über deutsch� sprachige Bibliotheken im Ausland, 21–52. 75 Angaben nach Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, 129 f. 76 Reinbothe, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Welt� krieg, 326.

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die Notgemeinschaft 1921/22 Fachliteratur im Wert von 3,12  Millionen Mark.77 Besonderes Aufsehen erregte die Spende von 2 Millionen Mark, die der japanische Chemiker und Großindustrielle Hajima Hoshi 1922 sandte, mit der er vor allem chemische Forschung und physikalische Atomforschung gefördert wissen wollte.78 Ebenso unerwartet war die Überweisung der Summe von 1.350.000  Mark aus Brasilien, die der Journalist und spätere Zeitungskönig Assis Chateaubriand durch ein in Rio de Janeiro gegründetes Unterstützungskomitee sammelte. Diese und andere aus dem Ausland eintreffenden Beträge halfen dem Ansehen der Notgemeinschaft, auch wenn sie deren Budget nicht tragen konnten. Das lebte 1921 und 1922 im Wesentlichen von den Reichzuschüssen von je 20 Millionen, die dann permanent, obgleich mit unterschiedlichen Summen, das Rückgrat der Finanzierung bildeten. Die internationale Unterstützung half psychologisch und schnitt im Übrigen im Vergleich mit den relativ kleinen Summen, die der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft jährlich erbrachte, nicht schlecht ab. Die mit seiner Gründung Ende 1920 verbundenen Hoffnungen, Industrie, Banken und Handel zu wichtigen Geldgebern für die Wissenschaft zu machen, wurden nicht zuletzt dadurch enttäuscht, dass der Stifterverband nicht die Spenden, sondern nur deren Zinsen verwenden konnte. So erhielt die Notgemeinschaft 1922 etwa 2,4 Millionen Mark; zwischen 1924 und 1933 lag der Betrag jährlich bei 1,3 Millionen.79 Zentrale Bedeutung für die folgenden Jahre erlangten die Beziehungen zur Rockefeller Foundation, die die Notgemeinschaft neben Großbritannien und Frankreich in ihr Westeuropakontingent einschloss.80 Von Anfang an formte die Kontaktnahme mit dem Ausland auch die Präferenzen der internen Unterstützungspolitik. Neben Forschungsliteratur und Grundlagenforschung standen „auslandskulturpolitisch“ wirkungsvolle Expeditionen und Reisen deutscher Wissenschaftler hoch auf der Liste der Notgemeinschaft.81 Besonders große öffentliche Resonanz fand 1928 die gemeinsam 77 Abelein, Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland, 31. 78 Schreiber, Die Not der deutschen Wissenschaft, 103; Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, 130. 79 Winfried Schulze, Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 1920–1995. Berlin: Akademie, 1995, 73; Gerald D. Feldman, The Politics of Wissenschaftspolitik in Weimar Germany. A Prelude to the Dilemmas of Twentieth-Century Science Policy, in: Changing Boundaries of the Political. Essays on the Evolving Balance between State and Society, Public and Private in Europe, hg. von Charles S. Maier. Cambridge: Cambridge University Press, 1987, 255–285, hier 269. 80 Kurt Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsgemeinschaft. Geschichte – Arbeitsweise – Kommentar. Wiesbaden: Steiner, 1968, 103; Malcolm Richardson, Philanthropy and the Internationality of Learning. The Rockefeller Foundation and National Socialist Germany, in: Minerva 28 (1990), 21–58, bes. 21–27. 81 Kirchhoff, Wissenschaftsförderung und forschungspolitische Prioritäten, 103.

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mit der Akademie der Wissenschaften der UdSSR unternommene Altai- und Pamir-Expedition in das gewaltige Zentralgebirge im Innern Asiens. In seinem Bericht vermerkte Präsident Schmidt-Ott nicht ohne Stolz, dass der größte Gletscher auf Vorschlag russischer Teilnehmer „Notgemeinschafts-Gletscher“ getauft wurde, während der höchste Gipfel den Namen Pik Lenin erhielt.82 Weniger spektakulär, aber umso breiter basiert war die Wiederanknüpfung der Kontakte mit Russland in Medizin und Wissenschaft, Bibliothekswesen und Nachwuchsförderung, die nach Rapallo 1922 auf beiden Seiten als Durchbruch der Isolation gewertet und dementsprechend gefördert wurde. Insgesamt war ja die Isolation des in der Revolution und danach geschaffenen und mit Waffengewalt gegen polnische und alliierte Truppen verteidigten Sowjetstaates viel schärfer und lebensbedrohender als alles, was die Weimarer Republik durchmachte.83 In der breit angelegten Mitarbeit beim Aufbau der medizinischen Versorgung des Riesenlandes bestätigte die deutsche Medizin ihren im westlichen Boykott ramponierten großen Ruf. Die Entsendung zahlreicher deutscher Ärzte und die Förderung deutscher Krankenhäuser in der UdSSR wertete man als Teil der viel beschworenen Revision des Versailler Vertrages.84 Dass die Restitution deutscher Wissenschaft von dem einstigen Feindesland mit Nachdruck bezeugt wurde, hielt die innerdeutsche Kritik an der gleichzeitigen „kommunistischen Unterwanderung“ im Zaum; die wissenschaftliche Codierung der Elitenkontakte ermöglichte es beiden Seiten, die organisatorischen Mechanismen als etwas jenseits von Politik und Propaganda Existierendes über prekäre Klippen hinwegzuheben. Dazu gehörte auf sowjetischer Seite die Realisierung, dass die deutsche Seite die harsche Behandlung deutscher Minderheiten zu einem konstanten Anklagethema erhob, ja die Behandlung der Deutschrussen in den zwanziger und dreißiger Jahren zum Paradigma jenes Opfers machte, das die Auslandsdeutschen für die Volksgemeinschaft brachten.85 Nichts aber konnte das Ansehen der deutschen Wissenschaft im Ausland so sichtbar anheben wie die Vortragsreisen, die Albert Einstein bald nach Kriegsende auf Einladung in die verschiedensten Länder, darunter England und die Vereinigten Staaten (1921), Japan (1922), Frankreich (1922) und Spanien 82 Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes 1860–1950, 226. 83 „Wann hat je, seitdem es Europa als politischen Begriff gibt, eine Großmacht ersten Ranges jahrelang auf ihre Anerkennung im Konzert der Mächte warten müssen?“ Emil Lederer, Rußland in der Weltpolitik, in: Neue Rundschau 37 (1926), 567–576, hier 568. 84 Wolfgang U. Eckart, Medizin und auswärtige Kulturpolitik der Republik von Weimar – Deutschland und die Sowjetunion 1920–1932, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 10 (1993), 107–144; Christine Böttcher, Das Bild der sowjetischen Medizin in der ärztlichen Publizistik und Wissen� schaftspolitik der Weimarer Republik. Pfaffenweiler: Centaurus, 1998, 7 f. 85 James E. Casteel, The Russian Germans in the Interwar German Imaginery, in: Central European History 40 (2007), 429–466.

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(1923) sowie nach Südamerika unternahm. Als Urheber der Relativitätstheorie, der dem Nationalismus des „Aufrufs an die Kulturwelt!“ seine Unterschrift verweigert hatte, als Pazifist und Internationalist wurde Einstein als einziger deutscher Gelehrter eingeladen, der Völkerbundkommission für intellektuelle Zusammenarbeit (Commission de cooperation intellectuelle) beizutreten, die 1921 gegründet wurde und 1922 unter Vorsitz von Henri Bergson mit zwölf Mitgliedern zusammentrat. Obwohl er 1920 den ersten üblen antisemitischen Angriffen ausgesetzt war, nach denen ihm der preußische Kultusminister Haenisch die volle Unterstützung des Staates zusicherte (und Einstein seinerseits erklärte: „Einem Ruf in’s Ausland würde ich nur in dem Falle Folge leisten, dass äußere Verhältnisse mich dazu zwingen“86), stellte er sich zunächst ganz der Aufgabe zur Verfügung, die Kluft zwischen Deutschland und der internationalen Gelehrtenwelt zu überwinden. Hierbei stand er voll im Visier des Auswärtigen Amtes, das ihn als Botschafter der deutschen Kultur, nicht nur der deutschen Physik im Einsatz sah. Dazu gehörten die Bemühungen des Amtes, den Einstein 1922 verliehenen Nobelpreis auf das deutsche Konto zu verbuchen. („Etliche juristische Winkelzüge waren notwendig, damit aus dem Schweizer Staatsbürger, der Einstein offiziell noch immer war, ein deutscher bzw. preußischer Staatsangehöriger wurde und der deutsche Gesandte in Stockholm in Abwesenheit des Laureaten den Preis in Empfang nehmen konnte.“87) Als sich Einstein nach dem Mord an Rathenau als Jude, der seit 1920 für den Zionismus eintrat, bedroht fühlte und die Sprecherrolle für die deutsche Wissenschaft – die zahlreiche Antisemiten und Neider einschloss – ablegen wollte, verzögerte sich sein Austritt aus der Kommission, den er 1923 voller Desillusion auch über die Politik des Völkerbundes, letztlich über Frankreichs aggressive Politik gegen Deutschland, vollzog. Locarno ebnete seine Rückkehr in die Kommission, die er endgültig 1931 verließ. Die Anfeindungen in Deutschland, sei es von den Gegnern der Relativitätstheorie, die sie als jüdisch denunzierten und ihr eine deutsche Physik entgegenzustellen versuchten, sei es von Antisemiten, warfen auf seine auf vielen Auslandsstationen glanzvoll wahrgenommene Rolle als wissenschaftlicher Botschafter einen starken Schatten. In jedem Falle aber dürfte diese in den frühen zwanziger Jahren zur Durchlöcherung des Boykotts beigetragen haben. Dem sind, wie der Historiker Fritz Stern angemerkt hat, die Bemühungen des anderen jüdischen Nobelpreisträgers, Fritz Haber, der im Unterschied zu Einstein zugleich ein überaus geschickter und erfolgreicher Wissenschaftsorga86 Zit. nach Relativitätstheorie und Weltanschauung. Zur philosophischen und wissenschaftspolitischen Wirkung Albert Einsteins. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1967, 205. 87 Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur, 142.

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nisator war, bei der Überwindung des Boykotts zur Seite zu stellen.88 Obwohl Haber, der dem deutschen Militär mit der Entwicklung von Giftgas im KaiserWilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie eine furchtbare Waffe zur Verfügung stellte, im westlichen Ausland immer wieder Abwehr und Misstrauen hervorrief, vermochte er aufgrund seiner wissenschaftlichen und organisatorischen Brillanz die Schranken zu überwinden, teilweise in enger Zusammenarbeit mit Außenminister Stresemann. Ein besonderes Verdienst kommt ihm zudem bei der zu dieser Zeit ungewöhnlichen parallelen Errichtung der Japanisch-Deutschen Kulturinstitute in Berlin und Tokio 1926/27 zu, für die er bei seiner Japanreise, die ihn mit dem Mäzen Hajime Hoshi zusammenführte, die Anregung erhielt.89 Obwohl Haber im Unterschied zu dem Internationalisten, Pazifisten und Zionisten Einstein ein laut und loyal der nationalen Größe verpflichteter Patriot war, wurde er auch zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe, besonders aus den Reihen von Wissenschaftlern, welche die Bemühung um Internationalismus als Verrat, nämlich als Anerkennung der Versailler Nachkriegsordnung, denunzierten. Die Codierung von Internationalismus als „jüdisch“ war nichts Neues, ihre Zusammenstellung mit dem „Versailler System“ verstärkte jedoch die Abneigung, an der Überwindung der Isolation, für die sich viele Juden einsetzten, mitzuarbeiten. Mehr noch, die Selbstverpflichtung innerhalb des Boykotts führte häufig zur Ablehnung von Einladungen, die nach einiger Zeit von völkerbundbasierten Forschungsorganisationen ergingen, und nicht selten zur Behauptung dessen, was man aus dem Munde von Franzosen im Krieg als Propaganda abgelehnt hatte: einer genuin deutschen – gegenüber der universal gültigen – Wissenschaft. Dem stellte sich für die Verfechter einer solchen deutschen Wissenschaft die Relativitätstheorie Einsteins entgegen, die geradezu über Nacht von der internationalen scientific community, zunächst der britischen Forschungsöffentlichkeit, anerkannt und gerühmt wurde. An ihrer Anerkennung schieden sich die Geister der deutschen Wissenschaftler, und diejenigen, die sich mit den Nobelpreisträgern Johannes Stark und Philipp Lenard zunehmend nationalistisch begründeten Modellen der Physik zuwandten, machten die Abschließung Deutschlands gegenüber einem als halt- und kulturlos geschmähten Internationalismus zu einem Programm, das dem Boykott in die Hände spielte.90 88 Fritz Stern, Freunde im Widerspruch. Haber und Einstein, in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, 516–551, bes. 542. 89 Eberhard Friese, Kontinuität und Wandel. Deutsch-japanische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, in: ebd., 801–834, bes. 818–827. 90 Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur, 149–164.

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In dieser Spaltung der Geister lässt sich etwas von jener „verunsichernd rückwärtsgewandten Abschottung und ängstlichen Dämpfung des Modernisierungstempos“ erkennen, die der Technikhistoriker Ulrich Wengenroth bereits unter deutschen Gelehrten der Kaiserzeit entdeckte und die „die Janusköpfigkeit des Innovationssystems in der Zwischenkriegszeit so nachhaltig prägte.“ Wengenroths viel diskutierte These von der „Flucht in den Käfig“ schlägt von der Selbstbehauptungsmentalität der Kriegsjahre und den Autarkiebemühungen deutscher Wissenschaftler in der Zwischenkriegszeit einen Bogen zu der viel verzweigten Forschungspolitik des Zweiten Weltkrieges, in der die deutsche „Ersatzstoffkultur“ weitere Triumphe verzeichnete.91 So viel Lob diese „Ersatzstoffkultur“ in Deutschland erfahren habe, so abträglich sei sie der Innovationskultur gewesen, die Wengenroth mit internationaler Arbeitsteilung und der Ausrichtung am Weltmarkt assoziiert. Ob damit der tatsächliche Innovationsschub in der auf Anwendbarkeit getrimmten, hochsubventionierten Technikforschung im Zweiten Weltkrieg voll erfasst wird, aufgrund dessen Alliierte bei Kriegsende eine ausgedehnte Jagd auf deutsche Wissenschaftler, Verfahren und Patente veranstalteten, ist inzwischen angezweifelt worden.92 Ohnehin fügte sich die Wissenschaftsentwicklung auch der Weimarer Republik in die allgemeine Tendenz der Verwissenschaftlichung ein, die alle fortgeschrittenen Gesellschaften im 20. Jahrhundert erfasste. Innerhalb dieses internationalen Trends stand Deutschland weit vorn, unterschied sich aber nur graduell, nicht qualitativ von anderen Ländern. Im Ausbau der „Wissensgesellschaft“ wuchs, wie Margit Szöllösi-Janze resümierte, unter staatlicher Förderung „ein ganzes System von Forschungseinrichtungen aus Industrielaboratorien, Hochschulen und außeruniversitären Instituten, in das die Großindustrie auf allen Stufen der Wissensproduktion eng eingebunden war. Damit entstand in Deutschland bereits in den zwanziger Jahren eine in Europa einmalige verwissenschaftlichte Gesellschaft, in der 1930 der Anteil der öffentlichen wie privaten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung gut 1  Prozent des Nettoinlandsprodukts betrug, während dies in Großbritannien, das auf den Welthandel ausgerichtet blieb und eine fast doppelt so große Wirtschaftskraft

91 Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig. Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland 1900–1960, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. von Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas. Stuttgart: Steiner, 2002, 52–59, hier 55. 92 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschau� ungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5–40.

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hatte, nur 0,4 Prozent waren.“93 Die Kontinuitäten zur aktiven Wissenschaftspolitik des wilhelminischen Staates lassen sich nicht übersehen. Freilich war die damals in Teilbereichen begonnene Verwissenschaftlichung wirtschaftlichen und sozialen Handelns inzwischen zu einem übernationalen Phänomen geworden.

Deutsch-französische Konfrontation: Schlechte Verlierer, schlechte Sieger Mit der Besetzung des Rheinlandes, des Saargebiets und 1923 auch des Ruhrgebiets, mit welcher der französische Ministerpräsident Henri Poincaré die deutsche Regierung zur Zahlung längst fälliger Reparationsverpflichtungen zwingen wollte, hatte Frankreich gemäß der Idee der „penetration pacifique“ eine Reihe kulturpolitischer Organisationen gründen lassen, die den Separationstendenzen Auftrieb geben sollten.94 Ihnen zu entgegnen, überließ man der Reichszentrale für Heimatdienst, die mit den Spitzen der rheinischen Kulturorganisationen die „Rheinische Kulturkonferenz“ sowie die „Rheinische Frauenliga“ begründete. Letztere war maßgeblich daran beteiligt, dass die Anwesenheit farbiger schwarzer Besatzungstruppen zur „schwarzen Schmach am Rhein“ hochgespielt wurde und internationale Resonanz fand, besonders lautstark in den amerikanischen Südstaaten.95 Die defensive kulturpolitische Strategie des Auswärtigen Amtes besagt demnach nicht, dass das Amt keine Propaganda machte. Allerdings lieferte es eine international ausgerichtete Propaganda gegen den Versailler Vertrag, die dessen Revision dienen sollte, primär nicht über die Codierung von Kulturpolitik oder Kulturpropaganda. Das Amt installierte vielmehr bereits vor der Gründung der Kulturabteilung 1919 ein Kriegsschuldreferat, dem unter wissenschaftlichem Vorzeichen die Sammlung und Sichtung aller Aktenbestände und Veröffentlichungen oblagen, die mittelbar oder unmittelbar die Anklage der Sieger über Deutschlands Kriegsschuld betrafen. Diese Anklage sollte wissenschaftlich widerlegt werden. Sein Initiator, Bernhard Wilhelm von Bülow, sah mit Blick auf den Artikel 231 in der „unbegreiflichen Unvorsichtigkeit“ der 93 Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung der deutschdeutschen Zeitgeschichte?, in: Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-WestKonflikts, hg. von Hans Günter Hockerts. München: Oldenbourg, 2004, 277–305, hier 283. 94 Ein umfassender Überblick bei Ernst Hans Kaden und Max Springer, Der politische Charakter der französischen Kulturpropaganda am Rhein, 2. Auflage. Berlin: Vahlen, 1924. 95 Klaus Wippermann, Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik. Köln: Wissenschaft und Politik, 1976, 206 f.

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Siegermächte, „den ganzen Vertrag auf einer Lüge aufgebaut zu haben, nämlich auf dem erzwungenen Geständnis Deutschlands alleiniger Schuld am Kriege“, den Hebel für eine Revision des Versailler Friedens.96 Bülows Nachfolger im Referat, Hans Freytag, erweiterte die wissenschaftliche Arbeitsgrundlage, welche die Widerlegung der Kriegsschuldthese, die das Amt voreilig zur Basis der Revisionspolitik gemacht hatte, ständig als deren Rechtfertigung untermauern und wachhalten sollte.97 In der Person Freytags, der 1926 Nachfolger von Heilbron als Leiter der Kulturabteilung wurde, lassen sich Überschneidungen dieser beiden Aktionsbereiche ebenso erkennen wie in der Versetzung des Leiters des Kriegsschuldreferats 1922–1928, Friedrich Stieve, zum Leiter der Kulturabteilung nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die wissenschaftliche Vorgehensweise signalisierte das Amt mit der Auslagerung der Kriegsschuldanalyse 1921 an die „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen“ unter dem publizistisch ambitionierten Leiter Alfred von Wegerer sowie an den „Arbeitsausschuß deutscher Verbände“.98 Sie führte zu einem riesigen publizistischen Unternehmen, der vierzigbändigen Serie Die Große Politik der Europäischen Kabinette, 1871–1914 (1922–1927)99 das, zusammen mit der 1923 gegründeten Zeitschrift Die Kriegsschuldfrage, auch im Ausland als wichtige Grundlage der Kriegsschulddebatte benutzt wurde. Bülow schwebte zunächst eine „Volksbewegung“ gegen Versailles vor, die verhindern sollte, dass „die Welt in die Lage kommt, das uns zugefügte Unrecht zu vergessen und zu glauben, dass Deutschland sich mit dem Unrecht abgefunden hat“,100 aber es bedurfte kaum einer Organisation, um Deutsche in der Opposition gegen Versailles zu einer – sonst kaum zustande gekommenen – Solidarisierung zu vereinen. Bülow gebrauchte damit bereits die zentrale Formel für die Fortsetzung der Kriegskonfrontation auf deutscher Seite: die These von Deutschland als Opfer der Willkürjustiz der Sieger. Sie bestärkte den Notdiskurs der Wissenschaftler und „geistigen Arbeiter“ und zeitigte auch im Ausland mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu Versailles ihre Wirkung. Der Opferthese bedienten sich ebenfalls die anderen Betroffenen der Pariser Vorortverträge, der in St. Germain verhandelte deutsche Reststaat der Habsburgermonarchie, Deutschöster96 Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, 57. 97 Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell� schaft, 1985, 64 f. 98 Ausführlich bei Heinemann, Die verdrängte Niederlage, 66 ff. und passim. 99 Die Große Politik der Europäischen Kabinette, 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, 40 Bände, hg. von Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme. Berlin: Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, 1922–1927. 100 Aus Bülows unveröffentlichtem Manuskript „Revisionsfeldzug“, zit. nach Heinemann, Die verdrängte Niederlage, 57.

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reich, dem man den Anschluss ans Deutsche Reich untersagte, sowie der andere Verlierer, Ungarn, dessen räumliche Reduzierung unter Abtrennung großer Minderheiten im Vertrag von Trianon nicht weniger das Gefühl befestigte, Opfer eines Unrechtsvertrages zu sein. In den Annalen der Verliererpropaganda war die Opferthese nicht neu. Zum gleichen Zeitpunkt konstatierte sie Paul Rühlmann in seiner grundlegenden Schrift über Propaganda, der er vor allem die französischen Praktiken zugrunde legte, im Hinblick auf die geschickte Kulturpolitik der Dritten Republik nach der Niederlage gegen PreußenDeutschland. „Zwar war nach dem Frankfurter Frieden 1871 Frankreich machtpolitisch unterlegen“, bemerkte Rühlmann, „auch unterstrich Bismarcks politische Kunst in den ersten Jahrzehnten nach 1871 bei jeder Gelegenheit Frankreichs diplomatische Isolierung; jedoch das Unglück von 1871 wurde für Frankreich zur Quelle einer stark volksmäßigen staatsethischen Wiedergeburt sowohl innen- wie außenpolitisch. Mitleid wirkt immer werbend, sowohl bei Mann wie Volk. Dazu verstand Frankreich hervorragend geschickt, diese Rolle des Märtyrers zu spielen: Es litt für der Menschheit Wohl, weil es die Bringerin der Freiheit, die große Lichtspenderin für alle bedrückten Nationen war.“101 Demgegenüber litt Deutschland in seiner Katastrophe für sich allein, oder glaubte es zumindest. Wenn man hier an auswärtige Kulturpolitik dachte, galt sie vorwiegend den anderen, ebenfalls leidenden Deutschen im Ausland. Für die nach 1919 entstehende Praxis auswärtiger Kulturpolitik – von einem festen Konzept kann man, wie gesagt, nicht sprechen – galten demnach drei Auflagen: zum einen die Unterordnung unter die Revisionspolitik gegen den Versailler Vertrag, mit der das zentrale Mandat, die Deutschtumspolitik, zu einem beträchtlichen Teil der Geheimhaltung unterworfen oder nichtamtlichen Organisationen überantwortet wurde; zum zweiten die Zurückhaltung bei der Wiederanknüpfung an frühere Kulturarbeit in Nord- und Osteuropa sowie Lateinamerika, in Erwiderung auf den Propagandafeldzug, mit dem die Siegerländer, insbesondere Frankreich, den starken deutschen Einfluss zurückzudrängen suchten; zum dritten die Notwendigkeit, auf dem Gebiet der Wissenschaft, wo Deutschland auch zu dieser Zeit noch große Aktivposten in der Welt aufwies, die es jedoch durch Boykott, internationale Isolierung und Schwächungsstrategien zu verlieren drohte, eine Abwehrpraxis zu entwickeln, die über die bloße Trotzstrategie der Akademien und Hochschulverbände hinaus eine zukünftige Kooperation ermöglichte. 101 Paul M. Rühlmann, Kulturpropaganda. Grundsätzliche Darlegungen und Auslandsbeobachtungen. Charlottenburg: Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, 1919, 13; Wolfgang Schi� velbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – Deutsch� land 1918. Berlin: Alexander Fest, 2001, 260–269.

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Was Theodor Heuss im Hinblick auf den Versailler Vertrag kritisch anmerkte, die Weiterführung des Krieges im wirtschaftlichen Bereich, besaß auf politischer und kultureller Ebene im Auswärtigen Amt somit einen ausgesprochen aktiven Beteiligten. Die Erfolge und Misserfolge dieser teils lautstarken, teils geheimen Kriegsfortsetzung lassen sich jedoch, wie die Wirkungen auswärtiger Kulturpolitik generell, nur im Wechselverhältnis mit den Aktionen der anderen Mächte auf diesem Gebiet abschätzen. Dabei muss man allerdings unterscheiden zwischen 1) der von beiden Seiten gepflegten Entfremdung zwischen Deutschland und den Alliierten, 2) den Kontinuitäten im Verhältnis mit neutralen Staaten wie Spanien, Niederlande, Schweiz und Schweden sowie 3) einer sich neu formenden kontinentaleuropäischen Ausrichtung nach Osten und Südosten. Gegenüber dieser dreifachen Unterscheidung hat die politische Historiografie ihren Diskurs jedoch weitgehend an den antideutschen Frontstellungen im Westen und an den antiwestlichen Frontstellungen in Deutschland ausgerichtet. Gewiss lärmte in ihnen der Krieg am unerbittlichsten fort. Aber auch dieser Lärm wurde nach und nach schwächer. Vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten machten sich Stimmen bemerkbar, die das Kriegsschuldverdikt infrage stellten. In beiden Ländern unterwarfen Kritiker die bisherigen Aussagen über die Verantwortung für den Kriegsausbruch, teilweise unter Benutzung deutscher Aktenpublikationen, einer oft innenpolitisch motivierten Revision. Nach der Kritik des berühmten Nationalökonomen John Maynard Keynes am Versailler Vertrag mit The Economic Consequences of the War (1920) brach der der Labor Party nahestehende Edmund Morel 1922 den Bann mit seiner Studie unter dem sprechenden Titel The Poison That Destroys. “The Case for a National Inquiry into the Causes of the War and the Disaster of the Peace”. In den USA waren es vor allem Sidney Fay und Harry Elmer Barnes, die den Zweifeln über die Gültigkeit des ausschließlichen Schuldvorwurfs an Deutschland wissenschaftlichen Ausdruck gaben. Seinen 735 Seiten zählenden und weit verbreiteten Band The Genesis of the World War, der vor allem Russland und Frankreich die Schuld am Kriegsausbruch anlastete, schloss Barnes mit der Warnung: „Während der deutsche Militarismus für absehbare Zeit zerdrückt worden ist, ist er von dem noch gefährlichen Militarismus Frankreichs ersetzt worden, dessen arrogante und aggressive Politik seit dem Krieg mehr dazu getan hat, eine revanchelüsterne und militaristische Psychologie in Deutschland zu stimulieren als irgendetwas, das dem Land seit Napoleons Besetzung 1806 widerfahren ist.“102 Solche und ähnliche Äußerungen amerikanischer Beobachter über die französische Militanz bestätigten unter 102 Harry Elmer Barnes, The Genesis of the World War. An Introduction to the Problem of War Guilt. New York: Knopf, 1926, 685.

Schlechte Verlierer, schlechte Sieger  |

Franzosen die Vermutung von einer angloamerikanischen Konspiration gegen Frankreich, bei der auch deutsche Propaganda die Hand im Spiel zu haben schien.103 Letzteres stimmte: Abgesehen von direkter Unterstützung mit Akten und Informationen halfen deutsche Subventionen dabei, das Interesse ausländischer Wissenschaftler zu erregen oder wachzuhalten.104 Aber das besaß wiederum in der finanziellen Unterstützung vieler amerikanischer Akademiker vonseiten des französischen Außenministeriums sein Äquivalent.105 Ohne an dieser Stelle in die Details einzusteigen, lässt sich festhalten, dass neben dem internen Propagandakrieg um die Ruhrbesetzung ein im Ausland noch folgenreicherer Propagandakrieg in den USA stattfand, der in der halb offenen, halb verdeckten Umpolung der öffentlichen Meinung bestand, die ihren Hass auf die Deutschen an den Deutschamerikanern ausgelassen hatte und nun über die Ziele des Kriegseinsatzes unsicher geworden war. Diese Umpolung begann mit dem Unbehagen der Amerikaner bei den Versailler Vertragsverhandlungen und verstärkte sich mit der Zurückweisung der französischen Forderung nach Milderung oder Erlass der horrenden Kriegsschulden an die USA, fand ihre volkstümliche Form in der Desillusionierung der Doughboys über die kulturelle Überlegenheit Frankreichs (das dort, wo die jungen amerikanischen Soldaten stationiert gewesen waren, vom Krieg besonders mitgenommen war) und erreichte ihren Höhepunkt in der Reaktion auf die französische Besetzung des Ruhrgebiets, die als unverhältnismäßig kritisiert und zum Aufhänger einer vor allem von der Hearst-Presse geschürten Frankophobie gemacht wurde. Der Schriftsteller Jean Giraudoux, der die Sektion für auswärtige Kulturpolitik im französischen Außenministerium leitete und dem später Versagen vorgeworfen wurde, lamentierte 1923: „In fünf Jahren sind wir von einem Land, das die Freiheit der Welt repräsentierte, zur Verkörperung der Reaktion geworden.“106 Als mit der Annahme des Dawes-Plans auf der Londoner Konferenz 1924 die angelsächsischen Mächte Frankreichs Reparationsansprüche drastisch zurückschraubten und die USA bald darauf Deutschland große Kredite zur Wiederherstellung wirtschaftlichen Wachstums gewährten, mehrten sich die französischen Stimmen, die nicht nur vom Versagen der Pro103 Robert J. Young, Marketing Marianne. French Propaganda in America, 1900–1940. New Brunswick: Rutgers University Press, 2004, 72–79; Anthony Adamthwaite, Grandeur and Misery. France’s Bid for Power in Europe 1914–1940. London: Arnold, 1995, 87. 104 Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914– 1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984, 58–62. 105 William R. Keylor, “How They Advertised France.” The French Propaganda Campaign in the United States during the Breakup of the Franco-American Entente, 1918–1923, in: Diplomatic History 17:3 (1993), 351–373, hier 363. 106 Zit. nach Adamthwaite, Grandeur and Misery, 85.

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paganda, sondern von politischer Selbstisolation sprachen – und damit den Umschwung der Außenpolitik anbahnten, den dann Aristide Briand durchsetzte. Bei der Analyse dieser monomanen Überspannung der Siegerposition hat man nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass diese „Festungsmentalität“ mit der Festungsmentalität im kollektiven Verhalten des Verliererlandes korrespondierte.107 Nicht weniger stark als die Deutschen (und, angesichts der Kriegsschäden, mit mehr Berechtigung) beriefen sich Franzosen darauf, Opfer zu sein, zunächst des deutschen Überfalls, dann des angelsächsischen „Treuebruchs“. Um den Umschwung in der antideutschen Weltmeinung zu charakterisieren, hat der Harvard-Historiker Charles Maier die Erklärungsformel geprägt: „[D]ie Tatsache, dass die Deutschen, kollektiv gesprochen, schlechte Verlierer waren, wurde in die Ansicht umgeformt, dass die Franzosen schlechte Sieger waren.“108 Den präzisen zeitgenössischen Kommentar formulierte Otto Brandt in der erwähnten, vom Deutschen Industrie- und Handelstag in Auftrag gegebenen Denkschrift ans Auswärtige Amt mit dem Titel „Amtliche Werbearbeit im Auslande“ (1924): „Man stellt an amtlichen Stellen mit Genugtuung fest, dass ein gewisser Umschwung in der Stimmung des Auslandes viel mehr infolge der Haltung der Franzosen als infolge unserer eigenen Propaganda eingetreten ist. Das ist zutreffend.“109 Allerdings lieferte auch dieser unorganisierte Erfolg kein Rezept für die weitere Propaganda- oder Kulturarbeit. Eine neue Phase auswärtiger Kulturpolitik konnte erst dann einsetzen, als diese eine andere Referenz als die der Kriegskonfrontation anbot, aus der sie hervorgegangen war. Das geschah mit der von Briand, Stresemann und Chamberlain 1925 in Locarno ausgehandelten Politik und dem ein Jahr später erfolgten deutschen Beitritt zum Völkerbund. Mit Locarno erkannte Deutschland Frankreichs legitimes Sicherheitsbedürfnis an, gab Elsass-Lothringen endgültig preis, schrieb die Entmilitarisierung des Rheinlandes (und den baldigen Abzug der französischen Truppen) fest und versprach, die Revision der Ostgrenze nur mit friedlichen Mitteln anzustreben. Stresemann erkaufte politische Handlungsfreiheit und wirtschaftlichen Wie107 Gerd Krumeich, Vergleichende Aspekte der „Kriegsschulddebatte“ nach dem Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hg. von Wolfgang Michalka. München: Piper, 1994, 913–928, hier 922. 108 Charles S. Maier, The Truth about the Treaties?, in: Journal of Modern History 51:1 (1979), 56–67, hier 67; vgl. Edward W. Bennett, Germany and the Diplomacy of the Financial Crisis, 1931. Cam� ���� bridge: Harvard University Press, 1962, 310; Klaus Schwabe, „Gerechtigkeit für die Großmacht Deutschland“ – Die deutsche Friedensstrategie in Versailles, in: Versailles 1919, hg. von Gerd Kru� meich, 71–86. 109 Otto Brandt, Amtliche Werbearbeit im Auslande, 5 (Politisches Archiv des AA, R 60432).

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deraufbau mit der Erfüllung der Vertragsbedingungen, ohne die schrittweise Revisionspolitik aufzugeben. Letzteres zahlte sich bei der parlamentarischen Annahme des Locarno-Vertrages aus, für die Stresemann die Stimmen der Deutschnationalen benötigte. In einem großen Artikel in der rechtsliberalen Magdeburgischen Zeitung – der wie verschiedene seiner erfolgreichen Presseinterventionen anonym erschien – stellte er vor der Abstimmung noch einmal fest, was der „Geist von Locarno“ bedeute: die Beendigung der Nachkriegskonflikte und den Versuch, „der Welt neue Methoden internationaler Gemeinschaft zu geben.“110 Mit anderen Worten, Locarno und der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund schufen jene neue, in einem internationalen Vertragssystem begründete Referenz, mit der Wirtschaft und Handel, Politik und Wissenschaft ebenso wie grenzüberschreitende Kulturpolitik auf der Basis gegenseitiger Anerkennung wachsen konnten. Sieger und Verlierer sollten ihre festgefahrenen Rollen aufgeben.

Berlins Rolle als Kulturhauptstadt Osteuropas Wenn sehr viel später vom westlichen Ausland der Beitrag dieser Republik zur Kultur der Moderne als großer Erfolg gewertet worden ist, sollte man nicht übersehen, dass der Republik gerade vom Westen im kulturellen Bereich viele Hindernisse in den Weg gelegt wurden. Es war eine Sache – eine Sache furchtbarer Menschenverluste –, die Deutschen zur Installierung der Demokratie zu zwingen, aber es war eine andere Sache, den damit entstandenen Staat mit seinen internen Kämpfen auch im kulturellen Bereich nach einem verstörenden (Kultur‑)Krieg zu akzeptieren. Die Tatsache, dass sich das Interesse intellektueller Eliten der neuen Republik trotz der ständigen Spannungen mit den neu entstandenen Staaten Polen und Litauen und der Furcht vor dem Übergreifen der Russischen Revolution im deutschen (und westlichen) Bürgertum nach Osten wandte, verwundert kaum. Anders als bei den intellektuell redundanten Beziehungen zu den westlichen Siegermächten eröffneten die Schocks und Erschütterungen der Verlierer, und das galt für Deutschland, Russland, Österreich und Ungarn in jeweils anderer Form, provozierend neue Ansätze im jeweiligen kulturellen Wechselverhältnis. Kein anderer als ein einsichtiger Franzose, der sich von der kulturalistischen Streitrhetorik fernhielt, rechnete seinen Landsleuten vor, dass die kreativen 110 „Überwindung von Versailles“, von *** [= Gustav Stresemann], in: Magdeburgische Zeitung, Poli� tisches Archiv des AA. Nachlaß Stresemann, Bd. 31, zit. nach Müller, Auswärtige Pressepolitik und Propaganda zwischen Ruhrkampf und Locarno (1923–1925), 273.

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Kräfte sich im Nachbarland aus anderen Quellen als im bürgerlich gebliebenen Frankreich nährten: vom enormen Schock des Zusammenbruchs der alten Ordnung, von der Inspiration durch die Russische Revolution und von dem Zwang zu einem experimentellen Neuaufbau sozialer Lebensformen. Pierre Viénot, der in seinem Buch mit dem berühmt gewordenen Titel Incertitudes allemandes (1931) seine Erfahrungen als französischer Repräsentant des Deutsch-Französischen Studienkomitees in Berlin 1926–1930 verwertete, bestand trotz aller Bemühungen um die Annäherungspolitik auf den Differenzen im Umgang mit Modernität. „Das ist übrigens der Grund dafür, weshalb mich dies Land so sehr interessiert“, schrieb er einem Freund 1926. „Es ist ‚auf der Suche‘ und eben aus diesem Grunde zutiefst lebendig, bald voller überspannter Versuche und bald voller interessanter und einladender Experimente.“ 111 Dass aus dem Zwang zum Experiment tatsächlich wichtige Versatzstücke einer Kultur der Modernität hervorgingen, wobei Berlin zum Katalysator wurde, schrieb Viénot, wenngleich unbehaglich, Deutschlands intensivem Kulturaustausch mit dem Osten, insbesondere Russland, zu. „Das russische Geschehen wird in Deutschland genau verfolgt“, bemerkte er in Incertitudes allemandes, „es wird als Tatsache hingenommen. Selbst für jene, die es verurteilen, besteht es nicht nur als Drohung, sondern als ein unermeßliches und verblüffendes Faktum. Rußland spielt im Vorstellungsleben der Deutschen aller Arten und Stände eine Rolle, die den Geistern den ganzen Fragenkomplex, die ganze Problematik aufzwingt, die seine verwirrende Neuheit unvermeidlich bei jedem unparteiischen Beobachter hervorrufen muß.“112 Während Viénot den ganzen verwirrenden Komplex deutsch-russischer Beziehungen zum Verständnis aufrief, sei hier nur der Nexus Kunst und Modernität etwas genauer beleuchtet, mit dessen Hilfe beide Länder einen in dieser Periode ungewöhnlichen Kulturaustausch etablierten. Dieser Austausch fand in den ersten Jahren hauptsächlich auf deutschem Boden, insbesondere in Berlin, statt, besaß jedoch von Anfang an eine internationale Ausrichtung, bei welcher Deutschland als die ‚andere‘ Parianation, wie es der deutsche Botschafter in Moskau, Brockdorff-Rantzau, nannte, zu einem Vertrauenspartner werden 111 Brief an Lyautey vom 28.11.1926, zit. nach Pierre Viénot, Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kultur, hg. von Hans Manfred Bock. Bonn: Bouvier, 1999, 43. Als späteres Zeugnis einer solchen Bewertung aus französischer Sicht siehe: Weimar ou l’explosion de la Modernité. Actes du Colloque „Weimar ou la Modernité“, organisé par le Groupe de Recherche sur la Culture de Wei� mar (Fondation M. S. H.) sous la direction de Gérard Raulet. Paris: èditions anthropos, 1984; über die neuen Erfahrungen und die Zwänge zur Innovation s. Peter Fritzsche, The Economy of Experi� ence in Weimar Germany, in: Weimar Publics/Weimar Subjects. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s, hg. von Kathleen Canning, Kerstin Barndt und Kristin McGuire. New York/ Oxford: Berghahn, 2010, 360–382. 112 Viénot, Ungewisses Deutschland, 151.

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konnte – obwohl es im Krieg die härtesten Schlachten geliefert hatte.113 Grundlage des im April 1922 zwischen den Außenministern Tschitscherin und Rathenau geschlossenen Vertrags von Rapallo bildete neben der vollen Gleichberechtigung die Erklärung der Vertragspartner, auf Entschädigungen zu verzichten und das Kapitel Krieg zu schließen. Für das gegenseitige Engagement an einer neu zu schaffenden Kultur wiederum war die Tatsache grundlegend, dass Russland seiner Attacke gegen die alte Ordnung eine so innovative ästhetische Projektion verschafft hatte, dass sie, anders als in den Selbsterneuerungsbewegungen früherer Zeiten, künstlerische und intellektuelle Eliten im Westen erreichte und sogar zu eigenen Projektionen und Experimenten ermutigte. Bei diesen Experimenten, für welche die niederländische De-Stijl-Bewegung, der deutsch-französisch-rumänische Dadaismus, der italienische Futurismus, der ungarische MA-Zirkel und die radikalisierten Werkbund-Mitglieder im Arbeitsrat für Kunst sowie das 1920 in Weimar gegründete Bauhaus zu Partnern wurden, wuchs Berlin schnell in die Rolle einer Kulturhauptstadt Osteuropas hinein, in der sich die Akteure und Publizisten der Avantgarde keineswegs von der Welt isoliert fühlten. Neben den zahlreichen Juden, die vom Krieg aus ihren ostmitteleuropäischen Regionen nach Westen verschlagen wurden,114 waren es vornehmlich Angehörige der Verlierernationen, die, in den frühen zwanziger Jahren zusammen mit weit über 200.000 Russen temporär in Berlin ansässig, die von der deutschen Revolution geweckten kulturpolitischen Impulse vor dem Verwelken bewahrten. Ihre Hauptvertreter kamen vorwiegend aus Russland, Ungarn und Österreich, genauer zumeist aus St. Petersburg, nun Petrograd, Moskau, Budapest und Wien. Sie bildeten eine Schicht von Künstlern, Schriftstellern, Journalisten, Theater- und Filmemachern, die als urbane Aufsteiger den dezentralisierten deutschsprachigen Kulturbetrieb und seine Öffentlichkeit auf bisher ungewohnte Weise auf Berlin zentrierten und von Anfang an Modernität im Performativen, im abstrakten Design und generell in der Reflexion von Urbanität und Massengesellschaft zu verwirklichen suchten. Ähnlich metropolitan orientiert, hatte sich St. Petersburg vor dem Krieg durch den Zuzug westlicher Kaufleute, Wissenschaftler, Ingenieure, Architekten und Adelsverwalter zum Schauplatz der, wie es vor allem im Westen hieß, genuin russischen Kultur entwickelt; Budapest hatte seinen eindrucksvollen Aufschwung als Symbolort ungarischer Größe vor dem Kriege in der Amalgamierung ungarischer, deutscher, französischer und jüdischer Elemente genommen; auch Wien war zu 113 Gustav Hilger, Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918–1941. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten. Frankfurt: Athenäum, 1964, 98. 114 Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933. Hamburg: Christians, 1986.

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dieser Zeit als Hauptstadt eines sich modernisierenden Multinationalitätenstaates gerade durch die Vielfalt der Zuwanderer aus anderen zentraleuropäischen Regionen zur Arena einer spezifisch Wiener Moderne geworden. Worin nun die internationalen Zuwanderer in Berlin ihre Kräfte und Innovationen bündelten, war nicht eine im eigentlichen Sinne Berliner oder deutsche Kultur – es war vielmehr Modernität selbst. Innerhalb Deutschlands weckte die Assoziation Berlins mit Internationalität kaum weniger Ressentiments als die frühere Gleichsetzung mit Preußen. Viénot, der hier den Bruch mit der Vorkriegsmodernität lokalisierte, die im bürgerlich gebliebenen Frankreich nach wie vor regiere, betonte noch 1939, zu einer Zeit, da seinem Heimatland neue Kriegsgefahr von Deutschland drohte: „Alle Probleme der modernen Welt und des modernen Menschen sind dort gestellt worden. Mit zähem Eifer arbeitete man von allen Seiten an ihrer Lösung. […] Alle, die in dieser Zeit am inneren Leben Deutschlands teilnahmen, fühlten sich diesem Streben tief verbunden. Sie waren sich bewußt, dass ihre eigene Existenz mit auf dem Spiele stand.“115 Diese Modernität unterschied sich in ihrer konstruktivistischen Dynamik, Maß- und Filterlosigkeit und politischen Gespanntheit von der Modernität in Paris, die weiterhin von Kunst und Lebenseleganz bestimmt war und in den späteren zwanziger Jahren zur vorläufigen Endstation vieler russischer und osteuropäischer Künstler wurde (und, wie es Kurt Tucholsky ohne Scham bekannte, auch Deutschen als Ort neuer Selbsterfahrung diente). Für britische Kunstliebhaber gab es da gar keine Wahl; Berlin bedeutete Konfrontation mit dem Ungewohnten und einer aufregenden, aber nicht unbedingt gefälligen Modernität. Dort hinzugehen verlangte Widerstand gegen die gewohnten Kulturkonventionen höherer Gesellschaftsschichten. Nur wenige taten es, darunter Alfred Hitchcock. Er fand sich 1924 geradezu elektrifiziert von dem ungebärdigen Expressionismus deutscher Regisseure, als er bei der deutsch-britischen Gainsborough/UFA-Koproduktion in Babelsberg dabei war und sich dort an weiteren Koproduktionen beteiligte. Ihn faszinierte die Inszenierung von Nachkriegstraumata und der Angst vor dem Unberechenbaren, etwas, das er auch später mit seinem Deutschland-Aufenthalt verband. Er beobachtete F. W. Murnau bei der Arbeit und nannte dessen Film Der letzte Mann den „fast perfekten Film“.116 Wenn dann Christopher Isherwood, Stephen Spender und W. H. Auden Ende der zwanziger Jahre Berlin zu ihrer Lieblingsstadt erkoren, äußerten sie darin einen nicht gelinden Protest gegen die Vorurteile ihres Her115 Pieree Viénot, Um Frankreich zu retten und Deutschland mit ihm, in: Die Zukunft. Organ der Deutsch-Französischen Union, 28.4.1939, zit. nach Viénot, Ungewisses Deutschland, 45. 116 Colin Storer, Britain and the Weimar Republic. The History of a Cultural Relationship. London/ New York: Tauris, 2010, 100.

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kunftslandes; allerdings meinten sie mit den Vorurteilen auch die puritanische Abwehr ihrer Homosexualität und erschlossen den Unterwelt- und Liebesbazar Berlin für eine andere Form westlicher Kultur.117 Berliner Modernität wurde als Erfahrung des harschen, schnelllebigen urbanen Alltags zur Projektion, und als Projektion in Design, Theater und Zeitung zur genuinen Erfahrung. Es verwundert kaum, dass die wichtigsten Anregungen dafür aus dem Lande kamen, das die ästhetisch-spirituelle Projektion seiner selbst und seiner universellen Mission zur Virtuosität entwickelt hat.118 Wie sehr diese Virtuosität in den Abstraktionen und utopischen Entwürfen der Konstruktivisten, Suprematisten und anderer ‚Isten‘ nach Westen ausstrahlte, zumal nach Deutschland, das seine Revolution noch nicht beendet hatte, kalkulierte Lenin ein, als er dem Volkskommissar für das Bildungswesen, Anatoli Lunatscharski, sein Placet für ein stärkeres Engagement an auswärtiger Kulturpolitik gab. Sie war zunächst defensiv ausgerichtet, sollte den Verleumdungen gegen den Sowjetstaat entgegenarbeiten.119 Es galt, den Emigranten der Russischen Revolution nicht den Diskurs über das Land zu überlassen. Insgesamt fanden fast eine halbe Million russischer Flüchtlinge zwischen 1919 und 1922 den Weg nach Deutschland.120 Berlin, das in der Inflation erschwingliche Unterkunfts‑, Auftritts- und Publikationsmöglichkeiten bot, wurde zur unbestrittenen Hauptstadt der russischen Emigranten, wobei eine Zeit lang kaum eine klare Scheidung zwischen ihnen und den nach Rapallo zunehmend zahlreichen Abgesandten der Sowjetrepublik bestand. Bevor ab 1925 die Allunionsgesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland (VOKS) die auswärtigen Kulturbeziehungen der Sowjetunion zentral koordinierte, ging der Brückenschlag von Künstlern und revolutionären Intellektuellen aus. Die universalistischen Signale und Konstruktionen der russischen Avantgardisten stießen auf die Bereitschaft, der Kunst aufgrund ihrer Projektionskraft für eine neue Gesellschaft neue Legitimität und Dynamik zu verschaffen. Von russischer Seite wurden die ersten Nachkriegskontakte mit Künstlern und Architekten im Berliner Arbeitsrat für Kunst eingeleitet. „Es ist endlich Aussicht auf eine gemeinsame schöpferische Arbeit, die das engere nationale Bewußtsein überschreiten und einem internationalen Verkehr dienen wird“, hieß es im „Aufruf der russischen fortschrittlichen bildenden Künstler an die deutschen Kollegen!“ bereits 117 Wolfgang Kemp, Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900–1947. München: Hanser 2010, 192–194. 118 Boris Groys, Die Erfindung Rußlands. München/Wien: Hanser, 1995, bes. 7–36. 119 Edgar Lersch, Die auswärtige Kulturpolitik der Sowjetunion in ihren Auswirkungen auf Deutschland 1921–1929. Frankfurt: Lang, 1979, VIII, 40–49. 120 Karl Schlögel, Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. Berlin: Siedler, 1998, 31.

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Ende 1918.121 In ihrer Antwort, dem „Aufruf an die revolutionären Künstler Rußlands“ vom März 1919, nahmen die deutschen Kollegen im Arbeitsrat, unter ihnen Walter Gropius, Bruno Taut, Adolf Behne, Rudolf Belling, Ludwig Meidner, den Wunsch der Russen auf, die Völkergrenzen durch gemeinsame künstlerische Arbeit zu überwinden. Dabei durchbrachen sie das Schweigen der deutschen intellektuellen Eliten über ihre Mitwirkung an der Kriegsbegeisterung mit den Worten: „Wir haben mit Abscheu die verbrecherischen Taten der Militaristen verurteilt, und diejenigen von uns, welche der Massensuggestion unterlegen eine Zeitlang mit dem Strom schwammen, sehen voll Scham und Reue auf diese Zeit zurück. Habt Dank, Ihr Brüder, dass Ihr aus der gleichen Gesinnung uns nun die Hände botet.“122 Dieses Statut der Demobilisierung der Geister zwischen Kriegsgegnern setzte zumindest in der Kultur einen Ton, der sich von dem der beiderseits geschürten Spannung im Westen unterschied. Kunst wurde als Brückenschlag eingesetzt, nicht als Instrument der Militanz. Auch in der Wissenschaft entsprang die erste organisierte Kontaktaufnahme russischer Initiative: die Eröffnung eines Büros für ausländische Wissenschaft und Technik, das der Oberste Volkswirtschaftsrat 1921 in Berlin (und anderen Orten) einrichtete, um Russland dringend benötigte wissenschaftliche Informationen zu verschaffen. Unter der Leitung des Leipziger Germanisten Friedrich Braun wurde eine mehrbändige Bibliografie der während des Krieges in Deutschland publizierten wissenschaftlichen Literatur erarbeitet. Mit der Reise des Berliner Physikprofessors Wilhelm Westphal im Oktober 1922 nach Petrograd und Moskau eröffnete die deutsche Seite in Absprache mit dem Auswärtigen Amt die Zusammenarbeit.123 Zur selben Zeit fand die „Erste Russische Kunstausstellung“ in der Galerie van Diemen unter den Linden in Berlin statt, die zur wichtigsten Referenz der Bedeutung Berlins für den deutsch-russischen Kulturaustausch in dieser Phase geworden ist. (Die – wesentlich kleinere – deutsche Gegenausstellung gelangte

121 Zit. nach Russen in Berlin 1918–1933. Eine kulturelle Begegnung, hg. von Fritz Mierau. Weinheim/ Berlin: Quadriga, 1987, 186. 122 Aufruf an die revolutionären Künstler Rußlands (25.3.1919), in: Arbeitsrat für Kunst Berlin 1918– 1921. Ausstellung mit Dokumentation. Berlin: Akademie der Künste, 1980, 112. 123 Sonja Striegnitz, Bemerkungen zum Bericht Wilhelm Westphals über seine Reise nach Sowjetrußland (Oktober 1922), in: Deutschland – Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten kultureller Zusammenarbeit. Berlin: Humboldt-Universität, 1966, 473–479; Horst Schützler, Wissenschaftliche Beziehungen der Berliner Universität zur Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik 1918 bis 1933, Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin 1910–1960, hg. von Willi Göber und Friedrich Herneck. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1960, 529–546.

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1924 nach Moskau.124) Wassily Kandinsky, der 1921 aus Russland nach Berlin zog, gab die erste Initiative zu einer umfassenden Schau russischer Kunst seit der Jahrhundertwende, für welche dann der Rapallo-Vertrag auch auf sowjetischer Seite die Zusage herbeiführte. Die Ausstellung ging mit etwa 1.000 Werken weit über Kandinskys Planung hinaus, wurde mit Ansprachen von David Sterenberg, dem Leiter der russischen staatlichen Kunstschulen, Reichskunstwart Edwin Redslob und dem Schriftsteller Arthur Holitscher zugleich als symbolisches Ereignis gefeiert. Bemerkenswerterweise fasste Redslob diese Begegnung von zwei Völkern völlig unter der Symbolik Europas – unter nachdrücklichem Einschluss des Westens. Er endete mit den Worten: „Austausch, gegenseitiges Eindringen in die Eigenart und freudige Anerkennung des Anderen: das sind die Grundlagen des Europas der Geister, um das wir ringen.“125 Zwar brachte die Ausstellung als Verkaufsausstellung nicht die erhofften Einkünfte, die der Hungerhilfe für Russland zugutekommen sollten, befestigte aber mit den Werken und Installationen von Naum Gabo, El Lissitzky, Alexander Archipenko, Kasimir Malewitsch, Ivan Puni, Nathan Altman, Vladimir Tatlin, Alexander Rodtschenko und anderen den Durchbruch der konstruktivistischen Richtung als des zentralen Bauelements moderner Lebensformen, wie sie von de Stijl und vom Bauhaus methodisch entwickelt und verbreitet wurden.126 Die Privilegierung Berlins über andere deutsche Kulturzentren entsprang in diesem Zusammenhang verschiedenen Faktoren; sie bedeutete auch in der Weimarer Republik keineswegs eine innerdeutsche Monopolstellung für die Durchsetzung der internationalen Moderne. So wurden im Frühjahr 1922 auf einem von Theo van Doesburg einberaumten Künstlerkongress in Weimar die Gründung der „Konstruktivistischen Internationale“ beschlossen, der wenig später im französisch okkupierten Düsseldorf die von der Künstlergruppe Junges Rheinland initiierte I. Internationale Kunstausstellung folgte, zugleich die erste Sitzung der prominent besetzten, sehr bald aber zerstrittenen „Union internationaler fortschrittlicher Künstler“.127 Kontinuitäten aber zählten: Russische Künstler hatten zuvor schon in Herwarth Waldens „Sturm“-Galerie ausgestellt, die lange Zeit, auch während des Krieges, von Walden in bewusst 124 Sinaida Pyschnowskaja, Deutsche Kunstausstellungen in Moskau und ihre Organisatoren, in: Berlin – Moskau 1900–1950, hg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert. München/New York: Prestel, 1995, 187–191. 125 Zit. nach Russen in Berlin 1918–1933, 227. 126 Helen Adkins, Erste Russische Kunstausstellung, in: Stationen der Moderne. Die bedeutendsten Kunstausstellungen des 20.  Jahrhunderts in Deutschland. Berlin: Ausstellungskatalog Berlinische Galerie, 1988, 185–215; Bernd Finkeldey, Im Zeichen des Quadrates. Konstruktivisten in Berlin, in: Berlin – Moskau 1900–1950, 157–161. 127 Konstruktivistische internationale schöpferische Arbeitsgemeinschaft 1922–1927. Utopien für eine europäische Kultur, hg. von Bernd Finkeldey u. a. Stuttgart: Hatje, 1992.

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unpolitischer Ausrichtung als unersetzliches Forum eines über-nationalen Kunstaustauschs geführt worden war.128 Walden, der 1923 das Wort von Berlin als der „Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa“ prägte, war nur der prominenteste und erfolgreichste Vertreter eines international ausgerichteten, mehr oder weniger kommerziellen Kunst- und Publikationsbetriebes in dieser Stadt, in dem russische und ukrainische Künstler, Galeristen, Verleger, Schriftsteller, Theaterleute und, von Deutschen am häufigsten kommentiert, Geschäftsleute ihren Platz fanden.129 Lew Kopelew, nach zwei Weltkriegen unbeirrt der deutsch-russischen Verständigung verpflichtet, nennt als besonders erwähnenswert die enorme Publikationswelle (1923 allein in Berlin 29 russische Tageszeitungen und Zeitschriften, darunter die auch in Russland hochgeschätzte Monatsschrift Neues russisches Buch, Novaja Russkaja Kniga; 86 russische Verlage); die mehrjährige Anwesenheit russischer Schriftseller wie Andrej Belyi, Nikolai Berdjajew, Boris Pasternak, Marina Zwetajewa, Wladimir Nabokow (der bis 1937 in Berlin lebte und sich hier vom Lyriker zum Romancier wandelte); die ersten Auslandsgastspiele der bedeutendsten Moskauer Theater (1922 und 1923 kamen das Künstlertheater, das Kammertheater, das Meyerhold-Theater); dazu die Besuche der berühmten Lyriker Sergei Jessenin und Wladimir Majakowskij. So wie das „russische Berlin“ zu einem „bedeutenden Kapitel der russischen Kulturgeschichte“ wurde, „zu einer Drehscheibe, auf der sich manche Dichter- und Künstlerschicksale entscheidend wendeten“, war es „gleichzeitig ein Kapitel deutscher Kulturgeschichte“, insofern Brecht und Piscator, untertrieben gesagt, „manches von ihren russischen Kollegen“ lernten und das Bauhaus von den deutsch-russischen Künstlerverbindungen profitierte.130 Natürlich erwähnt Kopelew die Tatsache, dass Thomas Mann seinen Vortrag „Goethe und Tolstoi“ 1922 in Berlin hielt. Mann zollte damit dem „russischen 128 Dass Waldens Internationalität während des Krieges nicht ohne Nachhilfe vonseiten deutscher Ge� heimdienste vonstattenging, hat die neuere Forschung entgegen Nell Waldens Memoiren nach Öff� nung der Akten 1989 belegt; damit fällt auch ein neues Licht auf die offizielle Ausstellungspraxis des Reichs in neutralen Ländern. S. Hubert F. van den Berg, „Berlin ist die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa.“ Zur Internationalität der Zeitschrift und Galerie Der Sturm, in: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 8, hg. von Jean-Marie Valentin. Bern: Lang, 2006, 59–63. 129 Speziell über den Anteil der Ukrainer siehe Rolf Göbner, Ukrainische Schriftsteller und Künstler im Berlin der Weimarer Republik, in: Literarisches Leben in Berlin 1871–1933, hg. von Peter Wruck. Berlin: Akademie, 1987, 223–252. 130 Lew Kopelew, Das russische Berlin, in: Berlin … Blicke auf die deutsche Metropole, hg. von Gerhard Brunn und Jürgen Reulecke. Essen: Hobbing, 1989, 179–185, hier 181 f. Ausführliche Darstellun� gen u.  a. in: Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941, hg. von Karl Schlögel. Berlin: Akademie 1995; Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, hg. von Gerd Koenen und Lew Kopelew. München: Fink, 1998; Gerd Koenen, Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945. München: Beck, 2005, 111–231.

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Geist“ in einem Moment Tribut, als er sich von der genuin antiwestlichen Einstellung seiner Dostojewski-Verehrung in den Betrachtungen eines Unpolitischen zu einem Anhänger der Demokratie entwickelte, der er, für viele und wohl auch für ihn selbst überraschend, mit den lyrischen Beschwörungen des Amerikaners Walt Whitman Leben zu geben suchte. Zum Berlin dieser Jahre gehören unübersehbar die intellektuellen und künstlerischen Beiträge ungarischer Emigranten. Unter ihnen machte in kurzer Zeit derjenige Künstler am meisten von sich reden, der sich am intensivsten mit dem russischen Konstruktivismus identifizierte und damit über den Kreis der in Wien von Lajos Kassák publizierten, aber 1922–1924 weitgehend in Berlin zusammengestellten Avantgardezeitschrift MA hinausging, László MoholyNagy. Nach kurzem Aufenthalt in Wien, das den Avantgardebestrebungen nicht viel Interesse entgegenbrachte, fand Moholy-Nagy in Berlin mit seiner Begeisterung für Maschine, Abstraktion und Modernität ein so fruchtbares Terrain, dass 1922 Walter Gropius auf ihn aufmerksam wurde und ihn als Professor ans Bauhaus nach Weimar holte.131 Der Ungar wurde zu einem entscheidenden Akteur bei der Umstellung des Bauhauses von expressionistischen Handwerks- und Gesamtkunstfantasien zum konstruktivistischen Neuentwurf moderner Produktkultur; wenig später traten ihm die ebenfalls aus Ungarn stammenden Marcel Breuer und Gyula Pap zur Seite. Dass für diese Umstellung neben der niederländischen De-Stijl-Bewegung Theo van Doesburgs und Piet Mondrians das Lehrprogramm der 1920 in Moskau gegründeten Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten (WChUTEMAS) zentrale Anregungen lieferte, wo Rodtschenko, Lissitzky und Tatlin lehrten, sollte nicht übersehen werden, wenn von den östlichen Einflüssen – heute würde man von Synergien sprechen – auf die Kultur der Modernität die Rede ist.132 Im Falle Ungarns standen die Aktivitäten der emigrierten Künstler und Intellektuellen Anfang der zwanziger Jahre in einem viel schrofferen Gegensatz zur Kulturpolitik des Landes als im Falle Sowjetrusslands. Die kommunistische Revolution Béla Kuns war 1919 nach viereinhalb Monaten, in denen sich Ungarn gegen den Einmarsch von Tschechen und Rumänen wehren musste, zusammengebrochen. Mit dem Exodus verlor das Land die Protagonisten einer linken Kulturpolitik, die mit ihrer Propagierung künstlerischer Autonomie, der Übernahme der Kunstförderung durch den Staat und der intellektuellen Vitalisierung der Budapester Universität durch Georg Lukács als Volkskommissar für Unterrichts131 Krisztina Passuth, Autonomie der Kunst und sozialistische Ideologie in der ungarischen Avantgar� dekunst, in: WechselWirkungen. Ungarische Avantgarde in der Weimarer Republik (Katalog), hg. Hubertus Gaßner. Marburg: Jonas, 1986, 12–25; Eszter B. Gantner, Budapest – Berlin. Die Koordi� naten einer Emigration 1919–1933. Stuttgart: Steiner, 2011. 132 Gerd Selle, Geschichte des Design in Deutschland. Frankfurt/New York: Campus, 1994, 163–166.

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wesen ein von der europäischen Linken weithin wahrgenommenes Signal setzte. Zu diesen Protagonisten, die zum großen Teil Lukács’ berühmtem ‚Sonntagskreis‘ angehörten, zählten Intellektuelle wie Karl Mannheim, Béla Balázs und Béla Fogarasi, die am meisten dem von Peter Gay entworfenen Bild des „outsiders as insiders“133 in der Weimarer Republik entsprachen. Zu ihnen gesellten sich László Radvanyi, Anna Seghers’ Ehemann und Leiter der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) in Berlin, Andor Gábor und natürlich auch Lukács selbst, der zumeist in Österreich und Russland und nur um 1930 einige Zeit in Berlin lebte.134 Mit diesen zumeist sozialistisch engagierten Intellektuellen verlor Ungarn jedoch keineswegs den in den Schocks der Kriegsniederlage und dem 1920 auferlegten Vertrag von Trianon geradezu zwanghaft verfolgten Impuls, sich über die riesigen Verluste an Terrain, wirtschaftlicher und militärischer Macht mit der Selbstvergewisserung ungarischer Kultur hinwegzusetzen. Eine innere und äußere Kulturpolitik sollte Ungarns Stellung in Europa in der Konkurrenz mit den durch Trianon plötzlich um ungarisches Territorium vergrößerten Nachbarstaaten auf neue Weise befestigen.135 Damit gingen verschiedene Initiativen vor allem auf schulpolitischem und wissenschaftlichem Gebiet einher, bei denen die Verantwortlichen in Abwägung der traditionellen Verbindungen mit dem deutschen Sprachraum trotz des in den Folgejahren von Frankreich in Ostmitteleuropa unternommenen kulturpolitischen Vorstoßes auf Deutschland und dabei speziell auf die Kooperation mit Preußen setzten. Treibende Kraft und ein überragender Kopf war dabei Kuno Graf Klebelsberg, der zwischen 1922 und 1931 als Kultusminister erfolgreiche Schul- und Hochschulreformen durchsetzte. Seinem Einfluss war es zuzuschreiben, dass Ende der zwanziger Jahre die unerhörte Summe von zehn Prozent des Staatshaushaltes in die Kulturpolitik flossen. Friedrich Schmidt-Ott, dessen Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft Klebelsberg zum Vorbild für Ungarn nahm, porträtierte ihn als einen gleichgesinnten Konservativen mit größter Hochachtung: „Dieser geistig bedeutende, aus altungarischer Familie stammende Mann, der die wissenschaftlichen Beziehungen Ungarns zu Deutschland zu festigen bemüht war, hatte auch dem von uns schon vor dem Weltkrieg in Berlin begründeten Ungarischen Institut sein besonderes Interesse zugewandt und es durch ein Collegium Hungaricum mit Wohnräumen für ungarische Stipendiaten ergänzt. Die Besiedlung von Dahlem im Sinne der Althoffschen Pläne sollte ihm als Vorbild 133 Peter Gay, Weimar Culture. The Outsider as Insider. New York: Harper & Row, 1968. 134 Eva Karadi, Der ‚Sonntagskreis‘ und die Weimarer Kultur, in: WechselWirkungen, 526–533. 135 Für diese Konkurrenz s. Zsolt Nagy, National Identities for Export. ����������������������������� East European Cultural Diplo� macy in Inter-War Pittburgh, in: Contemporary European History 20 (2011), 435–453.

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für die neuzugründenden Universitäten Debreczin und Szeged und für die Verlegung der Budapester Universität auf eine Donauinsel dienen. Sein ganzes Streben ging dahin, seinem durch den Frieden von Trianon verstümmelten Vaterland durch geistige Kräfte zu ersetzen, was es an Gebiet und Menschen eingebüßt hatte.“136 Als Klebelsberg 1925 zur Feier des – nach Wien und Rom dritten – Collegium Hungaricum eine grundsätzliche Rede zur ungarischen Kulturpolitik hielt, gab er seinen Zuhörern in der Berliner Universität zu verstehen, wie stark dabei die deutschen Ideen und Lösungen als Vorbild dienten. Während Kommunisten im Preußischen Landtag und auf der Straße heftig gegen den Besuch demonstrierten,137 lieferte Klebelsberg eines der seltenen Zeugnisse dafür, dass auch von der Kultur- und Wissenschaftspolitik der Weimarer Republik noch bewegende Impulse ausgingen, wenn er am Schluss ausrief: „Wir haben erkannt, dass wir auf Bahnen wandeln müssen, auf denen Kulturpolitiker wie Wilhelm von Humboldt und Allenstein [Altenstein], Althoff, Harnack, Schmidt-Ott, Becker, das deutsche Geistesleben über drohende Abgründe hinweg in die Höhe führten.“138 Als Beweis dafür sandte die „ungarische Regierung ab 1924 die Elite ihrer jungen Akademiker und Staatsstipendien nach Berlin“, wo das Collegium Hungaricum bis 1944 „ein wichtiger Mittelpunkt der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn“ blieb.139 Bei seinem mit großen Pomp unter Beteiligung Tausender von Studenten in Budapest gefeierten Gegenbesuch 1926 sah sich Becker veranlasst, seine ebenfalls grundsätzliche Darstellung der „Preußisch-deutschen Kulturpolitik nach dem Kriege“ insofern von der konservativen Agenda seines Gastgebers zu differenzieren, als er feststellte, „dass in Ungarn einem radikalen Umsturz eine einheitliche Restauration gefolgt ist, während in Deutschland Revolution und Tradition einen Bund miteinander geschlossen haben, was dadurch möglich wurde, dass die Revolution von Anfang an keine radikale gewesen ist, und auch die traditionellen Kräfte bis zu einem gewissen Grade die Neuordnung der Dinge mitzumachen imstande waren.“140 Das stellte in dieser Zeit ökonomi136 Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes 1860–1950, 214; über die französische Kulturpolitik in Ungarn s. 271. 137 Erich Wende, C. H. Becker. Mensch und Politiker. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1959, 250. 138 Graf Kuno Klebelsberg, Ungarische Kulturpolitik nach dem Kriege. Rede, gehalten in der Aula der Berliner Friedrich Wilhelms-Universität am 21. Oktober 1925. Berlin/Leipzig, 1925, 22. 139 Gabor Ujvary, Auswirkung Preußens auf die ungarische Wissenschaftspolitik in den 1920er Jahren. Friedrich Schmidt-Ott, Carl Heinrich Becker und Graf Kuno Klebelsberg, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, 180–192, hier 189. Einen Überblick über die deutsch-ungarische Kulturpolitik der zwanziger Jahre liefert Walter Wienert, Ungarn, in: Inter Nationes 2:1 (Januar 1932), 18–23. 140 C.  H. Becker, Preußisch-deutsche Kulturpolitik nach dem Kriege. Vortrag, gehalten in Budapest, im Delegationssaale des Parlamentspalastes, in: Pester Lloyd vom 26.5.1926, 1–4, hier 2 (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Becker-Nachlaß VI HA NI, 7238).

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scher Stabilisierung keine unrealistische Einschätzung der Situation dar und entsprach Beckers Nähe zur liberalen Deutschen Demokratischen Partei, ließ aber die Verwundbarkeit dieser Demokratie erkennen, die er in den Folgejahren schmerzhaft erfuhr, als seine Reformpolitik von der nationalen Rechten blockiert wurde. Wenn Pierre Viénot fünf Jahre später in den Incertitudes allemandes die Spannung dieser Republik zwischen Revolution und Reaktion als eine Gegebenheit charakterisierte, ohne die keine wirkliche Modernität entstehen könne, stand er Beckers Argumentation durchaus nahe (er kannte ihn gut). Jedoch ließ er keinen Zweifel daran erkennen, dass damit auch eine große Schwäche einherging und dass diese Schwäche große Gefahren barg. Angesichts der großen Anziehungskraft der Hauptstadt dieses Landes für einen zuvor von den Deutschen nicht besonders verwöhnten Teil Europas allerdings stellt sich diese Schwäche auch als Chance dar, als eine Chance, zur Werkstatt und zum Stimulus zu werden, gerade weil mit der Revolution die Kaiser- und Militärmacht gebrochen war. Nicht von ungefähr entwickelten sich die erfolgreichsten Impulse moderner ästhetischer Kultur, wie es Konrad Haenisch mit etwas hilfloser Begeisterung ausdrückte, in der Befreiung von der Last der Kaisermacht. In dieser Situation ist Stresemanns Fazit, dass es einem Land, das die Macht besitzt, viel leichter falle, das Interesse der Welt für seine Kulturpolitik zu finden, als einem Land, das die Macht verloren hat, oben vielleicht doch zu voreilig zitiert worden. Ohne den Machtverlust hätte die von Viénot bewunderte Modernität nicht ihre multinationale Dynamik gefunden. Eingedenk der Tatsache, dass die Außenwirkung eines Landes sich immer in Wechselbeziehungen ausformt, ergibt sich ein anderes, für den Historiker wichtigeres Fazit: Die Experimentierarbeit der Weimarer Republik für die Kultur der Modernität lässt sich nicht von deren Ende her erschließen, auch wenn das mit dem tragischen Anklang eine spannende Erzählung ausmacht, sondern nur von ihrem Anfang her, der Niederlage des deutschen Machtstaates und den damit verbundenen revolutionären Tendenzen.

Berlin und Wien: Verfestigte Kulturachse Die Mittlerstellung Berlins für die künstlerischen und wissenschaftlichen Nachkriegsentwicklungen in Ost- und Südosteuropa korrespondiert keineswegs mit einer besonders positiven Einstellung dieser Gesellschaften zu Deutschland.141 141 Gotthold Rhode, Das Deutschlandbild in Osteuropa zur Zeit der Weimarer Republik, in: Tradition und Neubeginn. Internationale Forschungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, hg. von Joachim Hütter, Reinhard Meyers und Dietrich Papenfuss. Köln: Heymanns, 1975, 101–116.

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Zwar behielt die deutsche Sprache eine wichtige Stellung in Schule und Wirtschaft, aber der innen- und außenpolitische Druck in den neuen Staaten, sich durch eine homogenisierte nationale Kultur Rückhalt zu verschaffen, drängte diese Sprache in der öffentlichen Kommunikation an den Rand. Nur in Russland gelangte Deutsch mit der Revolution zu neuer Prominenz. Zum einen rückte es in den Schulen mit der Abschaffung von Französisch, das als Sprache der Bourgeoisie etikettiert wurde, für lange Zeit zur ersten Fremdsprache auf und galt bei der revolutionären Intelligenz als praktischer, zum andern diente es auf den frühen Zusammenkünften der Kommunistischen Internationale als zentrales Verständigungsmedium. „Selbst die Führer der Bolschewiki hielten ihre Referate zum Teil in deutscher Sprache, und Berlin blieb die Hauptstadt der Internationale. Russisch und Deutsch waren die Verkehrssprache der Komintern, so wie Englisch und Französisch die Amts- und Verkehrssprachen des Völkerbundes waren.“142 In der aus den Habsburger Territorien Böhmen, Mähren und Slowakei neu gebildeten Tschechoslowakei stand Deutsch als Zweitsprache im Vordergrund. Über drei Millionen Deutschsprechende, die nun Sudetendeutsche genannt wurden, übernahm der neue Staat aus der Monarchie. Seine Hauptstadt Prag war seit Jahrhunderten auch ein deutsches geistiges und politisches Zentrum gewesen. Prager Deutsch und Prager Literatur stellten im deutschen Kulturraum feste Größen dar. Seine in der Moderne stark auch durch Juden getragene kulturelle Eigenständigkeit bewies Prag erneut in dieser Phase politisch-kultureller Um­ orientierung, insofern sich seine deutschsprachigen Eliten von ihrer ehemaligen Hauptstadt Wien ohne viel Sentimentalität und Zeitverlust auf Berlin als Wirkungs- und oft auch als Wohnort umstellten. Schriftsteller und Journalisten wie Egon Erwin Kisch, Willy Haas, Ernst Weiss, Paul Kornfeld, Melchior Vischer und Franz Carl Weiskopf stiegen dort zu bekannten Größen des deutschen Litera­turbetriebes auf, und über Berlin wurde der Weltruhm zweier tschechischer Schriftsteller lanciert: der von Karel Čapek, des bedeutendsten tschechischen Autors der Zwischenkriegszeit, dessen Stücke Anfang der zwanziger Jahre auf Deutsch in Berlin ihren Durchbruch erlebten, und der von Jaroslav Hašek, dessen Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk in der deutschen Übersetzung zu Weltruhm kam und in der Brecht-Piscator-Bearbeitung auf dem Berliner Theater als ein Frühwerk des epischen Theaters Furore machte.143 142 Gerd Koenen, Zwischen Antibolschewismus und ‚Ostorientierung‘. Kontinuitäten und Diskonti� nuitäten, in: Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20.  Jahrhunderts, hg. von Anselm Doering-Manteuffel. München: Oldenbourg, 2006, 241–252, hier 247. 143 Ota Filip, Das Prager Deutsch. Die tschechische Literatur und ihre Vermittler, in: Brennpunkt Berlin. Prager Schriftsteller in der deutschen Metropole, hg. von Hartmut Binder. Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 1995, 9–19; ausführlicher bei Sabine Stach, Theaterwelten zwischen Nation

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In anderen Regionen des östlichen Europa, insbesondere in Polen, war Berlin vor und im Krieg als Hauptstadt der Militärmacht Preußen-Deutschland als eher fremd erschienen, nur als Ort mächtiger Industrien und sozialer Aufstiegschancen attraktiv. Wenn sich Künstler und Intellektuelle in den ersten Nachkriegsjahren außer Paris auch Berlin zuwandten, bildete neben dem Ruf dieser Stadt, der Modernisierung freien Lauf zu lassen, nicht zuletzt der Zusammenbruch der deutschen Großmacht eine psychologische Voraussetzung.144 Berlin präsentierte sich nicht mehr als protzige Residenz der preußisch-deutschen Machthaber, vielmehr als Ort der Revolte gegen die Hohenzollernmacht, als Kampfstätte zwischen Revolution und Tradition, wie es Becker formulierte, mit Platz, ja Entfaltungsmöglichkeiten für Outsider. Berlin war nicht Amerika, wie manche seiner Feinde und Freunde behaupteten, aber es suggerierte diese Nähe zumindest in seiner Aktualitätensucht, Experimentierfreude und brutalen Vergesslichkeit. Für keine Gesellschaft war dieser historische Umschwung so bedeutsam wie für die österreichische, insbesondere die Künstler und Intellektuellen Wiens. Von ihnen nahmen im Laufe der zwanziger Jahre so viele namhafte Vertreter vorübergehend Aufenthalt in Berlin, dass der Romancier Heimito von Doderer einen Rückblick über die zwanziger Jahre in Wien unter das Motto stellte: „Nicht alle zogen nach Berlin“.145 Weil viele Autoren, Künstler, Theater- und Filmleute bereits Wien als eine Durchgangsstation, wenngleich eine besonders herzhaft umarmte und mythisierte Durchgangsstation benutzt hatten, maßen sie die andere Stadt nach ihrem Kreativ-, Markt- und Öffentlichkeitspotenzial, und da übte Berlin, das sie vor dem Krieg als preußische Machtzentrale auf Distanz gehalten hatte, in seiner politisch verminderten, kulturell gesteigerten Präsenz eine Anziehungskraft aus, die sie diesmal mit Blick auf die Modernität der Stadt mythisierten (allerdings nicht umarmten). Prominente Zeugnisse lieferten dafür Franz Blei und Robert Musil ebenso wie Elias Canetti, Alfred Polgar und Joseph Roth; selbst Kafka folgte diesem Trend, mit deutlicher und Staat. Tschechisches und deutsches Theater in Prag in der Zwischenkriegszeit, in: Bohemia 51 (2011), 389–415. 144 Karl Dedecius, der große Vermittler zwischen deutscher und polnischer Kultur, erwähnt als ein Bei� spiel aus den zwanziger Jahren die enge Zusammenarbeit der in Posen erscheinenden Literaturzeit� schrift Zdoj („Quelle“) mit den Berliner Zeitschriften Der Sturm und Die Aktion: Karl Dedecius, Von den Vorzügen des Dialogs. Erfahrungen und Konsequenzen aus den deutsch-polnischen Kulturbezie� hungen, in: Osteuropa und die Deutschen. Vorträge zum 75. Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, hg. von Oskar Anweiler, Eberhard Reißner und Karl-Heinz Ruffmann. Berlin: Spitz, 1990, 366–387. 145 Heimito von Doderer, Nicht alle zogen nach Berlin. Die zwanziger Jahre in Wien, in: Magnum 35 (April 1961), 53.

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Spitze des Pragers gegen Wien.146 Musil, der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Verträge von Versailles und St. Germain als Beamter im österreichischen Staatsamt des Äußeren arbeitete, handelte gewissermaßen staatstreu im Sinne der offiziellen Befürwortung eines Anschlusses Österreichs an Deutschland, wenn er denselben forderte.147 Nur mit Deutschland erlange man eine funktionierende Wirtschaft und Staatsmaschinerie, nur so öffne sich ein geistiger Raum, der für eine umfassende geistige Modernisierung groß genug sei. An dieser Begründung hielt Musil auch fest, als die Pariser Vorortverträge den Anschluss untersagten, um Deutschland aus der Niederlage nicht noch mächtiger hervorgehen zu lassen, ja er sah seine Stellung als bedeutender und anerkannter Schriftsteller nur gewährleistet, wenn er ein „deutscher Schriftsteller“ sei; über der Kennzeichnung „österreichischer Schriftsteller“ liege der Ruch der Provinzialität. Wenn er dann, in Berlin wohnend, seinem „Kakanien“, der Habsburgermonarchie, ironisch eine Modernität zuschrieb, die auf die Attribute des bloßen Funktionalismus und Materialismus verzichtete, lieferte er mit der Spitze gegen die Weimarer Republik ein Paradigma, mit dem Österreichs Modernität in einer fruchtbaren Spannung zur deutschen stand. Damit berührte er sich in manchem mit den Ansichten von Friedrich Naumann in dessen Mitteleuropa-Band, insofern dieser Österreich nicht in direkter Abhängigkeit von, sondern als Ergänzung und Gegengewicht zum preußischen Produktions- und Organisationseifer darstellte. Aber damit zielte Musil auf ein vergangenes Österreich. Die spezifisch öster­ reichische Kultur, die Naumann und Hofmannsthal im Rahmen der größeren Kulturnation in einer fruchtbaren Wechselwirkung mit der Kultur des Reiches lebendig sahen, nannte er nach der Auflösung der k. u. k. Monarchie eine Fiktion. Nur im Anschluss an Deutschland könne der Verlust des Großraums der Habsburgermonarchie aufgefangen werden. Darin stimmte Musil mit fast allen österreichischen Politikern überein, zumal denen, die in St. Germain gegen die völlige Zerstückelung antichambrierten, sowie mit vielen Unternehmern, die mit der Reduktion des Landes auf einen Kleinstaat ihre traditionellen Märkte verloren. Bei allen führte die Besorgnis, jegliche Verankerung in der Geschichte zu verlieren, dazu, Kontinuitäten zu suchen. Was sich im Winter 1918/19 in 146 Rolf-Peter Janz, „Dieses absterbende Riesendorf“. Literarische Städtebilder aus Wien und Berlin, in: Wien – Berlin. Stationen einer kulturellen Beziehung, hg. von Hartmut Grimm, Mathias Hansen und Ludwig Holtmeier. Saarbrücken: Pfau, 2000, 64–78. 147 Robert Musil, Der Anschluß an Deutschland, in: Neue Rundschau 30 (1919), 343–352; s. David R. Midgley, „Das hilflose Europa“. Eine Aufforderung, die politischen Essays von Robert Musil neu zu lesen, in: German Quarterly 67 (1994), 16–26, hier 19. Eine umfassende Diskussion in: Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers, hg. von Annette Daigger und Peter Henninger. Bern: Lang, 2008.

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Wien abspielte, war kein Kampf zwischen Revolution und Kontinuität, sondern ein Kampf um die Kontinuität. Politisches Handeln hieß in diesem Moment, die Restbestände der Monarchie als Grundlage des neuen Staates zu mobilisieren, nicht einen Neuanfang zu setzen. Ob Letzteres hätte geschehen können, ohne die Argumentation in St. Germain zu gefährden, ist fraglich. Ob es angesichts der Illusionen, die man vor den Pariser Friedensverträgen hegte, überhaupt möglich gewesen wäre, noch mehr. In den Worten des Historikers Fritz Fellner: „Damals, im November 1918 mit der Gründung der Republik hätte die These der Diskontinuität verkündet werden müssen, damals, im November 1918 jedoch wurde die deutschösterreichische Politik von der Auffassung bestimmt, dass eben alle anderen Länder abgefallen, Deutschösterreich als Kern des Habsburgerreiches übriggeblieben war.“148 Nur mit der Durchsetzung der Diskontinuitätsthese als Neuanfang wäre der Auflösungsdiskurs verdrängt worden. Die Ironie will es, dass es die Sieger waren, die diesen Neuanfang setzten, indem sie dem neuen Gebilde verboten, sich Deutschösterreich zu nennen. Es war von nun an die „République l’Autriche“, die Republik Österreich. Politiker konnten sich dem Negativdenken, das die territoriale Amputation der k.  u.  k. Monarchie für Österreicher mit sich brachte, nicht entziehen. Staatskanzler Karl Renner, der Leiter der Delegation in St. Germain, legte sogar ein mutiges Bekenntnis zur historischen Schuld der Monarchie ab und bezeichnete die Republik nicht als Nachfolger der Monarchie.149 Dagegen vermochten Schriftsteller, Theater- und Filmleute, insofern sie ihren Ambitionen im Bereich der Kultur nachgingen, für ihre Arbeit auf jenen deutschen Großraum, insbesondere die Nutzung Berlins, auszuweichen. Wie wenig die künstlerischen Eliten den Gedanken an einen Neuanfang anstelle der Parole vom Überleben erwogen, bezeugte die Ende November 1918 in Wien abgehaltene Vollversammlung des Österreichischen Werkbundes. Sie stand voll „im Zeichen der Reminiszenz und der Illusion, über den Bruch hinweg eine Kontinuität mit der Vorkriegsentwicklung wiederherzustellen“” obwohl die „auf internationale und unausgeschöpfte Märkte der Monarchie gerichtete Perspektive“ obsolet geworden war.150 Hofmannsthal, der seit Längerem seine Hoffnungen darauf gerichtet hatte, dass mit dem Werkbund eine kulturelle Neugründung Österreichs möglich werde, redete 1919 einer großen, vom Werkbund einberu148 Fritz Fellner, Der Vertrag von Saint Germain, in: ders., Vom Dreibund zum Völkerbund. Studien zur Geschichte der internationalen Beziehungen 1882–1919, hg. von Heidrun Maschl und Brigitte Mazohl-Wallnig. Wien: Geschichte und Politik, 1994, 286. 149 Ebd., 294 f. 150 Der Österreichische Werkbund. Alternative zur klassischen Moderne in Architektur, Raum- und Produktgestaltung, hg. von Astrid Gmeiner und Gottfried Pirhofer. Salzburg/ Wien: Residenz, 1985, 52.

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fenen Versammlung aller prominenten Persönlichkeiten der damaligen Wiener Kunsthierarchie ins Gewissen: „Seien Sie eine Macht! Denn Sie sind eine! Sie sind eine sehr hohe Instanz! Eine geschätzte und freiwillig geleistete Qualitätsarbeit ist nicht bloß ein Zeichen geordneter Wirtschaft, sondern fast diese selbst. Werden Sie nur nie politisch! Jenseits der Politik ergeben sich für geistige Gemeinschaften die größten Möglichkeiten!“151 Die Winterausstellung 1919/20 und die Kunstschau 1920 in Wien bestätigten die Stagnation im Kunstgewerbe, den „Mangel an Utopie“. Mit der Anknüpfung an die dekorative Kunst der Jahrhundertwende in den Folgejahren wohnte der Einladung an Österreich, an der Pariser Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes 1925 mit einem großen Pavillon teilzunehmen, ein gewisse Logik inne. Zweifellos lagen einige der Wurzeln von Art Deco auch hier. Josef Hoffmanns „Ruheraum für eine Dame“ gehörte zu den Höhepunkten der bürgerlichen Dekadenz, die französische Kritiker schätzten und dem österreichischen Beitrag nachsagten.152 Wer Kontinuitäten ästhetischer Lebensformen zur Schau stellte, konnte in Frankreich auf Widerhall rechnen. Der Architekt Josef Frank, der mit den deutschen Entwicklungen in der Architektur engen Kontakt hielt und den Österreichischen Werkbund Ende der zwanziger Jahre in eine progressivere Richtung drängte, mit der die modern konzipierte, international weithin gepriesene Werkbundsiedlung Wien 1932 möglich wurde, attackierte die Rückkehr zur Heimatkunst als falschen Weg zu einem neuen Österreichertum. Diese Rückkehr lag für diejenigen nahe, die sich nicht der von Berlin – oder dem Bauhaus – erprobten Diskontinuität ausliefern wollten. Franks Verdikt lautete: „Während Deutschland durch die jäh sich jagenden Moden und die fortwährende Umstellung auf Neues, vergebliche Verkleidungen und fehlende Entwicklung verwirrend wirkt, macht das neue Wien den Eindruck, als würde hier überhaupt nicht gedacht.“153 Das wurde den Tatsachen insofern nicht gerecht, als Wien, nun sozialdemokratische Kommune, nicht mehr imperiale Metropole, ein überaus beeindruckendes Programm sozialen Wohnungsbaus ins Werk setzte, das in seinem gesamtgesellschaftlichen Ehrgeiz, obgleich nicht seiner architektonischen Innovation, über die Initiativen von Martin Wagner und Bruno Taut in Berlin und Ernst May in Frankfurt hinausging.154 Seine Symbolik allerdings galt dem „roten Wien“, nicht dem neuen, vom Vertrag von St. Germain dekretierten Österreich. Noch weniger 151 Zit. nach ebd., 54. 152 Ebd., 96–98. 153 Josef Frank, Architektur als Symbol. Elemente deutschen neuen Bauens (1931). Wien: Löcker, 2005, 140. 154 Frank Trommler, Das rote Wien und das sachliche Berlin, in: Vienna Meets Berlin. Cultural In� teractions 1918–1933, hg. von John Warren und Ulrike Zitzlsperger, Bern: Lang, 2005, 185–197;

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wurde Franks ironische Bemerkung über das Nichtdenken in Wien den Wissenschaften gerecht, die zu dieser Zeit in Philosophie, Mathematik und Logik, etwa im legendären Wiener Kreis, vielmehr einen Überfluss an Denken produzierten, ganz abgesehen von den weltweit anerkannten Fortschritten in Psychologie und Psychoanalyse, Medizin, Recht, empirischer Sozialforschung und Volkswirtschaft. Die Bemühung der kulturellen Eliten, einem der drei politisch-ideologischen ‚Lager‘ dieses Landes zuzuarbeiten – dem sozialdemokratischen, dem christlich-sozialen oder dem deutschnationalen –, mobilisierte jederzeit mehr Energien als die Bemühung, dem neuen Staat eine eigene Legitimität zu verschaffen.155 Denn allen ‚Lagern‘ war die Verortung Österreichs, das sich als der deutsche Reststaat der Monarchie konstituieren musste, innerhalb des größeren deutschen Kulturraums gemeinsam, allen voran den völkischen Deutschnationalen, aber auch den von Karl Renner und Otto Bauer geführten Sozialdemokraten, die zumindest bis 1933 für den Anschluss plädierten. Die Christlich-Sozialen, die von 1922 bis 1938 die Regierungs- und Außenpolitik bestimmten, agierten in der Anschlussfrage zurückhaltend wie auch die deutsche Regierung, die bereits Mitte 1920 ihre Distanz erkennen ließ. Unter Führung des Kanzlers Prälat Ignaz Seipel sahen die Christlich-Sozialen Österreich als eine Kraft, die innerhalb der deutschen Kulturnation eine christlich-konservative Mission zu vertreten hatte, eine Mission, die man vor 1918 gegenüber der ethnischen Mission der Deutschnationalen in die autoritären Strukturen der Monarchie eingebaut hatte und die im erneuten Sog der Ethnifizierung nationalen Denkens in den dreißiger Jahren auf klerikal-autoritärer Basis zur Doktrin des österreichischen Staates aufrückte. In der Ablösung der an sich volksnahen Kirchenorientierung von dem landschaftlich-regional gebundenen und zugleich national orientierten völkischen Denken tat sich ein Gefühlsvakuum auf, das solche Führer wie Seipel, Dollfuß oder Schuschnigg nur notdürftig mit ihrer Österreich-Ideologie zu füllen vermochten. Hierin lag begründet, warum gerade in Österreich das Bedürfnis nach gefühlshaft-symbolischer Füllung nationaler Identität zu einer nicht enden wollenden geistigen Selbstanimierung geführt hat, bis hin zur Erfindung des „österreichischen Menschen“ als Träger der Identität in vielen Essays bekannter und unbekannter Kulturkritiker.156 Zugleich werden daraus auch die Frustrationen erkennbar, die dazu führten, dass der Anschluss an das größere Reich im März 1938 riesige Volksmengen zu geradezu explosionsartigen Ausbrüchen mobilisierte. Interwar Vienna: Culture between Tradition and Modernity, hg. von Deborah Holmes und Lisa Silverman. Rochester: Camden, 2009. 155 Anton Pelinka, Austrian Exceptionalism, in: Austrian History Yearbook 33 (2002), 1–14. 156 William M. Johnston, Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs. Wien/Köln/Graz: Böhlau, 2010.

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Während die Sozialdemokraten mit dem Umbau Wiens zu einer – möglichst – sozialen Gemeinschaft zumindest auf diesem engen Terrain einen Bruch mit Habsburg markierten, entwickelten die Christlich-Sozialen im Kulturellen eine nicht weniger prominente Markierung der Kontinuitäten, wobei sie nicht die multinationale Ausrichtung der Habsburgermonarchie, sondern ihre katholisch-barocke Seite zum Anschluss- und Ausstellungsobjekt machten. Sie stellte eigentlich eine Emanation der bajuwarisch-alpenländischen Regionen dar, zu denen Teile Böhmens und Mährens gehörten, die aber nun abgeschnitten waren. Hofmannsthals Hinwendung zum Projekt der Salzburger Festspiele 1919 ergab sich auch als Folge seines schwindenden Einflusses auf die Wiener Kulturpolitik; auf jeden Fall hatte er dem Gedanken, das katholisch-barocke Salzburg zum Symbolort einer österreichischen Mission im deutschen Kulturraum zu erheben, mit seinen Essays und Reden zur Idee Österreichs in den späteren Kriegsjahren vorgearbeitet.157 Wie viel von dieser Kontinuität selbst erst erfunden und dank Hofmannsthals und Max Reinhardts Zusammenarbeit bei den Aufführungen von Jedermann, Das Salzburger Große Welttheater und Goethes Faust inszeniert werden musste, wurde von Hofmannsthal selbst erläutert.158 Dass auch Bayreuths Bedeutung für die deutsche Nationalkultur erfunden worden war, empfand man eher als Ansporn; die Festspiele unterschieden sich jedoch darin, so die Salzburger Maxime, dass in Salzburg nicht ein einzelner Künstler, vielmehr eine große Kultur gefeiert werde, für welche die österreichische Tradition den Schlüssel bereitstelle. In dem Plädoyer für eine deutsche Kultur der Gemeinschaft und des geistigen Raumes, wie sie Frankreich so vorbildlich liefere, blendete Hofmannsthal 1927 in seiner berühmten Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ vor den Zuhörern der Münchener Universität sehr bewusst die Bezugsgrößen Wien und Berlin aus. Stattdessen etikettierte er den Weg dorthin als konservative Revolution. Bei einer Veranstaltung im 21. Jahrhundert hätte wohl in diesem Moment hinter dem Redner in großer Projektion der Salzburger Dom mit einer Aufführung des Jedermann aufgeleuchtet. Berlin und Wien aber waren die Bezugsgrößen, wenn Österreicher und Deutsche sich in den zwanziger Jahren auf deutsche Gegenwartskultur beriefen, und sie waren es in einer zuvor nicht vorhandenen Ausrichtung aufeinander. Diese Ausrichtung basierte auf zwei miteinander verflochtenen Erfahrungen, einer Verlust- und einer Verbotserfahrung. Zunächst die Verlusterfahrung: 157 Hugo von Hofmannsthal and the Austrian Idea. Selected Essays and Addresses, 1906–1927, hg. von David Luft, West Lafayette: Purdue University Press, 2011, bes. Introduction, 1–32. 158 Michael P. Steinberg, Austria as Theater and Ideology. The Meaning of the Salzburg Festival. Ithaca: Cornell University Press,1990, 26, 37–83.

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Solange die beiden Metropolen als Hauptstädte zweier Kaiserreiche einander zugeordnet waren, assoziierten sie das Neben- und Miteinander einer national determinierten und einer ins Multinationale geöffneten deutschen Kultur. Auf dieses Nebeneinander hatte sich Naumann nicht weniger als Hofmannsthal berufen. Aber mit dem Ende des Krieges, der auch von den Deutschen um den Erhalt der Habsburgermonarchie geführt worden war, und mit der Reduktion Österreichs auf die Stammlande der Deutschösterreicher ging über Nacht jene ins Multinationale geöffnete, wenn auch oft angegriffene Kulturauffassung verloren, die sich besonders in Wien herauskristallisiert hatte. Damit erlitt die deutsche Kultur eine nicht wieder gutzumachende Verarmung, die sich auch mit der Rückbesinnung auf die katholisch-barocken Traditionen nicht aufwiegen ließ. In seiner großen Mahnung zur „deutschen Selbsterkenntnis“ wandte sich Friedrich Wilhelm Foerster 1920 nachdrücklich als Deutscher gegen den von vielen Österreichern als selbstverständlich und von vielen Deutschen mit Indifferenz angesehenen Anschluss: „Der Deutschösterreicher ist auf Grund seiner Entwicklung von Jahrhunderten psychologisch und soziologisch ganz und gar an den wirtschaftlichen und kulturellen Verkehr mit dem Südosten angepaßt; er würde inmitten der reichsdeutschen Art von Betriebsamkeit schnell den kürzeren ziehen; sein Land würde zum Kolonialland der Berliner Großbanken werden, die dort ihren Ersatz für die verlorene Bagdadperspektive suchen […].“159 Was Foerster warnend beschwor, trat ein, als der Anschluss tatsächlich, jedoch unter nationalsozialistischen Bedingungen 1938 vollzogen wurde.160 Aber die Verlusterfahrung war mächtiger. Die von Musil und Karl Kraus geübte satirische Definition Österreichs aus dem, was es nicht war, markierte reale Zwänge: Um sich als Österreich zu definieren, berief es sich auf etwas, das nicht mehr existierte; um sich kulturell zur Geltung zu bringen, brauchte es ein größeres Gebiet als Resonanzraum. So sah sich Österreich innerhalb einer nun zusammengewachsenen deutschen Verliererkultur als das andere Standbein und Wien als die andere Metropole. Während sich Berlin so stark der Modernität an den Hals warf, dass es die Seele verlor, wie es hieß, bewahrte Wien der Menschlichkeit in all den Turbulenzen das Gastrecht. So etwa ließ sich das von den Alliierten politisch dekretierte Anschlussverbot kulturell und psychologisch auffangen. Diese in Zeitungen, Büchern, Filmen, Theatern und Kabarett in den zwanziger Jahren geradezu überbordende Zuordnung führte in der Tat zu einer großen Belebung und Bereicherung der

159 Foerster, Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland, 220. 160 Frank Trommler, Berlin and Vienna. Reassessing Their Relationship in German Culture, in: German Politics and Society 23 (2005), 8–23.

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deutschen Kultur, insbesondere der Unterhaltungskultur.161 Ihr entsprach die viel zitierte Feststellung von Julius Bab und Willy Handl in dem klassischen Buch Wien und Berlin von 1926: „Wien und Berlin, die zwei sich ergänzenden Halbheiten deutschen Wesens, wurden nach einer Vergangenheit, die sich von beider Städte Ursprung an in vielen Gegensätzen entwickelt hatte, durch eine Weltkatastrophe zum Bewußtsein ihrer Einheit geweckt.“162 Das wäre ohne die andere, die Verbotserfahrung kaum so einfach zu formulieren gewesen. Wenn Bab, Handl und ihr Mitarbeiter Hermann Kienzl diese Einheitserfahrung auf die Waffenbrüderschaft im Krieg zurückführten, folgten sie dem geläufigen Diskurs dieser Jahre. Gewiss sorgte die Referenz auf den Kampf im Krieg für gegenseitige Sympathien. Aber die letzten Kriegsjahre hatten auch gezeigt, dass die Sympathien begrenzt waren und die Kontraste zwischen Nord und Süd nicht ausgleichen konnten. Eine neue gemeinschaftliche Nachkriegskultur konnten sie nicht tragen. Was jedoch die Praxis einer kulturellen Gemeinsamkeit distanzierter Partner tragen konnte, war das aus den Verträgen von Versailles und St. Germain hervorgehende, auf gemeinsamer Niederlage beruhende Verbot, zu einer politischen Einigung zu gelangen. Hatte man in der deutschen Kultur seit Langem Wien und Berlin gegeneinander ausgespielt, so sorgte das Verbot, sie politisch zusammenzubringen, dafür, dass man nun ihre gegenseitige kulturelle Anziehungskraft als ergänzende Pole einer deutschen Nachkriegskultur zum Alltagsereignis machte. In den Bereichen von Hoch- und Unterhaltungskultur, in Theater, Kunst, Literatur, Film, Kabarett, Revue und Operette unterschied sich zwar das Berlininteresse in Wien von dem Wieninteresse in Berlin (ab Mitte der zwanziger Jahre kam es in Berlin zu einer regelrechten Wienmode163), entscheidend aber war der gegenseitige, in Kabarett, Song und Film fast zu Tode gerittene Diskurs über eine zweipolige, wenn auch asymmetrische Kultur. Das Anschlussverbot, von den Alliierten in Abständen immer wieder ausgespielt und der europäischen Öffentlichkeit zum Bewusstsein gebracht, beförderte die Berufung auf Gemeinsamkeiten.164 Wo die ernste oder witzige Bezugnahme auf die Verschiedenheit der beiden Metropolen zu wenig von den Gemeinsamkeiten erkennen ließ, beschwor man das Konzept vom 161 S. die reichhaltige Studie über Berliner und Wiener Feuilletonisten und Zeitkritiker: Christian Jäger und Erhard Schütz, Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, 1999. 162 Julius Bab und Willy Handl, Wien und Berlin. Vergleichende Kulturgeschichte der beiden deutschen Hauptstädte. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1926, 282. 163 Jäger/Schütz, Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, 321. 164 Über die allseits wirksame, jedoch nur schwer eindeutig messbare Präsenz des Anschlussgedankens in der Weimarer Republik (und, offensichtlicher, in Österreich) s. Harro Molt, „…Wie ein Klotz inmitten Europas“. „Anschluß“ und „Mitteleuropa“ während der Weimarer Republik 1925–1931. Bern: Lang, 1986, 31 f. und passim.

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deutschen Volk, das die regionalen und sozialen Unterschiede überdeckte. Hofmannsthal berief sich bei seinem Programmentwurf für die Salzburger Festspiele bewusst auf den Volksbegriff – dieser überwand regionale und soziale Barrieren. Gefragt, ob die Festspiele für die Gebildeten oder die Masse seien, antwortete Hofmannsthal: „Wer den Begriff des Volkes vor der Seele hat, weist diese Trennung zurück.“165 Mit dem im Nationalitätenkampf häufig erprobten Begriff ‚völkisch‘ wussten die Österreicher auch in dieser Phase generell viel anzufangen; hier gediehen die Argumente, die deutsch-österreichische Annäherung nicht von den Großstädten Wien und Berlin dominieren zu lassen, da deren intensiver Austausch in allen Bereichen stark von Juden getragen wurde. Unter den zahlreichen kulturellen Großveranstaltungen, die in diesen Jahren deutsche und österreichische Teilnehmer die deutsche Einheit mit markigen Reden und einer entsprechenden Portion Antisemitismus feiern ließen, sei hier nur das 1928 mit großem Aufwand und Tausenden von Besuchern aus beiden Ländern in Wien abgehaltene Deutsche Sängerfest erwähnt. Es führte zu besorgten Anfragen italienischer und französischer Diplomaten.166 Anders als bei der Umformung kultureller Identitäten durch Krieg, Niederlage und Nachkriegsordnung herrschte im wissenschaftlichen Bereich weitgehend Kontinuität. Die mit den deutschen Universitäten gemeinsame Wissenschaftskultur setzte sich auch im neuen Staat fort. Gemeinsam war die Geschichte, in welcher Wien mit Universität und Wissenschaftsakademie immer eine herausragende Rolle spielte, gemeinsam war die Teilnahme an der von Friedrich Althoff 1898 begründeten Hochschulkonferenz der deutschsprachigen Länder, Österreichs und des Reiches, gemeinsam war der Boykott vonseiten der Alliierten. Die Zuordnung erhielt sich auch später im 20.  Jahrhundert: „Abstimmungen unter den deutschen Hochschulverwaltungen über Promotionsordnungen, Zugangsvoraussetzungen zu den Hochschulen, Zulassung der Frauen, das Ausländerstudium, Anforderungen an das Abitur oder Berufungen von Professoren wären ohne Österreich illusorisch gewesen. Die Einbeziehung der deutsch-schweizerischen Hochschulverwaltungen war 1931 im vollen Gang, als sie jäh mit Hitlers Machtergreifung abgebrochen wurde.“167 Wie intensiv man seit jeher zusammenarbeitete, hat der kulturpolitische Experte des Zent165 Hugo von Hofmannsthal, Die Salzburger Festspiele, in: ders., Prosa  IV, hg. von Herbert Steiner. Frankfurt: Fischer, 1955, 89. 166 Hanns Haas, Österreich im System der Pariser Vorortverträge, in: Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, hg. von Emmerich Talos, Herbert Dachs, Ernst Hanisch und Anton Staudinger. Wien: Manz, 1995, 665–681. 167 Bernhard vom Brocke, Kultusministerien und Wissenschaftsverwaltungen in Deutschland und Österreich. Systembrüche und Kontinuitäten 1918/19 – 1933/38 – 1945/46, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, 193–214, hier 193.

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rums, Georg Schreiber, mit eindrucksvollen Beispielen festgehalten. Über die Unterstützung des Reichstages für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft hinaus sorgte Schreiber dafür, dass auch die deutsch-österreichische Wissenschaftsförderung von der Notgemeinschaft Zuwendungen erhielt, in einer von deren Präsidenten Schmidt-Ott und dem sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Paul Löbe, der dem Österreichisch-Deutschen Volksbund vorstand, gestützten Politik. Für die Gründung der Österreichisch-Deutschen Wissenschaftshilfe, die Schmidt-Ott und Schreiber 1929 zustande brachten, verpflichteten sich Auswärtiges Amt und Reichsinnenministerium zu einem beträchtlichen Jahreszuschuss, zu dem die Kulturabteilung des Amtes noch einen zusätzlichen Betrag in Aussicht stellte.168 Als österreichischer Partner agierte der bekannte Historiker Heinrich Ritter von Srbik, der 1929/30 als Unterrichtsminister tätig war und 1938 nach dem Rücktritt von Oswald Redlich zum Präsidenten der Wiener Akademie der Wissenschaften gewählt wurde. In Schreiber besaß Österreich, das sonst im deutschen Reichstag wenig behandelt wurde, einen engagierten Anwalt. Prälat Schreiber, als Zentrumsvertreter der konservativen christlich-sozialen Regierung Österreichs besonders zugeneigt, die sonst in Deutschland als zu rückwärtsgewandt galt, erwies als führender Kulturpolitiker dem Nachbarland seine Reverenz, indem er die Bedeutung Wiens für Südosteuropa hervorhob. Wien habe nach wie vor die Aufgabe, gab er 1922 im Reichstag zu bedenken, „auch für die Deutschen, die sich außerhalb der österreichischen Republik befinden, die in den Sudeten, in Jugoslawien und in Siebenbürgen angesiedelt sind, das kulturelle Zentrum abgeben. (Zurufe: Sehr richtig!) Berlin ist eben nicht in der Lage, weil die historischen Voraussetzungen und manches andere fehlt, hier den Ersatz zu bieten. Wien wird nach wie vor eines der großen Aussprache- und Vermittlungszentren der deutschen Kultur überhaupt bedeuten. (Zurufe: Sehr richtig!) Und über Wien, über diese Brücke, muß ein gutes Teil Deutschtum kulturell geleitet werden, was ehemals zu den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Von diesem Standpunkt aus müssen wir versuchen, die Arbeitsgemeinschaft mit Deutsch-Österreich intensiver und besser zu pflegen.“169 Trotz der Zustimmung blieb das Interesse in den Folgejahren, zumal im Auswärtigen Amt, sehr gedämpft. Man vermied die Demonstration einer engeren Zusammenarbeit und entwickelte in der Kulturpolitik einen eigenen Draht zu den südosteuropäischen Ländern. Die Errichtung einer deutsch-österreichischen Zollunion scheiterte 1931 am Einspruch Frankreichs. 168 Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes 1860–1950, 287. 169 Georg Schreiber, Deutschland und Österreich. Deutsche Begegnungen mit Österreichs Wissenschaft und Kultur. Erinnerungen aus den letzten Jahrzehnten. Köln/Graz: Böhlau, 1956, 103 f.

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Minderheiten und die Ethnifizierung von Kultur Wie stark die Pariser Vorortverträge mit ihren Grenzziehungen, ihrer Festsetzung neuer Staaten und Schaffung zahlreicher nationaler Minderheiten die Bedeutung von Kultur und Kulturpolitik in der Zwischenkriegszeit aufwerteten, hat sich als Gesamtphänomen bisher weitgehend der Aufmerksamkeit entzogen. Hier kann nur darauf hingewiesen werden. Ungarns Initiativen – und die ebenfalls erwähnte Kulturpolitik Rumäniens und der Tschechoslowakei – stellen nur ein Beispiel für die Anstrengungen dar, souveräne Staaten mithilfe kultureller Selbstdarstellung in der internationalen Politik zur Geltung zu bringen. Dass die Bemühung eines Staates um Homogenisierung seiner nationalen Kultur bei den Minderheiten einen Gegendruck auslöste, der sich ebenfalls in der Berufung auf kulturelle Identität äußerte, bedarf kaum der Erläuterung. Nicht nur hier entsprangen zahllose Probleme, sondern mehr noch in dem Fehlen völkerrechtlicher Abmachungen, den Minderheiten das Recht zur Kulturautonomie im nationalen Zusammenhang zu sichern. Ein Großteil internationaler Politik der zwanziger Jahre galt den Bemühungen um diese Abmachungen, wobei der Völkerbund insofern wenig Hilfe gab, da er nur Staaten, nicht einzelne Bevölkerungsgruppen als Vertragspartner akzeptierte. Außer den getrennten Verträgen der Alliierten mit der Tschechoslowakei und Polen, die einen gewissen Minderheitenschutz festlegten, blieben die Minderheiten weitgehend ohne rechtlichen Schutz für ihre Bestrebungen, ihre Nationalität zumindest im Kulturellen, das heißt in Schule, Religionsausübung und Versammlung, zu manifestieren. So hielt sich etwa Italien von jeglicher Abmachung fern, was ihm bei der Nationalisierung des zuvor österreichischen Südtirol freie Hand gab. Dank dem Druck amerikanischer jüdischer Verbände erhielt die Minderheitenfrage in Paris zumindest einige Aufmerksamkeit, wenn auch keine generelle Regelung. Juden, mit über acht Millionen die größte Minderheit in Osteuropa, hatten es am schwersten, ihre kulturelle Autonomie zu bewahren. Während andere nationale Minderheiten „jenseits der Grenze sich gar als Staatsvolk wähnten, blieb den Juden allein der Einsatz von Rechtsmitteln oder die Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Der Appell an die internationale Öffentlichkeit wiederum machte sie besonders sichtbar und trug ihnen in Polen die Schmähung einer ‚vierten Teilungsmacht‘ ein.“170 Insgesamt lebten 3,3 Millionen Juden in Polen, 1,7  Millionen in der sowjetischen Ukraine, 700.000 in Rumänien, 170 Dan Diner, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie, in: Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, hg. von Gerhard Stourzh. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften, 2002, 85–96, hier 99.

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350.000 in der Tschechoslowakei, 600.000 in Weißrussland, 900.000 in der übrigen Sowjetunion. Die Deutschen stellten mit 8 Millionen die zweitgrößte Gruppierung von Minderheiten. Davon wohnten 3,2 Millionen in der Tschechoslowakei, 2  Millionen in der Sowjetunion, 1  Million in Polen, mehr als 700.000 in Rumänien und jeweils 500.000 in Ungarn und Jugoslawien. Ihre Lebensformen waren ebenfalls höchst unterschiedlich, jeweils von Traditionen, Loyalitäten, Kriegserfahrungen individuell geprägt. Wenn Theodor Heuss, wie zitiert, 1929 zwischen Grenzdeutschtum (in den abgetrennten Gebieten) und dem Siedlungsdeutschtum der Ferne in einigermaßen geschlossenem Bezirk unterschied und mit Diaspora generell deutschsprachige Gruppen mit fremder Staatsangehörigkeit erfasste, lieferte er nur erste Kriterien, machte aber deutlich, dass die in Deutschland immer häufiger betriebene Vereinheitlichung des Deutschtums im Ausland als fester Bestandteil deutscher Identität fragwürdig war. Große Gruppierungen – Diasporas – stellten ebenfalls die Ukrainer mit über 4 Millionen, Ungarn mit über 2 Millionen und Weißrussen mit 1 Million. Ihnen folgten Polen, Türken, Albaner, Russen, Slowenen, Kroaten, Bulgaren und Griechen.171 Wenn sich die ethnischen Führer zunächst durchwegs für ihre Volksgruppe einsetzten, konnten sie nicht umhin, ihre Ziele, wenn es sich um kulturelle Autonomie und nicht bloße Revisionspolitik handelte, in Abstimmung mit anderen ethnischen Führern zu verfolgen. Dies ließ eine besondere Form internationaler Kulturpolitik entstehen, die man Minderheitenkulturpolitik nennen kann, insofern nicht staatliche Akteure den jeweiligen Anspruch auf Kulturautonomie und die Rechtssicherung über die Grenzen hinweg organisierten. Deutschbaltische Gruppen, die, unterschieden von Siedlergruppen in den weiten ländlichen Gebieten Osteuropas, in einer städtischen Bourgeoisie wurzelten, entwickelten dabei besonders erfolgreiche Initiativen, zusammen mit ungarischen, jüdischen und ukrainischen Gruppen; mit ihnen korrespondierten die von Rudolf Brandsch geführten Deutschen im nun rumänischen Siebenbürgen. Der neu gegründete Verband der deutschen Minderheiten hielt 1922 in Wien eine erste Konferenz ab. Wien wurde dann auch der Standort der für die Minderheitenkulturpolitik bis 1933 dominanten Organisation, des 1925 gegründeten Europäischen Nationalitätenkongresses, den der Deutsch-Este Ewald Ammende leitete. Estland lieferte das Modell für die politische Zielvorstellung des Nationalitätenkongresses: die im „Gesetz über die Kultur-Selbstverwaltung

171 Urs Altermatt, Das Fanal von Sarajewo. Ethnonationalismus in Europa. Paderborn: Schöningh, 1996, 136.

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der Minderheiten“ fixierte Legalisierung der Kulturautonomie, der später in Lettland eine verwandte Regelung folgte.172 Was immer nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und ihrer Auslandsorganisationen mit den deutschen Minderheiten und speziell den Minderheitenorganisationen in Europa geschah (wozu die völlige Vereinnahmung und schließlich die Aushöhlung des Nationalitätenkongresses nach 1933 gehörte), sollte nicht auf die internationale Minderheitenkulturpolitik der zwanziger Jahre rückprojiziert werden. Sie entwickelte sich als eine Lobbypolitik aus den verschiedensten Gruppeninteressen, wurde aber vor allem durch das Ziel zusammengehalten, die staatliche Souveränität nicht zum kulturellen, ethnischen und rechtlichen Unterdrückungsinstrumentarium werden zu lassen.173 Dafür benötigte man internationale Regelungen, die aber nur zum Teil von dem in Genf beim Völkerbund angesiedelten Nationalitätenkongress zu erhalten war. Neben der Kooperation von Deutschen, Ukrainern und Ungarn – auch wenn der ungarische Staat selbst wiederum deutsche Minderheiten mit Vorsicht zu behandeln hatte174 – lieferte die Zusammenarbeit von deutschen und jüdischen Minderheitsvertretern die Leitlinien. „Die Nähe zwischen beiden Volksgruppen“, erläutert Dan Diner, „ergab sich aus der ihnen gemeinsamen urbanen Struktur und den für sie signifikanten Streusiedlungen in Ostmitteleuropa. Dieses Bündnis dauerte an, bis Hitler diese Gemeinsamkeit 1933 zerbrach.“175 Dass ein so bedeutender und politisch unabhängiger Kulturliberaler wie der Deutsch-Lette Paul Schiemann zum international anerkannten Ideengeber des Europäischen Nationalitätenkongresses und 1927 zum Herausgeber der Zeitschrift Nation und Staat werden konnte, spricht für das demokratische Potenzial dieser Form der Minderheitenpolitik; dazu gehört, dass sich Schiemann immer gegen Antisemitismus wehrte und Anfang der dreißiger Jahre, mit dem Ausgreifen des Nationalsozialismus, dem ebenfalls aus dem Baltikum stammenden Werner Hasselblatt weichen musste. (Allerdings stellte 172 S. die ausführliche, von Ammende als Generalsekretär des Europäischen Nationalitäten-Kongresses aus den Länderberichten zusammengestellte Dokumentation: Die Nationalitäten in den Staaten Europas. Sammlung von Lageberichten, hg. von Ewald Ammende. Wien/Leipzig: Braumüller, 1931. 173 Xosé M. Núñez, National Minorities in East-Central Europe and the Internationalisation of Their Rights (1919–1939), in: Nationalism in Europe. Past and Present, hg. von Justo G. Beramendi, Ramón Maiz und Xosé M. Núñez. Compostela: Universidade de Santiago de Compostela, 1994, 505–536. 174 S. die Stellungnahme des anerkannten Sprechers der Deutschungarn, Jakob Bleyer, Das Verhältnis zwischen Ungartum und Deutschtum, in: Deutsche Rundschau, H.  218 (1929), 190–199. Über die deutschen Minderheiten in Polen und der Tschechoslowakei s. Rudolf Jaworski, The German Minorities in Poland and Czechoslowakia in the Interwar Period, in: Ethnic Groups in International Relations, hg. von Paul Smith. New York: New York University Press, 1991, 169–185. 175 Diner, Die Geschichte der Juden, 100.

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Schiemann unter den Deutschbalten eher eine Ausnahme dar, die, wie es Paul Rohrbach seit der Jahrhundertwende prominent demonstrierte, dazu neigten, sich als Propagandisten eines deutschen Imperialismus zu betätigen.) Im ersten Heft der Zeitschrift Nation und Staat umriss Schiemann die Bedingungen der Mehrfach- (oder zumindest Zweifach‑)Identität unter dem Titel „Volksgemeinschaft und Staatsgemeinschaft“.176 Beide Faktoren, Staatzugehörigkeit und kulturelle Volkszugehörigkeit, machten die Minderheit aus. Der politische Einsatz ihrer Repräsentanten im jeweiligen Staat gehöre dazu. Das entsprach den Aktivitäten vieler deutschsprachiger Minderheitenvertreter, wie Fritz Wertheimer, der Generalsekretär des Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart, in einer Bestandsaufnahme der politischen Arbeit dieser Vertreter in den jeweiligen Parlamenten mit dem Titel Von deutschen Parteien und Parteiführern im Ausland 1927 detailliert darlegte. Der Europäische Nationalitätenkongress stellte insofern eine Herausforderung an den Völkerbund dar, als dieser die brennenden Minderheitenfragen als Sache der Staaten, nicht als Verhandlungssache nicht staatlicher Organisationen behandelte und auf deren Eingaben kaum reagierte. Er stellte jedoch ebenso eine Herausforderung an das Auswärtige Amt (und andere Außenministerien) dar, insofern sich darin auch bei den deutschen Minderheiten eine legitime internationale Zielsetzung Ausdruck verschaffte, die sich nicht der nationalen Subventionspolitik unterordnen ließ. Der von Ewald Ammende 1925 nach Wien einberufene erste Kongress des Verbandes stieß als Zeichen der „Emanzipation von einer karitativen Deutschtumspflege“ im Amt auf Ablehnung.177 Hätte Stresemann nicht selbst interveniert und darin die Chance gewittert, der deutschen Position durch ein großzügiges Eintreten für die Minderheiten generell Vorteile zu verschaffen (und seinem Ziel der Revision des Versailler Vertrages näherzukommen), wäre man im Amt wohl nicht auf eine Unterstützung umgeschwenkt, die ab 1927 (geheim) einen größeren finanziellen Beitrag einschloss und den Verband sukzessive in die Abhängigkeit von Deutschland brachte.178 Der berühmte Faustschlag auf den Tisch, mit dem Stresemann 1928 gegen eine auch von den Westmächten mit Verärgerung aufgenommene Beschwerderede des polnischen Außenministers August Zaleski 176 Paul Schiemann, Volksgemeinschaft und Staatsgemeinschaft, in: Nation und Staat 1 (1927), 23–28. 177 So die Kennzeichnung von Sabine Bamberger-Stemmann in ihrer Aufarbeitung der Geschichte des Verbandes: Der Europäische Nationalitäten-Kongreß. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyismus und Großmachtinteressen. Marburg: Herder-Institut, 2000, 67. 178 Ebd., 143–248; Ulrike von Hirschhausen, From Minority Protection to Border Revisionism. The European Nationality Congress, 1925–38, in: Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, hg. von Martin Conway und Kiran Klaus Patel. New York: Palgrave Macmillan, 2010, 87–109.

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über deutsche Minderheiten protestierte, gab ihm Gelegenheit, sich in der Folge vor dem Völkerbund zum Anwalt der Minderheiten zu machen.179 Mit seiner stark nationalen Sprache zugunsten deutscher Minderheiten, mit der er die nationale Rechte seinem Versöhnungskurs dem Westen gegenüber geneigter stimmen wollte, hatte er das ohnehin vorbereitet. Bereits 1925 hatte ihn Schiemann von der Ablehnung des Europäischen Nationalitätenkongresses abgebracht und zur Zustimmung zum Ziel der Kulturautonomie veranlasst.180 Allerdings gelang es Stresemann nicht, die Opposition der deutschen Länder dagegen zu überwinden, den fremdsprachigen Minderheiten im Reich eine umfassende kulturelle Selbstverwaltung einzuräumen.181 Das half dem deutschen Standpunkt nicht. Ohnehin blieb Stresemanns Vorstoß noch vor seinem plötzlichen Tod 1929 stecken.182 Fritz Wertheimer, dem 1933 aufgrund seiner jüdischen Abstammung seine Position als Sekretär des Deutschen Ausland-Instituts entzogen wurde, wies in der Einleitung des Bandes Von deutschen Parteien und Parteiführern im Ausland darauf hin, dass das Ziel der Kulturautonomie zwar höchste Priorität besitze, aber einen bisweilen hohen Preis verlange: „Durch die Gewährung der kulturellen Autonomie allein könnte bei Fortbestehen der wirtschaftlichen Unterdrückungsmethoden und bei fortgesetzter wirtschaftlicher Aushöhlung des Bestandes und des Wohlstandes einer Minderheit die innere Liebe zum Staat sicherlich nicht erreicht werden, schon weil die Durchführung der kulturellen Autonomie starke wirtschaftliche Opfer von einer Minderheit verlangt und nur bei gesichertem wirtschaftlichen Bestand und Wohlstand einer Minderheit eine kulturelle Autonomie nicht zum Danaergeschenk werden würde.“183 Wertheimer hob die wirtschaftlichen Opfer heraus, welche die Aufrechterhaltung sprachlicher und kultureller Kontinuitäten in seinen Augen erforderte. Während es ihm auf den ökonomischen Aspekt ankam, beförderte er jedoch auch jenen Opferdiskurs, den die völkische Rechte zunehmend zum Identitätsdiskurs der Deutschen ausformte, indem sie ihn der Propagandasprache von Deutschen als Opfern des Versailler Vertrages als eine Art Beweisstück zuordneten. Wenn die Minderheiten, zunehmend als Volksdeutsche etikettiert, von 179 Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, 471. 180 John Hiden, Defender of Minorities. Paul Schiemann, 1876–1944. London: Hurst, 2004, 123 f., 149. 181 Bastiaan Schot, Nation oder Staat?, 143–160. 182 Eine aufschlussreiche zeitgenössische Einschätzung bei Walter Hagemann, Die Minderheitenfrage in der deutschen Außenpolitik, in: Volkstum und Kulturpolitik. Eine Sammlung von Aufsätzen, hg. von Heinrich Konen und Johann Peter Steffes. Köln: Gilde, 1932, 395–406. 183 Fritz Wertheimer, Von deutschen Parteien und Parteiführern im Ausland. Berlin: Zentral-Verlag, 1927, 16.

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ihrer Opferhaltung für das Deutschtum her verstanden wurden, war es nicht weit zu der Anschauung, dass sie wahrere Deutsche als die Reichsdeutschen seien, da sie für das Deutschtum leiden mussten. Das stellte nicht Wertheimers Gedankengang dar, lag jedoch in der Konsequenz des Begriffs vom Volk, insofern er gleichermaßen für Reichs- und Volksdeutsche wie für Österreicher gebraucht wurde. Mit anderen Worten: Auch die nüchternste Darstellung der deutschsprachigen Minderheiten erlangte, wenn sie mit dem seit dem Krieg zu zentraler Bedeutung gelangten Konzept Volk arbeitete, das seine Gemeinsamkeiten über staatliche Grenzen hinweg demonstrierte, jene politisch dubiose Qualität, die dann von Nationalsozialisten aufs Schamloseste für imperiale Ziele ausgeschlachtet wurde. Wertheimers Umsicht als Sprecher des Deutschen Ausland-Instituts zeigte sich in seiner Bemühung, die seit dem Kriege entwickelte Akzeptanz der deutschsprachigen Diasporas, der „Auslandsdeutschen“, zu erklären. In seinem grundsätzlichen Überblick von 1929, „Auslandsdeutschtum und Deutschtumspolitik“, in dem er die unabweisbare Bedeutung der Auslandsdeutschen für die Wiedererstarkung der deutschen Wirtschaft klarstellte, machte er seine Leser ausdrücklich auf die „Umgestaltung der Volksauffassung“ aufmerksam. Er sprach von der „Möglichkeit und Notwendigkeit einer Trennung gerade derjenigen Begriffe, die noch einem Bismarck als untrennbare Einheit erschienen: der staatsbürgerlichen und der volksbürgerlichen Zugehörigkeit. In den weltpolitischen Gestaltungstendenzen ringt sich diese Auffassung von der Trennung staatlicher und volklicher, also rein kultureller Funktionen langsam durch.“184 Wertheimer hob die seit dem Krieg rapide zunehmende Referenz auf ethnisch-nationale anstelle der früheren feudal-staatlichen Identitäten heraus. Das korrespondierte mit Entwicklungen in anderen Nachkriegsgesellschaften und fand im deutschen Sprachraum mit dem Begriff vom Volk besonders zündenden Ausdruck. Wertheimers Assoziation von „volklich“ mit rein kulturellen Funktionen entsprach dem etablierten Denken, allerdings gab er an anderer Stelle zu bedenken, dass sich die Bindung vieler Auslandsdeutscher an Deutschland nicht über Kultur, sondern über Geschäftsinteressen konstituiere. Er selbst machte somit zur Genüge deutlich, dass Kulturautonomie als zentrale Zielvorstellung der Minderheitenpolitik noch andere Elemente beinhalte. Andere Beobachter, zumeist auf der völkischen Rechten, waren zu dieser Zeit wesentlich härter und scharfzüngiger. Sie bezogen sich, wenn es um die Erklä184 Erschienen in dem repräsentativen Sammelband zum Zehn-Jahres-Jubiläum der Weimarer Republik: Volk und Reich der Deutschen. Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswis� senschaftliche Fortbildung, Bd. 3, hg. von Bernhard Harms. Berlin: Hobbing, 1929, 207–227, hier 213 f.

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rung von ‚Volk‘ und ‚volklich‘ ging, auf Stamm oder Rasse, nicht auf Kultur. Was mit dieser „Umgestaltung der Volksauffassung“ für die Identität der Minderheiten innerhalb Deutschlands auf dem Spiel stand, war vor allem für die Juden beunruhigend, die sich weitgehend über die Kultur in die Nation integriert hatten. Das zeigte sich, als das preußische Innenministerium im Zeichen der verbesserten Beziehungen mit Polen 1927 die Einbürgerungspolitik lockern und den Begriff des „Deutschstämmigen“ durch den Ausdruck „Kulturdeutscher“ ersetzen wollte. Der sozialdemokratische Innenminister Albert Grzesinski wollte das Privileg der Blutsabstammung für die Aufnahme in die Staatsangehörigkeit abschaffen und an dessen Stelle die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturgemeinschaft setzen. Jedoch scheiterte dieser Vorstoß am Widerstand der anderen Ländervertreter: „Deutsche Kultur allein biete keine Sicherheit für das Vorhandensein ‚deutscher staatsbürgerlicher Gesinnung‘“, hieß es. „Strebsame Angehörige östlicher Völker eigneten sich die höherentwickelte deutsche Kultur zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Aufstiegschancen an.“ Dabei ließ sich nicht übersehen, „dass die Aufrechterhaltung des Begriffs ‚Deutschstämmigkeit‘ die Handhabe zum Ausschluß der Juden bot.“185 In den Vielvölkermonarchien hatte man sich traditionell auf eine Kultur oder Sprache berufen, um als Staatsbürger zu gelten, obgleich das selten konsequent gehandhabt wurde. Oft wählte man je nach Zweck aus. Den Kulturbegriff gegen eine Minderheit zu richten, um sie auszuschließen, gehörte zu den Folgeerscheinungen der Auflösung dieser Monarchien. Das geschah zunehmend mit der Ethnifizierung der Politik als Folge des Ersten Weltkrieges. So wie sich der Krieg in der Totalisierung seiner Mobilisierung von einem Krieg der Diplomaten und Militärs zu einem Krieg der Völker entwickelte, gewann die Bezugnahme auf den ethnischen Kern der Nation, das Volk, an Gewicht. In den Beratungen um die neue Verfassung 1916–1918 konzentrierten sich besonders Sozialdemokraten und Liberale darauf, das Volk, das schließlich das Hauptgewicht des Krieges getragen hatte, entsprechend an der Regierungsmacht zu beteiligen.186 Bereits im Artikel 1 der Weimarer Verfassung – „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – wurde der Begriff des Volkes, das „auch das Staatsvolk der Demokratie bedeutete, auf einen Substanzbegriff ethnisch-kultureller Homogenität verengt.“187 Damit änderte zugleich der national codierte Begriff der Kultur seine Defini185 Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, 361 f. 186 Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik. Frankfurt/New York; Campus, 2007, Kap. II. 187 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, 367.

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tion. Vom Kampfinstrument nationaler und internationaler Eliten mutierte er selbst zu einem Substanzbegriff ethnischer Homogenität, verlor die ‚feudale‘ Scheidung von hohem Repräsentationsstatus und niederer Alltagskultur zugunsten der Aussagekraft für die jeweilige Volksindividualität. Die in den dreißiger Jahren noch stärker anwachsende Ethnifizierung des Politischen zog keineswegs die Ausschaltung von Kultur als Aktions- und Diskursfeld nach sich, im Gegenteil: ‚Kultur‘ in ihrer Verschränkung ästhetischer und ethnischer Elemente erhielt als Kern und Schlüssel des jeweiligen Volkes im Wechselverhältnis der Staaten erhöhte Beachtung und wurde dementsprechend von den Regierungen subventioniert. Auswärtige Kulturpolitik hieß, die verschiedenen Volksindividualitäten miteinander in Kontakt zu bringen. So wurde die gewaltige Aufwertung von interner und auswärtiger Kulturpolitik seit dem Kriege, der sich auch der Völkerbund, dessen Satzung zunächst Kulturpolitik ausschloss, nicht entziehen konnte, von einer ethnischen Essenzialisierung von Kultur begleitet, die sie sukzessive dem Besitzdenken der Bildungseliten entzog, obgleich diese auch weiterhin als seine Verwalter auftraten. Letzteres fand seine Stütze im Kulturzerstörungsdiskurs, mit dem Bildungseliten in Abwehr der neuen Massenkultur in Filmen, Schlagern, Revuen und ‚Großstadttingeltangel‘ als Sprecher der wahren Kultur des Volkes auftreten konnten. Die internationalen Tendenzen, welche der Kultur der Experimente in der Weimarer Republik ihre Innovationskraft verschafften, wurden dementsprechend oftmals als etwas hingestellt, das im Ausland nicht als repräsentativ für die deutsche Kultur gelten könne. Dass die Innovation gerade in der ständigen Infragestellung dessen, was ‚nur‘ volksmäßig war, auch wenn es darin seine eigene grenzüberschreitende Qualität besaß, ihre Erfolge erzielte, musste immer wieder – in der Krisensituation Anfang der dreißiger Jahre zunehmend verzweifelt – erkämpft und verteidigt werden. Da half es nicht viel, dass die Weimarer Demokratie unter dem Motto der Volksgemeinschaft angetreten war. Was mehr und mehr zählte, war die Ausrichtung der Kulturdefinition am „Volksgedanken“, wie es Jakob Bleyer nannte, Germanistikprofessor an der Universität in Budapest, Abgeordneter des ungarischen Parlaments, 1919/20 ungarischer Minderheitenminister und prominenter Sprecher der Ungarndeutschen.188 Minderheiten wie den Ungarndeutschen kam deshalb mehr Aufmerksamkeit zu, weil sie im Wechselverhältnis zur anderen Kultur die Spezifik des Deutschtums, sozusagen die Volkspersönlichkeit, klarer zu repräsentieren schienen als die gemischte Gesellschaft der Weimarer Republik.189 188 Bleyer, Das Verhältnis zwischen Ungartum und Deutschtum, 193. 189 Diese These liegt dem programmatisch gemeinten Werk von Georg Schreiber zugrunde: Das Aus� landdeutschtum als Kulturfrage. Münster: Aschendorff, 1929 (Heft 17/18 der Serie „Deutschtum

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Parallel dazu erfolgte im akademischen Bereich der Aufstieg der Disziplin, die in Anlehnung an die in Deutschland seit Langem verbreitete Völkerkunde als Kulturkunde geführt wurde. Über die in den Hochschulen popularisierten Begriffe Auslandskunde und Auslandswissenschaft hinausgreifend, projizierte Kulturkunde eine Essenzialisierung der anderen Kultur, aus deren Erfahrung sich die eigene Kultur tiefer erfassen ließ. Sie nahm Anregungen aus der französischen Kulturkunde auf, die Politikgeschichte, Geografie und Mentalitätsstrukturen einbezog, erstrebte aber in den Schriften führender Romanisten wie Eduard Wechssler, Karl Vossler und Victor Klemperer den Rang einer neuen, verstehenden Wissenschaft, die, mit dem Verstehensbegriff von Geisteswissenschaftlern wie Wilhelm Dilthey und Eduard Spranger angereichert, für eine ganze Generation von Akademikern verbindlich wurde. Kein Geringerer als Victor Klemperer, der Frankreichkenner und Zeitbeobachter, hat nach dem Zweiten Weltkrieg höchst selbstkritisch mit der phänomenalen Ausbreitung der Kulturkunde und seiner eigenen Beteiligung abgerechnet. Da dieser Aufstieg für die Essenzialisierung, dann aber auch Ethnifizierung von Kultur in der Zwischenkriegszeit konstitutiv wurde, seien Klemperers Feststellungen etwas ausführlicher zitiert. In der Berliner kulturpolitischen Monatsschrift Aufbau schrieb er 1946: „ Die Anhänger der Kulturkunde gingen von der Überzeugung aus, dass deutscherseits ein wichtiger Grund für das Hineingleiten in den unseligen Krieg im Nichtwissen um das Wesen der fremden Völker gelegen habe. Hätte man (so wurde argumentiert) in Deutschland genauer und in weiteren Kreisen gewußt, wie die spezifische Denkweise, wie das spezifische Weltbild der Engländer, Russen, Franzosen usw. beschaffen sei, so hätten arge politische Fehler und mit ihnen der Krieg vermieden werden können. Die Folgerung daraus hieß: Lehrt auf den Schulen künftig nicht nur Fremdsprachen an sich, zur Konversation oder zum Handelsgebrauch, treibt auf den Universitäten bei der Heranbildung akademischer Lehrer nicht nur reine Philologie und Literaturgeschichte, sondern sucht überall aus Sprache und Literatur die charakteristischen Grundzüge der Völker zu erkennen, ihre Gemeinsamkeiten untereinander und mit uns, und ihre jeweilige Sonderart.“ Ihre Gegner, die er selbst hartnäckig bekämpft habe, hätten jedoch darauf hingewiesen, dass diese Form des Denkens mit sich bringe, dass „das Anderssein in dieser Hinsicht immer als das Schlechtere gewertet werde.“ Und noch deutlicher: „Die Gefahr aber, aus kulturkundlichen Betrachtungen nationalistische Schlüsse zu ziehen, die in Wahrheit übelste Fehlschlüsse waren, bestand in den zwanziger Jahren wirklich und wuchs immerfort.“ Schließlich Klemperers Resümee: „Die Kulturkunde der zwanziger Jahre hat in ihrer Entartung den Nationalsozialismus mit herbeiund Ausland“).

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führen helfen, und ich habe mich lang Zeit geschämt, selbst einmal für die kulturkundliche Betrachtungsweise eingetreten zu sein. Aber heute meine ich, dass man sich doch wieder und nun erst recht zu ihr bekennen muß. Nur eben eine bescheidene und ehrliche Kulturkunde muß es sein, die erkennen läßt, wie deutsche mit fremder Geistigkeit verflochten ist, und wie sie in Schuld verfiel, als sie sich unverpflichtet, autochthon und die herrlichste von allen dünkte.“190

Nach Locarno: Die zweite Phase auswärtiger Kulturpolitik Anfang 1927 fasste Außenminister Gustav Stresemann vor dem Reichstag die Erfolge seiner Außenpolitik bündig zusammen: „Seit dem letzten Jahre hat sich die außenpolitische Lage Deutschlands in weitgehendem Maße geklärt […]. Unser Weg ist gekennzeichnet durch die Verträge von Locarno, den Eintritt in den Völkerbund und den Berliner Vertrag. Damit liegen unser Absichten und Ziele offen vor aller Welt zu Tage.“191 Nicht ohne Stolz konstatierte Stresemann, das Deutsche Reich habe seinen Platz zwischen dem Westen und – durch den Berliner Vertrag – mit Sowjetrussland klar definiert, sei mit dem Völkerbund in die Welt internationaler Abkommen eingebunden und könne sich nun auf eine breitere Verständigungspolitik in Europa konzentrieren. Es war in der Tat ein besonderer Moment in der Geschichte der Weimarer Republik. Die Abkehr von Misstrauen und geistiger Kriegsfortsetzung konnte in der deutschen Öffentlichkeit nicht deutlicher bekundet werden. Auf der Basis dieser Konsolidierung der internationalen Beziehungen ließ sich, so die Erwartung, auch für die offiziellen kulturellen Auslandsbeziehungen eine neue, breitere Agenda schaffen. Allzu lange hatte das Gefühl, belagert zu sein und dementsprechend dem Ausland misstrauisch gegenübertreten zu müssen, den politischen Alltag durchtränkt. Möglicherweise ergaben sich neue Wege, der auswärtigen Kulturpolitik in der Öffentlichkeit, wo sie nur sporadisch als Tätigkeitsbereich der Reichsregierung wahrgenommen wurde, Interesse zu verschaffen. 190 Victor Klemperer, Barbusse und Plievier, in: ders., Vor 33 / nach 45. Gesammelte Aufsätze. Berlin: Aufbau, 1956, 206–217, hier 206–208. Beispielhaft: Kulturkunde und neusprachlicher Unterricht. Vorträge, hg. von E. Otto u.  a. Marburg: Ert’sche Verlagsbuchhandlung, 1928. Eine ausführliche Erörterung der Kulturkunde, der Versuche ihrer „Humanisierung“ (Eugen Lerch) Ende der zwan� ziger Jahre und ihres Missbrauchs im Nationalsozialismus in: France-Allemagne au XXe siècle – La production de savoir sur l’autre, Bd. 1, hg. von Michel Grunewald u. a. Bern: Lang, 2011, 241–278 (Wolfgang Asholt, Michel Grunewald). 191 Reichstag, 293.  Sitzung, 22.3.1927. Stenographische Berichte (Reichstagsprotokolle 1924/28). Berlin: Reichsdruckerei, 1927, 9814.

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Im Amt selbst sorgte Stresemann in der Folgezeit dafür, dass dieser Moment als Übergang zu einer neuen Phase der auswärtigen Kulturpolitik verstanden wurde, in der auch offiziell eine stärkere Kontaktnahme mit anderen, nicht nur neutralen Ländern anlief. Zunächst galten Stresemanns Interventionen allerdings den finanziellen und personalpolitischen Engpässen der Kulturabteilung. Diese waren auch unter dem neuen Leiter Hans Freytag (ab 1926) nicht behoben worden. Es bedurfte einer Anfrage der SPD im Reichstag, dass Stresemann „entschieden dagegen Stellung nahm, dass die Kulturabteilung personell als Stiefkind (‚Train‘) behandelt würde“, wie der spätere Leiter der Kulturabteilung, Fritz von Twardowski, in Anfänge der deutschen Kulturpolitik zum Ausland (1970) berichtet hat.192 In seinem unverkennbar aus der Innensicht geschriebenen Rückblick hält Twardowski Stresemann zugute, der Kulturabteilung etwas mehr Geltung verschafft zu haben, sodass dieser Moment politischer Klärung nicht ohne größeres Engagement im Bereich kultureller Beziehungen vorüberging. Generell aber wertet er die verwaltungsmäßige Konsolidierung als wichtigsten Beitrag, während konzeptionelle Neuansätze aufgrund des fehlenden Interesses im Amt, nicht nur wegen fehlender Finanzierung, unter den Tisch gefallen seien. Die vorgenommene Konsolidierung der Referate wurde von verschiedenen Runderlassen Stresemanns 1928 und 1929 begleitet, die den Botschaften und Konsulaten zum ersten Mal wirkliche Mitarbeit abforderten, ohne ihnen allerdings dafür personelle oder finanzielle Hilfe zu gewähren. An erster Stelle der Aufgaben auswärtiger Kulturpolitik stehe die Unterstützung deutscher Schulen, hieß es im Runderlass vom Januar 1928. Danach folgten „die Förderung des Professoren- und Studentenaustausches, Auslandsreisen von Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern, wissenschaftliche Institute und Krankenhäuser im Ausland, deutsche Beteiligung an internationalen Kongressen und Kunstausstellungen sowie Versorgung des Auslandsdeutschtums mit deutscher Literatur, mit Film- und Lichtbildern.“193 Wie im Hinblick auf die frühen zwanziger Jahre erwähnt, ging die Unterstützung des Auslandsdeutschtums weit über die Versorgung mit Publikationen und Filmen hinaus. Stresemann selbst wurde nicht müde, diese – teilweise geheime – Unterstützung als lebensnotwendig für die deutsche Kultur hinzustellen, band sie aber nicht in eine völkische Programmatik, sondern in die im Völkerbund verfolgte Minderheitenpolitik ein. In einem Rundschreiben vom Januar 1929, das sich vor allem an andere Reichsministerien und die Länderverwaltungen richtete, formulierte Stresemann zwei wesentliche Forderungen, zum einen die Verpflichtung, dass sich das Amt jeder 192 Twardowski, Anfänge der deutschen Kulturpolitik zum Ausland, 19. 193 Runderlaß Stresemanns, 31.  Januar 1928, an die deutschen Missionen und berufskonsularischen Vertretungen im Ausland, zit. nach Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, 372,

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Art „Reglementierung des lebendigen und vielgestaltigen deutschen Kulturund Geisteslebens“ enthalte, zum andern die Auflage an andere politische und private Kulturverwaltungen, sich in den Kontakten mit dem Ausland dem Führungsanspruch des Auswärtigen Amtes unterzuordnen.194 Mit der 1926 beschlossenen und laut Twardowski bis 1936 beibehaltenen Einteilung verfügte die Kulturabteilung über fünf Referate. So sahen ihre Aufgabenbereiche aus: Kult A

Kulturelle Interessen der Auslandsdeutschen und der deutschen Minderheiten. Evangelisches Kirchen- und Missionswesen. Kult W Allgemeine Kulturpolitik, wissenschaftliche Beziehungen zum Ausland und zum Völkerbund, insbesondere Institute – Kongresse, Reisen, Vortragswesen, studentische Angelegenheiten, deutsches Buch im Ausland, Medizinalangelegenheiten, Krankenhäuser, Ärzte, katholische Kirchen und Missionen. Kult S Deutsches Schulwesen im Ausland. Kult C Bildende Kunst, Kunstgewerbe, Kunstausstellungen im Ausland, Musik, Theater, Kongresse über künstlerische Fragen, Film, Lichtbildwesen, Sport. Kult E Auswanderung, Nachforschung betr. Personen und Nachlässe im Ausland, Auslandssiedlung.195 Wie Twardowski betont, reichte der Personalbestand für die Fülle der Aufgaben nicht aus. Ebenso wenig erhielten die Auslandsvertretungen für die Kulturarbeit entsprechende Hilfe. Noch schwerer wog, dass Stresemanns Versicherung, die Kulturarbeit bilde keineswegs das Stiefkind des Amtes, wenig fruchtete: „Nur wenige Diplomaten fanden die Aufgaben einer Kulturpolitik interessant. Der diplomatische Nachwuchs wehrte sich entschieden, in der Kulturpolitik tätig zu werden, unter der sich niemand recht etwas vorstellen konnte. So fehlte es gerade im Anfang an jüngeren dynamischen, phantasiebegabten Persönlichkeiten, die allein in der Lage gewesen wären, weitschauend, konstruktiv und im Zusammenspiel mit der Öffentlichkeit die Grundlagen zu schaffen, um dem Auslande ein günstiges Bild der in dem neuen Deutschland so üppig zur Blüte gelangenden kulturellen Kräfte zu vermitteln, und es dauerte viele Jahre, bis die diplomatischen Vertretungen im Auslande in der neuen Kulturaufgabe ein dankbares und umfangreiches Tätigkeitsfeld zu finden

194 Rundschreiben Stresemanns an die Reichsminister und die deutschen Regierungen, vom 16. Januar 1929, zit. nach ebd., 374. 195 Twardowski, Anfänge deutscher Kulturpolitik zum Ausland, 24.

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wußten.“196 Einige der Neuerungen, die im französischen auswärtigen Dienst bereits etabliert waren, wie etwa die Position des Kulturattachés und die Regelung bilateraler Kulturbeziehungen durch Verträge, wurden erst Ende der dreißiger Jahre unter dem Nationalsozialismus eingeführt. Als die Tschechoslowakei Ende der zwanziger Jahre mehrmals anregte, ein Kulturabkommen abzuschließen, zeigte sich Stresemann desinteressiert. Aus interner Sicht tendiert Twardowski dazu, Stresemanns wichtigsten Beitrag zur auswärtigen Kulturpolitik der Weimarer Republik auf die Konsolidierung ihrer Verwaltung zu reduzieren. Das dürfte von der Beobachtung gestützt worden sein, dass Stresemanns Engagement für Kulturpolitik eher politisch und funktional war und hinter seiner Überzeugung rangierte, Deutschland könne in dieser nach wie vor prekären Situation nur mit erfolgreicher Handelspolitik als Großmacht wirklich gestärkt werden. Tatsächlich betonte Stresemann, als er in der zitierten Rede vor dem Reichstag Anfang 1927 Deutschlands neue Stellung als Macht zwischen den anderen europäischen Mächten umriss, dass es ihm beim „planmäßigen Ausbau des auswärtigen Dienstes im Ausland“ vor allem auf die „Förderung des deutschen Außenhandels auf dem Weltmarkt“ ankomme. „In der zunehmenden Wiederentfaltung unseres auswärtigen Handels erlangen deshalb unsere Auslandsvertretungen für den deutschen Kaufmann erhöhte Bedeutung.“197 Es gelte, in den Auslandsvertretungen die Handelsabteilungen auszubauen. Umso erhellender ist jedoch, dass Stresemann auswärtige Kulturpolitik nicht nur als eine Sache von Ministerien verstand. Das machte er in einem Erlass 1929 deutlich, als er die Auslandsvertretungen anwies, bei ihrer Berichterstattung über die finanziellen Aufwendungen anderer Länder für ihre Kulturpolitik breiter anzusetzen: „Dabei kommen nicht nur die im Staatshaushalt ausgeworfenen Summen, sondern auch diejenigen Beträge in Betracht, die auf dem Wege über Stiftungen, Vereine usw. von privater Seite zur Verfügung gestellt werden.“198 Mochte Stresemann die Kulturpolitik auch hinter der Handelspolitik zurückstellen, so war ihm nur allzu deutlich bewusst, dass die kulturelle Außenwirkung eines Landes durch vielerlei Kanäle und über die unterschiedlichsten Akteure vermittelt wurde und dass darin ebenfalls bedeutsame politische Effekte erzielt werden konnten – einschließlich einer neuen, weniger kriegsbelasteten Sicht auf das gegenwärtige Deutschland. 196 Ebd., 18 f. 197 Reichstag, 293. Sitzung, 22.3.1927. Stenographische Berichte (Reichstagsprotokolle 1924/28). Ber� lin: Reichsdruckerei, 1927, 9812. 198 Erlaß Stresemanns an die deutschen Missionen über die Möglichkeiten und Erfordernisse der deut� schen Kulturpolitik im Ausland, vom 5. Februar 1929, zit. nach Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, 376.

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Um die praktisch-politische Seite dieser Einstellung zu den auswärtigen Beziehungen voll einzuschätzen, genügt allerdings die interne Sicht auf die Verwaltungsstrukturen eines Ministeriums nicht. Stresemanns Beitrag zur auswärtigen Kulturpolitik der Weimarer Republik geht über ihre Aufwertung und interne Definition hinaus. Er liegt nicht eigentlich im Kulturpolitischen, sondern in der internationalen Wendung seiner Politik. Diese Wendung öffnete staatlichen und nicht staatlichen Akteuren die Tore für eine breitere, dem Wechselspiel internationaler Beziehungen voll zugewandte Arbeit. Mit seinen diplomatischen Erfolgen ermöglichte er überhaupt erst den Übergang zu einer zweiten Phase auswärtiger Kulturpolitik, bei der das konstante Manövrieren der Kulturabteilung zwischen den Klippen der Nachkriegskonfrontationen der koordinierten Arbeitsteilung mit eigenständig geführten Mittlerorganisationen sowie privaten Kontaktnahmen Platz machte. In ihrer internationalen Ausrichtung gehörte diese Kulturarbeit zumeist dem Bereich des Studentenaustauschs und der Hochschulbeziehungen an. Mit jeweils neu zu verhandelnder Unterstützung des Amtes entwickelte sich die Dynamik dieser Form von Kulturpolitik weitgehend in anderen Institutionen, selten im Reichstag, stärker im preußischen Kultusministerium sowie in den Auslandsämtern der Universitäten, vor allem aber in nicht amtlichen deutsch-französischen, deutsch-sowjetischen, deutsch-italienischen und verschiedenen wissenschaftlichen Kontaktgremien. Auf einer anderen, von Öffentlichkeit und Presse beherrschten Ebene lagen gemeinsame Projekte wie die vom Werkbund 1927 initiierte Weißenhofsiedlung in Stuttgart, die deutsche und ausländische Architekten und Designer in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zusammenführte. In seinem Überblick „Über deutsche Kulturpolitik im Ausland“, den er 1929 für ein Themenheft der Deutschen Rundschau verfasste, bestätigte der Leiter der Kulturabteilung, Hans Freytag, in seiner bürokratischen Auflistung der Tätigkeitsbereiche die Tatsache, dass das Amt kein eigenes kulturpolitisches Konzept besaß, sich aber bemühte, die von den verschiedenen halbstaatlichen und privaten Organisationen angekurbelte internationale Kulturarbeit zu koordinieren.199 Das war in dieser Phase, in der internationale Kooperation und Vernetzung ohnehin blühten, wahrscheinlich wiederum ein Erfolg wider Willen, diesmal allerdings von ständiger Kritik darüber begleitet, diese Koordination nicht voll zustande zu bringen. Georg Schreiber machte aus seiner Frustration darüber kein Hehl. Als er 1927 im Haushaltsausschuss des Reichstages vom 199 Hans Freytag, Über deutsche Kulturpolitik im Ausland, in: Deutsche Rundschau 55 (1929), 97–109. Zur selben Zeit gab Georg Schreiber eine wesentlich interessantere, intellektuell und politisch stimu� lierende Übersicht unter dem Titel „Deutsche kulturelle Bestrebungen im Ausland“ im Jahrbuch für Auswärtige Politik 1 (1929), 280–295.

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Auswärtigen Amt die Aufstellung eines Auslandkulturprogramms forderte, erwiderte ihm Staatssekretär Carl von Schubert, „dass das Auswärtige Amt die Aufstellung eines großen Programms noch nicht vorgenommen habe, dass aber ernsthafte Vorbereitungen im Gange seien. Für die politische Betätigung des Auswärtigen Amtes lasse sich ein System leicht aufstellen; viel schwieriger sei die Sache schon auf wirtschaftlichem Gebiet, und vollends in kulturpolitischen Fragen müsse man unter allen Umständen vermeiden, dass dilettantische Arbeit geleistet werde und dass planlos Berichte aufgehäuft werden, mit denen man nichts anfangen könne. Er versicherte, dass das Auswärtige Amt alles tue, um eine Systematik in die ganze Sache hineinzubringen.“200 Angesichts der fehlenden Finanzmittel, die mit der Krise ab 1930 noch geringer wurden, kam ein solches Auslandskulturprogramm bis auf Weiteres im Amt nicht zustande. Das hieß nicht, dass die weitreichende Belebung internationaler kultureller Kontakte nicht zu grundsätzlichen Überlegungen darüber führte, wie diese Kontakte in Gegenseitigkeit, aber ohne Verlust an Eigenständigkeit gestaltet werden sollten. Diese Überlegungen entwickelten sich vorwiegend außerhalb des Amtes in Erwiderung auf die wachsende internationale Verflechtung im Hochschulbereich, und zwar nicht über die bekannten Kanäle – und Blockierungen – von Hochschulverband und wissenschaftlichen Akademien, sondern aus dem Verlangen von Studenten und Jugendlichen, aus der Isolierung gegenüber westlichen Ländern auszubrechen. In der neuen Foto- und Filmkultur visueller Unmittelbarkeit, in der andere Welten durch ihre Erreichbarkeit, nicht mehr durch ihre Unbekanntheit begehrenswert erschienen, emanzipierte sich die Berufung auf die jüngere Generation zu einem eigenständigen Faktor der Kulturpolitik, auch der auswärtigen Kulturpolitik.201 Beispielhaft war die Kontaktnahme des 1924 aus der Heidelberger Austauschstelle hervorgegangenen Akademischen Austauschdienst (AAD, ab 1931 Deutscher Akademischer Austauschdienst, DAAD) und der 1927 in Dresden gegründeten Deutschen Akademischen Auslandsstelle des Verbandes der Deutschen Hochschulen (DAASt). Bevor die damit verbundene Belebung und Neugestaltung einer von direkter persönlicher Kontaktnahme geprägten Auslandskulturpolitik genauer betrachtet wird, muss jedoch zunächst die von der Locarno-Politik angestoßene 200 Haushaltsausschuss des Reichstages. Sitzung vom 26. Januar 1927, zit. nach Georg Schreiber, Aus� landkulturpolitik, in: Politisches Jahrbuch 1927/28, hg. von dems., M. Gladbach: Volksvereins-Ver� lag, 1928, 551–562, hier 553. 201 Dieter Tiemann, Nachwuchseliten für die Verständigung? Ein Aspekt deutsch-französischer Kul� turbeziehungen in der Zwischenkriegszeit, in: Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 1, hg. von Rainer Hudemann und Georges-Henri Soutou. München: Oldenbourg, 1994, 101–109.

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Neuorientierung öffentlicher Erwartungen und Initiativen skizziert werden, die sich vom traditionellen Denken in Repräsentation und Propaganda absetzte. Wie schwer es fiel, in dieser Situation ein Konzept für die Außenkulturpolitik zu entwickeln, zeigt die 1925 in München von nationalkonservativen Kreisen vorgenommene Gründung der Deutschen Akademie. Die Bereitschaft, etwas für die „wissenschaftliche Auslandsarbeit“ zu tun, lief in Ermangelung einer dem transnationalen Austausch wirklich offen gegenüberstehenden Denkform darauf hinaus, eine weitere Betreuungsagentur für Auslandsdeutsche zu schaffen. Von ihnen gab es aber bereits andere, die mit den tatsächlichen Problemen und Finanzierungsquellen wesentlich besser vertraut waren.202 In der Konkurrenz mit Stuttgart, wo das Deutsche Ausland-Institut über die regionale Förderung hinaus eine nationale und internationale Informations- und Förderungsarbeit unternahm, vermochten die Münchener Gründer, um ihre regionalen und akademischen Förderer nicht vor den Kopf zu stoßen, kaum mehr zu erreichen, als sich das Profil einer bayrischen, katholischen Förderinstitution für das Auslandsdeutschtum zu erwerben. Damit drangen sie im Auswärtigen Amt weder zur amtlichen Kooperation noch zum Subventionstopf vor. Erst als ihr Generalsekretär Franz Thierfelder 1928/29 in der „Sprachwerbung“, das heißt der Förderung der deutschen Sprache unter Nichtdeutschen im Ausland, einen bis dahin in der auswärtigen Kulturpolitik stark vernachlässigten Betätigungsbereich entdeckte, gewann die Deutsche Akademie eine gewisse Legitimation als zukünftiger Empfänger außenpolitischer Beachtung und Förderung, einschließlich begrenzter Subventionen und der Zusammenarbeit mit deutschen Gesandtschaften. Nach mehrjähriger Bemühung, sich zum nationalen Träger einer deutschen Kulturpolitik à la Frankreich zu etablieren, gelang es Thierfelder, unter Hinweis auf das französische Primat der Spracharbeit in der „Außenwerbung“, der Akademie einen festen Tätigkeitsbereich als Mittlerorganisation für den deutschen Sprachunterricht unter Ausländern zu verschaffen.203 Als wichtigste, für die deutsche Spracharbeit aufgeschlossenste Region machte Thierfelder die Länder Südosteuropas ausfindig, denen er zeitlebens am meisten verbunden blieb und die sich in der Tat in den dreißiger Jahren zu einem Hauptfokus deutscher Außenpolitik entwickelten. Bulgarische Deutschlehrer machten 1930 den Anfang bei den bis 1944 alljährlich im Sommer veranstalteten Fortbildungskursen. Daraus entstand im Goethe-Jahr 1932 202 S. die erschöpfende Darstellung von Eckard Michels, Von der Deutschen Akademie zum GoetheInstitut. Sprach- und auswärtige Kulturpolitik 1923–1960. München: Oldenbourg, 2005. 203 Dafür aufschlussreich die Artikelreihe von Franz Thierfelder, Deutsch im Unterricht fremder Völker, in: Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums / Deutsche Akademie, 1928–1931, bes. Nr. 4 (August 1930), 215–264.

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|  Die Kulturpolitik der Weimarer Republik 15 Prälat Georg Schreiber, Zentrumsabgeordneter im Reichstag und Exper­te für auswärtige Kulturpolitik. Aus dem Reichstags-Handbuch 1924, II. Wahl­periode, Berlin 1924 © Bayerische Staatsbibliothek München/ Porträtsammlung

i­n München ein festes Institut unter dem Namen „Goethe-Institut zur Fortbildung ausländischer Deutschlehrer“.204 Es war Georg Schreiber und seinem Engagement für die Förderung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und die vom Reichstag beibehaltene Subventionierung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu verdanken, dass die Herausbildung weiterer vom Auswärtigen Amt offiziell unabhängiger Organisationen auf dem Gebiet auswärtiger Kulturpolitik, sobald die internationale Entspannung einsetzte, von Reichstag und Parteien als Politikum goutiert wurde. Prälat Schreiber, in seinen bestens informierten Publikationen über deutsche und ausländische Kulturpolitik dem kulturkonservativen Zentrumsbekenntnis zu Heimat, Volkstum und Glauben treu verhaftet, trat im Parlament nachdrücklich für „ein freies und gleichberechtigtes Spiel der Kräfte“ ein und mahnte im Hinblick auf die deutschen Minderheiten: „Keine bürokratische Betreuung!“205 Er wurde zum unentbehrlichen Vermittler zwischen halb204 Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 82. 205 Plenarsitzung des Reichstages am 18.3.1927, zit. nach Schreiber, Auslandkulturpolitik, 552.

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staatlichen und privaten Organisationen, die den heutigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entsprechen würden. Schreiber brachte eine Zeit lang in seiner Person als einflussreicher Reichstagsabgeordneter auswärtige Kulturpolitik in ihrer (der Reichspolitik) subsidiären Ausformung zu politischer Wirkung und lieferte wichtige Impulse dafür, sie in Konkurrenz und Austausch mit entsprechenden Einrichtungen in anderen Ländern zu gestalten.206 Die bündigste und einflussreichste Analyse der Neuorientierung der auswärtigen Kulturpolitik lieferte 1928 Anna Selig, eine ehemalige Austauschstudentin in den USA, die 1930 die Übersiedlung der Deutschen Akademischen Auslandsstelle von Dresden nach Berlin leitete. Sie wertete in der Kölnischen Volkszeitung die Entstehung einer nicht staatlichen Auslandskulturpolitik als Durchbruch zu einem neuen Konzept: „Wir nennen nur die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und die Wirtschaftshilfe der deutschen Studentenschaft auf der einen Seite und die Organisationen für das Deutschtum im Auslande wie auch Neubildungen von der Art der Carl-Schurz-Vereinigung auf der anderen Seite. Die Existenz dieser neuen Kräfte nichtstaatlicher Initiative halten wir für einen unschätzbaren Faktor in der Neuorientierung der auswärtigen Kulturpolitik, die zur Debatte steht.“ Selig sah damit die Chance, auswärtige Kulturarbeit von ihrer Auftragsnatur als bloße Propagandabegleitung der Außenpolitik abzulösen und sie als Träger eines wirklichen Kulturaustauschs der Völker zu etablieren. „Wir denken in der Tat an eine gegenseitige Neugeltung der nationalen Kulturen. Ja, wir fordern die Einführung des Prinzips der Solidarität in die nationale Kulturpolitik der Völker überhaupt. Sich für das Verständnis französischer, amerikanischer oder indischer Kultur bei der eignen Nation entsprechend rege einzusetzen wie für die Geltung der deutschen Kultur in Frankreich, Amerika oder Indien, war bisher keine Selbstverständlichkeit in der auswärtigen Kulturpolitik Europas […]. Die auswärtige Kulturpolitik und auswärtige Gesamtpolitik unterliegen eben ganz verschie­ denen Gesetzen. Um so offenbarer werden hier die Pflichten der privaten Initiative.“207 In kühner Weise propagierte Selig eine Agenda, in der sich auswärtige Kulturpolitik vom Propagandainstrument der Außenpolitik zu einem Kommunikations- und Transferinstrument verselbstständigte. Damit umriss sie genau die Dynamik nicht amtlicher Kontakte, aus der allein eine neue Annäherung zwischen den Hauptkontrahenten der Kriegs- und Nachkriegskonfrontation, Frankreich und Deutschland, ohne direkte Einmischung der Außenminis206 Siehe seine Artikelserie „Die Kulturpropaganda des Auslandes“ in: Germania, I. England und Italien (20.5.1924); II. Frankreich (20.5.1924); III. Frankreich im spanisch-südamerikanischen und skandi� navischen Kulturkreis (21.5.1924). 207 Anna Selig, Auswärtige Kulturpolitik. Gedanken zur Neuorientierung I, in: Kölnische Volkszeitung vom 25.2.1928.

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terien organisiert und bis weit in die dreißiger Jahre hinein aufrechterhalten werden konnte. „Es bedarf kaum weiterer Beispiele“, erläuterte Selig, „um die Gestalt dieser neuen nationalen Kulturpolitik zu verdeutlichen. Im Hinblick auf Frankreich hat die Deutsch-Französische Gesellschaft jene Grundzüge für ihre Arbeit anerkannt. Das ihr vorangegangene Wegebereiten der Intellektuellen stand im gleichen Zeichen und ist dafür entsprechend wohlbekannt.“208 Die 1927 von Otto Grautoff, einem Jugendfreund von Thomas Mann, ins Leben gerufene, in Berlin und Paris residierende Deutsch-Französische Gesellschaft (mit ihrer französischen Partnerorganisation Ligue d’Etudes Germaniques) sowie das stärker wirtschaftlich ausgerichtete Deutsch-Französische Studienkomitee (Comité franco-allemand de Documentation et de l’Infor­ mation), das von dem Luxemburger Stahlmagnaten Émile Mayrisch gegründet und subventioniert wurde (Mayrisch-Komitee), brachten Vertreter der jeweiligen Eliten zu gemeinsamen Verständigungsprojekten zusammen. Zeitschriften wie die Revue d’Allemagne (1927–1933) und die Deutsch-Französische Rundschau (1928–1933) erweiterten die publizistisch-literarische Öffentlichkeit in beiden Ländern. Hans Manfred Bock, der diesen transnationalen Gesellschafts- und Kulturaustausch eingehend in den Blick genommen hat, schrieb ihm höchste Bedeutung für die Zukunft der deutsch-französischen kulturellen Beziehungen zu: “Von heute aus gesehen, ist das bemerkenswerteste Ergebnis dieser fruchtbaren Phase des deutsch-französischen Austauschs im Zeichen von Locarno, dass man dort unter hohem politischem Problemdruck nahezu alle Formen gesellschaftlichen und kulturellen Verkehrs zwischen Deutschland und Frankreich konzipierte und ausprobierte, die in den dreißiger Jahren vom Nationalsozialismus dann usurpiert oder unterdrückt, in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aber weiterentwickelt wurden.“209 Der Durchbruch zu dieser Phase kultureller Versöhnungspolitik war der persönlichen Initiative des französischen Unterrichtsministers Anatole de Monzie zu verdanken, der 1925 den aufsehenerregenden ersten Besuch eines französischen Ministers seit 1870 in der deutschen Hauptstadt unternahm. Dank Heinrich Manns Vermittlung und Carl Heinrich Beckers Gastgeberschaft wurden hier erste organisatorische Brücken gebaut und psychologische Gräben zugeschüttet.210 De Monzies Besuch entsprach den in nicht amtlichen 208 Ebd. 209 Hans Manfred Bock, Transaktion, Transfer, Netzwerkbildung. Konzepte einer Sozialgeschichte der transnationalen Kulturbeziehungen, in: Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kul� tureller Austausch und diplomatische Beziehungen, hg. von dems. Tübingen: Narr, 2005, 11–33, hier 26. 210 S. Heinrich Manns Brief an Becker vom 30.5.1925 mit dem Bericht vom PEN-Kongress in Paris, an dessen Rande er mit dem französischen Kultusminister de Monzie ins Gespräch kam: „Ihr französi�

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Kreisen von Schriftstellern und Europaenthusiasten begonnenen Anknüpfungen und besaß im preußischen Kultusminister einen seit Längerem für Versöhnung und Auslandskontakte bekannten deutschen Partner.211 Ähnliches Aufsehen erregte Anfang 1926 der erste Besuch Thomas Manns in Paris auf Einladung des Europäischen Kulturbundes. In seinem konzilianten, eitel-ironischen Bericht „Pariser Rechenschaft“ brachte Thomas Mann viel von dem Gepäck zur Anschauung, das er, der unironische Gegner der französischen Zivilisation, bei diesem Besuch abzuwerfen hatte. Ob er es unter den Freundlichkeiten der Gastgeber wirklich loswurde, mag offenbleiben. Er bekannte die deutsche Mitschuld an der Aufheizung des Kulturkrieges, tat aber so, als sei ihm dessen Absurdität immer klar gewesen: „Ich habe allerdings betont, dass europäische Völker einander nichts wirklich Neues und Wildfremdes zu sagen hätten. Der ganze Komplex abendländischer Erlebnis- und Denkmöglichkeiten, sagte ich, sei allezeit in allen Nationen gegenwärtig und seine Dialektik allezeit nicht nur wirksam zwischen ihnen, sondern auch innerhalb jedes einzelnen von ihnen. Die Absurdität, die darin lag, dass das Volk Goethes vorübergehend allen Ernstes als Feind der Menschheit erscheinen konnte, ich habe sie meinen französischen Hörern vorgehalten – und uns Deutschen soviel Schuld an diesem unsinnigen Vorgang gegeben, wie uns gebührt.“212 Klarer war, was der führende französische Germanist Henri Lichtenberger, der den Autor des Zauberberg einleitete, über die gegenseitige Akzeptanz des anderen bei gleichzeitigem Beharren auf der eigenen kulturellen Identität sagte und was Mann als Grundlage der Verständigungspolitik akzeptierte: „Es sei seine tiefe Überzeugung, erklärte Lichtenberger, dass eine vertrauensvolle und sichere Zusammenarbeit Frankreich und Deutschland nur dann verbinden könne, wenn jedes der beiden Völker das Recht des anderen verstehe und zulasse, ‚à exister tel qu’il est‘, nach seiner eigenen Fasson selig zu werden, wenn also jedes auf den Anspruch verzichte, das andere zu bekehren oder ihm das Geständnis der Minderwertigkeit zu entreißen.“213 In dieser Maxime kultureller Konzilianz definierten Lichtenberger und Mann 1926 die in der Folgezeit theoretisch ausgebaute Grundscher Kollege versicherte mir in jenem privaten und unbefangenen Gespräch, dass ihm für die Annä� herung an Deutschland, die er wünsche, grade [sic] wir Schriftsteller nützlich erschienen. Er nannte uns die ‚avant-diplomates‘.“ (Abschrift vom 27.6.1925 im Politischen Archiv des AA, R 60432) 211 S. im Vorfeld Beckers Rede „Wiederanknüpfung kultureller Beziehungen zum Ausland“ von 1924, als Ms. im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (VI HA NI C. H. Becker, Nr. 1395); als erster Rückblick 1927 sein Artikel „Die intellektuelle Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Carl Heinrich Becker, Internationale Wissenschaft und nationale Bildung. Ausge� wählte Schriften, hg. von Guido Müller. Köln: Böhlau, 1997, 356–361. 212 Thomas Mann, Pariser Rechenschaft, in: ders., Essays  II, 1914–1926, hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt: Fischer, 2002, 1115–1214, hier 1128 (Große Frankfurter Ausgabe Bd. 15.1). 213 Ebd., 1125 f.

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legung der Völkerbegegnung vonseiten der wissenden Eliten: Sie basierte nicht auf dem von Mann und anderen Deutschen gern und ausführlich verteufelten Internationalismus als Abstraktum, sondern implizierte, dass im kreativen Umgang mit der kulturellen Andersartigkeit Verständigung zwischen Völkern entstehe. Auf französischer Seite hatten dieser Anschauung Germanisten wie Lichtenberger mit der kulturellen, nicht philologischen Ausrichtung ihrer Auslandsstudien vorgearbeitet. Deutsche Romanisten wie Curtius, Vossler und Klemperer standen dem mit ihrer Kulturkunde nahe. Hier floss die mit Herder beschworene sprachlich-kulturelle Definition der Nation, genauer: des Volkes ein, die in der Essenzialisierung des Kulturbegriffs mündete. Werner Picht, der erste deutsche Vertreter in dem vom Völkerbund 1926 installierten Institut International de Coopération Intellectuelle (und deren Hochschulsektion) in Paris, berief sich auf diese Einstellung mit dem Hinweis auf die praktische Arbeit des Völkerbundes, an der die Vorwürfe vom „bloßen“ Internationalismus dieser Institution abglitten. In seinem Jahresbericht 1927 für Kultusminister Becker bezog Picht daraus die zentralen Aspekte der Verständigungsidee zwischen gleichberechtigten nationalen Kulturen im europäischen Kontext, ging aber einen Schritt weiter. Nach de Monzies Besuch bei Becker, argumentierte er, hätten einzelne prominente Redner wie Thomas Mann und Alfred Kerr in Paris als Prediger der Versöhnung gewirkt. Jedoch genüge diese Form der Kulturdiplomatie nicht mehr. Die Verständigungsarbeit müsse nun auf der Grundlage der „Interessensolidarität“ der Nationen geleistet werden. Er zählte auf: „Die Industriellenkonferenz, der Kongress der Fachgelehrten, das Studium von Deutschen in Frankreich und umgekehrt, die nüchterne gegenseitige Orientierungsarbeit (Entgiftung der Presse), die gegenseitige Vorführung lebendiger und repräsentativer Kulturleistungen, mit einem Wort die Begegnungen in Werk und Wirklichkeit sind heute die einzigen aussichtsreichen Gelegenheiten zur Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen. Sie sollten auf jede Weise gefördert werden.“214 Unter dem Titel „Internationale Verständigung“ verschaffte Picht der Umsetzung von Stresemanns Verständigungskonzept in eine kulturpolitische Handlungsmaxime die angemessene Sprache, die sich den Vorwürfen entzog, mit dem Internationalismus letztlich doch nur das Versailler System zu legitimieren: „Man will der Befriedung der Welt durch Betonung des ‚Gemeinsamen‘ dienen. Aber empfinden wir nicht, wo wir am meisten lieben und bewundern, am stärksten die Beson214 Werner Picht, Das Ergebnis meiner bisherigen Erfahrungen in Paris unter dem Gesichtspunkt deutscher kulturpolitischer Wirkungsmöglichkeit. Ms. im Nachlass Becker im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, zit. nach Hans Manfred Bock, Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Narr, 2010, 113.

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derheit, das Anders-sein des anderen? Nur wo die Spannungen erlebt werden, in die uns die Berührung mit dem als verschieden Erkannten hineinstellt, wird die Berührung zweier Nationen fruchtbar.“215 Unter den langfristigen Faktoren dieser Kontakte hat man von Anfang an die konservative Ausrichtung, die in Hofmannsthals und Thomas Manns Ideen der konservativen Revolution Entsprechungen fand, sowie die elitäre Komponente als konstitutiv herausgestellt. Mit Locarno bekam die Paneuropa-Union des österreichischen Grafen Richard Coudenhove-Kalergi Auftrieb, die von 1923 bis 1933 bzw. 1938 mit Büro in der Wiener Hofburg auf eine kontinental-europäische Integration hinarbeitete und auch Politiker wie Aristide Briand, den Sozialdemokraten Paul Löbe, die österreichischen Bundeskanzler Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß, später auch Benito Mussolini anzog. Elitär organisiert, erreichte die Paneuropa-Union auf ihren Großkongressen 1926 in Wien und 1930 in Berlin immerhin 2.000  Teilnehmer.216 Auf der Rechten machte ihr ein anderer österreichischer Adliger, Karl Anton Prinz Rohan, mit dem Europäischen Kulturbund (1922–1932/37) und seinen internationalen Kongressen Konkurrenz. Rohan, einerseits gegen Spenglers kulturpessimistisches Schlagwort vom „Untergang des Abendlandes“, andererseits gegen das „überlebte demokratisch-parlamentarische System“ polemisierend, jedoch den Antisemitismus ablehnend, gewann die Unterstützung namhafter Großindustrieller, die 1925 die Gründung der wichtigsten und mondänsten europäischen Kulturzeitschrift Europäische Revue ermöglichten. Stresemann lehnte eine Unterstützung der Zeitschrift durch das Auswärtige Amt ab; sie blieb aber auch nach 1933 mithilfe des Amtes und des Propagandaministeriums bis 1944 bestehen – unter dem NS-Regime ein wichtiges Organ konservativ-nationaler, nicht durchgehend nationalsozialistischer Kulturpolitik. Die französische Sektion von Rohans Europäischem Kulturbund ermöglichte die oben genannte Einladung Thomas Manns nach Paris 1926. Die Carnegie Foundation, die für ihre europäische Stiftungstätigkeit Henri Lichtenberger gewonnen hatte, zahlte dafür.

215 Werner Picht, Internationale Verständigung, in: Die Kreatur 2 (1927/28), 148–157, hier 155. Diesen zentralen Gedanken übernahm Picht wörtlich in seine grundlegende Schrift: Jenseits von Pazifismus und Nationalismus. München: Callwey, 1932, 33–57, 53. 216 Guido Müller, Gesellschaftsgeschichte und internationale Beziehungen. Die deutsch-französische Verständigung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und der Westen. Internationale Bezie� hungen, hg. von dems. Stuttgart: Steiner, 1998, 49–64.

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Begegnungstheorie und nationaler Aufbruch der Jugend um 1930 Das Auswärtige Amt stand dem Aufblühen kultureller Unternehmungen in dieser Phase wohlwollend gegenüber, solange damit seine Hoheitsrechte als Vertreter des Reiches dem Ausland gegenüber nicht verletzt wurden.217 Im Falle der vielen Initiativen, die Kultusminister Becker auf den Gebieten der Forschungs‑, Hochschul- und Jugendpolitik über die Grenzen hinweg entwickelte und die ihm häufig den Beinamen des heimlichen deutschen Kultusministers einbrachten, hörte allerdings die Zurückhaltung auf. Freytag, der Leiter der Kulturabteilung, beklagte sich Ende 1928 bei Stresemann bitterlich über die Eigenmächtigkeiten, mit denen das preußische Kultusministerium mit ausländischen Organisationen unter Umgehung der deutschen Missionen oder des Amtes Kulturpolitik betreibe. Ohnehin kollidiere das Amt bereits mit dem Anspruch des Reichsinnenministeriums auf Betreuung auslandsdeutscher kultureller Institutionen. Der Minister solle in einem Rundschreiben die Zuständigkeit des Auswärtigen Amtes nachdrücklich klarstellen218 – was Stresemann auch tat. Auf längere Sicht gesehen, lag in der subsidiären Praxis kultureller Auslandsarbeit auch ein Potenzial der Eigenständigkeit, das selbst nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und die politische Selbstgleichschaltung der meisten Organisationen eine bisweilen überraschende Kontinuität in Zielen und Vorgehensweisen ermöglichte. Viel genannte Beispiele waren die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die mit Auslandskontakten einen Teil ihrer Arbeit bestritten. Der Deutsche Akademische Auslandsdienst errichtete während der ersten Hälfte der dreißiger Jahre in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, wenn auch oft in einem spannungsreichen Verhältnis mit den amtlichen Auslandsvertretungen, geradezu ein Monopol sowohl im Austausch von Studenten und Wissenschaftlern als auch, dank der Auslandsstellen in Barcelona, Madrid, London, Budapest und Paris, in der Durchführung größerer Kulturprogramme. Die Deutsche Akademie sicherte sich, vor allem nachdem Julius Curtius, Stresemanns Nachfolger als Außenminister, 1930 im Reichstag die Pflege der deutschen Sprache im Ausland zum „Rückgrat unserer ganzen Kulturpolitik“219 er217 S. die Aufstellung von Joseph Zoelch, Legationssekretär im Amt, über die internationalen Verbände, an denen Deutschland beteiligt oder nicht beteiligt war, mit dem Titel „Die Organisation internatio� naler Zusammenarbeit“ (29.8.1929; Politisches Archiv des AA, R 66076). 218 Aufzeichnung vom 29.12.1928, gez. Freytag (Politisches Archiv des AA, R 61124). 219 Entwurf zu der Rede des Herrn Reichsministers betreffend die Aufgaben der Abteilung  VI, 3 (10.6.1930, Politisches Archiv des AA, R 61125).

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klärt hatte, ein Monopol für den Sprachunterricht, den an ausländische Hochschulen und Sprachschulen entsandte Lektoren erteilten. Thierfelder erweiterte unter dem Präsidenten Karl Haushofer die Anzahl der Lektorate beträchtlich. Von 20 Lektoraten, die es 1932 in neun Ländern gab, wuchs die Tätigkeit bis 1938 auf 45 Lektorate in 15 Ländern mit etwa 7.000 Hörern und dem Schwerpunkt in Südosteuropa.220 Dass die Agenda gegenseitiger Kontaktnahme über die Grenzen hinweg an Anhängerschaft gewann, konnte das Auswärtige Amt ohnehin nicht auf sein Konto verbuchen. Sie verdankte ihre Dynamik vielmehr dem überall wirksamen Trend nach Förderung der jungen Generation. Mit dem Jugendaustausch verschaffte man sich einen gewissen Zugang in Frankreich und Großbritannien. Aus Studentenkontakten gingen der Akademische Austauschdienst und die Entsendung von Werkstudenten nach den USA hervor. Unterstützt vom preußischen Kultusministerium und nach 1925 von Minister Becker als Teil seiner Reformpolitik gegen verkrustete Denk- und Verwaltungsstrukturen in den Hochschulen gefördert, gewann das Konzept von Kulturpolitik als wechselseitiger Kontaktnahme kooperativer Gruppen Gestalt. Dass sich mit dem Anwachsen nationalistischer und antisemitischer Strömungen an deutschen und österreichischen Universitäten auch schärfste Kritik an der Auslandsorientierung manifestierte, dürfte zur Verstärkung eines gewissen Missionsgefühls aufseiten der intellektuellen Grenzgänger beigetragen haben.221 Dem gab Anna Selig in einem zweiten Artikel in der Kölnischen Volkszeitung vor allem im Hinblick auf die großen Leistungen des Akademischen Austauschdienstes, der Wirtschaftshilfe der deutschen Studentenschaft und die Betreuung der Auslandsämter Ausdruck.222 Selig kennzeichnete das Terrain, in dem verschiedene für die Austauschagenda tonangebende Kulturpolitiker tätig waren, darunter insbesondere Reinhold Schairer, den sie mit dem bahnbrechenden Buch Die Studenten im internationalen Kulturleben (1927) namentlich aufführte; Adolf Morsbach, der, zunächst im preußischen Kultusministerium tätig, wie Schairer mit Becker zusammenarbeitete; sowie Werner Picht, den Morsbach 1927 in der 220 Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 91 f., 119 f. 221 S. den niederschmetternden Erinnerungsbericht über die nationalistische und antisemitische Einstel� lung zumindest der Hälfte der deutschen Studentenschaft, die in Corps und Verbindungen organi� siert war, von Theodor Eschenburg, Aus dem Universitätsleben vor 1933, in: Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, hg. von Andreas Flitner. Tü� bingen: Wunderlich, 1965, 24–46. Eine differenzierte zeitgenössische Darstellung der Einstellung zum Ausland bei Georg Vogel, Student und Ausland, in: Das Akademische Deutschland, Bd. III. Die deutschen Hochschulen in ihren Beziehungen zur Gegenwartskultur, hg. von Michael Doeberl u. a. Berlin: Weller, 1930, 499–516. 222 Anna Selig, Auswärtige Kulturpolitik. Gedanken zur Neuorientierung II, in: Kölnische Volkszeitung vom 4.3.1928.

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Leitung des Akademischen Austauschdienstes ablöste. Picht hatte sich ebenfalls im preußischen Kultusministerium profiliert, wo er das von Becker besonders geschätzte Referat für Erwachsenenbildung betreute, bevor er 1924 die Heidelberger Akademische Austauschstelle übernahm, aus welcher der Akademische Austauschdienst, ab 1927 mit Sitz in Berlin, hervorging. Reinhold Schairer gebührt das Verdienst, die großen Versäumnisse der deutschen Hochschulen und Kultusministerien bei der Betreuung ausländischer Studenten im Vergleich mit anderen Ländern öffentlich angeprangert und mit seinen auf internationale Zusammenarbeit angelegten Unternehmungen bekämpft zu haben. Das geschah mit der von ihm 1921 mitbegründeten und in Dresden geleiteten Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft (ab 1929 Deutsches Studentenwerk), der 1925 von ihm gegründeten und geleiteten Studienstiftung des Deutschen Volkes sowie der 1927–1930 von ihm verwalteten Deutschen Akademischen Auslandsstelle. Nur in dem 1922 an der Berliner Universität begründeten und von Karl Remme geleiteten Deutschen Institut für Ausländer war eine richtungsweisende Institution für Betreuung und Information entstanden.223 Dank der Unterstützung des Industriellen Carl Duisberg auf deutscher und des Bankiers Paul Warburg auf amerikanischer Seite etablierte Schairer den Werkstudentendienst für Studenten, die damit einen Arbeitsaufenthalt in amerikanischen Betrieben antreten konnten. 1928–1933 leitete er, zusammen mit Hans Simons unter dem Patronat von Minister Becker, die von der Rockefeller Foundation geheim unterstützte Abraham-Lincoln-Stiftung, die außerhalb von Hochschulen junge Führungskräfte für eine demokratische Elitenbildung förderte.224 Schairer setzte sich unermüdlich dafür ein, ausländischen Studenten, deren Zahlen nach der Inflation rapide zurückgingen (und zu denen viele Auslandsdeutsche gehörten), während sie in Frankreich und den USA emporschnellten, weniger rigide kontrollierte Studien- und freundlichere Aufenthaltsbedingungen in Deutschland zu verschaffen und deutschen Studenten das Studium im Ausland zu ermöglichen.225 Er stritt ebenso gegen die Inflexibilität der Hochschulverwaltungen wie gegen die ausländerfeindlichen Tendenzen unter den Studenten. Beide Komponenten dürften zum Niedergang des

223 Karl Remme, 10 Jahre Deutsches Institut für Ausländer, in: Inter Nationes 2 (1932), 103. 224 Weimars transatlantischer Mäzen. Die Lincoln-Stiftung 1927–1934, hg. von Malcolm Richardson, Jürgen Reulecke und Frank Trommler. Essen: Klartext, 2008. 225 Reinhold Schairer, Die Studenten im internationalen Kulturleben. Beiträge zur Frage des Studiums in fremdem Lande. Münster: Aschendorff, 1927 (Deutschtum und Ausland, H. 11), bes. 31 f., 107– 130. S. die umfassende Darstellung von Daniela Siebe, „Germania docet“. Ausländische Studierende, auswärtige Kulturpolitik und deutsche Universitäten 1870–1933. Husum: Matthiesen, 2009.

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Studienstandortes Deutschland noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten beigetragen haben.226 Als allseits anerkannter, dynamischer und verwaltungstechnisch unschlagbarer Promoter auswärtiger Kulturpolitik im Hochschulbereich nimmt Adolf Morsbach in der Geschichte dieser Politik eine herausragende Stellung ein. Während Schreiber als Mitglied des Reichstages und seiner Ausschüsse gegenüber der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes zugleich als Lobbyist und Mahner agierte, profilierte sich Morsbach als Zentralfigur des praktischen Umbaus akademischer Auslandsarbeit. Von der Stelle des stellvertretenden Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wechselte Morsbach umso lieber zum voll Verantwortlichen des Akademischen Auslandsdienstes über, als er dort seine jungnationale Agenda für die Auslandsarbeit im direkten Kontakt mit der jungen Generation voranbringen konnte.227 Dafür schuf er mit der Vereinigung des Akademischen Auslandsdienstes, der Deutschen Akademischen Auslandsstelle und der für die Förderung ausländischer Wissenschaftler 1925 gegründeten Alexander von Humboldt-Stiftung zum Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) 1931 die institutionelle Grundlage. Er begleitete diese in enger Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt vorgenommene Konzentration mit grundsätzlichen Veröffentlichungen, am einflussreichsten als Herausgeber der Zeitschrift Hochschule und Ausland. Immerhin hatte er als RhodesStipendiat in Großbritannien gelebt und als offizieller Besucher amerikanische Regierungsvertreter kennengelernt und war damit in seiner jungkonservativen Ausrichtung weniger auf die innerdeutsche Wandlung fixiert, die seine Freunde von der Zeitschrift Die Tat der Jugend mit elitärem Anspruch vorhielten. Morsbachs Werk war, in den Worten seines zeitweiligen Sekretärs, des nachmaligen Sowjetexperten Klaus Mehnert, der selbst dem Tat-Kreis nahestand, die Umwandlung des DAAD „zur größten und zum Schluß einzigen nichtamtlichen Institution, die sich mit Kulturpolitik im Ausland befaßte. Zu ihm gehörten: die akademischen Auslandsstellen an den einzelnen Hochschulen, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die für Vergabe von Stipendien für ausländische Wissenschaftler (also nicht Studenten) zuständig war, ferner Filialen im Ausland, vor allem in Paris (unter Leitung von Karl Epting, einer Schlüsselfigur deutsch-französischer Kulturbeziehungen) und in London, sowie die deutsche Pädagogische Auslandsstelle (unter Theodor Wilhelm), die sich um Lehrer- und Schüleraustausch kümmerte. Morsbachs Imperium vib226 Peter Drewek, Limits of Educational Internationalism. Foreign ������������������������������������������� Students at German Universities be� tween 1890 and 1930, in: Bulletin of the German Historical Institute (Washington) 27 (Fall 2000), 39–63. 227 Friedrich Glum, Zwischen Wissenschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen. Bonn: Bouvier, 1964, 323 f.

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rierte von Lebendigkeit. In seinem Büro war ein ständiges Kommen und Gehen von Wissenschaftlern, Wissenschaftspolitikern und Studenten aus aller Welt. Kaum einer, der nicht seinem Charme erlag.“228 Um 1930 etablierte sich die Praxis, den öffentlichen Diskurs über auswärtige Kulturkontakte auf den Aufbruch der jungen Generation abzustellen.229 Damit ließ sich die Programmatik eines nationalen Weges aus der Krise zwischen dem „kollektivistischen“ Osten und dem „materialistischen“ Westen als eine Sache formulieren, die aus dem praktischen Umgang mit anderen Völkern resultierte. Mehnert profilierte sich um 1930 mit zwei Büchern über die amerikanische und die russische Jugend, in denen er seine studentischen Reiseerfahrungen mit der nationalen Aufbruchsideologie des Tat-Kreises verschmolz.230 Otto Abetz, der später von Hitler mit der Machtfülle eines Potentaten im besetzten Frankreich ausgestattet wurde und zugleich als Botschafter beim Vichy-Regime fungierte, war in den zwanziger Jahren als jugendbewegter Gründer des deutsch-französischen Sohlberg-Kreises hervorgetreten und griff nach 1930 das Ost-West-Thema unter dem Aspekt deutsch-französischer Beziehungen auf.231 Der von Mehnert erwähnte Theodor Wilhelm, der sich auf die deutschbritischen Kulturbeziehungen spezialisierte, stellte dem Begegnungskonzept des DAAD, das auf der Auswahl geeigneter Personen beruhte, aufgrund positiver französischer Reaktionen ein gutes Zeugnis aus.232 Ihm selbst gelang mit der Begegnungsthematik eine erfolgreiche, erst viel später umstrittene Karriere als Pädagoge im Nationalsozialismus ebenso wie in der Bundesrepublik, vor 1945 als Schriftleiter der Internationalen Zeitschrift für Erziehung, ab 1951 als Professor an der pädagogischen Hochschule Flensburg, 1959–1972 als Professor an der Universität Kiel, wo er ein Standardwerk zur Pädagogik veröffentlichte. Die Maxime, dass sich unter den gewandelten Lebensumständen die junge Generation der ehemaligen Feindländer neue Formen der Verständigung 228 Klaus Mehnert, Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906–1981. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt, 1981, 177. 229 „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, hg. von Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz und Frank Trommler. Frankfurt: Suhrkamp, 1985. 230 Klaus Mehnert, Amerikanische und russische Jugend um 1930. Neudruck zweier Frühwerke. Stutt� gart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1973. 231 Otto Abetz, Deutsche Jugend zwischen West und Ost, in: Deutsch-Französische Rundschau 6 (1933), 128–132. Ein Überblick bei Dieter Tiemann, Deutsche Jugend zwischen Ost und West – ein Aspekt der Diskussionen um Kulturtransfer Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre, in: Les tiers dans les relations franco-allemandes = Dritte in den deutsch-französischen Beziehungen, hg. von Christian Baechler und Klaus-Jürgen Müller. München: Oldenbourg, 1996, 207–214. 232 Theodor Wilhelm, Ein Kapitel französischer Kulturpolitik, in: Hochschule und Ausland 10 (1932), 16–21.

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schaffen könne, führte zu gelungenen und misslungenen Aktionen. Die deutsch-englische Verständigung fand in dem englischen Jugendführer Rolf Gardiner in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre ihren einflussreichsten Förderer; sein 1927 zusammen mit dem Deutschen Heinz Rocholl publizierter Band Ein neuer Weg. Offene Aussprache zwischen deutscher und englischer Jugend zum gegenwärtigen Verständnis in politischen Fragen, der im folgenden Jahr unter dem Titel Britain and Germany auf Englisch erschien, erhielt mit der generationsspezifischen Botschaft ein breites Echo.233 Kultusminister Becker setzte sich besonders warm für Gardiner ein, wie er auch den Empfehlungen des britischen Deutschlandexperten Geoffrey Winthrop Young folgte, der 1926 für die Rockefeller Foundation die deutsche Hochschullehrerschaft daraufhin untersuchte, ob sie für die Suche nach förderungswürdigen jungen Demokraten in der Abraham-Lincoln-Stiftung die geeigneten Talentsucher darstellten. Auf dessen erschreckend negatives Gutachten hin half Becker dabei, im Vertrauensrat der Stiftung die Crème der geistigen, zumeist liberalen Eliten Weimars einschließlich Fritz Haber, Walter Gropius und Thomas Mann für die Rekrutierung zu gewinnen.234 In Großbritannien gelang es dem Akademischen Austauschdienst 1927, mit der Gründung der Zweigstelle London, dem Anglo-German Academic Bureau, eine Beratungs- und Betreuungsstelle für den Studentenaustausch zu etablieren, welche die Vorstufe zu einem vollen Kulturinstitut darstellte.235 Bis 1938 blieb es allerdings bei der Vorstufe. Mit seiner Begabung zum Institutionenbau gelang es Morsbach, auswärtiger Kulturpolitik in einem begrenzten Bereich Austauschqualitäten zu verschaffen, die sie der Tendenz zur Propaganda entzog. Stand sie im Auswärtigen Amt in Gefahr, als Auftragsdienst (im Falle der Betreuung der Auslandsdeutschen) oder als Flaggezeigen (mit der Abneigung gegen die republikanischen Inhalte) trotz Stresemanns Ermahnung zur Routineverwaltung zu degenerieren, rückte sie bei den Mittlerorganisationen – wie schon Lamprecht vorgezeichnet hatte – ins Zentrum. Das verschaffte ihr die Flexibilität, dem Wechselspiel von Geben und Nehmen Substanz zu verleihen und nicht nur Misstrauen hervorzuru233 Ein neuer Weg. Offene Aussprache zwischen deutscher und englischer Jugend zum gegenwärtigen Verständnis in politischen Fragen, hg. von Heinz Rocholl und Rolf Gardiner. Potsdam, 1927, engl. Britain and Germany. A Frank Discussion Instigated by Members of the Younger Generation. ���� Lon� don, 1928. Über Gardiner ausführlich: Rolf Gardiner. Folk, Nature and Culture in Interwar Britain, hg. von Matthew Jefferies und Mike Tyldesley. Farnham: Ashgate, 2011. 234 Weimars transatlantischer Mäzen, 46 f., 207–210. 235 Eine ausführliche Darstellung bei Ernst Deißmann, Deutsche kulturpolitische Bestrebungen in Eng� land nach dem Kriege, in: Volkstum und Kulturpolitik. Eine Sammlung von Aufsätzen, hg. von Heinrich Konen und Johann Peter Steffes. Köln: Gilde, 1932, 515–527.

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fen, zog sich jedoch schnell den Vorwurf zu, sich der Koordination mit der Außenpolitik zu entziehen. Das ist seit jeher die Krux von Mittlerorganisationen geblieben, die bis heute Tausende von Interna und Botschaftsberichten füllt. In dieser Periode der Staatskrise, in der neue internationale Kooperationen und Programme des nationalen Aufbruchs aufeinandertrafen, zeigte sich unmissverständlich, dass die geläufigen Denkkategorien von Subordination und Insubordination den politischen Einsatzmöglichkeiten von Kulturarbeit nicht gerecht wurden. Internationale Kooperation und nationales Aufbruchsdenken mussten sich nicht im Wege stehen. So zumindest projizierte es Morsbach in der von ihm inzwischen zum wichtigsten Forum der Auslandskulturpolitik beförderten Zeitschrift Hochschule und Ausland, als er 1932 ihre Seiten der Deutschen Kommission für geistige Zusammenarbeit als Organ zur Verfügung stellte.236 Auch er zitierte als Leitlinie der auswärtigen Kulturarbeit das in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre im Diskurs über die deutsch-französische Verständigung geläufig gewordene Konzept von der Begegnung zweier verschiedener Kulturen. Allerdings erhielt der nationale Hegemonieanspruch in der von ihm übernommenen theoretischen Ausarbeitung des Begegnungskonzepts, das sein Freund Arnold Bergstraesser in der Schrift Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen (1930) vornahm, so viel Gewicht, dass es die Austauschintention überschattete. In dieser viel zitierten Schrift konstatierte Bergstraesser wortreich, dass die Verständigungsmöglichkeiten zwischen Nationen in Politik und Wirtschaft dürftig, in der Kultur vielversprechender seien; man müsse aber auch dort darauf achten, dass „die Berührung mit dem Fremden den Gesetzen der eigenen Erfüllung unterworfen bleibt.“237 Bergstraesser baute seine Argumentation darauf auf, dass man wohl Verständigung aktiv als politischen Weg beschreiten, jedoch auch heute noch der von Max Weber im Krieg ausgegebenen Erkenntnis eingedenk bleiben solle, dass Deutschland als Machtstaat operieren müsse.238 In seinem Grundsatzaufsatz „Deutsche Kulturpolitik im Ausland“, der 1932 in dem für die auswärtige Kulturpolitik dieser Zeit maßgebenden Band Volkstum und Kulturpolitik erschien, einer 620  Seiten umfassenden Festschrift für Georg Schreiber, mahnte Morsbach die Herstellung der menschlichen Begegnung als Desiderat deutscher Auslands236 Das Heft 7/8 (Jg. 10, Juli/August 1932) von Hochschule und Ausland war dieser Übernahme gewid� met. S. Adolf Morsbach, Die Deutsche Kommission für geistige Zusammenarbeit, in: ebd., 2–14. 237 Arnold Bergstraesser, Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen. München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1930, 90. 238 Ebd., 38 f.; vgl. Volkhart Laitenberger, Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) 1923–1945, Göttingen: Musterschmidt, 1976, 73–80.

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kulturpolitik an.239 Die Tatsache, dass Bergstraessers Konzept der kulturellen Begegnung, dem zufolge nur geistig beschlagene und wohlvorbereitete Persönlichkeiten Deutschland im Ausland vertreten konnten, im Sinne seines Mentors Stefan George auf Eliten zielte und die breitere Ausstrahlung auf die Öffentlichkeiten der verschiedenen Staaten vernachlässigte, hinderte Morsbach nicht, es über den DAAD hinaus für die Auslandskulturpolitik allgemein zu reklamieren. Er passte es damit der Maxime der jungkonservativen Zeitströmung an, die Nation als Projekt einer neuen, entscheidungswilligen Generation zu definieren.240 Anders als Schairer, der von völkisch-nationalen Studentengruppen scharf angegriffen wurde und nach Großbritannien und danach in die USA emigrierte, blieb Morsbach, der in der Geschichte des DAAD einen Ehrenplatz erhalten hat,241 von den Ereignissen 1933 als eine interne Stütze der Außenkulturpolitik als Person zunächst ungefährdet. Er verstand es, den DAAD unter dem neuen Präsidenten, dem ehemaligen Stahlhelm- und nun NSDAP-Mitglied Generalmajor Ewald von Massow (der diese Stellung bis zu seinem Tode 1942 behielt), und unter der Aufsicht des Röhm-Vertrauten Richard M. Maier und des NS-Funktionärs Karl Bömer im Vorstand so geschickt zu platzieren, dass ihm die Fortsetzung, ja Ausweitung relativ selbstständiger Auslandsaktivitäten des DAAD gelang. Nach der Ermordung von Ernst Röhm im Juni 1934, mit dem er verhandelt hatte, wurde Morsbach verhaftet, verhört, dann aber nicht ohne den Hinweis, dass er dem Nationalsozialismus „Skepsis“ entgegengebracht habe, nach zwei Monaten aus Haft und Dienst entlassen.242 Arnold Bergstraesser, der sich ähnlich Morsbach der Frontkämpfergeneration zurechnete, stand der rechten Aufbruchsbewegung nahe. Das manifestierte sich in seiner scharfen Stellungnahme gegen Remarques Weltbestseller Im Westen nichts Neues, noch heftiger und folgenreicher 1932 im Prozess gegen Emil Julius Gumbel, den überaus mutigen Ankläger der Justiz und ihres Versagens gegenüber den politischen Morden.243 Bergstraessers „gegen ‚Weimar‘ gerichteter Antiliberalismus ließ ihn die staatliche Neuordnung durch den Nationalsozia239 Adolf Morsbach, Deutsche Kulturpolitik im Ausland, in: Volkstum und Kulturpolitik, 237–263, hier 255 f. 240 In dem genannten Grundsatzaufsatz s. die teilweise wörtlichen Übernahmen aus Ludwig Niessen, Der Lebensraum für den geistigen Arbeiter. Ein Beitrag zur akademischen Berufsnot und zur studen� tischen Weltsolidarität. Münster: Aschendorff, 1931 (Deutschtum und Ausland, H. 45). 241 Volkhard Laitenberger, Der DAAD von seinen Anfängen bis 1945, in: Der DAAD in der Zeit. Ge� schichte, Gegenwart und zukünftige Aufgabe – vierzehn Essays, hg. von Peter Alter (Spuren in die Zukunft. DAAD 1925–2000, Bd. 1). Bonn: DAAD, 2000, 20–49. 242 Laitenberger, Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik, 51–60. 243 Rainer Eisfeld, Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945. Ba� den-Baden: Nomos, 1991, 79–86.

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lismus begrüßen. Da er jedoch eine jüdische Großmutter hatte, verlor er 1936 seinen Heidelberger Lehrstuhl für Staatswissenschaft. Ein Jahr später emigrierte er in die USA.“244

Internationalismus: Feind nationaler Kultur? Nach den Exzessen des Nationalismus im Krieg brachte die Weltöffentlichkeit dem Begriff des Internationalismus eine Welle der Zustimmung entgegen. In demselben Maße, wie er die Intention einer übernationalen oder zumindest zwischenstaatlichen Ordnung ausdrückte, wurde er um 1930 angreifbar als Gegenpart zu der weltweiten Ethnifizierung und Nationalisierung der Politik.245 Internationalismus gehört in Deutschland zur Nachgeschichte des Ersten Weltkrieges ebenso wie die Revolution, die Volksgemeinschaftsideologie, die Inflation und der Versailler Vertrag. Die Beschwörung des Internationalismus bedeutete nach 1919 Öffnung und Bedrohung zugleich. Sie führte in der Entgegensetzung von modernistischen und völkischen Strömungen zu einer Anspannung, wie sie vor dem Kriege nicht gegeben war. Das – internationale – Streben nach sozial gerechteren, gesünderen und freieren Lebensformen war nicht nur Sache der Linken, geriet aber angesichts der Gegenüberstellung mit einer traditions- und volksbezogen propagierten nationalen Kultur zu einem ihrer Identifikationsmuster. Was später als modernistisch charakterisiert wurde, lief häufig unter dem Begriff ‚international‘, und das verhieß vielen nichts Gutes. Wo die einen die Durchsetzung einer dem Massenkonsum verpflichteten neuen Lebenskultur als Chance wahrnahmen, aus dem Käfig der Weltkriegs­ isolation herauszutreten, fühlten sich die anderen aufgerufen, im Gegenzug traditionellen Lebens- und Kunstformen völkische Grundsubstanz zuzumessen. Diese Konfrontation war für die Republik insgesamt prägend und blieb bis zu ihrem Ende ständig aktuell. Die populäre Version dieser Konfrontation, die auch im Reichstag und preußischen Landtag zu erregten Debatten führte, hakte sich am Begriff des Amerikanismus fest. Amerikanismus war ein dem Internationalismus ähnlicher, explosiver Begriff auf der Ebene der Konsum- und Massenkultur. Er beschwor – und denunzierte – in weiten Bereichen von Wirtschaft, Technik und Unterhaltungskultur eine dem internationalen Wettbewerb verpflichtete Innovati244 Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959. Göttingen: Wallstein, 2009, 605. 245 Akira Iriye, Cultural Internationalism and World Order. Baltimore/London: Johns Hopkins Univer� sity Press, 1997, 51–90.

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16 Weissenhofsiedlung des Deutschen Werkbundes 1927 in Stuttgart. Postkarte

onshaltung. Wie stark gerade diese Innovationshaltung einem verheerend geschlagenen und materiell verarmten Land in kurzer Zeit wieder Auftrieb gab, ist, zusammen mit der Ambivalenz gegenüber der amerikanischen Massenkultur, vor allem dem Hollywood-Film, zu einem Kernthema der Historiografie der Weimarer Republik geworden und bedarf hier keiner weiteren Diskussion. Wäre dieser Modernisierungsschub im Verliererland Deutschland nicht stärker gewesen als anderswo (wenn man von der Sowjetunion absieht), verdiente er kaum der Erwähnung. Denn das Phänomen des Amerikanismus, das man keineswegs mit der (sehr vagen) Bezugnahme auf den Westen gleichsetzen kann, war als Bedrohung der nationalen Kultur nicht spezifisch für Deutschland, es fand in Frankreich, Großbritannien und anderen europäischen Ländern eine kaum geringere, eher noch stärkere Ausprägung.246 Der Rückstoßeffekt in Richtung auf Ethnifizierung in der Förderung von Regionalkulturen war allen Ländern in den dreißiger Jahren gemeinsam; in gewisser Weise bildete er die Folie dafür, dass die deutsche Version völkischer Konzentration und Essenzialisierung in einigen Teilen Europas, insbesondere im Norden und Südosten, weit mehr Resonanz fand, als sie verdiente. 246 Egbert Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900–1933). Stuttgart: Steiner, 2003; Victoria de Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe. Cambridge: Harvard University Press, 2005.

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Die prekäre Stellung des Internationalismus in der Weimarer Republik hat die Sozialhistorikerin Adelheid von Saldern nach Durchsicht der Reichstagsund Landtagsdebatten in prägnanten Sätzen zusammengefasst. Zunächst konstatiert sie, dass Kulturpolitik in diesen Debatten zumeist zum Schutz der deutschen Kultur gegen die Überfremdung durch ausländische Massenkultur konzipiert wurde. Grundlegend sei die Abgrenzung von Volk und Masse: „Das Volk sei durch Blutsverwandtschaft, Abstammung, Artgemeinschaft und historische Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden, und das Volk zwinge zur ‚völkischen Selbstbesinnung, zur Besinnung auf Eigenart‘; demgegenüber zwinge die ‚Masse‘ zum Internationalismus. Diese Vorstellung war in Deutschland tief verankert und verdichtete sich zur Auffassung, dass ‚Amerikanismus‘ gleichbedeutend mit ‚Masse‘ und ‚Internationalismus‘ sei. Der deutschnationale Abgeordnete Wilhelm Koch meinte dementsprechend 1926, das ‚wahre, reine Menschentum‘ könne nur in der eigenen Nation gesucht und gefunden werden, insofern sei der Internationalismus der Linken zu kritisieren. In der Weimarer Republik war es deshalb auch kein Zufall, dass die Bauhausarchitektur auf eine breite Ablehnung innerhalb des Kulturkonservatismus stieß, kein Zufall deshalb, weil das Bauhaus sich besonders international gab und deshalb auf die Protagonisten einer deutschnationalen bzw. regionalistischen Kultur abstoßend wirkte. Die Kämpfe für oder gegen das Flachdach trugen demnach nicht zuletzt symbolischen Charakter, standen stellvertretend für die Frage für oder gegen Nationalität oder Internationalität der Kultur.“247 Insofern die Abwehr dieses Internationalismus als Modernismus oder Amerikanismus in anderen Ländern davon kaum verschieden war, in Frankreich in den Worten von Pierre Viénot eher noch nachdrücklicher erfolgte, wird die aus Zustimmung und Ablehnung gemischte Reaktion der französischen Öffentlichkeit auf die 1930 endlich erfolgte Ausstellung des Deutschen Werkbundes in Paris – „Section Allemande“ in der Ausstellung der Société des Artistes décorateurs français – auch darin verständlich, dass sie sich nicht nur aus der gewohnten Abwehr deutscher Kunst nährte. In den Händen von Gropius sollte diese Ausstellung „in einer knappen Schau den starken Anteil Deutschlands an der Entwicklung moderner handwerklicher und industrieller Erzeugnisse – insbesondere einer formschönen Standardware – sinnfällig demonstrieren“.248 Mit anderen Worten, die Ausstellung sollte dem Bauhaus dort, wo 1925 die 247 Adelheid von Saldern, Überfremdungsängste. Gegen die Amerikanisierung der deutschen Kultur in den zwanziger Jahren, in: Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhun� derts, hg. von Alf Lüdtke, Inge Marßolek und ders. Stuttgart: Steiner 1996, 213–244, hier 235 f. 248 In der brieflichen Aufforderung Gropius’ 1929 an verschiedene Firmen zur Mitarbeit, zit. nach Joachim Driller, Bauhäusler zwischen Berlin und Paris. Zur Planung und Einrichtung der „Section Allemande“ in der Ausstellung der Societé des Artistes Décorateurs Français 1930, in: Das Bauhaus

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17 Walter Gropius/Bauhaus, Gesellschaftsraum mit Kaffee-Bar in der deutschen Abteilung der „Exposition de la Société des artistes décorateurs“ im Grand Palais zu Paris 1930. © Bauhaus-Archiv, Berlin; © VG Bild-Kunst, Bonn 2013

französische Dekorationskultur geherrscht hatte, die Gelegenheit verschaffen, die ‚wirklich‘ internationale Modernität zu zeigen, für welche nicht zuletzt Le Corbusier, dem man 1925 den „style boche“ vorwarf, entscheidende Weichen gestellt hatte. Gropius erreichte sein Ziel mit einer zusammen mit László Moholy-Nagy, Herbert Bayer und Marcel Breuer in fünf ineinander übergehenden Räumen gestalteten Schau, die auf seinen bereits im Arbeitsrat für Kunst geäußerten Ideen einer neuen, architektonisch ermöglichten gemeinschaftlichen Lebensform beruhte. Johannes Sievers, der Leiter des Kunstreferats im Auswärtigen Amt, überlieferte die Nervosität der Diplomaten vor der Eröffnung, die in den Worten des erfahrenen deutschen Botschafters in Paris, von Hoesch, gipfelte: „Da haben Sie uns ja einen schönen Blechladen (!) geschickt!“, womit er, so Sievers, vermutlich „auf das viele verwandte Metall hinweisen“ wollte. Beim glänzenden Abendempfang in der Botschaft danach aber und Frankreich – Le Bauhaus at la France 1919–1940, hg. von Isabelle Ewig, Thomas W. Gaethgens und Matthias Noell. Berlin: Akademie 2002, 255–274, hier 255.

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war der Beifall des Publikums gewiss und das Metall akzeptiert, sodass Sievers, dem die kritischeren Fachrezensionen erst später zu Gesicht kamen, mit Stolz vermerkte, die Ausstellung bedeute einen Erfolg, „wie er kaum je zuvor einer anderen beschieden war.“249 Dass hier nach Jahren der Konfrontation ein Höhepunkt kultureller Begegnung zwischen beiden Ländern stattfand, war den Beteiligten bewusst. Dass er im Namen des ästhetischen Internationalismus geschah, gab diesem Legitimität, weckte jedoch auf französischer Seite den Argwohn, damit in eine Falle zu gehen, die in der Ablösung der traditionsreichen nationalen Kunstformen bestand. Mit dem Erfolg der Weißenhofsiedlung und ihrer internationalen Beteiligung hatte der Werkbund der architektonischen Moderne ein Symbol geschaffen, das, zusammen mit Mies van der Rohes elegant-gläsernem Pavillon auf der Weltausstellung 1929 in Barcelona, der Republik Anerkennung auf dem Gebiet modernistischer Lebenskultur verschaffte. Unterstützt von einem Reichstagsgesetz zur Förderung des Wohnungsbaus gelang es den Städten, in Stadtplanung und sozialem Siedlungsbau weitere Zeichen dafür zu setzen. Ernst May in Frankfurt, Bruno Taut und Martin Wagner in Berlin sowie Walter Gropius in Dessau-Törten weckten neben J. J. P. Oud in den Niederlanden sowie skandinavischen Architekten weltweites Interesse. Typisch war dafür die Reaktion des amerikanischen Technik- und Modernekritikers Lewis Mumford. Sie führte vom Desinteresse an deutschen Entwicklungen schließlich in die Bibliothek des Deutschen Museums in München, wo Mumford das Material für seine bahnbrechende Untersuchung Technics and Civilization (1934) erarbeitete. Von der jungen Amerikanerin Catherine Bauer darauf aufmerksam gemacht, dass in Deutschland der Modernismus im sozialen Siedlungsbau eindrucksvolle Gestalt angenommen habe, engagierte sich Mumford als Augenzeuge eines Projekts der kostenbewussten, mitmenschlichen Nutzung moderner Technik und konstatierte, weder in Russland noch im fortschrittlichen Amerika werde die Zukunft derart wegweisend erprobt wie beim sozialdemokratischen Siedlungsbau in Deutschland zwischen 1924 und 1930.250 Ernst May brachte 1929 den zweiten Congrès International d’Archi­ 249 Johannes Sievers, Aus meinem Leben. Ms. im Politischen Archiv des AA, 325. Über die kritischen französischen Fachrezensionen s. Robin Krause, Die Ausstellung des deutschen Werkbundes von Walter Gropius im „20e Salon des Artistes Décorateurs Français“, und Matthias Noell, Zwischen Krankenhaus und Mönchszelle: „Le nouveau visage de l’Allemagne“ – Die Werkbund-Ausstellung 1930 im Spiegel der französischen Tagespresse, in: Das Bauhaus und Frankreich, 275–296, 313–346. 250 Mumfords deutscher Kontakt war zunächst der Stadtplaner Walter Curt Behrendt, Autor der weg� weisenden Schrift Der Sieg des neuen Baustils (Stuttgart: Wedekind, 1927). Für das Zitat s. Daniel T. Rogers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age. Cambridge: Belknap, 1998, 398; vgl. Catherine Bauer, Modern Housing. Boston/New York: Houghton Mifflin, 1934.

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tecture Moderne nach Frankfurt. Er wurde 1930 zu Vorträgen und wenig später als Stadtplaner nach Moskau eingeladen. Hannes Meyer, Gropius’ Nachfolger als Direktor des Bauhauses, erhielt 1930 einen Ruf als Professor an die Staatliche Hochschule für Architektur in Moskau. Bruno Taut folgte 1932 einer Einladung in die russische Hauptstadt. Im selben Jahr fand in dem kurz zuvor im Namen der Moderne gegründeten Museum of Modern Art in New York die Ausstellung „Modern Architecture: International Exhibition“ statt, die zunächst von Ludwig Mies van der Rohe gestaltet werden sollte, dann aber, von Alfred H. Barr, Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson unter Mitarbeit von Mumford organisiert, Mies van der Rohes Projekte ebenso wie die von Gropius, Frank Lloyd Wright, George Howe und anderen europäischen und amerikanischen Architekten zeigte. Obwohl auf Wunsch der Sponsoren darauf abgestellt, die Führung Amerikas in der modernen Architektur zu demonstrieren – also auch hier die Dominanz der nationalen Kultur zu dokumentieren –, erwies sich die Ausstellung, die danach in mehrere amerikanische Städte reiste, als theoretisch fundierte Grundlegung dessen, was als „international style“ seine europäischen und spezifisch deutschen Wurzeln einige Zeit lang bewahrte, was dann aber tatsächlich von den USA als Träger und Vollender des Modernismus installiert wurde.251 All dies ließ keinen Zweifel daran, dass der ästhetische Modernismus in den Ausformungen der Architektur, der Produktkultur, der Stadtplanung und des sozialen Wohnungsbaus, wie sie in Mittel- und Nordeuropa entwickelt wurden, dem Internationalismus einen Ausdruck verschaffte, der in Ost und West, in der Sowjetunion ebenso wie in den Vereinigten Staaten, aktuellen Praktiken neue Wege wies. Doch währte das nur kurz. Was sich dann in den USA, von seinen sozialreformerischen Intentionen entblößt, zum Stil der neuen Geschäftswelt und ihrer Hochhäuser verdünnte, geriet unter Stalins Kommando bereits Anfang der dreißiger Jahre in den Verdacht, den nationalen Kulturen des kommunistischen Imperiums ihre Authentizität zu nehmen. Ernst May und Bruno Taut waren nur zwei der von dieser nationalen Wendung Betroffenen – keines ihrer Projekte wurde gebaut. Wie zahlreiche westliche Experten erfuhren sie, wie fragil der rationale, sozial engagierte Anspruch dieser Form des Internationalismus war, wenn sich die Bürokratie eines Landes ihre Legitimation wieder aus den traditionellen Verfahrensweisen besorgte, in ihrem

251 Miles David Samson, German-American Dialogues and the Modern Movement before the “Design Migration,” 1910–1933. Dissertation Harvard University. Cambridge, 1988, 525–608.

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Falle aus der Hinwendung zu repräsentativen klassizistischen Bau- und Schmuckformen.252 Besonders einschneidend allerdings war für die Gegnerschaft zum Internationalismus in allen seinen Ausformungen der zu dieser Zeit wieder erstarkende Antisemitismus. Die Konnotation des Internationalismus mit den Juden, die als wurzellose Fremdkörper Nation und Volk an gesichtslose Kräfte verrieten, reichte weit zurück und hatte vor und im Krieg auf allen Seiten Ressentiments geweckt. In Russland war die Tradition besonders stark, und Stalin bediente sich ihrer nach 1930 mit unberechenbarer Laune. In Polen, Ungarn, Rumänien unterlegte man damit die Propagierung der nationalen Kultur. Nirgendwo aber erreichte diese Gleichsetzung in Teilen der Öffentlichkeit eine derartige Schärfe, schließlich aggressiv-rassistische Zuspitzung wie in Deutschland. Hier übten sich die Nationalsozialisten bereits Anfang der zwanziger Jahre darin, im Begriff des Internationalismus alle Bedrohungen des eigenen Volkes mit dem Antisemitismus zu verknüpfen. „Das Greisenhafte aber im Volksleben ist der Internationalismus“, konstatierte Hitler in einer Rede 1923. „Was an wirklichen Werten menschlicher Kultur vorhanden ist, entstand nicht aus dem Internationalismus, sondern das Volkstum hat es geschaffen.“ Er attackierte den Internationalismus als Versuch einer Weltverschwörung, deren Fäden letztlich in den Händen des „internationalen Judentums“ zusammenliefen.253 Das geschah zu einer Zeit, als die deutschen Amtsträger mit großer Genugtuung konstatierten, dass die weltberühmten jüdischen Wissenschaftler Albert Einstein und Fritz Haber deutsche Wissenschaft und Kultur zum Wohle der Nation wieder auf das internationale Parkett zurückführten, ganz zu schweigen davon, dass kurz zuvor der jüdische Außenminister Rathenau mit dem Rapallo-Vertrag Deutschlands Isolation zumindest nach Osten durchbrochen hatte. Die politischen Ressentiments gegen die Juden, die schon vor dem Krieg in der Konfrontation nationaler Kultur gegen „das Ausland“ und „die Ausländerei“ geschürt worden waren, hatte die Kriegszensur unter dem Vorzeichen der Volksgemeinschaft eine Zeit lang unterdrückt. Sie waren dann aber, vor allem nach der bolschewistischen Revolution und der davon inspirierten bayerischen Räterepublik, in eine neue Form von Antisemitismus eingegangen, bei der die Juden als Akteure bei der Unterminie252 Schönheit, Sachlichkeit und Sozialismus. Bruno Taut. Moskauer Briefe 1932–1933, hg. von Barbara Kreis. Berlin: Mann, 2006; Ernst May (1886–1970). Neue Städte auf drei Kontinenten. Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt, 2011, Katalog, hg. von Claudia Quiring u. a. Mün� chen: Prestel, 2011. 253 Peter Friedemann und Lucian Hölscher, Internationale, International, Internationalismus, in: Ge� schichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett, 1982, 367– 397, hier 396.

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rung der deutschen Kultur im Dienste eines dämonisch erhöhten Internationalismus zum Ziel scharfer, häufig rassistischer Attacken wurden. Während das Wirken von Juden in der akademischen Welt aufgrund des erschwerten Zugangs zu höheren Positionen und des latenten Antisemitismus deutscher Gelehrter begrenzt blieb, boten die begrenzt zensurfreie und kommerziell betriebene höhere literarische sowie die massenbezogene Unterhaltungskultur mit ihrem großen Verschleiß an Darstellern, Texten, Musik, Sensationen einen Wirkungsbereich, in dem Juden wesentlich weniger Restriktionen ausgesetzt waren. Ähnliches galt für den Handel, bei dem die Offenheit dem Ausland gegenüber die Voraussetzung für die Erschließung neuer Märkte bildete. Internationale Vernetzung wurde hier ebenso wie in Film, Theater, Operetten- und Revuetheater der Maßstab für Aktualität und Modernität. All die Politisierung und Nationalisierung von Kultur im Krieg und die um 1919/20 proklamierten Parteiresolutionen zur Kulturpolitik hinderten die Bevölkerung nicht daran, Kultur als Bildungsform, Statussymbol und Unterhaltung von Politik getrennt wahrzunehmen. In diesem Bereich lagen die größten Entfaltungsmöglichkeiten für Unternehmer, die die neuen Kommunikations- und Reproduktionstechniken für eine verunsicherte Bevölkerung zugunsten neuer Fremd- und Selbsterfahrungen kommerziell umzusetzen vermochten. Diese moderne Unterhaltungskultur, die mit dem Import ausländischer Tanzmusik, zumal des Jazz, eine besonders große Resonanz unter der Jugend fand, behauptete sich in der Konkurrenz zu den Partei-‚Lager‘-Kulturen und schuf Identifizierungserfahrungen, die Kriegstrauma ebenso wie Revisionsrhetorik ausblendete, ohne dass das zur Politik geriet. Das verhalf dem Film zu seinem beispiellosen Wachstum in den zwanziger Jahren und wurde in den dreißiger Jahren von Goebbels für den Goodwill, den das Regime brauchte, als Nichtpropaganda in die Propaganda eingebaut. Der Film machte den Internationalismus in der simultanen Aufnahme über alle Grenzen hinweg zur öffentlichen Erfahrung. Mit leichter Übertreibung hat Ferdinand Seibt diese Dimension des Internationalismus charakterisiert: „Das Kino der späten zwanziger, der frühen dreißiger Jahre schuf ein Stück Weltkultur. Durchaus in mehreren Nationen produziert, boten der deutsche, der französische, der italienische oder auch der tschechische Film doch ganz ähnliches an wie die größte Traumfabrik in Hollywood. Insgesamt, mit manchem Abenteuer, mit Lebensbejahung, Optimismus, Glück und vor allem mit erfolgreicher Partnersuche entspann sich so etwas wie eine universelle Utopie, mit wenigen Ausnahmen.“254 254 Ferdinand Seibt, Das alte böse Lied. Rückblicke auf die deutsche Geschichte 1900 bis 1945. München/Zürich: Piper, 2000, 157.

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Dass in dieser Traumwelt auch deutsche Produktionen weltweite Resonanz fanden, war nicht zuletzt das Verdienst jüdischer Regisseure und Produzenten. Unter ihnen sorgte Ernst Lubitsch dafür, dass neben den expressionistischen Dramen einer neu entstehenden Filmkunst wie Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari zu Beginn der zwanziger Jahre der deutsche Filmexport ausgerechnet mit Filmkomödien wie Madame Dubarry zu einem lukrativen Geschäft wurde. Während der Boykott deutscher Wissenschaft und ‚höherer‘ Kunst in den ehemaligen Feindländern noch zur politischen Sprachregelung gehörte, exportierte die deutsche Filmindustrie eine größere Anzahl ihrer billig hergestellten Streifen nach Westeuropa und den USA. Als Deutschland 1920 eine Einfuhrquote für Filme beschloss, erwog man auch in den USA eine solche Maßnahme, ja ein neuer Boykott drohte – diesmal mit dem Argument, dass der amerikanische Geschmack unterminiert und die amerikanische Filmindustrie geschädigt werde. Die heiße Debatte um den deutschen Films in den USA 1920/21 bezog noch aus den Konfrontationen der Kriegszeit Impulse und setzte, wie festgestellt worden ist, die amerikanische Filmindustrie von vornherein auf einen Konfrontationskurs mit der deutschen.255 Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass prominente Vertreter des deutschen Film in Hollywood arbeiteten, angefangen von Ernst Lubitsch, dem Produzenten Carl Laemmle und dem Schauspieler Emil Jannings, der 1928 sogar den ersten Oscar erhielt (aber bereits vor der Verleihung abreiste). Nach dem Zusammenbruch der exportorientierten deutschen Filmindustrie nach dem Ende der Inflation dauerte es lange Zeit, bis sie zumindest in Europa gegenüber dem Hollywood-Monopol einige Schritte aufholte. Während Zeitgenossen wie Alfons Paquet Mitte der zwanziger Jahre darauf aufmerksam machten, dass Deutschland in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West einen Umbruch miterlebe – „Dabei stehen wir in einem offenen Wechsel der äußeren Kursrichtung. Seit 1924 herrscht die westliche ‚Einstellung‘“256 –, sorgte der Film dafür, dass sich dieser Kurswechsel, der wirtschaftlich begründet war (und in der Polemik gegen die Gefahr des Kommunismus je nach Bedarf intensiviert wurde), im kulturellen Bereich keineswegs als vollendete Tatsache erwies. Im Gegenteil, die Durchsetzung des revolutionären sowjetischen Films mit Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin 1926 ließ eine zuvor nicht beteiligte große Öffentlichkeit an diesem Gegen- und Miteinander teilnehmen – ein Beweis dafür, dass der von den 255 Jan-Christopher Horak, Rin-Tin-Tin erobert Berlin oder Amerikanische Filminteressen in Weimar, in: Filmkultur in der Weimarer Republik. Beiträge zu einer internationalen Konferenz vom 15. bis 18. Juni in Luxemburg, hg. von Uli Jung und Walter Schatzberg. München: Saur, 1992, 255–269; Thomas J. Saunders, Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany. Berkeley: Uni� versity of California Press, 1994. 256 Alfons Paquet, Zwischen West und Ost, in: Die Tat 7:1 (1925/26), 163–168, hier 166.

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Kulturwächtern als Massenphänomen abgetane Bereich der Unterhaltungskultur für diese Auseinandersetzung, die sich in der Gegenüberstellung von Chaplin und Eisenstein personifizierte, ästhetisch und politisch gewichtigere Argumente lieferte als der Bereich der ‚hohen Kultur‘. „Ein Filmereignis von aufwühlender Bedeutung“, schrieb der Kritiker Herbert Ihering im Berliner Börsen-Kurier. „Von einer dokumentarischen Gewalt, einer Monumentalität der Sachlichkeit – ohnegleichen. Panzerkreuzer Potemkin – Goldrausch: es sind die Pole Rußland-Amerika.“257 In dieser kulturellen Aufladung der Internationalität im Film berührte sich Ihering mit der faszinierten Bestandsaufnahme Russland – Europa – Amerika, in der Erich Mendelssohn, einer der Pioniere moderner Architektur, 1929 die gegenwärtigen Spannungen architektonisch vermaß.258 Durch Film und Architektur erfuhr das Konzept nationaler Kulturen in den zwanziger Jahren die wohl meistkommentierte Erschütterung. Film, Architektur und bis zu einem gewissen Grad modernistische Kunst blieben die wirksamsten Verkörperungen des Internationalismus, die auch in der Phase intensivster Renationalisierung der Kulturen in den dreißiger und vierziger Jahren das Erbe der zwanziger Jahre weitertrugen. Darin waren sie erfolgreicher als der im Deutschen Werkbund vorgenommene Versuch, für 1932 eine umfassend gedachte Ausstellung unter dem Titel „Die Neue Zeit“ zu organisieren, die in Köln, am Ort der denkwürdigen Manifestation eines kommerziell begründeten Modernismus 1914, die kulturellen Strömungen der Dekade unter dem Dach internationaler Ausstellungskultur harmonisieren sollte. Schon im Vorfeld der Planung Ende der zwanziger Jahre zeichnete sich ab, dass die von Ernst Jäckh zur Diskussion gestellte und von den Amtsträgern, einschließlich Kölns Oberbürgermeister Adenauer, erstaunlich bereitwillig akzeptierte Planung in ihrer totalen Vereinnahmung des Zeitgeistes die Spannungen zwischen modernistischen und traditionalistischen Lösungsversuchen nicht überbrücken würde. Die Berufung auf die Internationalität der Bestrebungen lieferte nur einen politischen Anstrich, während die Wirtschaftskrise ihnen die Finanzierung entzog. Gropius distanzierte sich von einer solchen „Warenmesse der Weltanschauung“ und hielt an seinem engeren Bauhauskonzept für die Pariser Ausstellung fest.259 257 Zit. nach Ulrich Gregor und Naum Klejman, Deutscher und sowjetischer Film. Ein Dialog beider Filmkulturen, in: Berlin – Moskau 1900–1950, hg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert. Mün� chen/New York: Prestel, 1995, 199–203, hier 200. 258 Erich Mendelssohn, Russland – Europa – Amerika. Ein architektonischer Querschnitt. Berlin: Mosse, 1929. 259 Hemken, Die Zukunft im Räderwerk der Harmonie, 79–90, 87; Joan Campbell, The German Werkbund. The Politics of Reform in the Applied Arts. Princeton: Princeton University Press, 1978,

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Bei Gropius und den Bauhausaktivitäten resultierte Internationalismus als sozial engagierter Modernismus aus der Loslösung von spezifisch nationalen oder ‚volksmäßigen‘ Wurzeln. Gropius investierte viel in die künstlerische Erhöhung funktionsgemäßer Formen und wurde dafür später von Amerikanern zum Klassiker der Moderne stilisiert. Die Anziehungskraft dieses Modernismus im Inund Ausland resultierte aus der Tatsache, dass dabei Kultur nicht als etwas „Gewachsenes und Organisches, etwas Gewordenes und Werdendes“ im Sinne der deutschen Tradition verstanden wurde, vielmehr als „etwas Abgegrenztes, Fertiges, Übersehbares und somit leichter Annehmbares“, das Paul Rühlmann 1930 für die französische Kultur als typisch hinstellte.260 Wenn die „Weimarer Kultur“ später als Laboratorium der Moderne gefeiert worden ist, trug dazu der Kontrast zu den in Deutschland besonders ungezügelten Exzessen der Ethnifizierung entscheidend bei. Bei ihnen mutierte die Berufung der Nationalsozialisten auf das „Gewachsene und Organische“ zu einer letzten hypertrophen Steigerung, die unter Zwang gerade das verlor, was sie verehrte: das Gewachsene und Organische.

Gegen die Krise: Hoffnung und Vielfalt des internationalen Kulturaustauschs Ernst Jäckhs ausgedehnter Entwurf einer Synthese in der Werkbund-Ausstellung „Die neue Zeit“, die 1932 stattfinden sollte, scheiterte. Er scheiterte an der in der Wirtschaftskrise zunehmend eingeschränkten Finanzierung, jedoch auch an dem Misstrauen im Ausland, dass hier letztlich doch nur die Kulturmacht Deutschland ihre Flügel ausbreite, um darunter die vielen Einzelformen moderner Lebensgestaltung zu vereinnahmen. Was zu dieser Zeit weiterführte, waren Unternehmungen, welche die auswärtige Kulturpolitik als ein wechselseitiges Aktionsfeld angingen, als ein Gebiet, auf dem Austausch und Verständigung als Gegengewicht gegen die wachsenden Nationalismen dienen sollten und konnten. Mit dem Schock über die Gewinne der Nationalsozialisten bei den Septemberwahlen 1930 nahm dieses Denken eine neue Dringlichkeit an. Seine beträchtliche Dynamik resultierte mehr aus den Gefühlen der Gefährdung als der amtlichen Agenda, Flagge zu zeigen, die in der Locarno-Phase neue Nahrung erhalten hatte. Es manifestierte sich eindrucksvoll in dem Ko202–205. Siehe Jäckhs Programmentwurf: Idee und Realisierung der Internationalen WerkbundAusstellung „Die Neue Zeit“ Köln 1932, in: Die Form, H. 15 (1929), wieder abgedruckt in: „Die Form“. Stimme des Deutschen Werkbundes 1925–1934, hg. von Felix Schwarz und Frank Gloor. Gütersloh: Bertelsmann, 1969, 32–62. 260 Paul Rühlmann, Französische und deutsche Kulturpropaganda. Vergleich und Kritik, in: Neue Jahr� bücher, 1930, H. 1, 119–127, hier 124.

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operationsprojekt, das das Deutsche Institut für Ausländer in Berlin, vom preußischen Kultusministerium unterstützt, unter dem Titel „Inter Nationes“ 1931 lancierte. Darin äußerte sich die von Carl Heinrich Becker bereits im Krieg proklamierte Maxime, eine Gesellschaft nütze sich selbst durch besseres Kennenlernen des Auslands und müsse dem durch direkte Maßnahmen in Studium und Kontaktorganisationen vorarbeiten. Becker, im Amt des preußischen Kultusministers von Adolf Grimme abgelöst, darum freigesetzt, im selben Jahr im Auftrag des Völkerbundes als Vorsitzender einer Beratungskommission zur Erziehungspolitik nach China zu reisen, schickte die Zeitschrift Inter Nationes mit den Worten auf den Weg, sie solle Wege ebnen, „auf denen deutscher Wille zum Geist und fremder Wille zum Geist sich zusammenfinden zu gemeinsamem oder wechselseitigem Dienst an Individuum, Volk und Menschheit.“ Er betonte: „Es ist keine internationale, sondern eine deutsche Zeitschrift, aber sie soll Brücken schlagen helfen zwischen Deutschland und den anderen Ländern der Erde.“261 Polemischer formulierte es Werner Picht in seiner Abrechnung mit dem „Jung-Nationalismus.“ Der neue Nationalismus profiliere sich mit der „Wendung gegen den Geist“. Darin enthülle er sich als eine inhaltsleere Strömung, die außer der im Weltkrieg gelernten militanten „Haltung“ kein Ziel anzubieten habe.262 Nur über den Geist jedoch lasse sich ein vertretbares, von anderen Völkern anerkanntes Ziel formulieren. Der in diesem Sinne von Becker gebrauchte Geist-Begriff korrespondierte mit dem von der Völkerbundkommission verwendeten Terminus der geistigen Zusammenarbeit, der cooperation intellectuelle. Um diesen Terminus sammelten sich zwischen 1927 und 1933 die Kräfte, die der Renationalisierung der Kulturen deren internationale Vernetzung entgegenzusetzen suchten. Für diese Internationalität stellte Modernität in Film, Architektur und anderen Gebieten zwischen hoher und Popularkultur Assoziationssymbole bereit, sie war aber längst auch auf politischer, genauer kulturpolitischer Ebene dank der vielfältigen Initiativen in privaten, halboffiziellen und akademischen Bereichen in Form einer auch in der Krise aktivierenden Begegnungskultur präsent. Ihre deutsche Ausformung geschah beispielhaft 1931/32 in Inter Nationes, kann allerdings in ihrer Eigentümlichkeit nur im Hinblick auf die Kämpfe um eine internationale Kulturpolitik ganz erfasst werden, die sich im Umkreis des Völkerbundes vor allem zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten abspielten. Diese Kämpfe entzündeten sich an Struk261 C. H. Becker, Geleitwort, in: Inter Nationes. Zeitschrift für die kulturellen Beziehungen Deutschlands zum Ausland 1 (1931), 3; s. auch: Sinn und Aufgabe der Zeitschrift „Inter Nationes“, in: ebd., 5. 262 Werner Picht, Kritisches zum Jung-Nationalismus, in: ders., Jenseits von Pazifismus und Nationalis� mus, 58–105, bes. 90–98.

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tur und Arbeit des vom Völkerbund 1925 initiierten und zunächst stark von Frankreich subventionierten Instituts für geistige Zusammenarbeit (Institut International de Coopération Intellectuelle, I.I.C.I.), das als Vorläufer der von den Vereinten Nationen nach 1945 gegründeten UNESCO gilt, für die sich Frankreich ebenfalls den Sitz in Paris sicherte. Obwohl kein Mitglied des Völkerbundes, nahmen die USA mit der Etablierung der amerikanischen Kommission für intellektuelle Zusammenarbeit sowie den Stiftungen und ihren Spenden starken Einfluss auf die Arbeit des Instituts.263 Dabei prallten zwei verschiedene Auffassungen von internationaler Kulturpolitik aufeinander: das amerikanische Konzept, demzufolge Kultur nicht über politisch gebundene, zum Propagandakonzept neigende Regierungen, sondern private Stiftungen wie das Carnegie Endowment und die Rockefeller Foundation geschehen müsse, und die französische Auffassung, der zufolge der Staat für die Förderung des kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs verantwortlich sei. Beide amerikanische Stiftungen, Carnegie Endowment und Rockefeller Foundation, manifestierten mit dem private internationalism von Stipendiatenaustausch und Wissenschaftsförderung eine ausgedehnte Präsenz in Europa, die, parallel zu dem wirtschaftlichen Engagement, dem behaupteten Isolationismus der USA bewusst entgegenwirkte.264 Die machtvolle Intervention amerikanischer Repräsentanten bewirkte, dass Internationalismus auch im kulturpolitischen Bereich eine nicht amtliche, nicht elitäre Note erhielt; bezeichnend war ihre konstante Kritik daran, dass die Franzosen – wie die Europäer überhaupt – ihren Kulturaustausch allzu elitär ansetzten.265 Nicht zuletzt ebneten die amerikanischen Stiftungen, indem sie die Deutschen früh in ihre finanzielle Förderung einbezogen, einer Re-Integration Deutschlands die Wege.266 Aufgrund amerikanischer Intervention unterzog sich das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit 1928–1930 einer gründlichen Revision und gewann dann unter dem 263 Sein Organ war die ab 1927 erscheinende, vom Carnegie Endowment unterstützte Zeitschrift L’Esprit International / The International Mind, in deren erstem Jahrgang u. a. Thomas Manns Pariser Rede von 1926 abgedruckt wurde. S. auch Emily S. Rosenberg, Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890–1945. New York: Hill & Wang, 1982, 112–121. 264 Richard T. Arndt, The First Resort of Kings. American Cultural Diplomacy in the Twentieth Century. Washington: Potomac, 2005, 45. 265 Karl-Heinz Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissen� schaft – Politik. Frankfurt/New York: Campus, 2004, 68–71. Das erste Projekt der Kommission war eine internationale Analyse der Lage der Intellektuellen (Geistesarbeiter). 266 Helke Rausch, US-amerikanische „Scientific Philanthropy“ in Frankreich, Deutschland und Groß� britannien zwischen den Weltkriegen, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 73–98. Über den Einbezug Deutschlands in die außerordentlich umfangreiche Auslandshilfe an Europa nach 1918 s. Hermann Stör, So half Amerika. Die Auslandshilfe der Vereinigten Staaten 1812–1930. Stettin: Ökumenischer Verlag, 1936.

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neuen Direktor Henri Bonnet breitere Anerkennung für internationale Projekte in den dreißiger Jahren. Sie schlug sich in dem ab 1931 erscheinenden, umfangreichen Bulletin de la Coopération Intellectuelle nieder und umfasste die von Paul Valéry vorgeschlagene Gründung eines permanenten Komitees für Literatur und Kunst.267 Die von Becker im Geleitwort zu Inter Nationes definierte internationale Zusammenarbeit auf nationaler Grundlage entsprach weitgehend dem Credo des Instituts, ein „universelles Bewusstsein“ („l’universalité“) bei den Intellektuellen der dem Völkerbund zugehörigen Völker zu schaffen, das auf der Anerkennung der verschiedenen Kulturen, ja der Bestätigung ihrer Originalität beruhte.268 Das widersprach, zumindest in dem späteren Einbezug bilateralen Kulturaustauschs, dem besonders auf der nationalen (und nationalsozialistischen) Rechten verbreiteten Klischee der internationalen Kulturpolitik als entweder hohl oder bedrohlich. Immerhin blieb es nicht ohne Selbstkritik. Bereits im ersten Heft der Zeitschrift unterzog kein Geringerer als Ernst Robert Curtius die deutsch-französische Versöhnung, die er als sein Anliegen ansah, einer scharfen Analyse, bei der er aus seiner Desillusionierung über die bisherigen Misserfolge amtlich vorgenommener Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland kein Hehl machte. Die bislang geübten Verständigungsformen müssten einer intensiveren Heranbildung junger Eliten und der Schaffung einer besseren Infrastruktur Platz machen. In diesem Sinne erhielt Inter Nationes von verschiedenen prominenten Beiträgern das Lob, in der Krise ein mutiges Programm des Brückenschlags zwischen den Kulturen zu verfolgen. „Es muß sich in jedem Lande“, schrieb der berühmte argentinische Gelehrte Ernesto Queseda, „doch wenigsten eine Minderheit finden lassen, die sich über die Finsternisse des Tages erhebt und die sich dagegen wehrt, ebenfalls im Sumpf politischer und wirtschaftlicher, nationaler und internationaler Schwierigkeiten mit unterzugehen, die die Fackel des Wissens und der Erkenntnis brennend erhält, um sie der künftigen Generation aushändigen zu können.“269 Queseda war besonders befugt, Kulturkontakten Wirkung zuzuschreiben, insofern er den argentinisch-deutschen Wissenschaftsaustausch seit der Jahrhundertwende prominent befördert und mit der Schenkung seiner 267 Resolution adoptés par le comité permanent des lettres et des arts, in: Bulletin de la Coopération Intellectuelle 1 (1931), 47–51. 268 Pham-Thi-Tu, La Coopération intellectuelle sous la Société des Nations. Genf: Droz, 1962, 69  f. Über die Arbeit des Instituts im Rahmen der 1922 geschaffenen Commission Internationale de Coo� pération Intellectuelle und die deutsche Mitarbeit siehe Margarete Rothbarth, Geistige Zusammen� arbeit im Rahmen des Völkerbundes. Münster: Aschendorff, 1931, bes. 61–64. 269 Ernesto Quesada, Kulturbeziehungen als Gegenwartsprobleme, in: Inter Nationes 2:3 (1932), 75– 77, hier 76.

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82.000 Bände umfassenden Bibliothek 1930 den Grundstock zu dem in Berlin angesiedelten Ibero-Amerikanischen Institut legte, dem der mexikanische Präsident weitere 25.000 Bände hinzufügte. Das Berliner Ibero-Amerikanische Institut wurde neben dem Hamburger und dem 1931 in Köln gegründeten Institut zum zentralen Umschlagplatz des ausgedehnten Kulturaustauschs mit den südamerikanischen Ländern sowie Spanien und Portugal. Mit seiner Arbeit als Informations‑, Forschungs- und Kulturzentrum bis heute die wichtigste Vermittlungsstelle zwischen Deutschland und Lateinamerika sowie den Ländern der Iberischen Halbinsel, als dessen Gründungsdirektor der ehemalige preußische Kultusminister Otto Boelitz berufen wurde, stellt es ein besonders erfolgreiches Beispiel für die auch und gerade in der Krise beförderte internationale Kulturarbeit dar, die trotz ihrer späteren Inanspruchnahme durch den Nationalsozialismus ihre eigene Kontinuität entwickelte. Diese Kontinuität basierte darauf, dass die Praxis von Begegnung und Austausch mit anderen Kulturen im grenzüberschreitenden Kontakt ihre eigene Dynamik entwickelte, die genügend kulturelle und wissenschaftliche Substanz besaß, um nicht völlig im Propagandastreben bestimmter Regimes (aber auch nicht in purer Wissenschaftlichkeit) aufzugehen. Die damals gefundene und an den Schluss des eindrucksvollen Länderberichts in Inter Nationes 1932 von Walter Boje gesetzte Feststellung lässt sowohl die Einordnung im politischen Raum als auch die Wechselseitigkeit dieser Form auswärtiger Kulturpolitik erkennen: „Das Neue der Entwicklung gegenüber der Vorkriegszeit ist die ‚Allseitigkeit, die planmäßige Organisation und die Reziprozität der Beziehungen.‘“270 Inter Nationes förderte diese Agenda und fand in dem französischen Deutschlandexperten Henri Lichtenberger, dem Russlandexperten Otto Hoetzsch, dem Kunsthistoriker Wilhelm Waetzoldt, der Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer, dem Direktor der Preußischen Staatsbibliothek und Mitglied der Kommission für Internationale Zusammenarbeit Hugo Andres Krüss ebenso seine Beiträger wie unter anderen in- und ausländischen Kulturexperten. Mit einer Serie von „Länderberichten“, die als Bestandsaufnahme der kulturellen Auslandsbeziehungen der Weimarer Republik und ihrer Intensivierung um 1930 seinesgleichen sucht, dokumentierte die Zeitschrift die Praxis, die sich im Hinblick auf Großbritannien und Frankreich erst durch Locarno auch amtlich entfaltete, in den meisten anderen Fällen, besonders ausgedehnt bei der Sowjetunion, aber auch bei China, Japan, Italien,

270 Walter Boje, Südamerika (Länderberichte), in: Inter Nationes 2:4 (1931), 117–124, hier 124; vgl. ders., Spanien und Portugal, in: ebd., 2:2 (1932), 63–73; Otto Boelitz, Die wissenschaftlichen Verbindungen zwischen Deutschland und Süd- und Mittelamerika, in: ebd., 1:1 (1931), 13 f.

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Ungarn, Lateinamerika, Skandinavien und dem Baltikum, jedoch lange zuvor ihre jeweilige Ausformung gefunden hatte.271 Hier seien nur einige der jeweils bestimmenden Institutionen und Organisationen aufgeführt. Sie waren im Allgemeinen im akademisch-wissenschaftlichen Austausch angesiedelt und konnten damit eine gewisse Unabhängigkeit von politischen Auflagen behaupten; allerdings blieben sie zumeist auf öffentliche Mittel angewiesen, während private oder Stiftungsgelder nur bestimmte Projekte gewährleisteten. Für die Anbindung wissenschaftlich basierter Studien über andere Länder an außenpolitische Entscheidungsgremien bot Berlin im Falle Osteuropas und der Sowjetunion – mit dem sogenannten Hoetzsch-Imperium272 – sowie der USA mit Instituten und nicht amtlichen Organisationen die breiteste Auswahl. Weltweit als Zentrum der Russland- und OsteuropaStudien anerkannt, beherbergte die Stadt auch das 1910 gegründete AmerikaInstitut. Auf dem Gebiet der deutsch-sowjetischen Kulturbeziehungen lag auf deutscher Seite die Führung bei der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas (DGSO), auf russischer Seite bei der 1925 gegründeten Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (VOKS). Friedrich Schmidt-Ott sorgte als Präsident der DGSO dafür, dass die Gesellschaft das Russlandinteresse des deutschen Bürgertums und insbesondere der Wirtschaft in vielen Veranstaltungen, Studienreisen und Wissenschaftlerbegegnungen zum Vorteil der deutschen Außenpolitik förderte. Viele – vor allem kommunistische – kulturelle Kontakte liefen an der DGSO vorbei, doch wurden die großen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen von ihr organisiert und vom Auswärtigen Amt und vom preußischen Kultusministerium finanziert. Die Interessen beruhten hier auf Gegenseitigkeit: „Die wissenschaftlichen Wochen wie die Naturforscherwoche 1927 und die Historikerwoche 1928 waren für die Sowjetunion von großem propagandistischem Wert. Dadurch wurde anschaulich die These vom Niedergang aller Kultur und Wissenschaft im Sowjetstaat widerlegt.“273 Unter Schmidt-Otts Patronat und Otto Hoetzschs ideeller Anleitung entzog sich die DGSO mit ihren Mitgliedern aus Wirtschaft, Diplomatie und Wissenschaft und der damals einmaligen Informationspolitik der führenden Zeitschrift Osteuropa dem Vorwurf, dem Kommunismus in die 271 Als Ergänzung siehe die Berichte in Sektion V. „Über die Grenzen“ in: Volkstum und Kulturpolitik, 409–605. In beiden Fällen fehlen Berichte über die Beziehungen zum neuen türkischen Staat unter Atatürk. 272 Schlögel, Berlin Ostbahnhof Europas, 320. 273 Christoph Mick, Kulturbeziehungen und außenpolitisches Interesse. Neue Materialien zur ‚Deut� schen Gesellschaft zum Studium Osteuropas‘ in der Zeit der Weimarer Republik, in: Osteuropa 43 (1993), 914–928, hier 916.

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Hände zu arbeiten. Dieser Vorwurf wurde eher der 1923 gegründeten „Gesellschaft der Freunde des neuen Rußlands“ (GdF) gemacht, die viele prominente Künstler und Schriftsteller wie Erwin Piscator, Leopold Jessner, Alfred Döblin, Thomas Mann und Wissenschaftler wie Albert Einstein zu ihren Mitgliedern zählte und von Erich Baron, einem Mitglied der KPD mit engen Verbindungen zur sowjetischen Botschaft, geleitet wurde.274 Die DGSO weigerte sich, gemeinsame Aktionen mit der GdF durchzuführen: „Ihr Einspruch verhinderte, dass der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer die Schirmherrschaft einer Ortsgruppe der GdF übernahm. Statt dessen wurde Adenauer am 3.  Mai 1929 zum Vorsitzenden einer neuen Landesgruppe Rheinland der DGSO gewählt.“275 Adenauer ist ein besonders prominentes Beispiel für die Zugkraft internationaler Kontaktnahme im Kulturbereich entgegen der Sogwirkung von Nationalismus und wirtschaftlicher Krise. Sein volles Interesse galt dem Bemühen, Köln in einer gewissen Gegenstellung zu Berlin, wo die meisten auslandskundlichen Institutionen ansässig waren, über die wiedergegründete Universität zu einem Zentrum für den westeuropäischen Kulturaustausch zu machen. Zur Mission der Universität gehörte, dass sie nach dem Verlust von Elsass-Lothringen und der deutschen Universität Straßburg „den deutschen Geist gegenüber dem Westen repräsentieren“ sollte.276 Nach dem Erfolg der von ihm geförderten internationalen Presseausstellung „Pressa“ 1928 in Köln setzte sich Adenauer nachdrücklich für die Gründung des Deutsch-Französischen Instituts (Institut Franco-allemand de la Ville de Cologne) unter der Leitung des angesehenen jüdischen Romanisten Leo Spitzer ein. Ihm wurden ebenfalls 1930 das Deutsch-Spanische Institut (Instituto hispano-alemán de intercambio cultural) und 1932 das Deutsch-Portugiesische Institut zur Seite gestellt. Mit Stolz vermerkte Adenauer „die Pressestimmen, welche die Errichtung eines DeutschNiederländischen Instituts der Universität Anfang 1931 als Ereignis in den deutsch-niederländischen Beziehungen würdigten.“277 Im Vorlauf zur Doppel274 Böttcher, Das Bild der sowjetischen Medizin in der ärztlichen Publizistik und Wissenschaftspolitik der Weimarer Republik, 71–75; Rolf Elias, Die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland. Mit vollständigem Inhaltsverzeichnis aller Jahrgänge der Zeitschrift „Das neue Rußland“ 1923–1932. Köln: Pahl-Rugenstein, 1985. 275 Christoph Mick, Kulturbeziehungen und außenpolitisches Interesse, 918. 276 Diskussionsbeitrag von Konrad Adenauer jr., in: Konrad Adenauer und Frankreich 1949–1963. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen und Politik, Wirt� schaft und Kultur, hg. von Klaus Schwabe. Bonn: Bouvier, 2005, 195. 277 Andrea Hoffend, Konrad Adenauer und das faschistische Italien. Zur Instrumentalisierung der Kulturpolitik am Beispiel des Petrarca-Hauses zu Köln 1931, in: Quellen und Forschungen. Aus italienischen Archiven und Bibliotheken 75 (1995), 481–544, hier 532. Über das Kölner DeutschFranzösische Institut s. auch Katja Marmetschke, Deuschland- bzw. Frankreichforschung beider�

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18 Feier zum 50-jährigen Bestehen des „Vereins für das Deutschtum im Ausland“ 1930. In: Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz Nr. 10008984

gründung des Deutsch-Italienischen Kulturinstituts, des Petrarca-Hauses in Köln, und des deutschen Instituts in Rom (Istituto Italiano di Studi Germani) zog Adenauer den Unwillen der deutschen Diplomaten in Rom auf sich, die ihm übelnahmen, über ihre Köpfe hinweg mit den italienischen Regierungsvertretern verhandelt zu haben. Der Vorwurf, Adenauer betreibe seine eigene auswärtige Kulturpolitik, blieb nicht aus. Den Aufsichtsausschuss der beiden Institute teilte er sich mit dem Deutschenfreund und Berater Mussolinis, Giovanni Gentile.278 Regional und weniger akademisch verflochten war die wirtschaftlich ausgerichtete Gründung des Mitteleuropa-Instituts in Dresden 1929, mit der die sächsische Industrie, die weitaus exportabhängigste Industrie Deutschlands, seits des Rheins in der Zwischenkriegszeit. Die Universitäten Frankfurt am M., Köln und Paris, in: Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionen� geschichtlicher Ansatz, hg. von Ulrich Pfeil. München: Oldenbourg, 2007, 73–101. 278 Margarete Esch, Italien (Länderberichte), in: Inter Nationes 1:3 (1931), 75–79. Dort zusammenfassend über die deutsch-italienischen Kulturbeziehungen, die deutschen wissenschaftlichen Institute und den literarischen, künstlerischen und akademischen Austausch.

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Auslandskulturpolitik in den Dienst des Exports nach Südosteuropa zu stellen suchte. Während die Balkanregion in den Auslandsstudien der Universitäten Leipzig und Breslau den Schwerpunkt bildete, verfolgte man mit dem vom Mitteldeutschen Wirtschaftstag, dem Land Sachsen, der Stadt Dresden und zögernd auch dem Auswärtigen Amt unterstützten Mitteleuropa-Institut ein auf die Ausbildung von Studenten und Wirtschaftseliten gemünztes Programm.279 Mit der Schwerpunktverlagerung der deutschen Außenpolitik in diese Region erhielt das Mitteleuropa-Institut in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre eine gewisse Schlüsselfunktion, der die Deutsche Akademie mit ihrem Netz von Sprachlektoren kulturpolitische Substanz hinzufügte. Eine erste Doppelgründung von Instituten geschah, wie erwähnt, zusammen mit Japan: Dank der Initiative Fritz Habers und der Finanzierung durch den Industriellen Hajime Hoshi entstanden 1926/27 in Berlin und Tokio Institute, die sich zu Umschlagplätzen kultureller und wissenschaftlicher Unternehmungen entwickelten. Wie beim Collegium Hungaricum, das ebenfalls bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein den Anlaufort für ungarische Wissenschaftler in Deutschland bildete, diente das Japan-Institut in Berlin als Mittelpunkt für japanische Gelehrte, Studierende und Offizielle, ähnlich wie es das JapanischDeutsche Kulturinstitut in Tokyo für deutsche Forscher und Offizielle tat.280 Der Erfolg des 1925 an der Universität Frankfurt etablierten China-Instituts führte 1933 zur Gründung des zunächst „Institut für deutsche Kultur“, ab 1935 „Deutschland Institut“ genannten Zentrums in Peking, das ab 1936 vom Auswärtigen Amt finanziert wurde und bis 1944 bestand.281 In seiner Bestandsaufnahme 1931 in Inter Nationes begeisterte sich der Berichterstatter an dem wachsenden Interesse an den Kulturbeziehungen seit dem Kriege: „China hat aufgehört, für das deutsche Volk eine unerreichbar ferne Welt zu sein, um die man sich nicht zu kümmern brauchte. Es ist ihm vielmehr innerlich erstaunlich nahe gerückt, und das Bedürfnis, sich über die großen Geschehnisse, die in China vor sich gehen, zu unterrichten, ist schlechthin allgemein geworden.“282 Dabei sollte erwähnt werden, dass die deutsche Regierung noch vor dem Ra279 Stephen Gross, Das Mitteleuropa-Institut in Dresden. Verknüpfung regionaler Wirtschaftsinteressen mit deutscher Auslandskulturpolitik in der Zwischenkriegszeit, in: „Mitteleuropa“ und „Südosteur� opa“ als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, hg. von Carola Sachse. Göttingen: Wallstein, 2010, 115–140. 280 M. Ramming, Japan (Länderbericht), in: Inter Nationes 1:2 (1931), 54–56; Thomas Ohm, Deutschland und die japanische Kultur, in: Volkstum und Kulturpolitik, 528–547. 281 Ding Jianhong und Li Xia, Das „Deutschland-Institut“ und die deutsch-chinesischen Kulturbezie� hungen, in: Politik, Wirtschaft, Kultur. Studien zu den deutsch-chinesischen Beziehungen, hg. von Mechthild Leutner. Münster: LIT, 1996, 307–328. 282 Max Linde, China (Länderberichte), in: Inter Nationes 1:3 (1931), 79–82, hier 81; Friedrich Wil� helm Mohr, Deutsche Kulturpolitik in China, in: Volkstum und Kulturpolitik, 548–558.

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pallo-Vertrag mit China, das sich von der Versailler Friedensregelung als Verlierer behandelt fühlte, 1921 ein Friedensabkommen geschlossen hatte, in dem China erstmals von einer westlichen Industriemacht als gleichberechtigter Staat anerkannt wurde. Auf beiden Seiten an der Revision des Versailler Vertrages interessiert, entwickelte sich in der Öffentlichkeit die Konstruktion einer „Freundschaft“, ja „Verlierergemeinschaft“, die bis in die dreißiger Jahre währte.283 Nach diesem Paukenschlag, der vor allem dabei helfen sollte, den chinesischen Markt dem deutschen Export zu öffnen, hielt sich die deutsche Diplomatie mit weiteren Vorstößen sehr zurück. Nur dem Wiederaufbau des Prestigeprojektes der Tongji-Universität in Shanghai widmete sie, zusammen mit der deutschen Industrie, volle Aufmerksamkeit und größere finanzielle Unterstützung. Chinas widerwilliger Eintritt in den Krieg hatte die 1907 als Medizinschule gegründete und später durch eine Ingenieurschule erweiterte Institution nur vorübergehend dem deutschen Einfluss entzogen. 1923 wurde sie in eine umfassende Universität umgewandelt und den jeweiligen Unterrichtsministerien in Peking und Nanjing unterstellt, mit deutschen Dozenten als Mitverantwortlichen. Dass sich das kaum mit den Investitionen vonseiten Japans, Großbritanniens, Frankreichs und der USA vergleichen ließ, lag an den fehlenden Haushaltmitteln, nicht am mangelnden Interesse.284 Der deutsch-französische Kulturaustausch erweiterte sich 1930 mit zwei Gründungen in Paris und Berlin, die offizielles Gepräge trugen. Die Deutsche Akademisch-Pädagogische Vermittlungsstelle, ab 1931 Zweigstelle Paris des DAAD, und das Institut Français de Berlin besaßen verschiedene Aufgaben, standen sich jedoch mit dem Auftrag der Betreuung von Studenten und Dozenten sowie allgemeinen Veranstaltungen, etwa zu Ehren des Goethe-Jahres 1932, nahe. Während französische Jungakademiker kaum über den Rhein kamen, war der Andrang auf deutscher Seite in der Gegenrichtung sehr groß. Auch in den folgenden Jahren hielt das Institut Français daran fest, eine begrenzte Zahl von Postgraduierten zu beherbergen und den Schüleraustausch zu organisieren. Unter den später illustren Gästen befanden sich 1931/33 Raymond Aron, der zuvor am Kölner Institut hospitiert hatte, Hitlers Machtübernahme in Berlin erlebte und aufschlussreich kommentierte, sowie 1933/34 283 Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung, hg. von Mechthild Leutner und Andreas Steen. Berlin: Akademie, 2006, 34. 284 Susanne Kuß, Entsendung einer Erziehungskommission des Völkerbundes unter Vorsitz von Carl Heinrich Becker nach China (1931). Deutsche Einflüsse auf die Reorganisation des chinesischen Erziehungswesens, in: Politik, Wirtschaft, Kultur. Studien zu den deutsch-chinesischen Beziehungen, 187–223, hier 219 f. Ausführlich über die Tongji-Universität: Françoise Kreissler, L’action culturelle allemande en Chine. De la fin du XIXe siècle à la Seconde Guerre mondiale. Paris: Editions de la maison des sciences de l’homme, 1981, 139–167.

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Jean-Paul Sartre, Arons ehemaliger Schulkamerad an der Ecole normale supérieure, der sich zurückgezogen ganz dem Studium des Philosophen Edmund Husserl widmete.285 Beide Institute führten ihre Arbeit in den dreißiger Jahren fort, bestrebt, sich zumindest „offiziell als Schutzzonen gegenüber spannungsgeladener deutsch-französischer Aktualität“ zu erweisen.286 Dank beträchtlicher Geldmittel konnte die amerikanische Form der nicht amtlich arbeitenden Kulturpolitik in der Zwischenkriegsphase und noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg große Wirkung erzielen. Der eigentliche Erfolg aber verdankte sich dem sensitiven Vorgehen ihrer Gremien im Carnegie Endowment und den verschiedenen Zweigen der Rockefeller Foundation (sowie, nach 1945, der Ford Foundation), die sich, teilweise unter Anleitung des Institute of International Education unter Stephan Duggan in New York, in Westeuropa über die Wissenschaften ein ausgedehntes Informationsnetz schufen. Demgegenüber blieb die deutsche Seite auf Vortragsreisen von ‚prominenten‘ Wissenschaftlern und Künstlern angewiesen, unter denen, wie die Flut der Beschwerden der deutschen Konsulate in den USA bereits Anfang der zwan­ ziger Jahre bezeugt, nur die wenigsten auch nur einigermaßen kritischen Maßstäben standhalten konnten. Der einzige zu dieser Zeit weithin wahrgenommene Besuch – außer dem von Albert Einstein – war 1922 der des Schriftstellers Gustav Frenssen, der auf Einladung des Central Relief Committee für notleidende deutsche Kinder sammeln sollte und Lesungen gab. Stolz hieß es in der Zentrumszeitung Germania: „Auch Präsident Harding bereitete ihm einen ehrenvollen Empfang und sprach sich befriedigt über den Erfolg der Mission Frenssens aus, die im Interesse der notleidenden Jugend Deutschlands zu begrüßen sei.“287 In Deutschland selbst brachte das Interesse bekannter Industriedirektoren an amerikanischen Kontakten die Gründung einer Organisation zustande, die unter dem Namen „Carl Schurz Vereinigung“ in Berlin die Betreuung amerikanischer Besucher übernahm, damit das Auswärtige Amt entlastete und seine volle Unterstützung erhielt. Zwischen 1926 und 1929 unter der Präsidentschaft des Industriellen Robert Bosch und der Leitung des linksliberalen Reichstagsabgeordneten Anton Erkelenz zu einer geachteten Vermittlungsstelle aufgebaut, verlor die Vereinigung um 1930 ihre (un‑)politische 285 Marie-Christine Granjon, L’Allemagne de Raymond Aron et de Jean-Paul Sartre, in: Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Bd. 1, 463–479. 286 Dieter Tiemann, Zweigstelle Paris des DAAD und Institut français de Berlin. Zwei Einrichtungen der auswärtigen Kulturpolitik mit jugendpolitischer Orientierung, in: ebd., 287–300, hier 299. 287 Dies wie auch die zahlreichen Beschwerden der Konsulate in „Die Förderung des Deutschtums in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika“ (Politisches Archiv des AA, R 60104). Zur Reise Frens� sens s. Erhard Schütz, Besuch bei den Verlierern. Gustav Frenssens Briefe aus Amerika, in: Das Ame� rika der Autoren, hg. von Jochen Vogt und Alexander Stephan. München: Fink, 2006, 67–86.

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Orientierung und driftete nach der Assoziierung mit dem „Arbeitsausschuß Deutscher Verbände“, der zentralen Propagandaorganisation im Kampf gegen Versailles, ins rechte Fahrwasser ab. Mit einem Carl-Schurz-Haus ausgestattet, erweiterte sie unter Vorsitz von Hans Draeger unter dem Nationalsozialismus ihre privilegierte Position als offizielle Vermittlungsstelle für die Propaganda in den USA, wurde als Arm des Propagandaministeriums finanziert und so auch von den amerikanischen Besuchern verstanden.288 Das seit 1910 bestehende Amerika-Institut in Berlin gedieh in den zwanziger Jahren weiterhin als der zentrale Umschlagplatz für Forscher- und Studentenkontakte (teilweise in Zusammenarbeit mit dem DAAD), Wissenschaftlerund Prominentenbesuche, Vorbereitung für Vortragsreisen in die USA und, zusammen mit der Reichszentrale für Heimatdienst, Schulungsveranstaltungen in ganz Deutschland als Einführung „in das Wesen der angelsächsischen Welt“.289 Mit dem zunehmenden Bedarf an wissenschaftlicher Information in Wirtschaft und Politik wurde das Amerika-Institut mit seiner von amerikanischen Stiftungen unterstützten Americana-Bibliothek zu einem vorbildlichen Auslandsinstitut, wuchs als erstes in die Rolle eines Konsultations- und Informationsinstituts hinein, das vom Auswärtigen Amt in Anspruch genommen und mitfinanziert, damit allerdings auch mit „Kulturpropaganda“ beauftragt wurde. Als Vertreter der Smithsonian Institution in Washington verteilte es die wissenschaftliche Literatur an Universitätsabteilungen und Einzelpersonen. Dem standen in den USA das seit dem 19. Jahrhundert gewachsene und während des Krieges innerhalb der Universitäten aufrechterhaltene Netz akademischer Departments gegenüber, die sich als German Departments befleißigten, Sprache und Dichtung in Distanz zur Politik zu lehren, um die geschrumpfte Rekrutierungsbasis an Studenten nicht noch mehr zu schmälern. Mit ihnen hielten deutsche Botschafter und Konsuln Kontakt, hatten aber, anders als im Falle der deutschamerikanischen Vereine, bis auf die Verteilung von Textbüchern und Propagandaschriften keinerlei Einwirkungsmöglichkeit. Einige „Deutsche Häuser“ entstanden neben den „Maisons français“ in Anlehnung an Universitäten. Das wichtigste an der New Yorker Columbia University, das auch die Germanistic Society beherbergte, betätigte sich als Auskunftstelle für Deutschland und „Mittlerstelle der neu erscheinenden deutschen Literatur“. Auf eine Vorkriegsgründung zurückgehend, wurde seine (Wieder‑)Eröffnung 1929 zu einem großen diplomatischen Ereignis. Columbias langjähriger Präsi288 Rennie W. Brantz, German-American Friendship. The Carl Schurz Vereinigung, 1926–1942, in: International History Review 11 (1989), 229–251. 289 Christian H. Freitag, Die Entwicklung der Amerikastudien in Berlin bis 1945 unter Berücksichtigung der Amerikaarbeit staatlicher und privater Organisationen. Diss. FU Berlin 1977, 94.

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dent Nicholas Murray Butler, der einst als Vorkämpfer der deutschen Universität gewirkt, sich dann aber im Krieg scharf gegen das Kaiserreich gewendet hatte, feierte mit dem der Demokratie voll verpflichteten deutschen Botschafter Friedrich Wilhelm von Prittwitz und Gaffron die Wiederaussöhnung der beiden Länder.290 Die folgenreichste Aktion von deutschamerikanischer Seite für eine Kulturund Expertenförderung jenseits von Politik und Propaganda erfolgte mit der Gründung zweier Organisationen 1930/31, die, mit Sitz in Philadelphia, den Nationalsozialismus überdauerten und noch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Wiederanknüpfung der Kulturbeziehungen, in diesem Falle als Teil der Reeducation Policy, beitrugen. Sie wurden von der Jahrhundertfeier für den bekanntesten Deutschamerikaner Carl Schurz 1929 angeregt. Nicht zu verwechseln mit der Carl Schurz Vereinigung in Berlin, die sich zu diesem Zeitpunkt zur NS-Propagandainstitution verwandelte, verfolgte die Carl Schurz Memorial Foundation ab 1930 unter der Präsidentschaft des ehemaligen Botschafters Jacob Gould Schurman, dem Sekretär Wilbur K. Thomas und einer Vielzahl auch jüdischer Deutschamerikaner wie Paul Warburg ein davon scharf unterschiedenes Programm von Studenten‑, Forscher- und Expertenaustausch. Sie finanzierte sich weitgehend mithilfe des Oberländer Trust, den der Textilfabrikant Gustav Oberländer mit einer Million Dollar 1931 begründete, ein Vorgang, den die New York Times als ein großes Ereignis der deutsch-amerikanischen Beziehungen feierte. Damit wurden Deutschlandreisen von Amerikanern der verschiedensten Berufe, von Journalisten, Forschern, Sozial- und Gesundheitsbeamten ebenso ermöglicht wie Amerikareisen von Deutschen, daneben Studentenaustausch, Bibliothekszuschüsse und internationale Kulturarbeit.291 Mit dem Einstrom deutscher, zumeist jüdischer Flüchtlinge nach 1933 koordinierte der Oberländer Trust einen Teil seiner Unterstützung mit dem Emergency Committee in Aid for Displaced Foreign Scholars. Unbürokratisch half er geflohenen Wissenschaftlern, Ingenieuren, Musikern, Ärzten dabei, im Land 290 Georg Kartzke, Vereinigte Staaten von Amerika (Länderbericht), in: Inter Nationes 1:1 (1931), 24– 26; Michael Wala, „Gegen eine Vereinzelung Deutschlands“. Deutsche Kulturpolitik und akademi� scher Austausch mit den Vereinigten Staaten von Amerika in der Zwischenkriegszeit, in: Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, hg. von Manfred Berg und Philipp Gassert. Stuttgart: Steiner, 2004, 303–315. 291 $  1,000,000 Gift to Aid Amity with Germany. Ex-Immigrant Wants Mature Persons Who Can Interpret Facts to Be Sent Abroad, in: New York Times vom 6.4.1931; Die größte Kulturtat in Deutschamerikas Geschichte, in: New Yorker Staats-Zeitung vom 6.4.1931); Amerika – Deutschland. Amerikanische Millionenstiftung für Studienreisen nach Deutschland, in: Berliner Tageblatt vom 7.4.1931. Als erste Übersicht s. Harry W. Pfund, Ziele und Leistungen der Carl-Schurz-GedächtnisStiftung, in: Inter Nationes 2:4 (1932), 113–115.

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Fuß zu fassen, indem er die mageren Anfangssaläre um begrenzte Beträge aufstockte.292 Viele dieser zwischenstaatlichen Aktivitäten wurden, wie die Akten zeigen, von der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes registriert und erfuhren begleitende, fördernde und oft auch bremsende Reaktionen vonseiten der Botschaften und Konsulate. Sie lagen, besonders in ihrer Fülle nach 1930, auf der Linie eines trotz nationalistischer Radikalisierung in allen Ländern wirksamen Verlangens, die kulturelle Verflechtung der Nationen als Barriere gegen einen erneuten Krieg zu festigen oder zumindest vor dem Zerbrechen in der ökonomische Misere zu bewahren. Diese Linie manifestierte sich, verstärkt nach dem Scheitern der Genfer Abrüstungskonferenz 1932, außerhalb der amtlichen Strategien, sie war Sache der Zivilgesellschaft, obgleich nicht ihrer radikalen Kampfparteien.293 Zu dem wachsenden Interesse mag auch bei exponierten Akteuren eine erste Ahnung beigetragen haben, dass man, sollte man aus Deutschland vertrieben werden, im Ausland Stützpunkte schaffen müsse. Dem standen die amtlichen Strategien der Wilhelmstraße fern, die neben der Unterstützung der Auslandsdeutschen, dem nach wie vor dringlichsten Geschäft der Kulturabteilung, am ehesten der Zuarbeit zu den internationalen Gremien des Völkerbundes galten. Das war nicht wenig, insofern es, insbesondere bei der verfehlten Bemühung um Aufnahme des Reiches in den Internationalen Forschungsrat und die Internationale Akademische Union, gegen den Widerstand des Hochschulverbandes und der Anwälte des wissenschaftlichen Gegenboykotts durchgesetzt werden musste.294Aber dieser Politik mangelte es an dem Engagement der privaten und nicht amtlichen, auf persönliche Begegnung und Gegenseitigkeit ausgerichteten Organisationen. Entsprechend lapidar bemerkte Fritz von Twardowski, das Reich habe sich zwar an den internationalen Aufgaben des Völkerbundes beteiligt, jedoch scheine das alles „kein Anlaß zu besonderer personeller oder materieller Aktivität oder Initiative der Kulturabteilung gewesen zu sein. Die internationalen Kulturfragen wurden amtlicherseits eigentlich nur verwaltungsmäßig behandelt. Mit dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund 1933 hörte diese Art amtlicher internationaler Zusammenarbeit auf. “295 Wie wenig das Engagement der Zivilgesellschaften an völkerverbindenden Aktionen und Demonstrationen von amtlichen Marschplänen abhing, mani292 Stephan Duggan und Betty Drury, The Rescue of Science and Learning. The Story of the Emergency Committee In Aid of Displaced Foreign Scholars. New York: Macmillan, 1948, 85–87. 293 Für die internationale Dimension des Antikriegsdenkens s. Iriye, Cultural Internationalism and World Order, 103 f. 294 Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, 233–235. 295 Twardowski, Anfänge deutscher Kulturpolitik zum Ausland, 28.

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festierte sich 1932, dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, bei den Feiern zu Goethes 100. Todestag, die in London ebenso wie in New York, in Bombay ebenso wie in Kopenhagen, Prag und Warschau stattfanden. Wie der Berichterstatter in Inter Nationes, der Bibliothekar am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, in einem zwanzig Seiten langen, eng gedruckten Bericht überlieferte, kam eine überwältigend große Anzahl von Veranstaltungen, Lesungen, Theateraufführungen, Leitartikeln, Übersetzungen, Büchern und sonstigen Ehrungen des „deutschen Genies“ in den verschiedensten Sprachen ohne organisierte Planung der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes zustande. Wohl richtete die Reichsregierung einen Aufruf an die Welt, aber niemand konnte voraussehen, wie der Chronist Alfred Bergmann stolz vermerkte, dass die Goethe-Feier „zur Weltfeier“ wurde und es kaum ein Land der Erde gab, „wo nicht sein Name genannt wurde in Dankbarkeit und Verehrung.“296 Bergmanns Bericht bezeugt mit seiner kaum glaublichen Vielfalt von Themen, Ansprachen und Beschwörungen des Weimarer Dichters in Hunderten von Städten ein weltweites Bedürfnis, gegen alle Entzweiungen und Nationalismen die Präsenz von Geist und Kultur zu beschwören. Zwar ließ sich vieles den Repräsentationsgebräuchen staatlicher Kultur zuschreiben, wie in den Fällen, da einheimische Funktionsträger und deutsche Botschafter ihre Ehrenbezeugungen absolvierten. Aber den Festakt in Paris durchdrang doch noch mehr als bloße Repräsentation. Er fand unter Anwesenheit des Staatspräsidenten im überfüllten Grand Amphithéâtre der Sorbonne unter dem Motto „Goethe als Brücke zwischen dem deutschen und dem lateinischen Geist“ statt, das Paul Valéry unter Vergegenwärtigung von Goethes Begegnung mit Napoleon 1808 als richtungsweisend erläuterte. Bei Gelegenheit der Feier des Kosmopoliten Goethe fühlte man sich offenbar in aller Welt frei genug, den von Deutschen entfachten Kult von Geist und Kultur vom Kanonendonner zu lösen und als völkerverbindendes Elixier öffentlich zu kredenzen. Allerdings merkte Valéry in seiner faszinierten Beschwörung der Heroenbegegnung zwischen Geist und Politik kritisch an, dass sich die Deutschen selbst nicht an Goethes Beispiel gehalten hätten.297 Der Weimarer Republik, die Friedrich Ebert mit der Anrufung von Goethes Faust gegen Bismarcks Militärgründung inauguriert hatte, kam diese Weltfeier nicht mehr zugute. Dennoch trug sie dazu bei, dass auch nach Weimars Scheitern und dem nationalsozialistischen Missbrauch deutscher Kulturgesinnung die Berufung auf Goethe einer späteren weltweiten Wiederaufnahme deutscher Kultur eine (dann allerdings schmal gewordene) Basis verschaffen konnte. 296 Alfred Bergmann, Das Weltecho des Goethe-Jahres, in: Inter Nationes 2:4 (1932), 129–151. 297 Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München/Wien: Hanser, 2006, 203–210.

5. Kapitel Die Mobilisierung deutscher Kultur im Dritten Reich Auswärtige Kulturpolitik und Hitlers rassische Kulturagenda Will man die auswärtige Kulturpolitik des nationalsozialistischen Deutschland nicht von vornherein dem Gebiet der Propaganda unterordnen – wogegen einiges spricht –, muss man sich auf Widersprüche einlassen, die sie vom Anfang bis zum Ende von Adolf Hitlers Herrschaft geprägt und zu einem unhandlichen Thema gemacht haben. Für die Widersprüche ist Hitler selbst verantwortlich, zum einen mit seinem Insistieren auf Rasse als absolutem Wert auch in der Kultursphäre, zum andern mit seinem polykratischen Regierungsstil, der eine Vielzahl von Akteuren auch auf kulturpolitischem Gebiet installierte, unter denen das Auswärtige Amt darum zu kämpfen hatte, die Dominanz in der auswärtigen Kulturpolitik zu behaupten. Einerseits verlangte Hitler vom Auswärtigen Amt kulturpolitische Kompetenz, andererseits schrieb er Deutschlands kultureller Erneuerung als einer rassischen Erneuerung eine solche Einmaligkeit zu, dass andere Völker und Rassen daran praktisch nicht teilnehmen konnten. Wie aber sollte deutsche Kultur im Ausland interessierte Teilnahme finden, wenn nicht Einfluss nehmen können, wenn sie die Emanation einer spezifischen Rasse darstellte, also nicht übertragbar, ja vielen nicht einmal verständlich war? Jede seiner Kulturansprachen auf den sechs Parteitagen 1933–1938 spitzte Hitler nach langwierigen, teilweise auf Wagner beruhenden Reflexionen über Kulturverfall, Kunst und Genie zum Fanfarenstoß über die rassische Wurzel aller Kultur zu. 1933 lautete das: „Nur dort kann man von einem wirklichen verständnisvollen Eingehen eines Volkes in die Kunst eines anderen reden, wo über alle zeitlichen und sprachlichen Entfernungen hinweg ein und dieselbe rassische Wurzel vorhanden ist.“1 Bei der Kulturtagung auf dem „Parteitag Großdeutschland 1938“ fiel jede Rücksichtnahme auf die Auslandsreaktion weg: „Im übrigen ist es natürlich gar nicht entscheidend, ob und wie fremde 1

Reichskanzler Adolf Hitler, Der deutschen Kunst Zukunftsaufgabe. Kulturtagung des Reichspartei� tages der NSDAP am 1.9.1933, in: Deutsche Kultur im neuen Reich. Wesen, Aufgabe und Ziel der Reichskulturkammer, hg. von Ernst Adolf Dreyer. Berlin: Schlieffen, 1934, 13. Was man in Anleh� nung an Walter Benjamins Wort von der Ästhetisierung der Politik im Faschismus als Hitlers Rassi� fizierung von Kunst bezeichnen kann, ist am intensivsten von Eric Michaud, Un Art de L’Éternité. L’Image et le temps du national-socialisme. Paris: Edition Galimard, 1996, auf seine Erscheinungs� formen und Folgen hin behandelt worden.

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Völker zu unseren kulturellen Arbeiten Stellung nehmen, denn wir sind uns darin nicht im Zweifel, dass die kulturelle Schöpfung als die feinfühligste Äußerung einer blutmäßig bedingten Veranlagung von nicht bluteigenen oder verwandten Einzelwesen oder Rassen überhaupt nicht verstanden und damit noch viel weniger gewertet werden kann. […] Es ist daher – wie schon betont – die Zustimmung oder Ablehnung aus diesen jüdisch-marxistisch-demokratisch-internationalen Kreisen zu unserer Kulturpolitik für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit unseres Handelns, den Wert oder Unwert unserer Leistungen nicht nur nicht entscheidend, sondern völlig belanglos. Viel wichtiger bleibt demgegenüber die Stellungnahme unseres eigenen Volkes.“2 Als Hitler im Jahr zuvor, bei der Kulturrede auf dem Parteitag 1937, die Rolle von Kunst und Kultur für die Größe dieses Volkes besonders heraushob, verstand man das im Auswärtigen Amt als Ermutigung, die auswärtige Kulturpolitik als „große und dankbare Aufgabe“ anzusehen. Mit Genugtuung wies Staatssekretär Hans Georg von Mackensen seine Behörde an: „Die rege kulturpolitische Tätigkeit, die eine Reihe von Staaten entfaltet, um damit allgemeinpolitische Ziele zu verfolgen, kann die Dringlichkeit dieser Aufgaben nur noch erhöhen. Ich bitte daher, dem kulturpolitischen Aufgabenkreis der Mission besondere Aufmerksamkeit zu schenken.“3 Widersprüche dieser Art im nationalsozialistischen Denk- und Regierungs­ system aufzudecken, ist nichts Besonderes. So wenig sich Hitlers Besessenheit mit Rasse aus dem Alltag des Dritten Reiches wegdenken lässt – die Ausgrenzung von Juden formte die Kulturpolitik des nationalsozialistischen Regimes von Anfang an –, so wenig bestimmte sie die Pragmatik der auswärtigen Kulturpolitik, die eher vom Machtkampf verschiedener Behörden als von ideologischen Grundsatzüberzeugungen geprägt wurde. Als Ausgangspunkt hilft der Blick auf den erwähnten Widerspruch jedoch dabei, die irrationalen Motivationen, insbesondere die rassistischen Säuberungs- und Verfolgungsimpulse, die in vielen dieser Organisationen zur Wirkung zu kommen suchten, neben den institutionell regulierten Kontakten des Staates mit anderen Ländern in ihren Antinomien zu erfassen, in einer konstant projizierten Irritation sowohl der Deutschen wie der Ausländer. Einerseits forderte Hitler, die Größe der nationalsozialistischen Bewegung mithilfe einer rassisch ausgerichteten Kulturpolitik im In- und Ausland vor Augen zu stellen; völkische Kulturpflege sollte sich mit der Errichtung Jahrhunderte überdauernder Monumentalarchitektur über 2 3

Der Führer auf der Kulturtagung, in: Reden des Führers am Parteitag Großdeutschland 1938, 9. Aufl. München: Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher, 1939, 31. Von Macksensen, 30.10. 937 (An sämtliche deutschen diplomatischen Missionen. Politisches Archiv des AA, Kult Gen 550/37, R 64287).

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die bloß modischen Innovationen erheben, die die „Systemzeit“ vor 1933 charakterisierten.4 Andererseits verlangte die ständig steigende Ausrichtung internationaler Beziehungen an Medienereignissen und nationalkultureller Repräsentanz eine zunehmend professionalisierte Verwaltung, die auswärtiger Kulturpolitik ein besonderes Renommee verschaffte und damit innenpolitische Machtansprüche weckte. Diese Tendenz setzte sich in den dreißiger Jahren in allen Ländern, ob demokratisch oder autoritär, durch. Das deutsche Außenministerium verhielt sich hier vergleichsweise eher zögerlich und gab damit Eingriffen vonseiten neuer Machtinstanzen und ‑sucher wie Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels Raum zu speziellen Aktionen. Beide verstanden viel schneller die wachsende Referenz auf Kultur im Verkehr mit anderen Ländern und instrumentalisierten sie für ihre Bemühungen, ihren jeweiligen Machtbereich auszudehnen. Besonders Goebbels zögerte nicht, die von Mussolini in Italien seit Jahren ausprobierten und auch in den europäischen Demokratien bewunderten und teilweise sogar nachgeahmten Rezepte kultureller Mobilisierung direkt zu übernehmen. Die von Hitler kreierten Widersprüche zwischen Rassenagenda und internationaler Macht- und Selbstdarstellung des Reiches fanden die verschiedenartigsten Ausformungen, bilden aber nur einen wenn auch zentralen Bestandteil der auswärtigen Kulturpolitik dieser Jahre. Noch mehr als zuvor stellte das gesteuerte und das nicht gesteuerte Erscheinungsbild der Kulturnation Deutschland unter dem Nationalsozialismus das Produkt eines ständig fluktuierenden Wechselverhältnisses mit dem Ausland dar. Wie stark Hitler selbst auf diese Tatsache reagierte, lässt sich bereits an der ersten, von aller Welt als schockierend empfundenen „Revolutionsphase“ veranschaulichen, in der Hitler, um das Erschrecken des Auslands über die brutalen Maßnahmen zu dämpfen, eine konziliante, auf Beschwichtigung zielende auswärtige Kulturpolitik förderte. Dem folgte zu Zeiten der Olympischen Spiele 1936 in Berlin und der Weltausstellung in Paris 1937 eine werbende Phase, in welcher der Kampf gegen den Internationalismus, der 1933–1935 das Regime isoliert hatte, abgedämpft wurde – offensichtlich eine wichtige Komponente bei der Ermöglichung der Appeasement-Politik, die in Großbritannien und Frankreich mit großem Interesse an der Ästhetisierung einer modernen Industriegesellschaft quittiert wurde. Größeres Gewicht verschaffte Außenminister Joachim von Ribbentrop der auswärtigen Kulturpolitik dann Ende der dreißiger Jahre, im Gleichklang mit einer von anderen Staaten zu dieser Zeit administrativ betriebenen Herausstellung von Kultur als Demonstration nationaler Interessen. Das wurde vom 4

Diesem Aspekt widmete Hitler einen Großteil seiner Rede zur Eröffnung der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ im Haus der Kunst in München 1937.

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Krieg keineswegs unterbrochen, im Gegenteil. Angesichts der zunehmenden Marginalisierung der Diplomatie in einer Zeit einsamer Führerentschlüsse und brutaler Militäraktionen gegen Nachbarländer sah Ribbentrop in der auswärtigen Kulturpolitik eine Möglichkeit, sowohl gegenüber dem Militär als auch gegenüber seinem Intimfeind Goebbels einen wirksamen Beitrag zur Kriegsführung zu leisten, bei dem das Auswärtige Amt die eigentlich ihm vorbehaltenen Kontakte mit den anderen Ländern mit einem eigenen Netzwerk zurückzugewinnen suchte. In der gewaltigen Aufblähung des Personalbestandes seines Ministeriums schlug sich die aktive Bemühung um die neutralen und befreundeten Länder nieder, für die das Militär nicht oder kaum zuständig war. Hierbei kam neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit dem Kultur- und Wissenschaftsaustausch eine zentrale Rolle zu. In den besetzten Ländern bestimmten zumeist Militärverwaltungen mit ihren Propagandaabteilungen den Ton, doch überlappten sich dabei zivile Netzwerke, etwa der Deutschen Wissenschaftlichen Institute, mit dem militärischen bis hin zu einem von den Besetzten als grotesk und ineffizient wahrgenommenen administrativen Wirrwarr. Dass der Gleichklang in der Erhöhung nationaler Kulturen den eigentlichen Internationalismus der dreißiger Jahre ausmacht, der den universell konzipierten, vom Völkerbund repräsentierten Internationalismus der zwanziger Jahre ablöste, gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen einer kritischen Einschätzung nationalsozialistischer Kulturpolitik im übernationalen Rahmen.5 Wie sehr das in Deutschland selbst reflektiert, ja als Kriterium nationalsozialistischer ‚Ausstrahlung‘ besonders im Osten und Südosten Europas herausgearbeitet wurde, kann im Folgenden nur angedeutet werden. In jedem Falle muss hier bereits erwähnt werden, dass die Verantwortlichen diese Formen der Renationalisierung und Ethnifizierung von Kultur als eine Basis auswärtiger Kulturpolitik verstanden, die allen Regierungen zu dieser Zeit gemeinsam war. Die deutsche Variante wurde je nach Nähe zu Hitlers Antisemitismus voll oder verdeckt als Rassismus definiert, der eine messianische Selbsterhöhung gegenüber anderen Kulturen – die man zunächst durchaus als solche gelten ließ – ermöglichte. In relativ sachlicher Form fasste Herbert Scurla, der führende, im Reichserziehungsministerium arbeitende Theoretiker auswärtiger Kulturpolitik, die Tendenz zur Aufwertung von Kultur und Kulturpolitik in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in einem grundsätzlichen Aufsatz 1939 zusammen. Wie üblich in Defensivrhetorik gekleidet (Deutschland müsse sich an der „dritten Front“ gegen die westliche Kulturoffensive verteidigen6), konstatierte Scurla 5 6

Iriye, Cultural Internationalism and World Order, 91–130. Herbert Scurla, Die Dritte Front. Geistige Grundlagen des Propagandakrieges der Westmächte. Ber� lin: Stubenrauch, 1940, bes. 81–87.

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einen von dieser Tendenz bedingten Strukturwandel auswärtiger Kulturpolitik bei den drei „Großmächten westlich-demokratischer Prägung“. Ihm müsse das Reich begegnen. Das faschistische Italien sei dem schon vorausgegangen. „Vor allem die beiden angelsächsischen Demokratien“, schrieb Scurla, „haben die ‚liberale Methode‘ der auswärtigen Kulturpolitik, die nahezu völlige Ausschaltung des Staates bei der Entwicklung der zwischenstaatlichen kulturellen Beziehungen, mit einem konzentrierten Einsatz staatlichen Gestaltungswillens vertauscht, wie ihn außer diesen Ländern nur noch Frankreich kennt.“7 Um dieser Herausforderung zu begegnen, plädierte Scurla überraschenderweise nicht für einen Ausbau auf staatlicher Ebene, wie er sich „in liberal-demokratischen Staatsgebilden“ vollziehen müsse, solle sich der „Wille der Staatsführung“ durchsetzen. Vielmehr argumentierte er, dass dieser Ausbau in einem autoritären Staat „mit gleichem Erfolg, ja vielleicht mit größerer Anpassungsfähigkeit an sich verändernde kulturpolitische Lagen, in Einrichtungen halbamtlichen Charakters geschehen“ könne.8 Inwiefern Scurla in dieser Argumentation die ohnehin dezentralisierten Traditionen deutscher Kulturpolitik reflektierte oder – was eher wahrscheinlich ist – bereits die polykratische, um nicht zu sagen chaotische Handhabung politischer Verantwortung im Nationalsozialismus im Auge hatte, mag hier offenbleiben. Gewiss ist, dass Großbritannien 1935 mit der Gründung des British Council und die Vereinigten Staaten 1938 mit der Einrichtung der Division of Cultural Relations im Außenministerium in diesem Bereich eine Zentralisierung vornahmen und Frankreich, das seit Langem die Verwaltung auswärtiger Kulturpolitik im Außenministerium zentralisiert, allerdings kaum erweitert und modernisiert hatte, 1937/38 erhöhte Budgetmittel für die Expansion auswärtiger Kulturpolitik einsetzte. Am Quai d’Orsey entstand ein Conseil Supérieur de la Propagande in Zusammenarbeit mit dem Service des Oeuvres Françaises à l’Etranger.9 Während sich die Verantwortlichen in Deutschland am ehesten an die erfolgreichen Aktivitäten von Mussolinis Italien anlehnten, das als gemeinsame Behörde mehrerer Ministerien unter Führung des Außenministeriums 1938 das Istituto Nazionale per le Relazioni Culturali con l’Estero schuf, richteten sich japanische Kulturpolitiker am stärksten an der deutschen Vorstellung vom einmaligen Geist jedes Volkes aus, der in der Kultur seine Substanz und Repräsentation finde. Mit der Gründung des Kokusai Bunka 7 8 9

Herbert Scurla, Strukturwandel der auswärtigen Kulturpolitik?, in: Jahrbuch der Hochschule für Politik 1939, 163–180, hier 177. Ebd., 178. Eine prägnante Zusammenstellung dieser Entwicklungen bei Ruth Emily McMurry und Muna Lee, The Cultural Approach. Another Way in International Relations. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1947.

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Shinkokai, der Gesellschaft für Internationale Kulturbeziehungen, schuf Japan eine Zentrale für die zugleich mit dem militärischen Überfall auf die Mandschurei und China unternommene Kulturoffensive. In seiner Erklärung vom 3. November 1938 über die Errichtung einer neuen Ordnung in Ostasien betonte Premierminister Konoe Fumimaro die Bedeutung von Kultur für diese Ordnung – keineswegs im Sinne einer internationalen Zivilisation, sondern als Auferlegung nationaler japanischer Kultur in den besetzten Gebieten.10 Francos Spanien baute noch während des Bürgerkrieges seine kulturelle Außendarstellung aus, die sich neben Deutschland besonders auf Lateinamerika konzentrierte. Das schloss an die seit Langem mit Deutschland gepflegten Kontakte an, für welche zwischen 1930 und 1945 die Deutsch-Spanische Gesellschaft in Berlin den Motor darstellte.11 Spanien, das im Ersten Weltkrieg neutral geblieben war, übte auf das nationalsozialistische Regime als Partner und Empfänger deutscher technologischer und wissenschaftlicher Projekte eine besondere Anziehungskraft aus. Allerdings demonstrierte die Erprobung deutscher Bombentechnik bei der Zerstörung des spanischen Ortes Guernica 1936 der Welt, dass sich das Franco-Regime damit keineswegs nur Kultur einhandelte. Selbst die Sowjetunion, die mit der Komintern und der Förderung der Volksfront 1935/36 dem Internationalismus eine überaus wirksame Rolle im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus verschafft hatte, wurde von Stalin zunehmend dem Denken im Rahmen eines kulturellen Nationalismus untergeordnet.12 Zu der Zeit, da geopolitisch und fremdenfeindlich ausgerichtete Sichtweisen im Lande zunehmend gefördert wurde, fielen den Stalin’schen Säuberungen unter anderem mehr als ein Viertel der Kominternführer verschiedener Nationalitäten zum Opfer. Bisher ist über diesen der Nationalisierung und Ethnifizierung verpflichteten Strukturwandel der auswärtigen Kulturpolitik in den dreißiger Jahren wenig im internationalen Zusammenhang geforscht worden. Zumeist hat der undifferenziert theoretische Gebrauch des Begriffs Faschismus einer solchen akteurs- und institutionsbasierten Agenda im Wege gestanden. Sie verabsolutiert die Überlegungen von Walter Benjamin, der Mussolini, Futurismus und Faschismus als exemplarisch verstand, während Antonio Gramsci deren Be10 Iriye, Cultural Internationalism and World Order, 119–123. Als Beispiel für die Ausrichtung an nationalsozialistischen Kultur- und Freizeitorganisationen (die zunächst von Italien geprägt wurden): Daisuke Tano, „Achse der Freizeit“. Der Weltkongreß für Freizeit und Erholung 1936 und Japans Blick auf Deutschland, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), 709–729. 11 Maricio Janué i Miret, Imperialismus durch auswärtige Kulturpolitik. Die Deutsch-Spanische Gesell� schaft als „zwischenstaatlicher Verband“ unter dem Nationalsozialismus, in: German Studies Review 31 (2008), 109–132. 12 Iriye, Cultural Internationalism and World Order, 97 f.

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dingtheiten wesentlich kritischer einzuschätzen wusste und mit seiner kulturalistischen Begründung von Hegemonie entscheidende Einsichten über den ‚Aufstieg‘ von Kultur und Kulturpolitik lieferte (Gefängnishefte, darin „Die Intellektuellen und die Organisation der Kultur“). Damit ist zugleich die enorme Rolle der Kulturpolitik bei allen Kriegführenden in dem Weltkonflikt der vierziger Jahre unterschätzt und unterbelichtet geblieben, die ja keineswegs mit 1945 abflaute, sondern sich mit nur begrenzten Zielveränderungen im Kalten Krieg fortgesetzt hat. Vorläufig kann dies nur als der Horizont skizziert werden, innerhalb dessen die einzelnen Staaten Kultur und kulturelle Politik zum Machtmittel erhöhten, das mit dem Krieg Auswärtiges wie Internes in tausenderlei politischen, militärischen und administrativen Schattierungen zu bewegen und zu beeinflussen suchte. Dass dieser ‚Einsatz‘ von Kultur oft zur Propaganda geriet, steht eindeutig fest, unterstellt ihn aber keineswegs von vornherein der Propaganda gemäß der Definition als öffentlicher Meinungsmanipulation bzw. als Sozialtechnik zur Stabilisierung oder Agitierung einer Gesellschaft.13 Wie noch zu sehen sein wird, ging es bei der Mobilisierung kultureller Formen und Inhalte, mit denen die verschiedenen Nationen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges sogar den Krieg selbst rechtfertigten, nach 1939 oftmals gerade darum, nicht Propaganda zu betreiben. Anders als zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als die von Intellektuellen und Politikern beschworene Verteidigung der jeweiligen Kultur zu einer Art Ersatz für Propaganda degenerierte, wurde nach 1939 der Bereich Kultur mit Vorliebe als Wertrefugium jenseits von Propaganda gehandelt und damit zweifellos als ein besonders raffiniertes Destillat von Propaganda mobilisiert, das bereits dem „Niedergang der Deutungsmacht“ Propaganda Rechnung trug. Innerhalb von Hitlers Machtbereich intensivierte sich dieser Niedergang mit zunehmender Diskrepanz zwischen der Realität der Bombardierung deutscher Städte und der offiziellen Propaganda.14 Bezeichnend, dass sich damit die Berufung auf Kultur – bald als Einsatz für die europäische, nicht nur die deutsche Kultur – keineswegs nur auf propagandistische Rhetorik beschränkte, sondern 13 Über die Probleme, zu einer ‚einwandfreien‘ Definition von Propaganda zu gelangen, und die Not� wendigkeiten, sich mit Annäherungen in jeweiliger geschichtlicher Abhängigkeit zu begnügen, siehe Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen� schaften, 2005. Als Beispiel für eine solche Annäherung: Wolfgang Schieder und Christof Dipper, Propaganda, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.  5, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1984, 69–112. 14 Aristotle A. Kallis, Der Niedergang der Deutungsmacht. Nationalsozialistische Propaganda im Kriegsverlauf, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 9/2: Die deutsche Kriegsge� sellschaft 1939 bis 1945, hg. von Jörg Echternkamp. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2005, 203–250.

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im finanziellen und personellen Ausbau von Kulturveranstaltungen, in der Theater‑, Buch- und Musikbetreuung, in Wissenschaftsprojekten und ‑instituten weit über nationale Grenzen hinweg Mitarbeit und Anerkennung zu erwirken suchte. So konnte sich Ribbentrop zugutehalten, auf diesem Gebiet tatsächlich einen Beitrag zur Kriegsführung des Deutschen Reiches zu leisten. Gerade als sich das Scheitern der deutschen Expansion abzeichnete, erschien ihm das 1940 etablierte Netz von Kulturinstituten in den europäischen Hauptstädten unentbehrlich (ebenso wie vielen seiner Akteure, für welche diese Form der Kulturarbeit Wehrunabkömmlichkeit bedeutete). Nach den Gründungen verschiedener Deutscher Wissenschaftlicher Institute zwischen 1941 und 1943 wurde noch 1944 in Mailand ein solches Institut eingeweiht. Man rechtfertigte die personalaufwendige Fortsetzung der Sprach- und Kulturarbeit der Institute mit der Begründung, dass das Reich mit dieser Demonstration als Kulturmacht am ehesten seine Stärke und Unüberwindbarkeit erweise. Dass man der Berufung auf Kultur und eine aktive Kulturpolitik selbst noch in der Schlussphase des Krieges Gewicht beimaß, in dessen Verlauf Hitlers Militärmaschine die Ausrottung ganzer Kulturen im Osten verfolgte, wird ausführlich von der internen Grundsatzdarstellung belegt, die Otto Langmann, der Leiter des Referats „Allgemeine Fragen der deutschen und ausländischen Kulturpolitik“ im Auswärtigen Amt, im September 1944 anfertigte. Langmann konstatierte, dass das Ausland angesichts der für Deutschland militärisch „ungünstig erscheinenden Lage“ vielfach „jede politische Berührung“ scheue, „dass aber über die Kulturpolitik politische Einflußnahme möglich erscheint.“ Er fügte – in makabrer Abwandlung von Stresemanns Fazit von 1929 – an: „Es ist zweifellos richtig, dass eine wirklich erfolgreiche Kulturpolitik nur im Licht machtpolitischer Erfolge getrieben werden kann. Ebenso richtig bleibt aber, dass man mit kulturpolitischen Mitteln schwache Episoden vorübergehend überbrücken kann und vor allem das Verständnis für die eigentlichen Wesensfragen des europäischen Kontinents, aus denen in heutiger Zeit politische Entscheidungen wachsen müssen, wecken.“15 So ungebrochen, um nicht zu sagen zynisch war die Vertrauenserklärung an die politische Macht von Kulturarbeit, dass man ihr in der Kulturabteilung zutraute, bei den Neutralen die Schwäche der deutschen Kriegführung überdecken zu können, eine Wunderwaffe der eigenen Art. Ihr Sirenenton muss den Präsidenten der Deutschen Wissenschaftlichen Institute, die laut Protokoll am 18. Dezember 1944 zu einer Tagung in Berlin zusammenkamen, kaum weniger schrill als die Luftschutzsirenen in den Ohren geklungen haben, als sie über Weiterführung bzw. Auslagerung ihrer 15 Gesandter Langmann, Aufzeichnung über die Kulturpolitische Abteilung des AA (29.9.1944), 3 (Politisches Archiv des AA, Kult Pol Gen I 80/45, R 60657).

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gefährdeten Institute berieten. In seiner faszinierend breiten und niederschmetternd endgültigen Litanei vom Rückzug deutscher Kulturarbeit aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Serbien, Griechenland, Slowakei, Albanien, Kroatien, Dänemark, Schweden, Finnland, Belgien und Frankreich bietet das Protokoll dieser Tagung ein authentisches Dokument für den gewaltigen Umfang der deutschen Kulturoffensive, die ab 1939 die militärische Expansion begleitet hat. Bezeichnend für ihren Geist ist nicht das offene Eingeständnis der Niederlage (was von SS-Brigadeführer Franz Alfred Six, der die Kulturabteilung des Amts ab 1943 leitete, auch nicht toleriert worden wäre), sondern die Beschwerde, zu sehr an die Propaganda gekettet worden zu sein. Karl Epting, der prominente und erfolgreiche Leiter des Deutschen Instituts in Paris, in dem mehrere Jahre lang ein Großteil der französischen intellektuellen Prominenz aus und ein gegangen war, schloss mit den Worten: „Selbst mit den besten Mitteln und besten Mitarbeitern ist es auf die Dauer nicht möglich, eine Propaganda zu betreiben, die der Politik entgegenläuft. Es sollte mehr Kulturpolitik als Kulturpropaganda betrieben werden.“16

Kultur als Instrument bei der Staats(neu)gründung Hitlers Verkündung der rassischen Wurzel großer Kunst und sein Fanatismus in der antijüdischen Definition der deutschen Kultur hat die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft ebenso begleitet wie das Festhalten des Auswärtigen Amtes und anderer Institutionen an den Kontinuitäten einer von Spezialisten organisierten Kulturarbeit, die mit dem Wirken anderer Länder auf diesem Gebiet, etwa dem des faschistischen Italiens unter dem kulturpolitisch engagierten Mussolini, konkurrierte. Hitler war sich durchaus dessen bewusst, welchen Wert die Projektion von Kontinuitäten in Kunst und Wissenschaft besaß. Selbst im Krieg, den er ohne jede Rücksichtnahme zur Zerstörung gegnerischer Kulturen einsetzte, hatte die Bezugnahme auf Kultur ihre Funktion: als Kommunikationsform mit den Verbündeten Italien und Japan, neutralen Staaten wie Schweden und Spanien, vor allem als Manifestation eigener Stärke für den Brückenschlag zur Kollaboration in Frankreich und anderen besetzten Ländern sowie verbündeten Staaten wie Ungarn, Slowakei, Kroatien, Rumänien und Bulgarien, die von Deutschland abhängig waren. Gerade in der Anfangsphase des Regimes, als marschierende SA-Einheiten als Schlägera16 Niederschrift über die Tagung der Präsidenten der Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Aus� land am 18.  Dezember 1944 (2.1.1944, muss heißen 1945), 6. (Politisches Archiv des AA, Kult Pol. U 180, R 64 302).

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vantgarde eines vom Reichspräsidenten ernannten Kanzlers Terror verbreiteten und Revolution mit dem Schlagstock inszenierten, war Hitler an der Kooperation mit dem Auswärtigen Amt interessiert. Zu der Zeit, da er mit dem frisch ernannten Propagandaminister Joseph Goebbels gegen die Repräsentanten des Weimarer Staates, gegen Kommunisten, Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Juden einen blutigen Feldzug führte, mussten Diplomaten ihre Kunst des Abwiegelns, Bemäntelns, Beschönigens einem zunehmend beunruhigten Ausland gegenüber unter Beweis stellen.17 Während sie abwiegelten, demonstrierten die Mittlerorganisationen, insbesondere der Deutsche Akademische Austauschdienst unter Adolf Morsbach und die Deutsche Akademie unter Franz Thierfelder, in ihrer praktischen Kontaktarbeit mit ausländischen Organisationen und Universitäten ohne große Abstriche Kontinuität. Ohnehin hatten sie bereits in ihrer Ausrichtung am nationalen Aufbruch die demokratische und internationale Agenda so sehr verdünnt, dass das Begegnungskonzept für die Rhetorik der völkischen Erneuerung bald genügend Platz aufwies. Trotz ihrer Selbstgleichschaltung beriefen sich diese Organisationen auf die Legitimität zwischennationaler Kulturarbeit, die nach 1930 angesichts der Kriegsdrohungen eine besondere Dynamik entwickelt hatte und ihnen nun gestattete, sich dem Ausland als Mittler kultureller Werte, nicht nur als Handlanger eines Staates darzustellen. Dass die Beschwichtigung empörter Auslandsreaktionen in dieser Phase der nationalsozialistischen „Revolution“ besser vom Auswärtigen Amt als von den parteieigenen Propagandisten betrieben wurde, machte im Frühjahr 1933 der Besuch des Chefideologen der NSDAP, Alfred Rosenberg, in London deutlich. Rosenberg, in der Partei als der Experte für Außenpolitik tituliert, demonstrierte sein Expertentum mit einer exzessiven Darbietung von Taktlosigkeit. Er ließ jegliche Rücksicht auf die Stimmung des Gastlandes vermissen, als er am Mahnmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges einen Kranz mit Hakenkreuz niederlegte.18 Die britische Öffentlichkeit reagierte so heftig auf diesen und andere Vorstöße, dass der deutsche Botschafter Leopold von Hoesch im Sommer Berlin dringend bat, von weiteren Propagandaaktionen abzusehen. Rosenberg konnte damit dem von Hitler hofierten Konstantin Freiherr von Neurath das Amt des Außenministers nicht abspenstig machen. Ohnehin stand das Amt bis zum Tode des Reichspräsidenten Hindenburg 1934 unter dessen Oberaufsicht. Zwar misstraute Hitler dem Auswärtigen Amt und seinen elitä17 Peter Krüger, „Man läßt sein Land nicht im Stich, weil es eine schlechte Regierung hat“. Die Di� plomaten und die Eskalation der Gewalt, in: Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, hg. von Martin Broszat und Klaus Schwabe. München: Beck, 1989, 180–223. 18 Angela Schwarz, Die Reise ins Dritte Reich. Britische Augenzeugen im nationalsozialistischen Deutschland (1933–1939). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993, 77.

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ren, bürokratischen Ritualen, aber er wusste, dass die Partei für diplomatische Kontakte mit dem Ausland keinerlei Personal zur Verfügung hatte. Das verschaffte sowohl dem Amt als auch den Botschaftern und Konsuln eine gewisse Bewegungsfreiheit, stellte sie aber auch vor gewaltige Probleme, wenn sie die Rechtsbrüche des Regimes ab Februar 1933 dem Ausland erklären wollten, ohne sich selbst als Verhandlungspartner zu kompromittieren. Es spricht kaum für das moralische Rückgrat der Vertreter des Amtes, dass sich in dieser Gewissensentscheidung nur ein einziger Spitzendiplomat dazu entschloss, dem nun nationalsozialistisch geführten Staat den Dienst aufzusagen. Der deutsche Botschafter in Washington, Friedrich von Prittwitz und Gaffron, erläuterte am 11. März 1933 seinem Dienstherrn Konstantin von Neurath, mit dem er in der Botschaft in Rom bis 1927 erfolgreich zusammengearbeitet hatte: „Meine bescheidene Mitarbeit an dem politischen Wiederaufbau der letzten Jahre hat sich daher stets in einem Geiste vollzogen, der nach Ansicht führender Mitglieder der jetzigen Reichsregierung zu verurteilen ist. Sowohl aus Gründen des persönlichen Anstandes wie solchen der sachlichen Aufgaben kann ich daher hier nicht mehr mit Erfolg wirken.“ Der Geist, in dem Prittwitz höchst erfolgreich die deutsch-amerikanische Wiederannäherung zwischen 1927 und 1933 betrieben hatte, war der der Demokratie. In einem Artikel in der New York Herald Tribune ließ er die amerikanischen Leser in gemessener Weise wissen, was das für einen deutschen Diplomaten bedeutete. Auf seinen Wunsch hin wählte die Zeitung den Titel: „Farewell to Diplomacy, by F. W. von Prittwitz und Gaffron, who, being out of sympathy with the Hitler regime, retires today as Ambassador to the United States.“19 Der Beschwichtigungskurs der Kollegen im Amt lief unter dem Motto, man bleibe, um Schlimmeres zu verhüten. Was das an Kompromissen mit sich brachte, zumal wenn man bis zum Kriegsende auf dem Posten blieb, hat dem Gedanken der Kontinuität nicht zuletzt deshalb so viel Schaden zugefügt, als er nach 1945 noch ein Nachspiel erlebte: Der öffentlich vertretene Bruch mit dem auswärtigen Dienst des Nationalsozialismus wurde von personalpolitischen Kontinuitäten unterlaufen, als auch Beamte, die sich in ihrem Kompromiss mit Partei‑, SS- und Militäreinheiten in die Vernichtungspolitik gegen Juden, Polen und andere Völker verwickelt hatten, im neuen Auswärtigen Amt der Bundesrepublik wieder Aufstiegschancen

19 Günter Moltmann, Ein Botschafter tritt zurück. Friedrich von Prittwitz und Gaffron, Washington 6. März 1933, in: Liberalitas. Festschrift für Erich Angermann, hg. von Norbert Finzsch und Her� mann Wellenreuther. Stuttgart: Steiner, 1992, 367–386, hier 367, 371; Michael Wala, Weimar und Amerika. Botschafter Friedrich von Prittwitz und Gaffron und die deutsch-amerikanischen Bezie� hungen von 1927 bis 1933. Stuttgart: Steiner, 2001.

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genossen.20 Dass Bundeskanzler Konrad Adenauer 1950 ausgerechnet Fritz von Twardowski, den Leiter der Kulturpolitischen Abteilung, der 1937–1943 zunächst unter Neurath, nach dessen Ablösung 1938 unter Ribbentrop die aggressive Kulturpolitik im Europa des Zweiten Weltkrieges verantwortete, zum Leiter der Auslandsabteilung im Presseamt der neuen Bundesregierung machte, mochte wiederum dem Mangel an geeignetem Personal für die Auslandsbeziehungen geschuldet sein, half jedoch kaum dabei, den behaupteten Neuanfang auf diesem Gebiet glaubwürdig zu machen. Neugründungen von deutschen Staaten hat es ja im 20. Jahrhundert mehrere gegeben, und jedes Mal kam der Handhabung von Kontinuitäten – und Brüchen – dem Ausland gegenüber eine Schlüsselrolle zu. Das geschah bei der Gründung der Weimarer Republik, als Verantwortliche in einigen Ministerien und Länderregierungen sich bemühten, zumindest im Bereich von Kunst, Kultur und Erziehung den Bruch mit dem Kaiserreich und dem kulturellen Kriegsnationalismus zu demonstrieren. Damit gewannen sie das Interesse zunächst im Osten, allerdings erst viel später im Westen Europas. Demgegenüber verwendete ein Großteil der politischen Eliten den Bruch – die Novemberrevolution – als Argument gegen die Republik und wurde erst durch Stresemanns Realismus dazu gebracht, den selbst gezimmerten Käfig nationaler Isolation halbwegs zu öffnen. Anders 1933, als Hitler den Staat der Novemberrevolution mit einer ‚wirklichen‘ Revolution austilgen wollte und zu diesem Behuf eine Terror- und Verfolgungskampagne organisierte, die den Käfig der Isolation gleich wieder schloss und dem Ausland einen Großteil von Weimars kulturellen und wissenschaftlichen Eliten direkt überantwortete. Gegen die Streiks und Straßenkämpfe von 1918/19 setzte Hitler von vornherein auf den Kulturbereich als wichtigen Ort der Transformation, ohne dass er dafür geeignete Träger oder Konzepte zur Verfügung hatte; sein einziges Konzept zur Verwirklichung einer wahrhaften deutschen Kultur, das kein künstlerisches Personal erforderte, war sein Rassismus, seine Ausschaltung der Juden sowie prominenter Träger republikanischer Kultur. Was Richard Wagner, dem antisemitischen Verkünder einer ästhetischen Volksgemeinschaft, bei Bismarcks Staatsgründung nicht geglückt war, setzte er posthum bei seinem eifrigen Bewunderer Adolf Hitler in Bewegung: sich als Künstler so in die Staatsgründung einbringen, dass er der gemeinsamen Willens- und Bedarfsausrichtung des Volkes die Richtung wies.21 Neben Wagners 20 Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München: Blessing, 2010. Fritz von Twardowski wird ohne belastende Information erwähnt. 21 Arne Fryksén, Hitlers Reden zur Kultur. Kunstpolitische Taktik oder Ideologie? In: Probleme deut� scher Zeitgeschichte (= Lund Studies in International History 2). Läromedelsförlagen 1970, 235–266.

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musikalischer stellte Hitler eine akustisch-rhetorische Partizipation für das Volk bereit. Kein Wunder, dass Thomas Mann, der Wagner-Verehrer, selbst im Verhängnis des Exils 1938 diese Züge Hitlers im Sinne des Wagner’schen Künstlertums interpretierte und damit einen Teil der erwähnten Widersprüche auf den Nenner brachte, etwa wenn er als Antrieb „eine dumpfe Ahnung“ benannte, „vorbehalten zu sein für etwas ganz Unbestimmbares, bei dessen Nennung, wenn es zu nennen wäre, die Menschen in Gelächter ausbrechen würden. Dazu das schlechte Gewissen, das Schuldgefühl, die Wut auf die Welt, der revolutionäre Instinkt, die unterbewußte Ansammlung explosiver Kompensationswünsche, das zäh arbeitende Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, zu beweisen, der Drang zur Überwältigung, Unterwerfung, der Traum, eine in Angst, Liebe, Bewunderung, Scham vergehende Welt zu den Füßen des einst Verschmähten zu sehen […].“22 Ein schwedischer Kritiker fühlte sich bemüßigt, Wagner gegen eine allzu enge Zuordnung zu Hitler in Schutz zu nehmen, wenn er feststellte: „Die Identifikation: der Künstler–das Volk findet sich in Wagners wie in Hitlers Gedankengängen; ein wichtiger Unterschied aber besteht darin, dass Wagners Künstler mit dem Volk als einer kulturellen Gemeinschaft identifiziert wird, Hitlers künstlerisches Genie dagegen mit dem Volk als einer Rassengemeinschaft.“23 Ob Hitlers rassistischer Künstlerentwurf das geeignete Mittel war, den Bruch mit der modernistischen, zunehmend international ausgerichteten Kultur der Weimarer Republik im Alltag der Industriegesellschaft glaubhaft zu machen, geschweige denn als Grundlage der Identifikation deutscher Kultur mit der des nationalsozialistischen Staates zu dekretieren, wurde angesichts der Konsumentenhaltung des viel beschworenen Volkes bereits in den dreißiger Jahren bezweifelt. Unterhalb der Sphäre hoher Repräsentationskunst, die wie einst bei Wilhelm II. von Hitlers Herrscherallüren sowohl bei Gemälden und Skulpturen als auch bei der Tendenz zur Monumentalarchitektur geprägt wurde, unterschieden sich Reklame‑, Design‑, Städtebau- und Architekturtendenzen kaum von vergleichbaren Entwicklungen in anderen Ländern. Umso mehr insistierte Hitler darauf, die Reinigung der deutschen (hohen) Kunst mit der konstanten Attacke gegen Juden und Bolschewisten zu codieren, wie es 1937 exemplarisch im Nebeneinander der „Großen Deutschen Kunstausstel22 Thomas Mann, Bruder Hitler, zit. nach „Bruder Hitler“ (Thomas Mann). Autoren des Exils und des Widerstands sehen den „Führer“ des Dritten Reiches, hg. von Thomas Koebner. München: Heyne, 1989, 24–31, hier 27. 23 Fryksén, Hitlers Reden zur Kultur, 258. Über die „Integrierung der Funktion des Führers ins Zeremoniell als Ganzes“ s. George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich. Frankfurt/Berlin: Ullstein, 1975, 232–238.

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lung“ und der wenige Straßen entfernten Ausstellung „Entartete Kunst“ in München geschah. Dazu gehörte, dass Hitler im selben Jahr die von Alfred Rosenberg „germanisch“ begründete Vereinseitigung nationalsozialistischer Gesinnung auf einen Kult untersagte und Thingspiele und dergleichen kultische Spektakel mit Spott bedachte. Dazu gehörte jedoch auch, dass Hitler die Kontrolle öffentlicher Kunst und Kultur nicht pauschal Rosenbergs Intimfeind Goebbels und dessen Propagandaministerium unterstellte. Er ließ Goebbels auf Parteitagen niemals über Kultur sprechen. Diese Aussagen behielt er sich selbst vor, in einer das Publikum zermürbenden Besessenheit für „das Höhere“. Dagegen löste sich Goebbels, unter den vagen Anweisungen Hitlers in seinem Organisationseifer ungebremst, nie von seiner verdrängten Gier nach internationaler Anerkennung, die ihm und seinem Meister in den propagandistischen Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre, zumal mit dem Kommunismus, durchaus Erfolge bescherte. Zunächst war es seinem geschmacklichen Eklektizismus und machtpolitischen Opportunismus zu verdanken, dass auch expressionistische Kunst in den Anfangsjahren zur Auslandsrepräsentation des Reiches genutzt oder zumindest toleriert wurde.24 Seine Speisezimmer zierten Aquarelle von Emil Nolde, dem Sympathisanten des Nationalsozialismus. Als Hitler diese bei einem Essen entdeckte, war er ungehalten. Hitlers Polemik gegen die Moderne 1937 machte die Ablehnung offiziell. Danach nahm Goebbels die Vorbereitung der Ausstellung „Entartete Kunst“ besonders dienst­ eifrig in Angriff und intensivierte die Pflege traditionell deutscher Kultur in Theater, Dichtung, Festspielen und Schule. Goebbels gab auch der schändlichsten Aktion der Kulturbarbarei, der von der nationalsozialistischen Studentenschaft am 10. Mai in Universitätsstädten organisierten Bücherverbrennung – wenn auch nicht uneingeschränkt – die offizielle Sanktion, als er auf dem Berliner Opernplatz das Wort ergriff und sie als Reinigung vom Schmutz der jüdischen Asphaltliteratur feierte. Die umjohlte Aktion der Verbrennung der Werke jüdischer und linker Autoren, die vom Rundfunk übertragen wurde, hatte, zusammen mit der Flucht oder Verhaftung namhafter, häufig jüdischer Vertreter republikanischer Politik und Kultur, einen Schockeffekt, der keineswegs einer Entgleisung entsprang, wie es manche Diplomaten in ihren Verlautbarungen hinzustellen versuchten, sondern den von Hitler in aller Brutalität gewollten Bruch mit der Weimarer Republik signalisierte. Die Umcodierung von Gewalteinsatz und Barbarei – hier als „revolutionärer Befreiungsschlag“ der jungen Generation – war bei dem alle Welt 24 Christian Saehrendt, „Die Brücke“ zwischen Staatskunst und Verfemung. Expressionistische Kunst als Politikum in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und im Kalten Krieg. Stuttgart: Steiner, 2005, 46–80.

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schockierenden Judenboykott am 1.  April von Goebbels noch diabolischer vorgenommen worden: Er erklärte den Boykott zu einer Verteidigungs- und Strafmaßnahme gegen die Gräuelpropaganda der Juden im Ausland, die sich gegen den nationalen Aufbruch des deutschen Volkes richte.25 Zwar kam es Hitler darauf an, in den Beziehungen zum Ausland Kontinuitäten zu wahren, und er vermied es, sich selbst in Zusammenhang mit diesen Aktionen in der Öffentlichkeit zu zeigen, doch bildeten sie ein zentrales Element seiner Inszenierung des historischen Bruchs. Sie zielten vor allem anderen darauf, seiner Machtübernahme, die er der prosaischen, halb erpressten Entscheidung des senilen Reichspräsidenten Hindenburg verdankte, die Aura revolutionärer Gewalt zu verleihen. Der nationalkonservative Danziger Senatspräsident Hermann Rauschning, der sich mit erfundenen Gesprächen mit Hitler eine Zeit lang an die Spitze der im Ausland erfolgreichen Hitler-Interpreten setzte, hat dort, wo er Hitlers Vorgehen gleichsam als Insider analysierte, zu dessen politischer Taktik einige wichtige Einsichten geliefert. So im Hinblick auf den von aller Welt mit Schrecken wahrgenommenen Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund im Herbst 1933, mit dem „nicht so sehr ein kluger, politischer Schachzug gemeint war“: „Damit wurde vielmehr der revolutionäre Akt beabsichtigt, der ein für allemal Deutschland aus den bisherigen Ordnungselementen herausriß, und gerade die revolutionäre Erschütterung, deren Auswirkung und Richtung gar nicht abzuschätzen war, ist der eigentliche Sinn des Ereignisses; der Beginn des revolutionären Dynamismus.“ Rauschning erfasste damit den Kern der brutalen Aktionen, der dem in Deutschland zirkulierenden Wort entsprach, dass der Nationalsozialismus die Gewalt schaffe, vor der er die Bevölkerung zu bewahren vorgebe, setzte jedoch seine Sonde noch genauer an, wenn er feststellte: „Die große Gefahr des Nationalsozialismus war eine frühzeitige Reifung gemäßigter nationaler Wünsche. Damit wurde er selbst überflüssig. Seine Führung mußte die Nation auf ein Meer unabsehbarer revolutionärer Wellen hinausreißen, um sich selbst behaupten zu können.“26 Das traf auch im Bereich der Kultur zu, wo die NSDAP bei der Machtübernahme außer Hitlers wohlbekanntem Judenhass und Rosenbergs antisemitisch-kämpferischer Wiederbelebung des Kulturzerstörungsdiskurses im Kampfbund für deutsche Kultur kein Programm anzubieten hatte.27 Umso wichtiger wurde die 25 Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit, 29. 26 Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus, neu hg. von Golo Mann. Zürich: Europa, 1964, 283. 27 Der von Walter Oehme und Kurt Caro verfasste, gut recherchierte und 1931 im Rowohlt Verlag Ber� lin erschienene Band Kommt ‚Das Dritte Reich‘? brachte ein effektvolles Zeugnis für das Fehlen eines Kulturprogramms der NSDAP: Das 7.  Kapitel trägt den Titel „Das Kulturprogramm des Dritten Reiches“, gefolgt von einer Leerseite mit dem einzigen Wort „Fehlanzeige!“ (86).

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nie abreißende Kampfrhetorik, die jedes Werk der ‚höheren‘ Kultur, so trivial oder mittelmäßig es war, als eine dem jüdisch-marxistisch-demokratisch-internationalen Feind entgegengestellte völkische Schöpfung nobilitierte. Hierin lag letztlich auch der Sinn von Hitlers eingangs zitiertem Wort, dass es ihm, wo es um die Schöpfungen der deutschen Kunst gehe, um die Reaktion des eigenen Volkes, nicht des Auslandes ankomme. Allerdings musste er, um diese Reaktion in seinem Sinne zu lenken, auf einem Meer der Indifferenz beständig Abgründe und Springfluten heraufbeschwören. Dazu gehörte die Kampfrhetorik gegen Juden und Emigranten. Diese Polemik ließ er nur einmal, während der Olympiade in Berlin 1936, einschränken. Angesichts der Härte der Verfolgungsmaßnahmen, die 1933/34 bereits einen Höhepunkt erreichten und zum Boykott deutscher Waren im Ausland führten, wandelte sich der Aufgabenbereich der deutschen Auslandsmissionen und Kontaktorganisationen, insofern sie sich plötzlich aufgerufen fühlten, den Nationalsozialismus und seine „Revolution“ zu erklären, in den Auslandsvertretungen zugleich aber auch Informationen über die geflohenen Reichsbürger zu beschaffen. Noch 1932 hatte Adolf Morsbach, der Leiter des DAAD und – mit Herbert Scurla – Herausgeber von Hochschule und Ausland, die Tatsache herausgestellt, dass diese Zeitschrift als Organ der „Deutschen Gesellschaft für geistige Zusammenarbeit“ fungiere. Noch Anfang 1933 hatte er der jüdischen Kollegin Margarete Rothbarth Gelegenheit gegeben, von der Gesellschaft im Sinne des Internationalismus des Völkerbundes zu berichten.28 Kurz darauf verlor der ‚bloße‘ Internationalismus seine Referenzqualität; es ging nun um Kulturbegegnungen, und diese zielten im Allgemeinen auf bilaterale Praktiken. Morsbach versicherte den „ausländischen Freunden“, man wolle die akademische Auslandsarbeit nicht nationalsozialistisch politisieren. Er wollte sichergehen, dass die Austauschstudenten – insgesamt, nicht zuletzt aus Devisenmangel, eine kleine Zahl zwischen 100 und 200 jährlich29 – nicht von vornherein als Sendboten oder Spione des Regimes abgestempelt wurden und damit den Partnerorganisationen Unannehmlichkeiten bereiteten. Wie es viele Kommentatoren in diesen Monaten taten, stellte Morsbach zunächst fest, „naturgemäß ist es schwer, einem Ausländer den Nationalsozialismus darzustellen“, bemühte sich dann aber doch intensiv um eine solche Darstellung. Dabei erhielt neben anderen Feststellungen die Kritik des jüdischen 28 Margarete Rothbarth, Geistige Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes. Münster: Aschen� dorff, 1931. Über das Institut und Rothbarth siehe Ute Lemke, Das Pariser Völkerbundinstitut für geistige Zusammenarbeit und die aus Deutschland geflüchteten Intellektuellen, in: Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 1933–1940. Berlin: Metropol, 2002, 51–59. 29 Volkhard Laitenberger, Der DAAD von seinen Anfängen bis 1945, in: Spuren in die Zukunft. DAAD 1925–2000, Bd. 1. Bonn: DAAD, 2000, 20–49, hier 43.

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Einflusses zentrales Gewicht: „Die kulturellen Wandlungen, die Deutschland durchmacht, und von denen wir Kunde zu geben haben, bestehen einstweilen im wesentlichen in der Freilegung und Ordnung unseres eigenen Wesens, das im letzten Jahrzehnt in erschreckendem Maße von Volksfremden und Vertretern der zivilisatorischen Zersetzung überdeckt war.“30 Ausführlicher war Scurla in Hochschule und Ausland in dem Beitrag „Die Judenfrage in Deutschland“ im Juni 1933. Er rechtfertigte die Behandlung der Juden vonseiten der Autoritäten als Konsequenz ihrer Gegensätzlichkeit zur deutschen Kultur und sprach von der jüdischen „Überfremdung in Staat, Politik, Wirtschaft und geistigem Leben“. Scurla formulierte einen Kernpunkt all dieser Beschwichtigungen: „Der Ausgangspunkt für alle Erscheinungen und Maßnahmen, die gegenwärtig die Juden betreffen, ist die Totalität des neuen Deutschland, nicht ein kleingeistiger, mißgünstiger oder gar pöbelhafter Judenhaß.“ Die Maßnahmen seien „keine isolierten Handlungen gegen das Judentum, sondern ein Teil der Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums“ sowie des Kampfes gegen die Überfüllung der Hochschulen und dergleichen mehr.31 Als wenig später auch Arnold Bergstraesser für die „deutsche Revolution“ und den „totalen Staat“ eintrat, ließ er allerdings jeden Bezug zu den Juden aus.32 Hochschule und Ausland, nach der Einstellung von Inter Nationes das wichtigste deutsche Publikationsforum internationaler Kulturbeziehungen, veröffentlichte den „Aufruf an die Gebildeten der ganzen Welt“, der bei der Kundgebung der deutschen Wissenschaft am 11. November 1933 in Leipzig von deutschen Gelehrten, darunter Martin Heidegger, Ferdinand Sauerbruch und Wilhelm Pinder, formuliert wurde und in den Satz mündete: „Aus dieser Überzeugung heraus richtet die deutsche Wissenschaft an die Gebildeten der ganzen Welt den Appell, dem Ringen des durch Adolf Hitler geeinten deutschen Volkes um Freiheit, Ehre, Recht und Frieden das gleiche Verständnis entgegenzubringen, welches sie für ihr eigenes Volk erwarten!“33 Anklänge an die Solidarisierung deutscher Wissenschaftler bei Kriegsausbruch 1914 waren unübersehbar, nur dass es sich 1933 um Solidarisierung mit der neuen Staatsführung, nicht dem Militär handelte. Anders als 1914 fehlte die volltönende Berufung auf die Höhe und Einmaligkeit der deutschen Kultur, während Wissenschaft, 30 Adolf Morsbach, Politisierung der akademischen Auslandsarbeit? In: Hochschule und Ausland 11:8 (1933), 3–5, hier 4. 31 Herbert Scurla, Die Judenfrage in Deutschland, in: Hochschule und Ausland 11:6 (1933), 8–28, hier 28. 32 Arnold Bergstraesser, Staat und Erziehung, in: Hochschule und Ausland 11:9 (1933), 6–10. 33 Kundgebung der deutschen Wissenschaft. Aufruf an die Gebildeten der ganzen Welt, in: Hochschule und Ausland 11:12 (1933), 1. Über die Hintergründe der Veranstaltung siehe Abelein, Die Kultur� politik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland, 133.

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gemäß der Selbstisolierung vieler ihrer Vertreter gegen die „Republik von Versailles“ und den Internationalismus, als „unlösbar verbunden mit der geistigen Art des Volkes“ gekennzeichnet wurde, „aus dem sie erwächst.“ Was einst dem Universalismus menschlicher Erkenntnisformen zugeschrieben worden war, definierten die Gelehrten nun aus dem „Zusammenwirken der volksgebundenen Wissenschaftspflege der einzelnen Völker“.34 Mit dieser Form der Ethnifizierung von Wissenschaft bemächtigte man sich ohne Zögern der in den zwanziger Jahren entwickelten Kulturkunde, um mit Hinweis auf den endlich wieder sichtbaren Wesenskern deutscher Kultur den völkischen Aufbruch der Nation zu rechtfertigen. Die Kulturkunde zielte nicht nur darauf, die jeweilige Andersartigkeit der Völker anzuerkennen, sondern legitimierte aus der Andersartigkeit auch den Anspruch, von anderen Völkern in seiner Besonderheit nicht beurteilt und kritisiert zu werden. Im Falle des nationalsozialistischen Deutschland stand diese Besonderheit unter dem Vorzeichen der Ausgrenzung der jüdischen Rasse. Wenn deutsche Gelehrte 1933 in Leipzig das Ausland aufforderten, der Andersartigkeit der deutschen Entwicklung mehr Verständnis entgegenzubringen, setzte das die Abwendung von den internationalen Normen des Zusammenlebens der Völker voraus, an denen man in den zwanziger Jahren, besonders nach Locarno, so intensiv gearbeitet hatte.35 Damit ergaben sich in der Folgezeit, als zahlreiche deutsche Wissenschaftler den völkischen Aufbruch für ihre Selbstgleichschaltung verinnerlichten, sogar Berührungspunkte mit Hitlers idiosynkratischer Konzeption einer rassischen Kultur: Abgeschirmt durch die Behauptung von der Eigenartigkeit jeder Kultur arbeitete man in Isolation, aber in scheinbarer Freiheit von aller Beurteilung von außen, die ohnehin dem Besonderen – nach Hitler „die feinfühligste Äußerung einer blutmäßig bedingten Veranlagung“ – nicht gerecht werden konnte. Zweifellos galt das nicht für alle Wissenschaftler. Eine große Anzahl suchte ihre seit Langem etablierten Beziehungen zu ausländischen Kollegen ohne politische Obertöne fortzusetzen. Die Verteidigung der nationalsozialistischen „Revolution“ aus dem „Wollen“ und der „Kultursubstanz“ des Volkes – die Rosenberg, Goebbels und Bernhard Rust in den Folgejahren mit einem riesigen Programm der Bezuschussung kultureller Arbeit aktivierten – hatte schon im Mai 1933 die Antwort bestimmt, in der nationalkonservative Schriftsteller wie Rudolf G. Binding und Wilhelm von Scholz gemeinsam mit dem französischen Konservativen Alfred Fabre34 Kundgebung der deutschen Wissenschaft. 35 Diese Wendung der Begegnungstheorie kennzeichnete auch das Denken im DAAD; s. die grund� sätzlich gemeinten Beiträge von Hans Georg Bodenstein, Im Kampf um deutsche Weltgeltung, in: Hochschule und Ausland 11:8, 1933, 6–12, und Herbert Scurla, Gedanken über das „Verstehen zwischen den Völkern“, in: ebd., 12:10, 1934, 1–11.

Kulturpolitik, Propaganda und das Erbe des Ersten Weltkrieges  |

Luce auf Romain Rollands offenen Brief an die Kölnische Zeitung eingingen. Der von der Kölnischen Zeitung veröffentlichte Briefwechsel, in dem bis auf die rüde Entgegnung Erwin Guido Kolbenheyers auf Rollands Anklage ein ziviler Ton herrschte, machte der europäischen Öffentlichkeit bereits eines deutlich: dass die 1871 und 1914 vorgenommene Auffassung von den zwei Deutschland, dem weltbürgerlich-humanitären und dem militaristisch-expansiven Deutschland, nun nicht nur vom Ausland behauptet, sondern auch von innerdeutschen Kulturrepräsentanten bejaht, ja befestigt wurde. Romain Rolland, der in und nach dem Ersten Weltkrieg als Anwalt der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland aufgetreten war und mutig gegen den Versailler Vertrag Stellung bezogen hatte, ging von der Anklage zu der Klage über, „dass dieses national-faschistische Deutschland der schlimmste Feind des wahren Deutschlands“ sei, und bekannte: „Ich werde, Ihnen zum Trotz und gegen Sie, meine Zuneigung zu Deutschland bewahren, zu dem wahren Deutschland, das die Gewalttaten und Irrungen des Hitlerschen Faschismus entehren.“36 Rolland war sich bewusst, dass zu dieser Zeit Flüchtlinge aus Deutschland bereits darangingen, über die Misere ihrer Vertreibung hinaus Kräfte zu sammeln, um diesem anderen Deutschland Gehör zu verschaffen. Mit der Exilierung geistiger und politscher Eliten erhielt das Wort von der kulturellen Substanz plötzlich doch Gestalt. Der nicht enden wollenden Verklärung der völkischen, sprich zumeist rassischen Substanz deutscher Kultur im Dritten Reich lernten exilierte Schriftsteller die humane, aufklärerische Definition entgegenzustellen. Flüchtlinge wie Heinrich Mann, Alfred Döblin, Kurt Tucholsky, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, später auch Thomas Mann fühlten sich nach Verlassen Deutschlands in die Pflicht genommen, der Welt zu zeigen, dass die Behauptungen des nationalsozialistischen Regimes, das wahre Deutschland wieder erweckt zu haben, unhaltbar seien. Mochten Binding und der Chefredakteur der Kölnischen Zeitung auch in zivilen Worten die These von den zwei Deutschland zurückweisen, Emigranten entschlossen sich, diese Zweiteilung zu leben und dem anderen Deutschland Gestalt zu geben.

Kulturpolitik, Propaganda und das Erbe des Ersten Weltkrieges Die von den neuen Machthabern proklamierte Transformation deutscher Kultur als einer Kultur des nationalsozialistischen Staates war zunächst ganz auf 36 Romain Rolland schreibt (14.5.1933), in: Sechs Bekenntnisse zum neuen Deutschland. Rudolf G. Binding, E.  G. Kolbenheyer, Die „Kölnische Zeitung“, Wilhelm von Scholz, Otto Wirz, Robert Fabre-Luce antworten Romain Rolland. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1933, 7.

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die Innenpolitik bezogen. Die Konfrontationen der politischen Lager der Weimarer Republik fanden ein blutiges Ende in der Verfolgung oder Ausschaltung der meisten politischen Repräsentanten dieser Republik. Juden wie Rathenau, Preuß und Scheidemann hatten zur Entstehung der Republik entscheidend beigetragen, dagegen waren sie später nur zu einem sehr geringen Maße in der Regierung, zumal dem Außenministerium, vertreten. Umso mehr stellte man ihren Einfluss auf Presse, Kunst, Theater und Wissenschaft als schädlich für die deutsche Kultur heraus. Die Republik sei eine Scheinrepublik gewesen, ihre Kultur eine Scheinkultur, ihr Ziel die Zerstörung des deutschen Volkstums. Jedoch hatte sich auch die erste deutsche Republik bei ihrer Gründung auf die bereits im Kriege beschworene deutsche Volksgemeinschaft berufen, nur dass sie mit der Herstellung der Demokratie auch die Freiheit der Kunst von staatlicher Aufsicht meinte. Das hatte eine inspirierende Entwicklung der künstlerischen Produktion ermöglicht, die dem neuen deutschen Staat im Ausland nach und nach das Interesse künstlerischer und intellektueller Eliten verschaffte. Gegenüber diesem auf der Absage an den Krieg basierten Kulturverständnis sollte mit der Etablierung des NS-Regimes 1933 eine auf dem erneuerten Augusterlebnis gegründete Volksgemeinschaft entstehen, in der sich Kultur aus jenem Kampfgeist regenerieren würde. In dieser Fixierung manifestierte sich in einer Art Wiederholungszwang die Herstellung einer Kriegsgemeinschaft. Für sie hatte man schon vor 1933 angefangen, die Bevölkerung exzessiv mit Kriegsthemen in Film und Literatur zu füttern. Dabei ging es Hitler und Goebbels in erster Linie darum, ein kulturelles Ganzheitsbewusstsein herzustellen, das als Ausdruck des Nationalsozialismus gelten konnte, und nicht darum, eine wie immer geartete „völkische“ Kultur zu schaffen. Kulturpolitik entwickelte sich nicht als inhaltliches Programm, sondern als Organisierung von „Kultur“ zur Herstellung gemeinschaftlicher Momente auf allen Ebenen, auf hohem und niedrigem Geschmacks- und Sozialniveau, in der Buchpflege ebenso wie beim Unterhaltungskonzert im Radio. Unter den vielerlei Einflüssen auf die Formung der Kulturpolitik, mit der die Führung diesen Staat unbedingt von der Republik abheben wollten, stellt die geradezu hypnotische Ausrichtung an der kulturellen Mobilisierung des Ersten Weltkrieges eines der wichtigsten und eines der am wenigsten gewürdigten Elemente dar.37 Diese Bezugnahme, oder genauer: Wiederaufnahme, die nicht unbedingt mit

37 Die maßgebliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des NS-Regimes zum Ersten Weltkrieg behandelt die politischen, militärischen und propagandistischen Aspekte, läßt aber die kulturpoliti� sche Mobilisierung aus: Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, hg. von Gerd Krumeich. Essen: Klartext, 2010. Das gilt auch für den Beitrag von Nicolas Beaupré über die Kriegsliteratur.

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Militarisierung gleichgesetzt werden sollte, prägte mindestens bis 1936/37 vier charakteristische Komponenten der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Zum ersten war diese Kulturpolitik von der Evokationskraft des Gemeinschaftserlebnisses getragen, das 1914 der zuvor zersplitterten Nation in einer vom Geist ebenso wie vom Militär mitgetragenen Mobilisierung der deutschen Kultur Sinn und Gestalt verlieh. Getreu der massiven Aktivierung aller erhältlichen Ressourcen in Büchern, Musik, Theater und Unterhaltungsveranstaltungen, die, wie dargestellt, auf allen Seiten den Krieg der Völker begleitet hatte, wandelten 1933/35 Propaganda- und Reichserziehungsministerium die auf langen Traditionen beruhende Vielfalt öffentlicher Kultur in einen Kulturapparat um, mit dem die Vision einer ideologisch-kämpferischen Volksgemeinschaft verwirklicht werden sollte. Das bedeutete die Gleichschaltung Tausender Vereine, Klubs und Organisationen, die sich bisher um eine bestimmte kulturelle Praxis herum entwickelt hatten, zu Gliederungen eines größeren Ganzen. Das bedeutete aber auch eine bis dahin in Deutschland nicht gesehene öffentliche Bezuschussung, Regulierung und Präsentierung kultureller Aktivitäten, die sich in der Gründung Tausender von Volksbüchereien, Theaterfestspielen, Musikprogrammen, Museen, Volkskunst- und Volksmusikwettbewerben, Vortragsvereinen und Literaturpreisen manifestierten. Volker Dahm hat in seiner großen Untersuchung „Nationale Einheit und partikulare Vielheit“ das In- und Gegeneinander von Makro- und Mikrokulturpolitik exemplarisch aufgewiesen und festgestellt: „Kultur wurde unter prinzipieller Beibehaltung einer bürgerlichen, die Individualität des künstlerischen Schöpfungsaktes und die kommerzielle Kulturvermittlung bejahenden Kulturauffassung in den Rang einer Staatsaufgabe gehoben“.38 Wie stark das große Teile der deutschen Intelligenz beeindruckte, bezeugte Gottfried Benn, der 1933/34 den Vorgang, dass ein deutscher Staat sich ernsthaft durch die Förderung der Kunst zu legitimieren suchte, außergewöhnlich und nur dem klassischen Griechenland vergleichbar fand. Benn stellte diese Tatsache an den Anfang seines Aufsatzes „Bekenntnis zum Expressionismus“: „Das Maß an Interesse, das die Führung des neuen Deutschlands den Fragen der Kunst entgegenbringt, ist außerordentlich. Ihre ersten Geister sind es, die sich darüber unterhalten, ob in der Malerei Barlach und Nolde als deutsche Meister gelten dürfen, ob es in der Dichtung eine he38 Volker Dahm, Nationale Einheit und partikulare Vielfalt. Zur Frage der kulturpolitischen Gleich� schaltung im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), 221–265, hier 227. Die vergleichsweise große und steigende Zahl von Goebbels’ Presseanweisungen über Kultur (weni� ger als über Außenpolitik und Wirtschaft, aber mehr als über Militär/Rüstung) kann als Barometer gelten; das verstärkte sich noch mit der Einführung gesonderter Kulturpressekonferenzen 1936. Jür� gen Wilke, Presseanweisungen im zwanzigsten Jahrhundert. Erster Weltkrieg – Drittes Reich – DDR. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2007, 172–177.

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roische Literatur geben kann und muß, die die Spielpläne der Theater überwachen und die Programme der Konzerte bestimmen, die mit einem Wort die Kunst als eine Staatsangelegenheit allerersten Ranges der Öffentlichkeit fast täglich nahebringen.“39 Eine bessere Formulierung der Selbsttäuschung der Intelligenz über die Erhöhung der Kunst auf Kosten ihrer Freiheit hätte kein Staatsfunktionär finden können. Kaum zwei Jahre später gehörte Benn selbst zu den von Partei und SS Angegriffenen. Die Schaffung des gewaltigen Konglomerats von staatlichen, halbstaatlichen, partei- und nicht parteigebundenen Aktivitäten entsprach allerdings keineswegs der totalen Erfassung der Kultur, die Goebbels – und Benn – vorschwebte. Wie Dahm konstatiert, zeigte sich der Zentralismus von Partei und Berliner Ministerien – vor allem Goebbels’ Propagandaministerium und Rusts Reichserziehungsministerium – dem Partikularismus der völkischen ‚Basis‘ in den Kommunen und Regionen keineswegs gewachsen. Was dem Regime hingegen gelang, war, unter kräftiger Mithilfe kommerzieller Interessen deutscher Verlage, eine Durchdringung der Provinz mit organisierten und finanzierten kulturellen Aktivitäten, zu der der Weimarer Staat in der Wahrnehmung föderaler Interessen – entgegen den Plänen von Carl Heinrich Becker und anderen – nicht willens gewesen war, ganz abgesehen von seinen leeren Kassen. Historisch hat sich daraus für die deutsche Kulturpolitik nach 1945 nicht der Zentralismus erhalten, zumindest nicht in der föderalen Bundesrepublik, wohl aber eine Agenda, die man mit dem Begriff des Kulturversorgungsstaates fassen und auf beide deutsche Staaten sowie Österreich in verschiedenen Ausformungen anwenden kann. Ihr gab beispielsweise die Übernahme und riesige Vermehrung der noch in der Weimarer Republik weitgehend von kommunalen und Vereinsbeiträgen mehr schlecht als recht finanzierten Büchereien vonseiten öffentlicher Haushalte neben vielen anderen staatlichen Institutionen das Gesicht. Goebbels selbst stellte mit der in den Künstlerkammern konzipierten und teilweise, besonders bei Musikern, verwirklichten Sozialfürsorge für die Künstlerschaft sozialpolitische Weichen.40 Dass sich Goebbels den Kulturversorgungsstaat nur mit voller staatlicher Kontrolle denken konnte, braucht kaum betont zu werden, zumal sein Konzept in der späteren DDR mit ihren großen Investitionen in 39 Gottfried Benn, Bekenntnis zum Expressionismus, in: Expressionismus. Der Kampf um eine literari� sche Bewegung, hg. von Paul Raabe. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1965, 235–246, hier 235. 40 Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1963, 53–63; Helmut Heiber, Joseph Goebbels. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1965, 195; Alan E. Steinweis, Art, Ideology, and Economics in Nazi Germany. The Reich Chambers of Music, Theater, and the Visual Arts, 1933–1945. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1993.

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kontrollierte Kulturpolitik Nachfahren gefunden hat. Eine vergleichende Forschung zur Kulturpolitik in den dreißiger Jahren und ihre Kontinuität in den folgenden Jahrzehnten – die noch aussteht – wird ohnehin ähnlichen Tendenzen auch in anderen Staaten begegnen, wovon Demokratien, etwa die der Tschechoslowakei, keineswegs ausgenommen werden können. Die Vergleichbarkeit reicht über den Kulturversorgungsstaat mit seiner Konsumassoziation hinaus bis zum Wachstum der Kontrollstrukturen, insofern der Staat „in Sachen Geschmack und Ästhetik die Rolle des Schiedsrichters“ beansprucht. Selbst für die Tschechoslowakei ist festgestellt worden: „Eine so bedeutende Sphäre des öffentlichen Lebens wie die Kultur außerhalb seines Einflusses und seiner Kontrolle existieren zu lassen, erschien [dem Staat] nicht akzeptabel.“41 Die Kontinuitäten zur Kulturpolitik unter dem kommunistischen Regime lassen sich kaum übersehen. Die zweite Komponente der nationalsozialistischen Kulturpolitik, die aus der Verinnerlichung der kulturellen Kriegsgemeinschaft ihre Dynamik bezog, bildete die zwanghafte Ausrichtung gegen einen Feind. Von Anfang an hatte sich Hitler darauf konzentriert, diesen Feind zu schaffen und ihn für die von ihm behauptete Zerstörung der deutschen Kultur haftbar zu machen. Dafür kannte er nur eine Macht, die diese Rolle spielen konnte, nachdem England und Frankreich von lebensbedrohenden Kriegsgegnern zu politischen Gegenspielern geschrumpft waren. Der Antisemitismus lieferte ihm die Versatzstücke, aus denen er die Juden als den Feind aufblähen und dämonisieren konnte. Sie ließen sich auch auf die Bolschewisten übertragen, wie es zunehmend geschah, schließlich im Krieg auch auf die Amerikaner, beide, wie immer wieder beschworen wurde, vom Weltjudentum in seine Zerstörung des Reichs eingespannt. Damit fesselte sich die nationalsozialistische Kulturpolitik permanent an die Konfrontation mit den Juden und den ihnen verbündeten Feinden, nicht zuletzt auch den politischen und literarisch-künstlerischen Emigranten, die im Ausland daran arbeiteten, deutsche Kultur und Politik in Formen und Auffassungen zu demonstrieren, die denen des Nationalsozialismus konträr entgegenstanden. Als eine weitere, dritte Komponente aus dem Arsenal der Kriegskulturpolitik des Reiches erwies sich der politische Einsatz einer der deutschen Tradition nach unpolitischen Hochkultur für die Kontaktnahme mit dem Ausland. Das wurde bald nach dem empörten Echo der Weltpresse auf die brutalen Aktionen 1933/34 fällig. Eine solche Indienstnahme hatte sich 1914/15 in den Verteidigungsreden der Professoren, aber auch in den Beschwichtigungsaktionen der 41 Jan Dobeš, Unerwartete Parallelen – oder: Unter der Oberfläche machtpolitischer Veränderungen verborgene Strömungen, in: Bohemia 49 (2009), 344–355, hier 354 f.

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Militärs bei der Besetzung anderer Länder, speziell Belgiens und Nordfrankreichs, manifestiert: Kunst, Musik, Kultur sowie ihre Inszenierung, Erhöhung und Verbreitung als Beweis dafür, dass Deutschland nicht, wie die Feinde behaupteten, ein Barbarenland sei. Rudolf G. Bindings Antwort an Romain Rolland wiederholte das Muster von 1914. Diesem Muster folgte bei seinen Auslandsreisen nach Frankreich und England auch ein prominenter Schriftsteller wie Hans Friedrich Blunck, der 1933–1935 als erster Präsident der Reichsschrifttumskammer fungierte. Als Blunck, ein nationalkonservativer, kein nationalsozialistischer Schriftsteller, in der Präsidentschaft der Reichsschrifttumskammer von dem robusteren, gleichfalls wenig effizienten Hanns Johst abgelöst wurde, gründete er die Stiftung des deutschen Auslandswerkes, durch die er mit ausländischen Sympathisanten Freundschaftsgesellschaften aufbaute und vergeblich dem Einfluss des von Emigranten gegründeten Exil-PEN entgegenarbeitete.42 War schon im Ersten Weltkrieg das Fehlen eines überzeugenden kulturellen Programms von den deutschen und österreichischen Ministerien mit Ausstellungen, Konzerten und anderen kulturellen Aktionen kompensiert worden, entsprangen die entsprechenden Veranstaltungen des neuen Staates, etwa die Konzertreisen der Berliner Philharmoniker, derselben Rechtfertigungs- und Beschwichtigungsstrategie. Bis fast zum Ende des Zweiten Weltkrieges war Goebbels daran gelegen, den „Eindruck eines scheinbar regen Kulturlebens“ zu erzeugen, eine Direktive, welche die zentrale Rolle der Kultur für die Repräsentanz dieses von Militanz und Intoleranz durchdrungenen Staates im Zentrum Europas bezeugt.43 Die zugrunde liegende Abwehrhaltung – Abwehr der feindlichen Angriffe auf die deutsche Kultur – war 1914 wohlfeile, 1933 zynische Rhetorik. Das Vorzeigen von Kultur war dem Regime ebenso wichtig wie deren Inhalte. Das galt auch für ihre Nutzung im Inland: Das Auftreten deutscher Künstler, Ensembles und Sportler in anderen Ländern ließ Goebbels in allen Zeitungen groß aufmachen, mit entsprechenden Hinweisen auf das hohe Niveau, oft auch die Überlegenheit der Deutschen, um damit der Bevölkerung zu beweisen, dass das Reich keineswegs isoliert dastehe. „Demgegenüber wurde der 42 W. Scott Hoerle, The Nazi Envoy. Travel Experiences of the Poet Hans Friedrich Blunck in Great Britain and France, 1935 and 1937, in: Exiles Traveling. Exploring Displacement, Crossing Bound� aries in German Exile Arts and Writing 1933–1945, hg. von Johannes F. Evelein. Amsterdam/New York: Rodopi, 2009, 223–238. Über die vom Propagandaministerium und dem Auswärtigen Amt finanzierten Auslandsreisen und ‑lesungen zumeist konservativer Schriftsteller siehe Jan-Pieter Bar� bian, Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Frankfurt: Buchhändler-Vereinigung, 1993, 185–187. 43 Elke Fröhlich, Die Anweisungen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda be� züglich des Kulturproblems in okkupierten Gebieten, in: Inter Arma non silent Musae. The War and the Culture 1939–1945, hg. von Czeslaw Madajczyk, Warschau: Polish Academy of Science, 1977, 217–244, hier 218 f.

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nach Deutschland eingehende Kulturimport streng ein­zugrenzen und zu reglementieren gesucht; nur wo er von ‚staatspolitischer‘ Bedeutung war, sollte er in den Feuilletons in größerem Maße gewürdigt werden.“44 Schließlich die vierte, aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges stammende Komponente nationalsozialistischer Kulturpolitik: ihr flexibel gehandhabter, nie genau definierter Anteil an der offiziellen Propaganda des Staates. Die Macht der umfassend finanzierten und administrierten Form der Propaganda lag darin, dass sie sich von hoher und akademischer Kultur und ihren Rezeptionsfaktoren unterschied und mithilfe der neuen Medien, insbesondere Film und Rundfunk, eine breitere, direkt zugängliche Öffentlichkeit schuf. Sie bezog ihre Wirkungskraft aus der Entschlossenheit, aus jener nach Kriegsende 1918 tausendmal erhobenen Anschuldigung, die zu einem Bestandteil der Dolchstoßlegende geworden war: dass die Versäumnisse der Propaganda den Deutschen den Sieg gekostet hätten, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Die Reaktionen hätten nicht konträrer ausfallen können: Während man sich in Großbritannien, am provokantesten 1928 von Arthur Ponsonby formuliert, der Propaganda schämte, weil sie weitgehend auf Lügen aufgebaut war, ärgerte man sich in Deutschland, am eindringlichsten von Hitler in Mein Kampf formuliert, über die Propaganda, weil sie, im Gegensatz zur erfolgreichen Arbeit der Alliierten, falsch gehandhabt worden sei.45 Hitler schwor seinen Lesern und Zuhörern, die Chancen für Deutschlands Sieg nicht mehr durch Vernachlässigung der Propaganda zu verspielen. Obwohl er und Goebbels beim Gebrauch von Propaganda zur Beeinflussung der Massen auf längst in Weimar erprobte Rezepte zurückgriffen, konnten sie deren Nutzung zur Herstellung des Bildes einer geschlossenen Nation als Novum für ihre „Revolution“ verbuchen. Die visuellen und akustischen Mittel moderner Propaganda ermöglichten es ihnen, die Inszenierung der Massen zu einem Bild religiöser Erhöhung nationaler Einigung zu stilisieren. Sie lernten, diesen Moment der Einigung, der für Deutsche seit dem 19. Jahrhundert zum Kern nationaler „Erfüllung“ wurde wie etwa in Frankreich die Ritualisierung der Revolution (was in der Abgrenzung der „Ideen von 1914“ von denen von 1789 seinen Niederschlag fand), zu einem konsumierbaren, das heißt wiederholbaren Erlebnis zu machen, etwas, das die Weimarer Republik trotz der Inszenierungen von Staatsfeiertagen und ‑begräbnissen nicht zu44 Laut verschiedenen Anweisungen der kulturpolitischen Pressekonferenzen 1937–1939; siehe Andrea Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf. Die Beziehungen zwischen ‚Drittem Reich‘ und faschistischem Italien in den Bereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen. Frankfurt: Lang, 1998, 72. 45 Arthur Ponsonby, Falsehood in War-Time. Containing an Assortment of Lies Circulated throughout the Nations during the Great War. New York: Dutton, 1928; Adolf Hitler, Mein Kampf. München: Eher, 1937, 193–204.

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stande gebracht hatte. Dass die Magie dieses Moments für Deutsche auch nach Hitlers Zerstörung der Nation noch weiterlebte, zeigte sich beim Fall der Mauer in Berlin 1989, der von Deutschen vor allem als Einigungserfahrung gefeiert wurde. So machtvoll, wie die höhere Kultur von europäischen Gesellschaften noch im Ersten Weltkrieg als Sinnbild der Nation verinnerlicht und praktiziert worden war, konnte sie im Zeitalter der neuen Massenmedien Film, Wochenschau und Rundfunk nicht mehr wirken. Hatten deutsche Verantwortliche der „Kultur“ bei Kriegsbeginn noch zugetraut, Propaganda entbehrlich zu machen, besaß nun Propaganda die Prärogative, lenkte aber einen nicht geringen Teil der Energie auf die Feier der unvergänglichen deutschen Kultur, beispielhaft in der Fetischisierung des „deutschen Buches“ zum „generationenübergreifenden, traditionsstiftenden Symbol für die Nation.“46 Während man kapitalistische und sozialistische Praktiken von Freizeitgestaltung und Massenkonsum offiziell ablehnte, bot die Schaffung der „Kraft durch Freude“-Bewegung neue Organisationsformen, um eine kostengünstige Aktivierung der deutschen Gesellschaft zu bewerkstelligen und als nationalsozialistisch zu etikettieren. Diese Nutzung künstlerischer und musikalischer Kulturarbeit vermochte das ausländische Publikum immer wieder zu fesseln (und von kritischeren Reflexion deutscher Verhältnisse zu entbinden), allerdings setzte irgendwann doch der Argwohn ein, dass es damit nicht getan sei. Dafür sorgte spätestens die Frage, wozu ein Staat außerhalb des bolschewistischen Russland eine Maschinerie für Propaganda auf der Ebene eines Ministeriums benötigte. Bereits im Ersten Weltkrieg war der deutsche Begriff von Kultur als einem Phänomen jenseits der Politik von Franzosen, Belgiern und Briten als Anmaßung und Lüge zur Zielscheibe der Propaganda gemacht worden. Nun stellte der deutsche Staat mit dem Propagandaministerium selbst jede Aktion im kulturellen Bereich unter den Verdacht der Propaganda, was zahlreichen grenzüberschreitenden Kunst- und Wissenschaftskontakten keineswegs gerecht wurde. Das Verhängnisvolle dieser Konstellation war, dass selbst Kontakte, die Kunst und Wissenschaft als Zonen eigener Unabhängigkeit vom System mithilfe des Auslands nutzbar machen sollten, dem Propagandaverdacht anheimfielen. Zugleich entgingen derartig unabhängig gemeinte Kontakte nicht dem Verdacht der deutschen Behörden, insbesondere der Gestapo und des Propagandaministeriums, wobei sie häufig von den jeweiligen Missionen des Auswärtigen Amtes aufgespürt und gemeldet wurden. Was die neuen Machthaber als Techniken der Massenführung aus der Weimarer Republik übernahmen, berührte sich mit anderen Tendenzen einer sich 46 Ine Van linhout, Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik. Berlin/Boston: de Gruy� ter, 2012, 87.

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seit dem Kriege technisch und arbeitsökonomisch rapide modernisierenden Gesellschaft. Jedoch zeigt sich an der vor allem im Zweiten Weltkrieg forcierten Mobilisierung genuin ästhetisch-innerlicher Erfahrung deutscher Kultur in Büchern, Gedichten, Liedern, Musik- und Theaterstücken, dass die nationalsozialistische Kulturpolitik eine zweite Ebene neben der Praxis der rhetorischen und Kontrolltechniken pflegte, die propagandistisch genutzt, aber auch ökonomisch verwertet wurde. Diese interne Mobilisierung hatte dem Ausland außer der Selbstdarstellung deutscher Kulturpflege keine Botschaft zu bieten. Günter Rühle beobachtete diesen völkisch-bildungsbürgerlichen Narzissmus beispielhaft am nationalsozialistischen Drama: Die Herstellung einer heroischen Haltung als höchstes Ziel ging mit der Intention einher, dass das Theater, so viel Dialog es auch enthielt, kein öffentliches Gespräch mehr ermöglichte.47 All das reichte weit über den konventionell eingegrenzten Aufgabenbereich der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes unter ihrem Leiter, dem Historiker Friedrich Stieve, hinaus und führte, wie noch zu zeigen sein wird, zu einem häufig geradezu grotesken Kompetenzgerangel etablierter und neu gegründeter Ämter, die sich alle ihren Anteil an der „Auslandspropaganda“ sichern wollten (so der am häufigsten gebrauchte Begriff ). Bis 1937 stand es unter dem Vorzeichen von Hitlers außenpolitischer Zurückhaltung. Höhepunkte der Selbst­ darstellung waren die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und GarmischPartenkirchen sowie die Beteiligung des Dritten Reiches an der Pariser Weltausstellung 1937 mit Albert Speers groß dimensioniertem Pavillon in der geradezu ikonisch gewordenen Gegenüberstellung zum ebenfalls groß dimensionierten Pavillon Sowjetrusslands. Spätestens 1937 erfolgte dann unter dem spezifischer politischen Namen „Kulturpolitische Abteilung“ (Kult.Pol., ab 1936) die volle Ausrichtung der Kulturarbeit auf die aggressiveren außenpolitischen Aktionen des Reiches, letztlich auch die Indienstnahme für die „geistige Kriegsführung“, die den bis aufs Messer geführten Konflikt zwischen dem 1938 ernannten Außenminister Ribbentrop und dem Propagandaminister Goebbels um die „Auslandspropaganda“ vorprogrammierte. Damit ging eine Marginalisierung der privaten bilateralen Kulturgesellschaften einher, „die jahrzehntelang aus eigener Initiative auf Grund persönlicher Beziehungen und mit eigenen Mitteln sehr viel für den Kulturaustausch im kleinen zwischen den Völkern getan hatten.“48 Goebbels fasste sie in der „Vereinigung der zwischenstaatlichen Gesellschaften“ zusammen.

47 Günter Rühle, Einleitung, in: ders., Zeit und Theater, Bd. 3. Diktatur und Exil 1933–1945. Berlin: Propyläen, 1974, 7–75. 48 Twardowski, Anfänge der deutschen Kulturpolitik zum Ausland, 40.

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Die Ausgrenzung der Juden: Flucht, Vernichtung, Weitermachen Was Hitler mit der ab 1933 zur Staatsdoktrin erhobenen Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Kultur bewirkte, hat einer der großen Vermittler zwischen deutscher und italienischer Kultur 1935 prägnant zusammengefasst. Benedetto Croce, Italiens angesehenster Gelehrter, Verehrer Goethes und des deutschen Idealismus, machte in La Critica seinem Unmut über die national­ sozialistischen Maßnahmen mit den Worten Luft: „Wozu hat die Verfolgung der Juden in Deutschland gedient, wenn nicht, uns deutlich zu machen, ein wie großer Teil all dessen, was wir als deutsche Leistung in Kritik, Geschichte, Philosophie, Philologie, Naturwissenschaften, Mathematik, Technik, Medizin und auch in Literatur und Musik und Kunst bewunderten, jüdischen Ursprungs ist? Wir wußten es nicht, doch die Verfolgung, die die Spreu vom Weizen sonderte, hat uns die Augen geöffnet und uns bewogen zu zählen: und die Zahlen, zu denen wir da gelangen, wachsen noch täglich, denn jeden Tag entdecken wir neue Juden in Personen, die wir bis dahin für Deutsche ansahen, weil sie auf deutsch schrieben.“ Croce fand diese Ausgrenzung entwürdigend, weil sie die Leistungen der deutschen Kultur einem kulturfernen, unlauteren Kriterium unterwarf. Er ahnte, konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass diese Ausgrenzung der Juden aus einer bisher gemeinsamen Geschichte Endgültigkeit annehmen würde. Den Nachfahren dieser Ausgrenzung gebührt es, ebenso die anschließende sarkastische Mahnung zu würdigen, die Croce an seine deutschen Zeitgenossen richtete: „Welche Schande, sich so die Arbeit von Fremden zunutze zu machen und damit die eigne Geschichte zu schmücken, wie es bisher geschehen ist!“49 Croce hob damit ironisch den nationalkulturellen Anspruch aus den Angeln, der vor 1933 unter Deutschen durchaus gerechtfertigt werden konnte. Seine Worte trafen jedoch voll zu, als deutsche Kultur nach Hitlers Zerstörungswerk, wie es in den beiden deutschen Staaten und Österreich noch Jahrzehnte nach Ende des Dritten Reiches geschah, ohne die Klarstellung der mitschöpferischen Rolle der Juden verwaltet, gelehrt, repräsentiert und ins Ausland vermittelt wurde. Nicht zufällig gehörten zu den prominenten Stimmen des Auslands, die öffentlich gegen die rassistische Kulturpolitik Stellung bezogen, einige Stars in dem von Deutschland dominierten Bereich der Musik. Am konsequentesten gab Croces Landsmann Arturo Toscanini, der auf beiden Kontinenten wohl anerkannteste Dirigent, seine Abscheu vor faschistischen und nun nationalso49 Benedetto Croce, L’ibrida „germanicità della szienza e culture tedesca“, in: La Critica, 1935, 237, zit. nach Die andere Achse. Italienische Resistenza und geistiges Deutschland, hg. von Lavinia JollosMazzucchetti. Hamburg: Classen, 1964, 40 f.

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zialistischen Machenschaften zu erkennen und ließ sich auch von einem persönlichen Brief Hitlers mit der Bitte, die Absage an die Bayreuther Festspiele 1933 zurückzuziehen, nicht umstimmen. Was den Protesten zugrunde lag, etwa dem Telegramm, das Toscanini mit amerikanischen Dirigenten am 1.  April 1933 gegen die Ausschaltung von Bruno Walter, Otto Klemperer und anderen großen Interpreten klassischer Musik an Hitler richtete, war die Empörung gegen die Eingriffe gegen Kunst generell, nicht nur gegen die Juden.50 Wenig später formulierte das der berühmte, Deutschland eng verbundene polnische Geiger Bronislaw Huberman in einem eindrucksvollen, an Furtwängler gerichteten Brief. „Ich möchte das Musizieren als eine Art künstlerischer Produktion des Besten, Wertvollsten im Menschen bezeichnen“, schrieb er und mahnte, dass mit der Beurteilung aufgrund der Rasse die Würde des Künstlers als schöpferischer Mensch mit Füßen getreten werde. „In Wahrheit geht es nicht um Violinkonzerte, auch nicht um Juden, es handelt sich um die elementaren Voraussetzungen unserer europäischen Kultur: Die Freiheit der Persönlichkeit und ihre vorbehaltlose, von Kasten- und Rassenfesseln befreite Selbstverant­ wortlichkeit!“51 Die Verletzung der Freiheit generell, nicht nur derjenigen der Juden, müsse Widerstand wecken. Huberman endete mit der Hoffnung, dass dies geschehen werde – dann könne auch er wieder in Deutschland auftreten. Es geschah nicht, aber es geschah auch nur gedämpft in anderen Ländern. Den Juden kam in den dreißiger Jahren trotz ihrer empörenden Behandlung im Musik- und Kulturleben wenig Sympathie entgegen. Viele Zeitgenossen teilten Croces Unwillen, wenn sie mit deutscher Kultur konfrontiert wurden, gingen jedoch bald über die nur widerstrebend gewonnenen Einsichten, was deren jüdischen Anteil betraf, hinweg. Sie hatten möglicherweise die neuen Erfolge deutscher Kultur und Wissenschaft in der Weimarer Republik nach dem Boykott und der Distanzierung schätzen gelernt und ließen politische Erwägungen beiseite, wenn sie den Auftritten deutscher Darsteller und Musiker folgten. Nachdem beim jeweiligen Publikum aus Tradition und Interesse ein Bild deutscher Kultur, allem voran mit Musik, Wissenschaft und Technik, gewachsen war, wirkte die Separierung des Jüdischen im Allgemeinen als Irritation, ohne dass sich das Bild wesentlich verschob und, wie es Croce skizzierte, dem Jüdischen als eigenständiger Komponente zugutekam. Zu groß war der Strom jüdischer Flüchtlinge aus den russischen, teilweise polnischen Gebieten seit den Kriegs- und Nachkriegsjahren gewesen, zu stark hatten die Bevölkerungsverschiebungen nach den Pariser Vorortverträgen die Aufmerksamkeit der Euro50 Michael H. Kater, The Twisted Muse. Musicians and Their Music in the Third Reich. New York/ Oxford: Oxford University Press, 1997, 79 f. 51 Zit. nach Berta Geissmar, Musik im Schatten der Politik. Erinnerungen. Zürich: Atlantis, 1945, 115.

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päer für Flüchtlinge und Minderheiten abgestumpft, als dass der neue Schub von Ethnisierung und Rassismus in den ohnehin von der Weltwirtschaftskrise mitgenommenen Gesellschaften breitere öffentliche Anteilnahme auslöste.52 In den ersten Jahren nach Hitlers Machtergreifung wurden die antijüdischen Maßnahmen der deutschen Regierung als Beweis für die Brutalität des Regimes gewertet und in die antideutsche Diskussion eingebracht; wenn es aber um die Aufnahme der Juden als Flüchtlinge ging, überlagerten innenpolitische Argumente die von verschiedenen Hilfsorganisationen initiierten Hilfsmaßnahmen, oder man überließ das Problem von vornherein dem Völkerbund. Über die Tendenz der angrenzenden Staaten, sich der Unterstützung der jüdischen Flüchtlinge zu entziehen, waren sich weder die deutschen Amtsträger noch die jüdischen Vereine und Zeitungen in Deutschland im Unklaren. Die Wirkungen des Wechselspiels zwischen in- und ausländischen Reaktionen konnten auf beiden Seiten nicht konträrer ausfallen. Die bis 1935 relativ offen argumentierende jüdische Presse gab nach der anfänglichen Welle der Auswanderung den Problemen in den Zufluchtsländern, einschließlich Palästinas, breiten Raum.53 Den Funktionären des Reiches war die Macht der negativen öffentlichen Meinung sowie der politischen Einflussnahme der Regierungen jenseits der Grenzen eine Quelle konstanter, nach 1936 jedoch abnehmender Beunruhigung. Mit größtem Ingrimm konstatierte Sebastian Haffner, der freiwillig nach London emigrierte deutsche Journalist, in seiner aufsehenerregenden Analyse des NS-Systems, Germany: Jekyll and Hyde, dass die europäischen Staaten die Flüchtlinge aus Nazideutschland im Stich gelassen hätten: „Man maß der Tatsache keine Bedeutung zu, dass Deutschland jahrelang beunruhigt beobachtete, ob die Emigranten erfolgreich seien oder scheiterten, und es als einen Testfall ansah, mithilfe dessen sich die Einstellung der Welt gegenüber den Nazis und der Barbarisierung Deutschlands beurteilen ließ.“54 Die Akten des Auswärtigen Amtes, soweit sie erhalten geblieben sind (für die Kulturabteilung ergaben sich, ebenso wie für das Propagandaministerium, besonders große Kriegsverluste), geben einen Einblick sowohl in die nervöse Beobachtung des Auslands und mögliche Gegenmaßnahmen als auch in die Dilemmata, welche die Beschwichtigungsmanöver bereiteten.55 In der Weima52 Michael R. Marrus, The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century. New York/Oxford: Oxford University Press, 1985, 51–121; Refugees from Nazi Germany and the Liberal European States, hg. Von Frank Caestecker und Bob Moore. New York/Oxford: Berghahn, 2010. 53 Herbert Freeden, „Bleiben oder gehen?“ Ein Kapitel aus der jüdischen Presse im nationalsozialistischen Deutschland, in: Publizistik 31 (1986), 91–107. 54 Sebastian Haffner, Germany: Jekyll and Hyde, übers. von Wilfrid David. New York: Dutton, 1941, 230. 55 Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit, 74–137.

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rer Republik hatte sich das Amt, in dem 1918 ein „Jüdisches Referat“ unter dem weithin respektierten Orientalisten Moritz Sobernheim eingerichtet worden war, „eines höflichen und zuvorkommenden Umgangs mit Juden und jüdischen Organisation“ befleißigt und öfters gegen antisemitische Ausschreitungen unter Hinweis auf die ausländischen Reaktionen interveniert. Es hatte sich dem Zuzug von Ostjuden „energisch“ widersetzt, war andererseits aber „energisch für eine anständige Behandlung der ostjüdischen Bevölkerung in Deutschland“ eingetreten, „da es sich Sorgen um die Behandlung deutscher Staatsangehöriger und deutscher Minderheiten im Ausland machte“, eingedenk der Wechselwirkung dieser Behandlung und angesichts der Tatsache, dass gerade amerikanische Juden eine führende Rolle bei den humanitären Hilfsmaßnahmen zugunsten Deutschlands spielten.56 Nur wenige im Amt waren Juden. Mit 1933 sahen sich die Beamten massiver ausländischer Empörung über den staatsoffiziellen Antisemitismus ausgesetzt und praktizierten zunächst eine Kombination aus Informationssammlung, Beschwichtigung, Einigeln und der üblichen Arroganz. 1934 aber belegte die von Neurath genehmigte und an die Auslandsvertretungen geschickte Aufzeichnung mit dem Titel „Entwicklung der Judenfrage in Deutschland und ihrer Rückwirkungen im Ausland“, die von dem neuen Leiter des Jüdischen Referats, Emil Schumburg, formuliert worden war, dass auch hier die antisemitische NS-Sprachregelung über die Juden übernommen wurde.57 Da die meisten internationalen Organisationen und Projekte, die seit den späten zwanziger Jahren teilweise mithilfe des Völkerbundes breiter ausstrahlten, nicht staatlich oder nur halbstaatlich fundiert und finanziert waren, verloren sie angesichts der Abschirmung nationaler Interessen zunehmend an Boden. Das verminderte die Interventionsmöglichkeiten des Amtes. Nur der „jüdischen Frage“ gegenüber drängte es aktiv auf Internationalität, indem es sie, ohnehin mit den Problemen der Emigration eingedeckt, der Flüchtlingshilfe zuordnete. Flüchtlingshilfe und ‑aufnahme waren nach dem Ersten Weltkrieg zum zentralen Bereich internationaler Kooperation geworden und hatten Anfang der zwanziger Jahre durch die berühmte Nansen-Hilfe, etwa bei den riesigen Bevölkerungsverschiebungen zwischen Griechenland und der Türkei sowie zwischen Polen und der Sowjetunion, auf mehr oder weniger nicht staatlicher

56 Peter Grupp, Juden, Antisemitismus und jüdische Fragen im Auswärtigen Amt in der Zeit des Kaiser� reichs und der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), 237–248, hier 246 f. 57 Hans-Jürgen Dröscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der ‚End­ lösung‘. Berlin: Siedler, 1987, 121–126.

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Grundlage eine ermutigende Systematik erlangt.58 Im Herbst 1933 setzte der Völkerbund den amerikanischen Außenpolitiker James G. McDonald als Hochkommissar für Flüchtlinge aus Deutschland ein. McDonald wurde von der Passivität der Regierungen und der Blockade seiner Arbeit durch die deutschen Behörden jedoch derart enttäuscht, dass er seinen Rücktritt Ende 1935 mit einer spektakulären Warnung vor einer kommenden Flüchtlingskatastrophe versah. Kurz davor appellierte die Jüdische Rundschau in Berlin an die Regierenden der Welt, den Juden nicht durch humanitäre Redensarten, sondern durch die Öffnung der Tore zu helfen. Als dann die Weltöffentlichkeit, die lange Zeit glaubte, es sei besser, sich nicht in Deutschlands interne Angelegenheiten einzumischen, mit dem gewaltsamen Anschluss Österreichs im März 1938 auf die brutalen Verfolgungsmaßnahmen außerhalb des Reiches mit Empörung reagierte, kamen die Vertreter zahlreicher Regierungen zu einer internationalen Flüchtlingskonferenz im französischen Evian am Genfer See zusammen. Schon im Vorfeld der auf Roosevelts Initiative hin einberufenen Konferenz ließ sich jedoch erkennen, dass keine Macht an einer wirksamen Vereinbarung interessiert war, weder Frankreich noch Großbritannien, das jede Diskussion über Palästina als Einwanderungsland von vornherein ausschloss.59 Der US-Außenminister Cordell Hull signalisierte den Regierungen, dass sie über die vorhandenen Quoten hinaus keine Flüchtlinge aufnehmen müssten. Sein eigenes Amt hielt sich noch Jahre an diese Devise; erst nach der BermudaKonferenz 1943 machte es die von Assistant Secretary Breckinridge Long vertretene Politik rückgängig.60 Als das Hitler-Regime, allem voran Goebbels, am 9. November 1938 das Attentat auf den Legationssekretär der Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch den jungen Juden Herschel Grünspan (Grynszpan) zum Anlass eines blutigen Pogroms („Kristallnacht“) werden ließ, konnte es angesichts des in Evian manifestierten Desinteresses der Regierungen damit rechnen, dass das Ausland empört reagieren, aber keine Intervention zustande bringen würde. Bis 1937 hingegen lassen sich Berichte finden, die den mäßigenden Einfluss des Auslands auf antijüdische Maßnahmen im Reich erkennen lassen. Dabei zeigte auch hin und wieder das Auswärtige Amt Wirkung, nicht 58 Claudena M. Skran, Refugees in Inter-War Europe. The Emergence of a Regime. Oxford: Clarendon, 1995. 59 Vergleichend über die französische und deutsche Politik gegenüber der Einwanderung von Juden siehe Michael Meyer, „Unerwünschte Juden – juifs indésiables“. Ausländische Juden in Deutschland und Frankreich von Ebert bis Hitler, von Clemenceau bis Pétain, in: Deformation der Gesellschaft? Neue Forschungen zum Nationalsozialismus, hg. von Christian A. Braun, Michael Meyer und Seba� stian Weltkamp. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag, 2008, 145–162. 60 Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd.  2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis. Stuttgart: Metzler, 1984, 59–220.

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zu vergessen die Auslandsmissionen, deren Spielraum vor Ort erstaunlich groß war. Die deprimierende Abkehr des Auslands von den Nöten der Juden gab der weitverzweigten und disziplinierten „jüdische Selbsthilfe“ im Reich besonderen Ansporn.61 Die Ausrichtung auf Kultur, insbesondere im 1933 gegründeten Kulturbund Deutscher Juden, war einerseits vom Verbot politischer Betätigung diktiert und von Zionisten kaum oder nur vorübergehend akzeptiert, erfuhr andererseits aus dem Spannungsverhältnis mit dem Regime, das die Kultur als Austragungsort seiner „Revolution“ besonders hoch stellte, weitere Antriebe. Dass hier innerhalb des Reiches, wenn auch von Goebbels’ „Sonderbeauftragtem“ Hans Hinkel im Namen des Propagandaministeriums ständig kontrolliert und gegenüber Gestapo- und SS-Eingriffe nominell abgeschirmt, eine auf allen künstlerischen, literarischen und journalistischen Gebieten originell und kritisch gepflegte deutschsprachige, jedoch nicht nationalsozialistische Kultur gepflegt wurde, hat seit jeher im Schatten der Katastrophe des Holocaust gestanden. Hinkel selbst nannte für die Spielzeit 1937/38 die Zahl von 2.446 Veranstaltungen „auf den Gebieten des Theaters, der Musik und des Vortragswesens“, wobei „die Unternehmungen der jüdischen Religionsgemeinden, der Lehrhäuser und so weiter nicht einbegriffen sind.“ Sie verteilten sich auf „498  Schauspielabende, 96  Opern- oder Operettenabende, 81  Symphonieoder große Orchesterkonzerte, 122 Kammermusikabende, 56 Chorkonzerte, 508  Solistenkonzerte, 249  Vortragsabende, 267  Vorträge, 278  Kleinkunstabende, 24 Tanzabende, 201 Bunte Abende und 66 Filmvorführungen.“62 Volker Dahm, der das ungeheuer verzweigte Konglomerat zentraler und regionaler NS-Kulturpolitik unter Goebbels’, Rusts und Rosenbergs Aufsicht überschaubar gemacht hat, lieferte dazu mit seiner detaillierten Bestandsaufnahme des Kulturbundes Deutscher Juden unter der Leitung von Kurt Singer gleichsam ein Pendant; auch hier war die Kulturarbeit von Spannungen zwischen zentralen und lokalen, dogmatischen und pragmatischen Kräften intensiv geprägt.63 Diese Kulturarbeit, die sich unter der ständigen physischen und mentalen Bedrohung der gefährdeten Bevölkerungsgruppe entfaltete, zielte auf die Schaffung einer tragfähigen Minderheitsidentität in den größeren – deutschen und 61 Salomon Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Nazi-Regime 1933–1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Tübingen: Mohr, 1974; Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, hg. von Wolfgang Benz. München: Beck, 1988. 62 Hans Hinkel, Deutschland und die Juden, in: Judenviertel Europas. Die Juden zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, hg. von Hans Hinkel. Berlin: Volk und Reich, 1939, 7–16, hier 12. 63 Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, 2  Bde. Frankfurt: Buchhändler-Vereinigung, 1979; Kulturelles und geistiges Leben, in: Die Juden in Deutschland 1933–1945, 75–267.

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jüdischen – Kulturzusammenhängen. Diese Organisationsarbeit vollzog sich in der kaum erträglichen Spannung zwischen der amtlichen Auflage, dass „rassisch artfremde Menschen nicht in der Lage sind, deutsche Kulturgüter zu pflegen, zu verwalten oder gar zu gestalten“,64 und dem Vorwurf vieler Juden, dass sie trotz aller Weltläufigkeit ein Ghetto, ja eine Falle entstehen lasse, insofern deutsche Juden vor der harten Wahrheit, das Land verlassen zu müssen, einen Wall von Theater, Musik, Büchern, Erwachsenenbildung und Zeitungen errichteten. Dennoch repräsentierte sie mit ihren 2.500 Künstlern (Schauspielern, Sängern, Instrumentalisten, Rezitatoren, Regisseuren, Tänzern, bildenden Künstlern) und Dozenten, die vor insgesamt 70.000 Menschen in fast hundert Städten auftraten, eine gemeinschaftliche Kulturpraxis, die einem gewichtigen Teil jüdischen Künstlertums eine gewisse wirtschaftliche Basis verschaffte, Weiterbildung und gehobene Unterhaltung aus eigenen Mitteln bestritt und gegen die staatliche Propagandanutzung von Kultur deren moralische Essenz als unmittelbare Erfahrung freisetzte. Das verband sich mit einer in dieser Intensität zuvor nicht geführten publizistischen Auseinandersetzung mit Leistungen, Bedrohungen und Zukunftsperspektiven künstlerischer und kultureller Praxis von deutschen Juden. Hierbei kam die Teilhabe der Juden an der Schaffung der modernen Lebenskultur der Weimarer Republik ebenso zur Sprache wie die Erneuerung jüdischer Eigenkultur und -überlieferung, die „jüdischen Renaissance“, vor 1933.65 Gerade bei dieser Erneuerung ließen sich die Affinitäten zur Gemeinschaftsideologie im völkisch-nationalen Umkreis nicht wegdenken, ja in gewisser Weise verstand sich ein Teil der jüdischen Kulturbewegung in den dreißiger Jahren als Emanzipation einer eigenen Volkskultur und reflektierte insofern die weltweite Ethnisierung dieser Jahre. Andererseits gewann die 1912 im Kunstwart von Moritz Goldstein initiierte Debatte über die Lenkung der deutschen Kultur von jüdischer Seite neue Brisanz („Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht“). Beide Positionen, die der ethnischen Emanzipation und die der „Verwaltung“ der deutschen Kultur, wurden von nationalsozialistischen Kritikern attackiert, um den Juden je nach Laune eine verjudete oder kulturarrogante Usurpation der deutschen Kultur nachzuweisen und ihre Vertreibung zu begründen.66 Auf beiden Seiten der rassischen Trennung griff man in den ersten Jahren auf die Be64 Hinkel, Deutschland und die Juden. 65 Michael Brenner, The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. New Haven/London: Yale University Press, 1996; Aschheim, German History and German Jewry. Boundaries, Junctions and Interdependence, in: Leo Baeck Institute Yearbook XLIII (1998), 315–322. 66 Siehe den repräsentativen, 1935 vom Institut zum Studium der Judenfrage herausgegebenen Band: Die Juden in Deutschland, 6. Aufl. München: Franz Eher, 1937, 163–368, über Goldstein 163–171.

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gegnungstheorie zwischen verschiedenen Kulturen zurück, die Anfang der dreißiger Jahre von Adolf Morsbach als Konzept für die Beziehungen mit anderen Ländern propagiert worden war. Diese Theorie forcierte die Essenzialisierung von ‚deutsch‘ und ‚jüdisch‘. Die Qualen, die das bereitete, hat Victor Klemperer in seinen Tagebüchern beschrieben. Sie klingen schon bei Goldstein an und wurden von ihm 1933, als er wiederum in die Debatte eingriff, erneut in der Schwebe gelassen. Als bedeutsamer Zeuge der Problematik, die dieser Essenzialisierung innewohnt, lässt sich Goldstein auch aus späterer Perspektive zitieren, insofern er eine Bezugsgröße beschwor, die in einer Zeit schwindender Essenzialismen in der Identitätsbildung wieder aktuell geworden ist. In einem 1933 von der Jüdischen Rundschau veröffentlichten Artikel lehnte Goldstein die Etablierung eines jüdischen Kulturghettos ab. Er plädierte fürs „Weitermachen“ in der europäischen Kulturgemeinschaft, wenn auch nicht als Verwalter der deutschen Kultur: „Weitermachen. Wenn wir auch erleben, dass die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden zurückgenommen wird: die welthistorische Tatsache ihres Eintritts in die europäische Kulturgemeinschaft läßt sich nicht zurücknehmen. Die Juden sind mündig geworden. Sie haben sich dem Strom des europäischen Geisteslebens geöffnet, der Strom hat sie mit sich fortgetragen. Europäische Kultur und Zivilisation, seit jeher eine Gesamtleistung vieler konkurrierender Nationen, hat seit 100 Jahren auch die Mitleistung der Juden in sich aufgenommen, die Anteile lassen sich nicht mehr scheiden.“67 Hatte Goldsteins Feststellung von 1912 die nun gewaltsam vorgenommene Trennung bereits mitvollzogen? Wenn er auch den Holocaust nicht voraussah, war er bei seiner Forderung nach Selbstüberwindung nicht naiv: „Ein Jahrhundert lang haben wir die Teilnahme am europäischen Geist als ein bequemes Recht genossen. Jetzt sind wir in eine Lage geraten, wo Heroismus dazu gehört, um weiter teilzunehmen. Es hängt von uns ab, von unserer Zähigkeit, von unserer Empfänglichkeit, von unserer seelischen Kraft, von unserer Zuversicht, von unserem Schwung und unserer Leidenschaft, ob wir weiter daran teilnehmen können.“68 Obwohl dieses „Weitermachen“ von Auschwitz desavouiert worden ist, gehört seine Möglichkeit und Akzeptanz zur Geschichte des neueren Europa. Einer seiner großen Zeugen ist der Autor bedeutender Romane wie Der Streit um den Sergeanten Grischa aus dem Ersten Weltkrieg und Das Beil von Wandsbek aus dem Zweiten Weltkrieg, der Freudianer, enttäuschte Palästina-Emigrant 67 Moritz Goldstein, Kulturghetto?, in: Jüdische Rundschau vom 28.7.1933, zit. nach Saskia Schreuder, Würde im Widerspruch. Jüdische Erzählliteratur im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1938. Tübingen: Niemeyer, 2002, 21. 68 Zit. nach ebd., 22.

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und Rückkehrer in die spätere DDR, Arnold Zweig. Er schloss seine kämpferisch und illusionslos geschriebene Bilanz der deutschen Judenheit 1933 mit den Sätzen: „Als Carlyle Goethes olympische Altersworte: ‚Wir heißen euch hoffen‘ ins Englische übersetzte, schrieb er hin: ‚Work and despair not‘. Diese Prägung des leidenschaftlichen Schotten nehmen wir auf: ‚Arbeiten und nicht verzweifeln!‘“69 Mit der sarkastischen Warnung an die Deutschen, sich nicht mit der Arbeit von „Fremden“ zu schmücken, hatte Benedetto Croce sicherlich recht. Aus einer zwiespältigen Geschichtserzählung sind zwei geworden. Aber jenes „Weitermachen“ trotz fortdauerndem Antisemitismus gehört nun einmal zur deutschen und österreichischen Geschichte wie Auschwitz selbst. Nur mit dieser ausgerechnet von Goldstein formulierten Maxime lässt sich fassen (wenn auch nicht immer verstehen), dass nach Auschwitz Juden an prominenter und weniger prominenter Stelle, obgleich in gegebener Distanz, den kulturellen und moralischen Aufbau der drei deutschsprachigen Nachfolgestaaten des Dritten Reiches mit ermöglicht haben, von Hans Rothfels bis zu Theodor Adorno, Marcel Reich-Ranicki und Anna Seghers bis hin zu Bruno Kreisky. Ohnehin sind erst nach 1945 die ganzen Folgen der nationalsozialistischen Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Kultur einigermaßen sichtbar geworden. Sie enthalten ihre eigenen Widersprüche. An erster Stelle steht die schmerzhaft paradoxe Tatsache, dass mit den vertriebenen Juden in Kultur und Wissenschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts zentrale Denk‑, Inszenierungsund Wissenschaftsformen deutsch-österreichischer Herkunft wie nie zuvor über die Welt verbreitet wurden, die sich tief in die europäische und amerikanische Kulturgeschichte eingegraben haben. Das sollte dann seine eigenen Konsequenzen für die Wiederanknüpfung auswärtiger Kulturpolitik der Nachfolgestaaten haben. Sieht man von der Entlastungsfunktion des Kalten Krieges ab, konnte die deutsche Seite trotz der nationalsozialistischen Verbrechen auf eine gewisse Vertrautheit mit deutschen Dingen setzen. Zugleich vertiefte es aber auch die Schatten über dem Umgang der betroffenen Gesellschaften mit der genozidalen Nation, hielt diese mit zunehmender Wiedererstarkung in zunehmender Verantwortung für Auschwitz. Ist vom „Weitermachen“ deutsch-jüdischer Emigranten die Rede, so war deren Rückkehr eher selten (und von Deutschen und Österreichern wenig erwünscht). Und doch lässt sich ohne die Versöhnungsarbeit der in den USA ansässig gewordenen Juden die Wiederannäherung der Vereinigten Staaten an Deutschland, zu der die zeitweilige Beses69 Arnold Zweig, Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch (Berliner Ausgabe). Berlin: Aufbau, 1998, 239; Michael Brenner, Wider den Mythos der „Stunde Null“ – Kontinuitäten im innerjüdi� schen Bewußtsein und deutsch-jüdischen Verhältnis nach 1945, in: Menora 1992, 155–181.

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senheit im Hinblick auf die modernistische Erbschaft der Weimarer Republik gehört, kaum in dieser Intensität denken. Die andere, nicht weniger schmerzhaft paradoxe Thematik, die hier nur erwähnt werden kann, betrifft die – traumatischen und konstruktiven – Folgen, die nicht nur der Holocaust, sondern auch die forcierte Ethnisierung und Emigration deutscher Juden in den dreißiger Jahren für den Aufbau des jüdischen Staates Israel hatte. Bis 1933 hatten sich in Palästina nur etwa 2.000 deutsche Juden angesiedelt, später fanden etwa 60.000 unter größten Schwierigkeiten den Weg ins Land (und begegneten dort bei der Aufgabe des Deutschen zugunsten des Hebräischen noch einigen anderen, wenngleich nicht mehr lebensbedrohenden Hindernissen). Während ihr politischer Einfluss minimal blieb, hatten sie großen Anteil am Aufbau der israelischen Gesellschaft, speziell in Medizin und den Wissenschaften, im Rechtswesen, in Landwirtschaft und Sozialarbeit. Was Kunst und Kultur angeht, sei dazu noch einmal der polnischjüdische Geiger Bronislav Huberman angeführt. Ihm ermöglichte die Massenauswanderung der Juden aus Deutschland, seinen Traum von der Gründung eines Sinfonieorchesters von Weltformat in Palästina zu verwirklichen. 1936 machte der in Deutschland tief verwurzelte Musiker seinem Unmut über die Kollaboration der deutschen Intelligenz mit dem Regime in einem „Offenen Brief an die deutschen Intellektuellen“ im Manchester Guardian Luft.70 Im selben Jahr gelang ihm mit Unterstützung vieler deutscher Juden die Gründung des Orchesters in Tel Aviv. Im Dezember 1936 stand am Pult des Eröffnungskonzerts kein Geringerer als Arturo Toscanini.71

Machtkämpfe um auswärtige Kulturpolitik 1933–1937 Die lautstarken, oft gehässigen Machtkämpfe um die Führung in der innerdeutschen und auswärtigen Kulturpolitik nach 1933 lassen sich zwar nicht alle auf Hitlers polykratischen Führungsstil zurückzuführen, bezogen aber aus dem Kalkül des Führers, keine endgültigen Verantwortlichkeiten zu etablieren, die Radikalisierungs- und Blockierungseffekte, die die neuere Forschung in mühseliger Arbeit auseinanderdividiert hat.72 Als ihre Hauptakteure hat man 70 Geissmar, Musik im Schatten der Politik, 116–118. 71 Ruth Bondy, Der Dornenweg deutscher Zionisten in die Politik. Felix Rosenblüth in Tel Aviv, in: Menora 1998, 297–314, hier 306. 72 Jonathan Petropoulos, Art as Politics in the Third Reich. Chapel Hill/London: University of North Carolina Press, 1996. ����������������������������������������������������������������������������� Zu Hitlers polykratischem Regierungsstil siehe Martin Broszat, Der Staat Hit� lers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung. München: Deutscher Taschenbuch� verlag, 1969.

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Goebbels, Ribbentrop, Rosenberg, Göring, Himmler, Rust, Speer, Bouhler und Bohle herausgestellt, jedoch sollte man nicht übersehen, dass sich als ihre praktischen Hauptakteure darüber hinaus Hunderte von Partei- und Verbandsfunktionären, Reichskulturkammerbeamten, Ministerialräten, Kulturabteilungsleitern, Prüfungskommissionsvorsitzenden, Intendanten, Verlegern, Professoren und Dichtern betrachteten. Das war eine breite Phalanx von Verantwortlichen, die sich befugt sahen, die in der „Systemzeit“ verzerrte deutsche Gemeinschaftskultur als Kern völkischer Existenz im Alltag neu zu verankern. Und wie es einst zu Kriegsbeginn mit großer Hektik geschehen war, vermischten sich wieder die verschiedensten privaten und staatlichen Initiativen im Bemühen, den Mangel an konzeptionellen Vorgaben mit völkisch-nationalem Gesinnungselan zu kompensieren. Kulturpolitik besaß dabei insofern eine besondere Anziehungskraft, als die „Eigenmobilisierung“, die die nationalsozialistische „Revolution“ in Bewegung setzte, Handlungsinitiativen im krisengeschüttelten Wirtschaftsbereich kaum erwarten ließ. Die Organisationshektik kehrte wieder, und so auch der Impuls, die Macht der eigenen Institution auf Kosten der Konkurrenten zu erweitern. Machtkampf bildete die Konstante, Kultur die Variable. So auch bei der Kulturarbeit mit dem Ausland, trotz ihrer Unbequemlichkeiten. Weder Propagandaminister Goebbels noch Erziehungsminister Rust beschränkten sich auf den Machtzuwachs, den der Ausbau des Riesenkonglomerats kultureller Mobilisierung ihren Ministerien bescherte. Sie streckten ihre Hände danach aus, dem Auswärtigen Amt auswärtige Kulturpolitik streitig zu machen und, wo es nicht ausdrücklich gegen Hitlers Willen ging, wegzunehmen. Als Goebbels jedoch versuchte, alle Einrichtungen auswärtiger Kulturbeziehungen in der zu schaffenden Anstalt „Deutscher Kulturaustausch“ unter dem Dach des Propagandaministeriums zusammenzufassen, stieß er 1935 auf die vereinte Gegenwehr von Auswärtigem Amt und Reichserziehungsministerium.73 Dennoch gelang es sowohl Goebbels als auch Rust, der 1933 zum preußischen Kultusminister berufen wurde und 1934 zum Reicherziehungsminister aufstieg, sich wichtige Kompetenzen zu unterstellen. Auch dies entsprang Hitlers Taktik, die Kompetenzen zu teilen oder im Vagen zu belassen, um sich das letzte Wort vorzubehalten. Das Auswärtige Amt sicherte sich lediglich die Verwaltung der Routinekontakte mit Auslandsdeutschen, Minderheiten und

73 Abelein, Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland, 131 f. Über Goebbels’ und Rusts Konkurrenz im Bereich der Kunst- und Bildungsverwaltung des Reiches s. Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volks� bildung 1934–1945. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2012, 138–149.

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Auslandsbehörden, während Rust die Wissenschaftsbeziehungen und Goebbels die Kunstbeziehungen an sich zogen. Mit dem 1934 gegründeten, aus dem preußischen Kultusministerium hervorgegangenen Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung verwirklichte das Regime die seit Langem angestrebte – und bekämpfte – Zentralisierung der Kulturpolitik, zumindest im Erziehungs- und Hochschulbereich. Ihm wurde die Pflege der wissenschaftlichen, akademischen, studentischen und pädagogischen Beziehungen zum Ausland übertragen, wobei Rust dem Ministerium einen gewichtigen Anteil an der Betreuung des DAAD und der Auslandsschulen sicherte.74 Dafür gründete er eine Abteilung für Grenzpolitik und Ausland, die er im Mai 1935 in das Amt Wissenschaft eingliederte. In diesem Amt arbeiteten mit Otto von Kursell, Wilhelm Burmeister und Herbert Scurla tatsächlich Kulturpolitiker, nicht nur Kulturverwalter; Burmeister und Scurla standen hinter der Expansion des DAAD, die Morsbach eingeleitet hatte. Seinen größten Erfolg errang Rust 1936, als sein Ministerium und nicht das Auswärtige Amt das erste von der Reichsregierung abgeschlossene Kulturabkommen mit einem anderen Land, in diesem Falle Ungarn, verhandelte und unterzeichnete. Noch tiefer griff Goebbels in die Struktur des Auswärtigen Amtes ein, als er das bis 1933 von Johannes Sievers geleitete Kunstreferat mit den Verantwortlichkeiten für Kunstausstellungen, Musik, Theater, bildende Kunst, Film und Sport aus der Kulturabteilung, die ab 1932 von Friedrich Stieve geleitet wurde, herauslöste und seinem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda einordnete.75 Damit bekam er neben der Pressestelle dasjenige Referat in die Hand, das für das offizielle künstlerische Gesicht des Reiches im Ausland in Konzerten, Ausstellungen, Theater- und sonstigen Aufführungen ausschlaggebend war. In Sievers hatte die Weimarer Republik einen verlässlich demokratischen, der internationalen Moderne und dem Werkbund verpflichteten Mittler besessen. Mit der Übernahme handelte sich Goebbels besonders auf dem Gebiet der Kunst eine auch von Rosenberg, Rust und anderen reklamierte Materie ein. Zunächst setzte er sich nicht völlig von der „gemäßigten Moderne“ ab, wie Museumsdirektor Eberhard Hanfstaengl sie nannte, den er 1935 als Kommis74 In der ausführlichen Auflistung der Aufgabenstellung des Ministeriums für den Reichsfinanzminister heißt es an markanter Stelle: „Als eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Kulturpolitik, deren Pflege nunmehr dem neuen Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an� vertraut ist, ist die Pflege und der Ausbau der kulturellen Beziehungen zum Auslande anzusehen.“ Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 14.11.1934 (R. U. I Nr. 35602, Politisches Archiv des AA, R 61126). 75 Über die Vereinbarungen des Außenministers von Neurath mit Goebbels 1933 und dem Reichserzie� hungsministeriums 1934 s. Twardowski, Anfänge der deutschen Kulturpolitik zum Ausland, 29–33.

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sar für deutsche Auslandsausstellungen berief, der aber dann, als sich Hitlers harte Linie gegen die moderne Kunst durchsetzte, 1937 dieser Funktion entbunden wurde. Hanfstaengl hatte sich noch im selben Jahr für Emil Nolde stark gemacht. Der Streit zwischen Goebbels, Rosenberg und Rust über das Dilemma, welche Künstler man als repräsentativ für das gegenwärtige Deutschland ausstellen sollte, verzögerte bis 1938 die erste deutsche Kunstausstellung des Dritten Reiches im Ausland, abgesehen von Beiträgen zur Biennale in Venedig und zur Weltausstellung in Paris. Gemäß der werbenden Kulturpolitik um Polen fand sie in Warschau statt. Sie wurde schließlich durch Arno Breker ermöglicht, der mit seiner Auswahl unter dem Titel „Deutsche Bildhauer der Gegenwart“ die Tatsache vertuschte, dass die moderne deutsche Malerei ausgespart wurde.76 Der Deutsche Werkbund hatte sich bereits vor Hitlers Machtübernahme so stark zerstritten, dass er der Gleichschaltung 1933 wenig Widerstand entgegensetzte. 1934 verlor er jegliche Unabhängigkeit und wurde von Goebbels in die Reichskammer der bildenden Künste inkorporiert.77 Die scheinbar nicht amtliche Deutsche Kunstgesellschaft, die zentrale Vermittlerin von kulturellen Veranstaltungen und Ausstellungen mit dem Ausland, entging Goebbels’ Zugriff nicht. Als „Deutsch-Europäische Kunstgesellschaft“ wurde sie, wenn auch nach außen nicht sichtbar, dem Propagandaministerium unterstellt, allerdings 1934 aufgelöst. Einer ihrer Amtsträger kommentierte, im Gegensatz zum Auswärtigen Amt herrsche im Propagandaministerium offensichtlich die Auffassung vor, der Kulturaustausch mit dem Ausland lasse sich auch „direkt und ohne Vermittlung einer privatgesellschaftlichen Tarnung“ abwickeln.78 Mit der Aufsicht über die mit dem Ausland am engsten verflochtene und dort am höchsten geachtete Sparte deutscher Kultur, die Musik, sicherte sich Goebbels zugleich das Kronjuwel auswärtiger Kulturrepräsentanz, die Berliner Philharmoniker. Als privatrechtliche Organisation von der Gleichschaltung verschont, jedoch öffentlicher Unterstützung verlustig gegangen, stand das Orchester im Sommer 1933 vor dem Konkurs. In dieser Situation handelte Chefdirigent Wilhelm Furtwängler mit Hitler in Berchtesgaden eine Bestandsgarantie um den Preis der Unabhängigkeit aus. Der Vertrag vom 28.  Oktober 1933 wurde Furtwänglers höchsteigener faustischer Pakt. Den Philharmonikern ermöglichte er die Schaffung höchster Kunst mit eigenständiger Personalbefugnis, aber sie sanken zur nachgeordneten Dienststelle des 76 Karina Pryt, Befohlene Freundschaft. Die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen 1934–1939. Os� ��� nabrück: Fibre, 2010, 409–423. 77 Joan Campbell, The German Werkbund. The Politics of Reform in the Applied Arts. Princeton: Princeton University Press, 1978, 243–287. 78 Zitiert aus einem Brief von Mutzenbecher, Deutsch-Europäische Kunstgesellschaft, vom 23.6.1934, in: Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf, 65.

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19 Wilhelm Furtwängler dirigiert im Gebouw voor Kunsten im Haag 1932. Foto Erich Salomon. In: Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz Nr. 10008984

Propagandaministeriums herab, mit Goebbels als ihrem offiziellen Schirmherrn.79 Immerhin nutzte Furtwängler seine überragende Stellung gegen bestimmte kulturpolitische Maßnahmen der Regierung, konnte jüdische Musiker bis 1935 im Orchester halten und setzte sich für Paul Hindemith ein. Sein erzwungener Rücktritt 1934 löste einen starken Besucherboykott aus. Deutsche Botschaften berichteten von einem „empfindlichen Prestigeverlust der deutschen Kulturpropaganda“ in der internationalen Öffentlichkeit.80 Nach geheimen Verhandlungen mit Goebbels und Rosenberg und schließlich Hitler kehrte Furtwängler auf das Podium zurück, auf dem er bis zum Winter 1944/45 bei Hunderten von Konzerten vom Ausland als Garant einer höheren deutschen Kultur gefeiert wurde. Viele Beobachter hielten sein Auftreten im Na79 Henning Bleyl, Klassische Musik als Propaganda-Medium? Zur politischen Funktion der Auslands� reisen der Berliner Philharmoniker für den NS-Staat, in: Kultur und Wissenschaft beim Übergang ins „Dritte Reich“, hg. von Carsten Könneker, Arnd Florack und Peter Gemeinhardt. Marburg: Tectum, 2000, 29–46; Pamela Potter, Most German of the Arts. Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler’s Reich. New Haven: Yale University Press, 1998. 80 Zit. nach Bleyl, Klassische Musik als Propaganda-Medium?, 32.

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men des Dritten Reiches für einen Verrat an der deutschen Kultur, er selbst berief sich darauf, mit seinem Orchester das „andere Deutschland“ hochgehalten zu haben. Während Hitler Furtwängler immer als großen Dirigenten schätzte, besaß Goebbels wenig Interesse an klassischer Musik, abgesehen von ihrer Verwendungsfähigkeit für kulturpolitische Goodwill-Kampagnen. Demgegenüber sah er seine Aufsichtsrolle über die deutsche Filmproduktion als „geradezu schöpferisch“ an, wie er verschiedentlich dem Tagebuch anvertraute. Hierbei ging es ihm zunächst um Einflussnahme auf die Gestaltung individueller Filme, darüber hinaus aber suchte er seine Bestrebungen um internationale Präsenz durch Übertrumpfen oder Vereinnahmen ausländischer Filmindustrien in Erfolge umzuwandeln. Auf diesem wohl noch stärker als Musik übernational ausgerichteten Gebiet, wo Deutschland in direktem Wettbewerb mit den USA und Frankreich stand, fühlte er sich am freiesten, die Sprache der Kultur von den höheren Ambitionen seines Meisters zu entlasten und den Maßstäben von Unterhaltung und Unterhaltsamkeit zu unterwerfen. Außer dem Verlust der Kunstabteilung erfuhr das Auswärtige Amt Eingriffe auf einem Gebiet, das mit der Übernahme der Regierung durch die NSDAP als besonders explosiv galt: dem der Betreuung der Reichsdeutschen (Auslandsdeutschen) sowie der deutschen Minderheiten in anderen Ländern (Volksdeutschen), insbesondere in Polen, der Tschechoslowakei und Litauen. Mit geheimer Subventionierung von Volksdeutschen ebenso wie mit offizieller Anwaltschaft für europäische Minderheiten hatte die frühere Reichsregierung gemischte Signale gegeben, und die Erwartung war groß, dass die Nationalsozialisten deutsche Minderheiten nun politisch aktivieren würden. Angesichts der Vorstöße des ehrgeizigen Leiters der Auslandsabteilung der NSDAP, Ernst Wilhelm Bohle, geriet das Amt unter Druck; auf sein Agitieren auslandsdeutscher Organisationen hin musste das Amt ausländischen Regierungen mehrmals Demarchen zugehen lassen. Ohnehin lag der Vorwurf, das nationalsozialistische Deutschland baue fünfte Kolonnen auf, häufig in der Luft; das kulturpolitische Engagement der USA in Lateinamerika Ende der dreißiger Jahre besaß darin einen wichtigen Antrieb. 1937 bekam Bohle zugleich die Leitung der Auslandsorganisation im Amt (AO) und damit die offizielle Betreuung der Reichsdeutschen zugesprochen, konnte sich jedoch gegen das Machtwort seines Mentors Rudolf Hess, dem Hitler Verfügungsmacht erteilte hatte, die Betreuung der deutschen Minderheiten (Volksgruppen) nicht sichern. Hier ließ Hitler die nominelle Verantwortung in der Hand des Auswärtigen Amtes, wohl wissend, dass das Reich auf diesem Gebiet in den ersten Jahren gemäß seiner ‚weichen‘ Außenpolitik mit Vorsicht auftreten musste. Unbedachtsame politische Aktionen zugunsten deutscher Volksgruppen wurden von der jeweiligen Regierung mit Gegenmaßnahmen beantwortet und

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schlugen gegen die Gruppe zurück. Was andererseits auch hieß, dass geheime Unterstützung und subversive Aktionen anwuchsen und die reichsdeutschen Verantwortlichen dem Intrigen- ein Versteckspiel hinzufügten. In dem internen Kompetenzenkrieg um das Deutschtum im Ausland, wie der Sammelbegriff lautete, privilegierte das Auswärtige Amt die auf diesem Gebiet seit 1908 tätige und bestvernetzte Organisation, den Volksbund für das Deutschtum im Ausland. Er besaß in Hans Steinacher 1933–1937 einen bekannten Vertreter der Volkstumspolitik aus Österreich (Kärnten). Den Ruf, nicht Parteimitglied zu sein, nutzend, vermochte Steinacher in der Tat gegenüber der NSDAP das Selbstbewusstsein ethnisch-sprachlicher Diasporas ins Feld zu führen, die den nationalen Aufbruch im Reich im Allgemeinen begrüßten, sich aber keineswegs einer von NS-Funktionären beanspruchten Führung unterwerfen wollten.81 Andererseits nahm er voll an der Gleichschaltung der bestehenden Institutionen der Volkstumspolitik teil, sowohl als Geschäftsführer des Volksdeutschen Rates, der als Koordinationsgremium unter dem Vorsitz von Karl Haushofer und der aktiven Mitarbeit von dessen Sohn Albrecht Haushofer 1935 schließlich an mangelnden Kompetenzen und der Konkurrenz mit Bohle scheiterte, als auch mit anderen verbands- und personalpolitischen Entscheidungen.82 Brutale Formen von Gleichschaltung brachten das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart mit dem Hinauswurf seiner liberalen Führung in die Hände von Richard Csaki, einem ebenfalls bekannten Volkstumspolitiker, der sich als Leiter des Deutschen Kulturamts für Rumänien im siebenbürgischen Hermannstadt mit seinen überlegten Ansichten zur eigenständigen Kulturarbeit der Auslandsdeutschen profiliert hatte.83 In der Position als DAI- Geschäftsführer praktizierte Csaki die von den Ministerien geforderte volle Unterordnung der Volkstumskultur unter die Erfordernisse Hitler’scher Außenpolitik, die sich in der engen Zusammenarbeit mit Bohles Auslandsor81 Tammo Luther, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933–1938. Die Auslandsdeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Nationalsozialisten. Stuttgart: Steiner, 2004, 120–122; Hans Steinacher. Bundesleiter des VDA 1933–1937. Erinnerungen und Dokumente, hg. von HansAdolf Jacobsen. Boppard: Boldt, 1970. 82 Hans-Werner Retterath, Hans Steinacher. Die Stilisierung zum ersten Soldaten des „Volkstumskamp� fes“ und nach 1945 zum NS-Opfer, in: Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahr� hundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, hg. von Michael Fahlbusch und Ingo Haar. Pader� born: Schöningh, 2010, 153–176 (darin auch über Steinachers Arbeit für die österreichische NSDAP und Mitgliedschaft, 171 f.) 83 S. Csakis Bericht „Zur deutschen Kulturpolitik in Osteuropa“ auf der Vollversammlung der deut� schen Minderheitentagung in Hermannstadt am 19.7.1925, im Auszug abgedruckt in: Misstrauische Nachbarn. Deutsche Ostpolitik 1919/1970. Dokumentation und Analyse, hg. von Hans-Adolf Ja� cobsen. Düsseldorf: Droste, 1970, 36–40; sowie Csakis Bericht an den VDA vom 16.11.1925, „Kul� turelle Zusammenarbeit der auslanddeutschen Minderheiten in Europa mit dem Binnendeutsch� tum“ (Politisches Archiv des AA, R 60003, K 633358-60).

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ganisation niederschlug. Csakis Vorgänger, dem jüdischen DAI-Generalsekretär Fritz Wertheimer, war bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme eines Morgens vom Pförtner, dem bis dahin einzigen Parteigenossen im Institut, der Zutritt zum Gebäude versagt worden; kurz darauf wurde Präsident Theodor Wanner in seiner Wohnung überfallen und misshandelt, ein Vorfall, der nie weiter verfolgt wurde.84 1938 steckte dann der mächtigste Funktionär das Terrain des Deutschen Volkstums im Ausland für die Interessen der SS ab. Ab 1938 schaltete Heinrich Himmler mit der Volksdeutschen Mittelstelle der SS die Deutschtumspolitik gleich (und stattete sie mit einem riesigen Budget aus).85 Statt von Sprach- und Kulturvermittlung sprach man in all diesen Ämtern in dieser Phase vor allem vom „Einsatz“ der Kultur. Als Hitlers Ideengeber für seine geopolitischen Expansionspläne und Ratgeber von Rudolf Hess besaß Karl Haushofer so viel Prestige, dass er als Präsident die Deutsche Akademie in München eine Zeit lang in gewisser Unabhängigkeit führen konnte. Die Akademie hatte sich unter Generalsekretär Franz Thierfelder zur zentralen Instanz der deutschen Sprachverbreitungspolitik entwickelt und baute nach 1930 die bis dahin vernachlässigte systematische Versorgung ausländischer Hochschulen mit Deutschlektoren zu einem umfangreichen Unternehmen aus, das in den Kriegsjahren zur größten Institution auswärtiger Kulturpolitik avancierte, teilweise in Kooperation mit den vom Auswärtigen Amt koordinierten Deutschen Wissenschaftlichen Instituten. Thierfelder setzte zunächst Kurs auf Südosteuropa, diejenige Region, die für das NS-Regime als Nahrungslieferant und Exportziel lebensnotwendig wurde, mit ihren ethnisch-nationalen Ambitionen zudem für die völkische Kulturideologie einen interessierten Abnehmer stellte. Aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten mit Haushofer verließ Thierfelder die Deutsche Akademie 1937. Im selben Jahr trat Haushofer als Präsident zurück.86 Steinacher musste seine Stellung Ende 1937 räumen. Zu dieser Zeit näherte sich die relativ selbstständige Arbeit dieser Organisationen wie auch die des DAAD ihrem Ende. Der DAAD erhielt 1934 den Titel „Reichszentrale für akademische Auslandsarbeit“ und fügte den als selbst84 Ritter, Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945, 54 f.; Katja Gesche, Kultur als In� strument der Außenpolitik totalitärer Staaten. Das Deutsche Ausland-Institut 1933–1945. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau, 2006. 85 Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938. Frankfurt/Berlin: Metzner, 1968, 234–246; Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. Cambridge: Cambridge University Press, 1988, 161 f. 86 Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 120; Edgar Narvolk, Eichenzweig und Hakenkreuz. Die Deutsche Akademie in München (1924–1962) und ihre volkskundliche Sektion. München: Münchner Vereinigung für Volkskunde, 1990, 30–37.

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ständigen Kulturinstituten arbeitenden Zweigstellen in London, Paris und Rom bis Kriegsausbruch weitere in Kopenhagen, Stockholm, Den Haag und New York hinzu. Sein Leiter Wilhelm Burmeister hielt diesen Kurs bis 1937/38 ein, als das Auswärtige Amt, wie Mackensen den Botschaften in dem zitierten Erlass mitteilte, die Führung der auswärtigen Kulturpolitik wieder an sich zog und ein Generalreferat (Kult.Gen.) einrichtete.87 Die relative Unabhängigkeit der nicht amtlichen oder Mittlerorganisationen hatte diese, teilweise bis 1937, aus der unmittelbaren Schusslinie herausgenommen. Das ermöglichte den um 1930 besonders im akademischen Bereich mit China, Japan, Iberoamerika, Nord- und Südosteuropa ausgeweiteten Arbeitskontakten eine gewisse Kontinuität, zumal die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft den Wissenschaftleraustausch weiterhin mit ihrem eigenen Prestige versah. Im Zuge der zunehmend selbstbewusst geführten Außenpolitik erkannten die Beamten in den diversen Ämtern die Nützlichkeit all dieser Beziehungen, deren Wert vor allem darin lag, dass sie die Kooperation ausländischer Experten, Forscher und Studenten auch mit dem aktuellen Deutschland sicherten. Die von Carl Heinrich Becker forcierte Einrichtung auslandswissenschaftlicher Institute, die sich in der Weimarer Republik in dem durch Geldmangel verstärkten Konkurrenzdruck der Universitäten eingeengt fühlten, erwies sich als fruchtbarer Boden für die Förderung von Auslandswissenschaften oder „Nationenwissenschaften“, wie es Anton Palme 1935 in einer Denkschrift nannte. Unter Palmes Leitung erfolgte 1935/36 die Umbenennung des von Bismarck für die Diplomatenschulung gegründeten Seminars für Orientalische Sprachen in Berlin zur „AuslandsHochschule“.88 Aus der Erwägung heraus, dass ein solcher Ausbau dem expansiv operierenden Staat als Informations- und Beratungsquelle nützlich werden konnte, forderte man eine stärkere Subventionierung der betreffenden universitären und außeruniversitären Arbeitsstellen. Das allerdings brachte mit sich, dass auch die akademischen Institute und die von ihnen Betreuten bei den Partnern im Ausland Misstrauen weckten. Ihre Nutzung für Propaganda und Spionage war ebenso wie die Inanspruchnahme der diplomatischen Missionen wegen ihres speziellen Status eine in den Hinterzimmern des Regimes immer wieder diskutierte und nicht selten aktivierte Funktion. In dieser Phase verfolgte das Reichserziehungsministerium eine relativ liberale Politik, während Goebbels mit der Aufsicht über die Devisenkontrolle und Himmler mit dem 87 Laitenberger, Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik, 118–142. 88 Felix Brahm und Jochen Meissner, Von den Auslandswissenschaften zu den area studies. Standortspe� zifische und biographische Perspektiven auf die Frage nach dem Zäsurcharakter des Jahres 1945, in: Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, hg. von Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt und Aleksandra Pawliczek. Stuttgart: Steiner, 2006, 263–280, hier 269 f.

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Kommando über die Polizei viele Restriktionen für diese Form der Auslandsbeziehungen durchsetzten, es sei denn, es ging um Kontakte in der Genetik und ähnlichen dem Rassismus verpflichteten Gebieten.

Wissenschaftsemigranten Während die Erneuerer der deutschen Kultur ihre organisatorischen Schützengräben aushoben und ihre ideologischen Geschütze in Stellung brachten, ging der Kulturmacht Deutschland ein gewichtiger Teil ihres Wissenschaftspotenzials verloren. Das geschah leise, blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen, nicht zuletzt da Forschungskooperationen, Gelehrtenbesuche und Studentenaustausch weiterliefen, wenn auch in reduzierter Form. Anders als bei den öffentlichen harschen Maßnahmen gegen politische Gegner, Schriftsteller und Journalisten, die, um der Einlieferung ins KZ zu entgehen, plötzlich ins Ausland flüchten mussten, geschah die Verdrängung im akademisch-wissenschaftlichen Bereich zumeist hinter verschlossenen Türen, es sei denn, dass nationalsozialistische Studenten, dem SA-Vorbild folgend, lärmend und unter Androhung physischer Gewalt Universitätslehrer zur Aufgabe zwangen. Nach Verkündung des zynisch benannten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das 1933 die Entlassung der Juden aus dem Staatsdienst bewirkte, emigrierten zwischen 1.500 und 2.500 Wissenschaftler aus Deutschland und später Österreich.89 Der Hauptteil wählte vor anderen europäischen Ländern Großbritannien als Zufluchtsland, trotz der von Briten 1933–1938 stark restriktiv betriebenen Aufnahmepolitik90; eine gewichtige Anzahl ging in die Türkei, wo mit ihrer Hilfe 1933 in Istanbul die erste moderne Universität errichtet wurde91; schließlich erwiesen sich die USA mit ihrer Vielzahl an Hochschulen und führenden, mit Privatgeldern versehenen Instituten als wichtigstes Aufnahmeland. Schon vor dem Exodus deutschsprachiger Gelehrter hatte sich die Waage der Spitzenforschung, zwischen Kooperation und Konkurrenz europäischer und amerikanischer Forscher schwankend, nach Westen 89 Zur Wissenschaftsemigration aus Österreich: Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kul� turen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945. Frankfurt: Campus, 2001. 90 Stefan Berger und Peter Lambert, Intellektuelle Transfers und geistige Blockaden. Britisch-deutsche Historikerdialoge, in: Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750–2000, hg. von dens. und Peter Schumann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, 63–121. 91 Regine Erichsen, Vom Nationalsozialismus vertriebene Wissenschaftler auf dem Markt. Die Arbeits� vermittlung des englischen Academic Assistance Council (SPSL) am Beispiel von Türkeiemigranten, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996), 219–234.

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geneigt. Mit der neuen Welle europäischer Wissenschaftsflüchtlinge, die dann nach 1938 voll aufbrandete, vermehrte sich das Wissenschaftspotenzial Großbritanniens und vor allem der Vereinigten Staaten besonders nachdrücklich.92 Die erzwungene Abwanderung jüdischer und politisch missliebiger deutscher Wissenschaftler beschäftigte eine Zeit lang die jeweiligen Institute und Fachöffentlichkeiten. Der breiteren Öffentlichkeit jedoch entzog Goebbels’ Sprachregelung, darüber keine größere Diskussion entstehen zu lassen, das Thema. Einzelne Gelehrte empörten sich, insbesondere im Umgang mit ausländischen Kollegen, lenkten aber dann auf die Beschwichtigungspolitik ein. Unter deutschen Kollegen begünstigte der staatlich aktivierte Antisemitismus Distanzierung, Gefühlskälte und Schadenfreude. Nur wer ausländische Kommentare vernahm, ahnte etwas davon, wie groß die Verluste der neuen nationalen Politik waren. Das Auswärtige Amt stand damit vornan, seine Missionen mussten gegenüber den jeweiligen Öffentlichkeiten umdenken; immerhin waren sie in der Abwehr antideutscher Ressentiments nicht ungeübt. Intern kam die Langzeitwirkung der Vertreibung von Juden für das Renommee der deutschen Kultur und Wissenschaft durchaus zur Sprache. So wies Generalkonsul Otto Kiep in New York im Mai 1933 auf die Beeinträchtigungen im Bereich wissenschaftlichen und studentischen Austauschs hin. Er informierte zudem über den Rückgang des deutschen Filmexports; hier werde ein wichtiges Terrain konkurrierenden Kräften überlassen; insbesondere kümmere sich die englische Seite um die Juden.93 (Kiep, später im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet, wurde im August 1933 in den „einstweiligen Ruhestand“ versetzt.) Bereits im Mai 1933 ging ein ausführlicher interner Bericht des Amtes den Auswirkungen des „Gesetzes zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbe92 Siehe die immer noch anregende Darlegung der grundsätzlichen Herausforderung – und Transfor� mation – des britischen Wissenschaftsbetriebes durch die Einwanderung kontinentaler, nicht nur deutsch sprechender Gelehrter in den dreißiger und vierziger Jahren bei Perry Anderson, Compon� ents of the National Culture, in: New Left Review, Nr. 50 (1968), 5–57. Exemplarische Erwähnung finden Ludwig Wittgenstein, Bronislaw Malinowski, Lewis Namier, Karl Popper, Isaiah Berlin, Ernst Gombrich, Hans-Jürgen Eyseneck, Melanie Klein und Isaak Deutscher, dazu lassen sich Nikolaus Pevsner, Leon Radzinovicz und zahlreiche andere Gelehrte nennen, die zu dieser Transformation beigetragen haben. Vgl. Daniel Snowman, The Hitler Emigrés. The Cultural Impact on Britain of Refugees from Nazism. London: Chatto & Windus, 2002; Intellectual Migration and Cultural Transformation. Refugees from National Socialism in the English-Speaking World, hg. von Edward Timms und Jon Hughes. Wien: Springer, 2003 Unter den Darstellungen zu der bereits vor 1933 angekündigten Gewichtsverlagerung internationaler Spitzenforschung nach den USA siehe Donald Fleming, Foreword, in: Forced Migration and Scientific Change. Emigré German-Speaking Scientists and Scholars after 1933, hg. von Michtell G. Ash und Alfons Söllner. Cambridge: ������������������������� Cambridge Uni� versity Press, 1996. 93 Betrifft: Rückwirkungen der antisemitischen Bewegung in Deutschland auf kulturellem Gebiet, Deutsches Generalkonsulat New York, 22. April 1933 (Politisches Archiv des AA, R 64237).

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amtentums“ auf die Situation des wissenschaftlichen Personals nach. Er registrierte die Folgen der Kündigung der jüdischen Hochschullehrer, die Probleme für die nicht jüdischen Hochschullehrer im Ausland und generell die große Beeinträchtigung des Ansehens der deutschen Wissenschaft in anderen Ländern. Dies werde, so mahnte man, von der antideutschen Propaganda intensiv genutzt. Wie wenig das Amt in dieser Situation außer Defensiv- und Über­ wachungspraktiken vorzuweisen hatte, äußerte sich in der Aufforderung, eine exakte Liste der Vorgänge und Akteure anzulegen und mit der „straffen Zusammenfassung aller Einrichtungen“ die „weiteren Möglichkeiten einer kulturpolitischen Aktion“ zu klären. Der Schlusssatz lautete: „Deshalb ist die Schaffung einer solchen Reichsstelle für deutsch-ausländische Kulturbeziehungen das erste Erfordernis. Es versteht sich, dass damit nicht die Schaffung einer neuen Organisation gemeint sein kann.“94 Auf dem Gebiet externer Wissenschaftspolitik aktiv werden hieß somit für den auswärtigen Dienst unter anderem, die emigrierten Wissenschaftler, wenngleich sie sich im Allgemeinen nicht politisch äußerten – zumal sie die Tatsache ihres Judentums in den Gastländern nicht zu einem Thema machen wollten – die lange Hand des deutschen Staates spüren zu lassen. Im Unterschied zu den vom Reich offiziell sanktionierten Auslandsbesuchen deutscher Gelehrter – und das waren nicht wenige – verfuhr die Kulturabteilung des Amtes gegenüber den Wissenschaftsflüchtlingen weitgehend kompromisslos. Darüber geben die entsprechenden Schreiben an die Auslandsvertretungen Aufschluss. In einer Anweisung zur Zeit des Wechsels von Neurath zu Ribbentrop anfangs 1938 rückte Abteilungsleiter Friedrich Stieve die wichtigsten Organisationen auf diesem Gebiet ins Blickfeld, die man als dem Reich feindlich einstufen müsse. Zu ihnen gehörte das im Sommer 1933 gegründete „Schweizerische Hilfswerk für deutsche Gelehrte“, das neben der „Zentralberatungsstelle für deutsche Gelehrte“ in Zürich seinen Sitz hatte, sich zur „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ entwickelte und unter dem Vorsitz des „früheren Geheimen Regierungsrates“ Fritz Demuth 1936 seinen Sitz nach London verlegte. Daneben galt die Aufmerksamkeit der von dem Direktor der New Yorker New School for Social Research Alvin Johnson im Herbst 1933 gegründeten University in Exile, die spätere Graduate Faculty der New School, die zum Zentrum der aus Deutschland vertriebenen kritischen Sozialwissenschaften avancierte; ebenso dem in den USA 1933 gegründeten Emergency Committee in Aid of German Displaced Scholars (später Emergency Committee in Aid of Foreign Displaced Scholars). Stieve konzentrierte sich auf die 94 Betr. Auswirkungen des Gesetzes vom 7.4.1933 auf die deutsche Kulturpolitik im Auslande, 25 (Politisches Archiv des AA, R 61126).

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Notgemeinschaft, konstant „Pseudo-Notgemeinschaft“ genannt, weil deren Leiter Demuth, der frühere Syndikus der Berliner Industrie- und Handelskammer, deutscher Staatsbürger war, der für seine Vermittlungsreisen seinen deutschen Pass erneuert haben wollte. Das wurde abgelehnt. Stieve verhehlte seine Frustration nicht, wenn er mahnte: „Unseren Bemühungen auf Ausschaltung der antideutschen Kräfte im wissenschaftlichen Leben des Auslandes wird solange ein durchschlagender Erfolg versagt bleiben, als die fremden Regierungen sich nicht entschließen, Berufungen deutscher Hochschullehrer allein im Benehmen mit den zuständigen deutschen amtlichen Stellen vorzunehmen. Ich bitte daher die dortige Regierung bei Bekanntwerden freiwerdender Lehrstühle, – falls diese für deutsche Wissenschaftler überhaupt in Frage kommen, – immer wieder mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass emigrierte deutsche Wissenschaftler nie und nimmer als Vertreter der deutschen Geisteshaltung angesehen werden können.“95 Getreu nationalsozialistischer Richtlinien ging es auch bei der Wissenschaft um „deutsche“ Überzeugungen. Nur offiziell legitimierte Gelehrte konnten sie im Ausland vertreten. Albert Einstein und andere Spitzenforscher wie Fritz Haber, Oskar Vogt, Herbert Freundlich und James Franck zählten nun zu denen, die man offiziell mit dem Etikett „jüdisch“ von der „deutschen“ Wissenschaft trennte.96 Ganz im Sinne nationalen Wettbewerbsdenkens fürchtete Max Planck als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), der wichtigsten außeruniversitären Wissenschaftsorganisation, dass das Ansehen der deutschen Forschung durch die Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler unermesslichen Schaden erleiden würde. Jedoch gelang es ihm nicht, mit diesem Argument Hitler im Mai 1933 bei einer Privataudienz zu einer Intervention zu bewegen.97 Er konnte einige der prominenten nicht arischen Institutsdirektoren wie Richard Goldschmidt (bis 1935), Carl Neuberg (bis 1936), Ernst Rahel (bis 1937) und Otto Meyerhof (bis 1938) halten, aber nichts für die weniger bekannten jüdischen Mitarbeiter tun. Von den 1.052 festen Mitarbeitern der KWG wurden 55 als jüdisch eingestuft, darunter acht Institutsdirektoren, neun Abteilungsleiter und 21 wissenschaftliche Assistenten.98 Während es der KWG trotz der Unterordnung unter das Reichserziehungsministerium gelang, durch „Selbstgleichschal95 Auswärtiges Amt. Kult. U 14/38. Vertraulich! 21.1.1938 (gez. Friedrich Stieve), 4 (Politisches Archiv des AA, R 64287). 96 Der Exodus aus Nazideutschland und die Folgen. Jüdische Wissenschaftler im Exil, hg. von Marianne Hassler und Jürgen Wertheimer. Tübingen: Attempo, 1997. 97 Helmuth Albrecht und Armin Hermann, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Dritten Reich (1933– 1945), in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft, 356–406, hier 369. 98 Ebd., 330.

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tung“, wie es Generalsekretär Friedrich Glum später beschönigend nannte,99 ein relativ selbstständiger Akteur auf dem Gebiet auswärtiger Wissenschaftspolitik zu bleiben, bewirkte das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den vom Staat abhängigen Universitäten, dass die Selbstabschnürung akademischer Institutionen nun drastisch voranschritt. Bis zum Herbst 1934 wurden 614 Professoren und Dozenten an Hochschulen entlassen, darunter viele bekannte Wissenschaftler. Interessanterweise kamen davon 44 Prozent von nur drei Universitäten – Berlin (mit 136), Frankfurt (mit 69) und Breslau (mit 43); andere Universitäten wie Rostock und Tübingen verzeichneten nur zwei und Erlangen nur einen Entlassenen.100 Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft besaß, wie man im Sinne von Pierre Bourdieu sagen würde, als häufig nobelpreisgekrönte Forschungseinrichtung das größte kulturelle Kapital deutscher Wissenschaft.101 Sie konnte es dem Ausland gegenüber deshalb einsetzen, weil sie keinen Zweig von Hitlers Regierung darstellte. Ihre internationale Vernetzung – die auch den vertriebenen Wissenschaftlern zugutekam – erhielt sich in reduzierter Form unter dem neuen Regime. Die Gästelisten des 1929 eröffneten Harnack-Hauses als zentraler Begegnungsstätte für deutsche und ausländische Forscher in Berlin-Dahlem verzeichnen nach 1933 einen Rückgang ausländischer Besucher auf die Hälfte, aber bis 1937/38 wieder einen deutlichen Anstieg.102 Und doch nützte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nach 1933 das kulturelle Kapital nur wenig, wenn ausländische Kritiker ihre Unabhängigkeit unter Hinweis auf die Eingriffe der deutschen Regierung in die Freiheit der Forschung sowie die Vertreibung jüdischer Gelehrter infrage stellten. So geschah es im Falle amerikanischer Geldgeber, vor allem der Rockefeller Foundation, die zum Ausbau einiger ihrer Institute ab 1922 entscheidend beigetragen hatte. Stellte der Präsident der Foundation, Max Mason, nach seinem Besuch im Sommer 1933 die Besorgnisse über die Eingriffe der deutschen Regierung in die Freiheit der Forschung noch zurück, blinkten bald darauf bei der Verwaltung in New York und der europäischen Vertretung in Paris alle Warnsignale. 99 Friedrich Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Rei� chen. Bonn: Bouvier, 1964, 443. 100 Mitchell Ash, Emigration und Wissenschaftswandel als Folgen der nationalsozialistischen Wissen� schaftspolitik, in: Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestands� aufnahme und Perspektiven der Forschung, hg. von Doris Kaufmann. Göttingen: Wallstein, 2000, 609–631, hier 612. 101 Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im „Dritten Reich“. Geschichte der Generalverwal� tung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, 2 Bde. Göttingen: Wallstein, 31–34. 102 Bernhard vom Brocke, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Weimarer Republik. Ausbau zu einer gesamtdeutschen Forschungsinstitution (1918–1933), in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft, 328 f.

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Höchst umstritten, wenn auch zunächst hinter verschlossenen Türen ausgetragen, war der Entschluss der Rockefeller Stiftung, zur Errichtung des KWGInstituts für Physik in Berlin-Dahlem 1935 1,5 Millionen Reichsmark beizutragen, nachdem Max Planck vom Reichsfinanzminister die Beträge für die laufenden Kosten zugesagt bekommen hatte und für sein Herzensprojekt den niederländischen Spitzenforscher Peter Debye als Leiter verpflichten konnte. (Debye erhielt 1936 den Nobelpreis.) Als Grund wurde herausgehoben, dass man die 1930 gegebene Verpflichtung auch unter einer veränderten Regierung einhalten müsse; offensichtlich trug dazu auch die Zusage des Physikers Mason an seinen Freund Planck bei.103 Trotz der Betonung, dass Wissenschaft ohne Rücksicht auf jeweilige Regierungen Unterstützung erfahren müsse, konnte die Foundation den Eindruck nicht vermeiden, sie befürworte Hitlers Regierung. Umso nachdrücklicher wandte sie sich nach 1935 von der Unterstützung größerer deutscher Projekte ab und nahm auch von italienischen und japanischen Projekten Abstand.104 Zu dieser Zeit entfaltete sie sich bereits als diejenige Organisation in der Welt, die für die aus Deutschland vertriebenen Forscher am meisten Mittel bereitstellte, im Laufe der Jahre eine Summe von 1,4 Millionen Dollar für 303 Wissenschaftler, darunter 26 ehemalige KWG-Mitarbeiter. Der Rockefeller Foundation gelang es relativ schnell, sich von dem Verdacht der Begünstigung des Hitler-Regimes zu befreien. Eine andere amerikanische Organisation hatte es damit wesentlich schwerer: die bereits erwähnte, 1930 in Philadelphia gegründete Carl Schurz Memorial Foundation. Offiziell zur Verteidigung der deutschen Kultur in Amerika gegründet, entwickelte sie in den dreißiger Jahren breitere kulturelle Austauschbeziehungen mit Deutschland vor allem für Studenten und sogenannte professionals, also prominente Vertreter ihrer Berufe sowie Geistesarbeiter, die sie zum großen Teil mit Mitteln der 1-Million-Stiftung des Oberländer Trusts bestritt. Als Hitler die Macht übernahm und einen Flüchtlingsstrom in Bewegung setzte, erreichte ein Teil des Vorstandes, dass neben der Unterstützung amerikanischer professionals zu Besichtigungsreisen in Deutschland (zu denen 1936 W. E. B. DuBois gehörte) auch Beihilfen für emigrierte professionals, zumeist Wissenschaftler aus Deutschland, zur Verfügung gestellt wurden. Mit Geldern des Oberländer Trusts sowie von Friedrich Thun und Henry Janssen steuerte die Foundation diese Beihilfen zu den schmalen Universitätsgehältern hinzu. Ihr Generalsekretär Wilbur K. Thomas vollführte unter dem Präsidenten Jacob Gould Schur103 Kristie Macrakis, Wissenschaftsförderung durch die Rockefeller-Stiftung im „Dritten Reich“. Die Entscheidung, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik finanziell zu unterstützen, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), 348–379. 104 Siehe die Statistik bei Malcolm Richardson, Philanthropy and the Internationality of Learning. The Rockefeller Foundation and National Socialist Germany, in: Minerva 28 (1990), 21–56, hier 26.

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man, der 1925–1930 als US-Botschafter in Berlin wirkte, einen schwierigen Balanceakt zwischen den Interessen der US-Regierung und dem Druck der deutschen Botschaft.105 Als der Verdacht propagandistischer Aktivitäten zu Kriegsbeginn die Weiterexistenz bedrohte, konnte Thomas jedoch die antinazistische Haltung der Organisation nachweisen; zu den Argumenten gehörte, dass die Immigration deutscher Wissenschaftler und Künstler die amerikanische Gesellschaft bereichere. Ein Bericht über den Oberländer Trust und die Foundation führte 1943 die Namen von 288 Flüchtlingen auf, die Unterstützung bekommen hatten, darunter die von Otto Loewenstein, Heinrich Mann, Ernst Bloch, Oskar Maria Graf und Leo Strauss.106 Mit Zuwendungen von insgesamt 317.000 Dollar gehörte der Oberländer Trust zusammen mit der Rockefeller Foundation, dem Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars und der New School for Social Research in New York zu den größten Unterstützungsorganisationen für vertriebene Wissenschaftler in den USA.107

Kultur im Auslandseinsatz: Werbung um Polen, Großbritannien, Italien Ausländische Diplomaten, deren lange Reihe Hitler bei den Neujahrsempfängen würdevoll abschritt, hin und wieder einige Worte wechselnd und die Glückwünsche des päpstlichen Nuntius gemessen erwidernd, hatten häufig Probleme, diese pastoralen Glanzveranstaltungen mit den lärmenden Massenaufmärschen, den Verhaftungen und Tötungen politischer Gegner in Einklang zu bringen, deren Echo ihre Botschaften und Konsulate von Anfang an durchdrang. Die inzwischen gesammelten und aufgearbeiteten Reaktionen der Diplomaten machen vor allem eines deutlich: dass sie der Unsicherheit und Konfusion, die ein Großteil der deutschen Bevölkerung in den ersten Jahren Hitler und dem Regime entgegenbrachte, kaum einsichtigere Analysen entgegenzusetzen hatten, abgesehen von Abscheu über die antijüdischen Maßnahmen und 105 Siehe die National Carl Schurz Association Papers in der Historical Society of Pennsylvania (HSP) sowie die Akten im Politischen Archiv des AA (R 321304, R 64173). 106 List of Grants to Refugees, Box 23, Folder 3, in: National Carl Schurz Association Papers in HSP. Die Auseinandersetzung ist aufgearbeitet bei Gregory Kupsky, “The True Spirit of the German Peo� ple.” German-Americans and National Socialism, 1919–1955. Diss. Ohio State University, 2010, 196–240. 107 Donald Kent, The Refugee Intellectual. The Americanization of the Immigrants of 1933–1941. New York: Columbia University Press, 1953, 12–15; Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Frank� furt: Campus, 1987, 36; Michael Schüring, Minervas verstoßene Kinder. Vertriebene Wissenschaftler und die Vergangenheitspolitik der Max-Planck-Gesellschaft. Göttingen: Wallstein, 2006, 119 –129.

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Empörung über die Verfolgungen der Opposition, die sie mit ausländischen Journalisten teilten. Aufschlussreich ist, dass diejenigen, die unmittelbar davon betroffen waren, die Deutschen, der Reaktion des Auslands eine gewisse Zeit lang besondere Bedeutung zumaßen. Beim Blick auf ausländische Meinungen – die ja selbst stark schwankten – verwischte sich in der Anfangsphase die Notwendigkeit eigener Stellungnahme. Die ständige Frage nach der Reaktion des Auslands fiel dem polnischen Journalisten Antoni Graf Sobański bei seiner Reise durch Deutschland 1933 als bemerkenswerte Verhaltensform in der Bevölkerung auf. Sobański, der die zu dieser Zeit wohl einsichtsvollste Nahaufnahme eines ausländischen Besuchers in Deutschland lieferte, berichtete: „‚Was wird über uns im Ausland gedacht und gesprochen?‘ Die Frage klingt beinahe demütig, aber das Interesse an der Meinung des Auslands ist brennend und zutiefst aufrichtig. Diese Frage stellten mir übrigens, glaube ich, ohne Ausnahme alle, die ich in Berlin getroffen habe, selbst die vom Auswärtigen Amt, die es eigentlich am besten wissen müssten.“108 Selbst die Beamten, die anders als die Bevölkerung einen ungehinderten Zugang zu Alltagsmeinung, Presseecho und politischen Verlautbarungen im Ausland besaßen, waren unsicher in ihrer Einschätzung des neuen Regimes, dem sie trotzdem eine Diplomatie der Kontinuität zu liefern verpflichtet waren. Dass sich auch die Kulturabteilung fest darauf konzentrierte, die gewohnten kulturpolitischen Beziehungen fortzusetzten und das Boot nicht mit neuen Konzepten noch stärker zum Schlingern zu bringen, lag auf der Hand. Problematisch erschien nicht die Frage, wie sich das bewerkstelligen ließ – dafür hatte man etwa mit dem DAAD Weichen gestellt –, sondern wie man sich der zunehmenden Konkurrenz in der Auslandsarbeit erwehren konnte, die die neu entstehenden Ämter wie das Amt Rosenberg oder die Dienststelle Ribbentrop darstellten, ganz abgesehen von Goebbels’ Propagandaministerium. Rosenbergs verfehlte Beschwichtigungsaktion im Frühjahr 1933 in London bedeutete keineswegs das Ende seiner Anstrengungen um Großbritannien und Frankreich. Die wiederum stellte Ribbentrop bald in den Schatten. Ribbentrop, der mit Otto Abetz einen fähigen Mitarbeiter mit Verbindungen zu Jugend- und Veteranenvereinen für seine Frankreich-Aktivitäten einstellte, suchte mit der Verbesserung der Beziehungen zu England seine Karriere zu machen, was ihm bei Hitler schließlich auch gelang. Damit erwirkte er zunächst den Botschafterposten in London und schließlich das Amt des Außenministers. Bei dieser Konkurrenz mit anderen Ämtern von Hitler aus bestimmten Entscheidungen herausgehalten, wusste es das Auswärtige Amt jedoch nicht im108 Antoni Graf Sobański, Nachrichten aus Berlin 1933–36. Übers. von Barbara Kulinska-Krautmann. Berlin: Parthas, 2007, 17.

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mer besser. Der Einzige, der es wusste, war Hitler. Und er überraschte das Amt trotz seiner Zusammenarbeit mit von Neurath durch Entschlüsse, die den Diplomaten häufig das Heft aus der Hand nahmen und das Ministerium in den dreißiger Jahren zu einer Nebenrolle verdammten. Diese Politik besaß weitreichende Konsequenzen für die Kulturabteilung bereits im Herbst 1933, als die Mitarbeit in Kommissionen des Völkerbundes, die dem Internationalismus ein Forum geboten hatte, aufgekündigt werden musste. Wenig später, im Winter 1933/34, musste sich die Abteilung erneut umorientieren, diesmal im Hinblick auf Polen, dem gegenüber es jahrelang eine distanzierte, mit Geheimunterstützung für die deutschen Minderheiten unterbaute revanchistische Strategie betrieben hatte. Gegenüber Frankreich behielt das Amt die distanzierte Politik bei, die in der Phase nach Locarno mit besonders vielen privaten oder halbamtlichen Verständigungskomitees und ‑aktionen angewärmt worden war. Es sorgte dafür, dass diese Initiativen nicht völlig von nationalsozialistischen Eiferern absorbiert wurden. Auf dem Kultursektor boten dafür die Zweigstelle des DAAD in Paris unter der Leitung des Frankreichexperten Karl Epting mit Sprachkursen und zahlreichen Veranstaltungen sowie das Institut Français in Berlin eine gewisse Garantie. Allerdings bedeutete die Auflösung und Wiederbegründung der Deutsch-Französischen Gesellschaft, gemeinsam mit dem Comité France-Allemagne 1935 und der gemeinsamen Zeitschrift DeutschFranzösische Monatshefte/Cahiers franco-allemande, dass statt des Verständigungsgeistes von Locarno nun die Politik der „Neuordnung der deutsch-französischen Beziehungen im europäischen Rahmen“ betrieben wurde, die der Appeasement-Politik und damit der Expansion Deutschlands auf Kosten der Nachbarn vorarbeitete.109 Auf drei Länder konzentrierte das Regime während dieser Phase den über die Routine von Kulturkontakten hinausreichenden Einbezug von Kultur in die Außenpolitik: auf Polen, das Hitler aus der Allianz mit dem Westen herauszulösen suchte; auf Großbritannien, mit dem Hitler zu einer Partnerschaft gelangen wollte, die ihm für die geplante Expansion nach Osten den Rücken freihalten würde; auf das faschistische Italien, das Hitlers Werben allerdings erst dann nachgab, als die Westmächte Mussolini nach dem Abessinienkrieg als möglichen Bündnispartner abwiesen. In jedem dieser Fälle entwickelte Kulturpolitik je nach den wechselseitigen Einflüssen eine andere Dynamik. Daneben intensivierte das Regime Sprachprogramme und kulturelle Werbung für südosteuro109 Michel Grunewald, Le „couple France-Allemagne“ vu par les nazis. L’idéologie du „rapprochement franco-allemand“ dans les Deutsch-Französische Monatshafte/Cahiers franco allemands (1934–39), in: Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, 131–146. Siehe den Überblick im selben Band: Hans Manfred Bock, Zwischen Locarno und Vichy. Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen der dreißiger Jahre als Forschungsfeld, in: ebd., 25–61.

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päische Länder, die dem neuerlichen Einfluss Frankreichs entzogen und der traditionell von Österreich beanspruchten deutschsprachigen Orientierung zugeführt werden sollten.110 Das Kulturabkommen mit Ungarn 1936 stellte einen ersten Schritt auf diesem Wege dar, ihm folgten Kulturabkommen mit Bulgarien 1940, Rumänien 1941 und dem neu geschaffenen Staat der Slowakei 1942.111 Die Sympathie-Kampagne gegenüber Polen, die Hitler und Goebbels, teilweise am Auswärtigen Amt vorbei, Ende 1933 anlaufen ließen und mit der Unterbrechung von 1937, als die Werbung um Mussolinis Italien Vorrang erhielt, bis 1938 aufrechterhielten, traf die Zeitgenossen im In- und Ausland völlig überraschend. In Ablösung der Weimarer Konfrontationspolitik zielte Hitler darauf ab, Polen, dessen autoritären Führer Józef Pilsudski er bewunderte, aus der Allianz mit Frankreich in den Orbit des Reiches zu steuern. Dabei begegnete er auf polnischer Seite sowohl bei Pilsudski wie dessen Außenminister Józef Beck, die gegen den östlichen Nachbarn Sowjetunion ein stärkeres Gegengewicht schaffen wollten, größerem Interesse. Bereits im Januar 1934 unterzeichneten sie eine Nichtangriffserklärung mit Deutschland. Nach Pilsudskis Tod 1935 setzte Beck diese außenpolitische Linie fort, die Polen 1938 nach dem Münchener Vertrag sogar in den Besitz eines Teiles der Tschechoslowakei (Teschen, polnisch Zaolzie) brachte.112 Das Auswärtige Amt verhehlte seine Überraschung und Bestürzung über die offizielle Wendung nicht, ganz abgesehen von weiten Kreisen der deutschen Gesellschaft, die Polen während der Weimarer Republik als Gewinner von Versailles und unversöhnlichen Feind des deutschen Volkstums behandelt hatten. Bei den Plänen für eine kulturpolitische Unterstützung dieser Politik waren sich Hitler und Goebbels darüber im Klaren, dass direkte Propaganda in Polen abgelehnt würde. Auf polnischer Seite zeigte der Boykott deutscher Waren die Distanz an; auf deutscher Seite ließ sich das Thema der Grenzrevision nicht einfach durch Presseerlasse ausschalten, mit denen Goebbels die Richtlinien vorgab. In dieser Situation setzte die deutsche Führung auf kulturelle Veranstaltungen, die den gebildeten Schichten auf beiden Seiten eine positive Erfahrung der traditionellen Nachbarschaft vermittelten. Dass dabei die deutsche Seite 110 Tim Kirk, Deutsche Kulturpolitik und öffentliche Meinung in Südosteuropa. Die Wiener Presse- und Kulturberichte Südosteuropa, in: „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ als Planungsraum. Wirtschaftsund kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, hg. von Carola Sachse. Göttingen: Wall� stein, 2010, 197–218. 111 Jan-Pieter Barbian, „Kulturwerte im Zweikampf“. Die Kulturabkommen des „Dritten Reiches“ als In� strumente nationalsozialistischer Außenpolitik, in: Archiv für Kulturgeschichte 74 (1992), 415–459. 112 Anna M. Ciencila, The Foreign Policy of Józef Piłsudski and Józef Beck, 1926–1939. Misconceptions and Interpretations, in: Polish Review 56:1/2 (2011), 111 –151.

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wesentlich aktiver vorging, überrascht kaum, standen doch den Auftritten deutscher Künstler und Musiker in Warschau und östlichen Teilen des Landes große Hindernisse entgegen, nicht zuletzt der Boykott von jüdischer Seite. Damit ereigneten sich die Höhepunkte kultureller Verständigung fast ausnahmslos in Deutschland, am sensationellsten bei der Eröffnung der Ausstellung polnischer Kunst in Berlin 1935, zu der die erste Garnitur der nationalsozialistischen Regierung erschien, angeführt von Hitler im diplomatischtraditionellen Gehrock, nicht in Uniform, insgesamt eine Ehrenbezeugung, die auf Beck und die polnischen Vertreter nicht ohne Wirkung blieb. Die Ausstellung, danach in München, Hamburg, Frankfurt, Düsseldorf, Köln und Dresden gezeigt, hatte sogar im antipolnischen Bollwerk Königsberg Erfolg. (Die deutsche Gegenausstellung in Warschau kam, wie erwähnt, erst 1938 zustande und machte wesentlich weniger Eindruck.)113 Selbst die Tatsache, dass Beck im April 1935 im Völkerbund für die französische Klage wegen des Bruchs der Bestimmungen des Versailler Vertrages durch Deutschland stimmte, brachte Hitler nicht von der Freundschaftsoffensive ab. Sie zählte in den viel umjubelten Auftritten polnischer Musiker und Sänger wie Jan Kiepura und dem polnischen Ballett Parnell weitere Höhepunkte; die Hamburger Oper inszenierte die polnische Nationaloper „Halka“ von Stanislaw Moniuszko mit großem Erfolg. Goebbels gewann die weltberühmte Schauspielerin Pola Negri, deren Hollywood-Karriere mit dem Tonfilm zu Ende gegangen war, für deutsche Filme wie „Mazurka“. Im Film sah Goebbels eine Chance, in Polen Wertschätzung für die deutsche Seite zu gewinnen; in der Tat rückten deutsche Filme nach einigen Jahren auf Platz 2 nach Hollywood und vor Frankreich auf. All das war ein Beispiel dafür, dass auswärtige Kulturpolitik, von beiden Seiten weitgehend zur Unterstützung einer bestimmten Außenpolitik unternommen, in vorgegebenen Bahnen gerade wegen ihres scheinbar unpolitischen Charakters politisches Gewicht zu erhalten, damit aber die vielfachen Barrieren in der Bevölkerung nur bedingt abzubauen vermochte. Während die polnische Seite beim Nachbarn eine Auflockerung der Feindseligkeit anstrebte, ging es Hitler und Goebbels außer der Werbung um die polnische Führung auch darum, dem deutschen Publikum zu beweisen, dass Deutschland international vernetzt blieb und kulturell zur ‚Normalität‘ zurückkehrte. Das gegenseitige Misstrauen zeigte sich allerdings in mehreren Eklats; verschiedene der deutschen Darbietungen ließen den Hochmut gegenüber einer minderen Kultur durchscheinen, der dann mit dem militärischen Überfall über Polen 1939 aufs Schrecklichste die Kulturzerstörung begleitete. Bezeichnenderweise ließ An113 Dies und die folgenden Informationen nach Karina Pryt, Befohlene Freundschaft, 266–287 und passim.

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toni Graf Sobański, prominenter Vertreter der polnischen Intelligenz, bei seinen Zeitungsberichten aus Deutschland 1933–1936 die kulturpolitischen Avancen aus. Was er als Pole über das nationalsozialistische Deutschland feststellte, bestätigte jedoch das Bestreben der Nationalsozialisten, nach dem anfänglichen Schock der Welt ein einladendes Gesicht zu zeigen. Ihm schien dies 1936, insofern sich Deutschland als ein gewisses Gegengewicht zu dem krisengeschüttelten Frankreich und der totalitär vom Bolschewismus vereinnahmten Sowjetunion darzustellen suchte, nicht ohne Chance zu sein. Dabei berührte Sobański mit seiner Feststellung über den Nationalsozialismus – „Dieses System sieht sich selbst als nicht geeignet an, als Nachahmungsmuster für andere Länder zu dienen“114 – die idiosynkratische Kulturagenda Hitlers. Jedoch drang er noch nicht zu der von Polen 1939 leidvoll erfahrenden Einsicht vor, dass aus eben dieser Selbstbezogenheit eines Staates Expansion nur in Form einer gewaltsamen Besitznahme gedacht werden konnte. Eine tragfähige kulturpolitische Mission fehlte. Auf andere Weise manifestierte sich das zwischenstaatliche Wechselspiel bei der Sympathiewerbung um Großbritannien („England“). Mit ihr suchte Hitler bald nach der Machtübernahme seinem bereits in Mein Kampf ausgesprochenen Traum einer anglo-deutschen Allianz näherzukommen. Im Gegensatz zu der überraschenden Kehrtwendung der Polenpolitik im Vergleich zu der Weimarer Republik folgte er hier weitgehend dem seit 1922 von der deutschen Regierung eingeschlagenen Kurs, die britischen Zweifel am Versailler Vertrag mit der Schützenhilfe britischer Kritiker zu vertiefen und zur Revision des Vertrages einzusetzen. Allerdings verlor in der britischen öffentlichen Meinung die Ansicht, dass für eine dauerhafte Friedensordnung der Vertrag revidiert werden müsse, unter der Empörung über die brutale Niederschlagung demokratischer Freiheiten durch die Nazis 1933 erst einmal an Gewicht. Der Boykott deutscher Waren, dessen Effekte in Deutschland durchaus spürbar wurden, mochte zu dem defensiven Auftreten des Reichs im Herbst 1933 beitragen.115 Selbst Parteifunktionäre sahen die Vergeblichkeit von Propagandaschriften und ‑parolen ein. Sie lernten in der Folgezeit, die Schwäche der Argumente mithilfe der Schaffung von Besuchs- und Auftrittsmöglichkeiten für Ausländer in 114 Antoni Graf Sobański, Nachrichten aus Berlin 1933–36, 214. 115 Harald Winkel, Boykott und Gegenboykott. Zu den deutsch-englischen Handelsbeziehungen im Jahre 1933, in: Preußen, Deutschland und der Westen. Auseinandersetzungen und Beziehungen seit 1789, hg. von Heinrich Bodensieck. Göttingen/Zürich: Musterschmidt, 1980, 179–202; D. C. Watt, Personalities und Policies. Studies in the Formulation of British Foreign Policy in the Twentieth Century. Westport: Greenwood, 1965, 117–135 („Influence from Without: German Influence on British Opinion, 1933–38, and the Attempts to Counter It“); Gerwin Strobl, The Germanic Isle. Nazi Perceptions of Britain. Cambridge: Cambridge University Press, 2000.

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Deutschland auszugleichen, und adaptierten die vom kommunistischen Sowjetstaat und dem faschistischen Italien seit den zwanziger Jahren erfolgreich genutzte Besuchs- und Touristenpolitik. Während nur wenige prominente Briten von dieser Möglichkeit – anders übrigens als im Fall der Sowjetunion – Gebrauch machten, erreichte das Einladungsprogramm doch eine erstaunlich breite Schicht von Journalisten und Interessierten. Es erfuhr seinen Höhepunkt zwischen 1934 und 1937. Über die frischen Eindrücke vom Dritten Reich bemerkte Angela Schwarz: „Die britischen Augenzeugen erkannten während ihres Aufenthaltes, dass, um mit Ernst Bloch zu sprechen, ‚nicht die ‚Theorie‘ der Nationalsozialisten, wohl aber ihre Energie […], der fanatisch-religiöse Einschlag, […] die seltsam aufgewühlte Glaubenskraft‘ ernst zu nehmen war, dass nicht die Weltanschauung an sich, sondern die durch sie entfesselte Dynamik und Hingabebereitschaft das Bedeutsame waren. Hierin lag für ausländische Betrachter der erste Anknüpfungspunkt, ein Aspekt des Dritten Reiches, dem der größte Teil von ihnen seine Anerkennung aussprechen konnte, und zwar trotz des Unverständnisses und der Ablehnung, die der einzelne Brite dem nationalsozialistischen ‚hotch-potch of ideas‘ entgegenbrachte.“116 In Großbritannien selbst waren die Möglichkeiten der Reichsdeutschen, mit hoher Kultur der „anti-deutschen Propaganda“ zu begegnen, wie es Botschafter von Hoesch nannte, äußerst beschränkt. Das lag weniger an den Aktivitäten der zu dieser Zeit noch wenig beachteten Emigranten als an dem generellen Desinteresse des britischen Publikums an deutscher „Kultur“, wie man das Wort seit dem Krieg mit einem großen K ironisch heraushob. Zwar rangierte der Stellenwert etwa der Berliner Philharmoniker auch bei den britischen Eliten sehr weit oben, doch vermochten die weltberühmten Musiker in ihrem Gefolge deutschen Kulturangeboten keinen breiteren Zugang zu verschaffen. Immerhin kam dem Auftreten der Berliner Musiker unter Furtwängler 1934 so viel Symbolwert zu, dass eine heftige Diskussion über Furtwänglers Stellung zum nationalsozialistischen Regime entbrannte. Sie wurde erst von Sir Thomas Beecham, der in Großbritannien eine ähnliche Position wie Furtwängler in Deutschland einnahm, beruhigt. In einem offenen Brief an den Daily Telegraph wies er auf die jüdische Abstammung des Konzertmeisters und der beiden 116 Schwarz, Die Reise ins Dritte Reich, 382; das Bloch-Zitat aus: Erbschaft dieser Zeit („Amusement Co, Grauen, Drittes Reich“, September 1930). Über die Bewunderung ausländischer Besucher für die „nationale Wiedergeburt“ s. Petra Rau, “The Sight of this Pale Brown Naked Flesh.” Mythical Aryan Masculinity and British Travel Writing about 1930s Germany, in: In the Embrace of the Swan. Anglo-German Mythologies in Literature, the Visual Arts and Cultural Theory, hg. von Rüdiger Gör� ner und Angus Nicholls. Berlin/New York: De Gruyter, 2010, 308–324; über die Hitler-Faszination einiger Mitglieder der britischen Upper Class s. Wolfgang Kemp, Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900–1947, 231–331.

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Solocellisten hin (deren Zugehörigkeit zum Orchester Furtwängler von Goebbels erwirkt hatte). Das Orchester habe sich keineswegs verändert, man möge die Musiker mit derselben Offenheit empfangen wie früher.117 Die Hoffnung der deutschen Seite, mit der musikalischen Manifestation der großen unpolitischen Kulturwerte die politischen Attacken abzuwehren, setzte auf britischer Seite eine gewisse Bereitwilligkeit voraus, Kultur und Politik zu trennen. Und trotz des Misstrauens gegenüber der deutschen Propaganda war diese Bereitwilligkeit durchaus vorhanden. Das galt zumindest für die Phase vor und nach der Unterzeichnung des Flottenabkommens 1935, als Botschafter von Hoesch einen „günstigen Boden“ sah, die deutsche Kulturarbeit zu erweitern. Er setzte beim Ausbau der DAAD-Zweigstelle in London an und bemerkte in einer Denkschrift: „Unerläßliche Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit eines künftigen Deutschen Instituts ist schließlich, dass nach außen hin dessen privater Charakter als der einer wissenschaftlichen Einrichtung gewahrt und alles vermieden wird, was ihm den Verdacht einer amtlichen Propagandastelle einbringen könnte.“118 Es folgte ein ausführlicher Aufgabenplan, der das reich dotierte Institut Français zum Vorbild hatte. Das Deutsche Institut wurde in dieser Form aus Geldmangel nie ausgebaut, geriet jedoch ab 1938, als es das frei gewordene Gebäude der österreichischen Botschaft übernahm, unter striktere Aufsicht der Kulturabteilung und entfernte sich noch mehr von Hoeschs Empfehlung. Anders als in Frankreich, wo emigrierte deutsche Schriftsteller, Politiker und Publizisten in den ersten Jahren der NS-Herrschaft dank der Unterstützung der linken Intelligenz in der Volksfront das Profil eines anderen Deutschland gewannen und damit die auswärtige deutsche Kulturpolitik herausforderten, öffnete sich die britische Gesellschaft mit dem seit Langem genährten und im Krieg explodierten Unbehagen an der deutschen Kultur kaum größeren Manifestationen von Pro und Contra.119 Das kennzeichnete noch die ambivalente Haltung der Öffentlichkeit in der Phase der Appeasement-Politik, als die von Premierminister Neville Chamberlain verfochtene Annäherung an Deutschland im britischen Publikum keineswegs eine größere Bereitschaft für kulturelle 117 Bleyl, Klassische Musik als Propaganda-Medium?, 35. 118 Möglichkeiten deutscher Kulturpropaganda in Grossbritannien (gez. Hoesch), 11.7.1935, 7 (Politi� sches Archiv des AA, R 61142). 119 Jedoch sei nicht übersehen, dass einflussreiche britische Autoren und Germanisten nicht der Emi� grantenliteratur, sondern der konservativen deutschen Literatur, etwa Hans Grimm, ihre Unterstüt� zung gaben, etwa bei der Gründung der Zeitschrift German Life and Letters 1936; s. Gerd Koch, Hans Grimms Lippoldsberger Dichterkreis, in: Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, hg. von Richard Faber und Christine Holster. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000, 165–185.

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Initiativen des Reichs nach sich zog. Allerdings entging die große Ausstellung der modernen deutschen Kunst 1938 in London, die, von Emigranten inauguriert, eine Manifestation gegen die in München 1937 veranstaltete Ausstellung „Entartete Kunst“ darstellte, nicht der Abwiegelungsstrategie der Funktionsträger.120 Der bekannte Kunsthistoriker Herbert Read ließ die von den exilierten Künstlern durchgefochtenen Kämpfe gegen die Nazi-Kunst unerwähnt, präsentierte das Unternehmen vielmehr als einmalige Gelegenheit, das britische Publikum mit der kaum bekannten modernen deutschen Kunst bekannt zu machen.121 Die Ausstellung „Twentieth Century German Art“, die größte Demonstration ihrer Art gegen die Verfolgung der modernen Kunst in den dreißiger Jahren, spiegelte somit die in der Appeasement-Phase angestrengten Bemühungen, einerseits die Leistungen vertriebener Deutscher zu präsentieren, andererseits die Außenpolitik des Reiches nicht zu provozieren. Die negativen Reaktionen der britischen Presse hatten weniger mit dem Exilantenstatus der Ausstellenden zu tun als mit der Abneigung des britischen Publikums gegen moderne Kunst generell. Die Tatsache, dass diese unter Hitler verfolgt wurde, änderte an der Ablehnung nicht viel. Mit dem Hinweis darauf, dass sich der konservative Kunstgeschmack der politischen Führer auf beiden Seiten nicht allzu sehr unterschied, ist einem Bericht symbolischer Wert zuzusprechen, dem zufolge Hitler wohl wusste, warum er Chamberlain, als der sich beim Besuch in Berchtesgaden für ein Genregemälde von Carl Spitzweg interessierte, das Bild als Zeichen gegenseitiger Wertschätzung zum Geschenk machte.122 Zu dieser Zeit hatte die britische Regierung ihre Aversion gegen die politische Organisierung von Kultur – „culture was a word that came clumsily and shyly off the Englishman’s tongue“123 – zurückgestellt. Ausschlaggebend war unter anderem die antibritische Propaganda Deutschlands und Italiens in Asien und Südamerika.124 Ende 1934 wurde das British Council for Relations with Other Countries gegründet, dessen Titel das Wort „culture“ vermied, das es aber zur Aufgabe hatte, in Konkurrenz zu der Alliance Française, der Società Dante Alighieri und den deutschen Unternehmungen britische Kultur und Sprache im Ausland zu fördern. Als 1940 die Bezugnahme auf die Propagan120 Keith Holz, Modern German Art for Thirties Paris, Prague, and London. Resistance and Acquiescence in a Democratic Public Sphere. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2004, 210–219 121 Herbert Read, Introduction, in: Peter Thoene, Modern German Art. Harmondsworth: Penguin, 1938, 7–11. 122 Unbestätigt, nach C.  E. Carroll, Neville Chamberlain. A Biographical Sketch, in: Anglo-German Review 2:10 (September 1938), 333, zit. in: Holz, Modern German Art for Thirties Paris, Prague, and London, 221. 123 McMurry/Lee, The Cultural Approach, 140. 124 Frances Donaldson, The British Council. The First Fifty Years. London: Cape, 1984, 4.

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daerfolge im Ersten Weltkrieg akut wurde – gerade wegen Hitlers Lob in Mein Kampf vielerorts als peinlich abgetan, weil mit Lügen versehen –, wurde eine neue Aufgabenteilung dekretiert: das Informationsministerium sollte für Propaganda, das British Council für Kulturelles zuständig sein.125 In einem Anfang 1935 an Botschafter von Hoesch gerichteten Memorandum über deutsche Kulturwerbung wies Wilhelm Sundermeyer nachdrücklich darauf hin, dass Italien eine intensive kulturpolitische Tätigkeit in Großbritannien und Ungarn entfalte.126. Für die nationalsozialistische Führung, die bei der Machtübernahme 1933 außer Hitlers rassistischer Kulturagenda und Rosenbergs völkischem Kampfdenken kein Konzept für die Kulturpolitik besaß, dennoch aber mit Kultur ihre Besitznahme der Gesellschaft besiegeln wollte, lieferte Mussolinis Regime einen Schnellkurs. An erster Stelle standen die staatliche Aufsicht über die öffentliche Kultur, die Anerkennung und, wenn möglich, Unterstützung der Akteure sowie Freizeitprogramme. Dass Goebbels, der bereits im Sommer 1933 Mussolini einen Besuch abstattete, wichtige Anregungen bekam, dokumentiert sein Tagebuch. Dazu gehören Bemerkungen etwa zu der Faschistischen Revolutionsausstellung: „Der Faschismus ist modern und volksverbunden. Da sollen wir lernen“, und beim Besuch der Freizeitorganisation Dopolavoro: „So etwas ähnliches müssen wir auch machen. Das Volk am Feierabend. Sport, Erholung, Krankenhäuser, Touristik.“127 Die Organisation „Kraft durch Freude“ entwickelte sich dann mehr oder weniger in den von Dopolavoro vorgezeichneten Bahnen. Bei der Etablierung des Propagandaministeriums mit seiner Aufsicht über die öffentliche Kultur durch die Reichskulturkammer konstatierten italienische Staatsfunktionäre jedoch bald nicht ohne Neid, dass die Deutschen bereits in kurzer Zeit und viel effizienter die ministerielle Kontrolle übernommen hätten. Hitlers missglücktes Treffen mit Mussolini 1934 trug noch die Spuren von Bewunderung und Nachahmung. Der europäischen Öffentlichkeit entging nicht, dass Mussolini den neuen Machthaber aus dem Norden als Persönlichkeit weit überstrahlte. Stieß auch Mussolinis brutale Italianisierung Südtirols auf einhellige Kritik in Deutschland, besaß der Diktator, der mit deutscher Sprache und Kultur vertraut war und Goethe im Jubiläumsjahr 1932 groß feiern ließ, in Deutschland auch im Bürgertum eine große Anhängerschaft. Zu ihnen gehörten liberale Publizisten wie Theodor Wolff und Emil Ludwig; 1933 empfing Mussolini den 125 McMurry/Lee, The Cultural Approach, 149. 126 Wilhelm Sundermeyer, Deutsche Kulturwerbung in England. Ein deutsches Kulturinstitut in London. 10.3.1935 (Politisches Archiv des AA, R 61142). Sundermeyer betonte die Notwendigkeit für Sprachkurse sowie Lehrerfortbildung und schlug eine Zweiteilung in Kulturabteilung und Pädagogische Abteilung vor, was die in London etablierte pädagogische Verbindungsstelle einbezog. 127 Zit. nach Peter Longerich, Joseph Goebbels. Biographie. Berlin: Siedler, 2010, 232.

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esoterisch-konservativen Dichter Rudolf Borchardt, der ihm seine neue DanteÜbersetzung überreichte; 1936 sprach er ausführlich mit Carl Schmitt, dessen Werk er kannte. Rilke pries Mussolinis Erneuerung antiker Größe für das neue Italien. Sigmund Freud, 1933 vom Vater eines kranken italienischen Patienten inständig darum gebeten, Mussolini eines seiner Bücher zu widmen, nahm die 1932 mit Albert Einstein verfasste und vom Völkerbund verbreitete Schrift Warum Krieg?, in die er schrieb: „Benito Mussolini mit dem ergebenen Gruß eines alten Mannes der im Machthaber den Kultur Heros erkennt. Wien, 26.4.1933. Freud.“128 Mussolinis persönliches Engagement verlieh der italienischen Kulturpolitik, die mit dem Interesse am Faschismus der Verbreitung italienischer Sprache und Kultur aufhelfen und mit dieser Verbreitung wiederum dem Faschismus als internationalem Phänomen weitere Verbreitung verschaffen sollte, ihre Attraktivität. Mit seinen lebendig und unbürokratisch agierenden Kulturinstituten in europäischen Hauptstädten, mit Lektoren und Austauschprogrammen verschaffte Mussolini sowohl Italien als auch dem Faschismus Interesse und Sympathie und erweckte in den Auslandsitalienern eine neuerliche Loyalität zum Mutterland. Dagegen konnte Hitler bei seinen Reden und Eingriffen auf diesem Gebiet nie seinen hölzernen Dekretismus und Ausgrenzungsfanatismus ablegen, auch wenn er sie mit Wagners Kulturerneuerungsvisionen verbrämte. „Im Unterschied zu Hitler wünschte Mussolini“, hat der französische Literaturhistoriker Lionel Richard festgestellt, „nicht nur einen Modus vivendi mit den Intellektuellen – selbst mit den aufsässigen –, sondern er wollte beweisen, dass das faschistische Regime in der Lage sei, sie zu assimilieren. Insofern war es ein Aspekt seiner Politik ihnen gegenüber, geschickt mit Zuckerbrot und Peitsche zu hantieren.“ Mussolini habe Kritiker wie Benedetto Croce in ihrer kritischen Haltung publizieren lassen, solange sie nicht die Massen erreichten, weil er dem Faschismus damit eine liberale Fassade schaffte, habe aber auch, wenn er sie für gefährlich hielt, „physische Vernichtung oder Isolierung“ praktiziert.129 Dieser Vergleich gestattet bereits einige Rückschlüsse auf die verschiedenen Formen auswärtiger Kulturpolitik der beiden Diktaturen, die 128 Zit. nach Eduardo Weiss, Sigmund Freud as a Consultant. Recollections of a Pioneer in Psycho� analysis. New �������������������������������������������������������������������������������������� York: Intercontinental Medical Book Co., 1970, 20. Eduardo Weiss, Freuds italieni� scher Schüler, der von einem seiner Patienten um Freuds Widmung an Mussolini gebeten wurde, überliefert Freuds Zögern, setzt aber erklärend hinzu, dass Freud besonders an Mussolinis Förderung archäologischer Ausgrabungen dachte, an denen er sehr interessiert war. 129 Lionel Richard, La nazisme et la culture, dt. Deutscher Faschismus und Kultur. Aus der Sicht eines Franzosen. Berlin: Akademie, 1982, 66. Über die italienische Emigration, die mit Mussolinis Judenerlassen 1938 sprunghaft anstieg, s. Franziska Meier, Italienische Autoren im amerikanischen Exil 1922–1945, in: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 3: USA, hg. von John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt und Sandra H. Hawrylchak. Zürich/München: Saur, 2005, 443–465.

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ebenso stark miteinander konkurrierten wie kooperierten und vor allem bei den bis auf die Tschechoslowakei durchwegs undemokratischen Systemen Ost- und Südosteuropas auf breite Resonanz stießen. Ihre Konkurrenz manifestierte sich lautstark bei der Behandlung Österreichs. Ausgerechnet ein Kulturabkommen rief in Berlin besondere Bestürzung hervor. Hier sah das Auswärtige Amt den Konflikt vorprogrammiert, als Mussolini mit einem solchen Abkommen 1935 die Anerkennung Österreichs als selbstständigen Staat besiegelte. Ein solcher Präzedenzfall für die Anerkennung von Österreichs Unabhängigkeit müsse in Zukunft unbedingt vermieden werden. Man ziele darauf ab, „der Tendenz gewisser österreichischer Kreise“ entgegenzuarbeiten, „ein eigenes unabhängiges Kulturleben vorzuspiegeln und ihm die Anerkennung fremder Mächte zu verschaffen.“ Das Reich als „Vormacht des deutschen Kulturlebens“ dürfe bei den künftigen Verhandlungen „nicht ungünstiger gestellt werden als Österreich.“130 Offensichtlich war es nicht einfach, Werbung um den ideologisch verwandten italienischen Diktator, der zu dieser Zeit im Feldzug gegen Abessinien die europäische Ordnung scharf herausforderte, mit der Wahrung auswärtiger Interessen des Reiches in Einklang zu bringen. Jedoch hielt das die nationalsozialistische Führung nicht davon ab, auf dem Gebiet der Kultur eigene offensive Eingriffe vorzunehmen. Botschafter Ulrich von Hassell, bis 1937 in der Rolle des Vermittlers fungierend, später als Mitglied des Widerstandes im Zusammenhang des 20. Juli 1944 hingerichtet, lernte sehr bald die kulturpolitischen Ziele des Regimes kennen, als auf Druck Berlins hin 1934 die Bibliotheca Hertziana auch im Titel die jüdischen Ursprünge als einer Stiftung von Henriette Hertz aufgeben mußte und nun nur als „Kaiser-Wilhelm-Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften“ firmierte. Bei der von dem jüdischen Mäzen Eduard Arnhold gestifteten und 1913 dem preußischen Staat vermachten Villa Massimo, die mit ihrem Künstlerprogramm weiter von ihm unterstützt wurde, mußten ebenfalls alle Attribute ihres jüdischen Ursprungs entfernt werden.131 Von Anfang an bereitete die rassistische Basis der nationalsozialistischen Kulturpolitik den Amtsträgern des faschistischen Staates die größten Probleme. Das Dilemma wurde vollends aktuell, als 1936 die Achse Berlin–Rom verkündet wurde, Beginn einer in dieser Form mit keinem anderen Land praktizierten Kontaktnahme mit Reisen (als sich die italienische Freizeitorganisation Dopo130 Zit. nach Jens Petersen, Vorspiel zu „Stahlpakt“ und Kriegsallianz. Das deutsch-italienische Kulturab� kommen vom 23. November 1938, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), 41–77, hier 43. 131 Kurt Düwell, Eduard Arnhold, Mäzen und Freund des Kunstreferats der Kulturabteilung des Aus� wärtigen Amtes im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Sammler, Stifter und Museen. Kunstförderung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Ekkehard Mai und Peter Paret. Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau, 1993, 239–254; Klaus Voigt, Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933–1945, Bd. 1. Stuttgart: Klett-Cotta, 1989, 81–92.

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lavoro mit ihrem deutschen Äquivalent, der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude, paarte), gemeinsamen Gesellschaften sowie professionellem und künstlerischem Austausch. Dabei mussten die Kulturpolitiker dem Desinteresse an Sprache und Literatur des jeweils anderen Landes entgegenarbeiten. Selbst in der Phase größter Annäherung lernte die deutsche Seite, dass der Verweis auf die Verwandtschaft der Erscheinungen Faschismus und Nationalsozialismus keineswegs als Basis gemeinsamer Kulturpolitik zu dienen vermochte. Im Bereich der Literatur beantworteten Italiener den Druck mit einem stärkeren Interesse an den von Hitler vertriebenen Emigrantenkünstlern und ‑schriftstellern.132 Die lange Vorbereitung des deutsch-italienische Kulturabkommens, das schließlich im November 1938, nur wenige Tage vor dem deutsch-japanischen Abkommen, unterzeichnet wurde, resultierte aus den auf beiden Seiten wachsenden Forderungen und Einwänden. Als wichtigste Antriebe hat Jens Petersen auf deutscher Seite die Forderung, die Deutschlektoren an den Universitäten zu bestimmen, sowie den Wunsch nach einer Verdrängung der „antideutschen“ Literatur und Kunst konstatiert, auf italienischer Seite die Forderung, „der italienischen Sprache in Deutschland eine größere Verbreitung zu verschaffen.“133 Dazwischen lagen die Staatsvisiten der beiden Diktatoren in den jeweiligen Hauptstädten – Mussolinis Besuch 1937 in Berlin und Hitlers Besuch 1938 in Rom –, deren gewaltiger Pomp im verunsicherten Europa seinesgleichen suchte. Diese Ereignisse und ihre gewaltige Medienresonanz ließen wenig Zweifel daran, dass beide Diktaturen einander in der Fähigkeit, Macht ästhetisch auszustatten und den Massen als Identitätsstiftung darzubieten, in nichts nachstanden.

Die Kultur-Achse: Mussolinis Italien als Partner und Rivale Das weitverbreitete Bild der beiden Diktatoren, deren Gemeinsamkeit in der Gestik arroganter Machtentfaltung zum Ausdruck kommt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in beiden Gesellschaften große Vorbehalte gegen die jeweils andere Kultur bestanden, auf die sich die jeweiligen kulturpolitischen 132 Eine umfassende Darstellung der deutsch-italienischen Kulturbeziehungen in der Ära des Faschismus bei Angela Hoffend: Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf; das deutschsprachige Exil in Italien ist eindrucksvoll aufgearbeitet worden in dem zweibändigen Werk von Klaus Voigt, Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933–1945; über das Desinteresse an der jeweils anderen Literatur s. Wolf� gang Eitel, Neorealismus-Rezeption. Vom Schweigen, Schwätzen und Nachdenken über italienische Literatur in Deutschland, in: Text und Kritik, H. 63, „Italienischer Neorealismus“ (1979), 47–58. 133 Petersen, Vorspiel zu „Stahlpakt“ und Kriegsallianz, 52.

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20 Adolf Hitler im Mai 1938 bei der Besichtigung einer antiken Ausgrabungsstätte beim Staatsbesuch in Rom. Von links: Goebbels, Himmler, Mussolini, Hitler, Bianchi Bandinelli. In: Bundesarchiv Bild 183-H05952

Anstrengungen konzentrierten.134 Beide Aspekte gehörten jedoch zusammen, sorgten für eine Zuordnung kulturpolitischer Initiativen des Reiches, die von den eingefahrenen Bahnen im Wechselverhältnis mit Frankreich abwich. In dieser einmaligen Konstellation der dreißiger Jahre wurde für Deutschlands kulturpolitische Außenwirkung Mussolinis Italien zum Prüfstein, in einer nicht weniger prekären, von gesuchter Nähe und konstantem Widerwillen geprägten Nahbeziehung. Während das faschistische Italien in dieser Konstellation machtpolitisch in die Position des Juniorpartners gedrängt wurde, nach dem „Stahlpakt“ 1939 den Krieg mitmachte und nach Mussolinis Sturz 1943 unter der deutschen Wehrmacht eine brutale Besatzungspolitik erfuhr, nahm es im 134 Ausführlichere Vergleiche in: Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Ver� gleich, hg. von Sven Reichardt und Armin Nolzen. Göttingen: Wallstein, 2005; Faschismus und Faschismen im Vergleich, hg. von Christof Dipper, Rainer Hudemann und Jens Petersen. Köln: SH, 1998; Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, hg. von Richard Bessel, 1996.

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Bereich der Kultur für Deutschland die Rolle des Konkurrenten und Gegenparts an, eines Konkurrenten, der die deutschen Anstrengungen in anderen Ländern oft in den Schatten stellte, und eines Gegenparts, der Gemeinsamkeiten und Steigerungen ermöglichte, jedoch die nationalsozialistische rassistische Kulturagenda an ihre Grenzen stoßen ließ. Ob dabei eine eigene faschistische Kultur etabliert wurde, mag hier offenbleiben.135 Immerhin lieferte die italienische Gegenwartskunst, wie an der 1934 in Berlin gezeigten Ausstellung „Italienische Futuristische Flugmalerei“ in einer die nationalsozialistische Führung und Hitler selbst provozierenden Weise zu sehen, inspirierende Anhaltspunkte für die Berührung von linker, „avantgardistischer“ Ästhetik und rechter, „faschistischer“ Politik.136 An dieser Ausstellung, die großes Echo fand, weil sie der regressiv-völkischen Ästhetik zuwiderlief, bildete sich beispielhaft die in den Folgejahren vervollkommnete Praxis heraus, mit Hinweis auf den italienischen Faschismus die restriktive und antimodernistische Kulturpolitik des Regimes ohne allzu großes Risiko zu kritisieren. Trotz der von Mussolinis Regierung vertretenen Sympathie wurde bereits die brutale Etablierung der nationalsozialistischen Macht von der italienischen Öffentlichkeit mit scharfer Kritik quittiert.137 Und noch gravierender: Von Anfang an stieß die Ausgrenzung der Juden in Italien nicht nur bei Benedetto Croce auf Unverständnis und blieb im Laufe der Jahre eine Quelle konstanten Unbehagens, bis dann Mussolini 1938 selbst eine antisemitische Gesetzgebung verfügte. Dagegen setzte sich die deutsche Seite mit weitgehenden Eingriffen, zumeist über die diplomatischen Vertretungen, zwar vordergründig durch, vermochte aber die traditionelle Anteilnahme an deutscher Musik und das Interesse akademischer Eliten an deutscher Philosophie nicht für „arteigene“ Kunsterzeugnisse zu mobilisieren. Die im Namen nationalsozialistischer Revolution verfolgte völkische Selbstdarstellung Deutschlands grenzte gerade jene Aspekte aus, die der Kunst, Architektur und Literatur der Weimarer Republik zumindest um 1930 auch in Italien Resonanz verschafft hatten. „Zu keiner Zeit“, resümierte Klaus Voigt, „dürften in Italien etwa die Ideen des Bauhauses eine solche Verbreitung gefunden haben wie unmittelbar nach seiner Auflösung. Die Mailänder Galerie ‚Il Milione‘, in der die abstrakte Malerei ihren Mittelpunkt 135 Gabriele Turi, Faschismus und Kultur, in: Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat – Wirtschaft – Kultur, hg. von Jens Petersen und Wolfgang Schieder. Köln: SH-Verlag, 1998, 91–107. 136 Zur konkurrierenden Politik auf den für beide Regime zentralen Sektoren Architektur und Kunst s. Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf, 256–268. 137 S. den Bericht des Deutschen Konsulats Florenz vom 11.7.1933: „Es ist ferner festzustellen, dass mit dem Durchbruch der nationalen Revolution in der Heimat eine stille, schwer faßbare Gegenpro� paganda, besonders in den intellektuellen Kreisen, eingesetzt hat, die eine kulturelle Betätigung im deutschen Sinne sehr erschwert hat.“ (Politisches Archiv des AA, R 61151).

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hatte, veranstaltete in kurzen Abständen Ausstellungen von Kandinsky, Friedrich Vordemberge-Gildewart, Willi Baumeister, Josef Albers und Kurt Seligmann, die entweder schon emigriert waren oder in Deutschland ein Schattendasein führten. […] In den ersten Jahren nach der Errichtung der Hitler-Herrschaft war es ganz selbstverständlich, dass in Italien aus Deutschland verbannte Künstler etwa als Gastregisseure tätig waren oder Konzerte gaben. Max Reinhardt war nach seiner Entlassung als Leiter des Deutschen Theaters und der Kammerspiele in Berlin mit nicht weniger als fünf Inszenierungen in Florenz, Mailand, Rom, Venedig und San Remo betraut. […] Die Dirigenten Fritz Busch und Bruno Walter, der Pianist Rudolf Serkin und der Violonist Adolf Busch traten in verschiedenen Städten auf, übrigens sehr zum Verdruß der Deutschen Botschaft, die dem diplomatischen Personal Anweisung gab, sich von den Veranstaltungen fernzuhalten.“138 Die Lage in den italienischen Buchhandlungen sei, was die völkische Literatur angehe, „trostlos“, berichtete 1934 die Zeitschrift Neue Literatur, die der Nationalsozialist Will Vesper herausgab. Aufgrund seiner „Gespräche mit Mussolini“ sei Emil Ludwig jetzt in Italien recht bekannt, in der schönen Literatur dominierten Stefan Zweig, Jakob Wassermann, Leonhard Frank, Alfred Döblin sowie Heinrich und Thomas Mann. Ihnen stünden lediglich „einige wenige gute deutsche Autoren“ gegenüber wie „Rosegger, Wiechert, Hitler u. a.“139 Vieles deutet darauf hin, dass das Interesse an der „Emigrantenliteratur“, die auch Vicky Baum, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und Arnold Zweig einschloss, nach der Exilierung dieser Autoren zunahm. Die jüdische Germanistin Lavinia Mazzucchetti, Übersetzerin und Freundin Thomas Manns, die ihren Lehrstuhl verlor, aber bis zu Mussolinis Rassengesetzen 1938 unermüdlich für diese Literatur und den Beitrag des Judentums zum deutschen Geistesleben im Lande herumreiste, schätzte, dass der Diktator selbst diesen Zufluss gestattete, um die nationalsozialistische Beeinflussung möglichst gering zu halten.140 Präziser als in dieser Konstellation des Wettbewerbs zwischen den von Hitler ausgeschlossenen und den für das Dritte Reich repräsentativen Künstlern und Schriftstellern konnten sich die Widersprüche von Hitlers rassistischer Kulturagenda kaum manifestieren. Das italienische Publikum ließ keinen Zweifel daran: Was an der deutschen Kultur jenseits von Goethe, Hegel, Beethoven und Nietzsche attraktiv war, musste den Rassengesichtspunkt ausschließen. Wurde aber der Rassengesichtspunkt zum Kern auswärtiger Kulturpolitik 138 Voigt, Zuflucht auf Widerruf, Bd. 1, 451 f. 139 Die Bestandaufnahme bei Gisela Berglund, Kampf um den Leser im Dritten Reich. Die Literatur� politik der „Neuen Literatur“ (Will Vesper) und der „Nationalsozialistischen Monatshefte“. Worms: Heintz, 1980, 47, zit. nach Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf, 209. 140 Voigt, Zuflucht auf Widerruf, Bd. 1, 92 f.

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gemacht, nährte sich diese mehr von der fragwürdigen Effektivität staatlicher Kontrollmechanismen als von der Qualität künstlerischer und wissenschaftlicher Projekte. Dafür öffnete das 1938 abgeschlossene Kulturabkommen die Tür, indem es der deutschen Seite direkte Einwirkungsmöglichkeiten auf die italienische Kultur- und Erziehungspolitik erlaubte. Dazu gehörte auch der Einfluss, der auf die Ausschließung der Juden, die Mussolini im selben Jahr zum offiziellen Programm machte, genommen wurde. Mit der 1936 vertraglich geregelten Verkündung der „Kultur-Achse“ war der deutsch-italienischen Kulturpolitik eine politische Rolle zugewiesen worden, mit der sie sich nicht mehr im Für und Wider des Wechselverhältnisses zweier repräsentationshungriger Machtsysteme erschöpfte. Ab 1938 richtete sich die deutsche Seite – auch das Auswärtige Amt unter Ribbentrop – auf einen Krieg ein, der es erforderlich machte, mit Kulturabkommen, die von Frankreich seit Langem erfolgreich genutzt wurden, mögliche Verbündete fester an sich zu binden. Insofern Kulturpolitik der Einflussnahme auf wirtschaftlichem – und zunehmend militärischem – Gebiet zugeordnet wurde, provozierte sie zugleich eine neue Konkurrenz zwischen beiden Regimes, besonders im Donauraum. Der italienische Erziehungsminister Giuseppe Bottai schuf mit der Zeitschrift Primato 1940–1943 ein Forum, auf dem jüngere Intellektuelle vor dem Hintergrund des jähen Zusammenbruchs Frankreichs 1940, der als „Niedergang der gesamten westlichen Kultur“ empfunden wurde, Faschismus und Antifaschismus sowie „eine Übergangskultur“ dazwischen diskutierten, dabei aber vor allem sicherstellen wollten, bei der Schaffung einer neuen Kultur die liberale Ideologie nicht wieder hochkommen zu lassen.141 Diesem Geist entsprach der Historiker Carlo Morandi, als er in einem Artikel im Juli 1940 diesen Niedergang der liberalen Demokratien als Endpunkt eines Entwicklungsprozesses darstellte, der in den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges seine Wurzeln habe. Der Krieg habe auf Italien und Deutschland „als revolutionäres Ferment, als erneuernder Energieschub“ gewirkt, hingegen auf Frankreich und England „als Hebel zu einem Auflösungs‑, Lockerungs- und Alterungsprozess“.142 Von Goebbels argwöhnisch und ablehnend beobachtet, lieferte Bottais Zeitschrift eine Einschätzung der nationalsozialistischen Kulturpolitik, die in ihren zustimmenden und ablehnenden Argumenten nirgendwo sonst zu dieser Zeit aus solcher Nähe geliefert worden ist. Nicola D’Este, der das widersprüchliche 141 Nicola D’Este, Das deutsche Modell aus der Sicht der Intellektuellen und politischen Schriftsteller in Italien (1870–1943), in: Italiener in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Kontakte, Wahr� nehmungen, Einflüsse, hg. von Gustavo Corni und Christof Dipper. Berlin: Duncker & Humbolt, 2012, 453–469, hier 467 f. 142 Carlo Morandi, Lezioni sulla guerra attuale, in: „Primato“. 1940–1943, hg. von Luisa Mangoni. Bari, 1977, 85, zit. nach ebd., 468.

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Gefühl von „Anziehung und Ablehnung“ betont, sei mit seiner Einschätzung ausführlicher zitiert: „So bewunderte man einerseits die Macht Deutschlands, die nicht allein in der ‚Gewaltpolitik‘ bestand, sich vielmehr aus dem rigorosen Zivilbewußtsein nährte, das sich in einem kulturellen, von Namen wie Fichte, Hegel und Nietzsche, Mommsen und Niebuhr, Meinecke und Weber geprägten Entwicklungsprozess herausgebildete hatte, schaute aber gleichzeitig besorgt auf die Verwandlung der deutschen Kultur in eine Kriegsideologie und auf die Folgen, die sich daraus nach Kriegsende für das Verhältnis zwischen den beiden Verbündeten ergeben konnten. Auf den Verfall der deutschen Geisteskultur verwies insbesondere Giaime Pintor; er warf den deutschen Dichtern im Februar 1941 vor, sie übernähmen ‚den Krieg als Lebensform und als Eroberung eines Mythos, auf den man sich stützen könne‘, und fügte hinzu: ‚Solange der Erfolg die grauen Armeen des Reiches begleitet und über den eroberten Städten die weiß-rote Fahne weht, solange wird es in Europa keinen Platz für andere Menschen und für eine gegensätzliche Idee geben.‘“143 Im Gegenzug zu Italiens zunehmender Abhängigkeit als Kriegspartner des Reiches suchte Bottai dem Land mit einer Kulturoffensive sein selbstständiges Profil zu erhalten. Da die Europavisionen des Reiches keine wirkliche Gemeinsamkeit, sondern eine nationalsozialistische Expansion verfolgten, aktualisierte man die kulturelle Botschaft der Romanità. Das im Kulturvertrag 1938 beschlossene Kulturinstitut wurde nach langer Verzögerung 1942 in Berlin gegründet; es sollte unter der Agenda der Romanità und eines lateinischen Humanismus stehen.144 Im selben Jahr begann die aufwendig gemachte Zeitschrift Italien als Monatsschrift der deutsch-italienischen Gesellschaft unter der Schriftleitung von Egon Vietta zu erscheinen, die von deutscher Seite aus, in versteckter Kritik am Nationalsozialismus, die „Verteidigung der Humanität“ begrüßte.145 So hieß ein Eröffnungsartikel von Vietta, der im selben Heft Bottai zu Wort kommen ließ. Die Berufung auf den Humanismus, die der auserwählte Leiter des Berliner Instituts, Ernesto Grassi, aus der gegenwärtigen Gefährdung kultureller Traditionen begründete, weckte bei NS-Verantwortlichen tiefstes Misstrauen. Schon der Name des Instituts, „Studia Humanitatis“, ließ sie Schlimmes befürchten. Andere Deutsche wie Eduard Spranger, der sich als Kritiker der nationalsozialistischen Erziehungsphilosophie seit Langem 143 Nicola D’Este, Das deutsche Modell, 468. 144 Andrea Hoffend, „Verteidigung des Humanismus“? Der italienische Faschismus vor der kulturellen Herausforderung durch den Nationalsozialismus, in: Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat – Wirtschaft – Kultur, hg. von Jens Petersen und Wolfgang Schieder. Köln: SH-Verlag, 1998, 177–198. 145 Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Gedankenschmuggel – die literarische Moderne Italiens im natio� nalsozialistischen Deutschland, in: Deutschland – Italien 1943–1945. Aspekte einer Entzweiung, hg. von Rudolf Lill. Tübingen: Niemeyer, 1992, 139–150.

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unbeliebt gemacht hatte, aber nun die Eröffnungsrede halten sollte, sahen es als Chance an, unter dem italienischen Schirm Kritik an den deutschen Entwicklungen zu üben. Selbst wenn das Ganze „nur eine politische Momentbedeutung“ habe, schrieb Spranger an seinen Kollegen Wilhelm Flitner, amüsiere es ihn doch, „wie die ital. Freunde uns zu einer Kundgebung für den Humanismus nötigten und außerdem noch einen Lobredner des römischen Rechts schickten!“146 Ernesto Grassi vermied bis zum Sturz des Duce 1943 jegliche Propaganda und konzentrierte die Institutsarbeit auf die Herausgabe humanistischer Texte und auf den Austausch mit deutschen Wissenschaftlern. Nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt, gründete er als Professor für Philosophie in München 1948 das Centro italiano di studi umanistici a filosofici und etablierte 1955 die umfassende, inspirierend unorthodox strukturierte Rowohlts Deutsche Enzyklopädie. Als einer der Akteure der prekären und anfechtbaren Kulturpolitik zwischen Italien und Deutschland bekundete Grassi, dass die Wechselwirkung, die in den dreißiger Jahren die auswärtige Kulturpolitik beider Länder prägte, genügend Spuren hinterlassen habe, um neue Wegweiser für eine nachfaschistische und nachnationalsozialistische Kulturarbeit zu setzen. Spranger brachte es auf einen Nenner: Im Hinblick auf Italien ließen sich im nationalsozialistischen Deutschland Dinge zur Diskussion stellen, die sonst nicht gewünscht waren. Grassi wiederum gehörte zu den italienischen Intellektuellen, welche die große Bedeutung der deutschen Philosophie als Inbegriff eines ebenso tiefen wie bestürzend provozierenden Denkens anerkannten – über 1945 hinaus.147 In den fünfziger Jahren erbrachte dann die Begegnung mit Italien, das nicht zu den Besatzungsmächten gehörte, wichtige Anregungen zur Neubegründung deutscher auswärtiger Kulturpolitik.148

Das ‚andere Deutschland‘ im Exil Trotz – oder gerade wegen – unübersehbarer Exzesse der diktatorischen Herrschaft hielten sich ausländische Beobachter mit Vorliebe an die seit jeher nicht nur von Deutschen vertretene Auffassung, Kultur stelle einen Bereich jenseits von Politik und Alltag dar. Auf deutsche Kultur angewandt, erleichterte eine solche ‚unpolitische‘ Definition, auch wenn sie die kulturelle Modernisierung 146 Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf, 423. 147 Cesare Cases, Der Mythos der deutschen Kultur in Italien. Vortrag vom 23. Juni 1988 im Rahmen des Kulturforums Ecco l’Italia. Kassel: Gesamthochschule Bibliothek, 1988. 148 S. u. a. Die andere Achse. Italienische Resistenza und geistiges Deutschland, hg. von Lavinia JollosMazzucchetti. Hamburg: Claassen, 1964, mit einem Nachwort von Alfred Andersch.

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der Weimarer Republik beiseiteschob, den Umgang mit diesem Land, das sich so plötzlich und radikal etablierter Formen kultureller Toleranz entledigte. Benedetto Croce und die italienische Intelligenz lieferten damit, dass sie den deutschen Geist nicht aus den Händen nationalsozialistischer Funktionsträger entgegennehmen wollten, eines von vielen Beispielen dafür, wie die traditionelle Nutzung und Abwehr deutscher Kultur von den aktuellen Auseinandersetzungen um Hitlers Kulturagenda nur sporadisch berührt wurde. Ob aus Bequemlichkeit, Überlegung oder Desinteresse akzeptiert – in jedem Falle hat dieser Traditionsbonus hoher Kultur die Zeit des Nationalsozialismus überdauert, obwohl er von diesem System selbst in verschiedenen Varianten in die propagandistische Selbstdarstellung eingebaut wurde. Unübersehbar ist die missliche, letztlich erschreckende Tatsache, dass die Berufung auf deutsche Kultur vor, in und nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl von den Machthabern des Dritten Reiches als auch von seinen deutschen und nicht deutschen Gegnern in fast gleicher Stärke instrumentalisiert wurde. Bedeutete das den moralischen Ausverkauf der Kultur bei ihrer gleichzeitigen Rettung vor Hitlers Kulturagenda? George Steiners Zweifel an der Tragfähigkeit des Zivilisations‑, sprich Kulturbegriffs behalten ihre Gültigkeit.149 Wenn es für diese Widrigkeit überhaupt einen Schlüssel gibt, dürfte er in der Ausstattung der Kulturgesinnung dieser konfliktgeschüttelten Periode liegen, die sich nicht eigentlich aus dem Anspruch des Unpolitischen nährte, sondern aus dem Anspruch, dem ästhetischen Bereich eine Eigenwertigkeit zuweisen zu können, die sich trotz der Abhängigkeiten von Markt, Propaganda und Moden und trotz der Verwicklungen in Niederträchtigkeit, Gewalt und Mord erhielt. Wenn Theodor W. Adorno und Max Horkheimer noch 1944 in ihrer Dialektik der Aufklärung „das deutsche Erziehungswesen samt den Universitäten, die künstlerisch maßgebenden Theater, die großen Orchester, die Museen“, die aus der deutschen Feudal- und Staatstradition herüberragten, von den Marktmechanismen ausnahmen, entsprachen sie dieser Kulturgesinnung.150Auch sie wussten, dass diese Kulturformen nicht mehr jenseits von Markt und Manipulation standen. Was blieb, war Kulturgesinnung als abrufbares Versprechen des Hohen, Essenziellen. Diese Kulturgesinnung bot den Resonanzraum für überaus heftige Machtkämpfe, die zwar angesichts der militärischen Blutbäder verblassen, in ihrer Intensität jedoch als deren Äquivalent oder Ergänzung gewertet werden sollten. An diesen Machtkämpfen beteiligten sich Regierungen ebenso wie Intel149 George Steiner, Language and Silence. Essays on Language, Literature, and the Inhuman. New York: Atheneum, 1967. 150 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Neuausgabe 1969, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt: Fischer, 1987, 157.

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lektuelle und Parteien, Vertreter des NS-Regimes ebenso wie ihre Gegner, die es ihnen streitig machten, nationale Kultur als Besitz des Regimes zu deklarieren. Kultur wurde selbst zum Objekt von Propaganda, und Goebbels wurde nicht müde, gegen ihre „einseitige“ Identifikation mit den Gebildeten zu polemisieren. Hiermit schmiedete er auch das Argument gegen Exilschriftsteller, dass sie sich längst vom Volk gelöst hätten. Aber das zog im Ausland nicht, und er wusste es. Dass emigrierte Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle trotz ihrer geringen Hilfsmittel für (genauer: gegen) die Selbst- und Außendarstellung des Dritten Reiches eine so bedeutsame Rolle spielen konnten, lag nicht zuletzt daran, dass dieses Regime sich im Ausland unbedingt mit einer hohen Kulturagenda profilieren wollte. Ohne diese Programmatik, die konstante Attacken auf die Praxis der Exilierten, für Deutschland zu sprechen, einschloss, dürfte deren Emigrantendasein kaum seinen besonderen Stellenwert gewonnen haben. Schon der vereinheitlichende Begriff „Emigration“ als eine Art Institution im internationalen Kampf gegen Deutschland (die „Reichszentrale für Reichsfeindschaft“) geht auf Goebbels selbst zurück und hat seit jeher einer realistischen Einschätzung der Zersplitterung des Exils im Wege gestanden.151 Goebbels verstand unter Emigranten eine Machtgruppierung von Politikern und Journalisten, die in ihrer Deutschlandkritik den fremden Regierungen überlegen waren und die er unbedingt zur Strecke bringen wollte. In ähnlicher Weise überschätzte er die Wirkung der Exilschriftsteller auf die öffentliche Meinung des Auslands, die mit dem Anspruch, das andere, bessere Deutschland zu vertreten, die völkische Literatur in den Augen der Welt desavouierten.152 Dem entspricht, dass die politisch engagierten Exilierten aus dieser Erhöhung zum Volksfeind, die ihnen so viel Elend bescherte, für ihren Widerstand zentrale Aktionsmaximen bezogen. Gegen die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz, mit der Goebbels die Eliminierung des „undeutschen“ Geistes der „Systemzeit“ verkündete, setzten die geflüchteten Schriftsteller mit der von Alfred Kantorowicz und Heinrich Mann am Pariser Boulevard Arago etablierten Deutschen Freiheitsbibliothek ein prominentes Symbol. „Ihr eignes Dasein bürgt dafür“, schrieb Heinrich Mann im Herbst 1933 von den Emigranten, „dass die zeitweiligen Sieger ein falsches Deutschland vortäuschen. Wenn niemand mehr um das wahre wüßte, dann hätten wenigstens die Emig151 Zur Unterscheidung der Begriffe ‚Emigration‘ (als freiwillige Abkehr von Deutschland) und ‚Exil‘ (als vorübergehende Station) s. Wulf Koepke, Wartesaal-Jahre. Deutsche Schriftsteller im Exil nach 1933. Erkelenz: Altius, 2008, 135. 152 Bernd Sösemann, „Vaterlandslose Gesellen“. Goebbels’ Verständnis vom Exil als Grundlage der na� tionalsozialistischen Politik gegenüber Exilierten, in: Heimat, liebe Heimat. Exil und Innere Emigra� tion (1933–1945), hg. von Hermann Haarmann. Berlin: Bostelmann & Siebenhaar, 2002, 43–76.

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ranten es mit sich fortgetragen.“153 In Heinrich Mann fand der Anspruch der Emigranten, der Welt das andere, wahre Deutschland sichtbar zu machen, den bekanntesten Sprecher. In ihm manifestierte sich die in der Weimarer Republik nach französischem Vorbild zugespitzte Nutzung hoher Literatur zugunsten politischer, obgleich nicht immer demokratischer Ziele. Damit verließ die derart aktivierte Literatur, die sich von der ewigkeitsorientierten ‚Dichtung‘ absetzte, die gewohnten Bahnen der Kulturgesinnung. Unter den Angriffen, hohe Kultur zu missbrauchen, erfuhr sie nicht nur politische, sondern auch ästhetische Abwertung, eine Abwertung, die der Exilliteratur in Westdeutschland noch lange nach dem Ende des NS-Regimes das Publikumsinteresse entzog. Dank des Interesses der linken französischen Intelligenz, prominenten Schriftstellern für die internationale Ausrichtung der Volksfront ein Podium zu geben, konnte sich das deutsche Kontingent an Flüchtlingen – das ja nur einen kleinen Teil der riesigen Emigrantenströme dieses Jahrzehnts ausmachte – in diesem den Deutschen sonst nicht besonders gewogenen Land entfalten.154 Ihre aktivsten Vertreter errichteten eine imponierende Publikationslandschaft mit Leopold Schwarzschilds Das Neue Tage-Buch, Georg Bernhards Pariser Tageblatt, Willi Münzenbergs Verlag Éditions du Carrefour und anderen Unternehmungen, zu denen die zwei Amsterdamer Exilverlage Querido und Allert de Lange eine beeindruckende Bücherproduktion zusteuerten. Sie konnten mit dem Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror sowie dem Weißbuch über die Erschießungen des 30. Juni (1934) die verbrecherische Natur des Regimes mit weithin beachteten und von der Weltpresse kommentierten Dokumentationen bloßstellen. Größte, da visuelle Wirkung erzielten die weitverbreiteten Fotomontagen, mit denen John Heartfield in Fortsetzung seiner Arbeit an der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung die Machenschaften entlarvte, mit denen Hitler und seine Gefolgsleute ihre Macht erschwindelt und etabliert hatten. Mit tatkräftiger Nachhilfe vonseiten der Kommunisten, insbesondere des genialen Propagandataktikers Willi Münzenberg, bewiesen Emigranten, dass sie auf dem Gebiet politischer Enthüllungspublizistik dem Dritten Reich überlegen sein konnten. Aber der Atem war kurz und die Finanzdecke dünn, und Arthur Koestler, der in dieser ersten Propagandaschlacht um die Ursachen des Reichstagsbrandes die völlige Niederlage der Nazis konstatierte, bemerkte: „Es

153 Heinrich Mann, Aufgaben der Emigration, in: ders., Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays. Hamburg: Claassen, 1960, 11. 154 Michaela Enderle-Ristori, Kontrolle und Überwachung der deutsch-österreichischen Emigration durch die französische Sureté Nationale, in: Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 1933– 1940, hg. von Anne Saint Sauveur-Henn. Berlin: Metropol, 2002, 190–204.

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war die einzige Niederlage, die wir ihnen in den sieben Jahren vor dem Krieg zufügen konnten.“155 Allerdings lagen in dieser unbedingten Ausrichtung auf die vom NS-Regime betriebene sukzessive Machtergreifung der politischen und kulturellen Infrastruktur Deutschlands auch mentale Gefahren. So intensiv die Emigranten den alltäglichen Realitäten ihrer Gastländer ausgesetzt waren, so sehr zögerten sie, lange in der Hoffnung auf ein kurzes Exil befangen, sich auf die jeweilige Kultur einzulassen. Die Fixierung an dem langen Schatten, den der deutsche Staat warf, und die Selbstermutigung, dagegen ein besseres Deutschland zu vertreten, war mitverantwortlich dafür, dass nur wenige sich aus dem Kokon deutscher Definitionen und Probleme herausarbeiteten. (Wobei hier die von Jean Améry angemahnte Unterscheidung zwischen den prominenten und den Tausenden namenlosen Flüchtlingen zumindest Erwähnung verdient, das heißt jenen zumeist jüdischen Flüchtlingen, die „wußten, dass sie Verjagte waren und nicht Konservatoren eines unsichtbaren Museums deutscher Geistesgeschichte.“156) Diese Fixierung wurde für den durchweg international gesinnten Klaus Mann zu einer bitteren Erfahrung, als er versuchte, die von ihm gegründete Zeitschrift Die Sammlung 1934/35 zu einem wirklich übernationalen Organ mit einer Leserschaft jenseits des Exils zu machen, nicht nur zu einer Zeitschrift für deutsche Emigranten. Es gelang ihm nicht. Internationalismus wurde akzeptiert, die Ausrichtung aber blieb innerhalb des Horizonts deutscher Kultur und ihrer Selbsteinschätzung.157 Das war keineswegs unberechtigt, entsprach es doch spezifischen Elementen deutscher Kulturgesinnung, die der „durch die Romantik geprägten Vorstellung einer deutschen Nationalkultur“ verpflichtet blieben – in klarer Frontstellung gegen deren nationalsozialistische Usurpatoren. Wenn spätere Beobachter von den Konsequenzen gesprochen haben, die „dieses im Grunde essenzialistische Kultur­ konzept“158 gezeitigt hat, so sind sie vor allem darin zu finden, dass die Emigranten einerseits das in verschiedenen Gastländern bereits vorhandene Denken von den zwei Deutschland bestätigten – eine große, unter Schmerzen erarbeitete geschichtliche Leistung –, andererseits aber auch den deutschen Essenzialismus fortsetzten, der die Verschiedenheit von anderen Kulturen verinnerlichte. Ihre Leistung wurde ihnen von Deutschen erst später gelohnt, 155 Zit. nach Claus-Dieter Krohn, Propaganda als Widerstand? Die Braunbuch-Kampagne zum Reichs� tagsbrand 1933, in: Exilforschung 15 (1997), 10–32, hier 26. 156 Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett-Cotta, 1977, 80. 157 Karina von Lindeiner, Klaus Mann’s Die Sammlung. An ������������������������������������������������ Attempt at an International Journal, in: Ger� man Life and Letters 60 (2007), 212–224. 158 Vorwort. Übersetzung als transkultureller Prozess, in: Exilforschung 25 (2007), IX.

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zunächst nach dem Krieg bei der kulturellen Begründung der DDR, dann zwei Dekaden später, als eine jüngere Generation in der Bundesrepublik begann, in den Kämpfen der Exilanten um dieses andere Deutschland und in ihrer politischen Aktivierung von Literatur eine deutsche Tradition wiederzuentdecken. So intensiv hat sich die innerdeutsche Geschichtsschreibung inzwischen an dieser gegenseitigen Fixierung von Nationalsozialismus und Exil ausgerichtet, dass darüber beinahe aus dem Gesichtsfeld rückte, wie sehr das, was zu dieser Zeit Österreicher, Schweizer, Juden, Pragerdeutsche und deutsche Minderheiten in den verschiedensten Ländern als deutsche oder deutschsprachige Kultur lebten und artikulierten, nicht weniger eine kulturelle Eigenleistung darstellt, in ihrer jeweils eigenen Kontinuität. Diese Formen deutschsprachiger, nicht nationalsozialistischer Kultur waren überall umkämpft und keineswegs gegen völkische Identifikationen immun, besaßen aber überall eine Eigenständigkeit, die sich ebenso aus jahrhundertelangen Traditionen wie aus der Kritik an der Selbstermächtigung einer rassistisch-nationalen Partei speiste. Sie setzten die Regional- und Individualtraditionen der deutschen Kultur fort, die, wie auch in den Nischen des nationalsozialistischen Deutschland selbst, Kontinuitäten und Anknüpfungen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bereithielten. Die Exilierten selbst fanden hier wichtige, oft lebensrettende Unterstützung. Einen geradezu dramatischen Kommentar liefert dazu die deutschsprachige Schweiz, die 1933 und wiederum 1939 grundlegend in ihrem Selbstverständnis als Teilhaber deutscher Kultur erschüttert wurde. Eine große Zahl von Gebildeten, die deutsche Kunst und Wissenschaft als Teil ihrer kulturellen Identität betrachteten, brauchten lange, um sich von der vom Dritten Reich vertretenen Kultur abzulösen. Manche fanden ihre eigenen Rechtfertigungen einer völkischen Existenz, zu der auch Antisemitismus zählte. Andere, wie der Germanist Karl Schmid, der sich 1939 für eine Stelle im Generalstab entschied, anstatt Privatdozent zu werden, formulierte das Dilemma der geistigen „Doppelbürgerschaft“ 1944 mit den Worten: „Ein Land vom kulturellen Charakter der Schweiz mußte durch Vorgänge dieser Art aufs stärkste in Mitleidenschaft gezogen werden, da eben wegen der teilweise gemeinsamen Sprache eine Umwertung aller Werte, d. h. auch eine Umprägung der Worte, sofort und automatisch auf unser Gebiet überzugreifen droht. Das war denn auch der Fall. Und nun begann sich die Doppelbürgerschaft des geistigen Schweizers sehr eigentümlich auszuwirken. Der Einsichtige merkte bald, dass sich in Deutschland eine Geisteshaltung und Wertwelt durchsetzte, welche, wenn die Deutschschweizer oder andere Teile der Schweiz ihr anzuhangen begonnen hätten, mit absoluter Sicherheit zur Auflösung der Eidgenossenschaft hätte

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führen müssen.“159 Das geschah nicht, aber Schmid ließ keinen Zweifel daran, wie prekär die Situation war; seine Germanistenkollegen Emil Ermatinger und Emil Staiger hielten sich jedenfalls nicht so klar vom Abgrund fern.160 Diese Auseinandersetzungen stellten eine Art geistespolitischen Stellvertreterkampf dar. Er brachte es mit sich, dass die Schweiz nicht zum bevorzugten Asylland der literarischen Intelligenz wurde, jedoch über die Pflege der klassischen deutschen Bildungskultur hinaus auch dem aus dem Exil sprechenden anderen Deutschland eine Bühne bot. Am mutigsten erwiesen sich dabei die Stadttheater in Basel und Bern sowie das Zürcher Schauspielhaus, wo Stücke von Exilierten wie Ferdinand Bruckner und Bertolt Brecht zur Aufführung gelangten. Wenn der Traditionsbonus hoher Kultur für das Reich eingesetzt wurde, konnte er ebenso Loyalitäten erneuern wie Verwirrung stiften. Der Vorwurf des Elitismus ergab sich schnell. Das Festhalten der Kulturabteilung an der Trennung von Kulturpolitik und Propaganda, mit der sie die Vermittlung hoher Kultur abschirmte, geriet von Anfang an unter Beschuss seitens der neuen Behörden, die sich wie das Amt Schrifttumspflege im Amt Rosenberg mit der völkischen Ausrichtung kultureller Außendarstellung Meriten verdienen wollten. Als sich in dem riesigen Netz kulturpolitischer Initiativen innerhalb Deutschlands die Einsicht durchsetzte, besser nicht auf die Schaffung dieser völkischen Kultur zu warten, rückte die kanonisierte klassische Kultur, obwohl völkisch zensiert und inszeniert, auch für den „Auslandseinsatz“ wieder unbefragter ins Zentrum. Hitlers Hinweise bei den Reichsparteitagen 1937 und 1938 auf den Wert kultureller Repräsentation gingen mit seiner Absage an Thingspiele und andere völkische Produkte einher – „Vor allem ist der Nationalsozialismus in seiner Organisation wohl eine Volksbewegung, aber unter keinen Umständen eine Kultbewegung“161 –, ohne allerdings die rassistische Agenda außer Kraft zu setzen. Noch größere Gefahren drohten dem Einsatz hoher Kultur jedoch im Ausland, wo ihre Glaubwürdigkeit durch andere, weniger zivile Aktivitäten des Amtes schnell verlorengehen konnte. Sehr bald war ja unter dem Druck von Himmlers Gestapo die Informationsbeschaffung über emigrierte Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller zu einer Form von 159 Karl Schmid, Die kulturelle Lage der deutschen Schweiz 1944, in: ders., Zeitspuren. Aufsätze und Reden, Bd. 2. Zürich/Stuttgart: Artemis, 1967, 14–31, hier 21. 160 Julian Schütt, Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalso� zialismus. Zürich: Chronos, 1996. 161 Reden des Führers am Parteitag Großdeutschland 1938. München: ������������������������������������ Eher, 1939, 39; Frank Trom� mler, A Command Performance? The Many Faces of Literature under Nazism, in: The Arts in Nazi Germany. Continuity, Conformity, Change, hg. von Jonathan Huener und Francis R. Nicosia. New York: Berghahn, 2006, 111–133, hier 121–123.

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Überwachung und Kontrolle eskaliert, die die Auslandsmissionen oft in Konflikt mit dem „Referat Deutschland“ brachte, dem die Koordination mit den anderen Reichsbehörden oblag. Die Botschaft in Paris warnte davor, dass eine solche Tätigkeit zu einer Belastung führen könne, „bei der die Möglichkeit von Zwischenfällen nicht von der Hand zu weisen ist.“ Ihr erwiderte das Amt, dass ihre Berichte „für die zuständigen Stellen in Deutschland von besonderer Wichtigkeit“ seien und die „arbeitsmäßige Mehrbelastung“ rechtfertigten. Es sei aber „selbstverständlich größte Vorsicht geboten. Unter keinen Umständen darf sich die Botschaft kompromittieren.“162 Im Laufe der Jahre machte die anfängliche Zurückhaltung einer wesentlich selbstbewussteren, oft drohenden Haltung Platz, wenngleich in kleineren Ländern eher als in Frankreich. Unter zunehmendem Druck von Goebbels’ Ministerium und Himmlers Gestapo entwickelte das Amt verschiedene Formen der Herabsetzung, Behinderung und Ausschaltung der Emigranten. Bei gezielten publizistischen Tiefschlägen, denen später durch den Kauf von Presseorganen Nachdruck verschafft wurde, oder bei diplomatischen Interventionen besonders gegen Ausstellungen mit antinazistischer Tendenz hielt das Amt gewisse Wohlverhaltensformen kultureller Kommunikation ein; es stellte sich aber keineswegs gegen die von der Gestapo und ihrem Spitzelnetz organisierten physischen Bedrohungen und Gewalttätigkeiten.163 Bei der Beschaffung von Materialien für die Aberkennung der deutschen Staatbürgerschaft handelte es ganz als Handlanger der Gestapo. Was im Sprachgebrauch der Behörden als kulturelle Auslandsarbeit etikettiert wurde, verkam damit zu einer Art Fortsetzung der Konfrontationen zwischen Nationalsozialisten und Vertretern der Weimarer Intelligenz. Sie wurde in dem erstaunlich gut informierten, geheimen Leitheft Emigrantenpresse und Schrifttum reflektiert, das 1937 unter Himmlers Ägide vom Reichssicherheitshauptamt die erste Phase dieser Auseinandersetzung zusammenfasste. So hieß es dort, dass „das Ausland keinen weltanschaulichen und Geschmacks-Wandel“ wie Deutschland durchgemacht habe, daher der in der Weimarer Republik erfolgreichen Literatur, zumeist von „jüdischen Literaten“, „unvermindert Absatz“ verschaffe.164

162 Zitate nach Herbert E. Tutas, Nationalsozialismus und Exil. Die Politik des Dritten Reiches gegen� über der deutschen politischen Emigration (1933–1939). München/Wien: Hanser, 1975, 74 f. 163 Gerhard Paul, „…alle Repressionen unnachsichtlich ergriffen werden.“ Die Gestapo und das politische Exil, in: Exilforschung 15 (1997), 120–149; Alexander Stephan, Überwacht. Ausgebürgert. Exiliert. Schriftsteller und der Staat. Bielefeld, Aisthesis, 2007, 125–219. 164 Der Reichsführer-SS. Der Chef des Sicherheitshauptamtes, Leitheft Emigrantenpresse und Schrift� tum. März 1937, in: Herbert A. Tutas, NS-Propaganda und deutsches Exil 1933–39. Worms: Heintz, 1973, 152 f.

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Wie sehr das Amt von Anfang in die Konfrontationen zwischen völkischer und linksgerichteter Literatur einbezogen wurde, bezeugt seine Stellungnahme zu den Befürchtungen der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste, dass der Literaturnobelpreis an einen Vertreter der Emigrantenliteratur verliehen werden könnte. Nobelpreise bildeten eine wichtige, für das Dritte Reich zugleich problematische Bestätigung nationalen Prestiges, zumal zahlreiche Preise an Juden gegangen waren; sie konnten zum Einfallstor für eine Intervention in die kulturelle und wissenschaftliche Selbstdarstellung des Reichs werden. Der Literaturnobelpreis für einen Vertreter der Emigrantenliteratur, so befürchtete man bereits 1933, würde diese mit einem Schlag in den Augen der Welt aufwerten. In der besorgten Anfrage dieser Sektion Dichtung der Akademie, die man auch mit der Machtübernahme brutal von Schriftstellern wie Heinrich Mann, Alfred Döblin, Georg Kaiser, Leonhard Frank, Franz Werfel und René Schickele „gereinigt“ hatte, schimmert das schlechte Gewissen der Usurpatoren durch: Als der völkische Autor Werner Beumelburg, nun Schriftführer der Sektion, vor einer möglichen Nominierung Döblins warnte, legte man ihm im Amt dar, dass eine diplomatische Intervention nicht einfach sei. Es heißt in einem Vermerk: Beumelburg werde „insbesondere auch genaue Angaben über die Persönlichkeit des Hermann Stehr machen, den die Deutsche Akademie der Dichtung als Nobelpreisträger für Literatur in Vorschlag bringen möchte.“165 Die schwedische Akademie fällte auch in den Folgejahren keine Entscheidung in diesem Konflikt. 1933 bewies sie, dass sie nichts gegen Emigranten hatte, indem sie sich für den russischen Exilschriftsteller Ivan Bunin entschied und ihn dafür lobte, die klassische russische Tradition kunstvoll fortzusetzen. Damit bezog sie Stellung gegen die Sowjetunion. Bunins Triumph wurde in Paris, wo er lebte, als Triumph der russischen Exilliteratur gefeiert und in der Sowjetunion als imperialistische Intrige attackiert. Um sich in der europäischen Öffentlichkeit als vertriebenes Gewissen der Nation zur Geltung zu bringen, mussten die deutschen Flüchtlinge die bittere Wahrheit zur Kenntnis nehmen, dass Emigranten als Gruppierung, auch wenn sie von Goebbels als solche angegriffen wurden, kaum Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochten. Sprach Bertolt Brecht in seiner Rede beim Pariser Schriftstellerkongress 1935 davon, dass das einzelne Opfer „einen Schrei des Entsetzens und viele Hilfe“ auslöse, eine Vielzahl von Opfer jedoch Schweigen bewirke („Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar“166), umriss 165 Vermerk (ungezeichnet), 24.10.1933 (Politisches Archiv des AA, R 61265). 166 Bertolt Brecht, Eine notwendige Feststellung zum Kampf gegen die Barbarei, in ders. Schriften 1933–1942 (Werke, Bd. 22,1), hg. von Werner Hecht u. a. Berlin: Aufbau/Frankfurt: Suhrkamp, 1993, 141–146, hier 142.

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das auch schon die Problematik der Exilierten, sobald sie ihr Verhängnis und ihren Protest als Gruppe oder Organisation artikulierten – obwohl sie nur dadurch überhaupt eine Chance besaßen, auf staatliche Regelungen Einfluss auszuüben. Gleich im Frühjahr 1933 setzte Ernst Toller dafür ein Zeichen, als er die Agenda von Internationalismus und Völkerverständigung, mit der er in den zwanziger Jahren zu einem weltbekannten Kämpfer gegen den Nationalismus aufgestiegen war, auf dem Internationalen PEN-Kongress in Ragusa zu dem ersten großen Angriff eines Exilanten gegen den Nationalsozialismus nach der Bücherverbrennung benutzte. Mit seiner mutigen Rede, dem „Höhepunkt des Kongresses“, durchbrach er die von der reichsdeutschen Delegation geschickt manipulierte Beschwichtigungspolitik und stellte die Verbrechen des neuen Regimes bloß.167 In der ihm eigenen Selbstdramatisierung prägte Toller damit das Bild des Exilanten, der als Einzelner, Betroffener, Widerständiger den Kampf mit dem System aufnimmt, ein Bild, das in den Folgejahren bei Hilfsaktionen für Emigranten in der Öffentlichkeit, besonders in Großbritannien, eine größere Unterstützung einbrachte. Nur Thomas Mann konnte später Ähnliches als öffentliche Figur, als deutscher Emigrant und Mann des Geistes, erreichen, als er während des Krieges in den USA auf Massenversammlungen Hitler und sein Regime als Vergifter des deutschen Geistes, des menschlichen Geistes generell, anklagte. In einem Falle, der zur Weltsensation wurde, gelang es Exilanten auf solche Weise tatsächlich, dem Dritten Reich seine Maske als Kulturstaat abzureißen und es in seiner Inhumanität bloßzustellen. Das geschah ausgerechnet 1936, in dem Jahr, in dem die Olympischen Spiele in Berlin und Garmisch-Partenkirchen der Welt das Bild einer modernen Gesellschaft im kulturellen Aufbruch präsentierten und den Zweiflern an seinen Unterdrückungsmaßnahmen recht zu geben schienen. Der Fall bewies, dass Exilanten, wenn sie inspiriert und koordiniert vorgingen, die internationale Kulturwelt und eine gewichtige Anzahl renommierter Politiker und Publizisten zu einer gemeinsamen Aktion gegen die menschenverachtende Politik des NS-Regimes mobilisieren konnten. Die Aktion galt einem Einzelkämpfer, der, wie es Thomas Mann in einem einflussreichen Brief an das Nobelpreiskomitee formulierte, ein „Märtyrer der Friedensidee“168 war, ein kämpferischer Rüstungsgegner und, als Herausgeber der Weltbühne, ein mutiger Ankläger und Märtyrer nationalsozialistischer Ge167 Werner Berthold, Exilliteratur und Exilforschung. Ausgewählte Aufsätze, Vorträge und Rezensionen. Wiesbaden: Harrassowitz, 1996, 107 f. 168 Thomas Mann an das Nobel Friedenspreis-Comité vom 13.10.1935, in: Carl von Ossietzky und das politische Exil. Die Arbeit des ‚Freundeskreises Carl von Ossietzky‘ in den Jahren 1933–1936, hg. von Frithjof Trapp, Knut Bergmann und Bettina Herre. Hamburg: Hamburger Arbeitsstelle für Deutsche Exilliteratur, 1988, 101.

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waltjustiz – eine Identifikationsfigur des Widerstandes. Carl von Ossietzky, der seit Jahren in einem deutschen Konzentrationslager litt, war dem Ausland zunächst kaum bekannt, erlangte aber Prominenz durch den zuerst von Berthold Jacob 1934 vorgeschlagenen und von Hellmuth von Gerlach verbreiteten Gedanken, ihn für den Friedensnobelpreis zu nominieren. Willy Brandt, der 1935 entscheidend dazu beitrug, dass 69 Abgeordnete der vorschlagsberechtigten Arbeiterpartei im norwegischen Parlament Ossietzky nominierten, resümierte später, dass es vor allem zwei couragierte Frauen, die norwegische Studienrätin Mimi Sverdrup-Lunden und Ossietzkys ehemalige Mitarbeiterin Hilde Walther in Paris, waren, die es „ohne Büros und Pressereferenten, ohne eigene Mittel oder nennenswerte Zuschüsse“ zuwege brachten, „eine internationale Bewegung in Gang zu setzen.“169 Großorganisationen wie die Internationale Frauenbewegung, 124  Mitglieder der Schweizerischen Bundesversammlung und 120 französische Parlamentarier verliehen der Kampagne eine politische Unterstützung, die über den Einsatz bekannter Exilanten wie Ernst Toller, Albert Einstein, Emil Ludwig, Heinrich und Thomas Mann sowie früherer Friedensnobelpreisträger wie Norman Angell, Jane Addams und Ludwig Quidde hinaus Wirkung zeitigte. Ende 1936 wurde Ossietzky der Preis rückwirkend für 1935 verliehen. (Er starb, entkräftet von seinem KZ-Aufenthalt, 1938.) Die Sensation war perfekt. Ein Häftling in einem Konzentrationslager des Dritten Reiches erhielt den Friedensnobelpreis für sein mutiges Eintreten gegen Krieg und Aufrüstung. Wie stark Hitler und Göring dies als Herausforderung vonseiten des Auslands – nicht nur Norwegens und Schwedens – gegen ihren Alleinvertretungsanspruch für Deutschland ansahen, manifestierte sich in dem Verbot für Deutsche, in Zukunft Nobelpreise anzunehmen. Am 30. Januar 1937 brachte das Deutsche Nachrichten-Büro die Meldung: „Der Führer hat folgenden Erlaß herausgegeben: um für alle Zukunft beschämenden Vorgängen vorzubeugen, verfüge ich mit dem heutigen Tage die Stiftung eines Deutschen NationalPreises für Kunst und Wissenschaft.“170 Zwei Tage später berichtete der deutsche Gesandte Viktor Prinz zu Wied aus Stockholm dem Auswärtigen Amt: „Unter Hinweis auf die Äußerung des Führers in seiner Reichstagsrede, wonach Deutschland sich nicht von der Außenwelt zu isolieren wünsche, fragt ‚Svenska Dagbladet‘, warum dann der Führer an demselben Tage allen Deutschen die 169 Willy Brandt, Eine Kampagne für den Friedenspreis gegen Hitler, in: Carl von Ossietzky. Republikaner ohne Republik, hg. von Helmut Donat und Adolf Wild. Bremen: Donat & Temmen, 1986, 23–37, hier 27. 170 Deutsches Nachrichten-Büro Nr. 8 vom 30.1.1937: Hitler stiftet Deutschen Nationalpreis (Politi� sches Archiv des AA, R 61265). Dazu Christoph Schottes, Die Friedensnobelpreiskampagne für Carl von Ossietzky in Schweden. Oldenburg: Universität, 1997, 169–198.

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Annahme von Nobelpreisen verboten habe. Die geistige Autarkie, die hiermit proklamiert werde, könne Deutschland weit mehr als die wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit isolieren.“171 Dass es sich bei Hitlers Erlass um eine ernste politische Herausforderung handelte, von der man sich nicht einschüchtern ließ, bewies die Satzungsänderung der Nobelpreisstiftung, der zufolge „ein zuerkannter, aber nicht entgegengenommener Preis nach Ablauf eines Jahres dem Hauptfonds oder teilweise einem Sonderfonds zugutekomme.“ Es sei „die deutsche Maßnahme kein Hindernis, dass Deutschen auch in Zukunft Nobelpreise zuerkannt würden.“172 Die deutschen Preisträger Richard Kuhn (1938 in Chemie), Adolf Butenandt (1939 in Chemie), Gerhard Domagk (1939 in Medizin) und Otto Hahn (1944 in Chemie) konnten ihre Preise nach dem Krieg in Empfang nehmen. Als Willy Brandt 1971 als erster Deutscher nach Ossietzky den Friedensnobelpreis erhielt, sprach er den ausdrücklichen Dank für das mutige Engagement gegen die nationalsozialistische Barbarei aus: Ossietzkys „Ehrung war ein Sieg über die Barbarei. Ich möchte dem Nobelkomitee heute im Namen eines freien Deutschland dafür in aller Form einen späten Dank aussprechen.“ Brandt grüßte zugleich „die ehemalige Résistance in allen Ländern“ und ermutigte alle, „die sich um Menschen kümmern, die wegen ihrer Überzeugung gefangengehalten oder auf andere Weise verfolgt werden.“173 Die Kampagne für Ossietzky, die ihre Besonderheit durch die auch außerhalb der Volksfront herbeigeführten internationalen Solidarisierungen erhielt, markiert einen Höhepunkt des publizistischen und organisatorischen Kampfes aufseiten der Emigranten. Das Auswärtige Amt vermochte mit seinen Interventionen in Schweden und Norwegen nur böses Blut zu schaffen (wobei ein abfälliger Brief von Knut Hamsun über Ossietzky die Empörung nur verstärkte). Allerdings standen die Zeichen 1936/37 für solche Kampagnen zunehmend schlechter. Mit den Inszenierungen der Olympischen Spiele 1936 in Berlin bot das Regime der Propaganda einen Resonanzraum, in dem sich der schrille Klang des Falls Ossietzky bald verlor. Eine Zeit lang fanden sogar die gewichtigsten Anklagen des Auslands gegen die brutale Ausschließungspolitik des Regimes gegen die Juden sowie seine antikirchlichen Maßnahmen kaum Widerhall. Insofern es das Regime nun verstand, das neue, nationalsozialistische Deutschland im Ausland durch seine visuell und architektonisch inszenierte Präsenz einprägsam zu machen, büßte die zu Beginn der Herrschaft forcierte Kulturagenda, insofern sie auf hohe Kultur zielte, an Gewicht ein. 171 Bericht V. Wied an Auswärtiges Amt, 1.2.1937 (Politisches Archiv des AA, R 61625, B 68 II). 172 V. Wied an Auswärtiges Amt, 27.9.1937 (Politisches Archiv des AA, R 61625, B 706). 173 Brandt, Eine Kampagne für den Friedenspreis gegen Hitler, 24.

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Hatte man in der Bemühung um Anerkennung des Regimes in der internationalen Öffentlichkeit zunächst die Sprecherrolle für Deutschland über das vage Phänomen Kultur codiert, gelang es nun der propagandistischen Inszenierung, mit pressewirksamen Massenaufmärschen, am eindrucksvollsten bei den Nürnberger Reichsparteitagen, der Welt zu beweisen, dass das Land geschlossen hinter Hitler stehe. Um diesen Beweis ging es Hitler und Goebbels. Er ließ sich von Emigranten nur vorübergehend in Frage stellen. Die traditionellen kulturellen Repräsentationsformen eines Landes gipfelten in Kunst, Wissenschaft und Literatur, in Teilen Europas auch in Musik. Der Krieg hatte es noch einmal bestätigt. Seit den zwanziger Jahren entwickelten sich demgegenüber konsum- und organisationsorientierte Formen von Propaganda zu einem gesellschaftspolitischen Instrument, dessen visuelle und akustische Inszenierung selbst schon zu einer elektrisierenden Botschaft wurde. Indem das NS-Regime zunächst in einer Wiederaufnahme der kriegsbedingten Intention, mithilfe der Kultur eine Volksgemeinschaft zu schaffen, die Organisation eines Riesennetzes von kulturellen Aktivitäten zur Staatsaufgabe machte, folgte es einer deutschen Tradition und forderte dafür auch die Anerkennung als Vollender deutscher Kultur. Dies war, wie der polnische Beobachter Sobański feststellte, nicht für den Export geeignet. Mit der zunehmenden Konsolidierung des Regimes und einer nun nationalsozialistisch gesteuerten internationalen Vernetzung genügte diese Ausrichtung nicht mehr – hier kam Goebbels’ ‚Sternstunde‘ mit seiner Verwirklichung von Propaganda als Staatsaufgabe, und das bedeutete auch ein neuartiges Hinausgreifen über die Grenzen. Mit der propagandistischen Ausrichtung der ästhetischen Dimension dieses Staates, bei welcher Film und Rundfunk als Motoren der Emotionalisierung wirkten, stand das Dritte Reich keineswegs allein, im Gegenteil, es zog, wie man im Ausland gewahrte, mit den anderen autoritären Systemen in Italien und der Sowjetunion gleich und wurde von Masseninszenierungen Österreichs als Ständestaat 1934–1938 in verwandter Weise flankiert.174 Auch für Deutsche bedeuteten diese Inszenierungen eher Steigerung als Neuigkeit. Die Choreografierung der Masse, die in der Weimarer Republik bei den Aufmärschen der politischen Lager und auch von Reichskunstwart Edwin Redslob seit 1922 bei den Inszenierungen der Staatsfeiertage und Totenfeiern entwickelt worden war, erfuhr nach 1933 eine quantitative, nicht unbedingt qualitative Steigerung; anders war in jedem Falle die ausschließliche Ausrichtung auf den Rezipienten, die Erzeugung der völkischen Partizipation, während Redslob seine Arbeit 174 Bilder für die Welt. Die Reichsparteitage der NSDAP im Spiegel der ausländischen Presse, hg. von Friedrich Kiessling und Gregor Schöllgen. �������������������������������������������������� Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2006; Art and Power. Eu� rope under the Dictators, 1930–1945, hg. von Dawn Ades u. a. London: Thames & Hudson, 1995.

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noch unter künstlerischen Prämissen als „Staatskunst“ gewertet wissen wollte.175 Gegenüber dieser populären und konsumierbaren Partizipation an der internationalen Ästhetisierung der Politik konnten textbasierte Interventionen von Emigranten, seien es Artikel, Bücher, Pamphlete oder Flugblätter, nicht viel ausrichten. Von vornherein internationaler war die Ausrichtung emigrierter bildender Künstler, die ihren Protest gegen die Verfolgung der modernen Malerei als entartete Kunst in ein mitvollziehbares Gegenprogramm, eine antifaschistische Demonstration einbrachten. So geschah es verschiedentlich in Prag, wo der Druck der deutschen Kulturpolitik harte Konfrontationen heraufbeschwor, und noch einmal wirkungsvoll in der Ausstellung „Freie Deutsche Kunst“ im November 1938 in Paris, die der Deutsche Künstlerbund unter der Schirmherrschaft des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller veranstaltete. Sie schloss neun Reproduktionen von Nazikunst, darunter zwei Aquarelle von Hitler und zwei allegorische Gemälde von Adolf Ziegler, ein, ebenso aber auch eine Fotoinstallation von Josef Breitenbach unter dem Titel „Hitlerdeutschland – Ein Zuchthaus“, die Konzentrationslagerhäftlinge zeigte.176 Als die Pläne für eine wesentlich größere dokumentarische Ausstellung bekannt wurden, die auf der New Yorker Weltausstellung 1939 unter dem Titel „Germany of Yesterday – Germany of Tomorrow“ im geplanten „Freedom Pavilion“ stattfinden sollte, mobilisierte die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes mit der deutschen Botschaft in Paris eine diplomatische Intervention, die zum Ergebnis hatte, dass dieses Vorhaben unausgeführt blieb.177 Zu dieser Zeit war die französische Regierung unter Daladier nicht mehr bereit, den Operationen deutscher Emigranten Raum zu geben. Das Missverhältnis zwischen dem gewaltigen ästhetischen Aufwand, den die deutsche Regierung für ihre Darstellung des Landes als führende moderne Macht betrieb, und den überaus begrenzten Mitteln, mit denen die Emigranten die Existenz des anderen Deutschland der Öffentlichkeit vor Augen führten, manifestierte sich nachdrücklich bei der Weltausstellung 1937 in Paris. Wie an der ikonisch gewordenen Gegenüberstellung des deutschen und des sowjetischen Pavillons vor dem aufragenden Eiffelturm abzulesen, standen sich hier beide Regimes im Kampf um die ideologische Dominanz in Europa gegenüber. Bei dieser Herausforderung ging es ebenso stark um die jeweilige Selbstdarstel175 Christian Welzbacher, Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in der Weimarer Republik 1918–1933. Weimar: Weimarer Taschenbuch, 2010, 43. 176 Holz, Modern German Art for Thirties Paris, Prague, and London, 228–237. S. den großen Über� blick: Kunst im Widerstand. Malerei, Graphik, Plastik 1922 bis 1945, hg. von Erhard Frommhold. Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1968. 177 Holz, Modern German Art for Thirties Paris, Prague, and London, 244–255.

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21 Deutscher und sowjetischer Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937. Foto Heinrich Hoffmann. In: Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz Nr. 50052329

lung, bei welcher Technik, Architektur und Design betont wurden, wie um die Werbung um Frankreich, das mit seiner innenpolitische Spaltung zwischen linker Volksfront und der nationalen Rechten für diesen Kampf einen hochsensitiven Schauplatz abgab. Die Monumentalität von Albert Speers adlerbekrönter Architektur – wohl vom Vorwissen über die monumentalen Pläne der Sowjets beeinflusst – wurde selbst bereits als Ausdruck von Macht und Geschlossenheit des Systems gewertet; der bekannte Maler und Mitarbeiter von Le Corbusier, Amédée Ozenfant, überlieferte die Feststellung eines Besuchers, man könne sehen, dass „diese Leute unbezweifelbar einen Führer haben.“178 Die Innenausstattung mit Mosaiken, Wandbehang, bunten Fenstern und Gemälden wurde als elegant etikettiert und als Ausdruck einer grundsätzlich friedlichen und künstlerischen Ausrichtung des Nachbarlandes interpretiert, das man seit langem als militaristisch und obstinat eingeschätzt hatte. All dies fand vielfache Resonanz zu der Zeit, da in München die Ausstellung „Ent178 Amédée Ozenfant, Notes d’un touriste à l’Exposition, in: Cahiers d’Art, Nr. 8–10 (1937), 244 f., zit. nach Karen Fiss, Grand Illusion. The Third Reich, the Paris Exhibition, and the Cultural Seduction of France. Chicago: University of Chicago Press, 2009, 104.

Das ‚andere Deutschland‘ im Exil  |

artete Kunst“ die unnachsichtige Verfolgung moderner Malerei im Nationalsozialismus bezeugte, und vermochte der offiziellen Kulturpolitik des Reiches sowie dem Comité France-Allemagne in Frankreich weitere Tore zu öffnen. (Selbst Léon Blums Volksfrontregierung hatte der Beteiligung mit einem Kredit nachgeholfen.179) Die Gegenausstellung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller stand unter dem Motto „Das deutsche Buch in Paris 1837– 1937“und war darauf ausgerichtet, die Besucher aus dem Reich im Namen Heines auf die große Rolle von Paris für die „besten Werte der freiheitlichen deutschen Kultur“ aufmerksam zu machen, die von den Emigranten auch gegenwärtig bewahrt würden. Mit den Fotoporträts von Ossietzky und den von den Nazis ermordeten Erich Mühsam und Theodor Lessing an der Stirnseite des Saales lieferte die Ausstellung das Bekenntnis eines trotzigen Widerstandes, den das Emigrantenpublikum in den begleitenden Autorenlesungen und Diskussionsabenden bekräftigte. Ungewiss blieb die Wirkung auf die Besucher aus dem Reich, deren Reisekontingent Berlin zur Enttäuschung Frankreichs stark beschränkt hatte. Jedoch zielte die Ausstellung trotz der sprachlichen Selbstbeschränkung auch auf die „französische und internationale Öffentlichkeit“, der sie beweisen wollte, „dass die emigrierte deutsche Literatur weiter existiert, um so antideutschen chauvinistischen Strömungen im Ausland entgegenzutreten.“180 Darin äußerte sich nun doch mehr als der pure Existenz­ erweis, nämlich die Wahrnehmung einer Art Schutzfunktion für das Vaterland, insofern die Literatur deutscher Emigranten eine völlige Verdammung Deutschlands verhindern sollte: der lebendige Nachweis für die Gültigkeit der in Frankreich immer wieder beschworenen Theorie von den zwei Deutschland. Nicht von ungefähr stand die Ausstellung unter der Schirmherrschaft von Romain Rolland. Ob die Emigrantenliteratur mit der Bestätigung der These von den zwei Deutschland die Franzosen tatsächlich erreichte, bezweifelten viele der Exilierten selbst. Mochte die Linke der Volksfront auf diese Unterscheidung eingehen, die nationale Rechte tat es nicht. Der Germanist Felix Bertaux, einer der großen Vermittler zwischen der Weimarer Intelligenz und den französischen Eliten, befürchtete, dass die französische Jugend bei ihrer Begegnung mit dem gegenwärtigen Deutschland die Lektion der Emigranten ignorieren würde. Er fragte sich, ob die Emigranten, die wie ein Herz getrennt vom (deutschen) 179 Fiss, Grand Illusion, 48. 180 So der Rechenschaftsbericht an die Generalversammlung des Schutzverbandes Deutscher Schriftstel� ler vom Oktober 1937, nach Maximilian Scheer, So war es in Paris. Berlin: Verlag der Nation, 1964, 173 f. Eine Darstellung der Ausstellung in: Exil in Frankreich, hg. von Dieter Schiller u. a. Leipzig: Reclam, 1971, 261–266.

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Körper existierten, überhaupt in Frankreich überleben könnten.181 Diese Befürchtung wurde in der Periode des Münchner Abkommens akut. Die französische Regierung, die nach 1936 zunehmend auf Kooperation mit dem Dritten Reich setzte, verschärfte nach 1938 die ohnehin belastende Überwachung der Emigranten und zögerte nicht, als eine der ersten Kriegshandlungen 1939 einen Großteil von ihnen in Internierungslager zu stecken. Manès Sperber, der eine Zeit lang auf der Seite der Kommunisten an der Volksfront mitarbeitete und sich 1937 angesichts der Stalin’schen Politik von ihnen abwandte, zog ein bitteres Resümee: „Die deutsche Emigration war überall, besonders aber in Paris, nur eine von vielen. Nicht die unglücklichste, nicht die apathischste und nicht einmal die zersplittertste; sie war die unbeliebteste. Weil sie deutsch, weil sie deutsch und jüdisch war, weil sie sich nicht nur eindringlich, vordringlich, zudringlich bemerkbar machte, sondern die Heimischen mit einer Warnung belästigte, die man nicht vernehmen und jedenfalls nicht unbeachtet lassen wollte. Und gemäß der Magie des Alltags verdächtigt man den Überbringer einer schlechten Botschaft seit jeher, an dem Unglück mitschuldig zu sein, von dem er berichtet, und wissentlich oder unabsichtlich Komplize jener, vor denen er warnen will.“182

Nationalsozialistische Kulturpolitik gegenüber Frankreich Nach der Niederlage Frankreichs und der Besetzung von Paris im Juni 1940 dauerte es nur wenige Tage, bis ein Wehrmachtswagen mit einem Stab von Frankreichexperten in der französischen Hauptstadt ankam, die die deutsche Politik gegenüber dem besetzten Land bestimmen sollten. Leiter der Gruppe war Otto Abetz, der in Paris bekannte und im Allgemeinen geschätzte frühere Initiator deutsch-französischer Jugend- und Veteranentreffen und spätere Mitarbeiter Ribbentrops, der im Jahr zuvor von Daladiers Regierung des Landes verwiesen worden war. Die Regierung vermied eine offizielle Verlautbarung über den Eklat; offensichtlich hatte Abetz’ allzu provokantes Auftreten für die deutsche Einverleibung Danzigs das Fass des Unwillens zum Überlaufen gebracht. Indem Ministerpräsident Daladier trotz der daraus folgenden Verwicklungen auf der Ausweisung beharrte, wurde die Deutung unausweichlich, dass Abetz bei seiner Umsetzung der vom NS-Regime in den dreißiger Jahren be181 Félix Bertaux, Les livres allemands, in: Les Cahiers de Radio-Paris, 15.12.1935, 1175–1178, zit. nach Fiss, Grand Illusion, 113. 182 Manès Sperber, Bis man mir Scherben auf die Augen legt. All das Vergangene … Wien: Europa, 1977, 107.

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triebenen „Verständigungspolitik“ die Schwelle zur Einflussnahme auf französische Eliten überschritten hatte.183 Nach dem von Ribbentrop hochgespielten Eklat konnte Abetz, der nun mit großen Vollmachten ausgestattet war, die Rückkehr 1940 als Akt der Genugtuung verzeichnen. Seine Form der Verständigungspolitik zwischen den beiden Ländern, die zuletzt markante Zeichen deutscher Herablassung gegenüber dem „schwachen“ Frankreich gezeigt hatte, fand nun ein offenes Betätigungsfeld, zumal in den ihm geläufigen Bereichen von Propaganda und Kultur, es sei denn, die Militärverwaltung wollte hier die Souveränität nicht teilen. Tatsächlich wollte sie es nicht. Mit der bei ihr angesiedelten Propagandaabteilung Paris, die dem Propagandaministerium unterstand, war und blieb sie ein wichtiger Konkurrent der Botschaft bei der Einflussnahme und ideologischen Kontrolle der französischen Gesellschaft. (Bereits im Ersten Weltkrieg war das Militär für die Zensur zuständig gewesen.) Als Abetz sehr früh die dann in einen eklatanten Kunstraub übergehende „Sicherstellung“ französischer Kunstwerke in jüdischem Besitz begann, stellte sich dem die Militärverwaltung unter Alfred Streccius mit dem Beauftragten des Oberkommandos der Wehrmacht für den Kunstschutz in den besetzten Gebieten, Franz Graf Wolff Metternich, unter Hinweis auf die Ehre von Wehrmacht und Staat entgegen. Der Widerstand wurde bald darauf unter Hinweis auf eine Anordnung des Führers und mit massiven Plünderungsaktionen im Auftrag von Göring und Rosenberg gebrochen.184 Von Hitler zunächst zum Bevollmächtigten des Auswärtigen Amtes beim Wehrmachtsbefehlshaber in Frankreich ernannt, dann als Botschafter mit der Liaison zur Regierung im unbesetzten Frankreich in Vichy ausgestattet, bestimmte Abetz die „zivile“ Politik der Besatzungsmacht, und die schloss nach Hitlers und Ribbentrops Weisungen die Förderung eines lebendigen kulturellen Lebens ein. Ihre Hoheitsbefugnis war von Hitler gegeben; trotz des noch anhaltenden Kriegszustandes sollten Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen wieder aufgenommen werden. Mit der von Botschaft, Propagandaabteilung und Militärverwaltung betriebenen Kultur- und Propagandapolitik unterschied sich der besetzte Teil von Frankreich mindestens bis Ende 1942, als Hitler das Waffenstillstandsabkommen brach und im unbesetzten Teil Frankreichs einmarschieren ließ, von Vichys eigener, auf eine Regeneration des konservativen, antirevolutionären Frankreich abgestellter Kulturpolitik. Bis zu diesem Zeitpunkt spiegelte sich in den Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Botschaft, deren Kulturreferent, Karl Epting, zugleich das Deutsche Institut leitete, und 183 Roland Ray, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreich� politik 1930–1942. München: Oldenbourg, 2000, 260–282. 184 Ray, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers?, 340–354.

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der Propagandaabteilung der in Berlin tobende Kampf zwischen Ribbentrop und Goebbels um die Auslandspropaganda wider. 1942 wurde festgelegt, dass das Deutsche Institut für Kulturaustausch und die Förderung deutscher Kunst, Wissenschaft und Literatur und die Propagandaabteilung für Kontrolle und Zensur der französischen Kultur zuständig sein sollte. Gerhard Heller, vom Propagandaministerium in die Funktion des literarischen Zensors befördert, wechselte in die Botschaft über. Insgesamt änderte das wenig an dem Kompetenzwirrwarr, der verhinderte, zu einer den Franzosen verständlichen Leitlinie zu gelangen. Der Sommer 1940, in dem Hitlers Macht den Höhepunkt erreichte, versetzte deutsche Kulturpolitiker und Propagandisten in äußerste Betriebsamkeit. Herbert Scurla hatte 1939 bei den Großmächten generell einen Strukturwandel auswärtiger Kulturpolitik festgestellt, der vor allem in der Zentralisierung ihrer Organisation und einer Abstimmung mit der politischen und publizistischen (häufig Rundfunk‑)Propaganda bestand. Ribbentrop, zu dieser Zeit von Hitler vor Goebbels auf diesem Gebiet privilegiert, nahm die Chance wahr, dem Auswärtigen Amt nach den Einsätzen der Wehrmacht bei der Behandlung der besetzten Länder sowie der Werbung um verbündete Länder wie Ungarn und Spanien und neutrale Länder wie Schweiz und Schweden neue Einflussbereiche zu sichern. Abetz hatte seine Mission in diesem Sinne in den dreißiger Jahren mit seiner „Offensive de charme“185 vorbereitet. Als frankophil bekannt und geschätzt, wozu seine Heirat mit einer Französin beitrug, hatte er Pariser Eliten, zumal auf der Rechten und in den faschistischen Zirkeln, zu dem immer wichtiger und interessanter werdenden Deutschland einen willkommenen Zugang geschaffen. Mit dem 1935 begründeten Comité FranceAllemagne und der umgeformten Deutsch-Französischen Gesellschaft stellte er außerhalb der offiziellen Diplomatie „Verständigung“ her. Abetz’ Agenda bei der Ankunft im Juni 1940 entsprach dem Kurs, den das NS-Regime, obgleich mit ständigen internen Reibereien, in den besetzten Ländern West- und Nordeuropas, in den Niederlanden, in Belgien, Norwegen und Dänemark, verfolgte. Dieser Kurs zielte darauf ab, die traditionellen Kultur- und Wissenschaftsaktivitäten für die Fortsetzung ziviler (vor allem wirtschaftlicher) Kontinuitäten einzuspannen, wenngleich nun mit verordneter, möglichst durchgehender Ausrichtung am deutschen Muster. Eine Mission oder Zielvorstellung fehlte, da sich Hitler alle Optionen offenhalten wollte. Damit war die Kulturpolitik, obwohl ein wichtiges Instrument der Besatzung, von vornherein auf konventionelle Aktivitäten festgelegt. Propaganda, von Goebbels im Reich als konstanter 185 Ray, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers?, 156–189; Philippe Burrin, La France a l’heure allemande 1940–1944. Paris: Seuil, 1995, 60–67.

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Stimmungsmacher geformt, gelangte unter diesen Umständen nicht darüber hinaus, den besetzten Ländern die Vorteile der neuen politischen Konstellation schmackhaft zu machen; was fehlte, waren Zielvorstellungen, vor allem im Hinblick darauf, welche Rolle das jeweilige Land in dem viel beschworenen Europa der Zukunft spielen werde. Nirgendwo allerdings kam eine Gesellschaft dem Angebot zur Kollaboration derart aktiv entgegen wie im besetzten Teil Frankreichs, nachdem die Bewohner aus dem Chaos der Flucht vor dem Feind im Juni 1940, als Millionen auf der Straße waren, wieder in das gewohnte Leben eintauchten und nichts mehr wünschten als Kontinuitäten. Aber nirgendwo sonst stießen die Besatzer wie hier auf eine von ihnen seit Langem respektierte, in vielem beneidete Kultur, für welche Kontinuität herzustellen auch bedeutete, ihr das Gefühl ihres Sendungscharakters zu belassen – solange das nicht dem neu gestärkten Expansionsdenken für deutsche Sprache und Kultur ins Gehege kam, das sich vor allem auf die Länder Südosteuropas konzentrierte, in denen die Konkurrenz während der dreißiger Jahre schon deutliche Vorteile für Sprache und Wissenschaft erbracht hatte. Als Vichy nicht zögerte, seine eigene kulturelle Außenpolitik auch in diesen Gebieten, nicht nur in den Kolonien, zu betreiben, stieß es auf unmissverständlichen Widerstand vonseiten des Regimes. Mit Abetz und seinem Stab gelangten im Juni 1940 Verantwortliche an die Schaltstellen, die Kenntnis und Hochachtung französischer Kultur mitbrachten und an einem lebendigen kulturellen Leben interessiert waren: Karl Epting, der 1934–1939 die Pariser Außenstelle des DAAD geleitet und zu einer Art Kulturzentrum ausgebaut hatte; Friedrich Grimm, Professor für internationales Recht; Legationssekretär Ernst Achenbach, zuvor in der Pariser Botschaft, der für Politik zuständig war (und nach dem Krieg im Deutschen Bundestag noch Karriere machte); Rudolf Schleier, Abetz’ Stellvertreter, ehemaliger Landesgruppenleiter der NS-Auslandsorganisation und Vizepräsident der Deutsch-Französischen Gesellschaft (und in der Folge höchst aktiv bei Abetz’ Maßnahmen gegen die Juden186); schließlich Friedrich Sieburg, langjähriger Paris-Korrespondent der Frankfurter Zeitung, der der Botschaft bis 1942 als (assimilierter) Botschaftsrat angehörte. Besonders geschätzt war Sieburg, der in seinem Buch Gott in Frankreich? (1929) dem kulturgesättigten Frankreich zugleich geschmeichelt und einen kritischen Spiegel vorgehalten hatte. Er hatte nicht in den Vorwurf der Dekadenz eingestimmt, den man in Deutschland seit der Jahrhundertwende, verstärkt wieder in den dreißiger Jahren zu einem Argument für die Überlegenheit der jugendlich-gesunden deutschen Kultur gegen die Kultur des Nachbarvolkes auswalzte, dennoch waren seine zunehmend na186 Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit, 196–199, 229 f.

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tional gefärbten Bilder und Urteile über den Niedergang „in kleiner Münze in die Leitartikel und Feuilletons fast aller deutschen Tageszeitungen“ gewandert, wie es Epting ausdrückte. „Auch für uns ist Sieburg durch sein Buch – und fast ebenso durch seine täglichen Artikel in der ‚Frankfurter Zeitung‘ – zum ersten Führer in der geistespolitischen Auseinandersetzung mit dem anderen Lande geworden und später auch geblieben.“187 Sieburg lieferte wichtige Argumente dafür, die schmeichelhafte Anerkennung der Ausrichtung des Landes an kultureller Größe in ein Argument gegen seine politische Entschluss- und Lebenskraft zu wenden. Damit untermauerte er die Strategie, dem kulturellen Leben nach der Niederlage besondere Unterstützung zu gewähren, da das einerseits Ablenkung der Bevölkerung, andererseits Schwächung ihrer politischen Energien bewirkte. Ganz anders war die Härte und Konsequenz, mit der die Botschaft zur „Säuberung“ des kulturellen Lebens von Juden, Kommunisten und anderen missliebigen Vertretern der Volksfront beitrug, eine Aufgabe, an der sich auch Vichy mit nur geringen Einschränkungen beteiligte. Mit dem Schicksal des linken Frankreich assoziiert, verloren die politischen und literarischen Exilanten aus Deutschland und Österreich jeglichen Rückhalt, mussten sich der Internierung unterziehen, mit der Lion Feuchtwanger nach gelungener Flucht 1942 in New York in seinem bedrückenden Augenzeugenbericht Unholdes Frankreich abrechnete, oder konnten über Vichy oder neutrale Länder entkommen – wenn sie es konnten. Nicht jeder hatte das Glück, das im Auftrag des amerikanischen Emergency Rescue Committee 1940 in Marseille von Varian Fry eingerichtete Centre Américain de Secours zu erreichen. Es verhalf zahlreichen deutschsprachigen Emigranten zur Flucht, zumeist in die USA.188 Im Sommer 1940 fühlte sich Frankreich von der plötzlichen und definitiven Niederlage überwältigt, die ihm die Militärmaschine des Nachbarlandes beigebracht hatte. Anders als 1871 jedoch wurde die Niederlage (zunächst) akzeptiert. Zahlreiche politisch aktive Gruppen, besonders auf der Rechten, nahmen sie sogar mit Genugtuung hin, da sie das Ableben der ihnen verhassten Dritten Republik besiegelte, in der Liberalismus und Marxismus die Zügel geführt hatten. Eine Flut von Erklärungen des Debakels wartete auf Veröffentlichung, als der deutsche Zensor seine Arbeit aufnahm. Anders als nach dem preußischfranzösischen Krieg suchte man Erklärungen zunächst bei den eigenen Feh187 Karl Epting, Generation der Mitte. Bonn, 1953, 102; vgl. die kritische Aufarbeitung bei Man­ fred Flügge, Friedrich Sieburg. Frankreichbild und Frankreichpolitik 1933–1945, in: Vermittler. Deutsch-französisches Jahrbuch 1 (1981), 197–218. 188 Barbara Vormeier, Frankreich, in: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, hg. von Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen und Lutz Winckler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, Sp. 213–250, hier 237 f.

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lern; was den Deutschen unterm Nationalsozialismus in den dreißiger Jahren zu ihrer Stärke verholfen hatte, war nicht unbekannt geblieben, anders als in der weniger vernetzten Welt des 19. Jahrhunderts. In seiner postum publizierten Abrechnung mit dem Versagen der französischen Politik, L’étrange défaite (Die seltsame Niederlage), merkte der Historiker Marc Bloch an: „In der Tat, ich übersehe nicht, dass das Deutschland von Hitler Sympathien weckte, die das Deutschland von Ebert nie zu wecken hoffte. Nichtsdestoweniger ist Frankreich immer Frankreich geblieben.“ Einige Seiten später ging Bloch genauer auf die Versäumnisse ein: „Aber wir hätten uns klar sein müssen, dass, wenn dieser furchtbare Sturm wieder losbrechen würde, die europäische Kultur [la civilization européenne] ihren Untergang riskierte. Andererseits bemerkten wir im damaligen Deutschland, wie schüchtern auch immer, Zeichen des guten Willens, freimütig in ihrem Pazifismus, ehrlich in ihrer Liberalität, die auf eine Geste der Ermunterung vonseiten unserer Führer rechneten. Wir wussten all das. Und dennoch ließen wir aus Trägheit, aus Feigheit die Dinge laufen. Wir fürchteten die Opposition der Masse, den Sarkasmus unserer Freunde, das ignorante Misstrauen unserer Meister.“189 Anders als in der Politik erfolgte 1940 in der Kultur die Rückbesinnung auf nationale Größe und Kontinuität ohne Kehrtwendung, jedoch nicht ohne breite antidemokratische Rhetorik. Sehr bewusst verknüpfte Marschall Pétain in Ablösung von der Dritten Republik die Souveränität eines neuen Frankreich mit der Wiedergewinnung nationaler kultureller Souveränität. Mit der Erhöhung von Arbeit, Familie und Vaterland („travail, famille, patrie“) löste sie die zuletzt von der Volksfront mit ihren kommunistischen Helfershelfern ‚kompromittierten‘ Ziele Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit („liberté, fraternité, egalité“) ab. Wie im nationalsozialistischen Deutschland kam der Sphäre der Kultur eine traditionalistische Rückversicherung an nationalen und regionalen Elementen zu, die im Gegensatz zu den Revolutionierungen der politischen Institutionen stand. Mit der Begründung im katholischen Antirepublikanismus, anglophoben Nationalismus und Antisemitismus bezog Vichy wesentliche Impulse aus der Geschichte der französischen Rechten. Nachdem Ende der dreißiger Jahre Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit dramatisch angewachsen waren – eine Art Ventil für die Frustration angesichts der zunehmenden Schwäche des Landes –, kennzeichnete Vichy die Präsenz der Juden, insbesondere der ausländischen Juden, für die kulturelle Erneuerungsagenda als absolut schädlich. Die Ausschließungsmaßnahmen, als Vichy-Gesetze erlassen, riefen nur geringen Protest hervor. Erst als die Verhaftungs- und Sammlungsaktionen gegen die Juden im Sommer 1942 bekannt wurden, regte sich erster 189 Marc Bloch, L’étrange défaite. Témoignage écrit en 1940. Paris: Armand Colin, 1957, 193, 216.

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Widerstand. Bei der „Säuberung“ der Gesellschaft von Juden ging Vichy in der Gesetzgebung und beim Abtransport teilweise weiter, als es deutsche Stellen erwarteten.190 Eigenen Impulsen entsprangen auch viele kulturpolitische Maßnahmen; die Regierung schuf die Kommission für Wiederaufbau, die explizit regionale Traditionen und ihre Folklore förderte, und veranstaltete große Festivals mit bäuerlichen Themen, alles Dinge, die in dem ideologisch gespaltenen Frankreich seit jeher ihren Platz besaßen, aber nun für die Restitution kultureller Souveränität ihre Abkehr von den „Ideen von 1789“ bezeugten.191 Gemeinsam mit dem Nationalsozialismus war die Zielrichtung gegen die „Massen“Kultur Amerikas und die „Unkultur“ des Bolschewismus gerichtet. Vichy holte gleichsam die Ethnifizierung und Nationalisierung der Kultur der dreißiger Jahre nach. Mit dieser Kulturpolitik stimmten die intellektuellen und künstlerischen Eliten in Paris jedoch nur bedingt überein, wenn man die Abneigung gegen die Dritte Republik und den latenten Antisemitismus beiseitelässt. Bei der Verfolgung ihrer künstlerischen Neuansätze fühlten sie sich in Paris unter der von Gerhard Heller mild gehandhabten Zensur oftmals weniger gegängelt als unter Pétains kulturkonservativer Verwaltung. Ihr Sendungsbewusstsein richtete sich nun entweder auf die Durchforstung des „kulturellen Erbes der Nation“192 unter Fortführung der Konflikte zwischen rechts und links, bei denen LouisFerdinand Céline und Louis Aragon, François Mauriac und Paul Eluard, André Gide und Georges Bernanos prominent rangierten, oder aufs Allgemeine, Existenzielle, auf eine Neugründung ästhetischer Formen aus der Unmittelbarkeit geschichtlicher Erfahrung, sprich Niederlage, auch und gerade wenn sie sich ständiger Beaufsichtigung unterwerfen mussten. Zumindest bis 1943 waren sie vor allem daran interessiert, ihre Theaterstücke, Romane, philoso­ phischen Essays erscheinen oder aufführen zu lassen. Trotz Buchzensur, Papierverknappung und Schikanen der Besatzer vermochten sie eine gewisse Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Das gelang glanzvoll im Theater, das zu dieser Zeit die wichtigste Gegenöffentlichkeit darstellte. Serge Added hat geradezu von einer theatralischen Euphorie („l’euphorie théâtrale dans Paris occupé“) gesprochen.193 Für deutsche Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler bot das Paris der Kriegsjahre eine Stätte der Herausforderung und Bewährung, wie sie zu dieser Zeit nirgendwo sonst, nicht in Berlin und nicht einmal in Italien, exis190 Michael R. Marrus und Robert O. Paxton, Vichy France and the Jews. New York: Basic Books, 1981. 191 Christian Faure, Le projet culturel de Vichy. Folklore et revolution nationale 1940–1944. Lyon: CNRS, 1989; La vie culturelle sous Vichy, hg. von Jean-Pierre Rioux. Brüssel: Editions Complexes, 1990. 192 Gisèle Sapiro, La guerre des écrivains 1940–1953. Paris: Fayard, 1999, 9. 193 Sege Added, L’euphorie théâtrale dans Paris occupé, in: La vie culturelle sous Vichy, 315–350.

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22 Paris – Exhibition Arno Breker. 1942, Eröffnung. Von links: Jacques Benoist-Méchin, Abel Bonnard, Serge Lifar, Jean Cocteau, Arno Breker, Fernand de Brinon, Fritz Sauckel. © ullstein bild – Roger Viollet

tierte. Ernst Jünger (der für die Briefzensur zuständig war und dabei mit Heller engen Kontakt pflegte) ist dafür nur das prominenteste Beispiel. Inzwischen sind die vielen Übergänge zwischen den Kontinuitäten einer nach wie vor illustren Pariser Unterhaltungskultur, deren Vertreter auch in Deutschland – etwa Maurice Chevalier und Édith Piaf vor französischen Kriegsgefangenen194 – auftraten, und den Neuansätzen französischer Autoren, von denen Sartre, Albert Camus, Simone de Beauvoir, Colette, Jean Genet, Louis Aragon und Elsa Triolet nach dem Zweiten Weltkrieg besondere Prominenz erlangten, in vielen Büchern aufgearbeitet worden. Mit der Programmschrift Qu’est-ce que la littérature? (Was ist Literatur?), die er 1947 aus der Pariser Neugründungsmentalität entwickelte, setzte Jean-Paul Sartre die ersten Zeichen, die bis nach Deutschland reichten. Wie komplex und oft indirekt die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Akteuren waren, erwies sich bei der faszinierten Inspiration, die Martin Heidegger, der dem Nationalsozialismus eine Zeit lang zuarbeitende (zudenkende) Philosoph, auf französi194 Alan Riding, And the Show Went on. Cultural Life in Nazi-Occupied Paris. New York: Knopf, 2010, 93–101.

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sche Intellektuelle ausübte; nicht nur Sartres intensives Weiterdenken von dessen Hauptwerk Sein und Zeit nahm in diesen Jahren ihren Ausgang. Pointiert formulierte der schweizerische Frankreichkorrespondent Jürg Altwegg im Rückblick: Heidegger „ist in der Ideologie der Vichy-Verdrängung ebenso präsent wie in den Denkströmungen ihrer Überwindungen“.195 In ähnlichem Sinne wirkte die aktualisierte Beschäftigung mit Nietzsche. Sie fesselte französische Faschismusverehrer wie Robert Brasillach und Drieu la Rochelle, die später für ihre Kollaboration büßen mussten, aber auch Kritiker wie Maurice Blanchot (und später Michel Foucault und Roland Barthes, die ein neues strukturales und poststrukturales Denken inaugurierten)196, während Nietzsche deutschen Kulturpolitikern eine viel benötigte Referenz lieferte, um ihrer Suggestion einer europäischen Kultur Nachdruck zu verleihen. Aus dieser gegenseitigen Kenntnisnahme, die sich nach 1940 aus dem beiderseitigen Bedürfnis nährte, intellektuelle und künstlerische Kontinuitäten fortzusetzen, gingen Anstöße hervor, die über das, was zu dieser Zeit in Büchern und in der Presse unter dem Vorzeichen der Kollaboration zum Politikum gemacht wurde, weit hinausreichten. Dennoch sollte auch die Publikationswelle zur Kollaboration, die in Frankreich als Teil der Literatur über die Bewältigung der Niederlage entstand, erwähnt werden, da sie die in den dreißiger Jahren gewachsene Strömung für die deutsch-französische Verständigung unter neuem Vorzeichen aufnahm und damit den Zielen der deutschen Kulturpolitik entgegenkam. Erst vor ihrem Hintergrund lässt sich die Stellungnahme gegen die deutsche Besatzung kritisch einordnen, mit der Vercors 1942 in der Novelle La silence de la mer (Das Schweigen des Meeres) unter Gefahren und aus der Anonymität heraus dem, was dann als Résistance-Literatur gewertet wurde, einen ersten Durchbruch verschaffte. Ende 1941, als Vercors ( Jean Bruller) seine Novelle abschloss, stellte auf deutscher Seite Bernhard Payr aus den Beständen von Rosenbergs Amt für Schrifttumspflege das Material für die wohl umfangreichste Bestandsaufnahme der französischen Veröffentlichungen zur Kollaboration zusammen, die von derselben Erfahrung geprägt waren, die Vercors als grandiosen Betrug aufs Korn nahm: die Besiegelung der deutsch-französischen Verständigung durch die freundliche, nicht von Rachsucht beherrschte Behandlung des Landes nach seiner Niederlage. Unter dem Titel Phönix oder Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch (1942) veröffentlichte Payr eine im Sinne der deutschen Kulturpolitik kommentierte 195 Jürg Altwegg, Die langen Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des Ver� drängten. München: Hanser, 1998, 234. 196 Jacques Le Rider, Nietzsche en France. De la fin du XIXe siècle au temps present. Paris: Presses Uni� versitaires de France, 1999.

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Anthologie zahlreicher prominenter Kollaborateure, darunter Philippe Pétain und Anatole de Monzie (der 1925 mit Carl Heinrich Becker den mutigen Vorstoß zur Wiederaufnahme der Kulturbeziehungen zwischen den beiden Ländern unternommen hatte), Robert Brasillach, Alfred Fabre-Luce (der 1933 Romain Rollands Einschätzung der zwei Deutschland kritisiert hatte) und Bertrand de Jouvenel (der 1947 in der Schweiz mit Friedrich Hayek, Jacques Rueff und Milton Friedman die neoliberale Mont-Pelerin-Gesellschaft gründen sollte). In vielen Beiträgen zu Payrs Band ist der Nachhall der langen deutsch-französischen Feindschaft zu hören, der keiner plötzlichen Freundschaft Platz machte, jedoch den Sieg und die kooperative Strategie der Deutschen als eine Angebot annahm, die Lehren des Ersten Weltkrieges umzusetzen. Indem der Sieger, gemäß Pétains Hoffnung, Großzügigkeit walten lasse, verdiene er Vertrauen bei der Ausübung seiner Besatzungspflichten und der Planung für ein neues Europa. Die größten Erwartungen an eine Kollaboration, so wurde angenommen, hegten ohnehin die Unternehmer, nach deren Ansicht Frankreichs Aufstieg nur im Wirtschaftsverband mit den Deutschen zu erreichen war. Diesen Stellungnahmen ist die Aussage gemeinsam, dass der Kollaboration der Entschluss vorausgegangen sei, nicht nur die Macht des Siegers anzuerkennen, sondern auch der deutschen Wandlung Vertrauen zu schenken. Die Respektierung der französischen Kultur aufseiten des Siegers war ihnen nur ein wenn auch wirkungsvoller Beweis dafür. Genau diese Respektierung stellte Vercors in La silence de la Mer als Lüge bloß. In der Erzählung hält ein bei einem älteren Franzosen und seiner Nichte einquartierter hochgebildeter und frankophiler deutscher Offizier Monologe über Frankreichs große Kultur, durchschaut aber schließlich die Unaufrichtigkeit der deutschen Politik und lässt sich von Frankreich wegversetzen. Vercors’ Geschichte lebt weniger von dem im Schweigen der beiden Zuhörer manifesten Widerstand – ein rein symbolisches, kein psychologisch überzeugendes Erzählelement – als von der Entlarvung einer, wenn man so will, kulturpolitischen Strategie: der nationalsozialistischen Ausbeutung der deutsch-französischen Verständigungsmythologie. Dieses Vorgehen blieb bis Anfang 1942 erfolgreich, so lange, wie die deutschen Armeen siegreich erschienen, und schrumpfte dann auf eine Kulturpolitik der Besatzung zusammen. Damit kehrten Misstrauen und Feindseligkeit wieder, die man nie ganz aufgegeben hatte. Sie Résistance zu nennen, war bei Vercors und denjenigen Franzosen sinnvoll, die über die Entlarvung zur Bekämpfung übergingen. Bekanntlich gestattete sich die französische Bevölkerung unter dem Namen der Résistance eine lange Phase der Verdrängung von Vichy und der Kollaboration.197 197 Henry Rousso, Le syndrome de Vichy, 1944–198… Paris: Seuil, 1987.

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Vercors zielte auf den kulturvollen, nicht den barbarischen Deutschen. Die enorme Wirkung seiner Erzählung weit über Frankreich hinaus bestätigte die bedeutsame Rolle, die man der deutschen Kulturpolitik zumindest in den ersten Kriegsjahren zugestand – und die in eklatantem Kontrast zu den gleichzeitigen Unterwerfungs- und Ausrottungsstrategien im Osten stand. Dass sie dennoch damit in einem gewissen Zusammenhang stand, zumindest nicht auf eine konstruktive Zusammenarbeit zugunsten einer neuen europäischen Ordnung angelegt war, wurde spätestens bei Hitlers Bruch des Waffenstillstandsabkommens und der Besetzung Vichy-Frankreichs Ende 1942 offenbar. Abetz hatte die Besatzungsstrategie langfristig auf die Brechung der kulturellen Macht Frankreichs in Europa und ihre Ersetzung durch die deutsche Kulturmacht abgestellt. Hitlers und Ribbentrops Unterstützung schloss die frankophile Ausrichtung ein, die jedoch an der Kontrolle der französischen Verlage, Vortrags‑, Theater‑, Film- und Ausstellungsorganisationen keinerlei Abstriche machte, ebenso wenig an der „Überführung wissenschaftlicher Institute und Kongreßorganisationen von Paris nach dem Reich“, an dem Versuch, die Instrumente der französischen Kulturpropaganda, vor allem der Alliance Française, zu zerschlagen oder an der „Überwachung und Lenkung des Exportes französischen Schrifttums und Kulturgutes nach dritten Ländern.“198 So kam die Alliance Française als wichtigstes Instrument der französischen Kulturpropaganda im Ausland unter Beschuss: Sie trage ein „zweifaches Gesicht“, zeige nach außen das „harmlose Gesicht einer Kulturorganisation“, dahinter aber stehe die Macht einer staatlich gelenkten „Geheimorganisation“, die als „Weltbund des französischen Kulturimperialismus […] die Welt zum Kampf gegen Deutschland aufbringen“ wolle.199 Abetz’ Denkschrift von 1940 bediente sich auf deutscher Seite der Formel von Kultur als Schlachtfeld internationaler Machtkämpfe, die seit dem Ersten Weltkrieg nicht nur hier ausgebaut worden war. Sie lieferte im Falle Frankreichs Ende der dreißiger Jahre die Basis harter Debatten um die Versäumnisse der Volksfront und förderte die nicht von allen geteilte Hochschätzung der Weltausstellung 1937, der zufolge dieses Ereignis Frankreichs Dominanz als 198 Denkschrift vom 30. Juli 1940, „Politische Arbeit in Frankreich“, Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDIC), Dok. LXXI-28, zit. nach Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kul� turpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart: Steiner, 1993, 59. 199 Edmund Halm, Die Alliance Française. Der Weltbund des französischen Kulturimperialismus. Eine Untersuchung auf Grund authentischen Materials. Berlin: Junker & Dünnhaupt, 1940, 60 f. Eine ähnliche Abrechnung mit dem englischen Kulturimperialismus veröffentlichte im selben Jahr Franz Thierfelder, Englischer Kulturimperialismus. Der British Council als Werkzeug der geistigen Einkrei� sung. Berlin: Junker & Dünnhaupt, 1940.

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Schiedsrichter auf kulturellem Gebiet wieder einmal bestätigt habe. In Wahrheit waren die entsprechenden Budgets ab 1930 gekürzt worden, was immerhin 1937/38 zu einer Erhöhung führte. Die Kürzungen dienten Kritikern als Beweis für den Niedergang des Landes; sie wiesen sowohl auf die gesteigerten Anstrengungen Großbritanniens, Italiens und Deutschlands auf diesem Gebiet hin als auch darauf, dass sich die französische Kulturpropaganda zu stark auf die Eliten konzentriere und die „psychologische Mobilisierung“ vermissen lasse, die die Deutschen inzwischen meisterhaft entwickelt hätten.200 Wenn es vielen Beobachtern angesichts dieser allgemeinen Verhärtung der kulturellen Konkurrenz als Stellvertreterkämpfe schwer fiel, der deutschen Kulturpolitik von vornherein Irreführung vorzuwerfen, verloren diejenigen, die jüdisch oder im Kunsthandel beschäftigt waren, sehr schnell ihre Zweifel. Abetz selbst verstieß als Erster gegen das äußere Wohlverhalten, das man der deutschen Besatzung zugutehielt, als er begann, der Beschlagnahmung wertvoller Kunstwerke aus französischem, zunächst jüdischem Privatbesitz, dann aus Museen, Archiven und Bibliotheken in kirchlichen und Freimaurerinstitutionen nach Deutschland den Weg zu bereiten. Das war mehr als die Revanche für Napoleons Plünderungen, als welche die Aktion oft hingestellt wurde. Unter dem Führerbefehl, „neben den im französischen Staatsbesitz befindlichen Kunstschätzen auch die im privaten, vornehmlich jüdischen Besitz befindlichen Kunst- und Altertumswerte vor Verschleppung bzw. gegen Verbergung einstweilen in Verwahrung der Besatzungsmacht“201 sicherzustellen, geschah genau diese Verschleppung. In der Aktion Hermann Görings, der im November 1940 gegen den Einspruch der Militärs waggonweise Kunstschätze einsammelte, die er, in zwei Gepäckwagen an seinen Sonderzug gekoppelt, gleich mit nach Deutschland nahm, manifestiert sich im Bild des Plünderers zugleich eine Entladung von Eifersucht auf Frankreichs Vorherrschaft in der Kunst, die es zu brechen galt. Was Abetz unter seine Regie bringen wollte und vom Militär­ befehlshaber zunächst verzögert wurde, wuchs sich unter den Händen des Einsatzstabes des Reichsleiters Rosenberg mit über 20.000 aus Frankreich verschleppten Objekten zu einer der größten Plünderungsaktionen neuerer Geschichte aus. Noch mehr in den Vordergrund drängte sich Abetz bei der „Arisierung“ jüdischer Unternehmen und der Ausschließung der Juden aus 200 Christophe Charle, La crise des sociétés imperiales. Allemagne, France, Grande-Bretagne 1900–1940. Essai d’histoire sociale compare. Paris: Seuil, 2001, 232. Statistiken in Antoine Marès, Puissance et presence culturelle de la France. L’exemple du Service des Oeuvres françaises à l’Étranger dans les années 30, in: Relations internationales 33 (1983), 65–80. 201 Generalfeldmarschall Keitels Befehl vom 30.6.1940 an General Bockelberg, den Kommandanten von Paris, zit. nach Jakob Kurz, Kunstraub in Europa 1938–1945. Hamburg: Facta, 1989, 134; Ray, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers?, 349–355.

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dem öffentlichen Leben. Von seinem antisemitischen Stab in der Botschaft unterstützt und von der Militärverwaltung nur vorübergehend gebremst, setzte Abetz in Zusammenarbeit mit Ministerialrat Werner Best und der Gestapo eine scharfe Verfolgungspolitik gegen Juden in Gang, deren Repressalien, Drohungen, Verhaftungen überall in der Gesellschaft wahrgenommen wurden. Seine Liaison mit Vichy zielte nicht zuletzt auf die Verwaltungsentscheidungen im nominell unabhängigen Frankreich ab, die mit dem neu eingerichteten Judenreferat die Vorbereitungen zum Abtransport in die Todeslager einschlossen.202 Natürlich hatte Abetz in seiner Denkschrift 1940 nicht vergessen, die „Einfuhr propagandistisch wirksamer und künstlerisch wertvoller deutscher Bücher, Filme, Konzerte und Theaterstücke“ zu befürworten.203 Für die Verteilung war das im Herbst 1940 gegründete Deutsche Institut in Paris zuständig, das Karl Epting in seiner Eigenschaft als Kulturreferent der Botschaft leitete. Epting war sich der Probleme bewusst, die dem Kulturexport in einem Land wie Frankreich begegnen mussten, richtete seine Strategie darum von vornherein darauf aus, den Kollaborationswilligen mit dem Institut den deutschen Partner zu stellen und die deutsche Seite möglichst attraktiv zu machen. Vor allem intensivierte er die Verbindungen zu den Zirkeln und Intellektuellen, die seit Längerem den nationalen Aufbruch Deutschlands mit seinen faschistischen Elementen bewundert hatten, wie es beispielhaft der erfolgreiche Schriftsteller Robert Brasillach in der Zeitschrift Je suis partout und der ähnlich versatile Autor Drieu la Rochelle taten, der ein enger Vertrauter von Abetz war und 1940 als Herausgeber der wichtigsten Literaturzeitschrift Nouvelle Revue Française Jean Paulhan ablöste, ein späteres Mitglied der Résistance (den Drieu zweimal aus den Händen der Gestapo rettete).204 Die Groupe Collaboration, die von der Botschaft neben anderen ähnlichen Vereinigungen 1941 zugelassen und zur Kooperation bei kulturellen Projekten herangezogen wurde, zeigte bereits in ihrem Namen die zu dieser Zeit weithin eingenommene Haltung an. Für seine Vortragsserien weckte Epting beim Pariser Publikum ein erstaunlich großes Interesse. Er stellte bekannte deutsche Wissenschaftler und Publizisten vor, die gern nach Paris kamen, von Hans-Georg Gadamer und Carl Schmitt bis zu dem Rassenexperten Eugen Fischer und dem erfolgreichen Sachbuchautor Anton Zischka. Bis zum Sommer 1942 zählte das Institut 25.000 Zuhörer. Dass es auf diesem Gebiet, auf dem Epting mit der Vorgängerinstitution vor 202 Barbara Lambauer, Otto Abetz et les français ou l’envers de la Collaboration. Paris: Fayard, 2001, 196–205; Ray, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers?, 355–370. 203 Denkschrift vom 30. Juli 1940, zit. nach Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944, 59. 204 Zeev Sternhell, Ni droite ni gauche. L’idéologie fasciste en France. Paris: Seuil, 1983, 469–505.

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1939 nur eine schmale Zuhörerschaft mobilisiert hatte, so großen Zuspruch fand, lag nicht zuletzt an dem Bonus der Siegermacht, der man plötzlich zuhörte. Zumindest im öffentlichen Vortrags- und Diskussionsleben sowie in dem überall im Lande riesig anschwellenden Sprachunterricht fand Stresemanns Fazit eine kurzzeitige Bestätigung, dass es im Sonnenglanz der Machtstellung eines Landes einfacher sei, auswärtige Kulturpolitik zu betreiben, als nach einer Niederlage. Die Ausweitung des deutschen Sprachunterrichts, dem die im Institut arbeitenden Lektoren der Deutschen Akademie sowie ad hoc eingesetzte Deutschlehrer kaum nachkommen konnten, bildete den sichtbarsten Ausdruck der deutschen Vormachtstellung. In Frankreich, wo Deutsch mit Kriegsausbruch 1914 von der nach 1871 etablierten Führungsstellung als erste Fremdsprache in den höheren Schulen sofort entthront wurde, stieg es bis 1943 auf etwa ein Drittel der Einschreibungen an, beträchtlich mehr jedoch bei den neu Hinzukommenden, bis dann die Zahlen nach 1943 wieder absanken.205 Epting eröffnete Sprachinstitute in allen größeren Städten, nach 1942 auch im besetzten Vichy. Der Höhepunkt lag bei 12.000 Kursteilnehmern 1941 in Paris allein; mit abnehmendem Kriegsglück sanken die Zahlen ab 1943 recht schnell. Philippe Burrin, der die deutsche Kulturpolitik im Frankreich des Krieges sorgfältig aufgearbeitet hat, schätzt, dass in dieser Zeit etwa 100.000 Franzosen, von Gymnasiasten bis zu Sekretärinnen, Angestellten, Arbeitern und Beamten, Deutsch gelernt haben. Er lässt die Frage offen, was die Motivation war, die Sprache Goethes und Hitlers zu lernen, und wie substanziell diese Form des Deutschlernens überhaupt war.206 Man kann annehmen, dass diese Vertrautheit auch nach der Befreiung Frankreichs 1944 und der totalen Niederlage Deutschlands 1945 nicht von heute auf morgen völlig verschwand. Wie Goebbels feststellen musste, schlug der Bonus der Siegermacht im Bereich des Films für die Massenbeeinflussung kaum durch, anders als in dem des Rundfunks, wo eine strikte Kontrolle der Stationen eingeführt wurde.207 Erst spät begriff man auf deutscher Seite, dass die weitgehende Ablehnung deutscher Filme, die man nur mit den technisch neuen Farbfilmen Münchhausen und Die goldene Stadt wirklich überwand, durch französische Auftragsproduktionen oder die extra dafür in Paris gegründete Continental Film gemildert werden konnte. Vorausgegangen war eine in den dreißiger Jahren dank intensiver deutscher Investitionen gewachsene Kooperation, die mit den zugleich auf 205 Paul Lévy, La langue allemande en France. Pénétration et diffusion des origins a nos jours, Bd.  2 (Bibliothèque de la société des études germaniques VIII). Lyon/Paris: IAC, 1952, 207–217. 206 Burrin, La France à l’heure allemande, 303–310. 207 Yves Menager, Aspects de la vie culturelle en France sous l’occupation allemande (1940–1944), in: Inter arma non silent Musae. The War and the Culture 1939–1945, hg. von Czeslaw Madajczyk, Warschau: Polish Academy of Science, 1977, 367–420, bes. 382–384.

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das französische Publikum ausgerichteten UFA-Studios (Alliance Cinématographique Européenne) sowohl in Deutschland wie in Frankreich den Unterhaltungswert interkultureller Verflechtungen – insbesondere in der Abwehr von Hollywood – bewies. Um den französischen Markt zu beherrschen, bannten die Besatzungsbehörden 1940 zunächst alle britischen, dann amerikanischen Filme, ebenso neuere französische Streifen. Für ein großes Dokument der deutsch-französischen Verständigung, Jean Renoirs pazifistischen Film La Grande Illusion, der auf der Biennale in Venedig 1937 ausgezeichnet worden war, war kein Platz mehr. Jedoch verstand es die französische Filmindustrie, trotz der vom zuständigen Reichsbeauftragten des Propagandaministeriums, Alfred Greven, kontrollierten marktbeherrschenden Continental Film Finanzierung künstlerisches Profil und breite Publikumszustimmung zu erlangen. In der Tat wurde die „Befreiung“ von Hollywood zugleich zu einer großen Chance für jüngere Regisseure wie Jacques Becker, Robert Bresson und Henri-Georges Clouzot, aber auch für Schauspieler wie Jean Marais, Maria Casarès und François Perier; zugleich entstanden Meisterwerke wie Marcel Carnés Les visiteurs du soir und Jean Grémillons Lumière d’été und Le ciel est à vous. All dies war Goebbels nicht unbekannt, der den Franzosen eigentlich banale Lustspiele zugedacht hatte, aber solange diese Filme nicht einem neuen französischen Nationalismus huldigten und ohnehin nicht für deutsche Propaganda eingesetzt werden konnten, griff er nur ein, wenn sie „zu gut“ wurden und die deutsche Konkurrenz ausstachen.208 Voller Ironie ist, dass der einzige wirklich subversive Film, Clouzots Le corbeau, der 1943 Denunziation und Korruption in einer französischen Kleinstadt zeigte, ausgerechnet für die Continental Film entstand. Beim Film offenbarten sich besonders anschaulich die Probleme, denen die deutschen Kulturverantwortlichen begegneten, wenn sie die in der Nationalisierung des Kulturbegriffs in den dreißiger Jahren zugespitzte essenzialistische Auffassung einer Kultur als wesenhaft und einmalig in die praktische Kulturpolitik mit anderen Ländern einbrachten. Der Film widersprach den beiden miteinander streitenden Paradigmen, die die Kulturpolitiker des Dritten Reiches nie versöhnen konnten: zum einen der von Hitler selbst vertretenen Anschauung, das sich der Nationalsozialismus nicht exportieren lasse, zum andern der um 1930 popularisierten Theorie kultureller Begegnung, die der Ethnifizierung der Kultur in den dreißiger Jahren dazu verhalf, zum Politikum zu werden, was in diesem Falle hieß, eine essenziell französische durch eine einmalige deutsche 208 Kathrin Engel, Deutsche Kulturpolitik im besetzten Paris 1940–1944. Film und Theater. München: Oldenbourg, 2003, 443. Ein detaillierter Überblick bei Rita Thalmann, La mise au pas. Ideologie et stratégie sécuritaire dans la France occupée. Paris: Fayard, 1991.

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Kultur „zu überwinden“.209 Praktisch gesprochen: Das französische Kinopublikum lehnte die bewusst als deutsch konzipierten Filme ab. In gleicher Weise sprachen Ausstellungen über das „deutsche Buch“ kaum an, anders als die Ausstellungen, die im deutschen Auftrag von französischer Seite über die Freimaurer (Oktober 1940) und die Juden (1941/42) sowie unter den Titeln „La France européenne“ (1941) und „La vie nouvelle“ (1942) organisiert wurden und in Paris und der Provinz über drei Millionen Besucher anzogen.210 Mit Blick auf die viel gepriesene Ausstellung der Skulpturen von Arno Breker, die im Mai 1942 in Paris ein glanzvolles Publikum anzog und zu der man sogar Brekers Lehrmeister, den achtzigjährigen Aristide Maillol, aus seiner Recluse in Südfrankreich kommen ließ, fragte die Deutsche Botschaft, ob es sich nicht doch eher um französische Kulturpropaganda handle, da in der französischen Öffentlichkeit nicht die deutschen Werke des Bildhauers betont, sondern der entscheidende Einfluss Maillols und der französischen Schule hervorgehoben würden.211 Tatsächlich blieb in der französischen Wertschätzung der ‚anderen‘ Kunst das bekannte Muster bestehen: Sie wurde vor allem in ihrer Ableitung von der originalen französischen Kunst wahrgenommen. Klassische Musik hatte es da schon leichter, als deutsche Domäne anerkannt und gefeiert zu werden, obwohl man gerade ihr eine universale Botschaft zusprach. Der erste Zweijahresbericht 1940/42 des weit über Vorträge und Sprachlehre hinaus aktiven Deutschen Instituts in Paris quillt geradezu über von Auftritten deutscher Spitzenorchester, die es vermochten, ein enthusiasmiertes Publikum die Militärmacht zugunsten der Kulturmacht vergessen zu lassen.212 Demgegenüber brachten deutsche Ensembles insgesamt nicht mehr als sieben Theaterstücke, davon drei von Gerhart Hauptmann, auf Pariser Bühnen, von denen selbst Schillers „Kabale und Liebe“, in der Comédie-Française mit Heinrich George auf Deutsch aufgeführt, eher als nationales Ausstellungsobjekt denn als Kontaktobjekt deutscher und französischer Theaterleute diente.213 Letztlich kam es aber Goebbels gar nicht auf die Selbstdarstellung der deutschen Kultur im Land des Erbfeindes an. Einerseits gab er den Zweifeln Ausdruck, ob die deutsche Kunst, die den großen Anspruch des Siegers erfüllen musste, dort überhaupt bestehen könne, andererseits verbiss er sich, gegen Ribbentrop gewendet, in Hitlers Formel vom Niedergang des Landes, das sich 209 Diesen Widerspruch analysiert für das Theater Serge Added, Le théâtre dans les années-Vichy 1940– 1944. Paris: Editions Ramsay, 1992, 108–110. 210 Burrin, La France à l’heure allemande, 297–301. 211 Engel, Deutsche Kulturpolitik im besetzten Paris, 441. 212 Gertrud vom Steeg, Zwei Jahre deutsche Musik und deutsches Theater in Frankreich. Ein Tätigkeits� bericht des Deutschen Instituts, in: Deutschland-Frankreich 3 (1943), 134–137. 213 Engel, Deutsche Kulturpolitik im besetzten Paris, 436 f.

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mit Kultur, sei es der eigenen, sei es der deutschen, nicht aus seinem Verfall herausarbeiten sollte. Ribbentrop wiederum war „kein prinzipieller Feind Frankreichs“, besaß aber auch nicht die Energie, „bei Hitler im Sinne einer zumindest ansatzweise gleichberechtigten Kollaboration zu intervenieren“.214 Erst wenn eine solche Kollaboration auf einigermaßen gleicher Ebene installiert worden wäre, bei der sich das andere Land in Deutschland kulturell hätte präsentieren können, wäre jedoch zu erwarten gewesen, dass es die deutsche Präsentation voll akzeptiert hätte. Das aber geschah zur großen und stets wachsenden Frustration der französischen Seite nicht. Als man es 1943 erwog, da sich der Krieg gegen Deutschland zu wenden begann und eine größere Rücksichtnahme im Kulturellen – bei gleichzeitiger größerer Ausbeutung im Wirtschaftlichen – notwendig wurde, war es längst zu spät. Dass es zu spät war, wussten deutsche Kulturverantwortliche, zumindest diejenigen, die vor Ort arbeiteten. Ihren Erfahrungen entsprang eine Reihe von ungewöhnlich kritischen, ja schonungslosen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS vom Herbst 1943 über das Versagen der deutschen Propaganda und Kulturpolitik in Frankreich. Drei Berichte nahmen die Propaganda, das Theater und die allgemeinen Kulturbeziehungen aufs Korn. Der erste rechnete der Propaganda mit guten Belegen vor, dass sie unfähig gewesen sei, die der deutschen Besatzung zunächst aufgeschlossene französische Bevölkerung durch gute Argumente und sensible Behandlung in der Kollaboration zu halten. Nun sei diese zu kaum verhüllter Feindseligkeit allem Deutschen gegenüber übergegangen. Zwei Versäumnisse seien eklatant: zum einen die Unfähigkeit, „ein bestimmtes Ziel aufzustellen und planmäßig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ‚durchzupauken‘. Im Gegensatz zu der feindlichen Propaganda, die in immer neuen Variationen ganz bestimmte Themen behandelte, habe die deutsche Propaganda nicht mit überzeugenden Argumenten aufwarten können, sondern sei gezwungen worden, sich auf die Kommentierung der jeweils auftauchenden Fragen der Tagespolitik zu beschränken.“215 Die Analyse beschreibt Verhältnisse, die in geradezu erschreckendem Maße den Versäumnissen der deutschen Propaganda im Ersten Weltkrieg ähneln, in dem sie ebenfalls aus Mangel an einem überzeugenden Kriegsziel der Feindpropaganda gegenüber nur reagieren konnte. Bei der Erörterung der „positiven Gestaltung der deutschen Propaganda“ verwies der erste Bericht vor allem darauf, dass man das Wort, „der Nationalsozialismus ist kein Exportartikel“, falsch ausgelegt habe 214 Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944, 159. 215 Stellungnahmen zu der Wirksamkeit der deutschen Propaganda in Frankreich. SD-Berichte zu In� landsfragen vom 18. Oktober 1943, in: Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lage� berichte des Sicherheitsdienstes der SS, Bd. 15, hg. von Heinz Boberach. Herrsching: Pawlak, 1984, 5887–5891, hier 5887 f.

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und dass deshalb den Franzosen das „Wesen des Nationalsozialismus fremd und unverständlich“ geblieben sei. Der Führer habe demgegenüber am 24. Februar 1943 proklamiert, dass „die Gedankenwelt unserer Bewegung Gemeingut aller Völker“ werde. Ob man damit die nationalsozialistische Kulturpolitik mithilfe von Hitlers absolutem Judenhass und Rassismus verständlicher machen wollte, ließ aber selbst dieser schonungslose Bericht offen. Während der Bericht über Theater und Oper ein Panorama der Deutschfeindlichkeit zeichnet216, beginnt der Bericht „Zur Entwicklung der deutschfranzösischen Kulturbeziehungen“ vom 1. November 1943 mit der Feststellung, „dass die Kreise, die sich bisher für eine kulturelle Zusammenarbeit mit Deutschland eingesetzt haben, zahlenmäßig außerordentlich verloren und in der Öffentlichkeit jeden Einfluß eingebüßt haben.“ Wenig später heißt es: „Die kulturpolitische Entwicklung Frankreichs zeigt eine fortschreitende Abwendung von Deutschland. Maßgebliche Wissenschaftler lehnen es ab, während des Krieges mit deutschen Gelehrten ihres Fachs auf rein sachlicher Grundlage wieder Verbindung aufzunehmen.“217 Das setzte die seit dem Ersten Weltkrieg genährte Gegnerschaft der Wissenschaftler unverblümt fort, stand aber bereits im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zu einer noch verdeckt angestrebten kulturellen Erneuerung des Landes. Schließlich wird die „notwendig gewordene“ Verhaftung des deutschfreundlichen Schriftstellers Alfred Fabre-Luce durch deutsche Behörden als bezeichnendes Beispiel dafür angeführt, „dass man in zahlreichen französischen Intelligenzkreisen den Zeitpunkt für gekommen ansieht, von der bisherigen Collaborationshaltung abzuschwenken und zu einem offenen geistigen Widerstand gegen Deutschland überzu­gehen.“218 In der Tat war zu diesem Zeitpunkt Vercors’ Warnung vor dem kulturvollen Deutschen längst überholt. Diese Form der Résistance wich offener Feindschaft; die deutsche Seite hatte sich Ende 1942 umgestellt. Nachdem Hitler den für eine halbwegs stabile Zusammenarbeit einzig günstigen Zeitpunkt 1940/41 hatte verstreichen lassen, wurde die Doppelbödigkeit der deutschen Kulturpolitik immer offensichtlicher. Warum noch Kulturpolitik in dem fortgeschrittenen Stadium des Krieges? Was der Bericht für ihre Fortführung in Frankreich ins Feld führte, blieb die Maxime auch anderswo bis in den letzten Kriegswinter 1944/45: „Der Verzicht auf die Wahrnehmung der kulturellen Aufgaben würde nicht nur in allen französischen Kreisen als geistige Kapitulation Deutschlands angesehen werden, sondern auch den Einflüssen des gesam216 Widerstände gegen die Aufführung deutscher Werke auf französischen Bühnen, SD-Berichte zu In� landsfragen vom 25. Oktober 1943, in: ebd., 5922–5925. 217 Zur Entwicklung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen. SD-Berichte zu Inlandsfragen vom 1. November 1943, in: ebd., 5945–5950, hier 5945, 5947. 218 Ebd., 5948 f.

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ten übrigen Auslands die Tore öffnen und neue deutsche Ansatzpunkte zu einem späteren Zeitpunkt auf das schwerste gefährden.“219 Wie am Beginn des Kapitels angedeutet, stand die endgültige Scheidung der Kultur- von der Militärmacht Deutschland bevor. Nachdem die Militärmacht einer absoluten Katastrophe entgegenging, überließ man die Deckung des Rückzuges den organisatorischen Erscheinungsformen der Kulturmacht: den Deutschen Wissenschaftlichen Instituten, den Sprachlektoren der Deutschen Akademie, den Auftritten von Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern.

Die Rolle der Wissenschaft für die Außenwirkung deutscher Kultur Im Gegensatz zu Karl Kraus, der feststellte: „Mit fällt zu Hitler nichts ein“,220 und damit eine absolute Verdammung verband, ist deutschen Professoren zu Hitler sehr viel und sehr Positives eingefallen. Dass sich die viel beschworene Selbstgleichschaltung der deutschen Wissenschaft im Nationalsozialismus so schnell und reibungslos bereits in den ersten Jahren vollzog, besitzt, wie angedeutet, in der revanchistischen Wissenschaftspolitik und der trotzigen Selbstrechtfertigung der verunsicherten akademischen Eliten seit dem Ersten Weltkrieg seine wichtigsten Wurzeln. Nicht weniger bedeutsam aber ist die Tatsache, dass der Nationalsozialismus, der kein Wissenschaftskonzept einbrachte, diesen Eliten „eine weitgehend ‚leere‘ Projektionsfläche bot, auf der man alles das erlebbar, ja verwirklicht sehen mochte, was man schon lange gedacht und geahnt und – in hochgradig affektiven Besetzungen – gewünscht und ersehnt hatte.“221 Mit anderen Worten, den deutschen Hochschullehren lieferte das neue Regime die lange ersehnte Gelegenheit der Selbstermächtigung als Träger nationaler Aufgaben, etwas, das sie bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges lautstark verwirklicht und nach der Errichtung der Republik, wie viele meinten, schmählich verloren hatten. Ihnen fiel zum Nationalsozialismus so viel ein, dass sie den genuin antiwissenschaftlichen und antiintellektuellen 219 Ebd., 5950. 220 Genauer über Kraus’ viel zitierten Satz: Norbert Frei, Karl Kraus und das Jahr 1934, in: Öster� reichische Literatur der dreißiger Jahre, hg. von Klaus Amann und Albert Berger. Wien/Köln/Graz: Böhlau, 1985, 303–319. 221 Otto Gerhard Oexle, Die Fragen der Emigranten, in: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, hg. von Winfried Schulze und dems., Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2000, 51–62, hier 55. Über die „Resonanzfähigkeit“ der deutschen Intelligenz für das NS-Gedankengut stellten bereits die Emi� granten Helmuth Plessner (Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, 1935) und Ernst Cassirer (Der Mythos des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, 1946) Entscheidendes heraus.

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Führern, sobald sich das Regime der Vorbereitung des Krieges widmete, bald mehr als nur als Lehrer, Experten und Ideologieproduzenten nützlich wurden, nämlich als Mitvollstrecker der aufs Neue militärisch ausgerichteten nationalen Expansion. Diese „Selbstmobilisierung“ der deutschen Universität ist mit Recht als Kapitulation vor dem Nationalsozialismus gewertet worden. Allerdings stellt das nur die halbe Wahrheit dar, wenn es nicht auch als eine Art Wiederbefestigung der alten Ordinarienuniversität und ebenso, im Zeichen der auferlegten Führer- und Gemeinschaftsideologie, als Zwang zur Kooperation verstanden wird, der sowohl in den Natur- und Technikwissenschaften als auch in den Geisteswissenschaften nach 1939 die vorhandenen Strukturen gegenüber strikt parteigebundener Wissenschaftspolitik stärkte. Mit der Modernisierung der bald auf vollen Touren laufenden Industrie- und Rüstungsgesellschaft modernisierten sich auch die akademischen Expertenkulturen, die sich in dem Kompetenzgerangel unterschiedlicher Dienststellen des Regimes – „voran Reichserziehungsministerium, NS-Dozentenbund, Amt Rosenberg, der SD-SS-Komplex unter Heydrich und Himmler, die Deutsche Arbeitsfront, schließlich noch die Parteikanzlei“ – gegen die Parteiideologen behaupteten.222 Was nicht bedeutet, dass sie nicht ihre eigene ‚wissenschaftliche‘ Form völkisch-rassischen Expertenwissens produzierten, die dem Regime voll zustattenkam. Anders als in der Sowjetunion, wo die Partei in Inhalte und Organisationsstrukturen hineinregierte, ließ die NSDAP die bestehenden Strukturen weitgehend intakt. Nach den wenig glaubwürdigen Bemühungen um „deutsche“ Physik, Chemie, Mathematik und Biologie in den Anfangsjahren setzte die Partei, um der Aufrüstung keine Hindernisse in den Weg zu stellen, weitgehend auf die Kooperation der traditionellen Universitätseliten. Erst spät gründete die SS das „Ahnenerbe“ als Gegeninstitution zu den etablierten Wissenschaftsorganisationen, die ja, wie im Falle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, nach ihrer Selbstgleichschaltung auf eigener Verwaltung beharrten. Welches der beiden Systeme dem jeweiligen Staat ‚nützlicher‘ war, dürfte trotz Klaus Fischers Resümee offen bleiben: „Der russische Versuch einer Okkupation der Wissenschaft ‚von innen‘ erwies sich als erfolgreicher als die [deutsche] Gründung einer Gegeninstitution zur etablierten Wissenschaft.“223 222 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschau� ungseliten und Humanwissenschafter im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5–40, 13. 223 Klaus Fischer, Repression und Privilegierung. Wissenschaftspolitik im Dritten Reich, in: Im Dschun� gel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, hg. von Dietrich Beyrau. Göttin� gen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, 170–194, hier 190.

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Was das für die Kontinuitäten des deutschen Wissenschafts- und Universitätssystems während und nach dem Nationalsozialismus bedeutete, lässt sich unschwer ermessen. So sehr die neuen Machthaber nach 1933 Internationalismus, womit sie zumeist die geschmähten Vokabeln ‚Völkerbund‘ und ‚Judentum‘ assoziierten, als Gefahr für die deutsche Einmaligkeit angriffen, so sehr wollten sie doch auch, dass deutsche Forscher „in den Organisationen des internationalen Erfahrungsaustausches endlich den Einfluss“ erhielten, der ihrer „Leistung entspricht“.224 Ohnehin setzte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die seit jeher stark international vernetzt war, viele ihre Auslandskontakte in den Dienst der kulturellen Außenpolitik. „Der Auftritt international renommierter Wissenschaftler oder bekannter Repräsentanten der KWG wurde von deutschen Gesandtschaften im Ausland mitunter regelrecht angefordert, um – wie es der in Oslo akkreditierte Gesandte formulierte – der ‚Pflege der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Norwegen aufzuhelfen‘.“225 War einmal die Notwendigkeit anerkannt, Kontakte mit dem Ausland in Hochschulstudium, Forschung und Kunst pragmatisch fortzusetzen und zur Unterstützung der zunächst gemäßigten Außenpolitik nicht zu eklatanten Propagandaaktionen werden zu lassen, lieferten Wissenschaftskontakte und akademische Austauschprogramme eine am ehesten messbare Erfolgsbilanz. So konnte der DAAD bis 1937 seine bereits vor 1933 entwickelte Stipendien- und Entsendungspraxis fortsetzen, bei der man propagandistische Effekte, welche die jeweiligen Unternehmungen infrage zu stellen drohten, zu vermeiden suchte. Diese Einstellung bewirkte, dass die vom DAAD publizierte Zeitschrift Hochschule und Ausland weiterhin der Verständigung mit anderen Kulturen verpflichtet blieb. Unter dem harmlosen, weniger spezifischen Titel Geist der Zeit 1937 profilierte sie sich noch ausdrücklicher als Paradepferd der Begegnungsagenda, mit dem man vorwiegend in den Gärten des Geistes den Wesenskern der jeweils anderen Kultur umkreiste, am ehesten der Europäischen Revue vergleichbar, die Goebbels ebenso wie die Frankfurter Zeitung bis 1943 nicht zuletzt um der Resonanz im Ausland willen weiterhin erscheinen ließ. Hochschule und Ausland brachte im Januar 1937 eine aus der praktischen Auslandsarbeit – der Verabschiedung deutscher Studenten vor einem Aufenthalt in den USA, England und Frankreich – entsprungene, provozierend direkt formulierte Abrechnung mit der geistigen Isolierung Deutschlands, mit der die Studenten in jenen Ländern zurechtkommen müssten: „So lehrt uns ein kurzer 224 Denkschrift des Reichserziehungsministeriums, zit. nach Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsma� nagement im „Dritten Reich“. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Göttingen: Wallstein, 2007, 560. 225 Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im „Dritten Reich“, 796.

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Überblick über die geistigen Mächte der Welt“, stellte der DAAD-Vorsitzende Wilhelm Burmeister, zugleich Ministerialrat im Reichserziehungsministerium, vor den Studenten fest, „die vollständige und beinahe hoffnungslose Isolierung des deutschen Geistes. Diese Isolierung ist stärker, als sie es jemals in der Geschichte des deutschen Volkes war. Hält sie in der bisherigen Form an, und unterliegt Deutschland in der großen geistigen Auseinandersetzung, von der wir bisher nur die kleinsten und ersten Anfänge erlebt haben, so steht die Existenzberechtigung des deutschen Geistes selbst in Frage. Dann siegt eine Weltauffassung, die die deutschen Ideen für das Bekenntnis einer gefährlichen Sekte hält, dann siegt die Auffassung, dass der Nationalsozialismus eine Art politisches Wiedertäufertum darstellt, dessen Vernichtung ein Verdienst an der Menschheit ist.“ Ob bei diesen explosiven Feststellungen die Aussicht mitwirkte, dass der DAAD bald seine privilegierte Stellung in der auswärtigen Kulturpolitik verlieren würde, oder ob gerade solche Wahrheiten den DAAD Unterstützung bei höheren Stellen kosteten, ist ungewiss. Bezeichnenderweise schloss sich die Bemerkung an, „dass in den geistigen Bezirken dem Nationalsozialismus bisher kein geistiges System entspricht. Der Nationalsozialismus ist bisher noch in stärkerer Weise Forderung als Erfüllung.“226 Offensichtlich genügte das, was den Professoren dazu eingefallen war, nicht, um die Begegnung der Studenten mit den anderen Kulturen zu einer selbstbewussten Angelegenheit zu machen. Manch Prominenter der Zunft machte seinem Unmut über die intellektuelle Armseligkeit des Nationalsozialismus im privaten Kreis Luft. Einige mussten sogar dafür mit Haft büßen. Im Allgemeinen konzentrierte sich das Gefühl, etwas retten zu müssen, darauf, die Universität vor der völligen Inanspruchnahme durch den Nationalsozialismus zu bewahren. Die Bewahrung ihrer Freiheit und Weltbürgerlichkeit allerdings fand innerhalb Deutschlands bis auf die Studenten im Kreis der Weißen Rose und ihren Mentor Professor Kurt Huber 1943 kaum mutige Bekenner. Was damit auf dem Spiel stand, wurde im Grundsätzlichen nur von Wissenschaftlern im Exil formuliert, wie es eindrucksvoll der emigrierte Mathematiker Emil Julius Gumbel, der in der Weimarer Republik die antirepublikanische Rolle der Justiz unter großem persönlichen Einsatz angegriffen hatte, mit der Anklage gegen die Gleichschaltung der deutschen Wissenschaft unter dem Titel Freie Wissenschaft tat. Er bekannte in der Einleitung zu dieser kritischen Sammlung zur Wissenschaftspolitik des Dritten Reiches: „Wir wollen die Tradition der deutschen Hochschulen, soweit sie freiheitlich und weltbürgerlich war, fortsetzen. Wir trennen das Regime von 226 Wilhelm Burmeister, Der deutsche Geist in der Welt der Gegenwart. Rede an die deutschen Aus� tauschstudenten, in: Hochschule und Ausland 15 (Januar 1937), 1–12, hier 6 f.

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dem Inhalt der Kulturbegriffe, die Deutschland repräsentierte. Dies legt uns die Pflicht auf, den Widerspruch zwischen den nationalsozialistischen Lehren und denen der Wissenschaft nachzuweisen.“227 Genau diese Bemühung suchte Reichserziehungsminister Bernhard Rust, dem der Wissenschaftsbereich unterstand, ein für alle Mal auszumerzen. Anlässlich der 550. Jahresfeier der Universität Heidelberg umriss Rust 1936 in einer Grundsatzrede Wesen und Stellung der deutschen Wissenschaft. Er betonte, wissenschaftliche Erkenntnis sei Sache des (existierenden) Volksgeistes, nicht eines (nicht existierenden) abstrakten Geistes. War schon früher, nicht zuletzt von französischen Gelehrten im Kulturkrieg gegen das Reich, der Gedanke nationaler Wissenschaft und Wissenschaftsstile formuliert worden, ging es Rust um wesentlich mehr: um die Feststellung, dass die tatsächliche Entstehung von Wahrheitserkenntnis aus der Gemeinschaftskultur des Erkennenden resultiere, was im Nationalsozialismus völkisch-rassische Zugehörigkeit bedeutete. Ausdrücklich an die anwesenden Auslandsvertreter gerichtet, zog Rust von der Standortgebundenheit des Denkens eine direkte Linie zu den Wahrheitsgehalten dieses Denkens.228 Dieses Standortvorteils eingedenk, ließ sich folgern, kam der deutschen Wissenschaft selbstverständlich Dominanz über andere Wissenschaften zu. Allerdings bedeutete diese volkstumsbasierte, von Kollektivmythen strukturierte Wissenschaftstheorie, dass die im völkisch-rassistischen Kulturbegriff angelegte Selbstisolierung deutschen Geistes ausgerechnet dort ihre Leistungsfähigkeit erweisen sollte, wo deutsche Gelehrte seit dem 19.  Jahrhundert gerade mit der übernationalen Bedeutung ihres Tuns weltweit Anerkennung gefunden hatten. Wenn später die Frage gestellt wurde: „Wie kann man mit einem solchen [nationalsozialistischen] Wissenschaftsbegriff übernationale Wissenschaftspolitik betreiben?“, so suggeriert diese Frage bereits die Antwort: Man kann es eben nicht.229 Aber damit ist es nicht getan. Zum einen gab es auch im Dritten Reich viele Gelehrte, vor allem in den Na227 Emil Julius Gumbel, Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration. Strasbourg: Sebastian Brant, 1938, 28 („Einleitung: Die Gleichschaltung der deutschen Hochschulen“). Zu den Beiträgern gehörten u. a. Anna Siemsen, Theodor Geiger, Walter A. Berendsohn, Friedrich Wilhelm Förster, Siegfried Marck, Gottfried Salomon, Arthur Rosenberg. 228 Bernhard Rust, Nationalsozialismus und Wissenschaft, in: Das nationalsozialistische Deutschland und die Wissenschaft. Hamburg: Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, 1936, 9–22. Dazu Frank-Rutger Hausmann, „Termitenwahn“ – Die Bedeutung der Gemeinschaftsforschung für die NS-Wissenschaft, in: Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933, hg. von Georg Bollenbeck und Clemens Knobloch. Heidelberg: Winter, 2001, 58–79; Lutz Danneberg und Wil� helm Schernus, Der Streit um den Wissenschaftsbegriff während des Nationalsozialismus. Thesen, in: Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, hg. von Holger Dainat und Lutz Danneberg, Tü� bingen: Niemeyer, 2003, 41–54. 229 Danneberg/Schernus, Der Streit um den Wissenschaftsbegriff während des Nationalsozialismus, 52.

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turwissenschaften, die keineswegs ihre internationale Vernetzung aufgeben wollten, zum andern gab es eben auch viele Wissenschaftler, die aus den Kollektivmythen „deutsches Volk“ und „arische Rasse“ sowie deren biologischen Kondensierungen sehr wohl ihre wissenschaftliche Legitimität bezogen, damit aber bei der Expansion des Reiches nach Osten einer übernationalen Logik zu folgen beanspruchten. Die wachsende Selbstzuordnung zur Idee Europa – in der sich das Unbehagen über nationalsozialistische Begründungen manifestierte – sorgte jedenfalls dafür, dass viele dieser Gelehrten, zumeist in den Geistes- und Sozialwissenschaften, nach dem Ende des Dritten Reiches in einer anscheinend zerstörten Forschungslandschaft, die nach Kontinuitäten rief, weiter Karriere machen konnten.230 Das galt selbst für einige der Forscher, denen im Zuge der Ostexpansion zur Unterjochung slawischer Ethnien, zur „Säuberung“ von Juden und Verschiebung deutscher Volkstumsgruppen in diesen Gebieten besonders viele und besonders wissenschaftlich klingende Denkschriften absoluter Inhumanität aus der Feder flossen. Ihre Zuarbeit zu der von Hitler gewollten „Germanisierung“ der eroberten polnischen Gebiete geschah teils in akademischem Rahmen, teils in direktem Kontakt zur SS, die nach der Ernennung Heinrich Himmlers zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums in Polen ein unbeschreibliches Schreckensregiment ausübte. All das ist nach jahrzehntelangem Verschweigen und Verharmlosen in teilweise dramatisch verlaufenen Selbstreinigungsaktionen der verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Geschichtswissenschaft aufgearbeitet worden, denen sich die beiden wichtigsten Wissenschaftsorganisationen, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, zur Seite stellten. Hier muss der Hinweis auf die beiden Bereiche genügen, in denen die nationalsozialistische Mobilisierung der Wissenschaft unmittelbar auf andere Kulturen einwirkte und das Verhältnis von Deutschen zu den sie umgebenden Völkern im Osten auf immer veränderte. Da ist zum einen die mit der Etablierung der Besatzungsherrschaft in Polen intensivierte Indienststellung von Geografie, Rassenkunde, Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte, Volkskunde, Dialektforschung, Völkerrechtskunde, Kunstgeschichte und anderen Wissenschaften für die Erarbeitung einer ethnopolitischen Agenda für die Germanisierung des überwiegend slawischen Ostens. Diese Indienststellung 230 Willi Oberkrome, Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksgeschichte (1900–1960), in: Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, hg. von Manfred Hettling. Göttingen: Van� denhoeck & Ruprecht, 2003, 65–95. Vgl. die übergreifenden Beiträge in: Kontinuitäten und Dis� kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbes. Mitchell G. Ash, Wissen� schaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun? 19–37.

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ging u. a. in die Entwürfe zu dem berüchtigten Generalplan Ost ein (etwa mit den Beiträgen von Konrad Meyer, einem der führenden Vertreter der Deutschen Forschungsgemeinschaft). Da ist zum anderen, obzwar eng damit verbunden, die bereits in der Weimarer Republik entwickelte wissenschaftliche ‚Betreuung‘ der deutschen Minderheiten bzw. Volksgruppen, für welche die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) die organisatorische und fächerübergreifende Basis darstellten. Die VFG, die auch ihre Westabteilung für Belgien, Niederlande und Luxemburg („Westforschung“231) besaßen, wurden vom Auswärtigen Amt und dem Reichsinnenministerium finanziert und kontrolliert und im Krieg dem Reichssicherheitshauptamt der SS unterstellt. Michael Fahlbusch, der die Geschichte der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften erschlossen hat, sieht das Jahr 1939 als entscheidenden Einschnitt, insofern der Begriff der Kultur (etwa im Sinne der seit den zwanziger Jahren entwickelten „Kulturbodenforschung“) von dem der Rasse ersetzt wird. Das gilt sowohl für die Politik wie für die Wissenschaft. Was dann als Ziel der ethnopolitischen „Umvolkung“ genannt wird, steht „als Synonym für die Germanisierung deutschfreundlicher Bevölkerungsgruppen in den eroberten Gebieten und die Zuweisung von bestimmten Völkern in ihnen angemessene Natur- und Kulturräume. Inwieweit Minderheiten als solche definiert wurden, blieb zugleich auch die politische Aufgabe der VFG in den Kriegsjahren. Zur Siebung dieser Minderheiten nach ‚deutschem Blut‘ verwaltete die Publikationsstelle Dahlem die Kopie der ‚Deutschen Volksliste‘ und ‚Volkstumskartei‘.“232 In der Hypertrophie dieser Aussiebungsprozesse, die schließlich zu der lebensrettenden oder ‑verwehrenden Deutschtumshierarchie der „Deutschen Volksliste“ führte, manifestiert sich einer der schlimmsten Aspekte der Nutzung der Wissenschaft für die Erfassung, Behandlung und faktische Zerstörung deutscher Minderheiten in Osteuropa, ganz zu schweigen von Polen, Juden und anderen Völkern.233 Was Wissenschaft um 1900 zur Erfassung der Auslandsdeutschen beigetragen hatte, war die Sprache scheinbar neutraler Bezugnahme. Vierzig Jahre später lieferte sie einem mörderischen Regime das sprachlichtheoretische Instrumentarium, um in der ethnisch so unendlich verzweigten und unübersichtlichen Welt Osteuropas seine Degradierungs- und Ent231 Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nord� westeuropäischen Raum (1919–1960), 2 Bde., hg. von Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau. Münster: Waxmann, 2003. 232 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945. Baden-Baden: Nomos, 1999, 798. 233 Über die „Deutsche Volksliste“ mit ihren vier Einstufungskriterien je nach Intensität des Deutsch� tums s. Die faschistische Okkupationspolitik in Polen (1939–1945), hg. von Werner Röhr. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1989, 60 f., 385.

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menschlichungsmanie wissenschaftlich zu legitimieren. Das ging über die bürokratische Tarnsprache hinaus, derer sich Beamte und SS-Verantwortliche zur Erfassung von Vertreibung und Genozid bedienten. Es exponierte einen unendlichen Augenblick lang die Dialektik der Aufklärung, genauer: die Dialektik aufklärender Wissenschaftssprache, die um 1900 noch auf den Kolonialbereich bezogen war. Hier wird deutlich, „wie sehr kulturspezifische Techniken, Organisations‑, Macht- und Produktionstechniken abhängig sind von sprachlichen Strukturen. Technologische Notwendigkeiten erhielten territoriale und klimatische Aspekte zur Seite gestellt, wenn die sprachliche Vor-Selektion erfolgte. Damit wird die sogenannte ethnographische Evidenz erst hergestellt.“234 Während diese Zuarbeit zur Ethnopolitik des Dritten Reiches zumeist geheim oder im Hintergrund blieb, bildete die Etablierung von Reichsuniversitäten in Straßburg und Posen ein Aushängeschild nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik und war überwiegend in der Hand der SS. (Die Deutsche Universität in Prag, mit ihrer auf 1882 zurückgehenden Geschichte und geistigen Eigenständigkeit, galt als Reichsuniversität als Domäne des Reichserziehungsministeriums unter Rust, erfuhr aber bald ebenfalls direkte Einflussnahme seitens der SS.235) Anders als nach 1871, als Straßburg zumindest in den ersten Jahren als Prestigeobjekt des neuen Reiches Erfolg hatte, trat die deutsche Wiedergründung nach 1941 als nationalsozialistische Hochschule kaum ins Rampenlicht, es sei denn mit den berüchtigten Experimenten von August Hirt zur rassischen Anatomie. Die 1941 eröffnete Reichsuniversität Posen und die zugleich mit ihr gegründete Reichsstiftung für deutsche Ostforschung waren mit der Führungselite von SS und SD eng vernetzt.236 Eine weitere – und letzte – universitäre Gründungsinitiative betraf die Zusammenführung verschiedener Disziplinen zur Auslandswissenschaft an der Berliner Universität, eine interdisziplinäre Unternehmung, die angesichts der Zerstörung der deutschen Politikwissenschaft und der Barrieren des akademischen Terraindenkens ohne Heydrichs Druck und die Organisationsfähigkeiten des SS-Standartenführers, „Gegnerforschers“ und Zeitungswissenschaftlers Franz Alfred Six nicht zustande gekommen wäre (und die nach 1945 wieder in die Einzelwissenschaf234 Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, 798. 235 Alena Míšková, Die Deutsche (Karls‑)Universität vom Münchener Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Universitätsleitung und Wandel des Professorenkollegiums. Prag: Karolinum, 2007. 236 Klaus Große Kracht, „Die Wissenschaft kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird  …“. Ge� schichtswissenschaft im NS-Staat, in: Kultur und Wissenschaft beim Übergang ins „Dritte Reich“, hg. von Carsten Könneker, Arnd Florack und Peter Gemeinhardt. Marburg: Tectum, 65–81; Teresa Wroblewska, Die Reichsuniversitäten Posen, Prag und Strassburg als Modelle nationalsozialistischer Hochschulen in den von Deutschland besetzten Gebieten. Torun: Marszalek, 2000.

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ten zerfiel). Hierbei erlangte die von Carl Heinrich Becker angestrebte Auslandswissenschaft den Status einer Fakultät. Die Deutsche Auslandswissenschaftliche Fakultät (DAWF) an der Berliner Universität wurde damit weniger zum Thinktank für die NS-Führung, die ihr Misstrauen gegen wissenschaftliche Beratung nie ganz aufgab, als vielmehr zur Ausbildungsstätte für die Verwalter, Diplomaten, Planer, Dolmetscher, Journalisten und Lehrer, die mit der Kriegsexpansion in den verschiedensten Bereichen gebraucht wurden. Etwa 4.000 Studenten, darunter viele Ausländer, durchliefen 1940–1943 ihre Kurse. Six schuf – anfangs gegen den Widerstand der Universität – aus der Zusammenlegung der Auslands-Hochschule, der Hochschule für Politik und anderer Berliner Universitätseinrichtungen 1940 die DAWF, deren Dekan er wurde. Mit ihr war das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut (DAWI) der Universität eng verbunden, das den überquellenden wissenschaftlichen Dokumentations‑, Forschungs- und Publikationsapparat bereitstellte. Six, zusammen mit den DAWI-Professoren Ernst Wilhelm Eschmann und Karl-Heinz Pfeffer, Schüler von Arnold Bergstraesser, versammelte 1941–1944 in dem Jahrbuch für Weltpolitik eine umfassende, lesbare, nach „allen Staaten“ und verschiedenen Problembereichen gegliederte Gesamtdarstellung der jeweiligen politischen Situation, zu der Professoren und Dozenten der DAWF wie Edmund Zechlin (französisches Afrika), Wilhelm Grewe (Völkerrecht), Friedrich Schönemann (USA), Hans Joachim von Merkatz (Südamerika) und andere Experten beitrugen, die nach 1945 in der westdeutschen Politik oder Politikwissenschaft wieder eine Rolle spielten.237 Ebenfalls auf die erste, zuversichtliche Phase des Krieges geht die Organisierung eines umfangreichen Forschungs- und Veröffentlichungsprogramms zurück, in dem auf Anregung des Juristen Paul Ritterbusch – deshalb „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945) – eine koordinierte Selbstdarstellung der Geisteswissenschaften angestrebt wurde, mit welcher man vor allem gegenüber der „westlichen Wissenschaft“ die Eigenständigkeit und Produktionskraft der deutschen Wissenschaft auch unter Kriegsumständen beweisen wollte. Unter 237 Das Jahrbuch für Weltpolitik 1944 (für das Jahr 1943) umfasst 1.248 Seiten und dokumentiert die Leistungsfähigkeit des Faches Auslandswissenschaft als interdisziplinäre, teilweise auch praktisch-po� litische und pädagogisch angelegte Unternehmung zur Zeit der bereits wieder schrumpfenden Aus� dehnung des Dritten Reiches. Ausführlich: Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945. Paderborn: Schöningh, 2006. Bergstraesser bemerkte über die Berliner Auslandswissenschaft, es sei ein „mißlungener oder ein nicht voll befriedigender Versuch“ geblieben, denn es seien „aus einer richtigen Erkenntnis wissen� schaftlich, politisch und ethisch falsche und verderbliche Folgerungen gezogen“ worden (Jahrbuch für Amerikastudien 1, 1956, 9), zit. nach Hubertus Buchstein, Wissenschaft von der Politik, Auslands� wissenschaft, Political Science, Politologie, in: Schulen der deutschen Politikwissenschaft, hg. von Wilhelm Bleek und Hans J. Liebmann. Opladen: Leske & Budrich, 1999, 183–211, hier 193.

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Einbezug von etwa 700 deutschen Wissenschaftlern aus Altertumswissenschaft, Geografie, Germanistik, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Orientalistik, Philosophie, Staats- und Verfassungsrecht, Völker- und Zivilrecht zielte man auf ein „Gemeinschaftswerk“, das außer einigen Vorgaben – „Das Reich und Europa“ für Historiker – der Eigeninitiative Raum gab (die dann gern als „kriegswichtig“ etikettiert wurde). In Auswertung vieler Professorennachlässe und einer großen Briefkorrespondenz hat Frank-Rutger Hausmann Mentalität und Einstellung der Gelehrten zum Regime rekonstruiert und festgestellt: „Die von vielen deutlich ausgedrückten reservationes mentales, die unbeschadet von Zensurmaßnahmen offen und ohne Scheu artikuliert wurden, gingen vielfach mit einer recht präzisen Kenntnis des Unrechtssystems Hand in Hand. Zu einer Distanzierung führt diese aber keineswegs, sondern eher zu einem trotzigen Durchhaltewillen bei schweigender Tabuisierung.“238 Nur einmal haben einige deutsche Hochschullehrer durch ihr mutiges Eintreten für ausländische Kollegen, die vom NS-Regime mehr oder weniger zur Vernichtung vorgesehen waren, einer internationalen Protestaktion mit zum Erfolg verholfen. Das geschah nach der berüchtigten „Sonderaktion Krakau“, bei der SS-Obersturmbannführer Bruno Müller am 6.  November 1939 144 Professoren, Dozenten, Assistenten und Lektoren der Jagiellonen-Universität in Krakau, die sich zur Eröffnung des neuen akademischen Semesters versammelt hatten, verhaften ließ. Hinzu kamen zwanzig Angehörige der Krakauer Bergakademie und weitere Wissenschaftler, die sich ebenfalls im Collegium Novum der 1364 gegründeten Universität aufhielten. Insgesamt 183 Personen wurden ins KZ Sachsenhausen bei Berlin deportiert, von denen elf Verhaftete bald an den Strapazen starben. Der internationale Entrüstungssturm führte zu außerordentlich zahlreichen offiziellen diplomatischen Interventionen europäischer Staaten, allen voran Italiens und des Vatikans sowie Ungarns und Schwedens, aber auch zu Protestkundgebungen wie in London und Eingaben von Wissenschaftlern und Akademien an die entsprechenden deutschen Stellen. Hauptadressat war das Auswärtige Amt, das diesen Druck aus Besorgnis über ein absolutes Fiasko der auswärtigen Kultur- und Wissenschaftspolitik an die Verantwortlichen in Partei, SS und Regierung weiterleitete und damit, wenn auch unter Zögern und Stockungen, das Leben der polnischen Gelehrten rettete. Nach Mussolinis Intervention bei Hitler kamen am 8. Februar 1940 etwa hundert Professoren – alle über Vierzigjährigen – frei. Im Kreis der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die sich einer offiziellen Intervention 238 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft im Zweiten Weltkrieg“. Die „Aktion Rit� terbusch“ (1940–1945). Heidelberg: Synchron, 2007, 20  f.; ders., Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“. Frankfurt: Klostermann, 2011.

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enthielt, setzte sich gegen drohende Repressalien der Slawist Max Vasmer, Nachfolger des bekannten polnischen Slawisten Aleksander Brueckner auf dem Lehrstuhl der Berliner Universität, mit einigen Kollegen wie dem Mathematiker Hasso Härlen mit Eingaben an das Auswärtige Amt für die Freilassung der polnischen Kollegen ein. Die in Sachsenhausen belassene Gruppe gelangte ins KZ Dachau und kam von dort frei. Der polnische Gelehrte Henryk Pierzchala, der dieses historische Geschehen penibel rekonstruiert und als einen erinnerungswürdigen Lichtblick in der Dehumanisierung der europäischen Gelehrtenwelt im Zweiten Weltkrieg gewertet hat, konstatierte: „Die Analyse der bereits angeführten archivalisch überlieferten Korrespondenz zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD legt den Schluß nahe, dass die dort eingehenden Interventionen deutscher Wissenschaftler eine wichtige Rolle für die Freilassung der Krakauer Professoren spielten.“239 Die Krakauer Universität blieb geschlossen; Mitte 1942 begannen einige der Krakauer Professoren mit dem Aufbau einer Untergrunduniversität. Gerade in dieser Phase, da sich das Auswärtige Amt über die von Hitler konzedierte Zuständigkeit für Auslandspropaganda hinaus stärker kulturpolitisches Profil geben wollte, konnte ein solcher Skandal die Bemühungen um verbündete und neutrale Staaten gefährden. Und gerade in dieser Phase investierte die Kulturabteilung, zusammen mit dem Reichserziehungsministerium, besonders viel Energie in die Nutzung der deutschen Wissenschaft als Aushängeschild der deutschen Kulturmacht. Zentriert um die Behauptung, jede Kultur habe ihren eigenen Wesenskern und stünde der anderen gleichberechtigt gegenüber, polierte das Amt bei der Einrichtung der schließlich insgesamt sechzehn Deutschen Wissenschaftlichen Institute (DWI) die seit Langem etablierte Sprachregelung von Deutschlands kultureller Mission auf, die den Schutz und die Erhaltung der „kleineren“ Kulturen gegen die gleichmacherische westliche Universalkultur beinhalte.240 Damit hatte man bei den autoritären Regimen Ungarns, Kroatiens, Rumäniens, Bulgariens und der Slowakei in den dreißiger Jahren gegen die expansive französische Kulturpolitik durchaus Erfolge errungen, zumal die Deutsche Akademie unter Franz Thierfelders Leitung mit der Entsendung qualifizierter Deutschdozenten und der Ausbildung einheimischer Deutschlehrer im Goethe-Institut die Ausrichtung an deutscher Kultur und Wissenschaft erleichterte. 239 Henryk Pierzchala, Den Fängen des SS-Staates entrissen. Sonderaktion Krakau 1939–1941. Übers. aus dem Polnischen. Krakow: Poligrafia Kurii Prowincjalnej Zakonu Pijarow, 1998, 340; L. Zeil, Slawisten gegen faschistische Willkür, in: Zeitschrift für Slawistik 27 (1982), 710–725. 240 S. Scurla, Die Dritte Front, sowie seine Einordnung der Auslandswissenschaft in die auswärtige Kulturpolitik in: Wissenschaft und Ausland im Kriege, in: Geist der Zeit 20 (Mai 1942), 225–234.

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Obgleich Ungarn unter Reichsverweser Admiral Miklós Horthy Mussolinis Politik dem deutschen Rassismus vorzog, veranstaltete die Budapester Universität Anfang 1941 eine freundschaftlich-feierliche Eröffnung des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts im Beisein des Rektors, des Präsidenten der Deutschen Akademie, Ludwig Siebert, mehrerer deutscher Hochschulrektoren und anderer Amts- und Würdenträger. Die Leitung übernahm kein Geringerer als der Leipziger rechtskonservative Soziologe Hans Freyer, der nach dem Krieg wieder in Leipzig lehrte, 1948 aber „wegen angeblicher Nähe zum Nationalsozialismus aus allen Ämtern entlassen wurde.“241 Vor allem für ungarische Ohren waren die Worte des Leiters der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, Fritz von Twardowski, bestimmt, der gegen die Dominanzanmaßung der westlichen Großmächte die Begegnungs- und Verständigungsagenda der deutschen Kulturpolitik herausstellte.242 In ähnlichem Sinne formulierte Werner Zschintzsch, der Staatssekretär im Reichserziehungsministerium, das Credo dieser Kulturpolitik: „Das Recht, das wir als höchstes völkisches Recht für uns in Anspruch nehmen, gestehen wir jedem anderen Volk zu; wir sind der Meinung, dass jedes selbstbewußte Volk, das sich nicht der geistigen Überfremdung durch ein anderes Volk unterwerfen will, das Recht und vor seiner Geschichte die Pflicht hat, seine eigene, nur für es selbst verbindliche politische und geistige Gestalt zur Darstellung zu bringen.“243 An dieses Zitat schließt Frank-Rutger Hausmann, der die komplizierte und beinahe vergessene Geschichte der Deutschen Wissenschaftlichen Institute vorbildlich aufgearbeitet hat, eine Erwiderung an, die im Folgenden als Kurzbilanz der DWIs aufgeführt sei. „Die Praxis der DWI-Arbeit dementierte jedoch diese Aussage. In den besetzten, verbündeten und neutralen Ländern wurden die Institute in der Regel dahingehend tätig, die Erfolge und die Überlegenheit von deutscher Kultur und Wissenschaft vorzuführen. So belegen beispielsweise die erhaltenen Vorträge von Gastrednern, dass selbst Gelehrte, die sich einer unparteilichen Wissenschaft verpflichtet fühlten wie Vossler, Rothacker oder Gadamer, den germanischen Einfluß auf die fremden Kulturen überakzentuierten. […] Pauschal läßt sich festhalten, dass die Attraktivität dieser Einrichtungen nur so lange währte, wie ein deutscher Sieg und damit eine langdauernde deutsche Vormachtstellung in Europa wahrscheinlich schienen. Die Bevölkerung der Länder mit einer erprobten demokratischen oder liberalen Tradition ertrugen die deutsche Besatzung besonders schlecht, z.  B. die 241 Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissen� schaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, 147. 242 Ebd., 154. 243 Ebd., 54.

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Dänen, die mit wenigen Ausnahmen vom Nationalsozialismus nichts wissen wollten. Die dänischen Historiker, die die öffentliche Meinung steuerten, solidarisierten sich völlig mit ihren norwegischen Kollegen, verhielten sich dem deutschen Besatzer gegenüber ablehnend und bezeichneten die deutsche Wissenschaft als ‚Teufelei‘. Weitgehend resistent gegen deutsche Kultur und Wissenschaft waren auch die Franzosen. Die relativ hohen Besucherzahlen im Deutschen Institut Paris und seinen Außenstellen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach anfänglicher Kollaborationsbereitschaft nicht gelang, langfristig für Deutschland zu werben.“244 Neben der Deutschen Akademie, die mit 250 Außenstellen im besetzten Europa schließlich über tausend Sprachlektoren beschäftigte, bildete das Netz der DWIs in Bukarest, Paris, Sofia, Budapest, Belgrad, Kopenhagen, Madrid, Athen, Brüssel, Helsinki, Stockholm, Agram (Zagreb), Pressburg (Bratislava), Lissabon, Tirana und Venedig bis zum späteren Goethe-Institut das größte Unternehmen programmbasierter auswärtiger Kulturpolitik. (Ihre Spracharbeit wurde von Lektoren der Deutschen Akademie, die nicht dem Auswärtigen Amt, sondern dem Goebbels-Ministeriums unterstanden, durchgeführt.) In der Struktur nahmen die DWIs die nach dem Krieg in den Goethe-Instituten ausgebaute Zweiteilung in Sprach- und Kulturarbeit mitsamt der Bibliothek voraus. Anstelle der von Goethe-Instituten beschäftigten Kulturexperten als Leiter verpflichteten die DWIs erfahrene Wissenschaftler (möglichst Experten für das jeweilige Land) als Direktoren (oder Präsidenten); anstelle einer von der Zentrale entwickelten und angebotenen Programmarbeit organisierte ihre jeweilige Wissenschaftliche Abteilung eine besonders um wissenschaftliche Kontakte bemühte Veranstaltungsagenda. Daneben widmete sich die Akademische Abteilung mit Studenten und Stipendiaten weitgehend der Austausch- und Kontaktarbeit, eine Funktion, die nach 1949 der DAAD und die Alexander von Humboldt-Stiftung zentral wahrnahmen.

Die Mobilisierung nationaler Kultur im Zweiten Weltkrieg In der Mobilisierung nationaler Kultur unterschieden sich die kriegführenden Staaten nach 1939 zunächst nicht allzu sehr voneinander. Das Bestreben, die Evokation kultureller Größe und Identität mit den Bedürfnissen nach Unterhaltung und Erbauung zu verbinden, hatte sich seit dem Ersten Weltkrieg nicht grundsätzlich gewandelt. Was sich verändert hatte, waren die Techniken der Massenkommunikation, die mit der neuen Dominanz von Rundfunk und 244 Ebd., 54 f.

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Film der Propaganda ganz neue Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten verschafften und auch viel stärker ins Ausland wirkten. Während viele Verantwortliche zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch geglaubt hatten, Kultur sei der ‚bloßen‘ Propaganda an Wirkungskraft überlegen (dann aber zögernd von dieser Überzeugung abließen), nutzten sie im Zweiten Weltkrieg Propaganda unter anderem dafür, der Kultur in ihrer höheren Berufung neue Wirkungsmöglichkeiten zu verschaffen. Sowohl Propaganda wie Kultur sollten eine nationale Selbstvergewisserung erreichen, jedoch war auf Kultur mehr Verlass, weil sie weniger an kurzlebige Parolen gebunden war. Exemplarisch ist dafür die Gründung des britischen Committee, später Council for the Encouragement of Music and the Arts (CEMA) im Jahr 1939, die man immer als Frucht des Krieges bewertet und für die Hebung der Moral des Landes in den dunkelsten Stunden als unabdingbar hingestellt hat. Es war eine breit gefächerte, staatsfinanzierte, von John Maynard Keynes geleitete Organisation von Kulturveranstaltungen, die dann 1946 zum Arts Council of Great Britain umgeformt wurde.245 Wie stark der Krieg in Frankreich als Bewährungsprobe für die französische Kultur verstanden wurde und wie in der kulturellen Erneuerung die Niederlage abgeschüttelt werden sollte, ist dargestellt worden. Entschlossener und einem faschistischen Führer gemäß mobilisierte Mussolini eine ganze Phalanx von Kulturaktivitäten, die Italiens militärische Eroberungen jedem Vorwurf der Barbarei entziehen sollten. Ähnliches verfolgte Japan sowohl zur Festigung innerer Moral als auch im Angriff auf andere Kulturen bei seiner Errichtung der „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“. Als das Auswärtige Amt in seiner aufwendig gemachten Zeitschrift Berlin Rom Tokyo 1939 die Gleichgesinntheit der Achsenmächte zeigen wollte, bemühten sich die Herausgeber darum, kulturelle Symbole zu setzen, da die rassische Solidarisierung ziemlich aussichtslos war. Zwischen aktuellen Pressefotos und gediegenen Kunstabbildungen predigte man die Vereinigung von Volk und Kunst als verbindende Kulturgesinnung: „In allen drei Völkern gilt aber heute nicht mehr eine dünne, entwurzelte intellektuelle Oberschicht als Träger des politischen und kulturellen Lebens, sondern das Volk selbst. Die Völker werden zum Kulturerlebnis und zur Kulturschöpfung erzogen und aus ihnen heraus rekrutieren sich die Träger einer neuen schöpferisch-solaren Kulturkraft.“246 245 Jörn Weingärtner, The Arts as a Weapon of War. Britain and the Shaping of National Morale in the Second World War. London/New York: Tauris, 2006. 246 Nikolaus Freiherr von Holleben, Der Mythos des Dreiecks, in: Berlin Rom Tokyo. Monatsschrift für die Vertiefung der kulturellen Beziehungen der Völker des weltpolitischen Dreiecks, H. 3 (1939), 28–30, hier 30. Zu den deutsch-japanischen Kulturbeziehungen s. Formierung und Fall der Achse Berlin–Tōkyō, hg. von Gerhard Krebs und Bernd Martin. München: Judicium, 1994.

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Diese Form der Mobilisierung des Volkes reichte weit über die Befugnisse des Auswärtigen Amtes hinaus. Ribbentrop hatte zwar bei Hitler 1939 gegenüber dem Propagandaministerium ein Weisungsrecht für die Auslandspropaganda durchgesetzt, jedoch scherte sich Goebbels wenig darum und folgte seinen eigenen Strategien für diese Mobilisierung, die Propaganda und Kulturaktivitäten einbezog und sich für die deutsche wie die ausländische Bevölkerung für zuständig hielt. (In einem späteren Abkommen einigte man sich im Oktober 1941, die Konkurrenz auf dem Gebiet der Auslandssender durch die Holdinggesellschaft Interradio AG auszugleichen.247) Demgegenüber erwies sich die Festlegung des Amtes, abgesehen von der „Betreuung“ der Volksdeutschen, auf den Ausbau des Netzes der Deutschen Wissenschaftlichen Institute sowie die fortgesetzte Unterstützung der deutschen Auslandsschulen, Krankenhäuser und Buchhandlungen – teilweise in enger Zusammenarbeit mit dem Reichserziehungsministerium – als die traditionellste Form von Kulturpolitik, die innerhalb und außerhalb des Reiches etwas von dem überlieferten Glauben an Kultur und Wissenschaft aufrechterhielt. Die Kulturabteilung wurde von Twardowski in diesem Sinne geführt, blieb aber von Berührungen, ja Verwicklungen in die Vernichtungsexzesse in Osteuropa nicht frei.248 Zugleich verdichteten sich im Amt auch Strömungen der Resistenz gegen diese Formen der Verstrickung und generell die Mitverantwortung für die Behandlung der Nationen im Osten – für Goebbels ein Anlass, das Amt als unzuverlässig anzugreifen und 1944 die Abschaffung von Presse‑, Rundfunk- und Kulturabteilungen zu fordern.249 Dem schob der SS-Brigadeführer und Gründungsdekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin, Franz Alfred Six, der Twardowski 1943 als Leiter der Kulturabteilung ablöste, durch größere Militanz einen Riegel vor. Außer einem hektischen Reiseprogramm durch Europa konnte Six allerdings nur sicherstellen, dass die Maxime durchgehalten wurde, die deutsche Kulturarbeit in Europa gleichsam als Beweis für Deutschlands ungebrochene Stärke trotz Bombenhagel und zunehmendem Feindbeschuss fortzuführen. Die meisten Untersuchungen zur Kulturpolitik der Besatzung konzentrieren sich – mit Recht – auf die Akteure und ihre Techniken sowie auf die Verfolg247 Longerich, Joseph Goebbels, 487; in seiner grundlegenden Studie, Propagandisten im Krieg. Die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop. München: Oldenbourg, 1987, behandelt Peter Longerich ausführlich den Kampf zwischen Ribbentrop und Goebbels sowie ihrer Behörden um die Vormacht in der Auslandspropaganda in der ersten Kriegsphase. 248 Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit, 167–294. 249 Ebd., 295–316; Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six. München: Beck, 1998, 245 f.

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ten.250 Man sollte jedoch die generelle Konstellation nicht übersehen, dass mehrere Jahre lange ein riesiger Teil Europas mit etwa 200 Millionen Menschen zwischen 1940 und 1942, bedingt bis 1944, nur wenig direkte Kampfhandlungen erfuhr – allerdings Deportationen, Willkürmaßnahmen der Besatzungsmacht und später Bombenangriffe und Sabotageaktionen erlebte – und eine Art Normalität des Alltagslebens zu erreichen suchte.251 Dieser Konstellation eingedenk, entwickelte Goebbels in ständiger Auseinandersetzung mit dem Auswärtigen Amt und den häufig unkonventioneller arbeitenden Propagandastaffeln und ‑abteilungen der Wehrmacht eigene Strategien, die neben direkter Propaganda sowie Film- und Unterhaltungskultur auch in erstaunlich hohem Maße höhere Kultur einbezog. Mit der Wochenzeitung Das Reich, zu der er regelmäßig Grundsatzartikel beitrug, schuf er im Frühjahr 1940, der „Zeit ohne Beispiel“, ein in Schriftbild und Aufmachung in der bis auf die Frankfurter Zeitung gleichgeschalteten deutschen Zeitungslandschaft beispiellos modernes Publikationsorgan, das vor allem den bürgerlichen Leser anziehen sollte.252 Das Reich, in dem zahlreiche bekannte Nachkriegsjournalisten ihre Sporen verdienten, stellte im April 1945 sein Erscheinen ein, doch diente es, ähnlich der von der Wehrmacht herausgegebenen, in Millionenauflage vertriebenen Auslandsillustrierten Signal, nach 1945 als Vorbild einer modernen Zeitungsproduktion. Ohnehin vermochte die Wehrmacht in dieser von Angst, Hunger und Hektik ebenso wie von Langeweile und Konsumverlagen geprägten europäischen Wartesaalkultur 1940–1944 mit ihren Propagandastaffeln einen Großteil der Unterhaltungsbedürfnisse zu bedienen. In dem Kampf um die (halb) öffentliche Meinung der 250 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/1: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941, hg. von Bernhard R. Kroener. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1988, darin insbes. Hans Umbreit, Die deutsche Propaganda in den besetzten Gebieten, 297–320; Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft, hg. von Jörg Echternkamp. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2005, darin insbes. Birthe Kundrus, Totale Unterhaltung? Die kulturelle Kriegsführung 1939 bis 1945 in Film, Rundfunk und Theater, 93–157; Kultur – Propaganda – Öffentlichkeit. Intentionen deutscher Besatzungspolitik und Reaktionen auf die Okkupation, hg. von Wolfgang Benz, Gerhard Otto und Anabella Weismann. Berlin: Metropol, 1998; Anpassung – Kollaboration – Widerstand. Kollektive Reaktionen auf die Okkupation, hg. von Wolfgang Benz, Johannes Houwink ten Cate und Gerhard Otto. Berlin: Metropol, 1996. 251 „The German conquest of much of mainland Europe had created, in the eyes of millions all over the continent, a new reality that was destined to be durable. Interestingly, people even started to describe the time in which they were living as ‘post-war’. There was a collective urge to opt out of the war and to take care of the necessities of life.“ The War on Legitimacy in Politics and Culture 1936–1946, hg. von Martin Conway und Peter Romijn. Oxford/New York: Berg, 2008, 81. 252 Die Monatszeitschrift Das XX. Jahrhundert, die ab 1939 mehrere Jahre mit gediegener Aufmachung und Illustrationen ebenfalls für ein bürgerliches Publikum bestimmt war, wurde von den früheren Tatkreis-Mitarbeitern Giselher Wirsing und Ernst Wilhelm Eschmann bestimmt. Sie richtete sich vor allem gegen England und die USA.

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anderen Länder kam es dabei zu Kooperationen mit dem Auswärtigen Amt und heftiger Konkurrenz mit dem Propagandaministerium, einer Konkurrenz, die die Bevölkerung der anderen Länder für ihre Bedürfnisse auszunutzen verstand, zumal die alliierte Gegenpropaganda mit der BBC und anderen Organen angesichts der abnehmenden deutschen Erfolge an Überzeugungskraft gewann.253 Sobald der Krieg begann, unterschied sich die Propaganda der verschiedenen Nationen in ihren Formen und Stilen, akustischen und visuellen Provokationen zunächst nicht grundsätzlich. Die Lehren des Ersten Weltkrieges über die Notwendigkeit, die jeweilige Öffentlichkeit nicht nur textlich, akustisch und bildlich zu bombardieren, sondern auch zu unterhalten, waren längst überall angekommen, und Goebbels hatte sich vor allem mit der kommunistischen Propaganda vor 1933 harte Kämpfe geliefert. Insofern Propaganda die Truppen glorifizierte, die Moral der Heimat stärkte, Opfer verlangte und den Feind dämonisierte, war sie Sache des jeweiligen Hoheitsgebietes, das heißt in ähnlicher Weise beim Feind anzutreffen. Was man in Deutschland Festigung der Volksgemeinschaft nannte, hieß in anderen Ländern Stärkung der Nation oder nationalen Gemeinschaft; in der Sowjetunion sollten sich die verschiedenen Völker unter dem Motto des Großen Vaterländischen Krieges gegen den Faschismus einigen. Indem Hitler und Goebbels bei der Herstellung der Volksgemeinschaft seit 1933 die kulturelle Einigung beschworen hatten, wofür sie die Juden dämonisierten und ausschlossen, legten sie den Grundstein für einen Einsatz von Kultur unter Kriegsbedingungen, der in seiner Durchorganisierung jedoch weit über die Praktiken anderer Nationen, sieht man einmal von der Sowjetunion ab, hinausging. Gefährdet nur dort, wo Hitler auf dem Rassebegriff als letztgültiger Kulturdefinition beharrte, verband sich der nationalsozialistische Kulturbegriff (der sich, anders als im Ersten Weltkrieg, durchaus nicht vom Zivilisationsbegriff abgrenzen musste254) mit dem Verständnis des Volkes, und zwar in dem, was das Volk verstand bzw. verstehen sollte, und ebenso darin, wie man das Volk verstehen sollte. Das lag ebenso dem zitierten Satz in Berlin Rom Tokyo zugrunde wie dem nach 1933 zunehmend verwirklichten Konzept des Kulturversorgungsstaates: Die von öffentlichen Instanzen geförderte, oft auch von privaten Unternehmungen konsumierbar gemachte Kultur, zumeist Unterhaltungskultur, erhielt ihre nationalsozialistische Weihe als Selbstinszenierung des Volkes. 253 Die immer noch umfassendste und aufschlussreichste Untersuchung über den Propagandakrieg ist die Dissertation von Martin Moll, „Das neue Europa“. Studien zur nationalsozialistischen Aus� landspropaganda in Europa, 1939–1945. Die Geschichte eines Fehlschlags, 2 Bde. Diss. Graz, 1986. 254 Jörg Fisch, Zivilisation, Kultur, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Kosel� leck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978, 679–774, hier 765.

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23 Französische Schriftsteller auf dem Weimarer Schriftstellertreffen 1941. Von links Brasillach, zweiter und dritter von rechts: Jonhandeau und Chardonne. Entnommen aus: François Dufay, Die Herbstreise. Französische Schriftsteller im Oktober 1941 in Deutschland. Ein Bericht. Berlin 2001, S. 90.

Die weithin akzeptierte Organisation der Deutschen Arbeitsfront, die dem italienischen Vorbild Dopolavoro nachempfundene „Kraft durch Freude“-Gemeinschaft, sorgte dafür, die Scheu vor dieser Form von Kultur zu überwinden. Als Zulieferer machte sich die KdF-Gemeinschaft sowohl für die Unterhaltungskultur, Touristik und Freizeitgestaltung unentbehrlich als auch für den Einbezug bisher weniger interessierter Schichten in die Beschäftigung mit Theater, klassischer Musik, Oper, Vorträgen und gemeinschaftlicher Buchpflege.255 Im Laufe des Krieges nahm der Anteil ‚höherer‘ Kultur zugunsten von Varietékultur und ‚Gesangstingeltangel‘ deutlich ab, was Goebbels, wie seine wiederholten Angriffe auf die Truppenbetreuung der KdF-Organisation zeigen, keineswegs immer tolerierte. Schließlich trug er aber mit der Förderung von Filmkomödien und leichter Rundfunkunterhaltung selbst dazu bei, die mit dem Motto „Kraft durch Freude“ erstrebte Festigung des deutschen Kampfwil255 Shelley Baranowski, Strength through Joy. Consumerism and Mass Tourism in the Third Reich. Cambidge: Cambridge University Press, 2004.

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lens durch „Freude“ auf derjenigen Ebene austragen zu lassen, auf der am meisten gelacht wurde. Dass den Deutschen „Freude“ als Haltung verordnet wurde, die sie einnehmen müssten, um zu siegen, vollendete diese ‚kulturgetragene‘ Selbstinszenierung der kämpfenden Nation. In den Anstrengungen des Propagandaministeriums, sich die Erfolge der KdF-Mobilisierung von ‚ernster‘ und ‚heiterer‘ Muse zugutezuschreiben, lässt sich das riesige Ausmaß dieser Kulturversorgungspolitik vor und im Krieg erahnen. So sprach Hans Hinkel, der inzwischen als Generalsekretär der Reichskulturkammer fungierte, Anfang 1943 davon, dass die KdF-Gemeinschaft – die zu Robert Leys Deutscher Arbeitsfront gehörte – als siebente Einzelkammer der Reichskulturkammer unterstellt würde (was offensichtlich nicht geschah). Der herrschenden Leitlinie „Europa“ gemäß konstatierte er in einer öffentlich gemeinten Stellungnahme, dass damit das „Kulturzentrum des neuen Europa“ geschaffen werde. Allerdings ging er weniger auf den großen Umfang dieser Kulturmaschinerie ein als darauf, dass die Bevölkerung diesen riesigen Aufwand als selbstverständlich hinnehme. Hinkel verbarg nicht seinen Unmut darüber, dass diese kriegsbedingte Konsolidierung des Kulturversorgungsstaates als enorme Organisationsleistung nicht genügend gewürdigt werde: „Es wird als ‚selbstverständlich‘ hingenommen, dass unser deutsches Musik‑, Schrifttum- und Film-Schaffen und die bewundernswert schöpferische Entwicklung im Bereich unserer bildenden Künste der Gemeinschaft des Volkes und somit auch den Menschen anderer Nationen eine Unzahl bedeutender Werke geben. Die Richard Wagner-Kriegsfestspiele für die Kameraden der Wehrmacht und der Arbeit, die Große Deutsche Kunstausstellung zu München, die Salzburger Mozart-Festspiele, die zahlreichen Gastspiele ausländischer Theater und Solisten in Deutschland, die Auslandsgastspiele von tausenden deutscher Künstler, das einzigartige Werk kultureller Truppenbetreuung, der Einsatz von Rundfunk, Film und Presse als lebendigste Bindeglieder zwischen kämpfender Front und schaffender Heimat – all das erscheint noch Millionen unserer Volksgenossen ‚selbstverständlich‘. Und all das ist letzten Endes nur das Ergebnis einer knapp siebenjährigen zähen und opfervollen Arbeit der praktischen Kulturpolitik unseres Staates und unserer nationalsozialistischen Bewegung bis zu jener Stunde, in der uns die Plutokratie und ihre Hintermänner offen den Kampf mit den Mitteln des Krieges ansagten.“256 Hätte Hinkel gewusst, dass all dies bald in den Ascheneimer der Geschichte, zumindest der von Historikern verwalteten Geschichte, gekehrt würde, wäre sein Unmut vermutlich noch größer gewesen. Bei genauerem Zusehen stellt 256 Hans Hinkel, Das Kulturzentrum des neuen Europa (undatiert, Anfang 1943), im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R 56 I/ 37.

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sich jedoch heraus, dass das zwar geschah, dass jedoch wichtige Elemente davon nach dem Krieg mit den Bedürfnissen nach dem Kulturversorgungsstaat nicht nur in Deutschland und Österreich wieder aus der Asche hervorgeholt und für ein wachsendes Publikum einsatzfähig gemacht wurden, sondern auch, je nach Tradition und Gepflogenheit, in den anderen Ländern Frankreich, Großbritannien, Italien und den Niederlanden. Während der Erste Weltkrieg der Propaganda eine Schlüsselstellung für die Neuformung der politischen Praxis verschafft hatte, die sich in den folgenden Jahrzehnten mit Rundfunk, Film und anderen Reproduktionstechniken den neuen Konsumgewohnheiten anpasste, bereitete der Zweite Weltkrieg den Boden für eine Institutionalisierung der Versorgung mit kultureller Erbauung und Erziehung, die den Ausübenden nach einiger Zeit auch eine berufliche Absicherung ermöglichte, die es zuvor nicht gegeben hatte. Gewiss verwischte man angesichts der mörderischen Missbräuche von Kultur in den Kampfzonen von Krieg und Besatzung diese Ursprünge. Und gewiss lag es im Falle Deutschlands besonders nahe, ein Weiterwirken nationalsozialistischer Organisationsformen strikt auszuschließen. Aber die zu dieser Zeit bereits intensiv öffentlich geförderte Verschmelzung von Kultur und Massenkonsum entfaltete als gesellschaftlicher Stabilisierungsfaktor ihre Zugkraft auch und gerade nach 1945, als materieller Konsum eine Zeit lang kaum existierte. Immerhin stand das Personal an Film- und Theaterschauspielern, Journalisten und Verlegern, Musikern und Toningenieuren, wenn sie nicht vertrieben oder getötet worden waren, zur Verfügung. Das Publikum war vorhanden. Für Kultur und Bücher brauchte es keine Lebensmittelmarken.

Kultur als höchste Form von Propaganda – Kriegsausgabe Joseph Goebbels, der Meister der Propaganda, hatte den Propagandaexperten voraus, dass er, wenn auch oft widerwillig, im Einsatz für das Dritte Reich der Kunst und Kultur eine nicht geringere Wirkungskraft einräumte als der Propaganda, insofern sie die Tagesparolen hinter sich ließen. Zwar versah er die Kriegsberichterstattung mit einem konstant aus Führerentschließungen und Marketingstrategien gebackenen sprachlichen Überzug, der sich als Verständigungscode von Presse, Rundfunk und Befehlsgebern in alle mögliche Packungen abfüllen ließ. Jedoch ließ er keinen Zweifel daran, dass sich darin seine Arbeit für Führer und Volk nicht erschöpfte. Er wollte Tiefergehendes, Bleibenderes. Mit den Siegen von 1940 in Westeuropa zeichnete sich die Chance ab, dass das Reich die kulturelle Führungsrolle in Europa übernehmen könnte. Dafür wurden drei Ingredienzen unentbehrlich, ohne die sich die Bürgerschichten diesseits und jenseits der deutschen Grenzen nicht gewinnen ließen

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(wenn man sie denn gewinnen wollte): Kulturförderung, Traditionalismus und Modernität. Dafür suchte er ständig Beweise zu liefern, die der Kollaborationspolitik in dem über 200 Millionen umfassenden europäischen Wartesaal der ersten Kriegsjahre eine gewisse Chance verschafften. Ausgerechnet bei der „geistigen Kriegsvorbereitung“, die Hitler und Goebbels als Lehre des Ersten Weltkrieges für den neuen Krieg 1938/39 mit gewaltigen Mitteln im Hinblick auf die deutsche Bevölkerung betrieben, stieß ja Propaganda an ihre Grenzen: Das viel beschworene deutsche Volk, das schon beim Einmarsch in die Tschechoslowakei keine Kriegsbereitschaft zeigte, quittierte den Einmarsch der Wehrmacht in Polen mit Bangen und einem unübersehbaren Stimmungstief.257 Gravierender noch war der „Niedergang der Deutungsmacht“ Propaganda, der im Herbst 1941 einsetzte, als der Siegeszug der Wehrmacht in der Sowjetunion ins Stocken kam, und vollends Ende 1942, als die Grenzen der Expansion erreicht waren und sich zwischen Propagandaversprechen und Kriegsrealität eine immer größere Kluft auftat. Darüber ist genügend geschrieben worden.258 Demgegenüber wusste Goebbels, dass in der Partizipation an den kulturellen Schätzen der Nation ein sehr viel stetigerer Bonusfaktor für die Aufrechterhaltung der kämpfenden Volksgemeinschaft lag. Seine Reden und Schriften zur Kulturpolitik im Kriege, die zumeist mit einer Abgrenzung von der verfehlten Politik im Ersten Weltkrieg einsetzen, kreisen um die Bemühung, den Alltag des Volkes zumindest im Kulturleben, in Buchlektüre, Film‑, Theater- und Ausstellungsbesuch auch im Kriege unverändert, ja gesteigert fortzusetzen. Seine Leidenschaft für den Film war von Anfang an von der Überzeugung getragen, dass der Film zur Kunst gehöre oder zumindest zur (Hoch‑)Kunst erhöht werden könne. Das fand in den während der ersten Kriegsjahre besonders geförderten Künstlerfilmen seinen Ausdruck, prägte aber generell Goebbels’ Anspruchsdenken in Abgrenzung von der amerikanischen Konkurrenz. Der Film als Kunst schien „als Hort sichernder und eben deshalb zu verteidigender Werte einen Rückhalt gerade in schwierigen Zeiten zu bilden.“259 Goebbels machte die alljährlich durchgeführte Deutsche Buchwoche, die nach dem Anschluss Österreichs 1938 in „Großdeutsche Buchwoche“ umbenannt wurde, zu einem großen Ereignis mit Festumzügen und Ausstellungen, Sonderbriefmarken und Werbeplakaten, Rundfunksendungen und 257 Jutta Sywottek, Mobilmachung für den totalen Krieg. Die propagandistische Vorbereitung der deut� schen Bevölkerung auf den Zweiten Weltkrieg. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1976. 258 Aristotle A. Kalis, Der Niedergang der Deutungsmacht. Nationalsozialistische Propaganda im Kriegs� verlauf, in: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945 (Das Deutsche Reich und der Zweite Welt� krieg Bd. 9/2), 203–250. 259 S. die ausführliche Diskussion von Film als Kunst in: Kunst der Propaganda. Der Film im Dritten Reich, hg. von Manuel Köppen und Erhard Schütz. Bern: Lang, 2007, hier 11.

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Werbefilmen, thematischen Schaufenstern und Buchkatalogen, Preisausschreiben und ‑verleihungen, Dichterlesungen und Vorträgen der Parteiprominenz.260 Was damit erreicht werden sollte und mit den 43 Millionen Büchern, die zwischen 1939 und 1945 an Soldaten gingen, sowie weiteren Millionen Büchern und Publikationen, die in der „Heimat“ zirkulierten, tatsächlich erreicht wurde, war individuelle und gemeinschaftliche Partizipation im Akt des Lesens, vor allem aber die Fetischisierung des Buches als Inbegriff völkischer Kultur.261 Diese Strategie begann ab 1942 zu bröckeln, als das Papier knapp und die Auslieferung schwieriger wurde und der Buchhandel nach und nach zusammenbrach.262 Rundfunk, Film und Wochenschau verloren weiter an Glaubwürdigkeit, deckten aber zumindest die Unterhaltung ab. Ohnehin war die Strategie der nationalen Fetischisierung eines zugleich im Schützengraben wie im Lehnstuhl vom Volk konsumierbaren Kulturobjekts nur so lange erfolgreich, als sie nicht als Handlungsanweisung für die kulturelle Werbung in besetzten Gebieten oder bei verbündeten Ländern verwendet wurde. Für diese Werbung mussten eigene Strategien entwickelt werden, die nicht nur eine Emanation nationaler Selbstbestätigung darstellten, wie es bei den Volks- und Auslandsdeutschen mit dem Ziel ihrer Bindung ans Reich gefordert war. Die ab 1935 in vielen Orten und Schulen deutscher Minderheiten abgehaltenen deutschen Buchwochen, die dazu beitragen sollten, „die große Gemeinschaft zu schließen“,263 entwickelten sich zu zentralen Manifestationen des Deutschtums im Ausland, zumindest in den Augen der Reichsdeutschen. Solange die Definition der deutschen Kultur als etwas „Gewachsenes und Organisches, etwas Gewordenes und Werdendes“ galt, die der Propagandaforscher Paul Rühlmann 1930 von der der französischen Kultur absetzte, die „etwas Abgegrenztes, Fertiges, Übersehbares und somit leichter Annehmbares“ darstellte, stärkte sie das Zugehörigkeitsgefühl, eignete sich allerdings nicht für den Export.264 Goebbels, innovativ in seiner Propaganda, hielt sich, wo er Kunst und Kultur meinte, genau an diese traditionelle Auffassung. Bei der Eröffnung 260 Van linthout, Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, 159. 261 Dass selbst in der Wehrmacht die Wirkung des Buches für die Festigung der Gemeinschaft her� ausgestrichen wurde, bezeugen die vielen Frontzeitschriften und Tornisterschriften. Beispielhaft in der Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht für Offiziere Hans W. Hagen, Das Buch im Kriege, in: Was uns bewegt. Fragen der Weltanschauung, Politik, Geschichte und Kultur, H. 6 (4.6.1943), 45–54. 262 Otto Seifert, Die große Säuberung des Schrifttums. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1933–1945. Schkeuditz: GNN, 2000, 270–280. 263 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 53 (3.3. 1936), 201, zit. nach Van linthout, Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, 97. 264 Paul Rühlmann, Französische und deutsche Kulturpropaganda. Vergleich und Kritik, in: Neue Jahr� bücher Jg. 1930, H.1, 119–127, hier 124.

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der Großen Deutschen Kunstausstellung 1940 in München rief er aus: „Man kann die Kunst nicht nach Belieben und nach Zeitumständen einsetzen und auch wieder absetzen. Sie ist da; sie ist eine Daseinsäußerung unseres Volkes. Sie gehört mit zu unserem nationalen Leben, genau wie die Wirtschaft und die Politik.“265 Mit anderen Worten, solange diese Kunst gepflegt wurde, war die deutsche Volksgemeinschaft lebendig und sichtbar. Sie musste gepflegt werden, sollte die Volksgemeinschaft lebendig bleiben. Andere Völker hatten andere Kulturen – wenn sie denn überhaupt Kultur hatten: Mit dem Krieg sprach das NS-Regime den Slawen, insbesondere den Polen, Russen, Weißrussen und Ukrainern, die Anerkennung als Kulturnationen ab, mehr noch, es verfolgte und zerstörte ihre Kultur.266 Gegenüber dem europäischen Westen, Norden und Süden war man vorsichtiger. Da bediente man sich der seit Langem genutzten Begegnungstheorie, bei der es wohl Verständigung, aber weder Mission noch Transfer gab. Oder, wie es Otto Abetz gegenüber der französischen Kulturpolitik ausdrückte: Überwindung.267 Letztlich bot auch die Vorstellung von Europa als kultureller Größe, die ab 1941 nach dem Einmarsch in die Sowjetunion in Reden und Publikationen verbreitet wurde, keine handfeste Referenz, von der man über die Abwehr des bolschewistischen Ostens hinaus eine kulturell definierte Mission bezogen hätte. Nicht zufällig entsprang die einzige erfolgreiche Propagierung Europas einem Presseerzeugnis, das Millionen Lesern in den verschiedenen europäischen Ländern (in deren Sprachen) die Gegenwart in vielen Farbfotos und kurzen Kommentaren als gelebte Erfahrung präsentierte und damit mehr Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen – durch Deutschland bestimmten – Lebensraum erzeugte, als es jede politische Proklamation vermocht hätte. Die erwähnte Zeitschrift Signal, die vom Oberkommando der Wehrmacht in Absprache mit dem Auswärtigen Amt, aber in gewisser Distanz zum Propagandaministerium 1940–1945 herausgegeben und nur außerhalb Deutschlands vertrieben wurde, stellt den einzigen sowohl aktuell wirksamen als auch in der 265 Joseph Goebbels, Kunst und Krieg. Ansprache zur Eröffnung der ‚Großen Deutschen Kunstaus� stellung 1940‘ in München, in ders., Die Zeit ohne Beispiel. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1939/40/41. München: Eher, 1941, 310–313, hier 311. 266 Exemplarisch über die Kulturpolitik in Polen: Christoph Kleßmann, Die Selbstbehauptung einer Nation. Nationalsozialistische Kulturpolitik und polnische Widerstandsbewegung im Generalgou� vernement 1939–1945. Düsseldorf: Bertelsmann, 1971. 267 Im Vergleich der verschiedenartigen Behandlung der Kulturen in West- und Osteuropa durch die deutschen Verantwortlichen stellt der polnische Germanist Hubert Orlowski die „Säuberung“ der französischen Literatur durch Verbotslisten wie die „Liste Otto“ der ungeschmälerten Vernichtungs� praxis gegen die polnische Literatur gegenüber: Hubert Orlowski, Polnisches Schrifttum unter Zen� sur. Wilhelminische und nationalsozialistische Zensurpolitik im Vergleich. Frankfurt: Diesterweg, 1988, 11–20.

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deutschen und europäischen Presselandschaft lange nachwirkenden Erfolg einer geschickt gemachten deutschen Publikation dar.268 Ihr bescheinigte die amerikanische Illustrierte Life, „die tödlichste Waffe aus dem großen Arsenal der Achsen-Propaganda zu sein“, während die britische Daily Mail 1942 konstatierte: „Auf diesem Gebiet [der Propaganda] stehen wir einer furchtbaren Konkurrenz von Seiten des Feindes gegenüber. Da ist in erster Linie ‚Signal‘, eine der bestredigierten Zeitschriften der Welt. England hat nichts, das ‚Signal‘ gleichkommt.“269 Natürlich zielte das überschwängliche Lob auf die Verantwortlichen im eigenen Land, die hochkarätiger Propaganda mehr Aufmerksamkeit und Geld widmen sollten. Ihm widersprachen allerdings deutsche Auslandsvertretungen wie die in Madrid, die feststellte, dass englische und amerikanische Illustrierte den „unseren jedoch an Zahl und insbesondere an Ausstattung überlegen“ seien.270 Mit seiner unterhaltsamen Bilderwelt ersetzte Signal in Ergänzung zum Rundfunk den vom NS-Regime zwischen Norwegen und Griechenland keineswegs sicher beherrschten Zugriff auf die Öffentlichkeit.271 Die Zeitschrift verbarg die Tatsache, dass die Europa-Rhetorik der Wehrwirtschaftsführung nur dazu diente, den verbündeten und den besetzten Ländern größere Kriegsanstrengungen abzuverlangen. Jede auf Anerkennung oder kulturelle Zusammenarbeit zielende Geste diesen Völkern gegenüber durfte Hitlers Absichten hinsichtlich ihrer politischen und wirtschaftlichen Ausnutzung nicht in die Quere kommen. Entsprechend zog sich Baldur von Schirach, Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien, 1942 den Unwillen von Hitler zu, als er ohne ausdrückliche Genehmigung von Berlin den Europäischen Jugendkongress in Wien gründete, zu dem er Jugendverbände aus allen europäischen Ländern bis auf die baltischen und osteuropäischen Gebiete einlud. Schirachs kurzlebigem Engagement, das auch Wien als europäischem Zentrum zugutekommen sollte, folgte keine weitere Aktion. Wenn Goebbels, möglicherweise in Konkurrenz zu Ribbentrops Netz von Kulturinstituten, 1941/42 die Europäische Schriftsteller-Vereinigung (ESV) initiierte, konnte sein Europa-Begriff kaum über die von der NS-Führung gebrauchten allgemeinen Andeutungen hinausreichen, wollte er nicht Hitlers 268 Die in der letzten Kriegsphase von der Presseabteilung des AA vorbereitete Illustrierte für ein inter� nationales, auch angelsächsisches Publikum namens TELE kam über die Planung nicht hinaus, s. Wiltrud Ziegler, Die Phantom-Zeitschrift TELE. Ein Beitrag zur Publizistik der letzten Jahre des Dritten Reiches. Diss. Mainz, 1989. 269 Life vom 22.3.1941, Daily Mail vom 27.4.1942, zit. nach Martin Moll, „Das neue Europa“, 1014. 270 Botschafter von Stohrer an das AA, 29.9.1942, zit. nach ebd., 1015. 271 Rainer Rutz, Signal. Eine deutsche Auslandsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Welt� krieg. Essen: Klartext, 2007; Martin Moll, „Signal“. Die NS-Auslandsillustrierte und ihre Propa� ganda für Hitlers „Neues Europa“, in: Publizistik 31 (1986), 357–400.

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Ablehnung riskieren. Da er es aber mit erfahrenen und kritischen Schriftstellern aus dem Ausland zu tun hatte, die er ähnlich wie Künstler und Musiker zu Rundreisen ins Reich einlud, war es mit den seit dem Ersten Weltkrieg gebrauchten Europa-Klischees nicht getan. Er musste dem kulturellen Diskurs über Europa Argumente geben. Allerdings gelangte er kaum über eine Potenzierung seines essenzialistischen Kunstdenkens hinaus, das er in seiner Rede im Haus der Deutschen Kunst beschworen hatte. So wie Kunst als Essenz des nationalen Lebens der Deutschen verstanden wurde, offenbarte sich die Kultur Europas im Nebeneinander der jeweiligen Kunst und Kultur der Nationen, jedoch mit dem nur anfangs unausgesprochenen Zusatz, dass dieses Nebeneinander einer Führung bedurfte, zu der natürlich das ‚Großdeutsche Reich‘ berufen war.272 Diesem Skript folgten 1941 und 1942 europäische Dichtertreffen, die bewusst in das kleine, nicht metropolitane Weimar einberufen wurden, wo zuvor als Teil der Woche des Deutschen Buches großdeutsche Dichtertreffen stattgefunden hatten. Im Oktober 1941 versammelten sich auf Einladung 37, ein Jahr später 47 Schriftsteller aus Deutschland, aus besetzten und befreundeten, sogar neutralen Ländern (Schweiz, Schweden), die dem Gastgeber nicht viel zu sagen hatten, außer dass sie die „neue Ordnung“ Europas begrüßten, da sie den Kulturen der einzelnen Regionen und Sprachen mehr Aufmerksamkeit schenkte, als es die „internationalistische“ Kulturideologie tat, die man von Paris aus hatte wirken sehen. Die besondere Attraktion der Europäischen Schriftsteller-Vereinigung für die ausländischen Schriftsteller lag in der engeren Vernetzung mit dem größten Buchmarkt Europas, Deutschland. Hier reüssierten Autoren der traditionellländlichen Literatur wie der Finne Veikko Antero Koskenniemi oder die Flamen Felix Timmermans und Stijn Streuvels besonders gut. Umgekehrt konnten die deutschen Verleger nach dem Abflauen des Auslandsgeschäfts in den dreißiger Jahren aufgrund ihrer Privilegierung in Europa neue Rekordumsätze verbuchen. Die wichtigste Unterstützung erhielten sie von Hitlers Zustimmung im November 1940 zu der oft geforderten Ersetzung der Fraktur-Druckschrift durch die Antiqua. Der Führererlass auf Verbot der Fraktur vom Januar 1941 bestätigte die Linie von Goebbels, dass Deutschland seiner neuen Rolle als Weltmacht in der Angleichung an die international übliche, lateinisch basierte Schrift Ausdruck geben müsse. Gegen die Einwände des Reichsinnenministers Wilhelm Frick lieferte sein Ministerium das zentrale Argument: „Die der 272 „Die europäische Kulturgemeinschaft ist entweder keine Gemeinschaft im wahren Sinne, oder aber sie leibt und lebt in den kulturellen Besonderheiten ihrer Mitgliedsvölker, und alle ‚Einflüsse‘ von der einen auf die andere Seite dienen letzten Ende nur der kulturellen Spannkraft der Gliedvölker.“ Theodor Wilhelm, Europäischer Kulturaustausch, in: Monatshefte für Auswärtige Politik 8 (1941), 1014–1021, hier 1021.

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24 Schwimmende Frontbuchhandlung einer Propaganda-Kompanie der Wehrmacht in einem norwegischen Hafen 1943. Foto Willy Rehor. In: Bundesarchiv Bild 1011-114-0069-20

Reichsschrifttumskammer angeschlossenen Verlage wurden kürzlich […] aufgefordert, die Veröffentlichungen, bei denen ein größerer Absatz im Ausland zu er erwarten ist oder angestrebt wird, grundsätzlich in Antiqua zu drucken. Diese Aufforderung erging, nachdem sechs Jahre lang hindurch die amtlichen deutschen Auslandsvertretungen, deutsche Austausch-Professoren, Assistenten und Studenten, deutsche Buchhändler im Ausland und zahllose Berichte von uns nahestehenden Persönlichkeiten aus dem Ausland immer wieder mit größtem Nachdruck betonten, dass tatsächlich der Frakturdruck ein höchst bedenkliches Hemmnis in der Verbreitung deutschen Schrifttums im Ausland sei.“273 Die Umstellung verschaffte dem Druckbild der deutschen Kultur, pauschal gesagt, tatsächlich eine ungewohnte Modernität – die einzige kulturelle Neuerung des Nationalsozialismus, die in der deutschen Bevölkerung Hitler selbst zugutegeschrieben worden ist. Für die Europäische Schriftsteller-Vereinigung fanden die Verantwortlichen in dem bekannten Autor Hans Carossa, der kein Nationalsozialist war, einen wenig engagierten, aber allseits akzeptierten deutschen Präsidenten, der sich auf 273 Schreiben von Haegert im Propagandaministerium an den Reichsminister des Innern vom 2.4.1940, zit. nach Silvia Hartmann, Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941. Frankfurt: Lang, 1998, 249.

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die beabsichtigte Polemik gegen den in London residierenden PEN-Club und den westlichen jüdischen Internationalismus nicht einließ. Ihm stand Carl Rothe als ESV-Sekretär zur Seite, ein weltgewandter Schriftsteller und Organisator, dessen Geschick der Ausbau verschiedener Landesgruppen zu verdanken war. Während bei dem Treffen 1941 die beiden (wenig bekannten) italienischen Teilnehmer Alfredo Acito und Arturo Farinelli ebenso wie spanische Teilnehmer (unter anderen Ernesto Giménez Caballero) ihre kritische Distanz zu diesem deutschen Unternehmen kenntlich machten, engagierten sich die sieben französischen Autoren Abel Bonnard, Robert Brasillach, Jacques Chardonne, Pierre Drieu La Rochelle, Ramon Fernandez, André Fraigneau und Marcel Jouhandeau besonders eifrig, offensichtlich in der Hoffnung, eine gewisse französische Führerrolle zu etablieren.274 (Abb. 23) Angesichts der Tatsache, dass das NS-Regime bei der Organisierung europäischer Schriftsteller nur so lange Gestaltungsmöglichkeiten besaß, wie das deutsche Militär siegreich war, ist das Urteil berechtigt, es handle sich hier um ein besonders prominentes Beispiel für die Ersetzung von Kulturpolitik durch Selbstinszenierung. Zugleich lässt sich aber nicht übersehen, dass dieses Forum, so sehr es Goeb­ bels und einigen Literaturfunktionären zur Selbstdarstellung diente,275 einer kulturell-literarischen Strömung zur länderübergreifenden Kommunikation verhalf, die in den dreißiger Jahren, unter anderem mit Autoren wie Knut Hamsun, Felix Timmermans und Jean Giono, generell die metropolitane Literatur der zwanziger Jahre beim breiten Publikum in vielen Ländern ausstach. Was der Komparatist Kurt Wais 1939 in seinem großen Überblicksband Die Gegenwartsdichtung der europäischen Völker die Dichtung der Regionen und Landschaften nannte, wurde durch Übersetzungen und den (stark vom Reich bestimmten) Buchmarkt international wirksam, und genau hierauf zielte die Organisation mit ihren Landesgruppen und der ihr verbundenen, übernational angelegten Zeitschrift Europäische Literatur (1942–1944).276 Mit der Betonung des kulturellen Essenzialismus ging auch bei Wais die Feststellung von der Isolation der einzelnen Literaturen in Europa einher. Frank-Rutger Hausmann hat ausführlich dargelegt, wie Goebbels’ Initiative an dieser Stelle, ob gewollt oder nicht, ein neues Selbstbewusstsein der teilnehmenden Autoren gegenüber 274 Eine ausführliche Darstellung bei Frank-Rutger Hausmann, „Dichte, Dichter, tage nicht!“ Die Euro� päische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941–1948. Frankfurt: Klostermann, 2004. 275 In den Tagungspublikationen 1941 und 1942 kamen Ausländer nicht zu Wort; vgl. Die Dichtung im kommenden Europa. Weimarer Reden 1941. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1942, sowie Dichter und Krieger. Weimarer Reden 1942. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1943. 276 Antonia Opitz, Das Europakonzept des Dritten Reiches im Spiegel der Zeitschrift Europäische Literatur, in: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 12, hg. von Jean-Marie Valentin. Bern: Lang, 2005, 97–104.

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dem nationalsozialistischen Deutschland hervorbrachte, das die Europäische Schriftsteller-Vereinigung schließlich ohnehin zerrissen hätte. In Hausmanns Worten: „Wenngleich sich im Gefolge der geplanten und in Angriff genommenen Gleichschaltung ansatzweise eine neue kollaborationistische corporate identity herausbildete, lassen sich auffällige länderspezifische Alteritäten feststellen: Flamen, Kroaten und Spanier beriefen sich auf ihre Katholizität, nannten die Jungfrau Maria die Schutzpatronin ihrer Länder. Italiener und Franzosen stellten ihr literarisches Erbe, vor allem den italienischen Renaissancehumanismus und die normprägende Klassik, gegen einen spätnaturalistischen Blut-und-Boden-Realismus, wie ihn außer den Deutschen vor allem die Schriftsteller der nordischen und osteuropäischen Länder kultivierten. […] Fast alle Ausländer [nutzten] Freiräume und reklamierten Selbständigkeit, wo es in Deutschland nur Gleichschaltung, Anpassung, Mitläufertum und, im besten Falle, innere Emigration gab. Je weiter ein Mitgliedsland oder Beitrittskandidat geographisch von Deutschland entfernt war, desto eigenwilliger gerierte er sich, z. B. Finnland, Schweden, Spanien, Ungarn und Bulgarien, und selbst die Freunde und Verbündeten (Italien, Kroatien, Slowakei) wagten es aufzumucken. Die europäische Peripherie war kulturell von Deutschland aus kaum zu kontrollieren.“277 An dieser in den Weimarer Treffen ‚offiziell‘ gemachten Kommunikation zwischen kulturellen Repräsentanten höchst verschiedenartiger europäischer Ethnien sind, ohne sie zu überschätzen, zwei Aspekte besonders bemerkenswert: Zum einen ist dies die Tatsache, dass durch die Ausrichtung an der Literatur Besatzer und Besetzte, Verbündete und Neutrale nebeneinander (wenn auch keineswegs gemeinsam) agierten und mit ihrer Behauptung ethnischer Authentizität in der literarischen Zeitströmung mitschwammen. Dabei stand ihr Nationalismus, wenn ihre Gebiete besetzt waren, der Kollaboration mit den Deutschen nicht im Wege, da sie, zumal im östlichen Europa, in ihrer Faszination von einem nationalistischen „Dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus häufig gerade von Deutschland inspiriert worden waren und in der Abwehr der Besatzung nicht unbedingt das unterliegende völkisch-rassische Sentiment, speziell den Antisemitismus, ablegten. Politisch gesagt: „Die gemeinsame Gegnerschaft gegen einen Teil der modernen Entwicklungen (den ‚Ideen von 1789‘ wie auch der Oktoberevolution 1917) bildete als Negativfolie die weltanschauliche Grundlage der Zusammenarbeit mit den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges.“278 Zum andern ist bemerkenswert, dass über 277 Hausmann, „Dichte, Dichter, tage nicht!“, 356 f. 278 Editorial, in: Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1939– 1945, hg. von Christoph Dieckmann u. a. Göttingen: Wallstein, 2003, 15.

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die Erhöhung von Literatur (Dichtung), Kultur und Sprache als Essenz des von den Deutschen propagierten „Europäischen“ ein Maß an Selbstbewusstsein und Widerständigkeit artikulierbar wurde, das von den Widrigkeiten des Besatzungsalltags eher gestärkt als geschwächt wurde. Diese Einsicht hat es der Kollaborationsforschung seit Längerem erleichtert, die Erfahrungen der Besetzten für die Analyse der Besatzungsherrschaft fruchtbar zu machen.279 Was die Schriftsteller in Weimar zusammenführte, illuminiert jene „Suche nach Legitimität“ in Regionen und Regionalitäten unterhalb oder außerhalb der desavouierten Staatlichkeit, die in den dreißiger und vierziger Jahren die Ethnifizierung des Nationalismus und die Rückkehr zum Konservatismus begleitete.280 Wie sich diese Situation im Besatzungsalltag niederschlug, sei an der Situation in den Niederlanden exemplifiziert. Von der Wehrmacht im Mai 1940 in wenigen Tagen überrannt und besetzt, wurde das Land Objekt eine Kulturoffensive. Christoph Sauer hat herausgearbeitet, wie Besatzungsherrschaft sprachlich inszeniert wird und wie der Vorgang dieser Inszenierung, der sich tagtäglich im Umgang miteinander abspielt, beim Besetzten Gefühle der Bedrohung konstant erneuert. Mit der Gleichschaltung des Kulturbereichs nach deutschem Muster errichtete man neue Verwaltungsstellen: „Kultuurkamer, Kultuuraad. Es gab schon die Stiftung Nederlands-Duitse Kultuurgemenshap. Alle wurden mit K geschrieben, obwohl die niederländische Schreibweise ‚cultuur‘ war, mit C. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, der einem Eingriff in die niederländische Sprache gleichkam. Wer den Besatzer-Diskurs nicht mitbuchstabierte, mußte mit dem Schlimmsten rechnen.“281 Natürlich ging das mit der Aufforderung an die Niederländer einher, mehr Deutsch zu lernen, wofür die niederländische Germanistik neben der Deutschen Akademie Lehrpersonal zur Verfügung stellte. Dem stand die Aufforderung zur Seite, den 279 Siehe die achtbändige, vom Bundesarchiv herausgegebene Serie zur deutschen Okkupationspolitik unter dem Titel Europa unterm Hakenkreuz, insbes. Okkupation und Kollaboration (1938–1945). Beiträge zu Konzeption und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik, hg. von Werner Röhr. Berlin/Heidelberg: Hüthig, 1994. Die kulturelle Komponente liefert weitere Argu� mente für István Deáks These von der relativ selbstständigen Politik der verbündeten und besetzten Länder (bis auf Polen und die baltischen Länder): István Deák, The Worst of Friends. ������������� Germany’s Al� lies in East Central Europe – Struggles for Regional Dominance and Ethnic Cleansing, 1938–1945, in: Territorial Revisionism and the Allies of Germany in the Second World War. Goals, Expectations, Practices, hg. von Marina Cattaruzza, Stefan Dyroff und Dieter Langewiesche. New York/Oxford: Berghahn, 2013, 17–29. 280 The War on Legitimacy in Politics and Culture 1936–1946, 12–18. 281 Christoph Sauer, Sprachpolitik und NS-Herrschaft. Zur Sprachanalyse des Nationalsozialismus als Besatzungsmacht in den Niederlanden 1940–1945, in: Sprache und Literatur 14 (1983), 80–99, hier 93.

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25 Kultur-Terror. Nieder­ländisches Propagandaplakat gegen Amerika als monströsen Bedroher europäischer Kultur, 1944. Autor: Leest Storm. (Die Inschrift evoziert eine Rettung, die die Europäer nicht wollen). In: Hoover Institution, Stanford Uni­versity, Plakatsammlung, NE 224

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Diskurs vom „neuen Europa“, wie Sauer formuliert, als „Kommunikationsangebot“ zu rezipieren und in Bewegung zu setzen, das heißt in Eigenaktivitäten umzusetzen. Der Inszenierung von Besatzungsherrschaft entsprach demnach nicht weniger eine Inszenierung des Besetztseins.282 Die Routine dieser Inszenierungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade darin die Keime für ein neues kulturelles Selbstbewusstsein lagen, das angesichts der schrumpfenden Machtbasis des Reiches wuchs und zu Widerstand wurde. Zur Inszenierungspraxis der Besatzungsmacht gehörte die Intention zu zeigen, dass sie in diese Rolle gedrängt worden sei. Sie versuchte, den Eindruck zu erwecken, „dass das Reich gezwungen worden sei, bestimmte Länder zu besetzen, um den Frieden wiederherzustellen, dass die Okkupation aufgrund strategischer, verkehrsmäßiger oder präventiver Rücksichten erfolgt sei. Es sollte der Anschein erweckt werden, dass das Reich ein Treuhandmandat erfülle, man stellte sich in der Rolle derjenigen vor, die die Befreiung von fremden Einflüssen und vom Schrecken des Krieges bringen würden. […] Ziel des Hitler-Reichs war nicht die Vereinheitlichung der Besatzungsmethoden, vielmehr stellte man sich auf eine Unterschiedlichkeit ein, die die eigentlichen Absichten verschleierte und die Interessen der Okkupanten so besser absicherte.“283 Die Ursprünge der jeweiligen Besatzungspolitik zu verschleiern, lag in der Praxis einer Kulturpolitik, die als Begegnungspolitik in Kunst und Wissenschaft nicht bestimmte Akteure, sondern die geistige Essenz deutscher Kultur als Quelle ihrer Tätigkeit angab. Sie trug nach außen den jeweiligen kulturellen Landesgewohnheiten Rechnung, ließ jedoch innerhalb der Deutschen Wissenschaftlichen Institute den Gleichtakt der Kulturmacht walten. Man berief sich gemeinsam mit dem ausländischen Publikum auf die Autonomie der Kultur, aber ihre Realisierung geschah auf dem Podium der deutschen Institute. Während sich die Selbstinszenierung der Besatzungsmacht im Westen Europas nach 1940 nur graduell von der Praxis im Ersten Weltkrieg unterschied, konstituierte sie sich im Osten, insbesondere in Polen und der Sowjetunion, unter Hitlers unerbittlich brutalem Kommando von vornherein in klarer Abgrenzung zur Herrschaft von Falkenhayns und Ludendorffs Armee.284 Der Begriff Kultur, der in vielerlei Variationen Verwendung fand, büßte mit dem 282 Eine weiterführende Analyse der Besatzungspraxis in: The War on Legitimacy in Politics and Culture 1936–1946, 149–151. 283 Czeslaw Madajczyk, Chaos, Systemhaftigkeit oder Systeme? Das Dritte Reich in der Phase der mi� litärischen Expansion, in: Deutschland und Europa in der Neuzeit, hg. von Ralph Melville u.  a. Stuttgart: Steiner, 1988, 931–954, hier 940. 284 Vejas Gabriel Liulevicius, The Languages of Occupation. Vocabularies of German Rule in Eastern Europe in the World Wars, in: Germans, Poland, and Colonial Expansion to the East. 1850 Through the Present, hg. von Robert L. Nelson. New York: Palgrave, 2009, 121–139.

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Überfall auf Polen 1939 die Assoziation mit der vormals praktizierten Besatzungspolitik als Kulturpolitik ein. Hitler eliminierte hier den Diskurs über Kultur, ob im Sinne von Hochkultur oder der Kultivierung des Landes und seiner Bevölkerung, aus der Planung und Verwaltung der eroberten polnischen und sowjetischen Gebiete. Er ließ keinen Zweifel daran, dass dieser Diskurs den Besetzten eine Aufwertung gewährte, die mit seinen Plänen absoluter Dominanz über den Osten Europas nicht vereinbar war. Die Ersetzung des Terminus Kultur durch den der Rasse ging mit seinem Ziel der physischen und mentalen Entleerung dieses „Raumes“ einher; durch die Begriffe von Raum und Lebensraum suchte er das bekämpfte und eroberte ‚Andere‘ von seiner menschlichen, kulturellen und historischen Essenz zu entleeren. So zumindest lautete die von ihm und Himmler verfolgte Leitlinie einer auf Eliminierung, Dezimierung und mentale Knechtung ganzer Völkerschaften gerichteten Eroberung, die es im Ersten Weltkrieg nicht gegeben hatte. Als Leitlinie konstituierte sie die Inszenierung der Besatzungsherrschaft als die einer Herrenrasse, die sich so weit wie möglich jeder Anerkennung der Besetzten enthalten sollte, ein weitgehend koloniales Verhaltensmuster. Den Deutschen, die ihre Dienstverpflichtung unter Polen, Russen, Weißrussen, Juden und Ukrainern absolvierten, prägte es sich tief ein. Die Schriftstellerin Melita Maschmann assoziierte es in ihrem Bekenntnis- und Erinnerungsbuch Fazit mit der Überquerung der deutsch-polnischen Grenze. Mit dieser Überquerung wurde der einzelne Deutsche Repräsentant der Herrenrasse, ob er die Rolle annahm oder nicht.285 Diesem Verhaltensmuster vorzuarbeiten, setzte die NS-Führung eine ganze Batterie sprachlicher Klischees in Bewegung, die mit der Kennzeichnung der Polen als „Pack“, „Gesindel“, „Partisanen“ oder „Banditen“ und der Russen als „Untermenschen“ jegliche kulturelle Nähe ausschalten sollte. Die Grenzen einer solchen mentalen Distanzierungsstrategie zeigten sich, sobald sie die Volksdeutschen dem Herrenvolk einverleiben sollte, die, häufig polnisch sprechend, im Warthegau und in den östlichen Regionen gerade nicht in Distanz zu den Polen lebten. Nur in den baltischen Regionen schränkte Alfred Rosenberg, der diese Gebiete im Reichskommissariat Ostland verwaltete, die sprachliche Verächtlichmachung der Besetzten ein. In seiner Herkunftslandschaft Estland und Lettland, die in der Zwischenkriegszeit dank ihrer kulturellen Ambitionen und der vom Völkerbund anerkannten Festigung kultureller Nationalitätenpolitik ein besonderes Profil gewonnen hatte, ließ er eine etwas liberalere Kulturpolitik zu, welche die Weiterführung der Universitäten Dorpat und Riga einschloss 285 Melita Maschmann, Fazit. Kein Rechtfertigungsversuch. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1963, 75 f.; David Furber, Near as Far in the Colonies. The Nazi Occupation of Poland, in: International History Review 26 (2004), 541–579.

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sowie eine „‚möglichst weitherzige‘ Zulassung von Theatern, Kinos und Volkstumsveranstaltungen“. Dem vom SD konstatierten „Theaterhunger der estnischen Bevölkerung“ entsprach der Anstieg der Inszenierungen an den estnischen Berufstheatern von 167 im Spieljahr 1938/39 auf 174 im Spieljahr 1941/42.286 In dieser Differenzierung der Besatzungssituation stellt die Kultur, unter einer wenig koordinierten Zensur, einen wichtigen Gradmesser dar, der natürlich nicht von den antijüdischen Gewaltexzessen der auch in diesen Gebieten aktiven Einsatzgruppen ablenken kann, am wenigsten von dem furchtbaren Los, das Riga, das eine große jüdische Gemeinde umfasst hatte, als einem Bestimmungsort grausamer Vernichtungsaktionen zukam. Von einer wenig koordinierten Zensur zu sprechen, ist allerdings nur eine milde Umschreibung der chaotischen Verwaltung von Rosenbergs Reichskommissariat Ostland, die den Einheimischen eine gewisse Bewegungsfreiheit ließ. Durch Rosenbergs zeitweiliges Einschwenken auf Hitlers unerbittlichen Unterdrückungskurs wurde sie nur vorübergehend beeinträchtigt, sodass ein Historiker resümierte: „In den besetzten baltischen Gebieten hat die deutsche Reichsführung das ihr entgegengebrachte Vertrauen weniger durch ihre Härte als durch die Plan- und Ziellosigkeit verspielt, und dadurch, dass die Bevölkerung über ihre Zukunft im Unklaren gelassen wurde.“287 Selbst Hans Frank, der brutale Statthalter des Generalgouvernements, erhoffte im Frühjahr 1940 eine Zeit lang, die Polen in eine flexible Schul- und Kirchenpolitik einbinden zu können, bis Hitler, auch nach einem zweiten Vorstoß von Frank, die „schärfste antipolnische Tendenz“ dekretierte.288 Himmlers berüchtigte Denkschrift über die Fremdvölkischen im Osten vom Mai 1940 hatte die Vernichtung der polnischen Kultur zum Ziel; den Fremdvölkischen wurde jede höhere Schulbildung entzogen, Rechnen sollte nur bis 500, Lesen überhaupt nicht gelehrt werden. Kultur blieb, wie Himmler im Schlusssatz resümierte, den Deutschen vorbehalten. Ihnen werde die Bevölkerung „als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen“; sie werde „bei eigener Kulturlosigkeit unter der strengen, konsequenten und gerechten Leitung des deutschen Volkes berufen sein, an dessen ewigen Kulturtaten und Bauwerken mitzuarbeiten und diese, was die Menge der groben Arbeit anlangt, vielleicht erst ermöglichen.“289 286 H.  D. Handrack, Das Reichskommissariat Ostland. Die Kulturpolitik der deutschen Verwaltung zwischen Autonomie und Gleichschaltung 1941–1944. Hann. Münden: Gauke, 1981, 203. 287 Ebd., 214. 288 Tagebucheintragung von Hans Frank, 30.5.1940, zit. nach Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reiches gegenüber dem Generalgouvernement, 1939–1945. Diss. Frankfurt a. M. 1969. 289 Denkschrift Himmlers über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten (Mai 1940), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5 (1957), 194–198, hier 198.

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Auch dort, wo sich der von Hans Hinkel stolz beschworene Kulturapparat des Reiches mitsamt der Unterstützung durch die KdF-Organisation ohne Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung entfaltete, arbeitete er der Besatzungsherrschaft zu. Seine Breitenwirkung unter Soldaten und deutschem Besatzungspersonal verdankte sich zumeist der Distanz zur Zivilbevölkerung. Angesichts der Beschwernisse des Dienstes im Osten, der sich gewaltig von den ursprünglichen Versprechungen unterschied, kam Büchern und Veranstaltungen eine unverhoffte Bedeutung zu; „der beklagten ‚Kulturlosigkeit‘ Osteuropas hielt man die eigenen Angebote entgegen, die Orientierung boten und gleichzeitig die Überlegenheit über die Einheimischen demonstrierten.“290 Sie färbten und veredelten die Gewalt der Herrschenden im Gebrauch von Kultur,291 eine koloniale Praxis, die ihre Steigerung in den Theater- und Musikveranstaltungen erfuhren, die Generalgouverneur Hans Frank in verschiedenen polnischen Städten für das deutsche Besatzungspersonal abhalten ließ. Selbst in Auschwitz fanden regelmäßig Kulturabende mit Musik, Tanz und Gesang im „Kameradschaftsheim der Waffen-SS“ statt, beispielsweise im November 1943, als das Theater Mährisch-Ostrau mit Max Halbes Schauspiel „Der Strom“, das Opernhaus Kattowitz mit Walter Kollos Operette „Die Frau ohne Kuß“ und die Kattowitzer Symphoniker mit „Beschwingter Musik“ auftraten. Während Tausende von neu angekommenen Juden aus Italien, Ungarn und Frankreich für die Gaskammern selektiert wurden, gab es am 23. Mai 1944 einen „Wiener Abend“ mit „Künstlern der Staatsoper, des Burgtheaters, des deutschen Volkstheaters Wien, des Zentraltheaters Dresden und des Opernhauses Breslau“.292 Was die Rolle der Musik in Konzentationslagern, speziell in Auschwitz angeht, ist damit allerdings nur eine Form der Ausübung erfasst. Ebenso erwähnenswert ist die Tatsache, dass im Lager, zunächst von der SS verordnet, mehrere Häftlingsorchester existierten, die Unterhaltungsmusik ebenso wie ethnische und klassische Musik spielten und damit das Häftlingsdasein einen Moment lang erhellten, zugleich aber häufig auch verdunkelten. Zumeist als Paradigma für die Schizophrenie kultureller Praktiken aufseiten der Verfolger und der Opfer erörtert, muss diese Parallele dort Erwähnung finden, wo der Gebrauch künstlerisch-kultureller Formen in die Radikalisierung der Barbarei integriert war. Unübertroffen ist der Zynismus, mit dem die Offiziellen die Tatsache, dass im Konzentrationslager Theresienstadt von den Häftlingen zwi290 Christian Hartmann u. a., Der deutsche Krieg im Osten 1941–144. Facetten einer Grenzüberschrei� tung. München: Oldenbourg, 2009, 158. 291 Michael Geyer, Krieg als Gesellschaftspolitik. Anmerkungen zu neueren Arbeiten über das Dritte Reich im Zweiten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 26 (1986), 557–601, hier 578. 292 Ernst Klee, Heitere Stunden in Auschwitz. Wie deutsche Künstler ihre mordenden Landsleute im besetzten Polen bei Laune hielten, in: Die Zeit, Nr. 5 vom 25.1.2007, 90.

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26 Uta von Naumburg thront über zwei kämpfenden deutschen Soldaten. Skizze vom Kultureinsatz im Zweiten Weltkrieg, 1944. In: Leipziger Illustrierte Zeitung. Sonderausgabe 1944. Der europäische Mensch, S. 30. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek, 46/595

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schen Ende 1941 und 1944 unter den widrigsten Umständen Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen organisiert wurden, der internationalen Öffentlichkeit zum Beweis dafür ausgaben, wie zivil und human Konzentrationslager seien.293 Noch im Juni 1944 wurde einer Delegation des Roten Kreuzes der Eindruck einer „normalen“ Stadt mit Geschäften und Cafés zu erwecken versucht. Die künstlerischen und musikalischen Hervorbringungen, mit der tschechische und deutsche Juden im Angesicht der Vernichtung ihre Menschlichkeit, ihre Kultur zu bewahren suchten, wurde zum Beweis dafür verwendet, dass der Nationalsozialismus der Kultur und ihren Trägern Achtung zolle. Angesichts der entsetzlichen Brutalitäten, die dieser Krieg zum Alltag machte, war die Aussage, dass er die europäische Kultur endgültig zerstöre, weit verbreitet und durchaus realistisch. Diesmal hatten die europäischen Länder mehr Grund als im Ersten Weltkrieg, die Schuld bei Deutschland zu suchen. Mit der Verfolgung der liberalen und linken Kultur der Weimarer Republik, der antijüdischen und antiaufklärerischen Gewaltideologie, dem Terror gegen Andersdenkende sowie der systematischen Vernichtung von Millionen Juden und der Kolonisierung des östlichen Europa zog das NS-Regime das Land aus der Zone der Zivilisation in die der Barbarei. Allerdings greift es zu kurz, den Verrat an der Kultur nur mit dem Argument zu brandmarken, dass das Dritte Reich bei diesem Übertritt in die Barbarei die Kultur zurückließ. Sein Verrat an der Kultur war viel verwickelter, viel teuflischer: Es zog die Kultur in diese Zone mit hinüber. Das war ein Unterschied zu der Situation im Ersten Weltkrieg (und entsprang einer der wirksameren ‚Lehren‘, die das Regime aus dem vorhergehenden Krieg zog), als die Regierungen angesichts des Massensterbens von der Behauptung, die Kultur zu verteidigen, schließlich abließen und mit Kunstausstellungen und Konzerten bei den Neutralen nur ihr Gesicht als Kulturstaaten zu wahren suchten. Bei der Durchführung des neuen Krieges setzte das NS-Regime alles daran, mit der ständigen Einspeisung von Unterhaltungskultur in den Soldaten- und Zivilistenalltag sowie der Aufrechterhaltung, ja stärkeren Förderung der Massenpartizipation an Theater, Film und Dichtung „die Kultur“ zu einem Pegel der Normalität zu machen, damit sowohl den Begriff von Kultur wie den von Normalität systematisch verzerrend. Bei der Herstellung immer neuer, immer erschreckenderer Selbstverständlichkeiten der Kolonisierung leistete die Auffassung vom unpolitischen Charakter von Hochund Unterhaltungskultur entscheidende Hilfestellung. Das vermochte keineswegs die ganze Kultur als gesellschaftliche Praxis und als Reservoir geistig293 Theatrical Performance during the Holocaust. Texts, Documents, Memoirs, hg. von Rebecca Rovit und Alvin Goldfarb. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1999.

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moralischer Freiheit zu erfassen. In den Flugblättern der Weißen Rose bezogen die Geschwister Scholl 1942/43 ihre Argumente aus der Tradition Schillers, Goethes, der deutschen und griechischen Klassik und forderten sogar zur Sabotage in allen Veranstaltungen kultureller Art auf, die das ‚Ansehen‘ der Faschisten im Volke heben könnten. Sie stellten das „Kulturvolk“ in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu der bestialischen Ermordung von Hunderttausenden von Juden. Aber das Regime hatte Kultur so stark auf ihre Performativität und Konsumierbarkeit hin organisiert, dass Kultur einen eigenständigen Appell an Moral und Freiheit nur noch im Privaten ermöglichte. Was Goethe betraf, so kam er auch in Auschwitz im kleinen Saal des Kameradschaftsheims der Waffen-SS zu Wort, als am 15. Februar 1943 ein Abend unter dem Motto „Goethe – ernst und heiter“ veranstaltet wurde.294 Demgegenüber machte es das NS-Regime Zeitgenossen in den besetzten Ländern nicht allzu schwer, die Kehrseite seiner scheinbar förderlichen Einstellung zu Kunst und Kultur zu erkennen. Die mit den Invasionen der Nachbarländer einhergehende Plünderungspolitik gegenüber den Kunstschätzen, Bibliotheken und Archiven richtete sich, wie erwähnt, stark auf Frankreich, ging aber am rücksichtslosesten in Polen, Litauen und der Sowjetunion, insbesondere der Ukraine, vor.295 Obwohl im Hintergrund agierend, sorgte das für die nationalsozialistische Herrschaft typische Kompetenzgerangel, bei dem sich der Einsatzstab Rosenberg besonders hervortat, dafür, dass Aktionen nicht unverborgen blieben (und gelegentlich durch geschickte Manöver von Museumskuratoren abgewendet werden konnten). Nur im Westen wurden hin und wieder legale Käufe getätigt und scheinlegale Begründungen, etwa die „Rückführung deutschen Kultureigentums“, geliefert. Immerhin zögerten Hitler, der die besten Gemälde für das geplante Führermuseum in Linz beanspruchte, und Göring, der seine Residenz Karinhall ausstaffierte, den Louvre auszubeuten, weil sie einen Streik der Museumsleute und daraufhin Skandalberichte in der Weltpresse scheuten. Im Einzelnen, aber auch insgesamt lässt sich das Vorgehen zudem nicht von der physischen Eliminierung der Juden in den Todeslagern abspalten: Es ging mit der von der Bevölkerung im Alltag vorgenommenen Bereicherung am Besitz der Juden parallel – hier unter dem Machtanspruch

294 Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt: Fischer, 2007, 6. 295 Lynn H. Nicholas, The Rape of Europe. The Fate of Europe’s Treasures in the Third Reich and in the Second World War. New York: Knopf, 1994; Jakob Kurz, Kunstraub in Europa 1938–1945. Ham� burg: Facta, 1989; Jonathan Petropoulos, Art as Politics in the Third Reich.

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des Staates die Bereicherung seiner Funktionäre und Sammlungen durch jüdischen Kunstbesitz in den umliegenden Ländern.296 Als dann die Bomben auf deutsche Museen fielen, galt die Aufmerksamkeit dem Schutz der Sammlungen, das Raubgut eingeschlossen. Zahlreiche Depots wurden angelegt, darunter einige von gewaltigem Ausmaß in Salzminen und Bergwerken. Michelangelos Skulptur „Brügger Madonna“ wurde in einer ehemaligen Salzmine bei Altaussee im Salzkammergut untergebracht, Jan van Eycks „Genter Altar“ auf Schloss Neuschwanstein. Die Nachgeschichte dauert bis heute an, nicht zuletzt da sich schließlich auch die Sowjetunion in größerem Maße an dem Raubzug beteiligte.297 Zu den schlimmsten Erbschaften des Dritten Reiches auf dem Gebiet von Kunst und Kultur gehört diese Nachgeschichte. Mit den unendlich komplizierten Problemen der Restitution, den diplomatischen Verwicklungen und der Kompromittierung des Kunsthandels warf sie nach 1945 immer wieder die Frage auf, ob eine auf Austausch und gegenseitigem Vertrauen beruhende auswärtige Kulturpolitik von Deutschland überhaupt geführt werden könne.

Österreich: Anschluss und Abschluss Schließlich das Ende der großdeutschen Berg- und Talfahrt: die endgültige politische Separierung Österreichs aus dem deutschen Nationalverband 1945. Zwar wirkten die Alliierten mit dem Satz der Moskauer Erklärung von 1943, dass Österreich das erste Opfer der nationalsozialistischen Expansion darstelle, propagandistisch auf diese Loslösung hin, jedoch bildete die Separierung vor allem einen Schlussakt innerdeutscher Politik. Die relativ bereitwillige Hinnahme dieser Trennung entsprang der Einsicht, dass die nationalsozialistische Politik gescheitert war und für Österreicher ihre Attraktivität verloren hatte. Das NS-Regime wurde, wie es der österreichische Historiker Anton Pelinka nüchtern resümiert hat, von den Parteien und Verbänden beerbt, die, wie schon 1918, in ein Vakuum frei gewordener Strukturen in Wirtschaft und Politik vorstießen, diesmal „in das, was als ‚deutsches Eigentum‘ auf einmal herrenlos war – in wirtschaftlicher und auch in politischer Hinsicht. Die Parteien und die Verbände waren und sind die Erben der Habsburger und des National­sozia­

296 Raub und Restitution. „Arisierung“ und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, hg. von Constantin Goschler und Philipp Ther. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2003. 297 The Spoils of War. World War II and Its Aftermath. The Loss, Reappearance, and Recovery of Cul� tural Property, hg. von Elizabeth Simpson. New York: Abrams, 1997.

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lismus.“298 Innerhalb dieser Kontinuitäten, die weder die deutschen noch die österreichischen Nationalsozialisten in den wenigen Jahren zwischen „Anschluss“ 1938 und Kriegsniederlage 1945 zerstören konnten, geschah die Wiederaufnahme des Konzepts von Österreich als dem „anderen Staat“, den Bismarck 1866 vom Reich ausschloss, aber zugleich geschützt wissen wollte, den die Sieger des Ersten Weltkrieges 1919 mit dem Anschlussverbot aus dem Reich heraushielten und der sich 1933–1938 im autoritären Ständestaat mit einer von Verboten der NSDAP und der Sozialisten untermauerten politischen und kulturellen Grenzziehung zu behaupten versuchte. Das Konzept politischer Eigenstaatlichkeit, von den Alliierten unter Besatzungsaufsicht etabliert, erfuhr mit dem Staatsvertrag 1955 seine Realisierung in der Zweiten Republik, die zunächst in der Distanzierung vom Nationalsozialismus ihre Eigenständigkeit demonstrierte, bis sie dann mit dem Skandal um die NS-Vergangenheit von Bundespräsident Kurt Waldheim in den achtziger Jahren die einst erstrebte Zugehörigkeit zum Dritten Reich in ihre – zwiespältig gebliebene – Identität aufnahm. Bereits aus an den Umständen des Kriegsendes 1945 in Wien läßt lässt sich ablesen, dass die erneute Verselbstständigung Österreichs durch die Tatsache, dass sie nicht von einem Verbot der Vereinigung mit Deutschland begleitet wurde, politische Tragfähigkeit besaß, dass sie aber im kulturellen Bereich weiterhin die zwiefache Orientierung im österreichischen und deutschen Kulturraum zur Grundlage hatte. Als sich am 27. April 1945 die provisorische österreichische Staatsregierung konstituierte, geschah dies unter dem Sozialdemokraten Karl Renner, der 1918 widerwillig die Erste Republik mitgegründet, aber 1938, von den großdeutschen Gefühlen mitgerissen, den „Anschluss“ gutgeheißen hatte. Und es geschah nicht ohne ein festliches, der zerstörten Stadt vom sowjetischen Stadtkommandanten verordnetes Konzert, in dem Clemens Krauss die Wiener Philharmoniker in einem symbolischen Programm dirigierte und Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre, Schuberts „Unvollendete“ und Tschaikowskis Fünfte Sinfonie zur Aufführung brachte. Wenige Wochen zuvor hatte Krauss, dem Hitlers Wohlwollen gewisse Freiheiten erlaubt hatte, mit den Philharmonikern, unter denen mehr als ein Drittel NSDAP-Mitglieder waren, in einem ‚letzten‘ Konzert Wagners Tannhäuser-Ouvertüre dirigiert. Wie überall im Reich waren in Wien im Oktober 1944 die Theater geschlossen worden, aber die Theater-und Musikbesessenheit hatte Darsteller und Publikum zusammengeführt, und die Unterhaltungsindustrie arbeitete weiter, allem voran Willi Forst mit der Herstellung Wiener Filme, die 298 Anton Pelinka, Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa. Wien: Ueberreuter, 1990, 33.

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auch nach 1945 in Österreich und Deutschland populär blieben. Das alles gehörte zu der riesigen Kulturmaschinerie des Krieges, die von Goebbels immer wieder angespornt und von den KdF-Organisatoren improvisiert wurde. Sie speiste sich auch in den „Donau- und Alpenreichsgauen“, wie Österreich nach der vorübergehenden Benennung als „Ostmark“ offiziell hieß, stark aus den regionalen und lokalen Quellen, die darin ihren Beitrag zur kämpfenden Volksgemeinschaft sahen. Darin unterschieden sich Österreicher nicht von anderen Regionen und Gauen des Dritten Reiches, so wenig wie in ihrem Wehrmachtsdienst, bei dem die jungen Männer ihre Akzeptanz in dem größeren nationalen Rahmen erfuhren, in dem sie, trotz mancher Hänseleien, dank ihrer Musikalität und ihres Humors durchaus geschätzt wurden.299 Nachdem die Komplementarität deutscher und österreichischer Kulturentwicklungen mitsamt ihrer politischen Nutzung im Namen deutscher Kultur in diesem Band zu einem wichtigen Thema geworden ist, kann die Vorgeschichte der zwiespältigen Trennung von 1945 nicht übergangen werden, die zur Folge hatte, dass der Einschnitt vor allem politisch, weniger kulturell zu einem Schlussakt wurde. Kultur spielte zunächst für die Separierung und ihre Argumente kaum eine Rolle. Selbst die völkische Zuordnung bzw. die Codierung der Zugehörigkeit im Begriff des deutschen Volkstums brach mit der politischen Separierung 1945 nicht ab. Zu intensiv hatte die Ethnifizierung der Nationalismen in den dreißiger Jahren auch das kulturelle Zugehörigkeits­ denken beherrscht; bezeichnenderweise waren Begriff und Wirklichkeit des Völ­kischen im deutschen Sprachraum zuerst von österreichischen Deutsch­ nationalen gegen die dynastische Staatsauffassung der Habsburgermonarchie entwickelt worden. Indem die Funktionsträger des Ständestaates dieses „Völkische“ als eine Art ideologisches trojanisches Pferd der Nationalsozialisten bekämpften und mit der zuerst im Ersten Weltkrieg unter anderem von Hofmannsthal entwickelten und nun klerikal und autoritär zugespitzten Österreich-Ideologie zu verdrängen suchten, gingen sie gegen eine machtvolle Kulturäußerung der eigenen Bevölkerung an. Sprach man vom trojanischen Pferd der Nationalsozialisten, war jedermann klar, dass in diesem Falle die Trojaner selbst mit daran bauten. Gegen „das alte Spiel der Gegenreformation“, wie es der Salzburger Historiker Ernst Hanisch unter Hinweis auf das obrigkeitliche Zusammenwirken von Staat und Kirche genannt hat, beriefen sich die nach 1933 illegal gewordenen Nationalsozialisten auf die revolutionäre Tradition der 299 Thomas R. Grischany, Austrians into German Soldiers. The Integrative Impact of Wehrmacht Service on Austrian Soldiers during World War II, in: Austrian History Yearbook 38 (2007), 160–178; Peter Taler, “Germans” and “Austrians” in World War II. Military History and National Identity (Working Papers in Austrian Studies 1999:1, Center for Austrian Studies, University of Minnesota).

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Bauernkriege; ihnen schlossen sich viele der Jüngeren an, die in den weißen Stutzen und kurzen Lederhosen revolutionären Mut zur Schau trugen und dabei die Volkskultur der Provinzen gegen Klerikale, Juden und vor allem gegen Wien zum aktuellen Politikum machten.300 Nach der Machtübernahme 1938 fiel es den Nationalsozialisten nicht schwer, diese kulturelle Selbstermächtigung der Provinzen für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Sie verschafften den traditionellen Provinzen Salzburg, Steiermark, Tirol, Kärnten, Nieder- und Oberösterreich (Niederdonau und Oberdonau) als Gauen durch die Reduzierung Wiens zu einem Reichsgau neben den anderen eine Art ‚Reichsunmittelbarkeit‘, was Hitler in die Worte fasste: „Jeder Gau ist glücklich, sein eigener Herr zu sein“ (wobei die Wiener Bürokratie nun von der Berlins abgelöst wurde, die keineswegs einfacher zu handhaben war).301 Hierbei mobilisierten die Nationalsozialisten die deutsche Tradition kultureller Zusammengehörigkeit und Gleichheit aus regionaler Authentizität – als Bayer, Rheinländer oder Sachse, und nun (wieder) als Tiroler und Steiermärker. Allerdings war ihre Herrschaft zu kurz und die regionale Ausprägung des Völkischen zu gewichtig, als dass die darunterliegende Tradition des Föderalismus nicht auch für den Bau eines nachnationalsozialistischen Österreichs verwertbar blieb, wenngleich mit einem Nebeneingang zum Gebäude deutscher Kultur, mit dem man sich vor der Re-Isolierung in den Provinzen bewahrte. Dazu sei noch einmal Ernst Hanisch zitiert: „So prekär das österreichische Nationalgefühl auch immer war, zwischen dem Pol ‚deutsch‘ und dem Pol ‚österreichisch‘ oszillierend, das Länderbewußtsein blieb in all den Brüchen relativ unbeschädigt und paßte sich dem jeweiligen politischen Regime an. 1918 wie 1945 bildeten die Länder wichtige Akteure der Staatsbildung.“302 Insofern die Länder mit dem rüstungsbedingten Wirtschaftsboom und Modernisierungsprozess nach dem Anschluss auch nach 1945 ihr Gewicht gegen Wien bewahrten (das dann durch die Abschnürung seiner traditionellen Kultur- und Handelsbeziehungen im Donauraum zusätzlich benachteiligt war), ist es kaum verwunderlich, dass jener Nebeneingang, obgleich wohl mehr den Regionen, bis heute seinen Nutzwert erhalten hat. So stark wirkte die durch die Verbote im Ständestaat animierte Dynamisierung des Völkischen in den Provinzen, dass sich das NS-Regime gegenüber Österreich kaum dem Einwand stellen musste, den selbst seine eigenen Repräsentanten äußerten, dass seine Kulturpolitik für den Export über die Grenzen 300 Ernst Hanisch, Peripherie und Zentrum. Die Entprovinzialisierung während der NS-Herrschaft in Österreich, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich. München: Oldenbourg, 1996, 329–334, hier 332. 301 Ebd., 331. 302 Ebd.

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wenig geeignet sei. Anders als im Falle der Nachbarregionen Elsass und Luxemburg, die sich diesem Export nur widerwillig unterwarfen, besaß die völkische, antisemitische Kulturpolitik auch hier ihre Wurzeln, wurde von einer Vielzahl alpenländischer Schriftsteller in feierlich-sentimentaler Prosa oder in dialektgetragenen Theateraufführungen konsumierbar gemacht und von NSnahen Organisationen zum Machtinstrument völkischen Bekennertums erhöht.303 Eine kurze Zeit lang, zumindest bis 1935/36, sah sich Berlin allerdings gezwungen, die Regeln auswärtiger Kulturpolitik auch hier anzulegen, vor allem nachdem sich Österreich durch Kulturabkommen mit Italien, Ungarn und Frankreich kulturpolitische Souveränität verschafft hatte. Immerhin hatte das austrofaschistische Regime Hitlers Deutschland mit der Niederschlagung des NS-Putsches 1934 eine erste außenpolitische Niederlage zugefügt, wenngleich dabei Kanzler Engelbert Dollfuß einem Attentat der Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Mit offiziellen Maßnahmen forcierte das Dritte Reich eine Art Österreich-Boykott, der mit der Tausend-Mark-Sperre deutsche Touristen vom Nachbarland fernhielt. Das Auswärtige Amt postulierte, in Zukunft „ein gemeinsames Auftreten der beiden Staaten anzustreben“, was hieß, dass man die in den Kulturabkommen eingeräumten Rechte beim Studenten- und Wissenschaftleraustausch, bei Ausstellungen, Filmen und Theateraustausch ebenfalls für Deutschland in Anspruch nehmen wollte.304 Zwar stipulierte das Abkommen zwischen den Kanzlern Hitler und Kurt von Schuschnigg 1936 eine Anerkennung Österreichs als des anderen deutschen Staates, aber es war eben auch der andere deutsche Staat. Bereits die Einsetzung des deutsch-österreichischen Ausschusses für kulturelle Angelegenheiten signalisierte 1936 ein Nachgeben Wiens in Richtung auf die deutsche Prärogative in der Kulturpolitik nach außen. Längst hatte der deutsche Botschafter Franz von Papen in Wien den illegalen Nationalsozialisten mit beträchtlichen Finanzmitteln bei ihrer kulturpolitischen Subversion unter die Arme gegriffen. Der gemeinsame Kampf galt der Zerstörung des Anspruchs des Ständestaates, die „geistig kulturelle ‚übernationale‘ Mission des Österreichertums“ als „die deutsche Sendung und das Österreichertum als das einzig echte und wahre Deutschtum im Gegensatz zu dem entarteten und seiner eigensten Bestimmung untreu gewordenen Reichsdeutschtum“ durchzusetzen.305 303 Margit Steiger, „… mit den makellosen Waffen des Geistes …“ Nationalsozialismus in Literatur und Journalismus, in: Die veruntreute Wahrheit. Hitlers Propagandisten in Österreich ’38, hg. von Oliver Rathkolb, Wolfgang Duchkowitsch und Fritz Hausjell. Salzburg: Müller, 1988, 293–306. 304 Karl Megerle, Aufz. betreffend kulturelle Beziehungen zwischen Reich und Österreich, 2.9.1936, Bundessarchiv 49.01, Nr. 673, zit. nach Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf, 327. 305 Franz von Papen an das Auswärtige Amt, 16.6.1936, Anforderung für kulturpolitische Zwecke, 16.6.1936, Politisches Archiv des AA, Kult. Gen.  5, adh. IV, Bd.  1, zit. nach Klaus Amann, Der

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Einen Moment lang gewann nach 1933 der Anspruch Österreichs, ein besserer, das heißt nichtnationalsozialistischer deutscher Staat zu sein, mit den erwähnten Kulturabkommen internationale Sanktionierung – so lange Mussolini nicht die Annäherung an Hitler suchte. Das geschah 1936. Danach erschien der Ständestaat mehr und mehr nur noch als ein Hindernis bei dem Marsch auf einen übergreifenden deutschen Staat. Seine Chance, der bessere deutsche Staat zu werden, hatte er allerdings mit dem blutigen Kampf gegen die sozialistische Linke bereits 1934 verspielt. Nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland hatte die Wiener Arbeiter-Zeitung im April 1933 hoffnungsvoll davon gesprochen, die von Hitler vertriebenen Künstler und Schriftsteller aufzunehmen: „Nichts wäre leichter, als dass Österreich diesen Reichtum, der von Deutschland abgelenkt wird, zu sich herüberleite. Im heutigen Österreich fänden sie keine Schwierigkeiten, sich einzuleben, alle diese deutschen Gelehrten und deutschen Künstler, die jetzt heimatlos geworden sind und eine Stätte für ihre Betätigung suchen.[…] Österreich wäre imstande, jetzt ein geistiges Zentrum für das Deutschtum, ein Weimar dieser Epoche zu werden. Verlagsanstalten könnten hier erstehen, weil ja der mächtige Buchverlagshandel im Reiche drüben erwürgt, zerschlagen worden ist.[…] Jetzt wären die Möglichkeiten für Musik, Theater, Film und alle anderen Künste ungleich umfassender: Wien könnte die Kunst- und Theaterstadt werden, von der man jetzt nur – redet.“306 Eine noble Vision, die, wie ein möglichweise vom Sozialistenführer Otto Bauer verfasster Artikel im Oktober 1933 unter dem Titel „Österreichs Mission“ bestätigte, die um 1933 wiederbelebte Idee von den zwei Deutschland auf Österreich anwandte und Österreich als das bessere Deutschland in den Blick nahm.307 Damit wurde zugleich ein Maßstab für die Begrenztheit der Österreich-Ideologie geliefert, wenn sie ohne die linke Intelligenz, ohne die Juden als Autoren und Publikum, ohne Wien als Metropole moderner Kultur durchgesetzt wurde. Die Verdrängung solcher Hoffnungen begann 1933, intensivierte sich mit dem Verbot der Sozialdemokraten 1934 und dem Kulturabkommen 1936 mit seinem rabiaten Antisemitismus und nahm mit dem Einmarsch der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. Institutionelle und bewußtseinsge� schichtliche Aspekte. Frankfurt: Athenäum, 1988, 95. Dort eine detaillierte Aufarbeitung der NSKulturpolitik in Österreich. 306 Arbeiter-Zeitung vom 23.4.1933, zit. nach Gerhard Renner, „Hitler-Eid für österreichische Schrift� steller?“ Über österreichische Schriftstellerorganisationen der dreißiger Jahre, in: Österreichische Li� teratur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse, Institutionelle Veränderungen, Fallstudien, hg. von Klaus Amann und Albert Berger. Wien/Köln/Graz: Böhlau, 1985, 150–163, hier 160 f. 307 Der Artikel „Österreichs Mission“ erschien ungezeichnet in der Sonntagsbeilage der Arbeiter-Zeitung vom 15.10.1933. Für die Autorschaft von Otto Bauer gibt Karl Dietrich Erdmann plausible Gründe, vgl. ders., Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte. Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk? Zürich: Manesse, 1989, 78 f.

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deutschen Truppen und Gestapoeinheiten 1938 brutalste Formen an. Kaum überraschend, dass ein neuer Anlauf, ein politisch selbstständiges Österreich zu schaffen, mit Kriegsende zumindest auf der Versöhnung von Sozialisten und Christlich-Sozialen aufbauen konnte. Allerdings verdrängten ihre Repräsentanten mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auch den bedeutenden Anteil der Juden an der Schaffung der Kulturmacht Österreich, deren Eigenprofil nun von den Wiener Ministerien (wiederum) zum Kern offizieller Kulturpolitik gemacht wurde.308 Noch kürzer, obwohl ungleich lautstärker und theatralischer war der Moment der Euphorie, als die vom Ständestaat mühsam gezügelten Verlust- und Verbotserfahrungen in den Märzwochen 1938 ihr Ventil fanden und einem Spektakel der Volksermächtigung Raum gaben, wie nur je eines in der Geschichte nationaler Vereinigungen inszeniert worden ist. „Österreich ist frei“ war die paradoxe Parole. So unerwartet intensiv und flächendeckend rollten die Feiern der Vereinigung mit dem Reich über Wien und die Provinzen hinweg, dass, wie immer man die Drohungen und Eingriffe von deutscher Seite sowie den Einmarsch der Wehrmacht am 12. März einschätzt, sich für die Beschreibung des Spektakels ein psychologischer Begriff aufdrängt, der anlässlich einer späteren Vereinigung zweier deutschsprachiger Bevölkerungen aufseiten der zuvor ‚Ausgeschlossenen‘ gebraucht und belegt worden ist: die Lösung eines Gefühlsstaus.309 Insofern diese Äußerungsform die Kürze und Theatralik der historischen Vorgänge als Massenerscheinung erläutert, ist er auf beide Großereignisse 1938 und 1989 anwendbar, ganz abgesehen davon, dass zu den Nachwirkungen in beiden Fällen eine schnelle Ernüchterung und der Vorwurf der Kolonialisierung durch den Stärkeren gehört und dass sich jeweils die Anführer um die Hoffnung betrogen sahen, das Neue wirklich anführen zu können. Der Zugang zu dieser „Befreiung“ jedoch war in Österreich nicht revolutionär wie in der DDR 1989, vielmehr ein Abreagieren von Gefühlsgewittern zwischen politischen Erlösungshoffnungen und brutalen Attacken auf das Böse, auf „die Volksverräter und Neinsager“, womit vor allem die Juden gemeint waren.310 Wenn der Begriff des Revolutionären Anwendung gefunden hat, so geschah das ironischerweise für die dem Anschluss folgenden brutalen antisemitischen Säuberungsaktionen des Kulturbetriebes durch österreichische Nationalsozialisten – als „pseudorevolutionäre Machtübernahme“, die der Wiener Historiker Oliver Rathkolb in dieser Form erläutert hat: „Die ‚nationalsozialis308 Steven Beller, Is there a Jewish Aspect to Modern Austrian Identity?, in: Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Hanni Mittelmann und Armin A. Wallas. Tübingen: Niemeyer, 2001, 43–52. 309 Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Berlin: Argon, 1990. 310 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, 346.

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tische Revolution‘ ist eine in erster Linie rassistische, die Kulturschaffende jüdischer Herkunft mit ganz wenigen Ausnahmen aus dem Kulturproduktionsprozeß ausklammerte und in weiterer Konsequenz auch verfolgte, vertrieb und schließlich auf das brutalste auch physisch liquidierte.“311 Während sich 1934 angesichts der Manifestationen des Austrofaschismus vor allem Vertreter der jüdischen Intelligenz ins Exil begaben, stürzte im März 1938 der jüdische Bevölkerungsteil insgesamt in einen Abgrund aus Angst, Beklemmung und Flucht. All das, was in Deutschland in Monaten und Jahren Gestalt angenommen hatte, spielte sich in Wien in wenigen Wochen, ja Tagen ab. Die Demütigung der Juden bildete Teil des Spektakels: Sie zu zwingen, mit der Zahnbürste die Straße zu reinigen, war die Kehrseite der Heim-ins-ReichZeremonie auf dem Wiener Heldenplatz mit Hitler als Hauptdarsteller. „Befreiung“ bedeutete für viele die von der Gestapo unterstützte Bereicherung an Wohnungen, Geschäften und Besitz der Juden. Unter den mehr als hunderttausend Flüchtlingen zählten mehrere Tausend zur künstlerischen und intellektuellen Führungsschicht; hier verlor Österreich für lange Zeit die unentbehrlichsten Elemente progressiver Kultur und Wissenschaft.312 Was blieb, war der verwaltete Kulturbetrieb. Und selbst der zeigte 1938/39 in Wien eine solche Verödung und Verflachung unter dem reichsdeutschen Gauleiter Josef Bürckel, der zugleich zum „Beauftragten für die kulturellen Fragen in Österreich“ ernannt wurde, dass selbst die Wien-Gegner Hitler und Goebbels befürchteten, die Gegnerschaft dieser musik‑, theater- und kulturbegeisterten Stadt herauszufordern. 1940 setzte Hitler den Reichsjugendführer Baldur von Schirach als Reichsstatthalter in Wien mit der Erwartung ein, dieser Gefahr entgegenzuarbeiten.313 Dieser Verflachung entgingen 1938 auch die Salzburger Festspiele nicht. Mit dem Bann gegen die Juden und der Beendigung der „Ära Toscanini“ verloren sie nicht nur einen Großteil ihres angelsächsischen Publikums, sondern auch künstlerisches Profil. Arturo Toscanini hatte dort 1935–1937 ein ganz auf das internationale Publikum ausgerichtetes, glanzvolles Programm durchgesetzt, bei dem sowohl Mozart wie Max Reinhardt als auch die Salzburger Österreich-Ideologie in den Hintergrund traten. Kein Aushängeschild des konser311 Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien: Österreichi� scher Bundesverlag, 1991, 48. Der Begriff „pseudo-revolutionäre Machtergreifung von unten“ bei Evelyn Schreiner, Nationalsozialistische Kulturpolitik in Wien 1938–1945 unter besonderer Berück� sichtigung der Wiener Theaterszene. Diss. Wien, 1980, 155. 312 Friedrich Stadler, The Emigration and Exile of Austrian Intellectuals, in: Vertreibung der Vernunft. The Cultural Exodus from Austria, hg. von dems. und Peter Weibel. Wien/New York: Springer, 1995, 14–26. 313 Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet, 57–67.

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vativ-klerikalen Ständestaates, vielmehr „Toscaninis antifaschistisches und antinationalsozialistisches Schaufenster“ – damit präsentierte Salzburg den in den dreißiger Jahren immer mehr bedrängten internationalen Charakter hoher Kultur, der sich mit Vorträgen von Thornton Wilder, Thomas Mann und Auftritten zahlreicher Berühmtheiten verband und der hier doch nur in Anlehnung an Hollywood noch bestehen konnte, oder wie die Pariser Zeitung Le Journal schrieb: „Salzburg als die Heimat der Stars und der Snobs.“314 Freilich wollten auch die Nationalsozialisten, als sie die Festspiele „wieder deutsch“ machten und statt der angelsächsischen Besucher neben einem Strom von Italienern Hunderte von Arbeitern und Soldaten über die KdF-Organisation zu Festspielteilnehmern machten, auf das internationale Renommee nicht verzichten. Dabei halfen die Gastspiele der Wiener Staatsoper, die im Krieg von Goebbels neben dem Burgtheater und den Philharmonikern in verschiedenen Städten Europas als „Kulturbotschafter“ eingesetzt wurde. Mit solchen Missionen verbanden sich unter der Ägide Schirachs widersprüchliche Motivationen. Baldur von Schirach verstand es, die Wiener Musikund Theaterlandschaft nach 1940 wieder auf eine ästhetische Höhe zu heben, die es der Stadt verschiedentlich erlaubte, erneut als deutsche Theaterhauptstadt gepriesen zu werden. Das aber erregte den Zorn von Goebbels und Hitler, der im Reich keine „zwei Hauptstädte“ dulden und Wien hinter Linz und Graz zurücktreten sehen wollte.315 Einerseits sollte die Wiener Staatsoper im Ausland als Aushängeschild der deutschen Kulturmacht wirken und zum Kriegseinsatz beitragen, andererseits duldete, ja ermutigte Schirach, dass das „Wiener Kulturprogramm“ Eigenständigkeit zeigte und, wenn auch unausgesprochen, dafür von den österreichischen Traditionen besondere Legitimität erhielt.316 Dieser doppelten Kulturträgerschaft zwischen der deutschen Kulturmacht und der österreichischen Kulturweltmacht, wie es bald hieß, war Clemens Krauss weiterhin verpflichtet, als er 1945 das letzte Konzert des Dritten Reiches mit Wagners Tannhäuser-Ouvertüre bestritt und das erste Konzert zur Feier des neuen österreichischen Staates mit Beethovens dritter Leonoren-Overtüre einleitete. Zwar erfuhr dann die Separierung Österreichs vom deutschen Nationalverband im verwalteten Kulturbetrieb ihre Institutionalisierung, kaum aber in der Kultur selbst.

314 Stephen Gallup, Die Geschichte der Salzburger Festspiele, übers. von Christiana Besel. Wien: Orac, 1989, 140 (das Zitat stammt aus Le Journal vom 2.8.1936). 315 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 4, hg. von Elke Fröhlich. München: Saur, 407. 316 Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet, 76 f.

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6. Kapitel Nach 1945: Die ost- und westdeutschen Erben der Kulturmacht Fünf Tage nach der Kapitulation Bis zu seiner Zerstörung erstrebte das nationalsozialistische Deutschland Geltung als Kulturmacht. Den Erfolg maß es an seiner Fähigkeit, Kultur für die Macht zu mobilisieren. Noch im letzten Kriegsjahr, als die Ressourcen rapide abnahmen, die Zentrale des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin bereits zerbombt war und ein Großteil des Kulturpersonals ins Innere des Reichs zurückkehrte, bekamen Deutsche Wissenschaftliche Institute außerhalb des Landes noch breite Unterstützung – wie es hieß, um dem Ausland am Beispiel der Kultur die ungeminderte Stärke des Deutschen Reiches zu demonstrieren. Mit der bedingungslosen Kapitulation des Reiches brach diese gewaltig aufgepumpte Fassade nationalsozialistischer Kulturpolitik zusammen. Im Frühjahr 1945 fand der Einsatz der deutschen Kultur als nationaler Mobilisationsfaktor sein Ende. So zumindest sahen es viele Zeitgenossen und Historiker im In- und Ausland. Was jedoch nicht zusammenbrach, war die von Goebbels brutal bekämpfte Auffassung, dass die deutsche Kultur mehr Substanz und eine größere Reichweite besaß als die von den Nationalsozialisten propagierte völkische und rassische Agenda. Davon legten Exilanten und Widerstandskämpfer mutiges, oft heroisches Zeugnis ab. Sie führten einen harten Kampf, der politisch wenig zu Buche schlug, aber Anknüpfungsfaktoren für die Nach- Hitler-Zeit lieferte. Obwohl Briten und Amerikaner den Exilanten kaum Einfluss auf die Nachkriegsplanungen für Deutschland einräumten, förderten sie in den letzten Kriegsjahren die Bemühungen von Thomas Mann und anderen Exilierten, in ihren Radioansprachen und Proklamationen als Deutsche den Deutschen ihre Verfehlungen vor Augen zu halten. So definitiv das Reich militärisch und politisch zerschlagen wurde, so sichtbar blieben im kulturellen Bereich Anknüpfungsmöglichkeiten, die sich auch nach dem Verschwinden nationaler Staatlichkeit und Kulturpolitik für den deutschen Wiederaufbau aktivieren ließen. Was das Kriegsende ebenfalls überdauerte, war das riesige Netz der im Kriege gut beschäftigten Unterhaltungskünstler, Film- und Theaterverantwortlichen mitsamt Schauspielern, Regisseuren, Bühnenmeistern, Journalisten und Feuilletonisten, Verlegern und Lektoren, Sängern und Musikern, kurz des Personal einer Hoch- und Unterhaltungskultur, die zwar viele ihrer Bühnen und Auftrittsmöglichkeiten verlor und deren Zeitungen zunächst

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verschwanden, die aber, wie in Berlin bereits in den ersten Wochen nach dem Ende der Kampfhandlungen dokumentiert, die erstbeste Gelegenheit nutzten, im Kulturgewerbe ihre Existenz fortzusetzen. Bereits am 14. Mai 1945 trafen sich Theaterleute wie Paul Wegener, Gustav Gründgens, Heinz Tietjen und Ernst Legal, um ihre Pläne für den Wiederaufbau des Berliner Kunstlebens zu besprechen. Sie taten das Wochen, bevor amerikanische und britische Truppen die Stadt erreichten, auf Einladung des sowjetischen Stadtkommandanten, Generaloberst Nikolai Bersarin. Das erste öffentliche Konzert fand am 13. Mai, fünf Tage nach der Kapitulation des Deutschen Reiches, im Bürgersaal des Schöneberger Rathauses statt. Die Berliner Philharmoniker traten unter Leitung von Leo Brochard zum ersten Mal am 26.  Mai im Titania-Palast auf, wenig später das Orchester der Staatsoper im Rundfunkhaus.1 Die unterschiedliche Behandlung der Kultur vonseiten der Besatzungsmächte sorgte in Berlin für große Ängste, bot aber auch neue Chancen. Während die amerikanische Besatzungsmacht der Entnazifizierung zunächst volle Priorität einräumte, setzte die sowjetische Besatzungsmacht zunächst alles daran, das kulturelle Leben der Stadt wieder in Gang zu bringen. Sie wurde von Amerikanern und Briten, aber auch von Deutschen dafür kritisiert, zu nachsichtig über die nationalsozialistische Vergangenheit zahlreicher Künstler hinwegzugehen, sah jedoch in diesem Einsatz ein wichtiges Mittel, die Bevölkerung kurzzeitig von ihrer Misere, dem Verlust des Krieges, dem Mangel an Lebensmitteln abzulenken. Auch hierbei markierte „Kultur“ eine Art Normalität, die die eigentlichen Abgründe der Niederlage zu verschleiern half. Viele der aus dem amerikanischen Showbusiness kommenden, deutsch sprechenden und teilweise aus Deutschland stammenden Offiziere der Information Control Section, die für die gründliche Entnazifizierung und Demokratisierung des deutschen Kulturlebens sorgen sollten, bewirkten für den amerikanischen Sektor einen beträchtlichen Exodus von Musikern, Film- und Theaterkünstlern, die sich plötzlich mit dem Verlust ihrer Privilegierung, ja ihrer beruflichen Existenz konfrontiert sahen. Anders im russischen Sektor, wo die sowjetische Besatzungsmacht einer verunsicherten Intelligenzschicht zu einer Sprecherrolle im Übergang zu einer noch ungewissen Nachkriegsordnung verhalf. Sie gab grünes Licht zur Gründung eines das gesamte Deutschland umfassenden Kulturbundes, der in Großbritannien und Schweden Vorläufer besaß und in seiner liberalen Volksfrontorientierung im übrigen sowjetischen Machtbereich nicht seines-

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Brewster S. Chamberlin, Kultur auf Trümmern. Berliner Berichte der amerikanischen Information Control Section Juli–Dezember 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1979, 16.

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gleichen besaß.2 In der Exil-KPD konzipiert und von Georgi Dimitroff, dem ehemaligen Generalsekretär der Komintern, vorgeschlagen, organisierte der Moskau-Emigrant Johannes R. Becher den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands unter Mithilfe unter anderem von Gustav von Wangenheim, Fritz Erpenbeck, Otto Winzer und anderen Kommunisten sowie Ferdinand Friedensburg (CDU) und Gustav Dahrendorf (SPD). Am 4. Juli 1945 fand im Großen Sendesaal des Berliner Rundfunkhauses vor 1.500 Berlinern und Berlinerinnen die Gründungsfeier statt. Die Berliner Philharmoniker, die noch wenige Monate zuvor unter Furtwängler zwischen Bombenangriffen den Überlebenswillen der Berliner gestärkt hatten, lieferten nun mit der Egmont-Ouvertüre den bewegenden Auftakt zu einer neuen Besinnung des geschlagenen deutschen Volkes. Die sowjetische Armee hatte den Deutschen zuvor mit unvorstellbarer Brutalität deren unvorstellbar brutale Kriegsführung in der Sowjetunion heimgezahlt. Ihr Renommee war gering, ihre Macht war groß. Sie benahm sich als Sieger und ließ erkennen, dass sie den von ihr eroberten Teil Deutschlands als Beute betrachtete. Aber als Besatzungsmacht gab sie den Deutschen zu verstehen, dass sie ihre Kultur kannte und als nationale Kultur achtete, auch wenn die Ausrichtung an Gesamtdeutschland vor allem der Bemühung galt, Reparationen nicht nur von der eigenen Zone zu bekommen. Sie brachte eine Reihe von Kulturoffizieren nach Deutschland mit, die mit der deutschen Kultur und Sprache bestens vertraut waren. Zwischen 1945 und 1947 machte sie damit Berlin zu dem Ort, an dem das Schicksal der geschlagenen Kulturmacht Deutschland, mit der die Stadt in den vorausgegangenen Jahrzehnten eng verbunden gewesen war, verhandelt wurde. Vielen Deutschen erschien der Eifer, mit dem das Kulturleben in den zerbombten Städten wieder in Gang gesetzt wurde. angesichts der ungeheuren Probleme der Kriegszerstörungen unangebracht. Sie bezweifelten, dass sich damit die Schwierigkeiten der Nachkriegsversorgung der Bevölkerung, die darüber hinaus Millionen deutscher Flüchtlinge aus Polen, der Tschechoslowakei und anderen Gebieten im Osten absorbieren musste, verringern ließen. Anderen bedeutete diese Betriebsamkeit Aufbruch, Hoffnung, Selbstvergewisserung. Solange Geld kaum Lebensmittel beschaffen konnte, war es für Musik und Theater gut genug. Es machte jene nun betonten Werte des freien Denkens und Handelns, die das NS-System unterdrückt hatte, zu einer öffentlichen Erfahrung. Kultur verschaffte Gemeinsamkeit, oft auch Gemeinschaft, und damit das 2

Magdalene Heider, Politik – Kultur – Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kultur� bundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945–1954 in der SBZ/DDR. Köln: Wissen� schaft und Politik, 1993.

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dumpfe Gefühl des Überlebens in dem Volk, das Adolf Hitler am Ende verdammt hatte, weil es sich seiner als ‚unwürdig‘ erwiesen hatte. In furchtbarer Ironie zu Hitlers hasserfüllter Äußerung stand die vielmals belegte Feststellung, dass das Dritte Reich zwar keine deutsche Nation, wohl aber ein deutsches Volk hinterlassen habe. „Dass sie Deutsche waren“, hat Lutz Niethammer konstatiert, „das wußten die Deutschen 1945 in ihrer überwältigenden Mehrheit mehr denn je und selbst da, wo einige es vorgezogen hätten, nur noch oder in erster Linie Alemanne, Schlesier, Bayer oder Sozialist zu sein, ließen die Alliierten ihnen – im Gegensatz z. B. zu den Deutschösterreichern – in der Regel nicht die Wahl, aus der deutschen Verantwortungsgemeinschaft auszusteigen.“3 Das geschah erst in den folgenden Jahren. In der sowjetischen Besatzungszone ging die Führung bald in das Siegerlager des Antifaschismus über. In den westlichen Besatzungszonen verschaffte die Ausrichtung der Bevölkerung an den Zonen und Regionen bald so starke Referenzpunkte, dass die Bezugnahme auf die Nation, zumal wenn sie von der sowjetischen Zone kam, eher auf die NSVergangenheit verwies; auch im Hinblick auf die Pflege der ostdeutschen Traditionen, die von den Vertriebenen als nationale Aufgabe ausgerufen wurde, hielt man sich zunehmend an den Terminus „gesamtdeutsch“. Viele fanden den Missbrauch nationaler deutscher Kultur im In- und Ausland so unverzeihlich und selbstzerstörerisch, dass sie eine Neubelebung deutscher Kultur nur in der überlieferten regionalen Ausformung akzeptieren wollten. Hier kamen regionale Kulturmuster aus Traditionen zum Zuge, die sich im Kaiserreich noch gegen die Nationalisierungswelle behauptet hatten. Für weiter gehende Aktivierungen einer nationalen Kultur kam höchstens die Bezugnahme auf eine Figur wie Goethe infrage. Goethe, den die Nationalsozialisten als zu wenig national abgeurteilt hatten, stieg zum Schutzheiligen kultureller Selbstbesinnung auf. Friedrich Meinecke, einst im Ersten Weltkrieg Verkünder einer geistigen Mission Deutschlands, verschaffte nun Goethe die therapeutische Mission, mit der deutschen Katastrophe fertigzuwerden. Sein Traktat Die deutsche Katastrophe (1946) fand weite Verbreitung.

Erste kulturelle Auslandskontakte der Bundesrepublik und ihre Erblasten Die Wiederbelebung föderaler Praktiken auf den Gebieten von Kultur und Erziehung konnte an lange währende Traditionen anknüpfen, die die Zentrali3

Lutz Niethammer, Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft und nationales Gedächtnis, hg. von Ulrich Herbert und Dirk van Laak. Bonn: Dietz, 1999, 438.

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sierung des Dritten Reiches überdauert hatten. Sie wurden von den westlichen Besatzungsmächten, insbesondere von Frankreich, aktiv gefördert, da sie die Einflussnahme auf deutsche Verwaltungen zumindest in der Anfangsphase erleichterten, den Nationalismus dämpften und die Bevölkerung auf einen dezentralisierten Staat einstimmten. Sie besaßen ihre Dynamik darin, dass sie von vornherein aus dem Engagement für die Region heraus, exemplarisch in Bayern, eine gewisse Zukunftsplanung ermöglichten, ohne diese mit der Einordnung in größere nationale Zusammenhänge allzu sehr zu belasten, die ohnehin vorerst in den Händen der Besatzungsmächte lagen. Die Etikettierung der auf diesen Voraussetzungen entstandenen föderalen Republik als eines Provisoriums fand allgemeine Zustimmung; man hielt damit am Anspruch nationaler Einigung fest, entzog sich aber der Aufgabe, die für die Fortführung der Nation notwendige Reinigung von ihrem selbstverschuldeten Ruin im Aufbaualltag in Angriff zu nehmen. Das ließ sich im Westen politisch durchsetzen, wo die Konflikte der Siegermächte dazu führten, bei der Ablösung der vollen Besatzungsgewalt das neue Staatsgebilde mit dem Namen Deutschland auszustatten und als Bundesrepublik zum legitimen Partner anderer Staaten zu machen. Der Bereich der Kultur versagte sich solcher Grenzziehung, schaffte sich in der Rückbesinnung auf regionale Traditionen jedoch eine erste Konsolidierung. Wurde Kultur dennoch in eine bundesstaatliche Verwaltung einbezogen, schöpften die Verantwortlichen aus dem scheinrechtlichen Status des Provisoriums die Berechtigung, viele der etablierten Verwaltungspraktiken des Reichs wieder aufzunehmen, vorausgesetzt, sie waren vom gröbsten Rasse- und Herrschaftsdenken gereinigt. Das wieder geschaffene Auswärtige Amt mit der kleinen Kulturabteilung stand damit unter dem Vorbehalt, die gegebenen Verwaltungstraditionen der Kulturpolitik so lange fortzusetzen, bis neue Regelungen geschaffen würden. Dazu war das Amt allerdings nicht willens, weil es die Beschäftigung mit Kulturpolitik entweder gering achtete oder nach dem nationalsozialistischen Missbrauch, in den sich viele seiner Verantwortlichen verstrickt hatten, als zu heikel ansah. Innerhalb des Landes gewann Kulturpolitik angesichts der verminderten politischen Handlungsfähigkeit ihr Profil als Domäne der Regionen und stützte die Rückkehr zum Föderalismus. Nur als die Alliierten bei den Beratungen des Grundgesetzes noch mehr Föderalismus wollten, widersetzte sich der Parlamentarische Rat. Für die Regionalorientierung hatte Bismarck noch die Identifikation mit den Dynastien in Anschlag gebracht. In der Weimarer Republik verlor sie einiges von ihrer Bindekraft, besaß im Kultur- und Erziehungsbereich aber immer noch genügend Traditionsenergien, um die in der Verfassung zaghaft angedeutete Ausrichtung der Kultur- und Bildungspolitik auf die Reichsgewalt zum Leidwesen des preußischen Kultusministers Carl

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Heinrich Becker zu verhindern. Nach 1945 bezog der Aufbau des neuen Staatswesens aus den Einzelstaaten demokratische Legitimierung und verschaffte damit dem Begriff der deutschen Kultur wieder einen gewissen vornationalen Beiklang. Allerdings geschah das um einen großen Preis: der Abkehr von einer ungeschminkten Bestandsaufnahme der Bürden, welche die nationalsozialistische Herrschaft im Rahmen nationaler Kultur den Deutschen hinterlassen hatte. Nur die Viersektorenstadt Berlin widersetze sich solchen Hoffnungen auf einen Ausstieg aus der nationalen Geschichte, verlor damit auch schnell ihren Wert als Katalysator der Wiederaufbauideen, die sich im Westen dank der Marshallplan-Hilfe und der erfolgreichen Abwertung der alten Reichsmarkwährung 1948 bald in wirtschaftlichen Denkformen eine neue Basis schufen. Die nationale Assoziation, die Berlin wenige Jahrzehnte zuvor zum unumgänglichen Katalysator politischer Macht und kultureller Innovation gemacht hatte, hielt sich noch kurze Zeit nach 1945 als Referenz für Deutschlands totale Niederlage, rückte die Stadt in den Folgejahren aber schließlich dorthin, wo auch die Präsenz von Amerikanern, Engländern und Franzosen sich nur symbolisch manifestieren konnte: in den Osten. Wie Johannes R. Becher nach seinem Plädoyer für den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in seiner Heimatstadt München feststellen musste, fand er dafür 1946 noch eine gewisse Aufmerksamkeit, bald aber kaum noch Resonanz und Unterstützung.4 Die Tatsache, dass Berlin unweigerlich die Konfrontation mit den Bürden des Nationalsozialismus evozierte, ließ die Stadt bald selbst als Bürde erscheinen. Bald sah man in München und anderswo in Westdeutschland kaum noch einen Unterschied zwischen dem „anderen Deutschland“, das Becher und andere zurückgekehrte Emigranten für die Nachkriegsplanung beschworen, und den Kommunisten, die nun mit sowjetischen Panzern den Westen bedrohten. Als dann der neue föderale Staat 1950 begrenzte Kompetenz für eine eigene Außenpolitik erwarb und Bundeskanzler Konrad Adenauer im neuen Auswärtigen Amt 1951 eine Kulturabteilung einrichten ließ, stellten sich viele Probleme, angefangen von der Disqualifikation der Bundesgewalt für eine nationale Kultur- und Erziehungspolitik, die sich in ihrer konsequenten Aussparung des Konzepts eines Kulturstaats von der Weimarer Republik stark unterschied.5 In 4 5

Johannes R. Becher, Rede in München, in: ders., Deutsches Bekenntnis. Fünf Reden zu Deutsch� lands Erneuerung. Berlin: Aufbau, 1946, 60–96. „Der Kulturstaatsbegriff ist relativ spät in die juristische Literatur eingedrungen, ohne dort sonderlich ausgebildet zu werden. Nach allgemeiner Verbreitung in dem Jahrzehnt um die Jahrhundertwende hat er als Thema verfassungsrechtlicher Diskussion seinen Höhepunkt in der Weimarer Zeit erlebt und diese Bedeutung unter keinem Aspekt nach 1945 mehr erlangt.“ Otmar Jung, Zum Kultur� staatsbegriff, Johann Gottlieb Fichte – Verfassung des Freistaates Bayern – Godesberger Grundsatz�

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klarer Gegenstellung zur nationalsozialistischen Zentralisierung und Zen­ sierung von Erziehung, Kultur und Kunst stattete das Grundgesetz den Kulturbereich Kunst und Wissenschaft sowie Presse, Film und Rundfunk mit Freiheitsgarantien aus und verbot Zensur. Während es die Kultur- und Erziehungskompetenz wesentlich detaillierter als in den Verfassungen von 1871 und 1919 an die Bundesländer vergab, überließ es die Zuständigkeit für die auswärtige Kulturpolitik wiederum mit knappen Worten dem Bund und seiner außenpolitischen Kompetenz. (Artikel  32, Abs.  1 und Artikel  87, Abs.  1 des Grundgesetzes) Insofern die Zusammenarbeit mit dem Ausland auf kulturellem und wissenschaftlichem Sektor jedoch mit vielen Fäden an die innere Kultur- und Erziehungspolitik gebunden war, ergaben sich von Anfang an ein Vielzahl von Konflikten mit den Länderverwaltungen, die eifersüchtig auf ihre Hoheitsrechte pochten.6 Selbst das sogenannte Lindauer Abkommen, das 1957 diese Beziehungen regeln sollte, ließ so viel Spielraum, dass Verträge über Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen mit anderen Ländern eine Art Hindernisrennen über immer neue Prozeduren und Rücksichtnahmen darstellten. Zu dieser föderalen Rückbindung auswärtiger Kulturpolitik gesellten sich im Regierungsapparat selbst spezielle Probleme für die Kulturabteilung, insofern sie einen Bereich verwaltete, der im Zusammenhang mit der erstrebten Eingliederung der Bundesrepublik in die internationale Staatenwelt angesichts der aggressiven Kulturpolitik des Dritten Reiches mit wenig Unterstützung rechnen konnte. Bis zu der Regierungserklärung, in der Bundeskanzler Ludwig Erhard 1965 auf die Bedeutung auswärtiger Kulturpolitik einging, zeigte die Bundesregierung kaum Interesse daran, Kultur zu einem Faktor in den Beziehungen zu anderen Staaten zu machen. Adenauer und sein späterer Außenminister Heinrich von Brentano erachteten die Bemühung um die Integration der Bundesrepublik in die internationale Staatengemeinschaft ausschließlich als Sache von Politik und Diplomatie. Wenn Adenauer beim Aufbau diplomatischer Beziehungen zu Frankreich, Großbritannien und den USA anfangs den Dienst einiger profilierter Kulturpolitiker in Anspruch nahm, griff er auf seine ausgedehnten Erfahrungen mit Kulturpolitik als Kölner Oberbürgermeister zurück und ließ vor allem Frankreich wissen, wie sehr er dessen Kulturbewusstsein schätzte, gab damit dem Auswärtigen Amt jedoch keineswegs Anweisun-

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programm der SPD. Meisenheim am Glan: Hain, 1976, 205. Hinweis bei Rüdiger vom Bruch, Kulturstaat – Sinndeutung von oben?, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, hg. von dems., Stuttgart: Steiner, 1989, 66. S. die ausführliche Darlegung bei Karl-Sebastian Schulte, Auswärtige Kulturpolitik im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Konzeptionsgehalt, Organisationsprinzipien und Struk� turneuralgien eines atypischen Politikfeldes am Ende der 13. Legislaturperiode. Berlin: Wissenschaft und Forschung, 2000.

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gen für eine aktive Außenkulturpolitik. Zudem hatte sich auf diesem Gebiet, etwa bei der Wiedererrichtung des Auslandsschulwesens, das Bundesinnenministerium, da es bereits seit der Staatsgründung existierte, gegenüber der zunächst als Verbindungsstelle und dann als Außenministerium gegründeten Behörde mit seiner Kulturabteilung Kompetenzen gesichert, die sich nicht leicht zurückgewinnen ließen.7 Es war somit kein Zufall, dass diejenige Bestimmung des Grundgesetzes, welche in Abkehr vom politischen Autarkiedenken des Dritten Reiches die legalen Voraussetzungen für die Integration der Bundesrepublik in internationale Organisationen und Vertragswerke schuf, gerade bei der Anwendung auf kulturelle Bereiche innenpolitische Widerstände aufwarf.8 Diese führten dazu, dass „die wesentlichsten internationalen Bindungen der Bundesrepublik in kultureller Hinsicht seit 1949 nicht in primär kulturpolitisch ausgerichteten Vertragswerken eingegangen worden sind, sondern als Beiprodukt von Abmachungen, die der Gesamtstaat in erster Linie unter anderen Gesichtspunkten im Rahmen vollwertiger eigener Zuständigkeiten abschloß.“9 In solchen umfassenderen Vertragswerken überließen die Länderverwaltungen dem Bund freizügiger die Kompetenz grenzüberschreitender Kulturarbeit, so bei Vereinbarungen mit dem Europarat und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zum deutsch-französischen Élysée-Vertrag von 1963. Ein besonderer Fall war die erstrebte Aufnahme der Bundesrepublik 1951 in die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), für welche eine spezielle Deutsche UNESCO-Kommission als eine Art Vermittlungsstelle gegründet wurde. Neben Regierungsoffiziellen umfasste sie Vertreter verschiedener Kulturorganisationen gesellschaftlichen oder halbamtlichen Charakters.10 Mit dieser föderalen Beschränkung – euphemistisch kooperativer Kulturföderalismus genannt – ist bereits der erste von drei größeren Problembereichen umrissen, mit denen der 1949 unter der Aufsicht von Großbritannien, Frankreich und den USA gegründete westdeutsche Staat sich konfrontiert sah, als er 7

Beispielhaft die Aufzeichnung von Rudolf Salat, dem ersten Leiter der Kulturabteilung, von 1950: Betrifft: Zusammenarbeit zwischen dem Generalsekretariat der ständigen Konferenz der Kultusmi� nister, der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums und dem Kulturreferat der Verbindungs� stelle, die noch im Bundeskanzleramt angesiedelt ist (Politisches Archiv des AA, B 90 001). 8 Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenar� beit. Ein Diskussionsbeitrag zu einer Frage der Staatstheorie sowie des geltenden deutschen Staats� rechts. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1964, bes. 44–51. 9 Thomas Oppermann, Kulurverwaltungsrecht. Bildung – Wissenschaft – Kunst. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1969, 613 f. 10 Deutschland und die UNESCO. Gründung eines vorbereitenden Ausschusses, in: Kulturarbeit 2 (1950), 25–27.

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begann, auswärtige Kulturpolitik in Gang zu setzen. Der zweite Problembereich der auswärtigen Kulturpolitik des westdeutschen Staates ergab sich aus dem Mangel an demokratisch geschultem Personal auf Bundesebene, das die vom Kriegsende nur vorübergehend geminderte Präsenz öffentlich subventionierter Kultur in ihrer internationalen Vernetzung verwalten konnte. Ein solcher Mangel hatte 1919 dazu geführt, dass die neuen Behörden der Weimarer Republik vorwiegend auf die preußische Kultusverwaltung zurückgriffen, die dank der Reformanstrengungen von Konrad Haenisch, Edwin Redslob und Carl Heinrich Becker den Übergang zu einer republikanischen Kultur- und Schulpolitik voranbrachte. Vergleichbare landesübergreifende Impulse erhielten die Planer 1949 aus den Länderverwaltungen, die alle um die Konsolidierung ihrer kulturellen Regionalität und Macht bemüht waren, nur wenig. Insofern es kaum Aktenüberlieferungen aus dem alten Amt gab – der Hauptteil der Akten fiel beim Transport außerhalb Berlins einem Brand zum Opfer –, gewann das noch vorhandene Personal des auswärtigen Dienstes sowie der Mittlerorganisationen für eine sachgemäße Installierung des neuen Amtes zusätzliches Gewicht.11 Zwar fand man in Rudolf Salat einen ersten Leiter der Kulturabteilung, der „als Quereinsteiger, Katholik und Nicht-Parteimitglied“ nicht dem Berufsgang der Beamten des zunächst von Adenauer geführten Amtes entsprach, „das von den schon vor 1945 aktiven, zum Großteil protestantischen Karrierediplomaten dominiert wurde, die vor allem in den höheren Positionen oftmals in der NSDAP gewesen waren.“12 Salat war ein sensibler Kulturpolitiker, der sich des widrigen Erbes nationalsozialistischer Kulturpolitik voll bewusst war und die Funktion der Abteilung vorwiegend in einer Verwalter- und Mittlerstellung sah, insgesamt im Amt jedoch nur über wenig Einfluss verfügte. Nach kurzem Dienst des Amtsveteranen Kurtfritz von Grävenitz 1954 gelangte 1955–1959 mit dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Heinz Trützschler von Falkenstein doch wieder ein Mitglied der alten Seilschaft an die Spitze, deren Mentalität eines diplomatischen und juristischen Opportunismus, der im Kalten Krieg wieder zu Ehren kam, der deutschen Kulturpolitik kaum ein überzeugendes neues Gesicht zu verleihen vermochte. Von Trützschler war bekannt, dass er als Abteilungsleiter unter Ribbentrop an der Redaktion der sogenannten Weißbücher zur Rechtfertigung der Kriegspolitik des Reiches beteiligt gewesen war. Vom Untersuchungsausschuss des Bun11 Martin Kröger und Roland Thimme, Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), 243–264. 12 Eckart Michels, Zwischen Zurückhaltung, Tradition und Reform. Anfänge westdeutscher auswärti� ger Kulturpolitik in den 1950er Jahren am Beispiel der Kulturinstitute, in: Auswärtige Repräsenta� tionen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, hg. von Johannes Paulmann. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2005, 241–258, hier 246.

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destages Nr. 47 war er deswegen als nicht verwendbar für das Ausland eingestuft worden.13 Das stellte offensichtlich keinen Hinderungsgrund für Adenauer dar, ihm die Verantwortung für die Kulturabteilung zu übertragen. Ließ sich daraus einerseits das geringe Gewicht ablesen, das man der offiziellen westdeutschen Kulturpolitik – in Abgrenzung zu Ribbentrops Großeinsatz unter minimalem Finanzeinsatz – zumaß, so wurde es zugleich auch exemplarisch für die personellen, institutionellen und geistigen Kontinuitäten, mit denen das neue Amt seine Politik dem Ausland gegenüber ins Laufen brachte. Mit anderen Worten: Auf Schienen, die schon einmal schwere Transporte auch deutscher Kultur befördert hatten, konnte man andere Wagen mit leichterer Ausstattung einsetzen, kaum aber überzeugend neue Richtungen einschlagen.14 Die ständige Beschwörung, dass man sich völlig zurückhalte und keine Propaganda beabsichtige, ersetzte nicht das Fehlen einer politisch-historisch begründeten Neukonzeption. Wenn sich Kritiker dieser Kontinuitäten in der Öffentlichkeit meldeten, wie es 1951 in der Frankfurter Rundschau in einer vernichtenden Artikelserie über die Personalpolitik des Auswärtigen Amtes geschah, stießen sie sich eher an der Vergangenheit der Verwalter als im Falle der Kulturabteilung an den Inhalten der ins Ausland vermittelten Kultur.15 Dem entsprach auch die Berichterstattung des daraufhin eingesetzten Untersuchungsausschusses des Bundestages. Bei den Inhalten dominierte eine von rassistischen und nationalistischen Elementen gereinigte Traditionspflege der Hochkultur, sei es in der Musik, sei es in Kunst, klassischer Literatur, Philosophie und Wissenschaft, die dem Ausland bereits in den zuvor betriebenen Deutschen Wissenschaftlichen Instituten mitsamt dem Sprachunterricht als Basis der Verständigung angeboten worden war. Die umfassendste Anknüpfung an die vor 1945 etablierte Arbeit fand, was das Personal angeht, bei der Wiederaufnahme des Sprachunterrichts statt. Für sie brachte Franz Thierfelder die Ressourcen der von ihm bis 1937 als General13 Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit, 627. 14 „In den Behörden der provisorischen Verwaltung von 1945 bis 1949, also zur Etablierung der neuen staatlichen Gewalten, blieben viele vor allem in den Kulturabteilungen tätig, deren Unentschlos� senheit oder unterschwellige Beharrung auf nationalistischen Anschauungen dem auch hier auf Überwindung und Neubeginn trachtenden Auge nicht verborgen bleiben konnte. Die Schwierig� keit bestand darin, den rein politisch und juristisch denkenden Männern der neuen Staatlichkeiten nachdrücklich vor Augen zu führen, was da an Gefahren für die Zukunft lauerte. Leider ist ein besonders trauriges Kapitel die Besetzung mancher deutscher Kulturvertretungen im Ausland. Und das ist noch bis heute nicht überall in Ordnung.“ Georg Meistermann, Die Legende von der Stunde Null. Über die Umwege bei der Vergangenheitsbewältigung, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 37 vom 14./15.2.1981, 130. 15 Michael Mansfeld (Eckart Heinze-Mansfeld), „Ihr naht euch wieder …“ Einblick in die Personalpo� litik des Bonner Auswärtigen Amtes. Frankfurter Rundschau vom 1., 3., 4., 5. und 6. 9.1951.

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sekretär geleiteten Deutschen Akademie in das 1951 wiedergegründete Goethe-Institut ein. Aus dem Reservoir des im Krieg bis auf tausend Sprachlehrer angeschwollenen Personals der Akademie ließen sich Anfang der fünfziger Jahre nicht wenige Lektoren rekrutieren, die im Ausland an ihren ehemaligen Wirkungsstätten den Neuaufbau erleichterten. Während das Amt die Spracharbeit dem Goethe-Institut und seinen oftmals örtlichen Initiativen entspringenden Zweigstellen überließ, förderte es Jugendaustausch, Städtepartner­ schaften und ähnliche Initiativen, die von Nichtregierungsorganisationen unternommen wurden. In den folgenden Jahren schlossen die neuen Auslandsvertretungen Aktivitäten im Bereich von Kulturveranstaltungen und –austausch in ihre Verwaltungsarbeit ein. Bei all diesen Kontakten diente das 1930 von Arnold Bergstraesser ausgearbeitete und im DAAD und in der Zeitschrift Hochschule und Ausland in den dreißiger Jahren vertretene Konzept der Begegnung der Völker durch ihre Kulturen als Richtschnur. Ihre Komprimierung – und Essenzialisierung – hatte Adolf Morsbach mit der „Begegnung zwischen Persönlichkeiten, die ihre nationalen Kulturen gültig zu vertreten vermögen“, definiert.16 Dieser Auffassung waren in der Anfangsphase deutscher Diplomatie und Auslandskulturpolitik einige Goodwill-Erfolge zu verdanken, insofern dabei die offizielle Präsenz des neuen deutschen Staates gemildert wurde. Das genau hatte Adenauer im Sinn, als er 1950 den Kunsthistoriker und Frankreichkenner Wilhelm Hausenstein, der einst im Ersten Weltkrieg in Belgien die Zeitschrift Der Belfried herausgegeben hatte und im Dritten Reich im Umkreis der Frankfurter Zeitung unbescholten geblieben war, vom Schreibtisch abberief und gegen einiges Sträuben zum ersten deutschen Generalkonsul in Paris einsetzte. Dort musste Hausenstein erfahren, dass Künstler und Intellektuelle seine Kulturvermittlung im Allgemeinen schätzten, diese aber von französischer Seite mit starkem Argwohn, ja Aversion begleitet wurde, während ihn das Auswärtige Amt spüren ließ, dass diese Kontaktarbeit gegenüber dem ‚eigentlichen‘ Geschäft politischer Diplomatie wenig Gewicht besaß.17 Weniger exponiert waren namhafte Publizisten wie Bruno E. Werner in Washington und Eugen Gürster in London und später Wien, die, ebenfalls als Seiteneinsteiger, dort an den Auslandsvertretungen eine erfolgreiche Arbeit als Kulturattachés verrichteten. Bei der ersten Besetzung der Vertretungen in Großbritannien und den USA machte Adenauer deutlich, dass er keinen zuvor in der Wilhelmstraße beschäftigten Diplomaten 16 Morsbach, Deutsche Kulturpolitik im Ausland, in: Volkstum und Kulturpolitik, 237–265, hier 255 f. 17 Ulrich Lappenküper, Wilhelm Hausenstein. Adenauers erster Missionschef in Paris, in: Vierteljahrs� hefte für Zeitgeschichte 43 (1995), 635–678; Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit, 459– 462.

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wollte. Seine Wahl fiel auf den ehemaligen (Weimarer) Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Hans Schlange-Schöningen, für London und den Industriellen Heinz Krekeler für Washington. Kaum überraschend stellte Fritz von Twardowski, der bis 1943 die Verantwortung für die auswärtige Kulturpolitik unter Ribbentrop getragen hatte und 1950/51 als Bundespressechef fungierte, in den Gutachten zur auswärtigen Kulturpolitik die Vielzahl der Routineaufgaben im Auslandsdienst heraus, die den Rückgriff auf erfahrenes Verwaltungspersonal rechtfertigte.18 In der Tat war ja der Kulturversorgungsstaat, den die Nationalsozialisten ins Große erweitert und bis weit in die Unterhaltungskultur verfestigt hatten, mit Kriegsende nur vorübergehend eingebrochen. Von der Bevölkerung als Unterstützung bei dem Bemühen um Ablenkung und Umerziehung voll in Anspruch genommen und nur bis 1947/48 von Entnazifizierung betroffen, verschaffte er auf regionaler Ebene ebenso Theater‑, Bibliotheks- und Lehrpersonal wie Verwaltern Arbeitsplätze. Auch hier erlangte Adornos Satz „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht“19 seine Bestätigung. Twardowski setzte die Verwaltbarkeit von Kultur auch für die internationale Vernetzung voraus, mehr noch, definierte Kultur primär auch hier als Verwaltungsaufgabe – womit es ihm nicht schwerfiel, seine Auffassungen von vor 1945 ohne große Modifikation für den Nachfolgestaat des Dritten Reiches zu empfehlen, als pragmatische Basis gegen Umdenken und Neuentwürfe. Damit ist der dritte Problembereich berührt: die Selbstverständlichkeit, mit der die Verantwortlichen auf die Konzepte zurückgriffen, die im Auswärtigen Amt vor Kriegsende geläufig waren, und diese höchstens mit dem Ziel modifizierten, von nun an bescheiden aufzutreten, in ehemaligen Besatzungsländern erst auf heimische Aufforderung aktiv zu werden und ansonsten den nicht staatlichen Initiativen für Austausch und Bildungshilfe den Vortritt zu lassen. Was nicht aufgeführt wurde, war die Betreuung von Volks- und Auslandsdeutschen, die nach dem Ersten Weltkrieg das Rückgrat der Arbeit dargestellt hatte und nun an den Rand gerückt war, wenn sie auch bei der Wiederanknüpfung von Kontakten, vor allem in Lateinamerika, eine wichtige Rolle spielte. Insofern Kultur als öffentlich subventioniertes und verwaltetes Element seit den dreißiger Jahren in europäischen Ländern Teil einer gesellschaftlichen Infrastruktur geworden war, die sowohl private wie staatliche und halbstaatliche 18 Fritz von Twardowski, Studie über den derzeitigen Stand von Organisation, Umfang und Finanzie� rung der kulturellen Beziehungen der Bundesrepublik zum Ausland (47 S., Sommer 1956, BA Kob� lenz, B 307/119). S. Ulrike Stoll, Kulturpolitik als Beruf. Dieter Sattler (1906–1968) in München, Bonn und Rom. Paderborn: Schöningh, 2005, 317–321. 19 Theodor W. Adorno, Kultur und Verwaltung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.  8, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp, 1972, 122.

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Akteure umfasste und sich trotz verschiedenartiger Regierungssysteme über die Grenzen vernetzte, stellte die vor allem als Verwaltungsproblem konzipierte Praxis des Auswärtigen Amtes keine Ausnahme dar. In diesem Kontext mochte es durchaus problematisch erscheinen, die gewohnten Bahnen der Verwaltung zu verlassen. Jedoch blieb so die Frage offen, ob damit eine wirklich überzeugende Form von Kulturkontakten geschaffen werden könne, die von den jeweiligen Ländern tatsächlich als etwas anderes und nicht als bloß gemilderte Neuauflage der NS-Politik verstanden wurde. Da das Amt diese Frage nicht im Grundsätzlichen erörterte, blieb es den einzelnen Funktionsträgern überlassen, sie auf ihre Weise zu beantworten. Mit dem Ausbleiben einer Konzeption des Neuanfangs schlug in der Tat die Stunde der Persönlichkeiten, das heißt jener Einzelnen, die sich für die Sprach- und Kulturarbeit mit Ausländern engagierten. Wie konnte man ohne ein neues Konzept demokratischer Kultur die Rechtsnachfolge und Kulturtradition des Reiches vertreten, ohne beim jeweiligen Partner ein begründetes Misstrauen zu wecken, doch nur wieder jenes Reich reinkarnieren zu wollen? Die Verwaltungspraxis, mit der die Kulturabteilung darauf antwortete, war pragmatisch und ausweichend zugleich. Pragmatisch insofern, als sie einerseits mit beschämend geringen Finanzmitteln einen ersten Sockel an Betreuung für Auslandsschulen und Kontaktorganisationen schuf, andererseits die praktische Kontaktarbeit mit Sprachunterricht, akademischem Austausch, Ausstellungen, Buchexport und Ähnlichem weitgehend den wiedergegründeten Mittlerorganisationen überließ, die nicht den regierungsamtlichen Ruch besaßen.20 Ausweichend insofern, als sie die Auseinandersetzung mit der Erblast der nationalsozialistischen Besetzung anderer Länder sowie der Zerstörung der eigenen Kultur im Sinne des staatlichen Provisoriums vertagte. Damit trug sie dazu bei, der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre zumindest in Europa und den USA das Image eines wirtschaftlich erfolgreichen, kulturell eher überholten und immer noch von nazistischen Überresten geprägten Landes zu erhalten. Bezeichnenderweise verbuchte das Auswärtige Amt wirkliche Erfolge auswärtiger Kulturarbeit nur jenseits dieser vom Nationalsozialismus unmittelbar berührten Region. Wie es später Georg KahnAckermann, der SPD-Kulturexperte in einem „kritischen Überblick über die ersten 25 Jahre“ der auswärtigen Beziehungen feststellte, war in anderen Welt20 Werner Riese, Zur auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland – Bildungshilfe als Kulturpolitik, in: Deutsche Studien 2 (1964), 479–501. Im selben Jahr veröffentlichte der Leiter der Kulturabteilung, Dieter Sattler, einen ersten internen Überblick über die Entwicklung der Kul� turabteilung seit ihrer Gründung 1920, in dem er auch Aufgabenbereiche, Personalbestand und die Wachstumsprobleme seit 1950 behandelte: Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes. Jahresbe� richt 1964, 160 S.

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teilen das Renommee deutscher Kultur und Wissenschaft nicht gleichermaßen ramponiert. Die Kulturarbeit traf „auf der iberischen Halbinsel, in Afrika, von Istanbul bis Djakarta und Tokio, in den arabischen Staaten und in Lateinamerika, ja selbst in Indien und Birma“ fast durchweg auf Sympathie.21 Hier machte sich auch bald die Konkurrenz mit den Aktivitäten der DDR bemerkbar. Damit erhielt die Arbeit in diesen Weltteilen zusätzliche Beachtung – und Finanzierung. Ganz selbstverständlich war aber die Anknüpfung an Verwaltungskontinuitäten dann doch nicht. Schon vor der Einrichtung der Kulturabteilung berieten Veteranen der sogenannten Kulturwerbung im Wiesbadener Kreis, unter anderem Franz Thierfelder, darüber, ob man nicht, wie einst Karl Lamprecht vorgeschlagen hatte, die auswärtige Kulturpolitik einer Clearingstelle überantworten solle, die in gewisser Distanz zum Amt operiere, oder sich in der Umstrukturierung an dem von der Regierung nominell, wenn auch nicht finanziell unabhängigen British Council orientieren solle. In den fünfziger Jahren lieferte Theodor Steltzer die wichtigsten Entwürfe, ein dem Auswärtigen Amt nicht verpflichteter Politiker, der als deutscher Offizier in Norwegen gearbeitet hatte, wobei er Juden zur Flucht verhelfen konnte, und als Widerständler vor Kriegsende zum Tode verurteilt, jedoch durch Fürsprache finnischer und schwedischer Amtsträger gerettet worden war. Steltzer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik und Vorsitzender der deutschen UNESCO-Kommission, legte 1958 einen ausführlichen „Vorschlag für die Bildung einer Körperschaft zur Förderung der deutschen Kulturarbeit im Ausland“ vor, der sich in dieser Form nicht durchsetzte.22 Es blieb bei der vor 1933 entstandenen Organisationsstruktur, die mit der Wiedergründung der Mittlerorganisationen Deutscher Akademischer Austauschdienst (1950), der Alexander von Humboldt-Stiftung (1953), des Goethe-Instituts zur Pflege der deutschen Sprache im Ausland und zur Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit (1951) sowie des nun umbenannten Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart (1950) bestätigt wurde. Die damals ausgebauten Mittlerorganisationen konnten ihre Kompetenzen sogar verstärken. Zusätzlich gründete das Presse- und Informationsamt im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt 1952 die Organisation Inter Nationes e. V., die zur Aufgabe hatte, „im Ausland für Vertrauen und 21 Georg Kahn-Ackermann, Die auswärtigen Kulturbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland, 860. 22 Theodor Steltzer, Vorschlag für die Bildung einer Körperschaft zur Förderung der deutschen Kultur� arbeit im Ausland (27.11.1958, 19 S., BA Koblenz B 307/119); gekürzt in: Deutsche Kulturpolitik im Ausland 1955 bis heute. Dokumente – Kommentare – Tendenzen, hg. von Dieter Braun. Mün� chen: Süddeutscher Verlag, 1966, 59–69.

Erste kulturelle Auslandskontakte  |

Verständnis zu werben“. Neu war auch die Gründung des Auslandsrundfunks Deutsche Welle (1953). Entscheidende Einwände gegen Steltzers Konzeption, eine Art Äquivalent zum British Council zu schaffen, kamen von den Amtsveteranen Heinz Trützschler von Falkenstein und Fritz von Twardowski. Während Trützschler die typische Verteidigung des Beamten gegen Territoriumsverluste vorbrachte und konstatierte, das Amt könne die Aufgaben selbst bewältigen, warnte Twardowski davor, neben der vorhandenen Abteilung eine weitere Bürokratie zu schaffen, deren Finanzierung unwahrscheinlich sei.23 Wesentlich schärfer, wenn auch nicht öffentlich, kritisierte Franz Thierfelder Steltzers Vorschläge.24 Thierfelders Hausmacht war inzwischen das wieder installierte Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart, dessen Leitung er 1951–1960 innehatte.25 Steltzer wurde von dem aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrten DAAD-Präsidenten Werner Richter, dem ehemaligen Mitarbeiter Carl Heinrich Beckers im preußischen Kultusministerium, unterstützt, der die Chance sah, mit einer unabhängigen Institution den Kompetenzwirrwarr zwischen staatlichen und halbstaatlichen Organisationen zu mindern. Doch das Argument verfing nicht. Die Kultusministerkonferenz lehnte 1959 den Plan endgültig ab.26 Dieter Sattler, Leiter der Kulturabteilung von 1958–1966, ermöglichte dann durch die Aufwertung des Goethe-Instituts zur maßgeblichen Agentur für Sprachwerbung und Kulturpolitik eine Zähmung des „Wildwuchses“, der in den fünfziger Jahren mit den Aktivitäten der neuen Auslandsvertretungen, oft als Kulturinstitute etikettiert, sowie den Kontaktgremien privater Austauschorganisationen und halbstaatlicher Agenturen vor sich ging. Längst hatten ja auch ausländische Partner an der Unübersichtlichkeit der Kompetenzen Anstoß genommen und nicht selten mit dem Kompetenzwirrwarr des Dritten Reiches in diesem Bereich verglichen. Auch darin äußerten sich die Folgen der von Verwaltungstraditionen, nicht von konzeptionellen Neuansätzen geprägten Installierung auswärtiger Kulturpolitik nach 1949.

23 Fritz von Twardowski, Stellungnahme zur Denkschrift des Präsidenten Theodor Steltzer betr. Vor� schlag für die Bildung einer Körperschaft zur Förderung der deutschen Kulturarbeit im Ausland vom 27.11.1958 (18.12.1958, 8 S., BA Koblenz B 307/119). 24 Franz Thierfelder an Kurt Magnus, 22.9.1958 (BA Koblenz B 307/119). 25 Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 189–246. 26 Deutsche Kulturpolitik im Ausland 1955 bis heute, 59–69.

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Die Abrechnung findet in Berlin statt Die Entscheidung namhafter deutscher Völkerrechtler, dass das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen sei, vielmehr als Staat und Rechtssubjekt fortbestehe, wenngleich desorganisiert und „seiner Geschäftsfähigkeit beraubt“, hat der Entstehung des Grundgesetzes den Weg geebnet. Als staatliches Provisorium beschlossen, dessen Name ‚Bundesrepublik Deutschland‘ die programmatische Aussage enthielt, „dass das Gemeinwesen ganz Deutschland in sich begreift“, vermied es die Bezugnahme auf den Begriff der Nation, der ab 1871 die politische Identität der Deutschen im Reich geprägt hatte.27 Man hielt an der Kontinuität des deutschen Staates, nicht aber des nationalen Staates fest. War die Nation damit aufgegeben? Der Disput darüber füllt Bibliotheken. Er begann mit dem Festhalten am Begriff der deutschen Nation aufseiten der Rechten, aber auch führender Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher sowie, in scharfer Kontroverse, aufseiten deutscher Kommunisten vor und nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Der Disput erneuerte sich 1990, als sich die ostdeutsche Republik auflöste und in Form von fünf Bundesländern nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik anschloss. War man damit von der postnationalen wieder zur nationalen Gesellschaft gelangt und von der Frage, ob es zwei deutsche Kulturen gebe, wieder zur Behauptung einer nationalen deutschen Kultur? Im Verlauf der Jahre hatte die unsichere Zuschreibung nationaler Substanz im Politischen auf das Verständnis deutscher Kultur übergegriffen, deren überstaatliche Tradition zugleich herausgefordert und bestätigt wurde. Beide deutschen Staaten hatten sich mit der Referenz auf die Kulturnation (im Westen) und die sozialistische Nationalkultur (im Osten) zunehmend auseinanderdefiniert. Nur in einem war man sich diesseits und jenseits der Grenzen einig: dass der zu Beginn des 20.  Jahrhunderts von Deutschland nachdrücklich behauptete und in der Folgezeit teils mit, teils ohne Militär forcierte Anspruch, Kulturmacht zu sein, mit der Niederlage 1945 der Geschichte angehörte, wenn auch seine Erbe überall noch wirksam war. Der Anspruch, Kulturmacht zu sein, war vage, aber umso folgenreicher gewesen. Ohne ihn hätte sich der Erste Weltkrieg nicht zu einem so brutalen Krieg um die Kultur entwickelt. Ohne ihn lässt sich Stresemanns Interesse an der Außenkulturpolitik des Weimarer Staates nicht denken. Nationalsozialisten 27 Walter Schwengler, Das Ende des „Dritten Reiches“ – auch das Ende des Deutschen Reiches?, in: Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, hg. von Hans-Erich Volkmann. München/Zürich: Piper, 1995, 173–199; Joachim Rückert, Die Beseitigung des Deutschen Reiches – die geschichtliche und rechtsgeschichtliche Dimension einer Schwebelage, in: Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20.  Jahrhunderts, hg. von Anselm DoeringManteuffel. München: Oldenbourg, 2006, 65–94.

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verliehen ihm eine furchtbare Macht, die ihn zugleich disqualifizierte und doch bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein wirksam bleiben ließ. Konnten deutsche Regierungen, nachdem die Durchsetzung des Reiches (auch) als Kulturmacht in den angrenzenden Ländern Europas gescheitert war, mit diesen Ländern wieder kooperieren, ohne auf die immensen materiellen und geistigen Kosten dieser Operation einzugehen? Eine baldige Beantwortung dieser zentralen Frage verlor sich zunächst in den Konfrontationen des Kalten Krieges und der Spaltung Deutschlands. Im Westen des Landes wurde eine gründliche Auseinandersetzung damit entweder unter Berufung darauf, an einem Nullpunkt zu beginnen, oder unter Hinweis auf den Kalten Krieg lange verschoben. Im Osten sah man die Beantwortung nach der kurzen Bemühung, das von den Nationalsozialisten bekämpfte andere, bessere Deutschland in die Neugründung einzubringen, mit der Zuordnung des Faschismus zum kapitalistischen Westen sowie der Determination des eigene Staates als antifaschistisch im Grundsätzlichen als vollzogen an. Im Alltag rückten auf beiden Seiten eine Vielzahl der im Nationalsozialismus gepflegten Praktiken und Reaktionen erneut ins Zentrum alltäglichen Kulturkonsums. An ihrer Wiedereinsetzung, etwa bei der beschleunigten Wiedereröffnung von Theatern und Kinos, wirkten die Besatzer aktiv mit. Anders als am Ende des Ersten Weltkrieges, als Millionen Soldaten der Front den Rücken kehrten und am alten Ort eine verarmte, aber überschaubare Welt vorfanden, kam den Verlierern des Zweiten Weltkrieges die Front ins Haus, wenn sie sich nicht, wie es über einem Drittel der Bevölkerung geschah, auf der Flucht oder im Auffanglager befanden. In dieser Situation verflüchtigten sich bei der Bezugnahme auf Kultur jene Assoziationen mit Utopie und Wiedergeburt, die nach 1918, obgleich unter großen Hindernissen, tatsächlich einen gewaltigen Schub intellektueller und künstlerischer Innovation bewirkt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kultur, ihre Anrufung ebenso wie ihre Praxis, für Deutsche zu einem Instrument der Bewältigung der Misere und zugleich zu einem der Ablenkung von der Misere. Mit der weithin betriebenen begrifflichen Abgrenzung der Kultur von der Unkultur der Nazis verlor sich im Westen zumeist auch das Interesse, denen zuzuhören, die diese Abgrenzung unter großem persönlichen Risiko in aktiver Auseinandersetzung betrieben hatten. Nur bei der 1947 in München tagenden Konferenz der Ministerpräsidenten der deutschen Länder wurde dieses Dilemma von politischen Repräsentanten direkt angesprochen, als sie einen „Aufruf an die deutsche Emigration“ richteten, nach Deutschland zurückzukehren und beim Aufbau mitzuhelfen. Der Aufruf ging auf die Formulierungen von Dieter Sattler, dem Staatssekretär im bayerischen Kultusministerium, und Max Brauer, dem aus dem Exil zurückgekehrten Hamburger Bürgermeister, zurück, verhallte allerdings innerhalb und

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außerhalb Deutschlands ohne große Resonanz. Bei einer Umfrage unter bayerischen Funktionsträgern stellte die amerikanische Besatzung fest, dass diese den Aufruf für unnötig hielten und durchaus glaubten, Deutschland könne ohne seine Emigranten seine einstige kulturelle Bedeutung wieder erlangen.28 Die von Sattler unter dem Titel „Das andere Deutschland“ in München geplante und von Kultusminister Alois Hundhammer befürwortete Vortragsreihe mit prominenten Emigranten kam nicht zustande.29 Eine repräsentative, in die Öffentlichkeit ausstrahlende Abrechnung mit dem Absturz der nationalen Kultur und dem Weiterleben des anderen Deutschland fand in den vielen Städten und Regionen, die nun zu neuer Bedeutung erwachten, nicht statt. Sie geschah nur einmal, und das an jenem Ort, wo sich mit dem Ende des Nationalsozialismus die intellektuellen Energien von Überlebenden, Kriegsheimkehren und Emigranten aneinander entzündeten und wo die vier Besatzungsmächte in ihrem Mit- und Gegeneinander voll präsent waren: in Berlin, wo sich das untergegangene Reich aus Trümmern und Verhaltensformen nicht wegräumen ließ. Mit dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongress im Oktober 1947 gewann diese Abrechnung Gestalt in einem letzten Moment gesamtdeutscher Gemeinsamkeit von Schriftstellern, der bereits von den ersten öffentlichen Polemiken der Besatzungsmächte gegen das jeweils andere System überschattet wurde. Sie war nur in Berlin möglich, wo der öffentliche Diskurs Ost und West einbezog und die vom Nationalsozialismus verursachte Fragmentierung der Nation noch unmittelbar zu spüren war und entsprechend verhandelt wurde. Hier befand sich die Zentralverwaltung für Volksbildung, die den Kongress ebenso wie den Kulturbund subventionierte. Obwohl die Sowjetische Militäradministration für Unterkunft und Verpflegung aufkam, stellte der Kongress keine Fassadenveranstaltung der sowjetischen Besatzungsmacht dar. Sie entsprang vielmehr einer Initiative, mit der Johannes R. Becher und die Führung des Kulturbundes das öffentliche Podium für die immer wieder geforderte Selbstbesinnung der Deutschen nach Faschismus, Exil und innerer Emigration zu schaffen versuchten. Mit seinen im selben Jahr in Berlin und München gehaltenen Ansprachen über ein einheitliches Deutschland („Wir, Volk der Deutschen“) hatte Becher voll in die nationalen Tasten gegriffen, was dem Leiter der Informationsabteilung der Militärverwaltung, Oberst Tjulpanow, keineswegs ins Konzept passte.30 28 Stoll, Kulturpolitik als Beruf, 188 f. 29 Ebd., 186 f. 30 Jan Foitzik, Weder „Freiheit“ noch „Einheit“. Methoden und Resultate der kulturpolitischen Umo� rientierung in der sowjetischen Besatzungszone. Einleitung, in: Die Politik der Sowjetischen Militär� administration in Deutschland (SMAD): Kultur, Wissenschaft und Bildung 1945–1949. Ziele, Me�

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Nicht diese latente Spannung, nicht die moralische Inventur der deutschen Kultur nach dem Nationalsozialismus hat den Kongress in die Geschichtsbücher gebracht, sondern die von den Veranstaltern nicht geplante Polemik zwischen dem amerikanischen Journalisten Melvin Lasky und dem sowjetischen Schriftsteller Valentin Katajew.31 Mit dem Interesse von Presse und Historiografie daran, die Entzweiung der Besatzungsmächte und die Entstehung des Kalten Krieges in Berlin Gestalt werden zu lassen und damit das Kommende zu präfigurieren, konnte weder die schmerzliche Inventur des seit 1933 Geschehenen durch Intellektuelle konkurrieren noch die kritische Bestandsaufnahme der beruflichen Gefährdungen der Schriftstellerkaste, die eine ebenfalls heftige Diskussion der in ihrem Berufsstatus verunsicherten Teilnehmer entfachte. Die Bestandsaufnahme erfolgte mit einer Vielzahl bewegender Bekenntnisse und packender Auseinandersetzungen sowie einer beträchtlichen Zahl an ideologisch oder politisch unterlegten Reden und Manipulationen. Der Kongress wurde auch von den anderen Besatzungsmächten erlaubt, doch signalisierte das kurz danach ergangene Verbot des Kulturbundes im amerikanischen Sektor, dass die Zeit für eine solche gesamtdeutsche Inventur in Berlin vorüber war. Der Schriftstellerkongress, zunächst im Anschluss der Züricher PENTagung im Juli 1947 geplant, wurde dann drei Monate später vom Schutzverband Deutscher Autoren auf Veranlassung des Kulturbundes organisiert. Er fand im Deutschen Theater statt, das, im Krieg ausgebrannt, mit sowjetischer Hilfe, wie sein Intendant Wolfgang Langhoff dankbar vermerkte, binnen eines Jahres (zumindest teilweise) wieder aufgebaut worden war. Die äußerst schwierigen Reiseverhältnisse sowie der kurze Planungszeitraum standen der Teilnahme zahlreicher Eingeladener im Wege; Misstrauen gegen die politische Grundierung taten ihr Übriges. Einige berühmte Autoren wie Heinrich und Thomas Mann, Bertolt Brecht und Alfred Döblin, um die sich Johannes R. Becher besonders bemühte, kamen nicht; immerhin versammelte sich die erstaunliche Zahl von 256 namhaften Schriftstellern, Publizisten, Theater- und Kulturverantwortlichen aus allen Besatzungszonen, darunter 14  Ausländern und 120 Teilnehmern aus den westlichen Zonen. Die Zusammenkunft begann thoden, Ergebnisse. Dokumente aus russischen Archiven, hg. von dems. und Natalja P. Timofejawa. München: Saur, 2005, 31–57, hier 56 f. 31 Eine umfassende Dokumentation des Kongresses, im Wesentlichen nach dem Rundfunkmitschnitt, wurde erst nach der Wiedervereinigung von einem Team der ehemaligen DDR veröffentlicht: Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.–8.  Oktober 1947. Protokoll und Dokumente, hg. von Ursula Reinhold, Dieter Schlenstedt und Horst Tanneberger. Berlin: Aufbau, 1997. Siehe auch die kritische Analyse bei Anne Hartmann und Wolfram Eggeling, Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945–1953. Berlin: Akademie Verlag, 1998, 35–62.

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mit einer großen Gedenkfeier für die Toten des ‚anderen Deutschland‘, die im Exil oder in Deutschland gewirkt hatten. Der Schriftsteller und Dramatiker Günter Weisenborn, der als Mitglied der Widerstandsbewegung 1942 ins Zuchthaus gekommen, 1945 von den Russen befreit worden war und später die erste umfassende Schilderung der Widerstandsbewegung veröffentlichte, verschaffte ihr das Format einer großen Totenklage über die Opfer des Nationalsozialismus. „Ach, es ist kein Fahnengeknatter im blauen Festwind, das Sie in dieser wilden Stadt empfangen hat, kein Jubilate des Geistes“, begrüßte Weisenborn die Teilnehmer. „Wir haben diesen Kongreß nicht besser zu eröffnen gewußt als durch ein Requiem in den Ruinen, ein stilles Gedenken an die gefallene Elite, an die Denker, die Dichter, an die toten Genies der Nation, denen wir hier eine Handvoll Worte in die unbekannten Gräber nachwerfen; denn was bleibt uns als die Sprache, und was bleibt von ihnen als ihre Sprache? Sie liegt vor.“32 Auf großen Tafeln auf der Bühne des notdürftig restaurierten Hebbel-Theaters vereint, fanden sich unter den 58 prominenten Namen moderner deutscher Literatur diejenigen von Autoren, die vom NS-Regime umgebracht wurden, unter anderen Theodor Lessing, Albrecht Haushofer, Carl von Ossietzky, Adam Kuckhoff, Friedrich Reck-Malleczewen und Erich Mühsam. Zugleich war es eine große Versammlung jener Kultur, die Goebbels aus Deutschland und Österreich vertrieben hatte und zu deren Toten man unter anderen Ernst Toller, Sigmund Freud, René Schickele, Stefan Zweig, Walter Benjamin, Robert Musil und Joseph Roth zählte. Daneben wurden im Lande gebliebene Autoren wie Jochen Klepper und Oskar Loerke aufgeführt. Ganz offensichtlich herrschte von Anfang an die Absicht vor, die zwischen Walter von Molo, Frank Thiess und Thomas Mann mit großem Echo ausgetragene Polemik über Exil und innere Emigration nicht wieder anzufachen (das geschah dann im Goethe-Jahr 1949 anlässlich von Thomas Manns Besuch in Frankfurt und Weimar).33 In ihren Ansprachen demonstrierten Elisabeth Langgässer und Alfred Kantorowicz hingegen unter großem Beifall die Gemeinsamkeit von Exil und innerer Emigration in der Gegenstellung zum Hitler-Regime. Steckte auch viel Rhetorik in den Beschwörungen dieser Gemeinsamkeit, so schaffte doch die öffentliche Anerkennung des ‚anderen Deutschland‘ im Berlin der Nachkriegszeit die Legitimität, über ein geeintes Deutschland zu sprechen. Dazu gehörte auch, dass sich Emigranten in den 32 Günter Weisenborn, Von Tod und Hoffnung der Dichter, in: Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.–8. Oktober 1947, 105. 33 Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, hg. von J. F. G. Grosser. Hamburg: Nagel, 1963; Günther Rüther, Mangelnder Realitätssinn und Wirklichkeitsblindheit? Thomas Manns Besuch im geteilten Deutschland im Goethejahr 1949, in: Deutschland Archiv 41 (2008) 434–445.

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Schuldzusammenhang einbezogen.34 Frank Thiess und Walter von Molo, obwohl eingeladen, erschienen nicht, ebenso wenig wie Wilhelm Hausenstein, Karl Jaspers, Kasimir Edschmid, Günter Eich, Alfred Andersch und Wolfgang Weyrauch.35 Was die deutsche Intelligenz aus Ost und West, In- und Ausland 1947, dem Jahr, in dem Preußen aufgelöst wurde, in Berlin unter der Aufsicht aller Besatzungsmächte verhandelte, war eine gemeinschaftlich codierte Inventur des Desasters, das Nationalismus und Nationalsozialismus über Deutschland und die Welt gebracht hatten. Ricarda Huch, die allseits verehrte, politisch integre Autorin großer Panoramen deutscher Kultur und Geschichte, eröffnete den Kongress als Ehrenpräsidentin mit den Worten: „Wohl zu keiner Zeit unserer Geschichte ist die Aufgabe so schwer gewesen wie jetzt. Es hat ja auch früher scharfe Konflikte gegeben – in der Zeit der Glaubensspaltung und der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und erst jetzt in der vergangenen Zeit. Aber viel schwerer ist es doch in einer Zeit, wo alles fragwürdig geworden ist und wo alle Bemühungen auf Hoffnungslosigkeit, auf Verbitterung oder auf die Gleichgültigkeit der Entkräftung stoßen.“36 Derartige Einmaligkeiten aus der Geschichte zu beziehen, war zu dieser Zeit gang und gäbe. Auf dem Berliner Kongress aber brachte es Edwin Redslob, der ehemalige Reichskunstwart (und 1948 Mitbegründer der Freien Universität im Westen Berlins), fertig, aus der deutschen Geschichte unter Berufung auf Ricarda Huch doch zu einer beherzigenswerten Weisheit zu gelangen. Sie lautete: „Ricarda Huch, unsere Ehrenvorsitzende, hat – unter den vielen tiefen Worten, in denen sie geschichtliche Betrachtung menschlich vertieft – einmal über die Deutschen ein Wort gesagt, das immer wieder in mir nachklingt. Sie sagte: Und es ist die Tragik und der Ruhm unseres Volkes, dass die Deutschen hinter sich immer die Brücken abbrechen. Wir beginnen immer wieder das Leben neu. Aber wir haben jetzt eine Zeit hinter uns, die mit einer Brückenzerstörung so roher und rein äußerlicher, nicht mehr ideeller Art geendet hat, dass wir den Appell dieser Worte von Ricarda Huch neu begreifen. Denn es liegt eine Warnung darin. Es gibt Zeiten, in denen man Brücken schlagen muß.“37 Mit anderen Worten, wenn Hitler selbst unter grausamem Blutvergießen und mit dem Genozid an Juden und anderen Minoritäten die Brücken zur deutschen Geschichte abgebrochen hatte, mussten Deut34 Wulf Koepke, Das Deutschlandbild der Exilschriftsteller um 1945 und ihre Erwartungen für ein Nachkriegsdeutschland, in: ders., Wartesaal-Jahre. Deutsche Schriftsteller im Exil nach 1933. Erke� lenz: Altius, 2008, 285–301. 35 Ursula Reinhold und Dieter Schlenstedt, Vorgeschichte, Umfeld, Nachgeschichte des Ersten Deut� scher Schriftstellerkongresses, in: Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.–8. Oktober 1947, 25 f. 36 Ricarda Huch, Ruf an die Schriftsteller, in: ebd., 102. 37 Edwin Redslob, Unsere Literatur und die Welt, in: ebd., 357.

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sche es ihm nicht nachmachen. Nicht mehr im Brückenabreißen, sondern mit einer neuen Form von Brückenschlag sollten sie sich nun bewähren. Allerdings ging die Beherzigung der geschichtlichen Weisheit kaum über den Kongress hinaus. In der Folge schlugen Deutsche zuallererst die Brücken zueinander ab. Es wurde zur Gewohnheit, die Besatzungsmächte dafür verantwortlich zu machen. Dem hoffte der aus München angereiste Schriftsteller Wilhelm Emanuel Süskind widersprechen zu können, als er in die Dankansprache am Schluss des Kongresses seine Kritik an den Manipulationen der Machthaber einflocht. Es sei nicht der Kongress gewesen, den er erwartet hatte. Doch sei er es nicht nur durch die Politik gewesen. „Wir Schriftsteller aus München wenigstens sind hierhergekommen“, erläuterte Süskind sein Erstaunen als Bewohner einer der Westzonen, „als einzelne Schriftsteller durchaus unbefangen oder, wenn Sie wollen, befangen in unserer Unkenntnis vom geistigen Leben, von den atmosphärischen Zuständen dieser Stadt. Ein Unkenntnis, wie sie heute noch zweieinhalb Jahre nach dem Ende des Krieges zwischen München und Berlin etwa in einem wahrhaft erschreckenden Maße vorwaltet.“ Ihm seien hier die Schuppen von den Augen gefallen, und er appelliere an die Teilnehmer aus dem Inund Ausland, das, was sie in Berlin gehört und erfahren hätten, in der Öffentlichkeit zu verbreiten, „damit der Strom, der sich zwischen uns so lebendig angebahnt hat, sich auch anbahnt zwischen den Menschen da und dort, und ich fordere uns alle auf: Lassen Sie uns das, was wir hier erlebt haben, zu Hause nicht vergessen, sondern etwas daraus machen.“38 Dass dies nicht geschehen würde, zeichnete sich ab. Axel Eggebrecht, der einstige Mitarbeiter der Weltbühne, der als Herausgeber der kritisch-innovativen Nordwestdeutschen Hefte und als Abteilungsleiter des Nordwestdeutschen Rundfunks aus Hamburg angereist war, sah das Brückenschlagen nur darin gewährleistet, dass offenherzige Kritik und Selbstkritik im Osten wie im Westen geübt werde, wovon er ein überzeugendes Beispiel gab. Hans Mayer, als politischer Chefredakteur von Radio Frankfurt anwesend, setzte mehr auf gegenseitiges Entgegenkommen, machte aber bereits auf die falsche Berichterstattung über den Kongress aufmerksam: „Ich hätte mir denken können, dass der Bericht über den Augenblick, da [Hermann] Duncker hier stand und an uns die Bitte richtete, den Kampf gegen den Antisemitismus aufzunehmen, an der Spitze der Berichte aller Zeitungen über den Kongreß hätte stehen müssen. (Beifall) Nichts davon ist der Fall gewesen.“39 Mayer, am Zustandekommen eines zweiten Schriftstellerkon38 Wilhelm Emanuel Süskind, in: ebd., 438. 39 Hans Mayer, in: ebd., 415. Im Dokumentationsband ist eine Entschließung des Kongresses gegen den Antisemitismus abgedruckt (496). Hermann Duncker endete seine Ansprache – „das Furcht�

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gresses 1948 aus Anlass der Jahrhundertfeier der Nationalversammlung von 1848 in der Frankfurter Paulskirche führend beteiligt, begegnete dort den Grenzen des Brückenbauens, als den ostdeutschen Schriftstellern die Interzonenpässe verweigert wurden. Dem Abbruch der Brücken widersetzte er sich, nachdem er 1948 einen Ruf als Literaturprofessor nach Leipzig angenommen hatte, durch seine spätere Kritikertätigkeit bei den Tagungen der Gruppe 47. Während Alfred Kantorowicz, Literaturprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin, 1949 seine „Brücken“-Zeitschrift Ost und West einstellen musste und 1957 endgültig in die Bundesrepublik überwechselte, wurde Mayer zum prominentesten intellektuellen Grenzgänger zwischen Ost und West (bis er 1963 einen Ruf an den Germanistiklehrstuhl in Hannover annahm). Zurückgekehrte jüdische Emigranten wie Mayer und Kantorowicz trugen maßgeblich dazu bei, dass der Umgang mit der deutschen Kultur als Verpflichtung eines großen, wenn auch schwierigen Erbes praktiziert wurde. Das einzige und letzte Mal, dass sich ein einsichtiger Teil der deutschen Intelligenz der kulturellen Erblast von Nationalismus und Nationalsozialismus in großer, vom Rundfunk übertragener und von Ausländern wahrgenommener Diskussion stellte, wurde nur durch Berlin möglich, wie Süskind ohne Scheu zugab. Berlin integrierte Emigranten aus der Sowjetunion wie aus dem westlichen Ausland ins kulturelle Leben und verschaffte, vor allem durch den Kulturbund, erste Nachkriegskontakte zum Ausland (wozu allerdings auch, weniger distinguiert, Geschäftemacher und Schieber beitrugen).40 Schon im Winter 1947/48 standen jedoch die Zeichen auf Sturm, und Berlin wurde vom Aktionsfeld moralisch-politischer Selbstbesinnung auf ein Objekt der politischen Konfrontation der Besatzungsmächte reduziert. Die Stadt, 1948 faktisch gespalten, verlor ihr Gewicht als Akteur deutscher Kulturpolitik, ja bewirkte Ressentiments unter Westdeutschen, da ihre Symbolfunktion, zumal für das Ausland, mehr und mehr davon geprägt wurde, die deutsche Ohnmacht anschaulich zu machen. Für die interne bundesdeutsche Identitätsbildung spielte der nun dominante Teil Westberlin im Kontrast zum zunehmenden Gewicht einer „Berlin-Regelung“ in der Politik eine nur marginale Rolle. Die Abwendung von Berlin ersetzte die direkte Absage an die nationalsozialistische Vergangenheit. Berlins Abhängigkeit von den Besatzungsmächten, mit denen man in den Folgejahrzehnten wirtschaftlich gleichzog, ließ ein Kapitel offen, das man gern geschlossen hätte. Ostdeutsche kannten ihren Teil Berlins als barste waren aber doch die Bestialitäten des Antisemitismus“ – mit der Warnung vor einem neuen Antisemitismus (219–221). 40 Wolfgang Schivelbusch, Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945–1948. München/Wien: Hanser, 1995, 130–133.

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„Hauptstadt der DDR“, gereinigt und abgelöst von seiner zentralen Funktion in der Weimarer Republik und im Faschismus, repräsentativ, aber nicht identitätsbildend für den neuen Staat der sozialistischen Menschengemeinschaft. Für die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik besaß Westberlin nur insofern eine spezielle Bedeutung, als es für Kulturabkommen mit anderen Ländern eine Spezialklausel erforderlich machte, was noch in den siebziger und achtziger Jahren einem engeren Austausch mit Polen und der Sowjetunion einen Riegel vorschob. Damit war die Stadt weniger mit ihrem intellektuellen Gewicht als ihrer stets notwendigen politischen Sonderbehandlung im Gespräch. Um der zunächst versorgungstechnischen, dann militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung willen war Westberlin schnell zum Kristallisationsort des Kalten Krieges geworden und damit zum Magneten der amerikanischen Kulturpropaganda gegen den Kommunismus. Das führte zu der international besetzten, groß inszenierten Zusammenkunft des Congress for Cultural Freedom 1950 in dieser Stadt und der von Melvin Lasky herausgegebenen Zeitschrift Der Monat.41 Hier fanden kulturpolitische Schlachten um die Gewinnung der linken Intelligenz statt, deren Übertritt zum sowjetisch dominierten Sozialismus man zu verhindern suchte. Dabei artikulierte sich eine neue Internationalität, die in der Militanz ihres Freiheitspathos der Militanz des Friedenspathos jener Internationale der europäischen Intelligenz nicht nachstand, mit der die Kominform die Kulturpropaganda der dreißiger Jahre nach 1945 weiterführte. Mit dieser geistig-politischen Exterritorialisierung erwarb Westberlin lange Zeit die Reputation eines amerikanischen Außenpostens, was die Studentendemonstrationen gegen die amerikanische Vietnampolitik in den späten sechziger Jahren besonders inspirierte. Erst in den achtziger Jahren, als eine versöhnlichere Internationalität die Ost-West-Spaltung Europas unterlief, begann es seine Bedeutung für die notwendigen Klärungsprozesse zwischen Ost- und Westdeutschland zurückzugewinnen. Jedoch wurde es darin eher vom Ausland wahrgenommen, sodass der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands außerhalb der deutschen Grenzen beinahe größere Erwartungen an die neue Rolle der Stadt weckten als in der Bundesrepublik, deren intellektuelle Schichten ihre Indifferenz nicht verbargen. Jene Exterritorialisierung der Stadt, die von größeren Gruppierungen von Amerikanern, Israelis und russischen Juden neben dem Löwenanteil von Türken für eine neuartige Zugehörigkeit genutzt worden war, hatte das kulturelle Klima sowohl von der bundesdeutschen wie der sozialistisch eigenstaatlichen Kulturagenda separiert. 41 Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München: Oldenbourg, 1998.

Das Ende der Kulturmacht und die Abwendung vom Osten  |

Dass die Stadt schnell aus der Spaltung erwachte, resultierte nicht zuletzt aus der intensiven Beteiligung ausländischer, vor allem amerikanischer Akteure. Immer noch von der Projektion jenes unheimlichen Gesamtdeutschland fasziniert, das das Dritte Reich verkörpert hatte, drängte man Berlin geradezu die Rolle des Katalysators auf, mit dem sich die Substanz deutscher Geschichte und Kultur nach Nationalsozialismus und Holocaust und der erneuten staatlichen Vereinigung endgültig reflektieren ließ. Auf deutscher Seite ging mit der Wiedereinsetzung Berlins als Hauptstadt anstelle von Bonn, 1991 von dem gesamtdeutschen Parlament mit nur achtzehn Stimmen Mehrheit beschlossen, die Erkenntnis einher, dass die Stadt nun die nach 1945 zunächst intellektuell aufgenommene Auseinandersetzung mit dem deutschen Desaster zumindest symbolisch zu einem Abschluss bringen müsse. Das geschah mit der Gründung oder Übersiedlung zahlreicher Organisationen, die sich der Aufarbeitung der Vergangenheit, insbesondere der Geschichte der Juden in Deutschland, widmeten. Es kulminierte in dem von dem New Yorker Architekten Peter Eisenman entworfenen, zentral neben dem neuen Regierungsviertel errichteten und 2005, sechzig Jahre nach Kriegsende, eröffneten Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Das Ende der Kulturmacht und die Abwendung vom Osten Der Anspruch, dass Deutschland sich entsprechend einer Kulturmacht in der Welt verhalten müsse, war vage, aber umso folgenreicher gewesen. Was die Verhaltensformen im Guten und Schlechten mit sich brachten, ist in den vorangehenden Kapiteln, ausgehend von der Nationalisierung der Kultur im Wilhelminischen Reich, als Teil der inter-nationalen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts behandelt worden. Es bildet zweifellos nicht die einzige Ausrichtung offizieller Kulturpolitik über drei verschiedene deutsche Regimes hinweg, jedoch eine zentrale Tendenz, die viele der Aktionen und mentalen Dispositionen zu erklären hilft. Die Darstellung dieser machtvollen und machtgebenden Tendenz, deren spezielle Konsequenzen für Juden und die im Krieg besetzten Nachbarvölker skizziert worden sind, wäre unvollständig, wenn nicht auch die Folgen ihrer Niederlage für die deutschsprechenden Bevölkerungsgruppen zur Sprache kämen, für das Jahr 1945 das Ende ihrer Kultur- und Lebenszusammenhänge brachte. Die Folgen waren existenziell, oftmals tödlich, und betrafen Millionen Deutsche, Auslandsdeutsche, Minderheiten und Diasporas zumeist in Ost- und Süd-

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osteuropa.42 Angesichts der enormen Publizität, die ihre Vertreibung und Umsiedlung in Westdeutschland gefunden haben, stellt sich die Frage, inwiefern damit neben der wirtschaftlichen auch eine kulturelle Integration der Auswandererkulturen in das zersplitterte Kulturverständnis der Nachkriegsdeutschen stattgefunden hat. Eines ist offensichtlich: dass die Sowjetzone und spätere DDR mit der Aufnahme von über vier Millionen Flüchtlingen prozentual mehr Bevölkerung aus den ehemaligen Reichsgebieten und den Diasporas integrierte als Westdeutschland, dass aber, nachdem sich selbst SED-Führer wie Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl zunächst gegen die Annahme der Oder-Neiße-Grenze ausgesprochen hatten, das Faktum der Umsiedlung – wie es offiziell hieß – ab 1950 nicht mehr öffentlich zur Debatte stand. Demgegenüber wurde es in Westdeutschland mit der Gründung des Staates von Anfang an zum Instrument politischer Revisionsansprüche, die ein neues Verständnis des kulturellen Verhältnisses der Deutschen zum Osten lange behinderten. Für die Auslands- und Volksdeutschen hätte es die Anerkennung ihrer mehrkulturellen Verflechtungen in ihren mannigfaltigen Varianten bedeutet. Stattdessen setzten die Funktionsträger des Bundes, vor allem das neu gegründete Vertriebenenministerium und die Vertriebenenorganisationen, die Fixierung an dem blutsmäßig und kulturell definierten Begriff vom Deutschtum fort, den die Weimarer Regierung und noch stärker das NS-Regime zur Basis einer expansiven Außenkulturpolitik gemacht hatten. Das bedeutsamste Dokument dieser Politik, die mehrbändige Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa (1951–1961), exemplifizierte mit der Aufarbeitung der furchtbaren Erfahrungen der Betroffenen deren Opferstatus, sparte dabei allerdings die Verantwortung der deutschen Kriegsmaschine aus, zu der auch der federführende Historiker Theodor Schieder mit seinen Gutachten zu den Bevölkerungsverschiebungen nach 1940 beigetragen hatte.43 Auch hier galt, dass die Schienen, auf denen vor 1945 das ideologische Material zur Kolonisierungspolitik transportiert worden war, wohl andere Züge tragen konnten, nicht aber einen Richtungswechsel ermöglichten, der die 42 Eine umfassende Übersicht über die Minderheitenerfahrungen in Polen, Südtirol, Ungarn, Südost� europa und dem Elsass in: Deutschsein als Grenzerfahrung. Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950, hg. von Matthias Beer, Dietrich Beyrau und Cornelia Rauh. Essen: Klartext, 2009; eine gründliche Aufschlüsselung der nach Ländern höchst verschiedenen historischen, politischen und kulturellen Gegebenheiten vor 1945 einschließlich des ostdeutschen Reichsgebietes, Polens, Rus� slands, Rumäniens, Jugoslawiens, des Baltikums und der Tschechoslowakei in: Die Vertriebenen vor ihrer Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Struk� turen, Entwicklungen, Erfahrung, 2 Bde., hg. von Walter Ziegler. München: Iudicium, 1999. 43 Eva Hahn und Hans Henning Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn: Schöningh, 2010, 460–475; R.  M. Douglas, Orderly and Humane. The Expulsion of the Germans after the Second World War. New Haven: Yale University Press, 2012 (dt.: Ordnungsgemäße Überführung. München: Beck, 2012).

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Konzeption vom „deutschen Osten“, den die anderen Völker weggenommen hätten und zurückgeben müssten, als fragwürdige Projektion erwiesen hätte. Die Projektion vom „deutschen Osten“ war in den dreißiger Jahren zu einem mächtigen Beweis dafür geworden, dass Deutschtum trotz Industrialisierung und Modernisierung die Kernsubstanz des Volkes ausmache. Ostdeutsche waren mit ihren schönen alten Städten und Bauernhöfen als Grenzlandvolk ähnlich den Volksdeutschen zu den eigentlichen Deutschen stilisiert worden. Ihre Vertreibung aus den angestammten Regionen wurde nun als Opfer für das Gesamtvolk dargestellt, womit man beweisen zu können glaubte, dass auch die Alliierten Unrecht begangen hätten. Die Dokumentation sollte der Forderung nach Revision der Ostgrenze auf einer künftigen Friedenskonferenz entscheidendes Gewicht verleihen. Wie wenig von dieser Erhöhung zunächst als exemplarische Deutsche, dann als exemplarische Opfer zu halten war, mussten die Betroffenen zu ihrer Enttäuschung immer wieder feststellen. Nach den Beschlüssen von Versailles hatten sie das Interesse einer von den Reichsämtern unterstützten Deutschtumsindustrie auf sich gezogen, die ihr Alltags- und Festtagsleben sowie ihre Landschaft in Foto und Erzählung einem breit propagierten Konsum zugänglich machte. Traditionen, die lange als selbstverständlich galten, waren vom Reich politisch aufgeladen und schließlich der Machtexpansion unterstellt worden. Während deutschsprachige Minderheiten jahrzehnte- oder jahrhundertelang neben der neu erworbenen Sprache ihre einheimische Sprache und Kultur gepflegt und der jeweiligen Umwelt angepasst hatten, waren sie, häufig unfreiwillig, spätestens im Ersten Weltkrieg mit der nationalen Vergemeinschaftungsideologie zu einem Machtfaktor der Reichspolitik geworden, hatten in den zwanziger und dreißiger Jahren unter Betreuung des Auswärtigen Amtes, vielfach freiwillig, als Hauptstütze des Kulturmachtanspruchs gedient, waren im Krieg in zahlreichen Gruppierungen sogar in die Kolonisierungsstrategie der deutschen Militärmacht eingebunden worden und hatten schließlich mit dem Rückzug und der Niederlage der Wehrmacht als Symbole des Deutschtums auch die Folgen dieser Identitätsprägungen zu tragen.44 Das Auswärtige Amt hatte diese Behandlung deutscher Minderheiten unter kulturellem Machtanspruch mitgestaltet. Mit der Wiedergründung in Bonn, teilweise mit demselben Personal wie zuvor, schien es, als habe man diese Verantwortlichkeiten mit dem Wegzug aus Berlin in den dortigen Trümmern 44 Doris L. Bergen, The Volksdeutsche of Eastern Europe and the Collapse of the Nazi Empire, 1944–1945, in: The Impact of Nazism. New Perspectives on the Third Reich and Its Legacy, hg. von Alan E. Steinweis und Daniel E. Rogers. Lincoln/London: University of Nebraska Press, 2003, 101–128.

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zurückgelassen, als sei die zum großen Teil heimliche Förderung der deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa seit den zwanziger Jahren tatsächlich nie geschehen. Dem kulturellen Volkstumskampf hatte man, teils über Mittlerorganisationen, eine Vielzahl von Schul‑, Bildungs- und Organisationsprogrammen zukommen lassen, die dann von NS-Parteibehörden mit rassistischen Tendenzen dupliziert oder verdrängt wurden – zweifellos ein Argument, die Verantwortung abzuschieben. So verloren ethnische Deutsche ihren Status für das Außenamt und wurden nach der Umsiedlung ins Nachkriegsdeutschland von der Integrationspolitik des Vertriebenenministeriums und anderer Behörden neu kategorisiert. Dieter Sattlers erster Bericht über die Aktivitäten der Kulturabteilung und der Auslandsvertretungen samt ihren Kulturattachés lässt dieses Thema außer bei der Behandlung von Auslandsschulen ostentativ aus.45 Bei der Verrechtlichung der Vertreibungsproblematik im neuen Vertriebenenministerium kam dem Begriff „deutsche Volkszugehörigkeit“ entscheidendes Gewicht zu, der in Fortgeltung des Reichsgesetzes von 1913 ins Grundgesetz aufgenommen worden war und die historische Verantwortung für die Taten des Reiches besiegelte. Diese Taten schlossen die „millionenfache Entrechtung und Vertreibung jener Menschen“ ein, „die zu ‚Volksdeutschen‘ qua Zuschreibung durch den deutschen Staat geworden waren“.46 Sie machten jene lügnerische Anpreisung der Zwangsumsiedlungen in den Warthegau als „große Heimkehr ins Reich“ 1940 zu einem furchtbaren Auftakt zu den Zwangsumsiedlungen noch viel größeren Umfangs, die 1945/46 auch die Deutschen aus Ost- und Westpreußen, Danzig, Pommern und Schlesien in das Reichsgebiet westlich der Oder-Neiße-Linie strömen ließen. So leitete, wie es 1940 hieß, die „Rückwanderung von dichten Scharen treuer Volksdeutscher aus dem Osten und Südosten Europas, die, dem Rufe des Führers folgend, ihre Hütten nunmehr unter dem Schutze des Deutschen Reiches auf wiedererworbener Erde an unseren östlichen Grenzen aufzubauen vermögen“,47 eine Völkerwanderung ein, die für Millionen Menschen nicht Heimkehr, sondern Verlust einer unendlich vielfältigen, von Mehrfachidentitäten geprägten Lebensform bedeutete. Wenn 45 Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes. Jahresbericht 1964. 46 Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, 422. Spezifisch über die Volksdeutschen in der Ära des Zweiten Weltkrieges: Die Volksdeut� schen in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, hg. von Jerzy Kochanowski und Maike Sach. Osnabrück: Fibre, 2006; Rudolf Jaworski, The German Minorities in Poland and Czechoslovakia in the Interwar Period, in: Ethnic Groups in International Relations, hg. von Paul Smith. New York: New York University Press, 1991, 169–185. 47 Hugo Grothe, Die große Heimkehr ins Reich. Wissenswertes zur Rückwanderung der Volksdeut� schen aus Ost und Südost. Im Auftrag des „Instituts für Auslandskunde und Deutschtum im Aus� land“ der „Deutschen Kulturpolitischen Gesellschaft e. V.“. Leipzig, 1940, 1.

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sie etwas retten konnten, war es der deutsche Anteil an dieser Identität, von dem sie sich erhofften, er sei der Fahrschein zur rettenden Integration. Wie sie bald feststellen mussten, verlor er mit dem Zug nach Westen seinen Wert. Die viel gepriesene, unter Schmerzen und Opfern erkaufte wirtschaftliche Integration der Millionen Flüchtlinge westlich der Oder-Neiße-Grenze schloss auch die ethnischen Deutschen aus der Sowjetunion und Ost-Mitteleuropa ein. Sie verdankte Entscheidendes deren Fleiß und Arbeitsethos, viel aber auch deren Anlage zur Mehrfachidentität, genauer der Fähigkeit, in einer Situation, in der ihre Herkunftskultur abgelehnt oder abgewertet wurde, als vollwertiger Arbeiter oder Mitarbeiter zu funktionieren. Die Heimatvertriebenen, die Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Reichsgebieten sowie die Aussiedler aus osteuropäischen Ländern begegneten größten Hindernissen gerade in der Kultur und Sprache, die ihnen den Lebensanker gegeben und schließlich ihre Existenz geraubt hatte. Nachdem Kultur und Sprache – bei den Minderheiten auch „Rasse“, was immer das war – zunächst von den Militärs und SS-Funktionären und danach auch von dem deutschen Empfangspersonal auf einen beschämenden Nullstatus reduziert worden waren, mussten die Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft plötzlich lernen, dass ihre Integration keine Heimkehr in ihre Kultur darstellte.48 Was akzeptiert wurde, war die regionale Zugehörigkeit mit seltsamen Dialekten aus dem Osten, die in der örtlich und mundartlich angelegten Kulturgesinnung der Deutschen einer gewissen Toleranz begegnete. Was zunehmend weniger toleriert wurde, war die Berufung auf das Deutschtum als einer nationalen Verpflichtung, die von Vertriebenenorganisationen eingefordert wurde, darüber hinaus aber auch der ‚deutsche‘ Kulturgestus, mit dem sich die Diasporadeutschen verständigt hatten und der nun in der postnationalen, konsumorientierten Leistungsgesellschaft als abgestanden empfunden wurde. Der Ethnologe Wolfgang Kaschuba hat diese Ungleichzeitigkeit im kulturellen Code als ethnografisches Phänomen analysiert: „Ironischerweise spiegeln uns diese ‚Auslandsdeutschen‘ mit ihren oft altertümlichen deutschen Redewendungen, mit dem stolzen Verweis auf ‚rein‘ deutsche Familienstammbäume wie auf deutsches Volkstanz- und Volksliedrepertoire gewissenmaßen ein Stück ‚deutscher Kultur‘ zurück.“49 Was in den völkischen Projektionen der dreißiger Jahre noch als Intensivierung des Deutschtums mit Hochachtung, wenn auch Gefühlen der Fremdheit quittiert worden war, besaß nun außer dem Opfersta48 Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler, 2008. 49 Wolfgang Kaschuba, Volk und Nation. Ethnozentrismus in Geschichte und Gegenwart, in: Nationa� lismus – Nationalitäten – Supranationalität, hg. von Heinrich August Winkler und Hartmut Kaelble. Stuttgart: Klett-Cotta, 1993, 56–81, hier 75.

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tus keine erhöhende Qualität mehr. Hatte man es zuvor als Außenposten der deutschen – „germanischen“ – Kulturmacht toleriert, empfand man es nun als Belastung. Während die Flüchtlinge zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Ostund Westdeutschlands Gewaltiges beitrugen, wurden sie bis auf wenige, noch zu erwähnende Einzelne beim kulturellen Aufbau, der aus der Absage an das Kulturmachtdenken seine Energie bezog, ins Abseits gedrängt. Als Teil der Rechtsnachfolge verpflichtete sich die Bundesregierung im Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes, „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewußtsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten.“ Außerhalb der Museen, die in den Folgejahrzehnten von der Bundesregierung für Ostpreußen in Lüneburg, Westpreußen in Münster, Pommern in Greifswald, Schlesien in Görlitz, Donauschwaben in Ulm und Siebenbürgen in Gundelsheim gefördert wurden, verlor sich jedoch nach dem Abtreten der Erlebnisgeneration das Gefühl dafür, dass sich deutsche Identität in vielerlei kulturellen Variationen manifestieren konnte (weshalb es, wenn es von später zugewanderten Ausländern artikuliert wurde, eines neuen Gewöhnungsprozesses bedurfte). Hier mag sich, wie schon bei einem früheren Kapitel über den Osten, ein weiterer Einschub über die habituellen Inszenierungsformen des Deutschen anbieten, die Kaschuba in der Erweiterung seiner Beobachtung mit der Feststellung umreißt: „Darin dokumentiert sich eine ebenfalls überlieferte Tradition der Kulturpflege, des demonstrativen Deutsch-Seins, wie es vor 70 oder 100 Jahren noch ‚im Reich‘ betrieben wurde. Damals gehörte diese Geste zum ‚deutschen Habitus‘.“50 Damit kommen Kriterien für habituelle Wandlungen zur Sprache, die anlässlich der soziologischen Beobachtungen des französischen Reisejournalisten Jules Huret nach der Jahrhundertwende skizziert worden sind: sowohl der von Max Scheler und Max Weber kritisierte Habitus kultureller Arroganz als auch der von Huret beobachtete Habitus sachlichen Engagements mit der Welt (wozu man auch die von ausländischen Wissenschaftlern kritisierte und nachgeahmte „wissenschaftliche Verhaltensform“ zählen kann). Der Rückverweis auf diese Wandlungen an dieser Stelle hat direkt mit den habituellen Formen zu tun, in denen sich der Kulturmachtanspruch neben politischen, proklamatorischen, militärischen, künstlerischen und – nicht zu vergessen – verwaltungsmäßigen Ausformungen seit dem Wilhelminismus manifestierte. Dazu gehört der militante Habitus der Professoren, welche die „Ideen von 1914“ verkündeten, ebenso wie das Konzept der ‚Haltung‘, welches das Alltagsverhalten im Nationalsozialismus mit erneuter Vermännlichung und Militarisierung durchdrang, nachdem sich in der Weimarer Republik, insbe50 Ebd.

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sondere durch die Dominanz Berlins, eine weniger angestrengte Sachlichkeit ausgebildet hatte. Die ‚Haltung‘ prägte das Verhalten der geschlagenen Männer noch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und wurde von der Besatzungsherrschaft infrage gestellt, verlor aber erst mit dem Ende der fünfziger Jahre ihre kulturelle Autorität. Das war auch die Zeit, da das nach dem Krieg wiederbelebte „Deutungsmuster Kultur und Bildung“51 mit dem neuen, wirtschaftlich und zivil ausgerichteten Habitus, der auch Frauen aus ihren Zwängen heraustreten ließ, seine Macht verlor. Für die Auflösung des Kulturmachtanspruchs spielte das Verhältnis zum „Osten“ insofern eine ominöse Rolle, als es hier im Gegensatz zu dem zunächst unbehaglichen, dann häufig bekennerhaften Anschluss in Richtung Westen, der von einem freieren Habitus sekundiert wurde, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts kaum zu einer Auseinandersetzung kam, die dem intellektuellen Eigengewicht der östlichen Gebiete und Einflüsse gerecht wurde. Diese Absage hätte die Loslösung von der von Bundesregierung und Vertriebenenverbänden vertretenen politischen Agenda eines Ostens bedeutet, den die Deutschen dank ihrer kulturellen Überlegenheit kultiviert, jedoch aufgrund von Jalta und Potsdam „verloren“ hätten und wiedergewinnen müssten.52 Solange die Berücksichtigung der eindrucksvollen Kulturen östlich der Oder hauptsächlich dazu diente, ihre Deutschheit zu erweisen – das war das zentrale Ziel der Ostforschung seit den zwanziger Jahren –, konnte eine kritische Diskussion der Vielfalt ihrer kulturellen Mischformen nicht in Gang kommen, das heißt auch nicht jener einst von Leo Baeck auf den Punkt gebrachten Einsicht in den enormen Beitrag dieser Regionen, einschließlich der aus ihnen zuwandernden Juden, zur Formung des modernen Deutschland mit Berlin als Zentrum. In den kulturellen Verflechtungen mit Ost-Mitteleuropa hatte es wichtige Antriebe für die ko-konstitutive Rolle der Juden bei der Entwicklung und Vermittlung moderner Denk‑, Gestaltungs- und Geschäftsstrukturen sowie eines dafür empfänglichen Publikums gegeben. Berlins Funktion als Kulturhauptstadt des östlichen Europa zu Beginn der Weimarer Republik hatte ursächlich damit zu tun, dass nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die postwilhelminische Obrigkeit die kulturelle Fermentierung trotz Behinderungen in den Wiederaufbau einarbeitete. Die Mythologisierung des „deutschen Ostens“,53 die in der Zwischenkriegszeit mit anziehenden Schilderungen und Bildern zu einem nationalen Gefühls51 Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines Deutungsmusters. Frankfurt: Suhr� kamp, 1996, 305–312. 52 Hahn/Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern, 436–459. 53 Beispielhaft der aufwendig auf hohem Niveau edierte Band: Der deutsche Osten. Seine Geschichte, sein Wesen und seine Aufgabe, hg. von Karl C. Thalheim und A. Hillen Ziegfeld. Berlin: Propyläen, 1936.

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kult gesteigert worden war, erfuhr mit den Erinnerungen der Vertrieben neue Aktualität, verlor allerdings mit dem Revisionsanspruch der Politiker und Verbandsfunktionäre ihren intellektuellen Anreiz. Das ging so weit, dass die Ständige Konferenz der Kultusminister 1956 in ihrer Verlautbarung über das Erziehungs- und Bildungswesen mahnend konstatierte, dass „das deutsche Geistesleben und Bildungswesen von den politischen und kulturellen Gegebenheiten des europäischen Ostens bis vor kurzem kaum Kenntnis genommen, ja selbst den eigenen Osten und Südosten in verhängnisvoller Weise aus dem Blickfeld verloren hatte.“54 Die Kulturministerkonferenz empfahl, das Fach Ostkunde an den Schulen einzuführen. Allerdings sparte sie aus, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Beziehungen zu diesen Regionen die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik zur Voraussetzung machte. Die antikommunistische Propaganda des Kalten Krieges ermöglichte, dass diese Beschäftigung noch jahrzehntelang ausblieb. Nur wenige scheuten nicht die offenen Worte, die der Nationalismusforscher und Bildungshistoriker Eugen Lemberg 1964 mit diesem Fach verband: „Dazu kommt die verbrecherische Ausrottung der Juden, die das deutsche Volk auf lange Zeit um das moralische Ansehen in der Welt gebracht hat. So ist ein aufmerksames und achtungsvolles Studium der Völker und Probleme Osteuropas – bei aller Wahrung des Rechtes und der deutschen Interessen – eine Notwendigkeit auch für die innere Läuterung des deutschen Volkes.“55 Selbst unter kritischen Intellektuellen ließ der Einbezug des Ostens in den Läuterungsdiskurs nach Auschwitz noch lange auf sich warten. Der Russland­ experte Karl Schlögel, der 1986 mit seinem Traktat Die Mitte liegt ostwärts56 das Eis brach, erinnerte noch zwei Jahrzehnte später an diese intellektuelle Hürde: „Die Frankfurter Schule und die 1968er hatten keinen besonderen Sinn für das östliche Europa. Es war irgendwie erledigt, zu den Akten gelegt, die uns abgekehrte Seite des Mondes. Das Übermaß an Verwicklung mit dem Osten – ‚der Osten‘, Generalplan Ost, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Flucht und Vertreibung aus dem Osten – war endlich einem fast habituellen Desinteresse gewichen. Mit dem Osten hatten vor allem die Gestrigen und Ewiggestrigen zu tun – die Vertriebenen vor allem – und dann die neue Ostpolitik. Der Osten war weit weg, auch wenn er in der Nachbarschaft lag. New York war näher an

54 Empfehlungen für Ostkunde vom 13.12.1956, zit. nach Eugen Lemberg, Ostkunde. HannoverLinden: Jaeger, 1964, 18. 55 Lemberg, Ostkunde, 38. 56 Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa. Berlin: Siedler, 1986.

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Westberlin, und Mallorca war bald am nächsten auf der Karte der geteilten Welt und des Kalten Krieges.“57 Schlögels Feststellung trifft zu, ist allerdings wohl zu stark von seiner eigenen Mission getragen, denn in diesem Falle schlugen sich die Folgen der von ihm zitierten neuen Ostpolitik doch in einer neuen Beschäftigung mit Osteuropa nieder, welche die deutschen Mittlerorganisationen zunehmend involvierte. Durchbrüche auf ihre Art stellten unter Leitung des aus Pommern stammenden, liberalen Präsidenten des Goethe-Instituts, Klaus von Bismarck, die Kulturwochen dar, die das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut zwischen 1979 und 1982 in osteuropäischen Hauptstädten veranstalteten. Sie vermittelten mit deutschen Musik‑, Film‑, Kunst‑, Theater‑, Tanz- und Wortprogrammen in Warschau, Budapest, Bukarest, Sofia, Ljubljana und Prag aufsehenerregende Kontakte mit Autoren, Künstlern und Filmemachern und gingen über eine bloße Selbstdarstellung hinaus. Ohnehin geschah die Selbstabschirmung von der Auseinandersetzung mit dem Osten eher auf der Seite des intellektuellen Establishments einschließlich der „Suhrkampkultur“ als auf der einzelner Schriftsteller.58 Auf den eingefahrenen Wegen deutscher Kultur, die, wenn kein Zentrum wirksam war, Vitalität, Pedanterie und Aufbruchsgeist aus den Erfahrungen der Regionen schöpfte, profilierte sich seit den späten fünfziger Jahren eine neue Generation von Autoren, bei denen „der Osten“ biografisch und intellektuell anwesend war. In den Romanen von Günter Grass, Siegfried Lenz, Horst Bieneck, aber auch Johannes Bobrowski und Christa Wolf und anderen Autoren, die von Danzig, West- und Ostpreußen oder Schlesien handelten, kam „der Osten“ über seine Provinzen in den geistigen Haushalt deutscher Leser zurück, so wie es mit Mecklenburg, dem Rheinland und der Bodenseelandschaft in den Romanen von Uwe Johnson, Heinrich Böll und Martin Walser geschah. Auf diese Weise integrierten sich erneut österreichische Autoren einer jüngeren Generation im deutschen Kulturraum, wobei die Impulse bezeichnenderweise weniger von der Hauptstadt Wien als von den regionalen Zentren Graz und Salzburg ausgingen, als Peter Handke, Thomas Bernhard, Peter Turrini, Barbara Frischmuth und zahlreiche andere Autoren Österreichs Präsenz aus einer neuen, kritischen Abrechnung mit dem Regionalen konstituierten. Spricht man von einer Regeneration der deutschen Literatur als Teil der Nachkriegskultur, manifestiert sich in diesen Werken und ihrer großen Popularität nach der aufregenden und für die Außenwelt national pro57 Karl Schlögel, An der „porta orientis“. Dankrede, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (2004), 112–119, hier 115. 58 Friedrich Kießling, Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945–1972. Paderborn: Schöningh, 2012, 410–413.

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filierten Phase der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Stärke und Innovationskraft der regionalen Tradition. Fontane und den Lesern des späten 19. Jahrhunderts wären solche Erzählungen nicht fremd erschienen. Die lebenslange Faszination, die Fontane auf Christa Wolf ausübte, wird von hier aus verständlich. Diese Regionalisierung war die nationale Selbstverständigung, welche die vorhergehenden zwei Generationen mit Vorliebe über die Inszenierungen der Metropole vorgenommen hatten. Im Ausland hatte jene metropolitane (Berliner) Literatur einen wesentlich stärkeren Eindruck hinterlassen; anderen europäischen Metropolen waren damit neue Formen des Modernismus vermittelt worden. Nun verschafften Günter Grass am erfolgreichsten im westlichen und Heinrich Böll im östlichen Ausland Leseunterhaltung mit der Erfahrung eines bescheideneren, ‚von unten‘ gesehenen Deutschland der Regionen. Auch jüngere DDR-Autoren wie Erwin Strittmatter, Erich Loest, Christoph Hein, Brigitte Reimann oder Werner Bräunig schöpften aus regionalen Impulsen – eine seltsame Regeneration der Literatur nach einer Epoche der Nationalisierung und Zentralisierung. Sie wirkte für das Ausland allzu selbstbezogen, allzu deutsch. Das war sie in der Tat, auch in der Akzeptanz fremder Erfahrungen aus dem Osten – insofern sie diese wie die Flüchtlinge mit ihrer fremden Mundart als Teil des gemeinsamen Kulturraumes verstand.

„Heisenberg, ihr seid alle zweitklassig“ Nicht nur in Deutschland bildete Wissenschaft59 das Rückgrat des kulturellen Selbstbewusstseins der geistigen Eliten. In Deutschland aber war sie in ihrem Einsatz für den Nationalsozialismus gründlich kompromittiert worden, nicht anders als Literatur und Kunst. Von Anfang an forderten Besatzungsmächte und Wissenschaftsemigranten die Selbstreinigung ihrer Repräsentanten und Institutionen. Eine solche Selbstreinigung erforderte, den seit dem 19. Jahrhundert an Universitäten und Forschungseinrichtungen aufgebauten Apparat insgesamt auf den Prüfstand zu heben, das heißt nicht nur aus dem „Käfig“ (Wengenroth) der Selbstisolation herauszuholen, sondern in seinen intellektuellen, institutionellen und habituellen Konstanten kritisch sichtbar und damit veränderbar zu machen. Verwaltete Wissenschaft war in diesem Sinne ein viel klarer umrissenes Phänomen als verwaltete Kultur. Während Kultur alle möglichen Traditionen und Praktiken, sowohl Schiller’sche Heroenmonologe wie 59 Wissenschaft, zumeist Naturwissenschaft, und Technik werden hier in ihrem während des Zweiten Weltkrieges besonders entwickelten Aufeinanderbezogensein wahrgenommen, der Einfachheit halber aber zumeist unter dem Begriff ‚Wissenschaft‘ angeführt.

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Porträtbüsten oder Orchesterkonzerte, mit Buchkampagnen, Führeroden und Staatspreisen vermischte, funktionierte Wissenschaft sowohl in den Universitäten wie in den Forschungseinrichtungen nach lange vor 1933 etablierten Regeln und Leistungsansprüchen, bot also alles in allem ein übersichtlicheres Objekt für Reform und Selbstbesinnung. Was geschah, als dieser Apparat auf den Prüfstand kam? Er verhielt sich wie jede verwaltete Institution, dank des deutschen Wissenschaftlerhabitus höchstens noch etwas intransigenter, indem er alle Energien darauf verwandte, Verantwortung abzustoßen und eingefahrene Praktiken fortzusetzen. Diese Haltung hatte sich 1933, als die jüdischen Kollegen vertrieben wurden, als vorteilhaft für die Beteiligten erwiesen und war von der Gesellschaft sanktioniert worden. Für die jüdischen Professoren und Dozenten – etwa 15 Prozent des damaligen Lehrpersonals – war diese Vertreibung so plötzlich gekommen, dass es ihnen im Ausland nicht leicht fiel, den lange verinnerlichten Wissenschaftlerhabitus abzulegen und die zumeist angelsächsischen Formen wissenschaftlichen Verhaltens zu erlernen. Nach den schwierigen Jahren der Akkulturation wiesen sie, wenn sie nach 1945 mit den deutschen Kollegen wieder in Kontakt kamen, eine hart erkämpfte Distanziertheit gegenüber dem deutschen Wissenschaftsapparat auf, die sie auf eine endlich vollzogene Wandlung der Deutschen hoffen und zugleich daran zweifeln ließ.60 Die Hoffnung bestand darin, dass deutsche Wissenschaftler ihren unter dem Nationalsozialismus geformten moralischen Kompass wieder geradegerückt hatten. Die Emigranten wurden zumeist enttäuscht. Die deutschen Kollegen waren beim Ausagieren von Selbst- und Fremdwahrnehmung, Vereinnahmung und Abgrenzung nicht viel über 1933 hinausgekommen, verdrängten und verharmlosten vielmehr in ihren Kontakten das, was inzwischen geschehen war. Aus den vielen seitdem erschlossenen Briefzeugnissen ergibt sich, dass es weniger die ungünstigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse in dem zerstörten Land waren, welche die Emigranten eine Rückkehr ausschließen ließen, als vielmehr der ungebrochen rechthaberische und uneinsichtige, nun selbstbemitleidende Habitus der im Land verbliebenen Wissenschaftler. So bemerkte Lise Meitner, Otto Hahns Mitarbeiterin bei der Entdeckung der Kernspaltung, im Brief an Hahn, als sie das Angebot einer Direktorenstelle im neu aufzubauenden Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz ablehnte: „Ich habe wenig Angst vor den ungünstigen Lebensverhältnissen, aber sehr erhebliche Bedenken gegenüber der geistigen 60 „Ihr Kampf um Anerkennung zielte eben nicht nur auf die Erlangung materieller Sicherheit, sondern erstreckte sich auch auf die Wiedergewinnung eines gestohlenen Teils der eigenen Biographie.“ Mi� chael Schüring, Minervas verstoßene Kinder. Vertriebene Wissenschaftler und die Vergangenheitspo� litik der Max-Planck-Gesellchaft. Göttingen: Wallstein, 2000, 360.

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Mentalität. Alles, wo ich etwa – außerhalb der Physik – anderer Meinung sein würde als die Mitarbeiter, würde sicher mit den Worten begegnet werden: Sie versteht natürlich die deutschen Verhältnisse nicht, weil sie Österreicherin ist oder weil sie jüdischer Abstammung ist.“61 In dieser Kollision des Geistigen und Habituellen gab es viel Kommunikation, aber wenig volle Verständigung zwischen Emigranten und Daheimgebliebenen. Im Bereich der Literatur hatte Thomas Mann im offenen Antwortbrief auf die Einladung von Walter von Molo bald nach Kriegsende mit seiner Verehrung der deutschen Kultur und Verfluchung all dessen, was während des Dritten Reiches von Deutschen an Kultur praktiziert worden war, die Formel geliefert, die dazu beitrug, dass man in der Folge die Kontinuitäten mit der Kultur Weimars sowie Ost- und Westdeutschland übersah und lange brauchte, um Kollaborations- von Resistenzformen zu unterscheiden: „Es war nicht erlaubt, es war unmöglich, ‚Kultur‘ zu machen in Deutschland, während rings um einen herum das geschah, wovon wir wissen: es hieße die Verkommenheit beschönigen, das Verbrechen schmücken. Zu den Qualen, die wir litten, gehörte der Anblick, dass deutscher Geist, deutsche Kunst sich beständig zum Schild und Vorspann des absolut Scheusäligen hergaben.“62 Dass die Sache komplizierter lag, machten die Schriftsteller in Berlin 1947 in aller Öffentlichkeit klar, als sie über das andere Deutschland und die notwendigen Differenzierungen im Hinblick auf den Missbrauch und die Anknüpfungswerte deutscher Kultur während des Nationalsozialismus sprachen. Dennoch reichte auch Thomas Manns – später gemilderte – Pauschalverdammung nicht an die Absage heran, die der berühmteste Wissenschaftsemigrant an die deutschen Gelehrten richtete, in welcher er nicht auf ihre Leistungen, sondern ihr Verhalten Bezug nahm. Als Otto Hahn, der Präsident der in Nachfolge der Kaiser-WilhelmGesellschaft 1948 offiziell gegründeten Max-Planck-Gesellschaft, den nach Princeton emigrierten Albert Einstein bat, ihr als auswärtiges wissenschaftliches Mitglied beizutreten, wie es andere emigrierte KWG-Mitglieder, darunter James Franck, Otto Meyerhof, Rudolf Ladenburg und Richard Goldschmidt, getan hätten, antwortete Einstein: „Lieber Herr Hahn: ich empfinde es schmerzlich, dass ich gerade Ihnen, d. h. einem der Wenigen, die aufrecht geblieben sind und Bestes taten während dieser bösen Jahre, eine Absage senden muß. Aber es geht nicht anders. Die Verbrechen der Deutschen sind wirklich das Abscheulichste, was die Geschichte der sogenannten zivilisierten Nationen aufzuweisen hat. Die Haltung der deutschen Intellektuellen – als Klasse be61 Lise Meitner an Otto Hahn (6.6.1948), zit. nach Klaus Hentschel, Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1945–1949). Heidelberg: Synchron, 2005, 149. 62 Thomas Mann, Warum ich nicht zurückkehre!, in: Die große Kontroverse, 31.

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trachtet – war nicht besser als die des Pöbels. Nicht einmal Reue und ein ehrlicher Wille zeigt sich, das Wenige wieder gut zu machen, was nach dem riesenhaften Morden noch gut zu machen wäre. Unter diesen Umständen fühle ich eine unwiderstehliche Aversion dagegen, an irgend einer Sache beteiligt zu sein, die ein Stück des deutschen öffentlichen Lebens verkörpert, einfach aus Reinlichkeitsbedürfnis. Sie werden es schon verstehen und wissen, dass dies nichts zu tun hat mit den Beziehungen zwischen uns Beiden, die für mich stets erfreulich gewesen sind.“63 Für Einstein hatte die Ausgrenzung lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten begonnen. Er wollte sich in keiner Form mehr für deutsche Wissenschaft und Kultur vereinnahmen lassen. Gelang es vielen Zeitgenossen, sich unter Hinweis auf das unpolitische Wesen von Kultur im Entnazifizierungsprozess das große Alibi der Gegenwart zu verschaffen, wie es Max Frisch 1949 nannte64, waren sie im Falle von Wissenschaft und Technik sogar noch schneller geneigt, den Bonus des Unpolitischen auszuspielen. Trotzdem mussten durch die Entnazifizierung in den verschiedenen Besatzungszonen über viertausend Mitglieder des wissenschaftlichen Personals ihren Platz räumen, von denen viele in den Folgejahren wieder zurückkehren konnten.65 Von Anfang an provozierte die Entnazifizierung von Wissenschaftlern den Kommentar, die Beschäftigung vieler belasteter Gelehrten vonseiten der Besatzungsmächte lasse die Fragwürdigkeit der Prozedur erkennen. Ein Großteil der Aktionen, welche die Alliierten noch während der Kriegshandlungen in einer Art Beutezug an Wissenschaftlern, Ingenieuren und deren Forschungen und Anlagen unternahmen, signalisierten für einen Großteil der Bevölkerung nicht die Schwäche, vielmehr die Stärke der deutschen Wissenschaft. Die Demontage- und Auslieferungspolitik 1945–1948, die von den Sowjets in aller Brutalität und Ausführlichkeit, von den Amerikanern gezielter, aber nicht weniger effektiv und von Franzosen und Briten selektiv praktiziert wurde, war einerseits davon motiviert, das Land zu bestrafen und seine wissenschaftliche Macht zu brechen, andererseits aber auch davon, sich dieser Macht mitsamt ihres Personals für die Förderung der eigenen Entwicklungen in der Kriegs‑, Flugzeug- und Raketentechnik zu bemächtigen. Diese „intellektuellen Reparationen“, wie sie der amerikanische Forscher John Gimbel ge-

63 Albert Einstein an Otto Hahn (28.1.1948), zit. nach Schüring, Minervas verstoßene Kinder, 337. 64 Max Frisch, Kultur als Alibi, in: Der Monat 1:7 (1949), 82–85. 65 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Ar� chiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 20–46, hier 36; ders., Scientific Changes in Germany 1933, 1945 and 1990. Towards a Comparison, in: Minerva 37 (1999), 329–354.

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nannt hat, wertete man nicht nur im Verliererland als Zeugnis für das wissenschaftliche Machtpotenzial der Deutschen.66 Von einer Kulturmacht aber war nicht mehr die Rede. Ihr Erbe ließ sich eher in den Laboratorien und Raketenprüfständen der nun voll dominierenden Weltmächte Amerika und Sowjetunion ausmachen als in den zerstörten Städten Deutschlands. Es entsprach wohl dem immer noch virulenten Potenzial deutscher Wissenschaft und Technik, dass die Siegermächte auf diesem Gebiet radikaler vorgingen als auf dem der Kultur. Entgegen der Annahme, dass Hoch- und Unterhaltungskultur wegen ihres umfassenden Einsatzes für die nationalsozialistische Kriegsanstrengung nach 1945 ein moralisches Purgatorium durchzumachen hatten, erhielt Kultur, als Synonym für vielerlei Werte und Praktiken, zunächst von den Sowjets und den Franzosen, wenig später nach einem radikal intendierten, 1947 abgeschwächten Härtetest der Entnazifizierung durch die Amerikaner eine bedeutsame Rolle für die Umerziehung und den Wiederaufbau zugewiesen. Für viele Deutsche lag darin die Verführung, den gewaltigen Absturz ihrer Kultur in die Abgründe von Verachtung und Abkehr zu übersehen, die sich jenseits der Grenzen manifestierten. Dagegen erhielt Wissenschaft als derjenige Bereich des Machtstaatsdenkens, der aufgrund seiner so oft als expertenhaft, unpolitisch und universal verinnerlichten Etikettierung als deutscher Beitrag zur Weltkultur gefeiert worden war, in Stellvertretung für die nationale Expansionspolitik den Status der Kriegsbeute. Das entbehrte der Rechtsgrundlage, wurde aber bald von den neu gebildeten Kampfformationen des Kalten Krieges sanktioniert. Unter Wissenschaftlern war nicht von einem anderen Deutschland die Rede gewesen, höchstens von einer ‚reinen‘ Wissenschaft, der sich der jeweils einzelne Forscher in Abwehr der ideologischen Inanspruchnahme durch das Regime verpflichtet gefühlt hatte. Insofern die Besatzungsmächte die Bestrafung von Wissenschaftlern und Technikern – von den Sowjets mit dem Begriff ‚Experten‘ zusammengefasst67 – im Interesse der unverzüglichen Nutzung ihrer Kriegsbeute auf beiden Seiten schnell abbrachen (oder als Druckmittel benutzten), erschien die Auffassung vom unpolitischen Expertentum gar nicht so abwegig. In der Tat veränderten sich Verhalten und Argumentation von Physikern gegenüber den Machthabern nach 1945 kaum.68 66 John Gimbel, Science, Technology, and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany. Stanford: Stanford University Press, 1990; Ash, Scientific Changes in Germany 1933, 1945 and 1990, 334, spricht von 2.925 „Spezialisten“, die von den Alliierten aus Deutschland fortgeholt wurden. 67 Ulrich Albrecht, Andreas Heinemann-Grüder und Arend Wellmann, Die Spezialisten. Deutsche Na� turwissenschaftler und Techniker in der Sowjetunion nach 1945. Berlin: Dietz, 1992. 68 Hentschel, Die Mentalität deutscher Physiker. Dort eine Vielzahl von Beispielen.

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Die Führung der von den Alliierten 1946 aufgelösten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der in aller Welt nach wie vor am höchsten angesehenen deutschen Wissenschaftsinstitution, war sich der großen Niederlage bewusst. Das hieß allerdings nicht, dass sie sich auf die moralischen Implikationen der im Kriege vorgenommenen Forschung einließ. Was Otto Hahn, nach Max Planck der angesehenste deutsche Wissenschaftler, als Entdecker der Kernspaltung an Schuldgefühlen über den Tod von Tausenden Bombenopfern in Japan empfand, ging tief, rührte aber kaum an die Folgen der deutschen Forschungsunternehmen. Die Bedeutung der Niederlage fasste Hahn bei der von Engländern im Internierungslager abgehörten Diskussion der deutschen Atomwissenschaftler nach dem Abwurf der Atombombe am 6. August 1945 in dem lapi­ daren Satz über den Erfolg der Amerikaner zusammen: „Auf jeden Fall, Heisenberg, seid ihr zweitklassig, und ihr könnt einpacken“, worauf Werner Heisenberg, der Star der deutschen Physik, zur Antwort gab: „Das stimmt.“69 Der Unterschied zur Haltung deutscher Wissenschaftler nach dem Ersten Weltkrieg ist offensichtlich. Die Schimäre von den Naturwissenschaften als einer „Ersatzmacht“, welche die Wissenschaftseliten der Weimarer Republik gegen die Demütigung des Versailler Vertrages gepflegt hatten, war damit endgültig Geschichte geworden. Dennoch kam es nicht zu der von den Besatzungsmächten geforderten und von Emigranten erhofften Abkehr der deutschen Wissenschaftseliten davon, in ihren institutionellen Kokon zu schlüpfen. In der aufsehenerregend kritischen – und darin einmaligen – Schilderung der jungen Physikerin Ursula Maria Martius in der Deutschen Rundschau erscheint die Jahresversammlung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 1947 in Göttingen wie eine gespenstische Neuauflage der Naturforscherversammlung in Nauheim 1920. Martius warnte am Beispiel der Hochschullehrer davor, zu viel Zeit verstreichen zu lassen. Sonst werde sich die Anklage, „dass weite Teile der Deutschen trotz Kenntnis der Dinge die Sache des Nationalsozialismus zu ihrer eigenen gemacht haben, […] nicht mehr auf die Jahre nach 1933, sondern auf die Zeit nach 1945 stützen.“70 Ähnliche Eindrücke bewogen die Rockefeller-Stiftung

69 Operation Epsilon. The Farm Hall Transcripts. Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 1993, 71. 70 Ursula Maria Martius, Videant consules …, in: Deutsche Rundschau 70 (1947), 99–102, abgedr. in: Physiker zwischen Autonomie und Anpassung, hg. von Dieter Hoffmann und Mark Walker. Weinheim: Wiley-VCH, 2007, 636–640, hier 640; dazu Gerhard Rammer, „Sauberkeit im Kreise der Kollegen“. Die Vergangenheitspolitik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, in: ebd., 359– 420; Paul Formann, Die Naturforscherversammlung in Nauheim im September 1920, ebd., 29–58.

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dazu, sich mit Förderungen der reformunwilligen Universitäten Zeit zu lassen.71 Rückberufungen von Emigranten waren selten.72 Eine neue Abwanderungswelle von Forschern nach den USA setzte ein. Am ehesten vermochte die Leitung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die von Max Planck auf Otto Hahn überging, eine auch vom Ausland akzeptierte Verwaltungslösung für die Notwendigkeit zu finden, das kulturelle Kapital der deutschen Wissenschaft trotz Zerstörung und allgemeiner Notlage nicht weiter zu verschleudern. Die Kooperation mit britischen Wissenschaftlern und Militärs ermöglichte ab 1946 die Rettung und Umwandlung verschiedener Kaiser-Wilhelm-Institute, die dann als Max-Planck-Institute teilweise neue Leiter erhielten. Die Sowjets setzten den KWG-Chemiker Robert Havemann, der dem Tod im Gestapo­ gefängnis knapp entgangen war, als kommissarischen Leiter der Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin-Dahlem ein (bis er 1948 von den Amerikanern davon entbunden wurde). Ihre langfristige Strategie zielte darauf, die Kaiser-Wilhelm-Institute in die neu geschaffene Deutsche Akademie der Wissenschaften (später: der DDR) zu überführen, womit die Teilung der Gesellschaft endgültig und die Konkurrenz der beiden Institutionen besiegelt wurde.73 Die zentrale Maxime der dann im staatlichen Maßstab entwickelten Wissenschaftspolitik galt nicht der Beherzigung der Niederlage. Sie zielte vielmehr darauf, den dramatischen Rückstand dem Ausland gegenüber aufzuholen. Damit schwenkten die Verantwortlichen wieder auf das älteste Förderungsargument ein, das schon im Nationalismus des 19. Jahrhunderts Regierungen zu spektakulären Wachstumsraten in Forschungsbudgets verholfen hatte. Auch nach 1945 erwies es sich als unwiderstehlich, nicht zuletzt deshalb, weil es ein traditionelles Argument war und die tieferen Gründe für den Niedergang der deutschen Wissenschaft verschleierte. Dazu ließ sich anführen, dass die Alliierten auf bestimmten naturwissenschaftlich-technischen Gebieten wie Kern‑, Luftfahrt‑, Radar- und Röhrenforschung die deutsche Wissenschaft tatsächlich stark beschnitten, vom Abtransport deutscher Spitzenforscher und ‑techniker in die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion ganz abgesehen. Was in dieser Rückstandsideologie alles enthalten war – abgesehen davon, dass es eine 71 Claus-Dieter Krohn, Ein intellektueller Marshall-Plan? Die Hilfe der Rockefeller Foundation beim Wiederaufbau der Wissenschaften in Deutschland nach 1945, in: Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, hg. von Hans Braun, Uta Gerhardt und Everhard Holtmann. Baden-Baden: Nomos, 2007, 227–249. 72 Schüring, Minervas verstoßene Kinder. 321–331 73 Richard E. Schneider, Ein (Wieder‑)Aufbau unter ungewissen Vorzeichen. Die Gründungsgeschichte der Max-Planck-Gesellschaft, in: Deutschland Archiv 44 (2011), 355–361; Mitchell G. Ash, Wis� senschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Be� standsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20.  Jahrhun� derts, hg. von Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas. Stuttgart: Steiner, 2002, 32–51.

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„Abwehragentur für selbstkritische Introspektion“ darstellte –, hat Bernd-A. Rusinek kritisch analysiert: „Der deutsche ‚Rückstand‘, der um der Existenz des deutschen Volkes willen überwunden werden mußte, war Andockpunkt für den nationalen Gedanken; die Restriktionen – sie galten bis zum 5. Mai 1955 – erweckten Anti-Versailles-Emotionen der 1920er Jahre zu neuem Leben; Patentfortnahme und [britische] BIOS-Berichte bewiesen hinlänglich, dass die deutsche Wissenschaft, trotz allem, was geschehen sein mochte, und trotz aller ausländischen Vorwürfe im Ausland einen hervorragenden Ruf besaß; die Tatsache der in das Ausland verbrachten deutschen Forscher bewies noch einmal dasselbe und schien zusätzlich Unseriosität und Doppelmoral der Siegermächte vor aller Augen zu führen. Die Kombination dieser Gesichtspunkte bildete die Stabsabteilung Reflexionsabwehr im Nachkriegskonzern ‚Deutscher Wiederaufbau‘.“74 Rusinek erläutert, wie etwa die Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen in den fünfziger Jahren unter Einbezug der Geisteswissenschaften zu einer „Rückstandsüberwindungsanstalt“ ausgebaut worden sei, in der man auf die Wiedergewinnung führender Positionen für Deutschland hinarbeitete. Hierbei ergaben sich auch wieder Anknüpfungspunkte für die offizielle Außenkulturpolitik, insofern die wissenschaftlichen Kontakte und Austauschinitiativen zwischen Universitäten und Forschungsorganisationen juristischer Paraphierung bedurften. Für die nach Mitte der fünfziger Jahre initiierten Kulturabkommen spielte das eine wichtige Rolle, insbesondere bei der Kontaktaufnahme mit Staaten in Lateinamerika, Afrika und Asien, wo die Bundesregierung im wissenschaftlichen Bereich gute Chancen sah, die auf zumeist privater Ebene etablierten Wirtschaftsbeziehungen mit staatlichen Abkommen zu ergänzen. Neue Initiativen, abgebrochene Kooperationen wieder aufzunehmen, kamen häufig vom Ausland. Besonders in Lateinamerika zählten zu den ersten Akteuren vielfach „deutsche Kolonien“, das heißt Auswanderergemeinden, die ihre Bindung nach Deutschland auch geschäftlich und beruflich wieder nutzen wollten. Mit keinem Land erhielt sich die wissenschaftliche Verflechtung über den Einschnitt des Krieges hinweg derart intensiv wie mit dem faschistisch gebliebenen Spanien Francos. In mehreren Kampagnen bemühte sich die spanische Führung zwischen 1948 und 1954 mit Erfolg darum, arbeitslos gewordene Wehrmachtstechniker und ‑fachleute anzuwerben. Der ausgedehnte Technologie- und Wissenschaftstransfer, der an die geheime Militär- und 74 Bernd-A. Rusinek, „Westforschungs“-Tradition nach 1945. Ein Versuch über Kontinuität, in: Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteu� ropäischen Raum (1919–1960), Bd. 2, hg. von Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau. Münster: Waxmann, 2003, 1141–1201, hier 1186.

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Forschungskooperation der zwanziger Jahre anknüpfte, die damals in viel größerem Maße mit der Sowjetunion betrieben wurde, zählte nicht unbedingt zu der vom Auswärtigen Amt offiziell vertretenen auswärtigen Kulturpolitik. Dazu gehörte die Zusammenarbeit des spanischen Rats für Atomenergie ( Junta de Energía, JEN) mit deutschen Wissenschaftlern wie Heisenberg und Karl Wirtz, die am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen spanische Forscher ausbildeten, während die in Deutschland verbotenen Experimente in Madrid durchgeführt wurden. Illegal exportierten die Gesellschaften DEGUSSA und NUKEM hochsensibles Material für Atomforschung nach Spanien. Es konnte nicht ausbleiben, dass die technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit auf Gebieten wie Flugzeugbau, Maschinenwaffen und Kernenergie, deren Entwicklungen den Deutschen von den Alliierten untersagt worden waren, heikle diplomatische Verwicklungen mit sich brachten, etwa als Adenauer und Atomminister Franz Josef Strauß, während es noch unklar war, ob sich die Bundesrepublik dem Atomwaffensperrvertrag anschließen würde, die Unterstützung Spaniens für eine europäische nukleare Option suchten.75 Mit solch bilateraler Kooperation in sensitiven wissenschaftlich-technischen Bereichen manifestierten sich Kontinuitäten nationaler Wissenschaftspolitik, die sich keineswegs bruchlos in die offizielle Agenda der Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft der Wissenschaftler einfügten. Sie erfuhren bis in die frühen sechziger Jahre wohlwollende Behandlung vom Personal des Auswärtigen Amtes, dem es nicht schwerfiel, die traditionellen Leitlinien nationaler Repräsentation, wenn auch mit demonstrativer Zurückhaltung, anzuwenden. Ohnehin wurden ihm mit den föderalen Einschränkungen auch im Wissenschaftsbereich die Flügel gestutzt, insofern die Länder die zentrale Koordinierung der Forschung bereits vor Gründung der Bundesrepublik abblockten. Das geschah 1948, als Heisenberg und Max von Laue vergeblich versuchten, eine solche Koordinierung mithilfe eines Deutschen Forschungsrates einzurichten. Nur mit der (Wieder‑)Gründung der Deutschen Forschungsgemeinschaft entstand 1951 ein Gremium, das auf Bundesebene „mangels eines zuständigen Bundesministeriums lange Zeit Hauptrepräsentant der universitären Forschung “ und damit Ansprechpartner für internationale Forschungsunternehmen darstellte.76 Wenn Wissenschaftler und Techniker der viel beschworenen Internationalität ihrer Arbeit in den fünfziger Jahren keineswegs so nachdrücklich Raum 75 Albert Presas I Puig, Deutsche Wissenschaftler und Spezialisten in Spanien im 20. Jahrhundert. Kon� tinuitäten und Umbrüche, in: Kontinuitäten und Diskontinuituaten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 153–166. 76 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, 37.

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gaben, wie oft behauptet wird, lag das zunächst an der regionalen Ausrichtung und der politisch grundierten Isolation, resultierte zugleich auch aus den alliierten Forschungsbeschränkungen. Anders als beim Boykott der deutschen Wissenschaft vonseiten der westlichen, vornehmlich französischen Wissenschaftsorganisationen nach Versailles ging es hierbei um Strafmaßnahmen von Besatzungsmächten in einem keineswegs voll souveränen Land. Sie ließen sich in einer Situation, da das ganze Land von Zerstörungen gekennzeichnet war, als Strafe rationalisieren. Angesichts der nun geforderten Ausrichtung am Internationalismus aber verhinderten sie eher den Abbau der traditionellen Intransigenz der deutschen Professorenschaft. So verhalf erst die von den USA geförderte Ausrichtung der jüngeren Generation an amerikanischen Forschungsmethoden einem neuen Wissenschaftshabitus zum Durchbruch, der dann in den sechziger Jahren bundesdeutsche Forschungsunternehmen in die internationale, vornehmlich amerikanisch bestimmte scientific community mit neuen Ergebnissen zurückführte. Nicht zufällig hatte die Aufhebung der alliierten Forschungsbeschränkungen eine neue Hochschätzung der Atomphysiker zur Folge, die postwendend die öffentliche Zustimmung für die politische Durchsetzung kostspieliger Kernforschungszentren ausnutzten. Einige von ihnen befreiten sich bereits in den fünfziger Jahren von der Gewohnheit, „Politikferne durch kulturelle Gestaltungsansprüche zu substituieren und begaben sich direkt auf die politische Handlungsebene.“77 Das geschah beispielhaft, als führende deutsche Atomwissenschaftler, darunter Otto Hahn, Max Born und Werner Heisenberg, 1957 unter großem Medienecho die sogenannte „Erklärung der Göttinger 18“ unterzeichneten, mit der sie sich gegen die namentlich von Adenauer und Strauß befürwortete Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen wandten.

Exkurs: Die Kulturpolitik der vier Besatzungsmächte Vier Länder teilten sich in die Besatzungsherrschaft über das geschlagene Deutschland, vier Länder, die mit Deutschland seit Jahrhunderten enge kulturelle Beziehungen gepflegt hatten, ohne dass dafür spezielle staatliche Vermittlungsorgane geschaffen worden wären. Auch der Boykott deutscher Wissenschaft und die kulturelle Isolierung Deutschlands in den westlichen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich im Wesentlichen aus privaten und halboffiziellen Initiativen und den Ressentiments der Bevölkerung gespeist. 77 Gabriele Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur. Deutsche Physiker in der inter� nationalen Community 1900–1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, 240.

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Mit dem Zusammenbruch des deutschen Staates 1945 kam nun auf Großbritannien, Frankreich, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten die Aufgabe zu, ausgerechnet auch im Erziehungs‑, Kultur- und Wissenschaftssektor politische Strukturen zu schaffen, in denen die Deutschen seit Langem führend gewesen waren. Viele hätten es vorgezogen, die Abwicklung des Nationalsozialismus, seines mutwillig begonnenen Krieges und seines Völkermordes der Justiz zu überantworten und damit im Namen des Völkerrechts einen Schlusspunkt zu setzen, der Ähnliches für die Zukunft ausschloss. Die Einigung auf der Potsdamer Konferenz zielte vor allem auf Maßnahmen, die eine Wiederkehr der deutschen Machtexpansion für immer unmöglich machen sollten. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wurden auch als ein Instrument zur Umerziehung der Deutschen angesehen. Der Hauptanklagevertreter Großbritanniens, Sir Hartley Shawcross, ging in seinem Plädoyer sogar so weit, über das Völkerrecht hinaus auch Goethe zu zitieren, um dessen moralische Autorität für die Erkenntnis der furchtbaren Verfehlungen anzurufen. Dabei fielen folgende Worte über die Deutschen: „Das Schicksal wird sie schlagen, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind“, denen sich andere, noch vernichtendere anschlossen. Sie sollten den Deutschen die Notwendigkeit des Prozesses für die Wiederherstellung der Rechtlichkeit in der Welt vor Augen führen. Wie sich später herausstellte, zitierte Shawcross dabei den von Thomas Mann in dem 1939 veröffentlichten Goethe-Roman Lotte in Weimar imaginierten Goethe, eine entschuldbare Überlagerung, die an der Intention, im Nürnberger Gerichtssaal auch die deutsche Kultur in ihrem bedeutendsten Vertreter zum Zeugen anzurufen, nichts ändert.78 Kultur war bei den Verfehlungen im Spiele gewesen, nachdem der Kampf der Staaten unter Hereinnahme der Kultur wie schon im Ersten Weltkrieg zu einem Kampf der Völker gegeneinander geworden war. Jedoch wollte man die Fehler der kulturellen Blockade Deutschlands nach 1919 nicht wiederholen. Ein Exkurs über die Kulturpolitik der vier Besatzungsmächte ist insofern angebracht, als diese, über die Entnazifizierung hinaus, die Abwicklung des Selbstverständnisses der Deutschen als Kulturmacht in Bewegung setzten, ein zentraler Aspekt des Übergangs einer dem Nationalsozialismus ergebenen Gesellschaft in eine zerstörte, unfreundliche, auf Bestrafung bedachte Welt. Ein Exkurs ist auch deshalb angebracht, weil schon damals von deutscher Seite vieles daran gesetzt wurde, den Einfluss herunterzuspielen, den die anderen Länder bei der Neuorientierung des Volkes zwischen den neuen Machtblöcken 78 S. Stephan Braese, Juris-Diktionen. Eine Einführung, in: Rechenschaften. Juristischer und literari� scher Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, hg. von dems. Göttingen: Wallstein, 2004, 7–10.

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und alten Ideologien von Diktatur und Demokratie ausübten.79 Tatsächlich wurden in dieser Phase wie nie zuvor im 20. Jahrhundert kulturelle Praktiken der Deutschen in direkter Wechselwirkung mit Funktionsträgern und Direktiven anderer Länder infrage gestellt und in Ansätzen umgeformt. Für die Siegermächte wiederum brachte diese Phase direkter Machtausübung über das ehemalige Feindesland die Aufgabe, die eigenen kulturellen und reformerischen Fähigkeiten in Konkurrenz mit den anderen Besatzungsmächten unter Beweis zu stellen. Am intensivsten hatten sich die Sowjets auf diese Aufgabe vorbereitet, und sie zeigten von Anfang an, dass sie das Engagement der Deutschen im Bereich der Kultur für ihre Strategie des Neuaufbaus nach dem Faschismus nutzen würden. Am wenigsten waren die Amerikaner darauf vorbereitet; sie erhoben zunächst die Säuberung der kulturellen Eliten vom Nationalsozialismus als Teil der allgemeinen Säuberung und Bestrafung der deutschen Gesellschaft zum Programm. Bei den Briten stellten sich mit einiger Vorbereitung viel erprobte Praktiken der Kolonialherrschaft wieder ein, die von den seit der Jahrhundertwende, besonders im Burenkrieg, gemachten Erfahrungen ihre Färbung erhielten. Die Franzosen, noch ein Jahr zuvor unter deutscher Besatzung und Spätankömmling im Kreis der Besatzer, besaßen große Erfahrungen mit Kulturpolitik, darüber hinaus auch das Interesse, sie zur endgültigen Zähmung des Nachbarn für Reformen einzusetzen. Grundlegend war die Bezugnahme auf den Kriegs- und Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg. Während Deutsche für die Wiedereinführung der Demokratie an die Weimarer Republik anknüpfen, jedoch deren Fehler vermeiden wollten, richteten sich die Besorgnisse und Planungen der Alliierten darauf, eine Neuauflage des Versailler Vertrages zu vermeiden, der der Entfaltung der deutschen Demokratie viele Hürden in den Weg gelegt hatte. Zunächst schufen die bedingungslose Kapitulation des Reiches, die Forderung der Alliierten, die Kapitulationsurkunde von Militärs und nicht von Politikern unterzeichnen zu lassen, sowie die Übernahme der Staatsgewalt durch die Alliierten neue Voraussetzungen für die Nachkriegsordnung. Für den Bereich der Kultur lag ein einschneidender Unterschied darin, dass sich mit der Endgültigkeit der deutschen Niederlage 1945 nicht jene unglückliche Konstellation wiederholen sollte, bei der nach 1918 westliche Gesellschaften die Niederhaltung 79 Henry J. Kellermann, Cultural Relations as an Instrument of U. S. Foreign Policy. The Educational Exchange Program Between the United States and Germany, 1945–1954. Washington, ����������������������� DC: Depart� ment of State, 1978, 210; Volker Berghahn, Deutschland im „American Century“, 1942–1992. Ei� nige Argumente zur Amerikanisierungsfrage, in: Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert, hg. von Matthias Frese und Michael Prinz. Paderborn: Schöningh, 1996, 789–804, hier 796.

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Deutschlands in starkem Maße mithilfe von Boykott und Ausgrenzung deutscher Kultur und Wissenschaft vorgenommen hatten. Freilich stand der Bevölkerung der Siegerländer auch nach 1945 der Sinn nach dieser Ausgrenzung, zumal Franzosen und Russen deutsche Besatzung noch ausführlicher als im Ersten Weltkrieg erlebt hatten. Die Verantwortlichen sahen jedoch über die Notwendigkeit hinaus, den Kulturbereich vom Nationalsozialismus zu säubern, sowie das Verlangen, deutsche Wissenschaft und Technologie im Eigeninteresse zu plündern und zu kontrollieren, wenig Veranlassung dazu, deutsche Kultur selbst zum Prügelknaben der furchtbaren Verirrungen dieses Volkes zu machen. (Das geschah selektiv auch zu dieser Zeit, nicht aber als Handlungsmaxime.) Der Kulturbereich wurde somit nicht zum Austragungsort von Demütigungen, sondern erschien angesichts des Zusammenbruchs politischer Herrschaftsstrukturen eher als ein Ort, an dem die Besatzungsmächte mit der Bevölkerung als Vertreter einer anderen Kultur und weniger als Kontrolleure interagierten. Sowjetunion

Zu aller Überraschung erwiesen sich die Sowjets zumindest in der Anfangsphase als Meister darin, mit ihrem Eingehen auf deutsche Schriftsteller, Philosophen, Musiker und andere Repräsentanten der Hochkultur als kultivierte Besatzungsmacht Anerkennung zu finden und der von den Brutalitäten der Fronttruppen traumatisierten Bevölkerung ein ziviles Gesicht zu zeigen. Mit kommunistischen Politikern wie Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck und Autoren wie Erich Weinert und Johannes R. Becher, die sie aus dem Exil in Moskau mitbrachten, besaßen sie bereits im Sommer 1945 deutsches Personal, das sie teilweise unter Ausschaltung von einheimischen NS-Gegnern in Schlüsselpositionen platzierten. Eine viel beachtete, wenn auch stark auf Berlin und die dortige literarische und künstlerische Intelligenz ausgerichtete Funktion für die Sowjetische Militärverwaltung (SMAD) nahm dabei eine Gruppe hochgebildeter, in deutscher Kultur und Sprache bestens beschlagener Kulturoffiziere wahr, unter denen der Chef der Informationsverwaltung Sergej Tjulpanow, der Leiter der Kulturabteilung Alexander Dymschitz und der Theaterreferent Ilja Fradkin die intendierte Kooperationsbereitschaft eloquent vertraten. Sie projizierten mehr das Bild qualifizierter Fachwissenschaftler als das von Administratoren.80 Ähnlich kultiviert operierte der Publizist Alexander Kirsanow als Chefredakteur der größten Zeitung der sowjetischen Zone, Tägliche Rundschau, 80 Rüdiger Bernhardt, Maßstab Humanismus. Sowjetische Kulturoffiziere und demokratischer Neube� ginn, in: Neue Deutsche Literatur 24:4 (1976), 153–168, hier 153.

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mit ebenfalls über einer Million Auflage das Gegenstück der von der amerikanischen Militärverwaltung kontrollierten Neuen Zeitung in München, die der aus Ungarn stammende Emigrant Hans Habe zu einem großen Erfolg machte. Beim ersten Künstlerkongress in Dresden 1946 fasste Dymschitz die Agenda der Kulturoffensive zusammen, die in der Anknüpfung an das andere Deutschland, der Überwindung des Faschismus und der Einstimmung auf die hohen Ziele des Kommunismus bestand: „Wir wußten, dass der Nazismus die deutsche Kunst zwar mißbrauchen, aber niemals töten konnte. […] Und gerade weil wir wußten, dass auch innerhalb Deutschlands die deutsche Kunst noch atmete, ließen wir uns von den Trümmern nicht täuschen, sondern gingen daran, gleichsam wie Archäologen diese Kunst wieder auszugraben.“81 Die von der Sowjetführung unter Stalin bereits vor Kriegsende vorgenommene Trennung zwischen faschistischen und nicht faschistischen Deutschen, die von der russischen Bevölkerung erst nach Gründung der DDR wirklich akzeptiert wurde, besaß ihre Wurzeln bereits in der von der russischen Intelligenz vor dem Ersten Weltkrieg eingenommenen Haltung, der zufolge man sich der deutschen Kultur treu verbunden fühlte, dem Deutschen Reich aber ablehnend gegenüberstand, dessen Militarisierung gefährlich und reaktionär erschien. Goethe war als Statthalter des anderen Deutschland verehrungswürdig geblieben; ihm brachte die sowjetische Militäradministration bereits am 7. August 1945 eine Feier am Denkmal Goethes und Schillers in Weimar dar.82 Dem greisen Dichter Gerhart Hauptmann gewährten Russen nach Kriegsende in seinem schlesischen Wohnort besonderen Schutz. Die sowjetische Kulturoffensive bekundete eine erstaunliche Flexibilität, insofern sie auf die von Goebbels ins Hysterische gesteigerte Propaganda gegen Bolschewisten als Untermenschen – worauf Ilja Ehrenburg und andere Sowjetpropagandisten in der Abwehrphase 1941–1943 in ähnlich hysterischer Form geantwortet hatten83 – eine Form der Werbung für Russland folgen ließ, die in der deutschen Intelligenz Widerhall fand. Die Verantwortlichen wollten die dogmatisch isolierende Politik der KPD von 1931/32 nicht wiederholen, machten vielmehr die in der Zwischenkriegszeit bei der linken und nationalkonservativen Intelligenz verbreitete Romantisierung des Ostens lebendig. Sie verband sich mit der Hoff81 Anne Hartmann, „Sowjetisierung“ der deutschen Kultur?, in: Aufbau – Umbau – Neubau. Studien zur deutschen Kulturgeschichte nach 1945, hg. von Silke Flegel und Frank Hoffmann. Frankfurt: Lang, 2008, 89–106, hier 92. 82 Ilse Heller und Hans-Thomas Krause, Kulturelle Zusammenarbeit DDR-UdSSR. Berlin: Staatsverlag der DDR, 1967, 26. 83 Aileen Rambow, Das Bild der Deutschen in der sowjetischen Kriegsliteratur, in: Deutsche, Deutsch� balten und Russen. Studien zu ihren gegenseitigen Bildern und Beziehungen, hg. von Klaus Meyer. Lüneburg: Nordostdeutsches Kulturwerk, 1997, 175–199.

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nung auf eine Erneuerung der Kultur, sei es aus den Kräften der sozialen Revolution, sei es aus dem von Dostojewski propagierten Aufstand gegen den Westen, dem auch Thomas Mann im Sinne deutsch-russischer Seelenverwandtschaft gehuldigt hatte.84 Soweit man die professionellen Eliten nicht zum Wiederaufbau der von den Deutschen im Krieg und von Stalin durch Säuberungen dezimierten wissenschaftlich-technischen Infrastruktur sowie zum Bau der Atombombe in die Sowjetunion brachte, entsprach deren bevorzugte Behandlung dem von Lenin und Stalin geprägten kopflastigen Führungsstil der KPdSU. Was diese Behandlung den Beteiligten an Bedeutungszuwachs verschaffte, nahm sie zugleich an Freiheiten zurück. Hierin manifestierte sich die erste Stufe der Sowjetisierung: die von Lenin und Stalin im Sowjetstaat kontinuierlich ausgebaute Kontrolle des Einzelnen (die gerade bei den scheinbar entlasteten NS-Verantwortlichen oder Mitläufern ihre Effektivität bewies). Allerdings machte dieser Schritt auch die Grenzen des Vorgehens deutlich. Viele Intellektuelle sowie Wirtschafts- und Verwaltungsexperten fühlten sich veranlasst, aus der sowjetischen Besatzungszone in den Westen zu gehen. Aus den lange verschlossenen und erst nach dem Fall der Sowjetunion freigegebenen Akten bestätigt sich mehr als aus den Zeugnissen der Zeitgenossen die Vermutung, dass diese Form konzilianter Kulturpolitik nur Teil einer insgesamt auf totale Kontrolle ausgerichteten Besatzungspolitik darstellte und dass diese Politik von Anfang an auch für den Kultur‑, Wissenschafts- und Erziehungsbereich galt, wenngleich dies erst in den Folgejahren, spätestens 1948, voll erkennbar wurde. Von Anfang an äußerte sich der Konfliktstoff in den gegenläufigen Intentionen, zum einen der an die Volksfrontpolitik der dreißiger Jahre und des Exils anknüpfenden überparteilichen Ausrichtung, die Johannes R. Becher für die deutsche Seite im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands vertrat, zum andern der Politik ideologisch-parteilicher Gleichschaltung, die vom Personal der SMAD zunehmend praktiziert und von der SED-Führung unterstützt wurde. Bereits im November 1946 spitzte sich der Konflikt im Protest Bechers gegen das Vorhaben Tjulpanows zu, den Kulturbund zu einem Instrument der SED umzuwandeln. In einem Brief, der hohe Wellen schlug, rollte Becher die Einheitsorientierung der deutschen Seite auf, ohne die ein umfassender Aufbau nicht gelingen könne: „Der Kulturbund sollte nicht nur dem Anschein nach, sondern auch seinem Wesen nach eine überparteiliche Organisation sein, die den besten Teil der fortschrittlichen deutschen Intellektuellen umfassen sollte, und die auf diese Weise die Möglichkeit gehabt hätte, eine günstige Atmosphäre zu schaffen für alle wahrhaft freiheitlichen 84 Russen und Rußland aus deutscher Sicht. Deutschland und die russische Revolution 1917–1924, hg. von Gerd Koenen und Lew Kopelew. München: Fink, 1998.

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Bestrebungen in Deutschland und zugleich Verständnis und Freundschaft für die Sowjetunion zu erwecken.“85 Auf diese Form kultureller Erneuerung und vager Beziehung zur Siegermacht jedoch ließ sich die SMAD nicht ein. Mit der 1947 in Anknüpfung an die frühere „Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland“ der zwanziger Jahre gegründeten, dann zu einer Massenorganisation ausgebauten „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ schaffte sie eine Organisation, die 1949 den Kulturbund als „kulturpolitische Leitorganisation“ ablöste.86 Der vom Schutzverband Deutscher Autoren im Oktober 1947 in Berlin veranstaltete „Erste Deutsche Schriftstellerkongreß“ lag auf der Linie deutscher Eigeninitiativen, denen die SMAD und in ihrem Gefolge auch die SED-Führung zunehmend misstrauisch gegenüberstanden. Im selben Monat erörterte das SED-Zentralsekretariat, „dass in der Bevölkerung ‚schlechte Stimmung für uns‘ vorherrsche und die SED nicht mehr – wie die KPD 1945 – als ‚Russenpartei‘, wie Pieck in Berlin klagte, sondern diesmal als ‚russische Staatspartei‘ verunglimpft werde, wie er Stalin berichtete.“87 1948 ließ sich nicht mehr übersehen, dass die kulturelle Distanz zwischen Russen und Deutschen, die Norman Naimark in ihren vielen Facetten beschrieben hat, der Umerziehung der deutschen Bevölkerung im Zeichen der sowjetischen Fortschrittsideologie große Hindernisse in den Weg legte.88 Gerade die Betonung von Kultur, zunächst willkommen geheißen, bedeutete auch eine selbst gestellte Falle, insofern die russische Besatzungsmacht, über die Kulturoffiziere hinaus, am Maßstab von Kultur gemessen wurde. Damit rasteten die alten, von der NS-Propaganda verstärkten Vorurteile gegen die mindere Kultur im Osten ein. Deutsche Amtsträger wiesen sie damit zurück, dass sie mit dem Hinweis auf die große russische Kultur und die Errungenschaften der Russischen Revolution die Berufung auf die Fortschrittlichkeit des Marxismus verbanden, der die geeignete Aufbaulehre für eine geschlagene Gesellschaft darstelle. Als Rudolf Herrnstadt, der Chefredakteur der führenden Parteizeitung Neues Deutschland im November 1948 mit dem Grundsatzartikel „Über ‚die Russen‘ und über uns“ das ablehnende Verhältnis zur Besatzungsmacht beim Namen nannte, zeigte das Mut und führte zu den zwei größten öffentli85 Schreiben des Präsidenten des Kulturbundes Becher an den Chef der Propagandaverwaltung der SMAD Tjulpanow über die Entwicklung des Kulturbundes, 1.11.1946, zit. nach Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), 113. 86 Foitzik, Weder „Freiheit“ noch „Einheit“, 51 f.; Lothar Dralle, Organisierte Freundschaft. Zur Funk� tion der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und ihrer Vorläuferinnen, in: Studien zur Geschichte der SBZ/DDR, hg. von Alexander Fischer. Berlin: Duncker & Humblot, 1993, 81–96. 87 Foitzik, Weder „Freiheit“ noch „Einheit“, 50. 88 Norman M. Naimark, The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945–1949. Cambridge: Harvard University Press, 1995, 398–464.

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chen Diskussionen über dieses Thema. Über 700 Zuhörer kamen im Berliner Haus der Kultur der Sowjetunion zusammen, im Januar 1949 waren es in einem größeren Saal noch mehr. Zugunsten der Russen führte Herrnstadt an, dass sie es und nicht deutsche Arbeiter gewesen waren, die den Faschismus unter größten Opfern besiegt hatten, und dass man beim sozialistischen Aufbau nicht einzelne Stücke aus dem revolutionären Prozess herauspflücken, sondern ihn nur im Gesamten übernehmen könne. Die Fragen aus dem Publikum signalisierten dessen Zweifel an der Vorbildrolle der Sowjets. Das brennendste Thema, nur angedeutet, wurde von Herrnstadt und Alexander Abusch umgangen: die beim sowjetischen Einmarsch verübten Massenvergewaltigungen, deren Trauma das Verhältnis zu den Russen nach wie vor belastete. Nur Wolfgang Harich wagte es, dieses Tabu zu erwähnen, wenn auch abwiegelnd. Weder konnte Herrnstadt für die Besatzer sprechen noch eine selbstständige Rolle der SED ihnen gegenüber erkennbar machen.89 Während sich eine selbstständigere Position der deutschen Partei in den Folgejahrzehnten hin und wieder manifestierte – nie allerdings in der Entschlossenheit und Widerständigkeit, mit welcher die Ungarn 1956, die Tschechoslowaken 1968 und die Polen nach 1980 die Sowjets herausforderten (der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 richtete sich eindeutig gegen die SED) –, fand eine solche öffentliche Diskussion über die Rolle der Russen bis zum Mauerfall 1989 nicht mehr statt. Der SMAD war bewusst, dass auch die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik mit ihrem gesamtdeutschen Anspruch an diesem Verhältnis nicht viel ändern würde; die wirkliche Machtkonstellation zwischen der Sowjetunion und dem deutschen Teilstaat markierte der im selben Jahr zum ersten Mal zelebrierte „Monat der deutsch-sowjetischen Freundschaft“, der mit der Feier des 70. Geburtstags von Stalin zusammenfiel (und später auf eine Woche verkürzt wurde). In dieser Phase klärte sich auch bereits die politische Funktion der konzilianten sowjetischen Kulturpolitik. In ihrer gesamtdeutschen Ausrichtung bot sie ein wichtiges Argument dafür, das ganze Deutschland für die von Hitler verübten Zerstörungen haften zu lassen und Reparationen vom gesamten Deutschland, nicht nur der eigenen Zone zu fordern. Sobald die Westmächte mit Marshall-Plan, Währungsreform und Berliner Luftbrücke deutlich machten, dass diese Forderung keine Chance hatte, verwirklicht zu werden, rückten die Sowjets ihre Strategie und die sie unterstützende Kulturpolitik in den Hintergrund. Von nun an führte kein Weg mehr an der Tatsache vorbei, dass die Zone bzw. die DDR die ganze Last der Reparationen zu tragen 89 Die zwei Diskussionsabende sind dokumentiert in: Über „die Russen“ und über uns. Diskussion über ein brennendes Thema, hg. von der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion (Wolf� gang Steinitz). Berlin: Kultur und Fortschritt, 1949; Naimark, The Russians in Germany, 134–140.

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hatte. Ihre Eigenregie war notwendig, um dieser Aufgabe nachkommen zu können. Das befestigte die Position der SED und spannte die Bevölkerung in einen Doppelaufbau ein: den Wiederaufbau ihres Territoriums und den Mitaufbau der von der deutschen Wehrmacht zerstörten und geplünderten Sowjetunion. Nachdrücklicher als sonst in der Geschichte zwischenstaatlicher Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert manifestierte sich in dieser harten Konstellation die Wahrheit, dass die Realität von Wechselwirkungen auch jene Maxime des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“-Denkens einbegreift, die zum Kriege gehört. Nach dem Krieg äußerte sie sich darin, dass die Sowjets ihre Besatzungspolitik, von der die Kulturpolitik mitsamt der reformerischen Erziehungspolitik ja nur einen Teil darstellte, mitsamt Demontagen und Deportationen vom Prinzip der Reziprozität her konzipierten, das heißt von der Erwiderung auf die vom faschistischen Deutschland im Feldzug gegen die Sowjetunion praktizierte Herrschaft. Die Erwiderung, ebenfalls gewaltgetrieben, wurde zweifellos von größerer Aufmerksamkeit für die andere Kultur sowie einer übernationalen gesellschaftspolitischen Mission getragen, blieb aber auch damit einem Denken in Gegenseitigkeiten untergeordnet, das den britischen und amerikanischen Mitbesatzern fremd und nur den Franzosen, die vier Jahre deutsche Besatzung erfahren hatten, vertraut war. Eklatant äußerte sich die Reziprozität in der Kunstplünderung, mit der die Sowjets auf die kaum fassbare Brutalität und Ausdehnung der Raubzüge antworteten, die vom NS-Regime mit systematischer Gründlichkeit in Polen, Frankreich, Russland und der Ukraine sowie gegenüber jüdischem Besitz betrieben worden waren. Ihnen ließ das Sowjetregime im Gegenzug einen gigantischen Beutefeldzug deutscher Kunst- und Kulturschätze folgen, dessen Nachwirkungen wie im Fall der Naziplünderung bis heute und noch in die nähere Zukunft reichen.90 Forschungen zum Beutezug der Sowjets sind ungleich schmäler als zum Naziraubzug, doch verweisen sie auch auf Systematik, die von der sporadischen Erfassung der sowjetischen Kunstverluste zur genauen Erstellung von Listen deutscher „Äquivalente“ führte. Kunstbrigaden transportierten mit ihnen ab 1945 über eine Million von Kunstgegenständen, wertvollen Büchern und anderen Formen von „Trophäenkunst“, wie die Bezeichnung lautete, aus Deutschland in sowjetische Museen, Bibliotheken und häufig in geheime Depots, wo sie jahrzehntelang unter Verschluss blieben. Die Zerstörung von Kirchen in Novgorod und Pakov, Architekturdenkmälern und Kunstwerken in den Museen und Schlössern in der Umgebung von 90 The Spoils of War. World War II and Its Aftermath. The Loss, Reappearance, and Recovery of Cul� tural Property, hg. von Elizabeth Simpson. New York: Abrams, 1997.

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Petersburg, Archivdokumenten und Ikonen in Kiew, Kunstsammlungen in Rostow und Charkow ließen sich nicht rückgängig machen. Jedoch waren, wie die Kunsthistorikerin Marina Dmitreva resümierte, kurze Zeit später „Kunsthistoriker, Archiv-Spezialisten und Bibliothekare […] mit der Sicherstellung und dem Abtransport von deutschen ‚Äquivalenten‘ beschäftigt. Hierzu gehörten die Exponate des Prähistorischen Museums aus dem Zentrum in BerlinTiergarten, der Schatz von Troja und von Eberswalde, die Bilder und Plastiken aus der Museumsinsel in Berlin und der Dresdner Galerie, der Pergamon-Alter [Fries] und die Sixtinische Madonna. Mit Zügen, Flugzeugen und privaten Fahrzeugen wurden sie nach Moskau verbracht, Richtung Komitee für Kunstangelegenheiten, Empfangspunkt – Puschkin-Museum für Bildende Künste.“91 Etwa zehn Millionen Bücher wurden in die UdSSR abtransportiert, ein beträchtlicher Teil aus der Universitätsbibliothek und der Landesbibliothek in Leipzig. Dabei gelangte eine große Anzahl von Büchern aus sowjetischen Bibliotheken zurück, die von den deutschen Besatzern auf dem Rückzug aus den besetzten Gebieten mitgenommen worden waren. Als geläufige Rechtfertigung für diese „Sonderlieferungen“ diente das Argument, mit dem solche Kunstplünderungen seit Jahrhunderten von den Verantwortlichen, Napoleon und Hitler eingeschlossen, versehen worden sind: dass mit ihnen die Kunstschätze vor falschen Händen oder vorm Verfall bewahrt werden müssten. So geschah selbst die Rückgabe der wertvollsten Gemälde der Dresdner Gemäldegalerie und des Berliner Pergamonfrieses, zu der sich Chruschtschow 1956 entschloss, als Beweis für die Großzügigkeit der Sowjetunion gegenüber dem ehemaligen Feind. Zu der Zeit, da Stalin in den von ihm eroberten und beherrschten Ländern Osteuropas die Schraube von Terror und Verfolgung anzog und in Bulgarien, Albanien, Ungarn und der Tschechoslowakei „Parteifeinde“, teilweise mit antisemitischer Spitze, verurteilen und hinrichten ließ, nahm er die DDR von größeren Schauprozessen aus, minderte aber keineswegs die Wucht der seit Kriegsende vorgenommenen Verhaftungs- und „Säuberungs“-Welle, bei der die Bestrafung von Nazis nur einen Teil konstituierte.92 Die gesamtdeutsche Option, die er bis zu seinem Tode 1953 offenhielt, verschaffte dem Einsatz von Kulturpolitik auf diesem Territorium eine gewisse Ausnahmestellung; die Durchsetzung der von Shdanow vertretenen Form der sowjetischen Kunstdok91 Marina Dmitrieva, Kunst als Beute. Zur ideologischen Funktion der „Trophäenkunst“, in: Kultur im Stalinismus. Sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 1950er Jahre, hg. von Gabriele Gorzka. Bremen: Temmen, 1994, 237–246, hier 240. 92 Karl Wilhelm Fricke, „Kampf dem Klassenfeind“. Politische Verfolgung in der SBZ, in: Studien zur Geschichte der SBZ/DDR, hg. von Alexander Fischer. Berlin: Duncker & Humblot, 1993, 179– 194.

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trin erfolgte erst später und mit einer engeren psychologischen Verpflichtung des Verlierers dem Sieger gegenüber als in den anderen Ländern. Im Hinblick darauf, dass die Sowjets nur einen Teil Deutschlands beherrschen konnten, ließen sie dem Anspruch der SED, nationale Politik und Kultur zu repräsentieren, einen gewissen Spielraum, den die Partei allerdings ständig mit Solidaritätserklärungen für das sozialistische Lager sowie Ergebenheitsadressen an die Führungsmacht Sowjetunion kompensierte. Wie in den anderen von der Sowjetunion beherrschten Ländern Ost- und Südosteuropas firmierte dann die zweite Stufe der Sowjetisierung als sozialistische Kulturrevolution, die ihre Antriebe aus dem Bezug zur Russischen Revolution erhielt, mit dem die Besatzungsmacht ihre Herrschaft in der Rolle des Lehrers und Mentors verbrämen konnte. In dieser Rolle hatten die Russen als Erbauer eines Imperiums, das viele Völkerschaften eingegliedert hatte, langjährige Erfahrungen; noch lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Nachfolger des Russischen Reiches empfand Jens Reich, einer der führenden DDR-Dissidenten, Bewunderung für das „kulturelle Selbstbewusstsein“, mit dem sich Russen als Besatzer bewegten.93 Sie mochten nicht ohne Befriedigung beobachten, wie gründlich die ihnen verpflichteten Deutschen das nach Kriegsende weiterbestehende Netz von Künstlern und Kulturverantwortlichen umgestalteten. Das geschah einerseits in Richtung auf den Ausbau des Kulturversorgungsstaates, andererseits auf eine Kontrollhierarchie hin, die in ihrer rigiden Organisation von Leitungs- und Zensurinstanzen, konstanten Mobilisierungskampagnen, Auftragspraktiken in Literatur und Theater ebenso wie im Erziehungsbereich den Kulturapparat des Dritten Reiches weit hinter sich zurückließ. Allerdings stieß diese Form totalitärer Kulturpolitik bei der deutschen Bevölkerung keineswegs auf dieselbe Bereitwilligkeit. Sie akzeptierte zwar die vielen Veranstaltungen mit russischen und ukrainischen Gastspielen und Konzerten, am eindrucksvollsten das Alexandrow-Ensemble mit 150  Sängern, Orchester und Tanzgruppe, als Teil der Kulturversorgung, wollte sie jedoch nicht als Teil der Umerziehung gelten lassen.94 Sobald deutlich wurde, dass hier eine Fassade für eine konsequente Unterordnungspolitik aufgebaut wurde, verfiel man schnell in die traditionellen Überlegenheitsgefühle gegenüber russischer Kultur. Hinter den stalinistischen Dekreten verblassten Tolstoi und Tschaikowski. 93 Jens Reich, Supervision and Abdication – East German Intellectual Life under Soviet Tutelage, in: Russian-German Special Relations in the Twentieth Century. A Closed Chapter? Hg. von Karl Schlö� gel. Oxford/New York: Berg, 2006, 191–201, hier 197. 94 Ein Überblick über das in der Tat reichhaltige Kulturprogramm bei Ilse Heller und Hans-Thomas Krause, Kulturelle Zusammenarbeit DDR-UdSSR, 36–60.

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Vereinigte Staaten

Angesichts dieser Ausformung totalitär verwalteter Kultur hat man den USA die Rolle des kulturellen Gegenspielers, etwa mit den Amerikahäusern und dem Congress for Cultural Freedom, zugesprochen. Allerdings täuscht das darüber hinweg, dass das Land einen solchen propagandistisch gemeinten Einsatz von Kultur als Abkehr von seinen liberalen Traditionen ansah. Der Respekt für die europäische Form von Kultur, Hochkultur, den das Land vor 1914 auch über die Verflechtung mit deutscher Kultur erworben hatte, ging mit der Ablehnung ihrer Verwendung für politische Propaganda, etwa vonseiten des wilhelminischen Reiches, einher. Propaganda, wie sie George Creel im Ersten Weltkrieg aufbaute, verstand man demgegenüber als eine Form von Unternehmertum im nationalen Auftrag. Hierauf basierte der Eifer, mit dem man mit wechselnden Erfolgen „cultural diplomacy“ von „informational diplomacy“ trennte. Informationspolitik stand immer im Verdacht, bloße Propaganda zu verrichten, indem sie mit Radio, Film und Publikationen die Massen ansprechen wollte; Kulturpolitik, welche die Künste und Wissenschaften einbezog und elitären Charakter besaß, wurde als Domäne privater Organisationen angesehen – in den zwanziger Jahren beispielhaft von der Rockefeller Foundation und dem Carnegie Endowment praktiziert. Das State Department setzte sie nur widerwillig und nur deshalb ein, weil sie der „public diplomacy“ anderen, zumal europäischen Ländern gegenüber dabei half, dem Propagandavorwurf zu entgehen.95 Gegenüber dem Dritten Reich und seiner Propaganda vor allem in Lateinamerika hatte man mit dem Office for Inter-American Affairs eine Art Propagandaagentur geschaffen, und die Gründung des Office of War Information (OWI) und des Office of Strategic Services (OSS), bei dem namhafte deutsche Emigranten Analysen über Deutschland lieferten, gehörten eindeutig zu dem schnell wachsenden Komplex der Informationsverwaltung und ‑verbreitung. Das stellte auch für die Nachkriegszeit die Weichen. Zu dieser Zeit standen mit amerikanischen Informationszentren und dem besonders mit China praktizierten Studentenaustausch einige kulturpolitische Modelle zur Verfügung; als Grundlage für die Aufgaben gegenüber dem geschlagenen Deutschland reichten sie jedoch nicht aus.96 95 Hans N. Tuch, Conducting Public Diplomacy. Political and Cultural Change in Berlin, Bonn and Washington, D.  C., in: Washington, D.  C. Interdisciplinary Approaches, hg. von Lothar Hönni� ghausen und Andreas Falke. Tübingen: Francke, 1992, 211–222. 96 Emily S. Rosenberg, Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890–1945. New ������������������������������������������������������������������������������ York: Hill & Wang, 1982, 206–219. Wolfgang Schivelbusch weist auf die Ähn� lichkeit mit der Besatzungspolitik des Nordens gegenüber dem Süden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg hin; vgl. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, 53 f.

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Frank Ninkovich, einer der führenden Experten auf dem Gebiet der „cultural diplomacy“, macht in seinen unsentimentalen Analysen deutlich, dass die amerikanische Regierung für den Einbezug kultureller Elemente sowohl bei der Behandlung Deutschlands als auch bei der Abwehr der sowjetischen Expansionsdrohung wenig vorbereitet gewesen sei und ihr Instrumentarium erst nach und nach aus Fehlschlägen und Erfolgen geformt habe.97 Wer die Geschichte der amerikanischen Präsenz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg im Hinblick auf die Kulturpolitik studiert, muss tatsächlich feststellen, dass sie für die amerikanische Seite keine geringere Lernerfahrung darstellte als für die Deutschen, die sich zunächst den wenig koordinierten Strategien der Bestrafung und Entnazifizierung vonseiten der Militärmacht gegenübersahen und dann die Erziehungsreformen, Informations- und Kulturprogramme als Kern der Umerziehung zu verstehen und möglichst zu akzeptieren hatten, die zumeist von privaten Organisationen, am prominentesten der Ford Foundation, ab 1953 auch von der United States Information Agency (USIA) durchgeführt wurden.98 Offensichtlich fiel es Amerikanern gegenüber dem wesentlich fremderen Japan leichter, bei der Umerziehung des besiegten Gegners mehr Experimente zu wagen.99 Die Subventionierung von Intellektuellen und Künstlern vonseiten des Staates weckte nicht nur im Kongress in Washington starke Widerstände, ganz zu schweigen von der Erhöhung von Kultur („culture“) zu einer politischen Waffe, wenn das nicht nur Information und Propaganda, sondern Literatur, Kunst und Musik einschloss. (Daher war der dieser Kontrolle nicht unterliegende Geheimdienst CIA wesentlich freier in seiner Unterstützung, beispielsweise der Intellektuellen des Congress for Cultural Freedom.) Zwar gestanden die amerikanischen Eliten Europa bis in die Nachkriegsjahre zu, nach wie vor an der Spitze der Weltkultur zu stehen – und Europäer ließen Amerikaner wissen, dass sie nicht viel von deren Kultur hielten –, aber die Erhöhung von Kulturpolitik zu einem wichtigen Bestandteil der Außenpolitik, wie es Frankreich seit jeher praktizierte, empfanden Amerikaner lange als ein Exotikum vergangener Feudalepochen. Sie bedachten (zunächst) mit Spott, 97 Frank A. Ninkovich, The Diplomacy of Ideas. U. S. Foreign Policy and Cultural Relations, 1938– 1950. Cambridge: Cambridge University Press, 1981. 98 Kathleen D. McCarthy, From Cold War to Cultural Development. The International Cultural Activities of the Ford Foundation, 1950–1980, in: Daedalus 116:1 (1987), 93–117; Volker R. Berghahn, America and the Intellectual Cold Wars in Europe. Shepard Stone between Philanthropy, Academy, and Diplomacy. Princeton: Princeton University Press, 2001; Frank Schumacher, Kalter Krieg und Propaganda. Die USA, der Kampf um die Weltmeinung und die ideelle Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1955. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2000. 99 Gordon Daniels, The Re-Education of Imperial Japan, in: The Political Re-Education of Germany & Her Allies after World War II, hg. von Nicholas Pronay und Keith Wilson. Totowa: Barnes & Noble, 1985, 203–217.

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dass die russische Kulturpolitik auf ihren Auslandsgastspielen mit Vorliebe mit dem Bolschoi-Ballett brillierte, einem Relikt jener Epochen. Die einzige umfassendere Vorbereitung für die Behandlung der Deutschen nach Kriegsende bestand neben den vor allem von Emigranten wie Franz Neumann (Behemoth, 1942) erstellten soziologisch-politischen Analysen in dem medizinisch-therapeutischen Denken über den Charakter der Völker, aufgrund dessen Amerikaner den Nationalsozialismus als schlimmste Ausformung des militaristischen und zugleich bornierten Charakters der Deutschen verstanden. Diesen Charakter ein für alle Mal zu reformieren, stellte die dringendste Aufgabe dar. Die Umsetzung – die zum Eingeständnis der Schuld führen sollte – fiel allerdings nicht leicht, obgleich die Information Control Division (ICD) zahlreiche Spezialisten, oft Emigranten mit genauer Kenntnis der Mentalität, dafür einsetzte. Sie folgten der Maxime, dass die deutsche Kultur nur dann reformiert werden könne, wenn ihre wichtigsten Repräsentanten bestraft oder entfernt würden. Jedoch stießen sie damit bald auf große Hindernisse, sowohl im künstlerischen wie im Erziehungs- und Universitätsbereich. So scheiterten sie mit ihrer 1945–1947 unternommenen Initiative in Bayern, die bekanntesten deutschsprachigen Dirigenten, die im Dritten Reich höchste Förderung erfahren hatten, zu entnazifizieren, unter ihnen Wilhelm Furtwängler, Clemens Krauss, Hans Knappertsbusch, Eugen Jochum, Joseph Keilberth, Rudolf Kempe, Karl Böhm und Herbert von Karajan. Als die Entscheidung der ICD, auch Furtwängler vom Podium zu verbannen (blacklisting), auf starken Widerstand stieß, wurde das zu einem weiteren Argument für die Militärregierung (OMGUS), diese Form radikaler Entnazifizierung der Kulturszene abzubrechen.100 Als Herman B. Wells, der Präsident der Indiana University, auf seiner Gutachterreise Ende 1947 die Schwächen der Reeducation-Politik analysierte, bahnte sich ein Wandel an, den OMGUS mit Unterstützung des Militäroberbefehlshabers Lucius D. Clay und des Außenministeriums umsetzte. Im Kulturbereich rückte Wells die Notwendigkeit ins Zentrum, von der Bestrafungsstrategie zu einer Angebotsstrategie überzugehen, die die Deutschen viel sicherer und langfristiger zum Umdenken führen würde. An erster Stelle kam für Wells dabei Information und Kulturaustausch: „Mehr als ein Jahrzehnt lang waren die Deutschen durch die Nazi-Diktatur vom Denken und von der Kultur im Rest der Welt abgeschnitten. Heute sind sie sich vieler der Fortschritte nicht bewusst, die in solchen Gebieten wie Erziehung, Sozialwissenschaften, 100 David Monod, Verklärte Nacht. Denazifying Musicians under American Control, in: Music and Na� zism. Art under Tyranny, 1933–1945, hg. von Michael H. Kater und Albrecht Riethmüller. Laaber: Laaber, 2003, 292–314.

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Medizin, Kunst und Literatur gemacht wurden. Es genügt nicht zu sagen, dass durch den Import neuer Ideen und Methoden mithilfe des Austauschs von Publikationen, Lehrern, Studenten und bekannten Experten geholfen wird; vielmehr muss gesagt werden, dass Erfolg ohne diesen Austausch unmöglich ist.“101 Kulturaustausch firmierte als einer der Grundpfeiler eines erfolgreichen Umerziehungsprogramms. Mit dem 1948 verabschiedeten Smith-Mundt Act wurde Austausch mit anderen Ländern offizielle Politik, und auch deutsche Jugendliche, Studenten und potenzielle Führungskräfte bekamen die Erlaubnis, daran teilzunehmen. Vom Einbezug gelangte man schnell zu einem spezifisch für Deutsche organisierten Programm, das dem American Field Service (AFS) und anderen privaten Organisationen überlassen wurde, bis dann das Fulbright Program, vom State Department getragen, aber unabhängig verwaltet, eine größere Basis schuf, an der Deutsche in großer Zahl beteiligt wurden.102 Ende der vierziger Jahre beherbergten über dreißig Städte der Bundesrepublik und Österreichs Amerikahäuser und Lesesäle. Mit ihren umfassenden Informations- und Kulturprogrammen folgten diese der Angebotsstrategie, die sich von Propaganda und Indoktrinierung fernhalten sollte.103 Allerdings führte die prekäre Spannung zwischen Kultur- und Informationspolitik zu einem ständigen Reibungsverlust, nicht zuletzt auch bei der Finanzierung durch den Kongress in Washington, wo diese Form der Kulturversorgung nicht mit der Forderung kompatibel erschien, das Ansehen der USA und die Abwehr des Kommunismus zu stärken. So lange State Department und beteiligte Organisationen –besonders unter Hinweis auf den Marshallplan und seine Werbung für den Westen – ins Feld führen konnten, dass damit Westdeutsche und Österreicher davon abgehalten werden sollten und konnten, der kommunistischen Kulturstrategie in die Hände zu fallen, wurden die Gelder bewilligt. Sobald diese Gefahr gebannt schien und Mitte der fünfziger Jahre beide Länder die Abhängigkeiten hinter sich ließen, verminderte sich die Unterstützung. Die Umstellung auf partnerschaftliche Lösungen, etwa Deutsch-Amerikanische Kulturinstitute, gelang nur vorübergehend. Wenn der Kalte Krieg nicht die zentrale Funktion von Kultur, Fremdsprachen und Wissenschaft erwiesen hätte, besonders nachdrücklich nach dem Sputnik-Schock 1957, wäre „cultural diplomacy“ der Bundesrepublik gegenüber völlig vernachlässigt worden. Daran änderten auch Berlin-Krise und Mauerbau wenig, im Gegenteil, die Berliner 101 Kellermann, Cultural Relations as an Instrument of U. S. Foreign Policy, 33 f. 102 Manuela Aguilar, Cultural Diplomacy and Foreign Policy. German-American Relations, 1955–1968. New York: Lang, 1996, 127–218. 103 Axel Schildt, Die USA als „Kulturnation“. Zur Bedeutung der Amerikahäuser in den 1950er Jah� ren, in: Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. von Alf Lüdtke, Inge Marßolek und Adelheid von Saldern. Stuttgart: Steiner, 1996, 257–269.

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Mauer stabilisierte das Sicherheitssystem und damit die ideologischen Konfrontationen in Europa. Das State Department wandte sich auch im Kulturund Informationsbereich stärker der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in den Ländern der Dritten Welt zu, eine schwierige Aufgabe, da die USA zunächst – vor Eisenhowers Weigerung, dem „Suez-Abenteuer“ Unterstützung zu gewähren – allzu eng mit den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich liiert schienen.104 In der kältesten Phase des Kalten Krieges lieferten Amerikahäuser ein von keinem anderen Land erreichtes kulturelles Angebot. Sie führten in viele Schöpfungen und Denkweisen der Moderne ein und etablierten Amerika als Kulturvermittler und ‑produzent, etwas, das vollen Zuspruch nur in der jüngeren Generation fand, während es bei Älteren die Gewohnheit kaum brechen konnte, Amerika als unkultiviert anzusehen. Die Anstrengungen amerikanischer Kulturvermittler, das Stigma der Unkultur in Europa zu tilgen, gewann ihre Energie nicht zuletzt aus dem Bestreben, mit dieser Kulturoffensive der sowjetischen Kulturoffensive entgegenzutreten, die sich mit großem Erfolg des Arguments bediente, der westliche Hort des Militarismus, Kapitalismus und Materialismus sei und bleibe ein Land der Unkultur.105 Hierbei zählten allerdings die Deutschen mit ihrem jüngsten Absturz in die Unkultur als Adressaten weitaus weniger als die Briten, vor allem aber die Franzosen und Italiener, bei denen jeweils große kommunistische Parteien das Gewicht der prosowjetischen und antiamerikanischen Denkweise bedrohlich verstärkten. Ohnehin war die Kulturpolitik der Militärverwaltung von Anfang an nur als eine aus den Umständen erwachsende Strategie akzeptiert worden. Im Gegenzug zur sowjetischen Taktik, aus der Kulturpolitik entscheidende Elemente der gesellschaftlichen Kontrollpolitik hervorgehen zu lassen, gestand OMGUS der Kulturpolitik zwar eine Transmissionsrolle für die Umerziehung der Deutschen zu, setzte letztlich aber auf ein anderes Verfahren, das der Tradition der amerikanischen Demokratie entsprang und, soweit es ging, der Kultur und Kunst ihre Unabhängigkeit erhielt. Mit dem Übergang der Verantwortung 1949 von der Besatzungsverwaltung auf die Hohe Kommission (HICOG) wuchs das Budget für das Bildungsprogramm von einer Million auf 28 Millionen Dollar 104 Nicholas J. Cull, Reading, Viewing, and Tuning in to the Cold War, in: The Cambridge History of the Cold War, Bd. 2, hg. von Melvyn P. Leffler und Odd Arne Westad. Cambridge: Cambridge University Press, 2010, 438–459. 105 Jessica C. E. Gienow-Hecht, Culture and the Cold War in Europe, in: The Cambridge History of the Cold War, Bd. 1, hg. von Melvyn P. Leffler und Odd Arne Westad. Cambridge: ���������������������������� Cambridge Univer� sity Press, 2010, 398–419; Reinhold Kreis, Ort für Amerika. Deutsch-Amerikanische Institute und Amerikahäuser in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren. Stuttgart: Steiner, 2012, 261–264.

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1952 an.106 Zugleich entwickelten sich die spezifischen Begründungen und Praktiken der Demokratisierungsagenda, die die Vereinigten Staaten in den Folgejahrzehnten auch bei der Behandlung anderer Gesellschaften anwendeten. Als um 1990 der Kommunismus in den osteuropäischen Staaten zerbrach und ein großes gesellschaftspolitisches Vakuum hinterließ, setzten die USA unverzüglich die Agenda des „democracy building“ ein, das vor allem Partei­ gründungen und Aufbau eines Pressewesens beinhaltete, eine Praxis, die sich im Nachkriegsdeutschland bewährt hatte. Sie grenzte sich nach 1990 deutlich von den Strategien der inzwischen entstandenen bundesdeutschen Organisationen ab, die sich, der anderen Tradition gemäß, mehr als Träger von Kulturund Gesellschaftspolitik verstanden. Historiker und Sozialwissenschaftler haben sich der Geschichte der Umerziehung zur Demokratie, die sich aus Befehl, direkter Anleitung und indirekter Vorbildwirkung der angelsächsischen Besatzer entfaltete, eingehend angenommen.107 Wenn dabei der Begriff der Kulturpolitik überhaupt Verwendung fand, kontrastierte das mit seiner Nutzung im kommunistischen Machtbereich, stieß aber in bürgerlichen Bildungsschichten auch auf Widerstand. Die zuletzt vom NS-Regime missbrauchte Mobilisierung deutscher Kulturmacht bebte noch nach und wirkte als Hindernis einer politisch tragfähigen Demokratisierung der Gesellschaft, wie sie die amerikanische Militärregierung und nach der Inkraftsetzung des Besatzungsstatuts 1949 das Hochkommissariat unter John McCloy verfolgten. Kulturelle Identitätspolitik als Ersatz für Gesellschaftspolitik, deren Widerständigkeit gegen den Westen (dem die Westdeutschen ja nun offiziell zugehörten) sich vornehmlich aus der Abwehr der demütigenden Besatzungsherrschaft nährte, musste überwunden werden, sollte sich aus der Ermächtigung von Gewerkschaften, Bürgervereinigungen, Selbsthilfeorganisationen für Frauen und Jugendliche, politischen Bildungszirkeln, vor allem aber aus der Verpflichtung auf eine westlich-demokratische Verfassung eine Demokratie entwickeln, die vor dem Rückfall in autoritäre Strukturen gefeit war. Erfolge und Misserfolge der in der amerikanischen Zone 1949–1952 wirkenden Kreis Resident Officers lassen erkennen, wie mühsam sich die „grass roots“-Bemühung um diese Demokratisierung von unten anließ.108 Die Papiere 106 Hermann-Josef Rupieper, Die amerikanische Demokratisierungspolitik in Westdeutschland 1945 bis 1952, in: Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, hg. von Heinrich Oberreuter und Jürgen Weber. München, 1996, 197–216, hier 200. 107 Beispielhaft: Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, hg. von Heinz Bude und Bernd Grei� ner. Hamburg: Hamburger Edition, 1999; Konrad Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2004. 108 Thomas Schlemmer, McCloys Botschafter in der Provinz. Die Demokratisierungsbemühungen der amerikanischen Kreis Resident Officers 1949–1952, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47

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von Hochkommissar McCloy aus dieser Zeit bezeugen, wie begründet die Befürchtungen um 1950 waren, dass der im Gegenüber zur Besatzungsherrschaft wieder auflebende Nationalismus die Demokratisierung im Keime ersticken könne. Alarmierend wirkten nicht nur die Erfolge der Sozialistischen Reichspartei im niedersächsischen Landtag und die zunehmend nazistischen und revanchistischen Parolen der Soldatenvereine, sondern auch, wie ein Kongressbericht von 1952 ausführte, die Beschäftigung von Personen im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik, die Hitlers Amt treu gedient hatten.109 Zugleich waren sich amerikanische Verantwortliche nicht ganz im Klaren, ob ihre Entnazifizierungsstrategie unwillentlich zu der Wiedererstarkung nazistischer Überzeugungen beigetragen hatte. Indem man den Nationalsozialismus von vornherein als Unkultur abgetan habe – was völlig verständlich sei –, habe man die jüngsten Lebenserfahrungen der Deutschen aus den Erörterungen über die Vorzüge der Demokratie von vornherein ausgeschlossen und diese damit zu einem bloßen Dekret werden lassen. Der bestürzende Bericht der HICOG Ende 1951 über neonazistische Tendenzen, „The Present Status of ‘Neo-Nazism’ in West Germany“, verschonte das eigene Vorgehen nicht vor Kritik: Es sei möglich, „dass die Totalverdammung nationalsozialistischer Ideen, die implizit oder explizit die Ausrichtung der Besatzung charakterisierte, obzwar verständlich, logisch und psychologisch fehlerhaft war. Reorientation-Bemühungen hätten eher betonen sollen, dass mit einigen Elementen des Nazismus – Vollbeschäftigung, Renten, guten Straßen und ähnlichem – per se nichts falsch war, dass es aber gute und schlimme Wege zu ihrer Verwirklichung gebe, und dass die nationalsozialistische Philosophie diese Ziele mit Mitteln durchsetzte, die unausweichlich zu Aggression, Konzentrationslagern, Ausbeutung von Minderheiten und anderen zugegebenen Übeln der Bewegung führten.“110 Diese These fand erwartetermaßen bei HICOG-Funktionären kaum Unterstützung. Jedoch erfasste sie das Dilemma einer rigiden und darin bequemen Verdammung des Nationalsozialismus, das noch Jahrzehnte lang ein kritisches Verständnis der auch im Dritten Reich fortgeführten Traditionslinien des modernen Deutschland verstellt hat. Die Pauschalverdammung erschien notwendig, um Demo(1999), 265–297; Hermann-Josef Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945–1952. Opladen: Westdeutscher, 1993. 109 Report on Germany Pursuant to H. Res. 28, 29 Feb 1952, Union Calender No. 459, 82nd Congress, 2d Session, 26–27, zit. nach Frank M. Buscher, The U. S. High Commission and German National� ism, 1949–52, in: Central European History 23 (1990), 57–75, hier 72. 110 „The Present Status of ‘Neo-Nazism’ in West-Germany“, 10.1.1952, Office of Public Affairs, HI� COG, RG 466, McCloy Papers, D(52)183a-b, zit. nach Buscher, The U. S. High Commission, 72. S. auch das selbstkritische Resümee aus dieser Zeit von William Ernest Hockings, Experiment in Education. What we Can Learn from Teaching Germany. Chicago: Regnery, 1954.

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kratie aufbauen zu können, und wurde zugleich zu einer Behinderung bei der Bemühung, Demokratie von unten, aus der eigenen Lebenserfahrung der Deutschen aufzubauen. Zusammen mit seinem Vertrauten Shepard Stone, dem mit deutscher Kultur und Wissenschaft bestens bekannten Leiter des Public Affairs Program, weitete McCloy das kulturelle Austauschprogramm vor allem für Jugendliche und angehendes Führungspersonal in beeindruckender Weise aus.111 Das war ohne Zweifel die glänzendere Seite amerikanischer Besatzungspolitik, obschon sie in Washington erheblich unter Beschuss geriet. Sie galt der Zukunft und hat sich als hervorragende Investition für die Etablierung der Demokratie in Deutschland erwiesen, von der lebenslänglichen Bezugnahme der Teilnehmer auf die USA ganz zu schweigen. Jedoch verbrachte McCloy nicht weniger Zeit mit der Abwicklung der Vergangenheit, die sich nicht in der den Deutschen früh überantworteten Entnazifizierung erschöpfte, sondern die juristische Abwicklung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates zum Kern hatte. Hier wurde bei zunehmender Zurückhaltung der deutschen Justiz die Oberhoheit der Besatzungsmacht unabdingbar, und McCloy war ständig mit komplexen Entscheidungen über die Behandlung von Kriegsverbrechern, Judenvernichtern und ihren Schreibtischkomplizen beschäftigt. Er hielt damit wichtige Schlüssel für die Akzeptanz des Landes in der internationalen Politik in der Hand, die Adenauer von Anfang an zu seiner außenpolitischen Mission machte, Schlüssel, die Adenauer oftmals wissentlich oder unwissentlich ungenutzt ließ. Ohne McCloys Drängen hätte Adenauer den wichtigsten Schritt zu dieser Akzeptanz, das Abkommen über Entschädigungszahlungen mit Israel und das Abkommen mit der Conference on Jewish Material Claims, gegen die starke Opposition im Parlament, vor allem bei Adenauers eigener Partei, 1952 nicht durchgesetzt.112 Dass bei den Unterhandlungen in Luxemburg ausgerechnet einer jener belasteten Funktionsträger des Ribbentrop-Amtes, der erwähnte Heinz Trützschler von Falkenstein, neben dem integren Rechtsprofessor Franz Böhm auf deutscher Seite die Verhandlung führte, lässt etwas von den Irritationen erkennen, denen McCloy in der Zusammenarbeit mit dieser deutschen Regierung konstant ausgesetzt war.113 111 Thomas A. Schwartz, Reeducation and Democracy. The Politics of the United States High Com� mission in Germany, in: America and the Shaping of German Society, 1945–1955, hg. von Michael Ermarth. Providence/Oxford: Berg, 1993, 35–46; Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert, 169–201. 112 Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialis� mus (1945–1954). München: Oldenbourg, 1992, 257–285. 113 Günter Diehl, Zwischen Politik und Presse. Bonner Erinnerungen 1949–1969. Frankfurt: Sozietät, 1994, 89.

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27 Besuch von Konrad Adenauer im New Yorker Goethe House, 1957. Von links: Adenauer, John McCloy, Botschafter Krekeler mit der Büste von Goethe © Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N.

Anders als die sowjetischen Führer kümmerte sich McCloy in seiner Kulturund Bildungspolitik nicht um spezifische Definitionen von Kultur und ihre Umorientierung. Dennoch trug er entscheidend zu dem Entstehen einer solchen Umorientierung in Deutschland bei, die erst in den Folgejahrzehnten voll zum Tragen kam: einer Kultur demokratischer Gesellschaftlichkeit, nicht der imaginierten Nation. Letzteres blieb als Referenz bestehen, fand bis in die sechziger Jahre bei der SED-Proklamierung einer sozialistischen Nation Verwendung. McCloys eigene Kulturauffassung war von dem extremen Traditionalismus gekennzeichnet, der in der Hochkultur ein Bollwerk gegen die Popularisierung und Vulgarisierung von Kultur sah; im amerikanischen Liberalismus verwurzelt, fiel es ihm nicht schwer, mithilfe von Goethe, Dante, Shakespeare und Tolstoi die humane Mission der Kultur gegen die chaotische Gegenwart zu beschwören. Dem entsprach die von Amerikanern 1949 in Aspen, Colorado, im Beisein von Weltprominenz ausgerichtete Konvokation zu Ehren von Goe-

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thes 200. Geburtstag. Mit breitem Medienecho veranstaltet und als weltweit größte Goethe-Feier gewertet, berief die Konvokation, zu der u. a. Ortega y Gasset, Albert Schweitzer, Stephen Spender, Thornton Wilder, Ernst Robert Curtius und einige andere deutsche Teilnehmer beitrugen, Goethe als den bedeutendsten Garanten für die Überlebenskraft der Kultur nach einem solch furchtbaren Geschehen. Ebenfalls im Namen Goethes half McCloy, zusammen mit dem ehemaligen Harvard-Präsidenten James B. Conant, dem ersten USBotschafter in Bonn, 1957 bei der Etablierung eines ersten Zentrums deutscher Kultur in den USA, dem Goethe House in einem New Yorker Bürogebäude. Als eine amerikanische Institution mit entsprechenden Geldgebern geführt, sollte das Haus den Deutschen ein Forum verschaffen, den deutschen Beitrag zur Kultur zu präsentieren, ohne als offizielle deutsche Institution dem deutschlandkritischen New Yorker Publikum eine Handhabe für Angriffe zu geben. McCloys Gefälligkeit Adenauer gegenüber – der das Haus ebenfalls wie Theodor Heuss besuchte – hielt die Institution nur eine Zeit lang über Wasser; das Auswärtige Amt musste bald voll für die Aufrechterhaltung aufkommen, wollte das aber nicht bekanntmachen und säte damit genau das Misstrauen in New York, das es hatte vermeiden wollen.114 Großbritannien

Anders als im Falle Russlands und der Vereinigten Staaten war deutsche Kultur in Großbritannien als eine wichtige europäische Kultur wahrgenommen, teilweise aufgenommen worden, für die kulturelle Entwicklung aber nicht konstitutiv geworden. Nach den Propagandaexzessen des Ersten Weltkrieges, in denen Engländer das Bild deutscher Kultur mit dem des Kaisers zu einem Amalgam aus Arroganz und Militanz verschmolzen hatten, war man gegenüber den kulturellen Neuansätzen der Weimarer Republik erst spät aufgewacht, hatte sich dann mit der Appeasement-Politik Hitler gegenüber allzu sehr zurückgehalten und stand nun mit dem militärischen Sieg über das Dritte Reich vor der Aufgabe, als ein selbst zerstörtes und verarmtes Land mit der Oberhoheit über die bevölkerungsreichste Besatzungszone deren Versorgung zu übernehmen. Jede nüchterne Kalkulation musste Fragen kultureller Reform und Umerziehung hintansetzen. Hätten nicht die Erfahrungen mit einer zurückhaltend-geschickten Kolonialverwaltung gegriffen, hätte sich die Konkurrenz mit den anderen Besatzungsmächten nur schwer aus materiellen Ressourcen 114 Aguilar, Cultural Diplomacy and Foreign Policy, 145–151. Eine Dokumentation der frühen Jahre des Goethe House New York im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar (A Goethe-Institut ‘New York’ Scrapbook).

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allein bewältigen lassen. Aus der Dramatik europäischer Nachbarschaft entsprangen neue Formulierungen alter Ressentiments ebenso wie neue Chancen, diesen Nachbarn und Herausforderer auf eine demokratische Bahn zu lenken, jedoch kein Missionsgefühl, wie es die Strategien der Russen und Amerikaner formte. Beide Weltmächte im Osten und Westen hatten von allen Ländern seit dem 18. Jahrhundert die größte Anzahl deutscher Siedler aufgenommen und waren im Prozess des kulturellen Aufbaus, besonders im Erziehungswesen, von der deutschen Kultur- und Wissenschaftsideologie bis zum Ersten Weltkrieg mitgeformt worden. Deutschlands eigener Aufstieg als politische Macht hatte den deutschen Siedlerkontingenten größere Beachtung, zugleich aber auch stärkere Aversionen eingebracht, die sich dann unter der militärischen Konfrontation zu einem regelrechten Feldzug gegen das deutsche Element – physisch und ideell – ausweitete. Er führte in den USA zur Zerstörung deutscher Ethnizität; demgegenüber erlaubte die Gründung der Sowjetunion die Einrichtung einer autonomen deutschen Wolga-Republik, in einer fragilen Kohabitation, die mit Hitlers Feldzug und der Deportation der deutschen Bevölkerung nach Zentralasien ihr Ende fand. (Trotzdem wurden 1945/46, nach den Deportationen, noch 1.250.000 Deutsche in der Sowjetunion gezählt.115) Beide Staaten hatten nach 1933 deutsche Emigranten aufgenommen, die Sowjetunion allerdings sehr selektiv, immer im Hinblick auf deren Einsatzmöglichkeiten nach dem Sturz des Faschismus.116 Die US-Regierung hatte sich zahlreicher Emigranten zur Analyse des Gegners und der Ermöglichung der Entnazifizierungspolitik bedient; ihnen war nicht zuletzt der bereits in den späten vierziger Jahren einsetzende geistige Brückenbau zu einem freiheitlichen und westlichen Deutschland zu verdanken, der McCloys Reorientierungspolitik intellektuell untermauerte.117 Die britische Regierung nutzte von dem großen Kontingent deutscher Emigranten nur einen Bruchteil für den Einsatz nach 1945. Die Regierungsexpertise über die deutschen Verhältnisse war zwar auch von der Propaganda nicht 115 Ingeborg Fleischhauer und Benjamin Pinkus, The Soviet Germans. Past and Present, hg. von Edith Rogovin Frankel. New York: St. Martin’s, 1986, 103. 116 Jörg Morré, Kommunistische Emigranten und die sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland, in: Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, hg. von Claus-Dieter Krohn und Martin Schumacher. Düsseldorf: Droste, 2000, 279–298; Oleg Dehl, Verratene Ideale. Zur Geschichte deutscher Emigranten in der Sowjetunion in den 30er Jahren, hg. von Ulla Plener. Berlin: Trafo, 2000. 117 Frank Trommler, Neuer Start und alte Vorurteile. Die Kulturbeziehungen im Zeichen des Kalten Krieges 1945–1968, in: Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch, Bd. 1, hg. von Detlef Junker. Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001, 567–591.

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unberührt geblieben, stützte sich jedoch auf Jahrzehnte intensiven Umgangs mit dem Nachbarvolk. London war stärker geneigt, den Nationalsozialismus als eine brutal-exzessive Überlagerung der deutschen Gesellschaft anzusehen, die man mithilfe von Umerziehungsmaßnahmen abbauen könne, um den bereits in Weimar gezeigten demokratischen Elementen zum Durchbruch zu verhelfen.118 Nach der Phase harscher Entnazifizierung, die die britische Regierung bereits vor den USA mit Warnungen vor sowjetischen Expansionstendenzen begleitete, besiegelte Berlins Widerstand gegen die kommunistische Übernahme 1948 die Umorientierung gegenüber den Deutschen. Eine erste Änderung der antideutschen Ressentiments bewirkte 1947 der Londoner Verleger und Philanthrop Victor Gollancz mit seiner mutigen, aufrüttelnden Reiseschilderung aus dem Deutschland des Nachkriegselends, In Darkest Germany. Selten ausgesprochen, aber oftmals gedacht stand die gewissenhafte Versorgung Berlins 1948/49 unter anderem durch britische Militärflugzeuge im Gegensatz zu und doch auch in einer eigenartigen Linie mit der Zerstörung der Stadt wenige Jahre zuvor durch Flugzeuge der Royal Air Force. Beim Berliner Schriftstellerkongress 1947 schlug man die Brücke zur Vergangenheit nicht nur über die Bombennächte. Der große britische Deutschlandkenner Herman Ould, der Generalsekretär des internationalen PEN-Clubs, erhielt von der Versammlung eine besondere Ehrung dafür, dass er in seiner Funktion nach 1933 zahlreichen deutschen Autoren zur Flucht nach Großbritannien und dem deutschen Exil-PEN-Club zur Entstehung verholfen hatte.119 Vor den anderen Besatzungsmächten machten Briten die Notwendigkeit deutlich, demokratische Strukturen von den Deutschen selbst entwickeln zu lassen, wenngleich unter Aufsicht und Beratung. Bereits vor Kriegsende in den Londoner Ministerien ausgearbeitete Rahmenpläne zu Schulpolitik, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung ermöglichten eine geschmeidigere Kulturpolitik, an der Robert Birley, seit 1947 Educational Adviser des britischen Militärgouverneurs, besondere Verdienste zukamen. Von den anderen Besatzungsmächten öfters unter den Verdacht gestellt, allzu nachgiebig zu sein, spiegelte diese Politik eher das produktive Zusammenwirken Londoner Anleitungen und lokaler Anwendungen (wobei allerdings der Verwaltungsapparat in der britischen Zone dreimal so umfangreich war wie der in der US-Zone). Daraus erklärte sich die frühe Inbetriebnahme von Büchereien und Kinos in den ersten Nachkriegsmonaten durch die jeweiligen lokalen Kommandeure, nicht unähnlich 118 Wilfried van der Will, The British Policy of Re-Education. Contradictions and Achievements, in: The Cultural Legacy of the British Occupation in Germany. The London Symposium, hg. von Alan Bance. Stuttgart: Heinz, 1997, 267–293. 119 Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.–8. Oktober 1947, 126–131.

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der sowjetischen Praxis. Jedoch verfolgten die Engländer damit keineswegs ein ähnliches, der Vorbereitung politischer Initiativen gewidmetes kulturpolitisches Konzept. Kaum ein Aspekt durchzieht die britischen Besatzungsverlautbarungen derart konsequent wie die Mahnung, den staatlichen Einfluss im Kulturund Erziehungsbereich möglichst von vornherein zu minimieren; hier ergaben sich bereits früh Streitpunkte mit den deutschen Beamten, die diesen Einfluss aus ihrer Tradition heraus befürworteten, wenn sie dabei auch vor allem Land und Region, nicht die Nation im Auge hatten.120 Staatskonforme Kulturpolitik, sei es die des Dritten Reiches, sei es die der Sowjetunion, bildete die Negativfolie für die britische Kulturpolitik. Geläufig war der Vorwurf, dass diese Form der Kulturpolitik zum Versagen der deutschen Kultur beigetragen habe, dem Nationalsozialismus zu widerstehen. „Durch die Besetzung der Gremien“, hat Gabriele Clemens erläutert, „mit Vertretern der Berufsverbände, Gewerkschaften und der Öffentlichkeit, wobei letztere die Hälfte der Vertreter stellen sollten, sollte diesem verhängnisvollen Staatseinfluss entgegengewirkt werden. Das britische Kulturverständnis, das Kultur weitgehend als Angelegenheit des privaten Individuums bzw. der Produzenten und Konsumenten der Kultur ansah, sollte auf diese Weise den Deutschen vermittelt werden.“ So übertrug man den deutschen Ländern bald Befugnisse in bestimmten Bereichen wie Erziehungs- und Gesundheitswesen, nicht aber für Bücher, Film und Theater.121 Bei der Neuordnung des Rundfunks auf regionaler Basis nahm diese Abkehr von staatlicher Einflussnahme exemplarische Gestalt an. Dem Vorbild der BBC folgend, zielte die Satzung des Nordwestdeutschen Rundfunks, der größten Anstalt, auf eine aus Vertretern der Berufsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Öffentlichkeit gebildete öffentlich-rechtliche Institution, um die Unabhängigkeit von den Länderregierungen zu gewährleisten; sie wurde später dann doch unterhöhlt, als sich die Parteien ihren Machtanteil sicherten. Bevor die konzeptionellen Differenzen zwischen den Besatzungsmächten voll zutage traten, prägten gemeinsame oder parallele Unternehmungen in der Säuberung der deutschen Kultur vom Nationalsozialismus den Kern alliierter Kulturpolitik. Sie wurden teilweise durch Befehle des Alliierten Kontrollrates in die Wege geleitet oder abgesichert. Zwei umfassende Aktionen widmeten sich mit wechselndem Erfolg der wichtigsten Aufgabe: der Abbau des vom NS-Regime errichteten Literatur- und Publikationsapparates durch Säuberung von Millionen von Büchern in den Bibliotheken sowie der radikale Umbau von 120 Gabriele Clemens, Britische Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949. Literatur, Film, Musik und Theater. Stuttgart: Steiner, 1997, 263–265. 121 Ebd., 265 f.

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Presse, Rundfunk und Verlagswesen durch Säuberung des Personals – eine Entnazifizierung, die wesentlich härter vorging als in der Wirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung und im Schulwesen. Die Aussonderung der im Nationalsozialismus riesig angewachsenen Literatur völkischer, rassistischer und militaristischer Ausrichtung geschah in allen Besatzungszonen. Größere Unterschiede ergaben sich bei der Entnazifizierung des Pressepersonals, die von Russen und Amerikanern am schärfsten, von Franzosen am nachgiebigsten gehandhabt wurde. In allen Fällen vermieden es die Beteiligten, auf die Parallelen mit den Säuberungen im Dritten Reich einzugehen. Jedoch ließen sich solche Assoziationen nicht völlig unterdrücken, insbesondere wenn Betroffene ihren „Opferstatus“ gegenüber der alliierten Kulturpolitik mit diesem Vergleich zu bestätigen suchten. Die Buchsäuberung weckte naturgemäß weniger Widerstand. Viele Deutsche verstanden und praktizierten sie als eine symbolische Exekution, eine Austreibung des Nazigeistes, mit der man Absolution erwarb, ohne sich um eine gründlichere Selbstbefragung zu kümmern. Angesichts der Zerstörung großer Bücherbestände durch Bomben weckte sie allerdings auch die Kritik, zu viel Unterhaltungsliteratur mit aus dem Verkehr zu ziehen, nach der die lesehungrige Bevölkerung bei Verlust anderer Unterhaltungsformen verlange. Der andere, politischere Vorwurf galt jener Assoziation mit 1933, der Entfernung des jüdischen Schrifttums aus deutschen Bibliotheken. Stephen Spender, der britische Schriftsteller, der im Herbst 1945 deutsche Städte besuchte und ein aufschlussreiches Tagebuch führte, notierte erschreckt die nonchalante Aussage eines Bibliothekars in Aachen, diese Aussonderung schon einmal in dieser Form vorgenommen zu haben.122 Dass dieses Missverständnis breite Aufklärung verdiene, genügte kaum als Antwort. Aber auch die britische Besatzungsmacht kam um die Erstellung von Listen unerwünschten Schrifttums nicht herum, die in allen Zonen zirkulierten. Schwieriger, jedoch auch bedeutsamer in seinen generell positiven Folgen für die westdeutsche Nachkriegsdemokratie war die Säuberung des Medienpersonals, besonders von Presse und Rundfunk. Dafür lieferten die Briten die tragfähigsten Modelle, die mit der Vorbildwirkung der britischen Demokratie für die Schaffung einer regierungsunabhängigen Medienöffentlichkeit grundlegend wurden. Dieser Prozess, der mit dem Vordringen der alten Seilschaften

122 Peter Hoare, ‘Hungry for Reading’. Libraries in the British Zone of Occupation, in: The Cultural Legacy of the British Occupation in Germany, 211; eine genaue Analyse der US-Politik auf diesem Gebiet bei Bernd R. Gruschka, Der gelenkte Buchmarkt. Die amerikanische Kommunikationspolitik in Bayern und der Aufstieg des Verlages Kurt Desch 1945 bis 1950, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 44 (1995), 1–185.

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Anfang der fünfziger Jahre retardierte, dauerte bis in die sechziger Jahre.123 Ihm stand die Bundesregierung voller Kritik gegenüber, insofern er dazu beitrug, in aller Öffentlichkeit die autoritären, staatsfrommen Haltungen abzubauen, mit denen Adenauer und seine noch im Wilhelminismus geprägte Generation das Reservoir des Verwaltungskonservatismus für die Re-Integration der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft mobilisierten. Hatten Großbritannien und Frankreich zu dieser Zeit mit dem Abbau der kolonialen Herrschaftsstrukturen zu kämpfen, die im Falle Frankreichs die demokratische Grundsubstanz des Landes in der IV. Republik in Frage stellte, durchmaß die westdeutsche Demokratie dank der Befreiung der Medienöffentlichkeit den Abbau des autoritären Verwaltungsstaates, der im Nationalsozialismus zu seiner machtpolitischen Hypertrophie gelangt war und letztlich erst mit dem Abtreten der ihn tragenden zwei Generationen in den sechziger und siebziger Jahren seine Bedrohung für die Demokratie verlor. Bezeichnenderweise erlangte auswärtige Kulturpolitik erst nach dieser Phase eine gewisse Selbstständigkeit. Erst dann sahen sich die dafür verantwortlichen Institutionen, insbesondere das Auswärtige Amt, frei genug, mehr als nur die Konsensideologie einer gegen Nazismus und Kommunismus angetretenen Bundesrepublik nach außen zu projizieren. Mit der Befriedigung des Lesehungers der anderweitig noch hungrigeren Bevölkerung errangen die britischen Informationszentren unter dem Namen „Die Brücke“ schnell Popularität. Sie entwickelten sich ab 1946 aus Lesesälen, welche die entweder zerstörten oder gesäuberten öffentlichen Bibliotheken ersetzten; ihr Netz umfasste im Herbst 1947 bereits 64 Zentren.124 Sie gingen in vielem den Amerika-Häusern voran und setzten zunehmend den Kurs auf die Selbstdarstellung Großbritanniens als Vorbild für die Deutschen, ähnlich wie es die anderen Besatzungsmächte mit ihren Informationszentren, einschließlich den Einrichtungen der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, praktizierten. Diese Selbstrepräsentation der Besatzungsmächte gab nach der harschen Entnazifizierungsphase traditionellem Nationalismus ein Podium, das einem Verehrer englischer Kultur wie T. S. Eliot Unbehagen bereitete. In einem Rundfunkvortrag verwies der zu dieser Zeit angesehenste literarische Vertreter Großbritanniens auf die seit den dreißiger Jahren immer stärker gewordenen Tendenzen zur „Kulturautarkie“ hin, die es ihm immer mehr erschwert hätten, für seine Zeitschrift The Criterion Beiträge zu finden, „welche international re-

123 Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlich� keit 1945–1973. Göttingen: Wallstein, 2006, 103–144. 124 Clemens, Britische Kulturpolitik in Deutschland, 205.

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zipierbar gewesen seien.“125 Während die Sowjetunion sich nicht in die Karten blicken ließ und Frankreich, zunächst von de Gaulle angeführt, aller Welt klarmachte, sich über seine Kultur das verlorene Ansehen wieder erobern zu wollen, führten amerikanische Intellektuelle eine selbstkritische Debatte darüber, was das Engagement für (europäische) Kultur eigentlich bedeutete – eine in den McCarthy-Hearings nicht ungefährliche Form der Kulturkritik. Voll aber traten in Großbritannien die Selbstzweifel in den Vordergrund, ob die Lehre vom „British Way of Life“, die seit jeher die eng traditionelle, ländliche Erscheinungsform des Landes überstrahlte, für andere Gesellschaften noch Vorbildcharakter besaß. Wohl durchdrang die britischen und französischen Konzessionen an die Überlebenskraft der deutschen Kultur ein seit Jahrhunderten gepflegtes – und von der Welt erwidertes – kulturelles Überlegenheitsgefühl, aber das beseitigte im Falle Englands für die Deutschen nicht ohne Weiteres die Spuren der nationalsozialistischen Propaganda, denen zufolge es im Vergleich zum modernen Deutschland ein rückständiges Land darstellte. Der Sieg über Nazideutschland, dem die Auflösung des Empire, aber auch eine große Sozialisierungskampagne der neu installierten Labour Party folgte, verlieh dem nationalen Stolz eine noch jahrzehntelang wirksame Referenz und hatte doch auch eine bis dahin ungewohnte Selbstbefragung der Nation zur Folge.126 Es konnte nicht ausbleiben, dass mit der Einbindung der beiden 1949 gegründeten deutschen Teilstaaten in die jeweiligen Machtblöcke die Patronage der Siegermächte auf den russisch-amerikanischen Gegensatz verkürzt wurde. Das hat zu Vergleichen sowohl der asymmetrischen Schlüsselbegriffe ‚Amerikanisierung‘ und ‚Sowjetisierung‘ wie der konträren politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen geführt und ist selbst Teil des Propagandaarsenals geworden.127 Bei der Erhöhung der amerikanisch-sowjetischen Konkurrenz in Deutschland zum Kernkonflikt des Kalten Krieges ist allerdings oft übersehen worden, dass die Konfrontation in anderen Weltteilen zu härteren und explosiveren Konflikten führte und die direkten Kulturkontakte zwischen den USA und der UdSSR nie wirklich unterbrochen wurden.128 Britische und französische Kulturpolitik spielte für die westdeutsche Integration in den Westen eine weiterhin zentrale Rolle. Ihr besonderes Kennzeichen ist ihre Wiederbelebung der vielen zivilgesellschaftlichen Kontakte aus der Zeit vor dem Krieg und dem 125 Wolfgang Kemp, Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900–1947. München/Wien: Hanser, 2010, 347. 126 Clemens, Britische Kulturpolitik in Deutschland, 54–56. 127 Exemplarisch der Band Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, hg. von Konrad Jarausch und Hannes Siegrist. Frankfurt/New York, 1997. 128 J. D. Parks, Culture, Conflict, and Coexistence. American-Soviet Cultural Relations, 1917–1958. Jefferson, N. C.: McFarland, 1983.

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Dritten Reich, teilweise auch, im Falle Frankreichs, im Krieg. Während Amerikaner und Sowjets kaum in dieser Form auf privat organisierte Kontakte zurückgreifen konnten, führten bereits Ende der vierziger Jahre inoffizielle Begegnungen zwischen Briten, Deutschen und Franzosen zu einem intellektuellen Austausch. Die bereits vor 1933 oft geäußerte Zielrichtung auf Europa erlebte nach den Bemühungen der Locarno-Periode und den Praktiken deutschfranzösischer Kollaboration in den Kriegsjahren eine dritte – und keineswegs letzte – Konjunktur. Die neuen zivilgesellschaftlichen Beziehungen unter­ schieden sich von jenen der zwanziger Jahre vor allem darin, dass sie in enger Koordination mit offiziellen Stellen unternommen wurden. Neu waren die Städtepartnerschaften, die 1947 zwischen Bonn und Oxford, Düsseldorf und Reading, Hannover und Bristol begannen und dann zwischen französischen und westdeutschen, später sogar einigen ostdeutschen Städten breit ausgebaut wurden. Exemplarisch für die wegbereitende Funktion solcher zwischenstaatlicher Gesellschaften wurde, wenngleich nicht speziell für die Kulturpolitik, die 1949 gegründete Deutsch-Englische Gesellschaft. Mit den ab 1950 jährlich stattfindenden deutsch-englischen Gesprächen in Königswinter, die von der angesehenen Vermittlerin Lilo Milchsack arrangiert wurden, erwarb diese Form bilateralen Dialogs den halboffiziellen Status, der beiderseitigen Nutzen lieferte, ohne sich in die offiziellen Rituale der vom Auswärtigen Amt den Auslandsvertretungen zugewiesenen kulturellen Aktivitäten zu verwickeln. Als Deutsch-Britische Gesellschaft, ab 1975 wechselweise in Deutschland und Großbritannien tagend, hat sie sich als intellektuelles Forum für Entscheidungsträger beider Länder erhalten.129 Frankreich

Anders als Großbritannien und die Vereinigten Staaten war Frankreich wie die Sowjetunion von deutschen Truppen angegriffen, besetzt und, wenngleich weniger brutal, ausgeplündert worden. Viele Charakteristika des französischen Besatzungsregimes, von der harten Behandlung seitens der Militärverwaltung, die sich zugleich großen Luxus leistete, bis zu Plünderungen und Demontagen sind einer Politik der Vergeltung zugeschrieben worden. Im sofortigen Einsatz von Kunst und Kultur nach 1945, den die Franzosen mit den Sowjets gemeinsam hatten, äußerte sich daneben eine Form zivilisierter Reziprozität, deren komplizierte Mechanismen sich nur entschlüsseln lassen, wenn man die deutsche Besatzungszeit 1940–1944 sowie die Abkehr vom Boykott deutscher Kul129 Ralph Uhlig, Die Deutsch-Englische Gesellschaft 1949–1983. Der Beitrag ihrer „KönigswinterKonferenzen“ zur britisch-deutschen Verständigung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986.

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tur und Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg einbezieht. Ein delikates Thema, das die Zeitgenossen, denen die Kontinuitäten bewusst waren, auf beiden Seiten bald umgingen.130 Häufiger diskutiert wurde demgegenüber eine andere Wechselwirkung, welche die Motivation und Praxis der kulturellen Besatzungspolitik nicht weniger geprägt hat: die Konkurrenz mit den anderen Besatzungsmächten. An der Potsdamer Konferenz nicht beteiligt, musste sich Frankreich mit der Fiktion einer Großmachtstellung begnügen, die es unter anderem mit der forcierten Demonstration kulturpolitischer Macht kompensierte. Nach der Befreiung durch die amerikanische und britische Armee hatten sich bürgerkriegs­ ähnliche Kämpfe zwischen Vertretern von Kollaboration und Résistance abgespielt, die durch Charles de Gaulle zu einer eindeutig von der Résistance her begründeten Legitimierung der Besetzung Deutschlands führten. Bei dem Besatzungsgebiet handelte es sich um zwei von den beiden Alliierten abgetretene landwirtschaftliche Teile im Südwesten Deutschlands sowie zwei Bezirke Berlins, die keinerlei prominente Kultureinrichtungen aufwiesen. Berlin wirkte auch hier als Katalysator der widersprüchlichen Intentionen. Als Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir anlässlich einer Aufführung von Sartres Theaterstück „Die Fliegen“ Anfang 1948 in Berlin die französische Kulturpolitik näher in Augenschein nahmen, merkte die Schriftstellerin in einem Brief an Nelson Algren an, das Verhalten ihrer Landsleute in Berlin erinnere an das der Deutschen im Paris der Besatzungszeit: „Mir schien, wir waren genauso hassenswert wie seinerzeit sie … und wenn man auf der Besatzerseite ist, fühlt man sich um so unbehaglicher.“131 Andererseits investierte man von Anfang an in die „Mission Culturelle“ – auch das nicht ohne Parallelen – und errichtete früher als die anderen Besatzungsmächte ein Kulturinstitut, dessen Leiter, Felix Lusset, mit dem SMAD-Kulturchef Alexander Dymschitz bessere Beziehungen unterhielt als mit den westlichen Kollegen.132 Den amerikanischen und britischen Verboten des Kulturbundes schlossen sich die Franzosen nicht an. Im Gegensatz zu den Amerikanern übten sie im Allgemeinen eine konziliantere Entnazifizierungspolitik aus,133 zogen sich jedoch mit der Abriegelung 130 Gegen die Überschätzung der Zäsur von 1945 argumentiert in diesem Zusammenhang Reiner Marcowitz, Zwischen Zeitgeist und Zeitkritik – Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik im deutsch-französischen Vergleich, in: France-Allemagne au XX Siècle – Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert – Akademische Wissensproduktion über das andere Land, Bd. 1, hg. von Michel Grunewald u. a. Bern: Lang, 2011, 15–32. 131 Simone de Beauvoir an Nelson Algren vom 31.1.1948, zit. nach Schivelbusch, Vor dem Vorhang, 51 132 Schivelbusch, Vor dem Vorhang, 52. 133 F. Roy Willis, The French in Germany, 1945–1949. Stanford: Stanford University Press, 1962, 147–179.

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gegenüber den anderen Zonen den besonderen Unmut der Bevölkerung zu (die selbst wiederum ständig Vergleiche der verschiedenen Besatzungspraktiken anstellte). Die französischen Aktivitäten in Theater, Film und Kunst, welche die in Baden-Baden stationierte Militärverwaltung bald nach Kriegsende ankurbelte, trugen zunächst noch Impulse des kulturellen Lebens während der Zeit der deutschen Besatzung weiter, in einer von der Résistance und stark von Sartre inspirierten, aber der Prestigepolitik verpflichteten Mission. Sie wirkten auf deutsche Zuschauer und Intellektuelle in allen Zonen überaus belebend, wurden in den Kulturzeitschriften als Frucht der geistigen Befreiung mitsamt ihrer existenzialistischen Botschaft breiter diskutiert als die kulturellen Importe der anderen Siegermächte. Allerdings machten die Kulturveranstaltungen mit ihren Rekonstruktions- und Versöhnungsversuchen bald nur einen geringen Teil der stärker von Paris kontrollierten kulturpolitischen Praktiken aus. Diese zielten darauf ab, die von den Besatzungsmächten beschlossene Umerziehung der Deutschen sowohl dem Prestige- als auch dem Sicherheitsbedürfnis unterzuordnen und die Bevölkerung in der französischen Zone generell zu erreichen, um der zukünftigen deutsch-französischen Verständigung den Boden zu bereiten.134 Diese Praktiken, eindeutig auf Umerziehungsmaßnahmen ausgerichtet, förderten die Regionalisierung und unterstützten die von Paris konstant betriebene föderale Agenda, die das Nachbarland ohne Zentralgewalt kontrollierbar erhalten sollte. Insofern betrachteten Kulturoffiziere, unter denen Raymond Schmittlein eine spezifisch rheinland-pfälzische Kulturpolitik verfolgte, das als Positivum, was andere Franzosen als Provinzialisierung der Deutschen abtaten. Verglichen mit dem Apparat der anderen Mächte, beschäftigte die stark bürokratisierte Verwaltung am meisten Personal und sorgte für die größten Kompetenzrangeleien. Dass bei den vielen Improvisationen öfters auf Besatzungs- und Propagandakonzepte aus der Rheinland-Besetzung nach dem Ersten Weltkrieg zurückgegriffen wurde, entging den Besetzten nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass neben Résistance-Kämpfern mit zumeist kommunistischer oder sozialistischer Überzeugung auch ehemalige Offiziere der Armee sowie frühere Beamte der Vichy-Regierung arbeiteten, die die Chance zur Rehabilitierung nutzen wollten. Dennoch vermochten gerade ehemalige Résistance-Kämpfer mit ihrer Mission, auch in Deutschland etwas Neues, Besseres zu bauen, Zustimmung und Mitarbeit zu erzeugen. Ihnen fühlte sich Alfred Döblin verbunden, der einst berühmte Autor von Berlin Alexanderplatz, der dank seiner nahen 134 Stefan Zauner, Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945– 1949. München: Oldenbourg, 1994; Corine Defrance, La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin, 1945–1955. Straßburg: Presses universitaires de Strasbourg, 1994

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Bekanntschaft mit dem französischen Botschafter in Berlin, André FrançoisPoncet, 1936 die französische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, eine Vorbedingung, um nach dem frustrierenden Exil in den USA in der französischen Besatzungsverwaltung in Baden-Baden als Zensuroffizier zu arbeiten. Döblin bemühte sich mit begrenztem Erfolg, mit der literarischen Zeitschrift Das Goldene Tor 1946–1951 zwischen Emigranten und Daheimgebliebenen sowie generell zwischen den Völkern zu vermitteln, vermochte mit seinem Engagement an einer Literaturklasse der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur (wie einst an der Preußischen Akademie) nur begrenzte Resonanz zu erzielen.135 Im Bereich bildender Kunst nahm Frankreich seine angestammte Rolle als Lehrmeister wieder auf und würzte damit das Umerziehungsprogramm.136 Mit der 1946 in dem teilweise zerstörten Berliner Schloss organisierten Ausstellung moderner französischer Malerei erzielte es sofort einen großen Anerkennungserfolg, als Berliner sich kilometerlang anstellten, um die Bilder von Gauguin, van Gogh, Matisse, Renoir und Picasso, die zu sehen ihnen lange nicht gestattet war, bewundern zu können.137 Damit korrespondierte die von den Russen im selben Jahr in Dresden ermöglichte erste große Übersichtsausstellung moderner deutscher Maler, die verfemte Künstler wie Klee, Kirchner, Beckmann und Barlach einschloss (zu der jedoch die britischen Besatzer Künstler ihrer Zone nicht zuließen). Anders als die Amerikaner, die erst später moderne Kunst in das Umerziehungsprogramm einbezogen, trennten die Franzosen die Aufgaben von Kunstrückgabe und Kulturwiederaufbau, gestanden den Deutschen im Bereich der Kunst – anders als auf dem der Musik – jedoch erst Anfang der fünfziger Jahre eine gewisse Partnerschaftlichkeit zu. US-Offiziere widmeten sich lange Zeit intensiv der Restitution gestohlener Kunstschätze, transportierten bei diesem Vorhaben gegen scharfen Protest von amerikanischer Seite, unter anderem von General Clay, eine große Anzahl wertvollster Bilder, zumeist aus dem Berliner Kaiser-Friedrich-Museum, für „safe-keeping“, das heißt als eine Art Pfand, nach Washington. Nach einer Rundreise zu mehreren amerikanischen Museen kehrten die Bilder 1948 in einer vom Kalten Krieg begünstigten Goodwill-Geste zurück.138 An der damit ausgelösten lang 135 Alexandra Birkert, Alfred Döblin im Dienst französischer Kulturpolitik in Deutschland, in: Frank� reichs Kulturpolitik in Deutschland, 1945–1950, hg. von Franz Knipping und Jacques Le Rider. Tübingen: Attempo, 1987, 181–190. 136 Martin Schieder, Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945–1959. Berlin: Akademie, 2005. 137 Marion Deshmukh, Recovering Culture. The Berlin National Gallery and the U.S. Occupation, 1945–1949, in: Central European History 27 (1994), 411–439, hier 419. 138 Ebd., 421–425.

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anhaltenden Verstimmung lässt sich ebenso wie in den offiziellen Bemühungen französischer und deutscher Experten um den repräsentativen Einsatz von Kunst (und ihre rechtmäßige Restitution) die große Bedeutung ablesen, die der Kunstpolitik nach den Plünderungen der Nationalsozialisten in den Nachkriegsjahren zukam – in ungleich größerem Ausmaß als nach dem Ersten Weltkrieg. Auf dem Gebiet der Kunstpolitik erwarb Frankreich sich auch bei den anderen Besatzungsmächten die meiste Anerkennung. Wenn Deutsche allerdings nach Beendigung der Besatzungsherrschaft dazu tendierten, eine auf mehr Gleichberechtigung gemünzte Kunstbeziehung anzusteuern, stießen sie auf Ablehnung oder Desinteresse. Das musste Wilhelm Hausenstein erfahren, als er auf Geheiß Adenauers als erster Generalkonsul in Paris 1950 ein größeres Veranstaltungsprogramm mit Theater- und Musiktourneen, Schüler- und Studentenaustausch und Kunstausstellungen plante, es dann aber aufgrund des kühlen Empfangs nur zu einem Teil verwirklichen konnte.139 Adenauer hatte in einem programmatischen Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit 1949 für die neuen Beziehungen mit Frankreich Kulturpolitik als hochbedeutsam herausgestellt, womit er an seine Gründung des Deutsch-Französischen Instituts als Kölner Oberbürgermeister im Jahr 1930 anknüpfte. „Es kann gar nicht genug deutsch-französische Begegnungen, gar nicht genug deutsch-französischen Kulturaustausch geben“, stellte der erste Bundeskanzler der neu gegründeten Bundesrepublik fest und ging damit über den traditionell engen Begriff hoher Kultur hinaus, den Diplomaten, wenn sie überhaupt an Kultur interessiert waren, bevorzugten. „Ich meine damit nicht eine Kulturpropaganda, wie Frankreich sie während der ersten Jahre nach Kriegsende in der französischen Zone Deutschlands betrieben hat. Hier war der politische Einschlag deutlich und die Beziehung zu einseitig. Auch müßte sich eine wirkliche Kulturfreundschaft Frankreichs für uns auf das gesamte Bundesgebiet erstrecken. Ich werde jede Bestrebung in dieser Richtung von ganzem Herzen unterstützen. Hierbei denke ich natürlich zunächst an den Austausch von Hochschullehrern und Studenten, an Konzerte und Vorträge, an Erleichterung privater Reisen. Aber man darf das Wort ‚Kultur‘ nicht so eng fassen. Ich könnte mir auch einen ‚Arbeiteraustausch‘ in gewissem Umfange denken, der mittelbar für die Kultur beider Länder von großem Vorteil wäre. Auf allen diesen Gebieten ist bisher

139 Corine Defrance, „Es kann gar nicht genug Kulturaustausch geben“. Adenauer und die deutsch-fran� zösischen Kulturbeziehungen 1949–1963, in: Konrad Adenauer und Frankreich 1949–1963. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, hg. von Klaus Schwabe. Bonn: Bouvier, 2005, 137–162, hier 144.

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viel zu wenig geschehen.“140 Adenauer legte damit ein beeindruckendes Bekenntnis zum Kulturaustausch ab, das ebenso zitierbar wie irreführend war, wenn man in der Folge aktives Engagement oder Regierungsdirektiven erwartete. Kritisch gegenüber Kulturpropaganda, projizierte er eine Form des bilateralen Austausches, die eine Gleichberechtigung zwischen beiden Ländern voraussetzte, die er mit seinen politischen Bemühungen erst erreichen musste. Selbst das 1954 abgeschlossene Kulturabkommen, das zunächst wie ein Erfolg der deutschen Regierung aussah, beendete nicht die ungleiche Behandlung der jeweiligen Projekte im anderen Land; Frankreich unterhielt in der Bundesrepublik achtzehn Kulturinstitute mit Bibliotheken, Sprachkursen und vollen Veranstaltungsprogrammen, räumte jedoch keinem anderen Land eine solche eigenständige Verwaltung bei sich ein. Von deutscher Seite wurde das nicht angefochten. Während die privat und halboffiziell aufgenommenen Kulturkontakte zwischen den beiden Ländern seit Ende der vierziger Jahre durchaus im Sinne Adenauers wuchsen, herrschte auf offizieller Ebene bis zu dem von Adenauer und de Gaulle 1963 abgeschlossenen Élysée-Vertrag weitgehend Stagnation. 1955 beklagte sich Alfred Grosser, einer der großen französischen Vermittler der deutsch-französischen Versöhnungspolitik, der bereits 1948 zusammen mit Emmanuel Mounier das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle als ein privates Forum für die Verständigung gegründet hatte, bei der deutschen Auslandsvertretung in Paris über die „Demonstration mangelnden Willens oder zumindest des völligen Unverständnisses auf der deutschen Seite.“141 Was Grosser auf offizieller Ebene vermisste, bereitete mit privaten Vereinigungen auf beiden Seiten schließlich die im Élysée-Vertrag paraphierten Jugendtreffen und Partnerschaften vor. (Auf deutscher Seite wurden 38 private Vereinigungen gezählt, die sich Begegnungsinitiativen widmeten, auf französischer Seite 35.142) Es bedurfte offensichtlich der symbolischen Erhöhung der deutsch-französischen Versöhnung, die Adenauer und de Gaulle 1963 in der mehrmals zwischen Deutschen und Franzosen umkämpften Kathedrale von Reims zelebrierten, um den zahlreichen Kontaktinitiativen offizielle Stützung und Finanzierung zu verschaffen. Die meiste Aufmerksamkeit erhielt von nun an das Deutsch-Französische Jugendwerk, das im Sinne des

140 Deutschland und Frankreich. Ein Gespräch mit dem Bundeskanzler Dr. Adenauer, in: Die Zeit vom 3.11.1949, zit. nach Quellen zu den deutsch-französischen Beziehungen 1919–1963, hg. von Ralph Barr. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, 151–155, hier 154 f. 141 Defrance, „Es kann gar nicht genug Kulturaustausch geben“, 150. 142 Konrad Adenauer und Frankreich, 209.

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erweiterten Kulturbegriffs, den schon Adenauer beschwor (wenngleich nicht offiziell machte), eine ausgreifende Begegnungskultur etablierte.143 Auch damit ist nur ein wenn auch entscheidendes Zeugnis dafür benannt, welch zentrale Rolle das Wechselverhältnis zwischen Frankreich und Deutschland für die Um- und Neuorientierung deutscher Kultur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gespielt hat. In der politischen Auseinandersetzung um die offizielle Rückkehr des westdeutschen Nachkriegsstaates in die internationale Völkergemeinschaft lieferte Frankreich sowohl Hilfestellung als auch die höchsten Barrieren. Anders im intellektuellen Bereich. Hier ersetzte Paris die Orientierung an der nicht mehr vorhandenen deutschen Hauptstadt. Von Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir und Albert Camus fasziniert, verlegten sich jüngere deutsche Intellektuelle auf die Diskussion von individuellem Widerstehen, Nullpunkt, Weder-noch und den Möglichkeiten absoluten Neuanfangs. Das waren Denkstrukturen, welche Pariser Intellektuelle nach dem Absturz in die Niederlage von 1940 bereits unter der deutschen Besatzung in der Wiedereroberung des französischen Mythos des revolutionären Neuanfangs entwickelt hatten. Für jüngere deutsche Schriftsteller, die ihre Identität aus einer Haltung absoluter Absage an die alten und neuen Autoritäten zu modellieren suchten, lieferte die französische Adjustierung von Heidegger und Nietzsche am ehesten Modelle einer literarisch artikulierbaren Widerständigkeit – eine nachgeholte Résistance in Deutschland.144 Es waren Modelle für eine vom Politischen ins Literarische verschobene Resistenz, mit der Hans Werner Richter und Alfred Andersch von ihrer in der Zeitschrift Der Ruf artikulierten Aufbruchsbewegung des gleichen Namens zur Gründung der Gruppe 47 übergingen. Obschon sie ihre erste Artikulation in Kriegsgefangenenlagern in den USA erfahren hatte, setzte ihr die amerikanische Besatzungsmacht 1947 ein Ende. Verwirrend war nur die Tatsache, dass sowohl Vichy mit der Agenda vom Wiederaufbau der französischen Kultur gearbeitet – und Intellektuelle in den neu entstehenden Kulturapparat integriert – hatte als auch de Gaulle und die von ihm gestützte Résistance. Mit den eigenen Zerstörungen beschäftigt, hatten Deutsche die Säuberungen und Hinrichtungen von Tausenden von Kollaborateuren in Frankreich 1944/45 kaum wahrgenommen, sahen 143 Hans Manfred Bock und Katja Marmetschke, Gesellschaftsverflechtung zwischen Deutschland und Frankreich. Transnationale Beziehungen, Gesellschaft und Jugend in Konrad Adenauers Frankreich� politik, in: Konrad Adenauer und Frankreich, 163–189, hier 184. 144 Frank Trommler, Die nachgeholte Résistance. Politik und Gruppenethos im historischen Zusam� menhang, in: Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, hg. von Justus Fetscher, Eber� hard Lämmert und Jürgen Schütte. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1991, 9–22; Jean Améry, Deutschland – Frankreich. Mißverständnisse und Vorurteile des Geistes, in: Neue Rundschau 87 (1976), 429–444.

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dann dank der Öffentlichkeitspolitik von de Gaulle und der Résistance nur die scheinbar ungebrochene Identifikation der Bevölkerung mit der französischen Nation. Vichy behielt aber subkutan trotz der geradezu obsessiven Tilgung seiner Partizipation an Faschismus, Judenverfolgung und Mitschuld große Bedeutung für den im Kontakt mit Deutschland vollzogenen französischen Nachkriegsaufbau, speziell bei der ökonomischen und verwaltungsmäßigen Modernisierung des Landes (deren Gelingen ohne amerikanische Hilfe und den Marshallplan unmöglich gewesen wäre, ungeachtet der amerikakritischen Haltung der Intellektuellen145). Angesichts dieser fortwährenden, obgleich unterdrückten Rückbindung an Vichy in den fünfziger und sechziger Jahren ist Robert Frank, Autor von La Puissance française en question, 1945–1949 (1988), zu dem Schluss gekommen, dass die internen Konflikte für die Formung der deutsch-französischen Nachkriegspolitik größere Folgen gehabt hätten als die deutsche Besatzung: „Letzten Ende hat die Besatzungszeit mehr in die Phantasmen des Imaginären als in die Strukturen der französischen Gesellschaft eingeschlagen. Und auf dem kollektiven Gedächtnis haben die Erinnerungen an die innerfranzösischen Auseinandersetzungen mehr gelastet als die deutsche Okkupation. Anders gesagt, mit der Zeit verlöschen die direkten Erinnerungen an die Okkupation; der Bürgerkrieg hinterläßt mehr Folgeerscheinungen als der Krieg mit dem ‚Erbfeind‘. Die französische Identität ist daraus verletzt hervorgegangen, aber die Europa-Konstruktion, die sich auf die Achse Paris–Bonn gründet, hat davon zweifellos in hohem Maße profitiert.“146 Auch in der Bundesrepublik wurden die Erinnerungen an die französische Okkupation bald schwächer, machten dem Partnerschaftsdenken Platz, sei es aus Wunschdenken, sei es aus den Folgen der internen Schuldabrechnung, sei es aus der Reaktion auf die überwältigende Präsenz der Amerikaner, zunächst als Besatzung, zunehmend als Vorbild für die Modernisierung. Ende der fünfziger Jahre, als die amerikanische Jugendkultur neue Formen körperlich-ästhetischer Selbstbefreiung stimulierte, verlor die französische literarisch-künst­le­rische Szene die Modellwirkung, die sie auf deutsche Intellektuelle seit Kriegsende gehabt hatte. Bei der Suche nach Ersatz für den Verlust einer kulturellen Hauptstadt wechselte ein Großteil der deutschen Intelligenz von Paris 145 Über Sartre, der 1945 ein halbes Jahr in den USA verbrachte, als „Übersetzer“ Frankreichs für Ame� rikaner, s. Michael Kelly, The Cultural and Intellectual Rebuilding of France after the Second World War, 97 f.; Tony Judt, Past Imperfect. French Intellectuals, 1944–1956. Berkeley/Los Angeles: Uni� versity of California Press, 1992. 146 Robert Frank, Deutsche Okkupation, Kollaboration und französische Gesellschaft 1940–1944, in: Europa unterm Hakenkreuz. Ergänzungsband 1: Okkupation und Kollaboration (1938–1945). Bei� träge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik, hg. von Werner Röhr, Berlin/Heidelberg: Hüthig, 1994, 100.

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auf New York über.Dennoch hat es sich ein Mitglied der älteren Generation nicht nehmen lassen, die Absage an den Anspruch der Deutschen, als Kulturmacht im 20. Jahrhundert eine Sendung zu erfüllen, als eine Folge des Krieges im Licht der deutsch-französischen Feindschaft und Versöhnung zu formulieren. „Die totale Niederlage“, stellte Carlo Schmid, der SPD-Politiker, der sein Leben lang eng mit Frankreich verbunden war, 1965 fest, „mit allem, was sie im Gefolge hatte, hat in den Deutschen das Sendungsbewußtsein ausgelöscht – im Guten wie im Bösen. Nun glaubt wohl keiner in unserem Volke mehr, um das Gute vorwegzusagen, den Deutschen sei aufgegeben, als eine Art von Menschheitsnation stellvertretend für andere das Gute und Schöne in sich darzustellen und über den deutschen Geist und die deutsche Tugend in der Welt auszusäen. So schön diese Idee ist – sie ist noch immer gefährlich gewesen, wenn sie in die Hände der Epigonen und Subalternen kam.“ Dem fügte Carlo Schmid allerdings eine Feststellung hinzu, die sich nicht so fraglos ‚erledigt‘ hatte: „Es glaubt aber auch niemand mehr in Deutschland daran, dass wir – dies war die Säkularisierung der Idee der ‚dienenden Menschheitsnation‘ – kraft unserer Tüchtigkeit die Aufgabe hätten, die übrige Welt auf unser Tüchtigkeitsniveau heraufzuheben und, wenn es nicht anders gehen sollte, bei ihr nach dem Rechten zu schauen. Dies ist vorbei.“147 Max Scheler hatte diese Haltung bei seiner Erkundung der „Ursachen des Deutschenhasses“ im Ersten Weltkrieg als Schritt in die Modernisierung gekennzeichnet und mit einer Warnung versehen. Der Hinweis auf die Modernisierung ist ungültig geworden. Die Warnung hingegen ist gültig geblieben.148

Auswärtige Kulturbeziehungen der Bundesrepublik: Vom zweiten Gleis zur dritten Bühne Im ersten Jahresbericht der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes 1964, in dem ihr Leiter Dieter Sattler etwas grundsätzlicher über die Geschichte der Behörde referierte, fasste er in wenigen Sätzen zusammen, was die Besatzungsjahre den Deutschen an unmittelbaren Begegnungen mit Ausländern brachten. Das war eindrucksvoll: „Man denke an die deutschen Gefangenen, die während und nach dem Krieg in den Lagern der Siegermächte Jahre verbrachten, man denke an die Militärregierungen und Besatzungstruppen, aber auch an die nach 147 Carlo Schmid, Freundschaft ohne Mythos. Über den Wandel der deutsch-französischen Beziehungen, in: Aus der Schule der Diplomatie. Beiträge zu Außenpolitik, Recht, Kultur, Menschenführung, hg. von Walter J. Schütz. Düsseldorf: Econ, 1965, 531–548, hier 545. 148 Max Scheler, Die Ursachen des Deutschenhasses, 1917.

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USA und Großbritannien eingeladenen Professoren, Experten, Studenten, die monate- und jahrelang dort studiert und gearbeitet haben, man denke an die Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Theaterstücke, Filme und Sendungen, die von den Siegern bei uns eingeführt wurden, an die Bibliotheken und Kulturinstitute, die sie bei uns einrichteten, an Ratschläge für unser Schulwesen und unsere Wirtschaft, an die Schlager und Zigaretten, ja die blue jeans für unsere Kinder, die sie uns mitbrachten. Sicher ist uns manches davon in einer eigenartigen, nicht nur positiven Erinnerung. Aber niemand wird die Tatsache leugnen können, dass hier eine kulturelle Berührung stattfand, wie sie in diesem Ausmaß bisher noch nie zu finden gewesen war, einfach weil Deutschland noch nie im ganzen und so lange besetzt gewesen war. Dass diese Zeit durch die Verschiedenheit der ‚Systeme‘ der Besatzungsmächte, insbesondere der Ost-WestSpannung, sich in tragischer Weise in unser Volk eingegraben hat, liegt auf der Hand.“149 Sattlers Darstellung ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Er richtete die Aufmerksamkeit auf die in der Tat beispiellose Kontaktvielfalt zwischen Deutschen und Vertretern anderer Kulturen, von der die Besatzung einen Teil bildete. Allerdings blieb dabei unerwähnt, dass diese Phase bereits im Krieg begann, als Deutsche anderen Kulturen begegneten, diese aber keineswegs nach ihrem Kultur‑, sondern ihrem Ausbeutungswert zu schätzen lernten, ganz zu schweigen von den Kontakten mit den über acht Millionen Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen aus allen Nationen, die in der deutschen Kriegsproduktion beschäftigt waren, sowie nach 1945 den Lagern von über 200.000 jüdischen Flüchtlingen, KZ-Häftlingen und Displaced Persons innerhalb Deutschlands. Ungesagt blieb, dass diese später beiseitegedrängte Begegnung größtes Gewicht für die teils freiwillige, teils gezwungene Isolation der Deutschen von anderen Kulturen in den fünfziger Jahren besaß, auf die auch Sattler sich öfters bezog. Innerhalb Deutschlands verdrängten die von den Siegermächten sanktionierten Konfrontationen des Kalten Krieges die Herausforderungen mit dieser Form des Fremden. Sattler, dessen Wahrnehmung der deutschen Verpflichtungen nach den Untaten des Dritten Reichs über jeden Zweifel erhaben ist, entsprach der vorherrschenden Meinung insofern, als er die Besatzung vor allem als biografische Erfahrung hinstellte. Aber schon die Tatsache, dass er die Beiträge der Besatzungsmächte zur Entstehung einer deutschen Nachkriegskultur erwähnte, unterschied seinen Rückblick von den maßgebenden Verlautbarungen des Amtes. Immerhin hatte sich die Kulturpolitik der Besatzungsmächte keineswegs in der Entnazifizierung erschöpft, sondern die Deutschen nach dem Schock über den Zusammenbruch des Deutschen Reiches zu ersten schmerzhaften Schritten in 149 Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes. Jahresbericht 1964, 29.

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Richtung auf Wahrnehmung und Eingeständnis der Verbrechen gezwungen, die von ihnen oder in ihrem Namen begangen worden waren. Obwohl die Verantwortlichen durchaus realisierten, dass sich hier weitere Schritte anschließen müssten, wurden die Eingriffe der Besatzung ins Tun und Denken der Bevölkerung bald verdrängt. Dem entsprach die Wiederaufnahme traditioneller kulturpolitischer Praktiken im Auswärtigen Amt unter dem Vorzeichen der Zurückhaltung, die als die einzig mögliche Reaktion auf die staatskontrollierte Mobilisierung der Kultur im NS-System galt. Die öffentliche Auseinandersetzung über die alten Seilschaften berührte das Personal, aber kaum die Inhalte der ohnehin zweitrangigen kulturpolitischen Arbeit. Die große Chance, den trotz aller Bitterkeit vorhandenen Goodwill von Emigranten für den Brückenbau aus der Isolierung heraus anzugehen, wurde kaum genutzt, wenn überhaupt erkannt. Auch Sattler ergriff diese Chance nicht. Aber er trug entscheidend dazu bei, dass die auswärtige Kulturpolitik in den sechziger Jahren auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Zunächst herrschte der Primat der Politik bei der Anknüpfung von Kontakten mit anderen Ländern unbeschränkt. Kultur und Kunst fuhren, wenn überhaupt, auf einem zweiten Gleis. Hausenstein, den Adenauer als Kulturvertreter zum ersten deutschen Diplomaten in Paris machte, musste diese Nachordnung des Kulturellen vom Amt immer wieder erfahren. Wenn Kultur in die politische Aufgabenstellung einbezogen wurde, sollte sie diese mit der von Deutschen lange propagierten und neu belebten Auffassung von ihrem unpolitischen Charakter erfüllen. Indem Kulturwerbung nicht zur Politik mutierte, sondern die alten Trophäen der Dichter, Denker und Musiker aufpolierte, diente sie am wirkungsvollsten der Selbstdarstellung dieses Staatsgebildes, das zwar als Rechtsnachfolger des Reiches, zugleich aber als Provisorium gesehen werden sollte. Nur bei Nazis und Kommunisten mutierte Kultur, wie die Kulturabteilung nie müde wurde zu betonen, zu Politik. Angesichts der (von den Alliierten begrenzten) Wiedereinsetzung von politischer Diplomatie als Kontaktmedium mit anderen Ländern gestand man der Kulturabteilung zu, mit geringen Mitteln den Wiederaufbau des zerstörten Auslandsschulwesens und die Rückgabe der vom Amt beaufsichtigten wissenschaftlichen Institute im Ausland, speziell in Italien, voranzubringen sowie ab Mitte der fünfziger Jahre an exponierten Orten kulturelle Aktivitäten anzukurbeln und gegebenenfalls in einer Art Kulturinstitut zu konzentrieren.150 Ansonsten wollte man über traditionelle Routinearbeit in Kultur- und Wissenschaftsaustausch hinaus keine Initiativen, die 150 Eckard Michels, Zwischen Zurückhaltung, Tradition und Reform. Anfänge westdeutscher auswärt� tiger Kulturpolitik in den 1950er Jahren am Beispiel der Kulturinstitute, in: Auswärtige Repräsenta� tionen, 241–258.

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vom Ausland als Einmischung des deutschen Staates missverstanden werden konnten. Der zitierte Jahresbericht von 1964 dokumentiert bereits die Änderungen, die Sattler bewirkte, lässt aber auch die Spannung zwischen der überkommenen Leitlinie und der längst überbordenden Fülle von neuen Aktivitäten erkennen. Einerseits beklagte Sattler, kaum mit Personal und Haushaltsmitteln ausgestattet zu sein und nur von der „Pflege der kulturellen Beziehungen zum Ausland“, nicht von „auswärtiger Kulturpolitik“ sprechen zu können, so lange man ja das Bildungswesen in anderen Ländern nicht beeinflussen könne. Andererseits führte er eine Fülle von Kontakten auf und erwähnt nicht ohne Stolz die Tatsache, dass seit der Gründung der ersten Kulturinstitute in Rom und Karachi 1955 deren Zahl auf über hundert gewachsen sei.151 Die Vielfalt kultureller Projekte, des Austauschs von Studenten, Jugendlichen und Professionellen, der Kontaktnahme durch Publikationen, Einladungen und Ausstellungen war besonders deshalb bemerkenswert, weil sie ohne Konzept vonstattengegangen waren. Man hatte die bekannten Wege mit neuen Verpflichtungen wieder eingeschlagen. In der Eigenmythologie des Auswärtigen Amtes und des Goethe-Instituts, die sich im Allgemeinen an der verwaltungsmäßigen Konsolidierung orientiert, die Sattler als Leiter der Kulturabteilung zwischen 1959 und 1966 zuwege brachte, wird die unstrukturierte kulturelle Kontaktarbeit der fünfziger Jahre mit dem Ausland als Wildwuchs-Periode geführt. Sie führte Sattler ihrem Ende zu, als er ab 1960 dem Goethe-Institut, das bis dahin hauptsächlich Sprachlehre betrieben hatte, die Verantwortung für die Kulturarbeit im Ausland in bestehenden und neu zu gründenden Instituten übertrug. Seitdem ist die Diskussion darüber nie verstummt, ob diese Neuzuordnung von Auswärtigem Amt als Geldgeber und Aufsichtsführer und Goethe-Institut als dem professionellen Kulturvermittler dem Ersteren oder dem Letzteren mehr Entscheidungsgewalt über die inhaltliche Gestaltung auswärtiger Kulturpolitik verschaffe. Dieser Diskussion setzte auch der erst 1976 erfolgte Abschluss des Rahmenvertrages zwischen den beiden Institutionen kein Ende. Bei den teilweise harten Auseinandersetzungen um die Programmgestaltung des GoetheInstituts flammte sie vor allem in den achtziger Jahren immer wieder auf.152 Die Eigeninteressen der beiden Institutionen stießen sich, abgesehen von den Finanzabhängigkeiten, bei der Frage nach dem zu vermittelten Deutschlandbild. Damit kam in gemilderter Form eine Tradition deutscher Selbstdarstellung erneut zur Geltung, die schon in den zwanziger Jahren in anderen Ländern 151 Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes. Jahresbericht 1964, XII, 38. 152 Stoll, Kulturpolitik als Beruf, 367–376, 410–415; Steffen R. Kathe, Kulturpolitik um jeden Preis, 198–240.

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zugleich Interesse und Kopfschütteln hervorgerufen hatte, wenn Edwin Redslob, Johannes Sievers und Walter Gropius ein modernes Deutschland präsentierten, die Diplomaten aber darin eher Peinlichkeiten für das Ansehen einer großen Nation witterten. Während Sattler dem Goethe-Institut eine Bedeutung verlieh, die dessen Vorstand zunächst keineswegs geheuer war, band er es mit der fast ausschließlichen Finanzierung in die Kontrolle des Amts ein und galt keineswegs nur als der Patron einer ‚freien‘ Kulturarbeit. Seine katholisch-konservative Ausrichtung hatte ihm als Kulturattaché vor 1959 in Rom Zustimmung und mehrere unabhängige Mitarbeiter wie Reinhard Raffalt, Eckart Peterich und Werner Ross verschafft. Er war offen genug, die Anregungen aufzunehmen, die Italien mehr als andere Länder zu dieser Zeit für das fragile Selbstbewusstsein der Deutschen bot – nach einer dem Nationalsozialismus verwandten Diktatur und trotz der verheerenden Besatzungsherrschaft 1943–1945. Italien wurde die Besatzung durch den Sieg der Alliierten wieder los und knüpfte an eine Selbstbefreiung von Mussolini an, die die Epurazione vom Faschismus zum repräsentativen Kern des neuen Staates machte, ohne sie landesweit besonders gründlich durchzuführen. Trotzdem ergaben sich Parallelen zur Bundesrepublik im schwierigen wirtschaftlichen Wiederaufbau, der politischen Rehabilitierung, der Abhängigkeit der Außenpolitik vom Westen und entsprechend der größeren Offenheit für eine Politik der europäischen Integration. Italien wurde sogar zu einem wichtigen Fürsprecher der Bundesrepublik bei der Rückkehr aufs internationale Parkett, die italienische Politiker als Ausgleich zum französischenglischen Übergewicht als vorteilhaft ansahen.153 Mit der von Adenauer und Premierminister De Gasperi vertretenen christlich-demokratischen Gemeinsamkeit fanden ab 1949 auch bereits kulturelle Kontakte statt, auf denen Sattler bei seiner Gründung des ersten deutschen Kulturinstituts im Ausland, der Biblioteca Germanica, 1955 aufbauen konnte. In diesen Entwicklungen lagen die Modelle für Sattlers selbstbewusste Übertragung von Verantwortlichkeiten an das Goethe-Institut (bei der ihm nur zu schaffen machte, dass es zu wenige katholische Führungskräfte besaß). Dabei hatte er, der sich selbst als Quereinsteiger in den auswärtigen Dienst ansah, beste Beispiele für die unkonventionellen, das heißt nicht diplomatischen Impulse von Quereinsteigern aus Literatur, Publizistik und anderen Gebieten kennengelernt, wie sie sein Freund Bruno E. Werner erfolgreich in Washington repräsentierte. Wenn zuvor von Wildwuchs die Rede war, lässt sich von der durch Sattler ermöglichten Expansionsphase des Goethe-Instituts in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre als einer Art Frühlingsblüte reden, als die trotz 153 Stoll, Kulturpolitik als Beruf, 259 f.

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der Aufsicht des Amtes von originellen und risikobereiten Lehrern, Leitern und Germanistikabsolventen übernommenen oder neu installierten GoetheInstitute zum Ventil einer insular-provinziellen Intelligenz wurden, zu einem Ventil, das aus einem anderen Personalbestand als den Karrierebeamten des Amtes seinen Aufbruchsgeist bezog.154 Was sich aus dem Geist der nachgeholten Résistance entwickelt hatte, konnte hier zum ersten Mal vor den Augen eines ausländischen Publikums auf deutschen Veranstaltungen ein anderes Deutschland als das der aufpolierten Trophäen der Dichter und Denker präsentieren. Das Auslandsforum, das die Goethe-Institute boten, half mitsamt Skandalen und Aufregungen in dieser Phase dabei, eine neue Intelligenz ihre Sprecherrolle finden zu lassen. Exemplarisch wurden der 1964 von Christian Schmitt in Paris arrangierte provokante Vortrag des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein, der nach der Spiegel-Affäre 1962 kurz im Gefängnis gesessen hatte, nun aber von Alfred Grosser vor großem Publikum eingeleitet wurde; die Abrechnung des Historikers Golo Mann in Rom mit der Tatsache, dass der Antikommunismus „den Deutschen das ernsthafte Nachdenken über ihre eigene Vergangenheit“ erspare155; die neue Form deutscher Selbstkritik, die Michael Marschall von Bieberstein in der Biblioteca Germanica organisierte und mit der die Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser in Rom einen neuen Ton anschlugen, wie es Heinrich Böll, Günter Grass und weitere Autoren zumeist der Gruppe 47 an anderen Goethe-Instituten taten. Hier wurde die literarische Widerständigkeit vor anderem Publikum, nicht mehr nur vor der von der Spiegel-Affäre wachgerüttelten deutschen Öffentlichkeit ausgetragen. Wie stark der Ausbruch kritischer Intellektueller aus dem selbst geschaffenen Käfig unpolitischer Repräsentationskultur die Amtsträger irritierte, bezeugte im selben Jahr 1965 Bundeskanzler Ludwig Erhard, als er anlässlich des Eintretens deutscher Schriftsteller für einen Regierungswechsel die viel zitierten Worte sprach: „Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an!“156 Es war genau die Politisierung desjenigen Kulturbereichs, den man für relativ billig und gut steuerbar gehalten hatte, mit dem nun risikobereite Goethe-Verantwortliche selbst aus dem Käfig heraustraten, entsprechend den von Marschall von Bieberstein vor Institutsleitern ausgeführten Thesen „Kultur ist nicht unpolitisch“ und „Wir müssen diskutieren und dürfen 154 Welche Probleme die Umwandlung des Goethe-Instituts in einen eingetragenen Verein, also nicht staatliche Haftung und nicht beamtenmäßige Besoldung, für das Personal mit sich brachte, hat Kathe, Kulturpolitik um jeden Preis, 157–162, 180–193, ausführlich dargestellt. 155 Golo Mann, Die Ära Adenauer, in: Giulio Carlo Argan u. a., Römische Reden. München: Süddeut� scher Verlag, 1965, 48–67, hier 62. 156 Jost Hermand, Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945–1965. München: Nymphenburger Verlag, 1986, bes. 521–588.

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uns nicht scheuen, aktuelle und heikle Themen anzuschneiden – wer tut es sonst?“157 Die regierungsinternen Angriffe auf Sattler berührten sich vor allem in dem Vorwurf, dass mit dieser kritischen Darstellung dem Ostblock, der ohnehin ständig gegen den vermeintlichen Faschismus und Revanchismus der Bundesrepublik hetze, Munition geliefert werde. Selbst in Rom aber, wo die DDR mithilfe italienischer Kommunisten mit der Etablierung des Centro Thomas Mann 1957 ihre erste institutsähnliche Kulturvertretung im Ausland etablierte, hatte das kaum zur Beeinträchtigung der bundesdeutschen Aktivitäten, vielmehr zu einem wichtigen Stimulus besserer Präsentationen geführt. Sattler war über diese Schiene nicht zu belangen. Er hatte mit der Aufzeichnung zur „kulturellen Offensive im Kalten Krieg“ 1956 eine ideologisch scharfe Rechtfertigung antikommunistischer Kulturpolitik geliefert, also intern die Notwendigkeit einer im Auftrag der westlichen Gemeinschaft gerechtfertigten Politisierung der Kulturpolitik legitimiert.158 Es mag offen bleiben, wie stark ihn diese Motivation als Leiter der Kulturabteilung prägte, das heißt, wie stark er auch intern die Auffassung vertrat, dass die westlichen Werte nur in der Ermöglichung der freien Diskussion ihre Überlegenheit erweisen könnten. Schließlich lieferte er ja mit seiner Formulierung von kultureller Außenpolitik als der „dritten Bühne“ der Außenpolitik eine erste Definition dieser Politisierung, die Willy Brandt im Vorfeld der von ihm angesteuerten Änderung der Konfrontationspolitik mit dem Ostblock 1967 zum Ausdruck „dritte Säule“ der Außenpolitik ummünzte.159 Georg Kahn-Ackermann, der kulturpolitische Sprecher der SPD, der 1973 vor dem Bundestag den maßgeblichen, bereits zitierten „kritischen Überblick über die ersten 25 Jahre“ der auswärtigen Kulturbeziehungen lieferte, war Sattler bis zu dessen plötzlichem Tod 1968 freundschaftlich verbunden.160 Er nahm die Ausarbeitung des Konzepts der dritten Bühne oder Säule in die kulturpolitische Untermauerung der neuen Ostpolitik hinein. Das Desinteresse des westlichen Auslands an kulturellen Selbstdarstellungen von Deutschen nahm man bis in die sechziger Jahre geradezu als selbstverständlich hin. Dass dies mit dem fehlenden Willen auf deutscher Seite zu tun hatte, die Verantwortlichkeiten für die Taten des NS-Regimes greifbar zu thematisieren, machten zwei Ausnahmen besonders deutlich. Generell wurde, wie 157 Marschall von Bieberstein in den Mitteilungen für die Mitarbeiter des Goethe-Instituts II/1965, 1 f., zit. nach Bernhard Wittek, Und das in Goethes Namen. Das Goethe-Institut von 1951 bis 1976. Berlin: Vistas, 2006, 223. 158 Stoll, Kulturpolitik als Beruf, 518–522. 159 Dieter Sattler, Die Dritte Bühne – Kulturelle Außenpolitik, in: Universitas 18 (1963), 913–920. 160 Stoll, Kulturpolitik als Beruf, 436.

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Kahn-Ackermann lapidar feststellte, die „Frage nach dem Inhalt von den Verantwortlichen nur ganz marginal gestellt.“161 Die zwei Ausnahmen ergaben sich dort, wo die Beteiligten sehr wohl nach den Inhalten fragten und darin ihre Bemühung um die Repräsentation dieser provisorischen Republik in Formen fassten, die als Antwort auf das NS-Desaster Profil zeigten. Das geschah zunächst durch Theodor Heuss, dem als Bundespräsidenten an sich keine Kompetenz auf kulturpolitischem Gebiet außer Ordensverleihungen an ausländische Würdenträger zugestanden wurden, der sich aber seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und besonders bei der Gründung der Weimarer Republik ausgiebig an der Entwicklung eines bürgerlich-demokratischen Deutschland engagiert hatte. Heuss verband die Tradition reformerischer Kulturgesinnung, die vor 1914 im Deutschen Werkbund praktische Artikulation gefunden und in der Weimarer Republik staatlich sanktioniert worden war, mit einer nach 1945 schwäbisch gepflegten Regionalorientierung, die es ihm leicht machte, die nicht nationalstaatliche Grundausrichtung deutscher Kultur, die im Nationalismus und Militarismus des Dritten Reiches verschüttet worden war, wiederzubeleben. Er dokumentierte das beispielhaft in seiner zum Traktat Kräfte und Grenzen einer Kulturpolitik erweiterten, stark autobiografischen Rede 1951 auf der Tagung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Stuttgart. Es gibt kaum eine bessere Einführung in die provinziellen Kräfte und Grenzen, aus denen die föderale Grundlegung der Kunst- und Schulpolitik nach 1945 erwuchs, zugleich aber auch in die Tatsache, dass moderne Kulturpolitik eine Kulturverwaltungspolitik darstellt, gemäß seiner Überlegung, dass man statt „Kulturpolitik“ besser „Kräfte und Grenzen einer Kulturverwaltung“ sagen sollte, um den Machtanspruch klar auszuschließen. Zugleich scheute Heuss nicht davor zurück, Kultur politisch zu verstehen und zu verwenden. Das macht er mit folgender Bemerkung deutlich: „Vor etwa 21 Jahren hat in der demokratischen Reichstagsfraktion einer gesagt: Sie, Heuss, als Kulturpolitiker werden doch mit dieser Maßnahme einverstanden sein? Worauf ich die etwas unwirsche Antwort gegeben habe: ‚Mit Politik kann man keine Kultur machen; vielleicht kann man mit Kultur Politik machen.‘“162 Genau besehen, hatte Heuss damit etwas ausgesprochen, was sich keineswegs nur auf demokratische Verhältnisse anwenden ließ. Auch Nationalsozialisten realisierten die zweite Option. Es wurde zum Grundtenor politischer Nutzung von Kultur, wie er sich in den dreißiger Jahren ausbildete und später auf beiden Seiten des Kalten Krieges seine Ausformung fand. 161 Kahn-Ackermann, Die auswärtigen Kulturbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland, 859. 162 Theodor Heuss, Kräfte und Grenzen einer Kulturpolitik. Tübingen/Stuttgart: Wunderlich, 1951, 17 f.

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Heuss gründete 1949 eine „Notgemeinschaft deutscher Kunst“, die zunächst in Gefahr stand, die im Nationalsozialismus prominenten Maler und Bildhauer erneut an finanzielle Pfründe kommen zu lassen, bewirkte dann aber, dass eine neue Liste der zu wählenden Mitglieder die Namen all derer umfasste, die verfolgt worden waren. Mit seinem Interesse an gemäßigt moderner Kunst gelang es ihm, die wohl profilierteste bundesdeutsche Initiative auf dem Gebiet auswärtiger Kulturpolitik in den frühen fünfziger Jahren zugleich zu einer Art Wiedergutmachung an vielen zuvor verfemten Künstlern wie Ernst Barlach, Erich Heckel, Carl Hofer, Karl Caspar und Gerhard Marcks zu machen. Die vom Städtetag ausgehende, von Heuss 1951–1953 betreute „Dankspende des deutschen Volkes“ war kein staatliches, sondern von privaten Spenden ermöglichtes Unternehmen, das zum Ziel hatte, sich für die Tausende von Hilfeleistungen aus dem westlichen Ausland an Deutsche nach 1945 mit der Schenkung deutscher Kunstwerke an die Länder, ihre Organisationen und Vertreter zu bedanken.163 Ausgewählt von einem Gremium führender Museumsfachleute, sollten die 2.000 Werke einer gemäßigten Moderne von einem friedlichen und bescheiden auftretenden Deutschland Zeugnis ablegen. Das sorgte im Inland für zahlreiche Reibereien, blieb aber im Ausland nicht ohne Wirkung und bestätigte so Heuss’ liberales Konzept internationaler Kulturbeziehungen als eines gegenseitigen Gebens und Empfangens. Die in ihren Spenden besonders generösen Länder Schweiz, Schweden und die USA erhielten besonders viele Dankspenden; offensichtlich fand das Unternehmen besonders dadurch Anerkennung, dass es sich um ein zivilgesellschaftliches und kein behördlich-amtliches Engagement handelte.164 Noch größeres Gewicht kommt Heuss’ Eintreten für eine aktive Bekenntnis- und Versöhnungspolitik gegenüber den vom Nationalsozialismus verfolgten Juden zu. Er folgte darin Kurt Schumacher, dem SPD-Vorsitzenden, der 1947 als erster deutscher Politiker seine Landsleute beschworen hatte, sich dem Verbrechen des Völkermordes an den Juden zu stellen, und von diesem unpopulären Thema in Aufrechterhaltung einer nationalen Verantwortung für das Geschehene bis zu seinem plötzlichen Tode 1952 nicht mehr abließ.165 Heuss’ Stellungnahmen zu diesem Thema forderten, ähnlich Adenauers Wiedergutmachungsabkommen mit Israel 1952, starke innerdeutsche Kritik heraus, wurden jedoch im Ausland als überfällige, von keinem anderen Regierungsorgan 163 Theodor Heuss über den Sinn der „Dankspende des deutschen Volkes“. Festansprache am 10.1.1953 im Kölner Funkhaus (BA Koblenz, B 122: 308). 164 Guido Müller, Deutsche Kunstwerke für das Ausland. Theodor Heuss und die Dankspende des deut� schen Volkes 1951–1956, in: Auswärtige Repräsentationen, 35–44. 165 Jeffrey Herf, Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys. Cambridge: Harvard University Press, 1997, 239–261.

Auswärtige Kulturbeziehungen der Bundesrepublik  | 28 Theodor Heuss und Nahum Goldmann (links) bei der Einweihung der Gedenkstätte BergenBelsen, 1952 © Yad Vashem, Jerusalem

vertretene Sühneleistung vermerkt. Starke Wirkung in Deutschland hatte Heuss mit der Wiesbadener Rede „Mut zur Liebe“ 1949 vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Im Beisein von Hochkommissar John McCloy diskutierte er die Frage deutscher Kollektivschuld und wollte sie mit dem Bekenntnis zu Kollektivscham und Kollektivverantwortung ersetzt wissen.166 Besondere Wirkung im Ausland hatte Heuss’ Rede bei der Gedächtnisfeier im Konzentrationslager Bergen-Belsen 1952, auf der Nahum Goldmann, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, das Leiden des jüdischen Volkes ins Gedächtnis rief. Im Beisein der Regierungsvertreter von Großbritannien, Dänemark, Belgien, Schweiz, Schweden, Frankreich, Jugoslawien, Israel, den 166 Mut zur Liebe. Sonderdruck der Rede des Herrn Bundespräsidenten Prof. Dr. Theodor Heuss an� läßlich der Feierstunde der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden am 7.  Dezember 1949, hg. vom Deutschen Koordinierungsrat der Christen und Juden (BA Koblenz B 122/291); Jeffrey Herf, Divided Memory, 312–314.

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USA und Niederlanden sowie von Vertretern der jüdischen Gemeinden in Europa und den USA, jedoch keiner Delegierten aus kommunistischen Ländern, sprach der Präsident des neuen Deutschland die vom Radio übertragenen Worte: „Wir haben von den Dingen gewußt“, und: „Dies ist unsere Scham, dass sich solches im Raum der Volksgeschichte vollzog, aus der Lessing und Kant, Goethe und Schiller in das Weltbewußtsein traten. Diese Scham nimmt uns niemand, niemand ab.“167 Schließlich trug Heuss 1954 entscheidend dazu bei, dass die deutschen Widerständler am zehnten Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli als Patrioten und nicht als Verräter gewürdigt wurden. Diese Verankerung des neuen Staates in der Widerstandsbewegung gegen den Führer des NS-Staates traf auf weitgehende Indifferenz, vielfach auch lautstarken Widerspruch. Heuss’ Form der Kulturpolitik als Sache der Persönlichkeit, nicht des Amtes korrespondierte mit dem Mangel an kulturpolitischen Perspektiven und Handlungsformen in den Bonner Ämtern und entsprach dem kulturpolitisch offenen Terrain nach dem Nationalsozialismus. Ein Bewunderer etikettierte den Bundespräsidenten als „Ersatzmann“ für das, was von den dafür zuständigen Ministerien nicht geliefert wurde.168 In seiner Gedenkrede auf Theodor Heuss 1964 konstatierte Theodor W. Adorno: „Er war der Stellvertreter einer Art von Person, wie sie allgemein erst unter verwirklichter Freiheit gedeihen würde.“169 Heuss repräsentierte aber nur das leuchtendste Beispiel dessen, was zu dieser Zeit aus den Erfahrungen der frühen dreißiger Jahre heraus erneut von „Persönlichkeiten“ für die „Begegnung“ mit anderen Kulturen erwartet wurde. Noch in den sechziger Jahren blieb die Definition erfolgreicher auswärtiger Kulturpolitik stark an solche Vermittlerpioniere gebunden, die wie Heinrich Pfeiffer, Joseph Graf Raczynski, Michael Marschall von Bieberstein und andere vor allem in den Mittlerorganisationen wie DAAD, Alexander von HumboldtStiftung, Goethe-Institut oder Carl-Duisberg-Gesellschaft unorthodoxe Karrieren haben konnten. Die Erhöhung zur dritten Säule der Außenpolitik geschah weniger in der politischen Alltagspraxis als in der verwaltungs- und karrieremäßigen Konsolidierung.170 In den siebziger Jahren nahmen die Chance und die Bereitschaft, Quereinsteiger einzubringen, rapide ab. 167 Theodor Heuss, Das Mahnmal. Ansprache bei der Weihe des Gedächtnismales für die Opfer des Ver� nichtungslagers von Bergen-Belsen im November 1952, in: ders., An und über Juden, hg. von Hans Lamm. Düsseldorf/Wien: Econ, 1964, 135–140, hier 136, 138 f.; Herf, Divided Memory, 317–326. 168 Martin Boos, Der Ersatzmann, in: Michael vom 15.1.1956 (Düsseldorf ). (BA Koblenz B 122/2311). 169 Theodor W. Adorno, Gedenkrede auf Theodor Heuss, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 5. 1964. 170 In seiner Grundsatzschrift band Richard Martinus Emge 1967 das Erfolgskonzept an die Auswahl von Persönlichkeiten: „Als gute Lösung für große Missionen erscheint es, das Kulturreferat einer auf

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30 Pavillon der Bundesrepublik Deutschland auf der Weltausstellung Brüssel, 1958 (Archi­ tekten Egon Eiermann und Sep Ruf) © saai/Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Karlsruher Institut für Technologie, Werkarchiv Egon Eiermann

Die andere Ausnahmeerscheinung der westdeutschen Kulturpolitik der fünfziger Jahre verdankte ihre Durchsetzung nicht zuletzt dem aktiven Interesse von Heuss. Sie gewann ihre Souveränität aus der erfolgreichen Erneuerung der Traditionen des Deutschen Werkbundes, der mit dem aus ihm hervorgegangenen Bauhaus der Weimarer Republik zum Profil eines im Gegensatz zum Wilhelminismus modernen Staates verholfen hatte und nun Ähnliches für die Bundesrepublik anstrebte. Forum dafür wurde die Weltausstellung 1958 in Brüssel. Der bundesdeutsche Beitrag, ein Pavillon aus acht Flachbauten aus Glas und Beton, zog als erste große Selbstdarstellung des neuen deutschen Staates besondere Aufmerksamkeit auf sich. Er sollte die Regenerierung der modernen Designkultur und Architektur im Namen einer demokratischen Nachkriegsgesellschaft vor Augen führen. Der Pavillon wurde mit seiner hellen Glasarchitektur, die sich um Wasser, Rasen und einer wie schwebend wirkenden Zugangsbrücke ansprechend gruppierte, sowie der Ausrichtung auf einfakulturellem Gebiet selbst schöpferischen und darin ebenso wie in Verwaltungsdingen erfahrenen Per� sönlichkeit zu übertragen, und dieser einen jungen Karrierediplomaten sowie technische Hilfskräfte zur Seite zu stellen.“ Richard Martinus Emge, Auswärtige Kulturpolitik, 78.

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che Alltagskultur zu einem der Anziehungspunkte der Ausstellung, indem er sich den großen Gesten nationaler Kulturleistungen, die in Brüssel überwogen, entzog. Nach der Tschechoslowakei errang der deutsche Ausstellungsbeitrag zusammen mit dem der USA, die auf die Anziehungskraft ihrer Konsumkultur setzten, den zweiten Platz in der nationalen Bewertung, ein erstaunlicher und weithin kommentierter Erfolg, der sich in den wohlwollenden Berichten ausländischer Zeitungen vorbereitet hatte.171 Unter den vom Dritten Reich geprägten Beamten des auswärtigen Dienstes ließ sich zu dieser Zeit kaum Sinn für die kulturpolitische Ausstrahlung einer das Nationale übersteigenden Modernität erwarten; der vom Bauhaus symbolisierte Internationalismus war, zumindest in den offiziellen Verlautbarungen vor 1945, als zersetzend angegriffen worden. Den danach zur Kulturabteilung Hinzugestoßenen machte die Ausrichtung am modernen Konsumentenalltag anstelle der Legitimation aus den traditionellen Werten der Hochkultur zu schaffen. Glücklicherweise legte das Bundeskabinett 1955 die Gesamtplanung dem nach 1945 wiedergegründeten Deutschen Werkbund in die Hände, der nicht dem Auswärtigen Amt, sondern dem Wirtschaftsministerium verantwortlich war. Mit dem Werkbund knüpfte man an die bürgerlich-progressive Produktkultur an, die mit den Höhepunkten der Werkbundausstellung 1914 in Köln, der Stuttgarter Weissenhofsiedlung 1927 und der Pariser Bauhausausstellung von 1930 weltweite Aufmerksamkeit gefunden hatte. Nach anfänglichen Misserfolgen bei Ausstellungen in New York 1949 und der Triennale in Mailand 1951 entwickelte sich der Werkbund in den fünfziger Jahren auf etablierten Bahnen zum maßgeblichen Promoter der Ausrichtung der neuen deutschen Produktionskultur an gemäßigt modernen Designprinzipien, ohne die früher behauptete zentrale Stellung wiederzugewinnen. Heuss initiierte neue Kontakte mit Walter Gropius, der bereits 1947/48 als „offizieller Architekturberater des Generals Lucius Clay“ nach Berlin kam und die Deutschen an die inzwischen ‚amerikanisch‘ gewordene internationale Moderne heranführen wollte.172 Die Ulmer Hochschule für Gestaltung (1953–1968) erneuerte das Bauhauserbe als Teil einer Wiederinbesitznahme, für welche die USA als Erbeverwalter prominent in Erscheinung trat. Gropius stellte für die Wiederannäherung Deutschlands an die Vereinigten Staaten im Zeichen des Kalten Krie171 Christopher Oesterreich, Umstrittene Selbstdarstellung. Der deutsche Beitrag zur Weltausstellung in Brüssel 1958, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), 127–153. 172 Etwa im Brief Heuss an Gropius vom 10.5.1953 (BA Koblenz B 122/328); Paul Betts, Die BauhausLegende. Amerikanisch-Deutsches Joint-Venture des Kalten Krieges, in: Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. von Alf Lüdtke, Inge Marßolek und Adel� heid von Saldern. Stuttgart: Steiner, 1996, 270–290.

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ges die ideale Verkörperung dar. Allerdings wurde sein Symbolwert wesentlich höher geschätzt als sein Wert als vorbildlicher Architekt.173 Für den Werkbund hatte das Desaster der New Yorker und Mailänder Ausstellungen fast wie Reuleaux’ Erweckungsruf der Ausstellungskatastrophe von 1876 auf die deutsche Industrie gewirkt. Dank einer halbherzigen Verarbeitung der peinlichen Selbstgleichschaltung im Dritten Reich, einer reflektierten Weiterentwicklung der in den dreißiger Jahren intensivierten Ausrichtung am Alltagskonsum sowie der lautstark betriebenen Rehabilitierung von Bauhaus und Gropius war der Werkbund in der Lage, die ihm vom Bundeskabinett gestellte Aufgabe als Herausforderung für die postnationalsozialistische Gesellschaft zu verstehen und zu bewältigen.174 Sein Vorsitzender Hans Schwippert, der das schlicht-moderne Bundestagsgebäude in Bonn entworfen hatte, sah die beste Antwort auf das Ausstellungsmotto „Der Fortschritt und der Mensch“ von deutscher Seite darin, den Fortschritt mit Beispielen aus der neu geschaffenen Alltagskultur zu illustrieren. Modernität gewann als Utopie des Alltäglichen und nicht als nationaler Kraftakt Gestalt. Damit stellte der deutsche Pavillon nicht nur einen Gegenpol zu nationaler Großmannssucht dar – und wurde dafür vonseiten der deutschen Presse und Bevölkerung scharf getadelt –, sondern auch, besonders von ausländischer Seite vermerkt, einen Gegenentwurf zur Speer’schen Bemühung um Monumentalismus auf der Pariser Weltausstellung 1937. Schwippert und seine Mitarbeiter, insbesondere Egon Eiermann und Sep Ruf, die Architekten des Pavillons, waren sich dessen bewusst, dass es nicht genügte, Mäßigung und Zurückhaltung zu beweisen, um sich vom Machtstaatsdenken des Dritten Reiches zu unterscheiden. Vielmehr musste man die Einsicht vom falschen Weg jener Jahre kenntlich machen. Denn sehr genau fragte ein belgischer Kritiker: „Hat Deutschland sein ‚über alles‘ aufgegeben? Weniger als je zuvor. Aber es zeigt, dass es verstanden hat, sein ‚über alles‘ weder durch die Besitzergreifung fremder Güter noch durch die gewaltsame Auferlegung seiner Konzeptionen zu beweisen.“175 Egon Eiermann, der für den deutschen Beitrag 1937 die Leistungsschau und den Film „Gebt mir vier Jahre Zeit“ entworfen hatte, also selbst tief verstrickt war, umriss mit seinem Eingeständnis der Schuld, die das Land auf sich geladen habe, auch das der Schwierigkeit, jetzt den richti-

173 Die Bauhaus-Debatte 1953. Dokumente einer verdrängten Kontroverse, hg. von Ulrich Conrads u. a. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1994. 174 Paul Betts, The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial De� sign. Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 2004, 73–108. 175 Zit. nach Oesterreich, Umstrittene Selbstdarstellung, 127.

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gen Ton zu treffen.176 Allerdings zog die Fähigkeit, für das Ausland den richtigen Ton zu treffen, keineswegs auch die innerdeutsche Zustimmung nach sich. Schwippert fand die Ablehnung von Regierung – einschließlich Adenauers – und Ministerialbürokratie verständlich, „wenn man bedenkt, dass manchen Kräften in dieser Bürokratie der ‚Einbruch‘ des aus Werkbund, Rat für Formgebung, Akademie der Künste Berlin, Arbeitskreis für industrielle Formgebung zusammengestellten großen Kreises der in Kultur und Kunst führenden Kräfte von vornherein nicht angenehm war, und dass, des weiteren, diesen Leuten vielleicht der Einrichtungs- wie der Gesinnungsplüsch mehr liegt, als die Sauberkeit und Tiefe der bedachten, berichterstatteten Repräsentation in Brüssel. Schon wird, wie man hört, auf die Repräsentation des dritten Reiches 1937 in Paris als leuchtendes Beispiel hingewiesen.“177 Schwippert gab sich keinen Illusionen hin, dass er mit dem Werkbund und den genannten Kunstgremien einen „Einbruch“ in die immer noch virulente Kulturmachtideologie führender Bundesbeamter bewerkstelligt hatte. Dort und in der Presse zahlte man ihm das mit dem Vorwurf heim, die wirtschaftsstarke Bundesrepublik unter Wert zu verkaufen und besonders gegenüber der Sowjetunion und der kommunistischen Sowjetzone zu wenig Kulturpolitik der Stärke sichtbar zu machen.

Sowjetische Kulturpolitik als Anker und Fessel für die DDR Bereits 1958 besaß der Hinweis große Durchschlagskraft, dass der andere deutsche Staat den Anspruch der Bundesrepublik, Deutschland zu repräsentieren, beeinträchtige. Zu dieser Zeit hatten sich beide Staaten, die 1949 als Provisorien gegründet worden waren und dabei jeweils behaupteten, die ganze Nation zu vertreten, auch kulturpolitisch eine Fassade geschaffen, die ihren Charakteristika unverkennbar Ausdruck gab: in der Bundesrepublik eine halbherzige Fortführung der in den zwanziger Jahren mit Mittlerorganisationen erweiterten Routinearbeit des Auswärtigen Amtes, das den zivilgesellschaftlichen Wildwuchs über die Grenzen hinweg als ein zweites Gleis der Wiederanerkennung behandelte (und nun als ernsthafte Form kultureller Begegnung auszubauen begann); in der DDR eine aus dem Bruch mit diesem Erbe resultierende Neukonzeption von kulturellen Auslandskontakten, deren Basis die sowjetische auswärtige Kulturpolitik darstellte. Deren Doppelstrategie zielte einerseits auf 176 Johannes Paulmann, Representation without Emulation. German Cultural Diplomacy in Search of Integration and Self-Assurance during the Adenauer Era, in: German Politics and Society 25:2 (2007), 168–200, hier 185. 177 Schwippert, Notiz zur Kritik an Brüssel, 5.5.1958, 1 (BA Koblenz, B 102/37727), zit. nach Oester� reich, 149.

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bilaterale Kulturabkommen, welche die Beziehungen in einem Arbeitsplan mit zumeist zweijähriger Dauer festlegten, andererseits auf eine zwischengesellschaftliche Schiene von sogenannten Freundschaftsgesellschaften, in denen der Vorsitz an Vertreter der anderen Nation ging, in einer mehr oder weniger geschickten Projektion von Gegenseitigkeit. Weder die westliche noch die östliche Praxis vermochten die Indifferenz in anderen europäischen Ländern gegenüber deutschem Kulturexport zu durchbrechen, zumal wenn er von staatlichen Stellen gelenkt wurde und in seiner propagandistischen Zielrichtung im Konkurrenzkampf des Kalten Krieges nur allzu leicht durchschaubar war. Ohnehin lernte das ausländische Publikum angesichts der Intensivierung dieser Praktiken nach dem Mauerbau 1961 in Berlin, sich darauf einzustellen, dass ein Großteil der deutschen Investitionen in auswärtige Kulturpolitik weniger ihm als der gegenseitigen Konkurrenz galt, von der andere Länder allerdings durchaus profitieren konnten, insbesondere wenn es sich dabei um Stipendien, Studienplätze für Ausländer in Deutschland, Angebote wissenschaftlicher Zusammenarbeit, kostenlose Repräsentationsveranstaltungen, und – am häufigsten genutzt – Entwicklungsprojekte handelte. Lange Zeit war im Westen gar nicht bekannt, dass die DDR „kulturelle Außenpolitik“ oder „kulturelle Auslandsbeziehungen“, wie die Begriffe hießen, betrieb, die nicht sowjetisch vorgeprägte Auftragsarbeit als Teil der Ost-WestKonfrontation darstellten. In der Tat entwickelten sich außerhalb der von den Sowjets angeregten organisatorischen Strukturen, zu denen internationale Massentreffen der Jugend gehörten, aus Mangel an erfahrenem Personal lange Zeit kaum spezifische Unternehmungen, die eine konzeptionelle Eigenrichtung erkennen ließen. Selbst die ständige Berufung darauf, dass man gegen den Faschismus kämpfe, kennzeichnete die Verlautbarungen der kommunistischen Staaten generell, nicht nur die der DDR. Die Ostdeutschen gingen allerdings mit den teilweise griffigen, propagandistisch oft weit überzogenen, vielfach aber auch dokumentarisch belegten Argumenten in der Verurteilung der Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Dritten Reiches weiter als die osteuropäischen Bundesgenossen, die sich ihre eigenen Kontaktmöglichkeiten zur Bundesrepublik nicht nehmen lassen wollten. Das galt schließlich auch für die Sowjetunion selbst, die, in den fünfziger Jahren stark von der wissenschaftlich-technologischen Konkurrenz mit den USA absorbiert, bei der Durchsetzung ihres Machtwillens im Ostblock den scharfen Konfrontationskurs der SED anfachte, ohne auf den direkten Draht zu Adenauer zu verzichten. Zentraler Wirkungsraum der kulturellen Außenpolitik der DDR stellte im Rahmen des 1949 gegründeten Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) der sowjetische Machtbereich in Osteuropa dar. Allerdings sollte die Selbstverständlichkeit, mit der die Interessengleichheit in der Kulturpolitik sozialistischer

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Länder178 beschworen wurde, nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier von deutscher Seite eine Akzeptanz vorausgesetzt wurde, die sie sich angesichts der Verbrechen deutscher Wehrmachts- und NS-Verbände in diesen Ländern erst erarbeiten musste.179 Bei der Anknüpfung kultureller Beziehungen mit Polen, für die 1948 die Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft gegründet wurde, lassen sich Bemühungen in dieser Richtung erkennen, als neben polnischen Konzertgastspielen der Auschwitzfilm „Die letzte Etappe“ und 1949 die Ausstellung „Polnische Maler des 19. und 20. Jahrhunderts“ in Berlin gezeigt wurden – gewiss in anderer Auswahl und Verpackung als die von den Nazigrößen besuchte Ausstellung polnischer Malerei 1935 in Berlin.180 An die Stelle der Hellmut-von-GerlachGesellschaft trat 1952 die Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland, die die kulturellen Beziehungen mit den „volksdemokratischen“ Ländern unter einheitlicher Leitung organisierte und als Dachorganisation der sogenannten Freundschaftsgesellschaften diente, darunter der deutsch-polnischen, deutsch-tschechoslowakischen und deutsch-ungarischen Freundschaftsgesellschaft. Ihre Weisungen bekam die Gesellschaft von der Abteilung Internationale Verbindungen beim ZK der SED, auch wenn sie offiziell dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) unterstand.181 Was Polen anbetraf, beschränkte Ulbricht kulturelle Kontakte auf ein Minimum und war auch später immer darauf bedacht, den Import freiheitlich-widerständiger Ideen, die Polen periodisch produzierte, zu unterbinden; die Polen ihrerseits empfanden den deutschen kulturellen Import als zu stalinistisch und künstlerisch uninspiriert.182 Bezieht man die außenwirtschaftliche Selbstdarstellung der DDR in Osteuropa, ihrer Hauptabsatzregion, generell mit ein – was eher unter dem Etikett der Pro178 So der immer wiederkehrende Titel der scheinbar harmonischen und „gesetzmäßigen“ Zusammen� arbeit der Länder im sowjetischen Machtbereich, etwa bei den „Materialien der wissenschaftlichen Konferenz der Multilateralen Kommission sozialistischer Länder für Probleme der Kulturtheorie, der Literatur und Kunstwissenschaften vom 25. bis 30. März in Berlin“: Kulturpolitik sozialistischer Länder, hg. vom Institut für Marxistisch-Leninistische Kultur- und Kunstwissenschaften der Akade� mie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Berlin: Dietz, 1983. 179 Die Rolle der DDR in Osteuropa, hg. von Gert Leptin. Berlin: Duncker & Humblot, 1974; Tomasz G. Pszczolkowski, Wandlungen des Deutschlandbildes in der polnischen Publizistik der Nachkriegs� zeit, in: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegs� zeit (1945–1961), hg. von Ursula Heukenkamp. Amsterdam: Rodopi, 2001, 607–616. 180 Christa Hübner, Das Wirken der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Frieden und gute Nachbar� schaft für die Neugestaltung der Beziehungen zum polnischen Volk in der DDR von August 1948 bis Januar 1955. Diss. Humboldt-Universität Berlin, 1977. 181 Ulrich Pfeil, Zentralisierung und Instrumentalisierung der auswärtigen Kulturpolitik der DDR, in: Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates, hg. von Heiner Timmermann. Berlin: Duncker & Humblot, 2001, 621–642, hier 631. 182 Sheldon Anderson, A Cold War in the Soviet Bloc. Polish-East-German Relations, 1945–1962. Boul� der: Westview, 2001, 103–108.

Sowjetische Kulturpolitik als Anker und Fessel für die DDR  | 29 „Von den Sowjet­ menschen lernen, heißt siegen lernen!“ Plakat des Amtes für Information der DDR, 1951. Autor: E. Wernitz © Deutsches Historisches Museum, Berlin

paganda lief –, stößt man auf die wohl wichtigste, im deutschen Namen propagierte Maxime, „dass deutsch und faschistisch keine Synonyme sind.“183 Darüber hinaus richtete sich die DDR im Bemühen, als eigene sozialistische Nation Anerkennung zu finden, unter sozialistischen Brudernationen ein, spielte sogar den Lehrmeister in der Anwendung marxistisch-leninistischer Doktrinen, ein Verhalten, das es Polen, Ungarn, Rumänen, Bulgaren, Jugoslawen und anderen Völkern schwer machte, nicht frühere Dominanzhaltungen der Deutschen zu assoziieren. All dies war nur unter dem Dach sowjetischer Herrschaft möglich, die dem deutschen Teilstaat zu seiner Legitimität verhalf, indem sie ihm eine erste Erfüllung des anderen, besseren Deutschland sowie eine radikale Säuberung vom Faschismus attestierte. 183 Anita M. Mallinckrodt, Propaganda als Instrument der Außenpolitik, in: Drei Jahrzehnte Außenpoli� tik der DDR. Bestimmungsfaktoren, Instrumente, Aktionsfelder, hg. von Hans-Adolf Jacobsen u. a., München/Wien: Oldenbourg, 1979, 261–273, hier 267.

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Diese Herrschaft in imperialer Anwendung des Marxismus-Leninismus beruhte zu nicht geringem Teil auf einem Sprachcode sozialistischen Aufbauund Verständigungswillens, antifaschistischer Solidarität, Leitungsqualitäten der sozialistischen Parteien als Sprachrohr der Arbeiterklasse und beständiger Anerkennung der Führungsrolle der Sowjetunion, ein Code, der über die Geschichtserfahrungen von Millionen eine Eisschicht legte, auf der Politiker und Funktionäre entlangschlitterten, hin und wieder auch Pirouetten drehten, mit dem entsprechend verordneten Beifall der Massen. Sprachlich sicherte dies die sowjetische Dominanz zumindest in der offiziellen Politik der ost- und südosteuropäischen Staaten ab. Sie brach schließlich in den achtziger Jahren ein, mit Perestroika und Glasnost unter Gorbatschow bezeichnenderweise in der Sowjetunion früher als in der ostdeutschen Republik, deren Führung mehr der Reformen bedurfte als die souveräne, wenn auch angeschlagene Sowjetunion. Die Emotionen, Erfahrungen, Ressentiments und vor allem Schuld- und Anklagegefühle zwischen den Nationen, die diese sprachliche Eisschicht überdeckt hatte, schnellten mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Machtbereichs mit aller Gewalt an die Oberfläche, gaben Einblick in das, was nach 1945 offiziell unsichtbar gemacht worden war. In Deutschland hatte die sowjetische Besatzungsmacht nach der bald erfolgten harschen Säuberung von NS-Verantwortlichen eine entscheidende Geschichtserfahrung abgedrängt: die Verstrickung von Millionen Bewohnern ihrer Zone in den Nationalsozialismus. Mit der Einsetzung von Gegnern des Nationalsozialismus, Kommunisten, Emigranten, Juden und Sozialdemokraten als Verwalter des neuen Staates wurde der Faschismus verdrängt und der Antifaschismus zur Gründungserzählung erhöht. Damit stiftete die Besatzungsmacht dem neuen Staat das Eintrittsbillet dafür, im sowjetischen Machtbereich ein anderes Deutschland zu repräsentieren, dem die Bürde erlassen war, die Beteiligung am Nationalsozialismus den Opfern gegenüber zu vertreten. Die Säuberung war mit zahllosen Deportationen ins Innere der Sowjetunion aufs Brutalste durchgeführt worden, ungeachtet der zunächst liberalen Kulturpolitik für bürgerliche Eliten. Sie resultierte aus dem Sinn der sowjetischen Führung für Bestrafung, zugleich auch aus der Notwendigkeit, die Zusammenarbeit mit den Deutschen gegenüber der russischen Bevölkerung, die es bei der Bestrafung belassen wollte, zu rechtfertigen. Der russische Journalist Lew Besymenski hat die ganze Tragweite der Einschmelzung von Antifaschismus und Sozialismus in wenigen Worten zusammengefasst: „Ich denke oft noch: Wäre es leichter oder schwieriger gewesen, den Zustand der zivilisierten Beziehungen zwischen unseren Völkern zu erreichen, wenn Deutschland nicht geteilt worden wäre? Auf hypothetische Fragen gibt es nur hypothetische Antworten; aber ich meine: es wäre schwieriger gewesen. Bei dem Höchstgrad der Ideologisierung

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der damaligen sowjetischen Gesellschaft wäre ein bürgerliches, sogar neutrales Gesamtdeutschland kaum in die Reihe unserer Freunde aufgenommen worden. Aber die sozialistische DDR – sofort!“ Angesichts der Tatsache, dass die westdeutsche Abrechnung mit den Verantwortlichen der NS-Verbrechen bis zu den sechziger Jahren auf sich warten ließ, ist Besymenskis Bewertung der positiven Rolle, die die sowjetische Besatzungsmacht ihrem deutschen Staat zuwies, einleuchtend. Dazu gehört jedoch auch seine Folgerung: „Alle guten Taten sind strafbar. Die heilsame Rolle der DDR bei der Überwindung des Nachkriegssyndroms auf der sowjetischen Seite wurde durch gegenseitige Freundschaftsbekundungen pervertiert und ad absurdum geführt. Somit hat die Endphase der Honecker-Ära mit ihrem sturen Widerstand gegen die Perestroika-Ideen ein unerwartetes Ergebnis: Sie erlaubte die positive Perzeption des Mauerfalls, obwohl bei der sowjetischen Bevölkerung der 9. November 1989 eine schmerzliche Quittung für sowjetische Deutschlandpolitik bedeutete.“184 Damit ist die Aufrechnung allerdings nicht zu Ende. Insofern die Tragfähigkeit des Antifaschismus als Gründungsmaxime der DDR von der Sowjetunion garantiert wurde, blieb sie nur so lange wirksam, als die Sowjetunion über Osteuropa herrschte und eine von Schuld- und Anklagegefühlen der Nationen untereinander geprägte Kulturpolitik verhinderte.185 Der Titel der ersten Veröffentlichung der Deutsch-Polnischen Gesellschaft nach dem Ende der DDR gibt wieder, was damit geschah: Zwangsverordnete Freundschaft? Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990.186 Man saß „im selben Boot“, das sich „sozialistisches Lager“ nannte, aber kommunizierte nur wenig. Man nannte es „Zwangsfreundschaft“, die mit Feindseligkeit und Abneigung unterlegt war. Wie erwähnt, unterband die DDR ab 1950 jegliche öffentliche Debatte über die Rechtmäßigkeit der Vertreibungen aus Polen, nicht viel anders mit den Vertreibungen aus der Tschechoslowakei, die insgesamt über vier Millionen 184 Lew Besymenski, Deutschland und die Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Diktatur und Emanzipation. Zur russischen und deutschen Entwicklung 1917–1991, hg. von Bernd Faulenbach und Martin Stadelmaier. Essen: Klartext, 1993, 168–170, hier 168 f. 185 Über die Probleme der engen Ausrichtung der DDR an der Sowjetunion s. DDR-Außenpolitik im Rückspiegel. Diplomaten im Gespräch, hg. von Siegfried Bock, Ingrid Muth und Hermann Schwie� sau. Münster: LIT, 2004, etwa 184: „Unsere Abhängigkeit wuchs, damit nahmen die Möglichkeiten der Einflußnahme der BRD zu. Ich glaube, dass damit immer ein ideologisches Problem für die SED verbunden war, das sie im Prinzip nie richtig verarbeiten konnte. Intensivere Beziehungen bedeuteten ja auch ein Herunterfahren von offener Kritik, von Polemik und Auseinandersetzung.“ Repräsentativ für die Tendenz, die Enge der Zusammenarbeit bis ins Detail nachzuweisen, ist der Band von Ilse Heller und Hans-Thomas Krause, Kulturelle Zusammenarbeit DDR-UdSSR in den 70er Jahren. Berlin: Staatsverlag der DDR, 1979; siehe auch Rolf Richter, Kultur im Bündnis. Die Bedeutung der Sowjetunion für die Kulturpolitik der DDR. Berlin: Dietz, 1979. 186 Zwangsverordnete Freundschaft? Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990, hg. von Basil Kerski, Andrzej Kotula und Kazimierz Woycicki. Osnabrück: Fibre, 2003, bes. 35–40.

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Flüchtlinge in die DDR gebracht hatten. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in der Tschechoslowakei und Polen und die Politik gegenüber den anderen Ländern wurde als Verbrechen der Faschisten etikettiert; die Vernichtung der Juden kam kaum zur Sprache. Deutlich wurde: Die Reinigung vom Faschismus geschah gründlich innerhalb des ostdeutschen Staates, hielt sich jedoch von den Obligationen im Verhältnis zu den anderen Ländern möglichst fern. Es war eine einseitige, keine wechselseitige Reinigung. Urheber und Garantiemacht war die Sowjetunion. Sie gestattete keine Wechselseitigkeit, gestand sie der DDR auch kaum mit sich selbst zu. Es dauerte bis 1956, bis sie eine längerfristige Vereinbarung über kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen mit der DDR schloss. Während der ganzen Periode bis 1989, in der die DDR die kulturellen Beziehungen mit der UdSSR als Basis ihrer kulturellen Auslandsarbeit deklarierte, kam es zu keiner Gründung eines Kulturinstituts im Lande, wie es die DDR in zehn anderen, nicht nur sozialistischen Staaten errichtete. Selbst in der repräsentativen Aufzählung der vielen Kontakte, besonders im Hochschul‑, Forschungs‑, Ausstellungs- und Bildungsbereich, versäumte ihr Autor 1966 nicht, mahnend zu erwähnen, dass die Freundschaft mit der Sowjetunion nach zwanzig Jahren kaum einen entsprechenden Niederschlag in Literatur und Kunst gefunden habe.187 Mochte die Distanz auf deutscher Seite auch nur in solchen Unterbilanzen zu erspüren sein, in der Präsentation der von den Sowjets gegründeten Deutschen Demokratischen Republik anderen Ländern gegenüber existierte sie lange Zeit nicht. Das verstand sich von selbst, insofern die UdSSR den von ihr initiierten und legitimierten deutschen Staat mit dem Instrumentarium auszustatten hatte, das seine Akzeptanz in aller Welt ermöglichte. Ein Staat, der nur im sozialistischen Machtbereich diplomatisch anerkannt wurde, konnte nur über das politisch-diplomatische Netz der Sowjetunion sowie der von ihr beeinflussten kommunistischen Parteien in nicht sozialistischen Ländern Fuß fassen. Damit ergab sich nicht nur als erstes Ziel der auswärtigen Kulturpolitik die internationale Anerkennung der DDR, sondern auch die von den Sowjets vorgegebene Form, die von der VOKS, der Allunionsgesellschaft für kulturelle Beziehungen mit anderen Ländern, in den zwanziger Jahren entwickelte und im Kalten Krieg verfestigte Organisationstruktur der Freundschaftsgesellschaften. Diese hatte sich bereits bei der Einbindung der Ostdeutschen in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft bewährt, die schließlich über fünf Millionen Mitglieder zählte und über 37.000 Freundschaftsgruppen, 187 Helmut Tautz, Der gegenwärtige Stand der deutsch-sowjetischen Kulturbeziehungen, in: Deutsch� land Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten kultureller Zusammenarbeit, hg. von Heinz Sanke. Berlin: Humboldt-Universität, 1966, 81–90.

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24 Tagungshäuser und mehrere Zeitungen verfügte. Bei der Umsetzung der sowjetischen Kulturpolitik in den anderen Volksdemokratien diente diese Organisationsform als wichtiger Transmissionsriemen.188 Dem Vorbild der Association France–URSS folgte die 1958 gegründete Gesellschaft Frankreich– DDR (Echanges Franco-Allemand, EFA), deren Mitgliederzahl bis zur diplomatischen Anerkennung auf 11.000 mit etwa hundert örtlichen Komitees anstieg und zuletzt 15.000 erreichte.189 Daneben übernahm die DDR die Politik der zumeist auf zwei Jahre befristeten Kulturabkommen, die die UdSSR 1959 mit dem englisch-sowjetischen Abkommen auch auf das westliche Ausland ausdehnte. Zwischen 1950 und 1969 schloss die DDR mit 22 Ländern im sowjetischen Machtbereich sowie in der Dritten Welt Kulturabkommen ab.190 Bis zur internationalen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR im Vertragswerk zwischen der Bundesrepublik, der DDR sowie den Besatzungsmächten 1970–72 – die die erste Phase der auswärtigen Kulturpolitik abschloss – lassen sich manche Spuren der Distanzierung gegenüber den Sowjets finden, selbst bei Ulbricht, aber sie betrafen vorwiegend innenpolitische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche, kaum die kulturpolitisch-propagandistisch organisierte Anerkennungspolitik. Auf dem Gebiet der Außenkulturpolitik folgte die SED dem Moskauer Beispiel, dem Zentralkomitee der Partei die Oberaufsicht zu geben, während das Außenministerium eher das ausführende Organ darstellte, wobei sich in Ost-Berlin angesichts des Mangels an Personal mit internationaler Erfahrung verschiedentlich scharfe Konkurrenzkämpfe abspielten.191 Wichtigstes Ausführungsorgan des ZK der SED auf dem Gebiet auswärtiger Kulturbeziehungen bildete die 1962 als nicht staatliche gesellschaftliche Institution gegründete Liga für Völkerfreundschaft, deren direkte Abhängigkeit vom ZK im Ausland kaum bekannt war. Ihre Arbeit wurde lange Zeit von Generalsekretär Herbert Schönfeld bestimmt. Aufschlussreich ist, wie zu dieser Zeit auch in Moskau die Kompetenzen zwischen Zentralkomitee (Unterabteilung Auslandsinformation bei der Ideologischen Kommission beim ZK der KPdSU), Außenministerium (Abteilung für politische Information, Botschaften und Visaabteilung) und dem Verband der Sowjetischen Freundschaftsgesellschaften, dem Vorbild der Liga, nicht immer genau abgesteckt waren, wie genau diese Machtkonstellation andererseits für die außenpolitische Arbeit der DDR zum Vorbild genommen wurde. Wenn Manfred Feist, ein Schwager von Hone188 Wolfgang Kasack, Kulturelle Außenpolitik, in: Kulturpolitik der Sowjetunion, hg. von Oskar Anwei� ler und Karl-Heinz Ruffmann. Stuttgart: Kröner, 1973, 345–388, hier 368. 189 Ulrich Pfeil, Die ,anderen’ deutsch-französischen Beziehungen, 275. 190 Falko Raaz, Ost-West-Kulturaustausch, 263–265. 191 Stephen J. Scala, Der kuriose Fall des Genossen Otto Becker. Oder: Warum die SED begann, ihren außenpolitischen Apparat zu professionalisieren, in: Deutschland Archiv 43 (2010), 1007–1016.

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cker, als Leiter der ZK-Abteilung Auslandsinformation in Moskau 1964 von Viktor Iwanowitsch Gorschkow, dem sowjetischen Partner, hörte: „Die UdSSR unterhält mit 86 Ländern diplomatische Verbindungen; der Verband jedoch mit 132 Ländern, d. h. mit 46 Ländern, in denen keine diplomatischen Vertretungen stehen“,192 muss das für einen DDR-Kulturpolitiker höchst ermutigend geklungen haben. Denn die meisten ihrer vorzugsweise kulturellen Aktionen hatten zum Ziel, das Fehlen diplomatischer Vertretungen durch zivile Handlungsträger, möglichst aus dem Gastland, zu kompensieren. Die Freundschaftsgesellschaften wurden, ab 1966 offiziell,193 zum zentralen kulturpolitischen Instrument der Bemühung um diplomatische Anerkennung, die die Bundesregierung unter Hinweis auf die Hallstein-Doktrin seit 1955 zu verhindern trachtete. 1972 existierten insgesamt 39 nationale Freundschaftsgesellschaften, die darin effektiv waren, dass sie scheinbar vom Gastland getragen wurden, insofern an ihrer Spitze einflussreiche Prominente standen. In der DDR galt dieses Modell als Wettbewerbsvorteil gegenüber der Bundesrepublik; allerdings gestattete es außer offiziellen nur wenige zwischenmenschliche Kontakte.194 Immerhin gab es ein Gebiet, auf dem die DDR bereits in einer frühen Phase innerhalb des internationalen Netzes, das die Sowjetunion als Teil des Kalten Krieges spann, bestimmte Eigeninteressen jenseits der Grenzen des Ostblocks verwirklichen konnte: das der Entwicklungshilfe für arabische Länder, insbesondere Ägypten und Syrien (Vereinigte Arabische Republik), Afrika und Indien. Mit anderen Volksdemokratien, insbesondere der Tschechoslowakei, vermochte sie sich in die Konfrontationssprache des Kalten Krieges einzubringen, indem sie auf ihre antiimperialistische und antikoloniale Grundausrichtung hinwies – unabhängig von der Sowjetunion. Dass sie den Bonus der nicht kolonialen Macht mit der Bundesrepublik teilen musste, die ebenfalls Mitte der fünfziger Jahre anfing, Entwicklungspolitik als Forum der Selbstdarstellung wahrzunehmen, brachte die Verantwortlichen dazu, Projektdenken innerhalb größerer Zusammenhänge zu entwickeln, was allerdings ohne sowjetische Rückenstärkung nicht möglich war. Dabei half die Gründung der Deutsch-Arabischen Gesellschaft 1958, zu der sich die Gesellschaften Arabische Republik Ägypten–DDR, Irak–DDR, Jordanien–DDR etc. gesellten; 1961 entstand die Deutsch-Afrikanische Gesellschaft, die auf der Unabhängigkeitswelle in Afrika 192 S. den zehnseitigen „Bericht über den Erfahrungsaustausch mit dem Verband der Sowjetischen Freundschaftsgesellschaften in Moskau in der Zeit vom 13.–17.7.64“ (Liga für Völkerfreundschaft, Stellvertreter des Generalsekretärs), Berlin 23.7.1964. SAPMO-BA, Berlin, DY 13, 2026). 193 So die Übersicht „Weltkampagne für die Anerkennung der DDR“ 1966–1972 (SAPMO BA Berlin, DY 13 20426). 194 Joerg Schumacher, Das Ende der kulturellen Doppelrepräsentation, 63; Nils Abraham, Die politische Auslandsarbeit der DDR in Schweden. Berlin: LIT, 2007, 71–85.

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nach 1960 Erfolge verbuchte. In allen Fällen stand die Bildungshilfe obenan, die an Ort und Stelle, besser noch mit der Bereitstellung von Studienplätzen an ostdeutschen Universitäten die kulturpolitische Grundlage lieferte. Höhepunkt einer wechselseitig abgestimmten Kultur- und Entwicklungspolitik waren die späteren sechziger Jahre, als in Kairo (1965), Alexandria (1967), Damaskus (1966), Bagdad (1968) und Daressalam (1969) Kulturinstitute der DDR gegründet wurden, die den Goethe-Instituten mit ihrer mehr technisch-praktisch orientierten Programmpolitik neben professioneller Sprachausbildung ernsthafte Konkurrenz machten. Bezeichnenderweise setzte einer der wichtigsten Ideengeber für die Umgestaltung der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik, Winfried Böll – Bruder des Schriftstellers Heinrich –, bei den Notwendigkeiten an, praktische und partnerschaftliche Konzepte in den Ländern der Dritten Welt zu entwickeln, die sich von der bloßen Selbstdarstellung lösten. Wirksamer als die vom Westen wahrgenommene Abgrenzungspolitik der DDR von der Bundesrepublik erschien ihm eine Kulturpolitik, die mit weniger finanziellen Mitteln wichtige praktische und ideologische Resultate erzielte. So postulierte Böll 1960: „Für unsere Entwicklungsförderung heißt das, dass wir den sozialen und kulturellen Folgen und Begleiterscheinungen der Industrialisierung viel mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Im Osten widmet man diesen Aspekten große Aufmerksamkeit. Im Osten weiß man, dass man oft gerade dort, wo der Westen Wirtschaftshilfe gegeben hat, in die dadurch erzeugten gesellschaftlichen und kulturellen Bruchstellen ideologisch hineinstoßen kann. Nehmen wir das Beispiel eines Landes, das zu neunzig Prozent seine Wirtschaftshilfe empfangen hat und dann von einem östlichen Land eine Radiostation und eine Menge von Radiogeräten erhielt, so dass die Bevölkerung, die – vereinfachend gesagt – wenigstens teilweise westlicher Wirtschaftshilfe die Möglichkeit verdankt, wirtschaftlich in der Lage zu sein, Radio zu hören und entsprechende Geräte zu erwerben, nun Sendungen empfängt, die von anderer Seite inspiriert werden. Denn wir geben ja Wirtschaftshilfe, aber auf dem kulturellen Feld tun wir sehr viel weniger, als es unserer Einsicht in die Bedeutung der kulturellen Faktoren modernen gesellschaftlichen Lebens entspricht.“195 Bölls Beobachtungen öffneten den Blick auf die Bedeutung eines weiter gefassten Kulturbegriffs für die Wirksamkeit von Kulturpolitik und stützten zugleich das Plädoyer für eine praktische, die „kulturelle Gleichberechtigung der Entwicklungsvölker“ bekräf195 Winfried Böll, Kulturpolitik und Entwicklungsländer, in: Kultur und Politik in dieser Zeit. Doku� mentation des Kongresses der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 28. und 29. Oktober 1960 in Wiesbaden, hg. vom Parteivorstand der SPD. Hannover: Dietz Nachf., 1960, 105–119, hier 108.

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tigende Strategie. Mit seiner Forcierung des Wettbewerbs wirkte der Kalte Krieg hier nicht hemmend auf neue Konzeptionen, führte vielmehr dazu, die festen Gleise repräsentativen Kulturdenkens zugunsten eines neuen partnerschaftlichen Denkens aufzugeben. Schließlich ein Unternehmen, das aus der Erbschaft deutscher Kultur stammte und nicht mit den Rezepten der sowjetischen Schutzmacht behandelt wurde: die 1964 der Liga für Völkerfreundschaft zugewiesene Betreuung deutscher Minderheiten in anderen Ländern. Die Vorlage für das ZK über die Gründung der „Gesellschaft Neue Heimat“ definierte diese als „auslandsinformatorische Organisation entsprechend den in der Liga für Völkerfreundschaft zusammengefaßten Freundschaftsgesellschaften.“ Es war zu erwarten, dass die SED diese ethnisch-kulturelle Erbschaft mit ebenso starkem ideologischen Gewicht belastete, wie es, wenn auch unter entgegengesetztem Vorzeichen, vor 1945 geschehen war. Das geschah nur halb. Der Gesellschaft Neue Heimat, die in den Folgejahrzehnten die gleichnamige Zeitschrift als Hauptverbindungsorgan zu den Minderheiten publizierte, wurden die „für die gesamte Auslandsinformation festgelegten politischen Aufgaben“ aufgetragen, mit dem Zusatz: „Dabei sind die spezifischen Besonderheiten der Bürger deutscher Herkunft (Heimatverbundenheit, Liebe zur deutschen Volkskunst, Pflege deutscher Sitten und Gebräuche) auch weiterhin streng zu beachten.“ Das klang verständnisvoll. Schwerpunktländer waren Brasilien, Chile, Uruguay, Argentinien, USA, Kanada und Australien. In der Zeitschrift Neue Heimat vermied man starke Polemik gegen die Bundesrepublik; die in der Vorlage ans ZK paraphierte Aufgaben­ stellung allerdings dekretierte: „Die ‚Gesellschaft Neue Heimat‘ wird beauftragt, die Tätigkeit der 5.  Kolonne Bonns, insbesondere des VDA [Verein für das Deutschtum im Ausland], des Deutschen Goethe-Instituts und der exilfaschistischen Gruppen ständig zu entlarven. Diese Kampagne wird durch eine Pressekampagne eingeleitet, die in Zusammenarbeit mit dem MfAA für das III. Quartal 1964 vorbereitet wird.“ Die Rückbindung an ähnliche Gesellschaften sozialistischer Staaten sei mit einem „Erfahrungsaustausch mit der sowjetischen Bruderorganisation ‚Sowjetisches Komitee zur Verbindung mit den Landsleuten im Ausland‘, der ungarischen Bruderorganisation ‚Weltbund der Ungarn‘ und der polnischen Bruderorganisation ‚Polonia‘ zu organisieren.“196 Im Selbstbild der DDR-Bewohner sind die Abhängigkeiten von der Sowjetunion, die den kulturpolitischen Sprachcode bis zum Ende prägten, geradezu 196 Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED. Betrifft: Erweiterung der politischen Aufgabenstellung des Arbeitskreises zur Pflege der deutschen Kultur und Sprache in der Deutschen Demokratischen Republik und seine Umwandlung in die „Gesellschaft Neue Heimat“ (Manfred Feist, Herbert Schönfeld). (SAPMO BA Berlin, DY 13 2062).

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beleidigend schnell verdrängt worden. Das hat viele Ursachen, unter denen die Kluft zwischen parteikonformer Organisationssprache und tatsächlichem Interesse für die sowjetischen Kulturen bei Deutschen ebenso wie bei anderen osteuropäischen Völkern obenan stehen dürfte. In den ausführlichen Überlegungen darüber, weshalb die lang dauernde, intensive Präsenz von Russen in Mittelund Osteuropa so wenig kulturelle Spuren hinterlassen habe, machte DDRDissident Jens Reich darauf aufmerksam, dass Ostdeutsche im Gegensatz zu den meisten anderen Völkern den Russen gegenüber nicht besonders feindselig gegenüberstanden. Sie schätzten sogar russische Kulturveranstaltungen wie Musik und Zirkus und akzeptierten etwas ironisch den parteioffiziellen Spitznamen „die Freunde“. Ein Hindernis dürfte „didaktische Inkompetenz“ gewesen sein, verbunden mit einer politischen Propaganda, die selbst im Anfangsstadium das Erlernen der anderen Sprache notwendig machte. Dass sich bereits vor dem Ende der Sowjetunion das Unvermögen der russischen Kultur abzeichnete, die in Europa unterworfenen Nationen und Ethnien dauernd zu prägen, habe die fortwährende Weigerung der Bevölkerung bezeugt, Russisch zu lernen; die Abwesenheit von Russisch als Verkehrssprache in der osteuropäischen Öffentlichkeit sei für den Fehlschlag der Dominanz exemplarisch geworden. „Wie auch immer, die Sowjetunion ist ein Reich (empire), das keinen dauernden Einfluss auf seine Satellitenstaaten ausgeübt hat.“197 Reich ergänzte diese Feststellungen mit dem Hinweis, dass auch Russen nur sehr wenige kulturelle Darbietungen von Deutschen und Osteuropäern wahrnahmen. Er spricht von einer gegenseitigen Nichtbeachtung im Kulturellen und fügt hinzu, dass die intime Vernetzung von Ostdeutschland und Russland im Politischen und Ökonomischen nicht ins Kulturelle umschlug. Der offiziell vorgeschriebene Austausch unter den „Brudernationen“ habe es nicht vermocht, die spontane Nähe und gegenseitige Anerkennung zu schaffen, die im 19. Jahrhundert noch geherrscht hatte.198 Und die, wie hinzuzufügen wäre, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg künstlerisch überaus produktiv geworden war, als Berlin über 200.000 Russen beherbergt hatte. Voraussetzung waren Gemeinsamkeiten von Deutschen und Russen bei der Bemühung um die Schaffung einer modernen Kultur. Auch wenn nach 1945 immer wieder von der Schaffung einer neuen Kultur die Rede war, fehlte es nun an Gemeinsamkeiten bei ihrer Bestimmung. Jens Reichs Beobachtungen helfen dabei, die Distanz zwischen dem Apparat kulturpolitischer Verwaltung und Direktiven, der zwischen der Sowjetunion und den Satellitenstaaten koordiniert wurde, und der Realität kultureller In197 Reich, Supervision and Abdication – East German Intellectual Life under Soviet Tutelage, 198. Reich läßt die nicht unerhebliche Prägung der Völker Zentralasiens unerwähnt. 198 Ebd., 200.

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halte und Traditionen zu erkennen. Sie helfen dabei, Ursprünge und Folgen des Mangels an Wechselseitigkeit genauer bestimmen zu können, oder andersherum: die einseitige Zielrichtung kulturpolitischen Tuns in ihren verarmenden Tendenzen zu erfassen. Sie ließ das kulturelle Klima in Osteuropa erfrieren und förderte Protestbewegungen, die wiederum von der DDR als Bedrohung ihrer Position als privilegiertem Satellit der Sowjetunion empfunden wurde. Die strikte Ausrichtung auf die sowjetische Kulturpolitik durch Stalinismus, Tauwetter, Kalten Krieg und Détente hindurch hatte wenig mit Kulturaustausch, jedoch viel mit der Abgeltung der sowjetischen Garantie zu tun, dass die DDR als deutscher Staat, da frei von Faschismus, volle Legitimität besaß.

Antifaschistische Gründungsmythen und die Notwendigkeit von Kulturpolitik Die Zwänge, unter denen der ostdeutsche Staat osteuropäischen Ländern lange Zeit eine vorläufige Form des Umgangs mit Deutschen ermöglichte, waren eng an die Herrschaft der Sowjetunion gekoppelt, die es den Ostdeutschen zugleich schwer machte, Auslandsbeziehungen in wirklicher Reziprozität zu installieren. Das stellte ein großes Handikap dar, das den kulturellen Kontakten von DDROrganisationen sowohl im Osten wie im Westen und in der Dritten Welt zumeist den Vorwurf eintrug, weniger am Austausch als an Imagepflege interessiert zu sein. In sozialistischen Ländern war sich das Publikum bewusst, dass erst dort, wo das Ritual aufhörte, die Kommunikation begann (wenn sie begann). Solange jedoch die Bundesrepublik die in Potsdam gezogenen Grenzen im Osten nicht anerkannte, konnte die DDR für ihre Kultur- und Freundschaftspolitik im Osten Legitimität beanspruchen, auch wenn sich dies höchstens in einer Art Stellvertretung für die deutsche Kulturnation verstehen ließ – was die DDR in dieser Form zurückwies, die dortigen Bevölkerungen jedoch durchaus so verstanden. Kontakte westdeutscher Organisationen mit diesen Ländern mehrten sich langsam, erreichten aber bis Ende der achtziger Jahre kaum breitere Schichten außer in Rumänien, wo die Bundesrepublik neben der DDR eine starke Kulturpräsenz etablierte. Sie galt an erster Stelle dem Publikum von Bukarest, aber sie half auch der nach wie vor literarisch ungewöhnlich kreativen und in Deutschland zunehmend beachteten deutschen Minderheit in Siebenbürgen und im Banat, ihre Eigenständigkeit zu erhalten, bis sie von der brutalen Unterdrückungspolitik Nicolae Ceauşescus mundtot gemacht wurde.199 199 Peter Ulrich Weiss, Kulturarbeit als diplomatischer Zankapfel. Die kulturellen Auslandsbeziehun� gen im Dreiecksverhältnis der beiden deutschen Staaten und Rumäniens von 1950 bis 1972. Mün�

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Mit der Anerkennung der Sprecherrolle für das „andere, bessere Deutschland“, die die SED-Führung in Anspruch nahm, hatte die sowjetische Besatzungsmacht ein wichtiges Argument für die Legitimität dieser Republik bereits vor ihrer Gründung geliefert. Indem sie den Widerstandskämpfern und zurückgekehrten Emigranten zubilligte, während der Herrschaft des Faschismus ein politisch und kulturell annehmbares Deutschland vertreten zu haben, das nun die Grundlage für eine friedliche Nationalkultur bildete, hatte sie den nationalen Anspruch einer künftigen Kulturpolitik abgesteckt. Damit erlangte die SED-Führung die Absegnung ihrer Politik, jegliche Verantwortung für die Untaten des NS-Regimes zurückzuweisen, sich auf keine Kompensation für die Opfer einzulassen und für ihre Führungsrolle die „besten“ Traditionen der deutschen Kultur in Anspruch zu nehmen. Der Bundesrepublik kam in diesem Szenarium der Part des Erben des Faschismus zu.200 Ein Großteil dessen, was die DDR in den Folgejahrzehnten über reine Propaganda hinaus als Kulturpolitik mit großem personellen und finanziellen Aufwand betrieb, hatte zum Ziel, den antifaschistischen Gründungsmythos als das andere, bessere Deutschland aus dem Erbe der aufklärerischen, humanistischen und progressiven Traditionen zu vertiefen und darzulegen, dass diese Traditionen in der DDR verwirklicht würden. Damit sollte das Fehlen der Legitimation aus der Zustimmung der Bevölkerung, die in freien Wahlen bestanden hätte, überspielt werden. Nachdem im Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten 1972 die völkerrechtliche Anerkennung der DDR von der Bundesrepublik besiegelt worden war, eröffnete sich der Kulturpolitik eine neue Phase. Statt Anerkennungspolitik hieß das offizielle Stichwort nun Abgrenzungspolitik, die im Ausland verhindern sollte, die kulturellen Verschiedenheiten der beiden deutschen Staaten zu übersehen. Die intensive Agitationsarbeit der Freundschaftsgesellchen: Oldenbourg, 2010; Peter Motzan, Die Szenarien des Randes: Region, Insel, Minderheit. Die deutsche(n) Literatur(en) in Rumänien nach 1918 – ein kompilatorisches Beschreibungsmodell, in: Deutsche Literatur im östlichen und südöstlichen Europa. Konzepte und Methoden der Geschichts� schreibung und Lexikographie, hg. von Eckhard Grunewald und Stefan Sienerth. München: Südost� deutsches Kulturwerk, 1997, 73–102. 200 Erna Heckel, Kultur und Expansion. Zur Bonner Kulturpolitik in den Entwicklungsländern. Berlin: Dietz, 1968; Erich Siebert, Auswärtige Kulturpolitik der Brandt/Scheel-Regierung in: Dokumenta� tion der Zeit, H.  11 (1970), 18–22; Die Reform der auswärtigen Kulturpolitik der BRD in den siebziger Jahren – Anspruch und Ergebnisse, hg. von Angelika Neumann und Erhard Hexelschneider. Leipzig: Herder-Institut, 1982; s. auch die dem ZK zuarbeitenden internen Analysen wie die „Doku� mentation zur Auslandspropaganda der BRD“ (1976) vom Institut für Internationale Beziehungen, Abt. Auslandsinformation (SAPMO, BA Berlin, DY 2350). Aus westlicher Perspektive: Hans Linde� mann und Kurt Müller, Auswärtige Kulturpolitik der DDR. Die kulturelle Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik Deutschland. Bonn-Bad Godesberg: Neue Gesellschaft, 1974. Ein erster verglei� chender Überblick: Anita M. Mallinckrodt, Die Selbstdarstellung der beiden deutschen Staaten im Ausland. ‚Image-Bildung‘ als Instrument der Außenpolitik. Köln: Wissenschaft und Politik, 1980.

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schaften der Liga für Völkerfreundschaft zugunsten der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR sollte der Imagepflege der DDR als eines Staates großer kultureller Errungenschaften Platz machen. Allerdings stellte sich bald die Frage, ob man mit verstärkten Kontakten im literarisch-kulturellen Bereich der Abgrenzungspolitik gute Dienste leistete. Künstler und Schriftsteller tendierten dazu, Auslandskontakte zu nicht konformen Aktionen zu ‚missbrauchen‘ (was wiederum den Überwachungsapparat aufblähte). Damit kreuzten sich in den siebziger Jahren verschiedene Interessen auf diesem Gebiet. Ihnen verdeckte die Befriedigung, im Ausland ‚angekommen‘ zu sein, die Sicht dafür, welche Anforderungen man dort an eine erfolgreiche Werbung für diesen Staat stellte. In dieser Konstellation wurzelt die Selbsttäuschung der SED-Führung zu glauben, die volle Anerkennung als Staat unter anderen Staaten zu gewinnen, ohne dafür den Preis zu zahlen, den sie in der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 selbst akzeptierte: die Förderung von Menschenrechten und persönlichen Kontakten, die die eigene Bevölkerung nun einklagen konnte.201 Dass ausgerechnet diejenige internationale Vereinbarung, die von der DDR in den siebziger Jahren als Erfüllung ihres Strebens nach internationaler Anerkennung und politischer Absicherung gefeiert wurde, zu ihrem Untergang beitrug, lässt sich als historische Ironie begreifen; jedenfalls wurde den Verantwortlichen zu spät klar, dass sie den sogenannten Korb 3 der Schlussakte nicht mehr unter Kontrolle bringen konnten, der die Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem, technischem, ökologischem, vor allem aber auf humanitärem und kulturellem Gebiet sowie im Bereich der Informationsfreiheit regelte und dem Drängen des Westens entsprach, in den Ostblockstaaten die Öffnung und Liberalisierung unumkehrbar zu machen. In den Worten von Siegfried Bock, der die DDR-Delegation bei den KSZE-Verhandlungen leitete: „Wir sind nach Hause gegangen und haben gesagt: ‚Das ist jetzt das Papier, das legen wir erst einmal in den Schrank‘, ohne zu sehen, dass in diesem Dokument eine Dynamik lag. Als wir dann angefangen haben, 1989/90, die Frage der Freizügigkeit besser zu lösen, war es zu spät. Wenn man das 1975 gemacht hätte, wäre sicherlich manches ein bißchen anders gelaufen, aus unserer Sicht.“202 Hinzuzufügen wäre allerdings, dass zwischen 1975, dem Höhepunkt der Anerkennungseuphorie, und 1989, dem Jahr des Mauerfalls, die So201 Ulrich Pfeil, Intersystematische Kulturbeziehungen im Ost-West-Konflikt. Die DDR und der We� sten, in: The Other Germany. Perceptions and Influences in British-East German Relations, 1945– 1990, hg. von Stefan Berger und Norman LaPorte. Augsburg: Wißner, 2005, 189–209. 202 Siegfried Bock, Gespräch mit Miriam Müller, Berlin, 18.9.2008, zit. nach Miriam Müller, Papiertiger auf Beutezug. Über die Schlußakte von Helsinki und ihre Bedeutung für das geteilte Deutschland, in: Deutschland Archiv 43 (2010), 604–613, hier 604; Johannes L. Kuppe, Die KSZE und der Un� tergang der DDR, in: Deutschland Archiv 38 (2005), 487–493.

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wjetunion sich unter Michael Gorbatschow selbst der Liberalisierung und dem Verlangen der Bevölkerung nach freier Rede und ungehinderten Kontakten öffnete. Das konnte die DDR nicht mehr mitvollziehen, ohne zu diesem Zeitpunkt sich selbst aufzugeben. Auch in der DDR wurde noch vor ihrem Ende der Blick auf die Notwendigkeit frei, sich der Folgelasten des Nationalsozialismus auch dem Ausland gegenüber zu stellen. Geschah das zwar nicht gegenüber den Staaten des Ostens, so doch, von dem Ehrgeiz gefördert, eine endgültige Anerkennung vonseiten der USA – möglichst mit einem Staatsbesuch Honeckers – zu erlangen, mit einer symbolischen Zahlung, wohl hundert Millionen Dollar, an Juden vornehmlich in den Vereinigten Staaten. „Die hundert Millionen wurden zwar nicht mehr gezahlt“, hat Peter Bender in seiner Geschichte des geteilten Deutschland erläutert, „dennoch hatte sich die SED-Führung in einem zentralen Teil ihres Selbstverständnisses revidiert. Indem sie sich bereit erklärte, Juden, die von den Nazis verfolgt worden waren, zu entschädigen, gab sie ihren Anspruch auf, als antifaschistischer Staat aller Verantwortung für Hitler ledig zu sein. Sie stieg vom hohen Roß des ‚Siegers der Geschichte‘ und wurde, was die Bundesrepublik war: ein Nachfolgestaat des Nazi-Reiches.“203 Allerdings gehört zu diesem Bild ebenso die bis 1989 offen demonstrierte Sympathie für extreme PalästinenserGruppen mit Staatsempfang für Yasir Arafat und Feindschaft gegenüber Israel. Erst die im März 1990 frei gewählte Volkskammer der DDR stellte sich der vollen Verantwortung, als ihre Präsidentin, Sabine Bergmann-Pohl, am 12. April 1990 vor dem Plenum ausrief: „Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land.“204 Fast lässt sich der Aufprall in den Niederungen der nationalen Geschichte wahrnehmen, denen die DDR-Führung mit den Beschwörungen des anderen, besseren Deutschland unter maßgeblicher sowjetischer Hilfe hatte aus dem Wege gehen wollen. Für das Ausland stellte der Aufprall deshalb keine Überraschung dar, weil man sich über die Niederungen dieser Geschichte zumeist im Klaren war, wobei man der DDR eher zutraute, den Nazismus zuverlässig liquidiert zu haben. Wenn man trotzdem überrascht war, dann darüber, wie schnell der östliche Staat die Legi203 Peter Bender, Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1996, 54; über das Verhältnis zur Judenverfolgung siehe Harald Schmid, Anti� faschismus und Judenverfolgung. Die „Reichskristallnacht“ als politischer Gedenktag in der DDR. Göttingen: unipress, 2004. 204 Zit. nach Helge Grabitz, Die Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich, in: Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel, hg. von Rolf Steininger. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1994, 198–220, hier 210.

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timität verlor, die ihm der antifaschistische Gründungsmythos verschafft hatte, und wie rasch aus den zwei Staaten, die die Stabilität der Konfrontation zwischen Ost und West gesichert hatten, ein vereinigtes Deutschland wurde. Damit kam im Bereich kultureller Beziehungen ans Ende, was Zyniker in anderen Ländern als begrenzt unterhaltsame Begegnung mit deutscher Kultur und als eine letzte große Aufwallung kultureller Konkurrenzpolitik innerhalb derselben Nationalkultur abtaten, mit wechselnden Gewinnern und Verlierern, Freunden und Feinden. Nichtzyniker öffneten sich zumindest der Einsicht, dass es die eine, die westliche, demokratische Seite schließlich dazu gebracht hatte, in Wechselwirkung mit dem Ausland von der kulturellen Repräsentativstrategie zu einer partnerschaftlichen Kulturpolitik zu gelangen, und dass die andere, die östliche, undemokratische Seite schwer daran gearbeitet hatte, noch einmal über die Mobilisierung von Kultur einem deutschen Staat Identität und Ausstrahlung zu verschaffen, der weder mit Demokratie noch einer blühenden Konsumgesellschaft seine Existenz zu rechtfertigen vermochte. So dramatisch der Aufprall war, er vollzog sich, was den antifaschistischen Gründungsmythos betraf, nicht ohne Parallelen. Auch bei der Entstehung, dem Ende von Hitlers Herrschaft über Europa, war er nicht ohne Parallelen gewesen, weder in Ost- noch in Westeuropa. Gewiss stellte er mit dem Ziel, Millionen von Deutschen von der Verantwortung für den Faschismus zu entbinden, an dessen Aufstieg und Niedergang sie zentralen Anteil besaßen, eine besonders provokante Herausforderung historischer Realitäten dar, aber die Herstellung eines Gründungsmythos, der die Spuren der Beteiligung am Nationalsozialismus zugunsten einer heroischen Widerstandserzählung beseitigte, geschah auch in Nachbarländern wie Frankreich, Italien und Jugoslawien. Im Unterschied zu Deutschland hatte in diesen Ländern zur Befreiung tatsächlich eine größere Widerstandsbewegung beigetragen, deren Konsens mit nationalen Zielen zunächst außer Frage stand. Dieser Konsens aber besaß ähnliche dunkle Stellen, wie sie die Programmatik der antifaschistischen Absolution in Deutschland kennzeichnete: Er überdeckte in Frankreich die Tatsache, dass Millionen von Franzosen – man sprach 1940 von 40 Millionen Pétainisten – sehr wohl mit dem Nationalsozialismus kollaboriert hatte und dass Millionen Italiener auf ihren Faschismus bis zu dessen Ende stolz gewesen waren. De Gaulles Fundierung des Gründungsmythos der IV. Republik mithilfe der Résistance hielt sich bis in die siebziger Jahre und machte erst mit den Skandalen um Louis Darquier und Klaus Barbie einer schmerzlichen Anerkennung von Vichy als Teil der französischen Geschichte Platz.205 In Italien sicherte man sich mit der Uminterpre205 Hartmut Mehringer, Vichy und die Résistance, in: Tabu und Geschichte. Zur Kultur des kollektiven Erinnerns, hg. von Peter Bettelheim und Robert Streibel. Wien: Picus, 1994, 78–99.

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tation des Bürgerkrieges zu einem antifaschistischen Konsens das Wohlwollen der Alliierten, bei denen das Land ansonsten nicht viel Achtung genoss, und verschaffte mit der Resistenza nicht nur der kommunistischen Linken die „Zivilreligion“. Hier sorgte Renzo De Felice, der zunehmend desillusionierte Biograf Mussolinis, seit den siebziger Jahren für deren Entmythologisierung.206 Die meisten Italiener hätten die Besatzungszeit ganz einfach zu überleben versucht. Der Abschied vom Widerstands- als Gründungsmythos fiel auch hier schwer.207 In den Ländern, in denen Kollaboration politisch bestimmend gewesen war, liefen die jeweiligen kulturpolitischen Bemühungen parallel, ein nationales Narrativ zu begründen, das keine Berührung mit dem Nationalsozialismus aufwies. In derartige Bemühungen brachte die SED ihre Antwort auf die nationalsozialistische Hypertrophierung der deutschen Kulturmacht ein: die den Künstlern und Kunstverwaltern, vor allem aber dem wissenschaftlichen und diplomatischen Apparat der DDR vorgeschriebene, weithin verinnerlichte Anstrengung, das Paradigma einer vom nationalsozialistischen Erbe freien Nationalkultur zu etablieren. Während Frankreich Vichy in seiner Kulturpolitik verschwieg, verschwieg die ,offizielle’ DDR nur ihren Anteil am Faschismus, nicht aber den der ‚anderen‘ Deutschen in der Bundesrepublik, und propagierte umso lautstärker in der Kulturpolitik ihr positives Image als Bannerträger einer besseren, letztlich siegreichen Nationalkultur.208 Erhard John, einer der führenden Kulturtheoretiker, brachte es auf den Punkt, indem er den ZK-Bericht an den VIII. Parteitag 1971 zitierte: „In der sozialistischen Kultur werden alle humanistischen Kulturleistungen des deutschen Volkes aufgehoben, die den gesellschaftlichen Fortschritt in einer konkreten historischen Epoche repräsentieren und die zum Wachstum der sozialistischen Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen in der sozialistischen Gesellschaft beitragen können. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was das deutsche Volk in seiner historischen Entwicklung hervorgebracht hat, die ‚Bewahrerin aller fortschrittlichen Traditionen‘, deren Schätze ‚dem Volke zugänglich gemacht worden sind und in die der Würde des Menschen gemäße

206 S. das Interview, das zugleich einen Vergleich zwischen Faschismus und Nationalsozialismus liefert: Renzo De Felice, Der Faschismus. Ein Interview mit Michael A. Ledeen, übers. von Jens Petersen (1975). Stuttgart: Klett, 1977. 207 Virgilio Ilari, Das Ende eines Mythos. Interpretationen und politische Praxis des italienischen Wi� derstandes in der Debatte der frühen neunziger Jahre, in: Tabu und Geschichte, 129–174; im sel� ben Band auch Drago Rosandic, Nationale Konflikte in Titos Jugoslawien – Ein Tabu?, in: ebd., 100–128. 208 Über das Interesse der kommunistischen Résistance-Kämpfer Frankreichs am Antifaschismus der SED: Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen, 227–232.

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Lebensweise im Sozialismus eingehen‘.“209 Um Missverständnissen über die nationale Orientierung dieser Kulturdefinition zu begegnen, versäumte es kaum ein Theoretiker, auf die übernationalen, in der internationalen Arbeiterklasse bewahrten Wurzeln jenes „Besten“ hinzuweisen. Der sowjetischen Kulturpolitik war daran gelegen, bei dieser Form sozialistischer Kulturauffassung und ‑pflege die Gemeinsamkeiten über die Grenzen hinweg organisatorisch zu stützen.210 Der Gründungsmythos, für sich genommen, reichte kaum über die ersten Nachkriegsjahre hinaus. Um in ständiger Blutzufuhr seine Überzeugungskraft zu erweisen, bedurfte er eines staatlichen Apparates kultureller Identitätsbeschaffung.211 Dazu gab es eine Parallele. Exemplarisch entfaltete sich eine solche Beschaffung durch das Unterrichtsministerium bei der Gründung der Zweiten Republik Österreich, die ebenfalls wie die DDR jegliche Teilnahme der Bewohner am Nationalsozialismus per Verfassung ausschloss. Zunächst sorgten sich die Gründer – wiederum Karl Renner, der den Russen gegenüber die von ihnen gewünschte österreichische Karte spielte – vor allem darum, die These von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, die in der Moskauer Erklärung von 1943 neben der Deklaration von Österreichs Mitschuld stand, ohne diesen zweiten Teil zur Grundlage der Unabhängigkeitserklärung des Staates vom 27. April 1945 zu machen. Was auch wortreich gelang.212 Und was, wie Anton Pelinka hinzufügte, die Regierung 1955 im Staatsvertrag 1955 festschrieb, als sie auf die Streichung der Mitschuldformulierung drängte. „Damit wurde tabuisiert, dass der Anteil der Österreicher in der NSDAP zumindest proportional dem Anteil der Österreicher im Großdeutschen Reich war, und daß der Anteil der Österreicher unter den verantwortlichen Tätern in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus weit überproportional war.“213 Klarer als 1919 begriff man, dass es mit einer Öster209 Erhard John, Zur Dialektik des Sozialen, Nationalen und Internationalen in der Kulturentwicklung. Berlin: Dietz, 1972, 72. 210 S. die Tagungen der Abteilungsleiter für kulturelle Massenarbeit der Kulturministerien sozialistischer Länder, auf denen immer wieder die Gemeinsamkeiten unter sowjetischer Führung beschworen wur� den (SAPMO BA Berlin DY 30, 18707). 211 Raina Zimmering, Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen. Opladen: Leske & Budrich, 2000, 37–168; Peter E. Fäßler, „Antifaschistisch“, „friedliebend“ und „fortschrittlich“. Botschaften und Formen außenwirtschaftlicher Repräsentation der DDR während der 1950er und 1960er Jahre, in: Auswärtige Repräsentationen, 139–161; Vielstimmiges Schweigen. Neue Stimmen zum DDR-Antifaschismus, hg. von Annette Leo und Peter Reif-Spirek. Berlin: Me� tropol, 2001. 212 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates, 403. 213 Anton Pelinka, Tabus in der Politik. Zur politischen Funktion von Tabuisierung und Enttabuisie� rung, in: Tabu und Geschichte, 21–28, hier 26.

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reich-Ideologie à la Hofmannsthal nicht getan war, dieser Staat vielmehr von Anfang an mehr als nur ein deutschsprachiger Kulturversorgungsstaat werden musste, nämlich ein Staat, der mithilfe von Kultur als potenzieller Akteur im internationalen Umfeld seine Identität fand – frei von der Bürde, den Nationalsozialismus mitgetragen zu haben. Wie erfolgreich diese kulturpolitische Emanzipierung war, die sich als „austriakische Restauration“214, wenngleich weniger polemisch als seitens der DDR, von der Bundesrepublik absetzte, lässt sich daran ablesen, dass sich in Österreich bis zu der Affäre um die NS-Vergangenheit von Bundespräsident Kurt Waldheim 1986/87 keine größere innenpolitische Debatte um die Nichthaltbarkeit der Opferthese entspann. Thomas Bernhards beißende Entmythologisierung des sonnigen Österreich-Klischees, das von Hollywood mit dem Film „The Sound of Music“ (1965) nahezu unangreifbar gemacht worden war, versuchte man als exzentrische Sache eines Außenseiters abzutun. Es bedurfte der Waldheim-Affäre, dass Bundeskanzler Franz Vranitzky, als er 1993 als erster österreichischer Regierungschef Israel besuchte, über die Mitverantwortung von Österreichern am Holocaust sprach und davon, „dass die Moskauer Deklaration von 1943, in der Österreich zum ersten Opfer der Naziaggression erklärt wurde, lange die Erkenntnis und das Eingeständnis der dunkleren Seiten unserer Geschichte blockieren konnte.“215 Im Unterschied zu Österreich, das sich als junge Demokratie mit dem Reichtum einer alten Kultur präsentierte und erst in den achtziger Jahren gezwungen wurde, seinen Gründungsmythos zu revidieren, geriet die DDR schon bald in eine Legitimitätskrise, als die Abgehobenheit von dem viel beschworenen Volk, seinen Erfahrungen, Bedürfnissen und Meinungen nur mit Mühe überdeckt werden konnte. Ihre Regierung hatte der Bevölkerung ja nicht nur die Gewissensbefragung über den Faschismus abgenommen, vielmehr generell die Entscheidung über sich selbst in freien Wahlen. Angesichts der Mauer blieben damit alle Legitimierungsanstrengungen relativ und vorläufig. In dem seit den fünfziger Jahren aufbrechenden doppelten Rechtfertigungsdruck von demokratischem Defizit und ökonomischer Ineffizienz liegen die Antriebe, in Verarbeitung des sowjetischen Modells und der deutschen Kulturtraditionen 214 Michael Wimmer, Kultur und Demokratie. Eine systematische Darstellung von Kulturpolitik in Österreich. Innsbruck: Studienverlag, 2011, 74; Alexander Burka, Zur Auslandskulturpolitik Öster� reichs in Ostmitteleuropa seit 1945 – am Beispiel Polens und der Tschechoslowakei/Tschechiens im Vergleich. Diss. Freie Universität Berlin, 2009, 41. 215 Zit. nach Agnes Bläsdorf, Die Einordnung der NS-Zeit in das Bild der eigenen Geschichte. Öster� reich, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, in: Schwieriges Erbe. Der Um� gang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Werner Bergmann, Rainer Erb und Albert Lichtblau. Frankfurt/New York: Campus, 1995, 18–45, hier 26.

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die alte Hoffnung auf Verschmelzung von Kunst und Volk vorbildlich zu verwirklichen. Sich dem Ausland als Kulturstaat darzustellen, entsprang demselben Legitimationsbedürfnis. Gemäß dem Gründungsmythos war es eine vom Faschismus ungeschmälerte Kultur, der die Chance zufiel, zusätzlich zu der antifaschistischen Erneuerung Deutschlands auch die deutsche Kultur wieder als Hoffnungsträger im Ausland sichtbar zu machen.

Zweimal deutsche Kulturpolitik, von außen gesehen Das Problem, die auswärtige Kulturpolitik der beiden deutschen Staaten in ihrer jeweiligen Wirksamkeit zu erfassen, resultiert daraus, dass sie vom Ausland her wesentlich weniger interessant erschien als vom jeweiligen Inland. Freundliche Äußerungen ausländischer Beobachter über die angenommene und tatsächliche Effizienz können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abneigung gegenüber deutschen Dingen, mit denen die Welt lange genug in Atem gehalten worden war, auch durch deren Zuordnung zu den zwei Seiten des Kalten Krieges nicht aufgehoben wurde. Ob deutsche Kultur für oder gegen die Nazis gebraucht worden war, zielte auf eine Frage, der sich die Deutschen stellen mussten (wenn sie es taten), nicht das europäische Publikum, das bis in die sechziger Jahre nur wenig Neigung verspürte, auf kulturelle Innovationen aus Deutschland zu warten. Diese Feststellung zeigt zweierlei: zunächst, wie schwer es tatsächlich für deutsche Kulturverantwortliche war, über den Routineaustausch hinaus künstlerisch-literarische Begegnungsformen jenseits der Grenzen zu Erfolgen zu machen, dann aber auch, wie sehr das Etikett „deutsch“ die Zuordnung zu west- oder ostdeutsch, antifaschistisch-ost oder demokratisch-west in den Schatten stellte und damit erst einmal eine Barriere schuf, die sich auch durch den Hinweis, mit dem jeweils besseren Deutschland zu tun zu haben, nicht leicht überwinden ließ. Die beiderseitigen Anstrengungen, sich voneinander abzugrenzen, führten bei den Nachbarn dazu, einerseits viele der kulturell eigenständigen Leistungen als bloßen Ausdruck des Kalten Krieges abzuwerten, andererseits parteinehmend jeweils dem Deutschland der eigenen Seite mehr Gewicht zu geben als dem der anderen Seite – es sei denn, man fühlte sich, wie etwa die Schweden, bewusst als ‚neutral‘. Davon blieb, wenn man vom wissenschaftlichen und professionellen Austausch absieht, die Wertung von habituellen Charakteristika unberührt, die als typisch deutsch galten. Das Bild ändert sich, wenn man die jeweils interne Perspektive aufrollt und verfolgt, wie sehr die gegenläufige Dynamik zu einem Stimulans der Aufwertung – und Finanzierung – von Kulturpolitik avancierte, bei welcher der End-

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effekt, ihre Effektivität auf der internationalen Bühne, häufig hinter der Selbstdarstellung der jeweiligen Organisation zurücktrat. Die SED bedurfte kaum spezieller Anstöße, um die Relevanz der Außenkulturpolitik in ihrer Kampagne zur völkerrechtlichen Anerkennung als hoch einzustufen. Ohnehin hatte sie Kulturpolitik als Staatsauftrag in der Verfassung verankert, als Teil des Kampfes gegen „die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegsführung und der Herabwürdigung des Menschen dient.“216 Dabei ging es um mehr als Propaganda, die keiner Verfassungsbegründung bedurfte, nämlich darum, die sozialistische Nationalkultur im Kampf gegen die imperialistische Unkultur zu ihrer besonderen Höhe aufsteigen zu lassen, die in der von der Sowjetunion angeführten „internationalen Kultur des Sozialismus“ bestand.217 In der Bundesrepublik dauerte es bis zur zweiten Hälfte der sechziger Jahre, dass auswärtige Kulturpolitik aus der Routineverwaltung zu einer Aufgabe erhöht wurde, mit der sich Parlament und Exekutive beschäftigten und die Außenminister Willy Brandt vor der Bundespressekonferenz im Juni 1967 zum ersten Mal als „dritte Säule“ der Außenpolitik anerkannte. Hier vollzog sich der Prozess der Anerkennung von Kulturpolitik im außenpolitischen Bereich viel zögernder, gewann jedoch dann an Stärke, als erste Erfolge der DDR nicht mehr ignoriert werden konnten und zur Erkenntnis zwangen, dass die Konkurrenz mit der DDR nicht nur auf der Bühne von Wirtschaftsleistungen und demokratischer Willensbildung vonstattenging, sondern auch einer direkten kulturpolitischen Intervention im Ausland bedurfte. So wie die grenzüberschreitende Kulturarbeit der Liga für Völkerfreundschaft unter Hinweis auf den Kampf gegen die imperialistische Unkultur Millionenbeträge erhielt, geschah die offizielle Aufwertung auswärtiger Kulturpolitik in Bonn, die ihre Ziele zumeist jenseits der deutsch-deutschen Konkurrenz sah, unter kraftvollen Beschwörungen möglicher Niederlagen gegenüber „dem Osten“. In beiden Staaten wurden die Verantwortlichen bei ihrer politischen Aufwertung des Kulturbegriffs von einer internationalen Welle kulturpolitischer Initiativen getragen. Sie fand ihre erste Ausprägung 1959 in de Gaulles Schaffung eines mächtigen Kulturministeriums, das unter dem Schriftsteller und Kunstenthusiasten André Malraux französische Kultur innerhalb und außerhalb der Grenzen propagieren sollte. Als imperiale und zugleich wirtschaftliche Unternehmung sollte sie vor allem dem französischen Film gegen Hollywood zugutekommen. Ohnehin galt die Stoßrichtung weniger dem Kommunismus als dem Amerikanismus. Die Tatsache, dass die DDR gerade in dem Land, das 216 So im Artikel 18 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968. 217 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf dem IX.  Parteitag der SED, 18.– 22. Mai 1976. Berlin: Dietz, 1976, 70–72 („Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur“).

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der Bundesrepublik bei der Wiedergewinnung internationaler Anerkennung behilflich war, so viel Resonanz fand, entsprang zwar zunächst der Vermittlung der mächtigen Kommunistischen Partei Frankreichs, dann aber auch, bis hin zum sozialistischen Präsidenten François Mitterand, dem Bedürfnis nach Balance gegenüber der Bundesrepublik sowie der französischen Gegnerrolle gegen Amerikas wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss. 1983 gelang der DDR ein Coup in Paris, als sie mit der Gründung eines Kulturzentrums in einem architektonisch eindrucksvollen Bau und unter großer Aufmachung 1983 den Neid westdeutscher Medien erregte, die fanden, dass der Bau des Goethe-Instituts daneben abfalle. Allerdings sagte das wenig über die Inhalte und die tatsächlich höchst attraktive Programmgestaltung des Goethe-Instituts unter Joseph Graf Raczynski und dem dann von Rom nach Paris gewechselten Michael Marschall von Bieberstein aus, zu der auch ein ausgedehnter Sprachunterricht gehörte, vor allem aber darüber, dass es um die Reziprozität bei der Arbeit des DDR-Kulturzentrums in Paris und des Französischen Kulturzentrums in Ostberlin, die Frankreich verlangte (und selbst nicht allzu gern gewährte), ständige Querelen gab.218 Honeckers Besuch in Paris 1988 nach dem in Bonn 1987 zeigte den Grad der erreichten ‚Normalisierung‘ der Beziehungen, die Staatspräsident Mitterand auf einer Sparflamme bis Ende 1989 warmhielt. Sehr viel kühler war die Haltung zur DDR in Großbritannien, wo sich das Interesse wohl am ehesten dem annäherte, was der Kriminalschriftsteller John Le Carré in seinem berühmten und verfilmten Berlin-Thriller The Spy Who Came in from the Cold (1963) über den Staat jenseits der Mauer anschaulich machte.219 Umso intensiver bemühte sich die DDR um die Imagepflege in der Freundschaftsgesellschaft Britain-GDR Society, konnte aber auch damit nicht die Hindernisse beseitigen, die zwischen ihrer kontrollierenden, „richtigen“ Informationsarbeit und der britischen Auffassung eines freien kulturellen Austauschs bestanden. Insofern erwies sich das 1980 abgeschlossene Kulturabkommen als problematische „Öffnung“. Ein Ende der siebziger Jahre von London vorgeschlagenes britisches Kulturzentrum in Ostberlin kam nicht zur Realisierung.220 In Großbritannien hatte sich seit 1969 eine Diskussion über auswärtige Kulturpolitik entwickelt, die, in den verschiedenen Berichten des British Council 1972, 1974 und 1978 dokumentiert, zu Reformen, allerdings auch Einschrän218 Joerg Schumacher, Das Ende der kulturellen Doppelrepräsentation, 58, 181; Ulrich Pfeil, Die „ande� ren“ deutsch-französischen Beziehungen, 433, 528–545. 219 Hans-Georg Golz, Verordnete Völkerfreundschaft. Das Wirken der Freundschaftsgesellschaft DDRGroßbritannien und der Britain-GDR Society, Möglichkeiten und Grenzen. Leipzig: Leipziger Uni� versitätsverlag, 2004, 144. 220 Marianne Howarth, Freundschaft mit dem Klassenfeind. Die Image-Politik der DDR in Großbritan� nien nach der diplomatischen Anerkennung, in: Deutschland Archiv 36 (2003), 25–34.

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kungen führte. Italien setzte 1969 im Außenministerium eine Reorganisation der Kulturabteilung in Gang, die 1970 in die Generaldirektion für kulturelle, wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit umgewandelt wurde. In den Niederlanden sorgte ein „Memorandum über die Wahrnehmung der internationalen Kulturbeziehungen“ für eine Reform. In der Schweiz gipfelte die Initiative 1975 im Bericht der Eidgenössischen Expertenkommission für Fragen einer schweizerischen Kulturpolitik. Österreich verlegte 1973 die Verantwortung für Auslandskulturpolitik vom Unterrichtsministerium aufs Außenministerium und begann danach, mit Schwerpunktprogrammen zu arbeiten, die mit der Außenpolitik koordiniert wurden. Seit den sechziger Jahren stellte der Europarat wichtige Weichen für eine internationale Kulturpolitik, ebenso die UNESCO mit ihren Beratungen in Venedig 1970 und Helsinki 1972 über einen gemeinsam zu vertretenden erweiterten Kulturbegriff. Die UNESCO-Weltkonferenz „Mondiacult“ 1982 in Mexiko setzte einen vorläufigen Schlusspunkt unter die Neuentwürfe mit der Definition im Schlusskommuniqué, dass „Kultur in ihrem weitesten Sinne als Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionellen Aspekte angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertesysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.“221 Im internationalen Wettbewerb von Experten der Sprach- und Kulturpolitik verschaffte sich das Goethe-Institut einen gewissen Freiraum, der ihm vom Auswärtigen Amt, das sich bis 1967 an die Hallstein-Doktrin hielt, verschiedentlich den Vorwurf der Eigenmächtigkeit einbrachte. Das hinderte die DDR-Regierung nicht, in der Phase von Brandts Vorbereitung der Ostpolitik umso schärfer gegen das Goethe-Institut, dem sie subversive Tätigkeit gegen die DDR vorwarf, zu polemisieren, weil sie offensichtlich ihre Isolierung im Ostblock befürchtete. Zu dieser Zeit war die Bundesregierung nicht auf Konfrontation eingestellt; die Goethe-Führung ließ die Angriffe öffentlich unerwidert.222 Grundsätzlich äußerte sich dazu 1983 der Präsident des Goethe-Instituts, Klaus von Bismarck, wenn er das Absinken propagandistischer Aktionen der DDR konstatierte, auf flexiblere Methoden der Kulturarbeit drängte, jedoch gemeinsame Aktivitäten mit der DDR ausschloss und zusammenfassend konstatierte: „Die 1978 aufgestellte Analyse ergibt ja sehr klar, dass das Goe221 Erklärung der Weltkonferenz über Kulturpolitik, Mexico City 1982, zit. nach Olaf Schwencke, Das Europa der Kulturen – Kulturpolitik in Europa – Dokumente, Analysen und Perspektiven: von den Anfängen bis zur Grundrechtscharta. Bonn/Essen: Klartext, 2001, 125. 222 S. die interne DDR-Dokumentation 1971–1973 des Goethe-Instituts sowie verschiedene Akten� notizen von Joachim Weno, dem Inspekteur des Institutsnetzes (BA Koblenz B 307/95, 100, 102); Steffen Kathe, Kulturpolitik um jeden Preis, 307–315.

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the-Institut im Rahmen seiner Möglichkeiten bisher bemüht war, sich möglichst nicht in eine verkrampfte Haltung gegenüber der DDR hineinziehen zu lassen. Wir haben uns also niemals mit der Position einer weitgehenden Negierung der DDR im Ausland identifiziert.“223 Mit Genugtuung wurde in einer Untersuchung zur auswärtigen Kulturpolitik der DDR angemerkt, dass es „in all diesen Jahren weder in den Entwicklungsländern noch in den westlichen Ländern zu einer Konfrontation oder zu erwähnenswerten Konflikten mit den kulturpolitischen Aktivitäten der Bundesrepublik gekommen“ sei.224 Diesem Tenor entsprachen die kritischen Erfahrungen mit dem Wettbewerb an ausländischen Orten, die Kurt-Jürgen Maaß, der spätere Generalsekretär des Instituts für Auslandsbeziehungen, 1980 in einer Bestandsaufnahme der auswärtigen Kulturpolitik der DDR für den Rundfunk zusammenstellte. Günter Coenen, Leiter des Goethe-Instituts in Stockholm, wo die DDR auch ein Kulturinstitut unterhielt, berichtete über den Alltag dieses Wettbewerbs: „Es hat während dieser vier Jahre – obwohl wir das mehrere Male versucht haben – keine persönlichen oder sachlichen Kontakte zum DDR-Kulturzentrum gegeben. Das Interessante an einer solchen Situation liegt eigentlich darin, dass sich zwei getrennt operierende Institutionen am selben Objekt versuchen, nämlich an der deutschen Kultur. Man kann ja nicht immer nur auf Zeitgenössisches eingehen; in jeder Kulturarbeit ist der Bezug auf die Vergangenheit – und das heißt in diesem Fall eben auf die gemeinsame Vergangenheit – entscheidend wichtig, und da kommt das Salz in die Suppe, wenn man so will, denn der Bezug zur eigenen Vergangenheit oder zur gemeinsamen Vergangenheit geschieht in diesem speziellen Fall natürlich unter verschiedenen Vorzeichen. Das Gastland, in diesem Fall die Schweden, akzeptieren diese künstliche Trennung von der eigenen Vergangenheit eben nicht und sehen beide Kulturinstitute als eine interessante Version der selben Sache im Grunde genommen.“225 Am meisten Resonanz erziele die DDR wohl mit den Freundschaftsgesellschaften, wenn diese auch zunächst von den jeweiligen kommunistischen Parteien Unterstützung erhielten. Als von Ausländern gesuchter Studienplatz (Leipzig, Berlin) agiere sie in der Stipendienvergabe weniger schwerfällig als die Bundesrepublik, wo hierfür keine zentrale Finanzierung existiere. Dazu führte der 223 Klaus von Bismarck, Über das Verhältnis des Goethe-Instituts zur DDR, 22.3.1983 (BA Koblenz B 307/499). 224 Hans-Adolf Jacobsen, Auswärtige Kulturpolitik, in: Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR. Bestim� mungsfaktoren, Instrumente, Aktionsfelder, hg. von Hans-Adolf Jacobsen u.  a., München/Wien: Oldenbourg, 1979, 235–260, hier 256. 225 Kurt-Jürgen Maaß, Zwei deutsche Gesichter in der Welt? Die auswärtige Kulturpolitik der DDR. Norddeutscher Rundfunk, Drittes Programm, 25.1.1980 (Institut für Auslandsbeziehungen, K MS 104), 8 a.

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ehemalige Goethe-Präsident Peter Pfeiffer das Beispiel der vom DAAD versprochenen Stipendien an skandinavische Studenten an, die dann, weil dem DAAD die Gelder verweigert wurden, nicht ausgehändigt werden konnten. Darauf sei prompt die DDR mit Einladung und Geld eingesprungen. Besonderes Lob erhielt das Herder-Institut in Leipzig, das Zentrum der Sprachlehre und ‑forschung in der DDR, das den Lektoren und Instituten effektive, natürlich ideologisch gefärbte Lehrmaterialien zur Verfügung stelle. In der Professionalität begegne man sich häufig, lerne ebenfalls, dass ohne die Mitarbeit des jeweiligen anderen Landes keine brauchbare Sprachlehre zustande komme. (In der Tat hatten nach Auflösung der DDR 1990 die Sprachlehrer die besten Chancen für eine Übernahme durch das Goethe-Institut.) Die Rundfunksendung ließ aber auch erkennen, dass da noch mehr Salz in die Suppe kam, insofern es sich Dieter Lattmann, Schriftsteller, Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Goethe-Präsidiums nicht nehmen ließ, vor der Überschätzung der Wirksamkeit der DDR-Kulturzentren im Ausland zu warnen. Gegenüber den 113  Goethe-Instituten in aller Welt seien die zehn DDR-Kulturzentren in Prag, Warschau, Budapest, Bratislava, Sofia, Stockholm, Helsinki, Djakarta, Damaskus und Bogota kaum Konkurrenz zu nennen. Was anderen Beobachtern im Ausland, die sich für die DDR – und nicht nur ihre Erfolge im Sport – interessierten, die Suppe wirklich versalzte, war ein innerdeutscher Vorfall Ende 1976. Die Ausbürgerung des populären Liedermachers und Dissidenten Wolf Biermann führte besonders in Schweden, auf das die DDR einen gewichtigen Teil ihrer „auslandsinformatorischen Tätigkeit“ konzentrierte, zu scharfen Protesten gegen die DDR-Regierung, der man „einen flagranten Verstoß gegen die Charta der Menschenrechte“ vorwarf. An die Stelle des von der DDR propagierten humanistischen Kulturstaates entstand das Bild „eines Staates, der unbequeme Künstler durch Inhaftierung, Hausarrest und Ausweisung aus dem Verkehr zog.“226 Ein wichtiger Grund dafür, dass dieses Stigma die Außenwirkung der DDR so nachhaltig beeinträchtigen konnte, lag in der Beharrlichkeit, mit der dieser Staat den Antifaschismus als kulturelles Ausstellungsprojekt von Anfang an primär mit der Literatur verknüpft hatte. Literatur war im Stalinismus bereits als publikumswirksamer Träger und Spiegel der Parteiauseinandersetzungen gebraucht worden. Angesichts des mageren Unterhaltungsangebots in der von der Partei kontrollierten Gesellschaft war Schriftstellern, deren Werke hohe Auflagen erreichten, eine ungewöhnliche Sprecherrolle, oft auch Oppositionsrolle zugewachsen. Wenn dieser Staat nun Biermann ausbürgerte, warf dies auf seine Einstellung zur Kultur generell schwere Schatten. Je mehr die DDR das Netz ihrer internationalen 226 Nils Abraham, Die politische Auslandsarbeit der DDR in Schweden, 290.

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Kulturbeziehungen ausweitete, umso mehr Probleme erwuchsen ihr aus der Hochstellung von Literatur, deren Konformität mit dem Staat nicht mehr durch Kontrollinstanzen gewährleistet war und die oftmals auf dem Umweg über westdeutsche Verlage und Rundfunkanstalten ihre Leserschaft erreichte. Mehr Glück hatte die DDR mit der Präsentation von Malerei, deren Zuordnungen nicht im gleichen Maße ideologisch vorbestimmt waren, die aber gleichwohl den hohen Stand der Kunst im Lande bezeugte. Mit der Ausstellung bekannter „Leipziger Realisten“ wie Werner Tübke, Bernhard Heisig und Willi Sitte auf der Kasseler documenta 6 feierte die DDR 1977 einen Erfolg, der ihr zu weiteren prestigeträchtigen Ausstellungen in Frankreich (1981), Großbritannien (1984/85) und auf der Biennale in Venedig 1982, 1984 und 1986 verhalf.227 Auch für Maler führte die Parteikontrolle zu schweren Belastungen – begabte, später berühmte Vertreter modernistischer Richtungen wie Georg Baselitz, Gerhard Richter, A. R. Penck (Ralf Winkler) oder Günther Uecker verließen das Land.228 Jedoch erhielt hier neben der Frage nach der Freiheit der Kunst die Frage nach der Wertschätzung von Kunst häufig noch mehr Beachtung. Sie eröffnete zugleich einen Blick auf die Anstrengungen der DDR, sich als Sachwalter hoher Kultur in der Welt darzustellen. Dem entsprach die Äußerung von Besuchern der documenta: ihnen erschien die Kunst der DDR nicht nur als „Botschafter aus einem anderen Land, sondern auch aus einer anderen Zeit, in der Kunst noch Kunst war.“229 Womit der Umgang mit Kunst in der Bundesrepublik zur Debatte stand, nicht nur mit den in der documenta dominierenden modernistischen Richtungen, und womit zugleich das Dilemma der DDR erkennbar wurde, wenn sie jenseits ihrer Grenzen ihren Ruf als Kulturstaat mit der Pflege hoher Kunst und Kultur aufpolierte. Nach den Propagandakampagnen gegen die Bundesrepublik als einen Staat, der dem Faschismus ebenso wie der amerikanischen Unkultur eine Heimstatt verschaffe, verstärkte sich nach der diplomatischen Anerkennung das Bedürfnis, die DDR als Bewahrer des gesamten nationalen Kulturerbes über den anderen deutschen Staat hinauszuheben. Das Dilemma bestand darin, dass sich mit dieser Art der Kulturpflege, die sich aus der traditionellen Wertschätzung hoher Kunst nährte, internationales Ansehen gewinnen ließ, dabei aber die spezifischen Charakteristika einer sozialistischen Pflege des kulturellen Erbes unsichtbar wurden. Eklatant manifestierte sich das nach dem wohl größten Erfolg einer Kunstausstellung der 227 Christian Saehrendt, Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation, 111. 228 Eckhart Gillen, Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 2009. 229 Zit. nach Saehrendt, Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation, 108.

Zweimal deutsche Kulturpolitik, von außen gesehen  | 31 Kultur – ein Magazin aus der Deutschen Demo­ kratischen Republik, 1985. Verlag Zeit im Bild, Dresden

DDR, „The Splendor of Dresden“, die 1978 in mehreren amerikanischen Städten vor etwa 1,5 Millionen Besuchern gezeigt wurde. Für ihren Erfolg erhielt der Botschafter der Bundesrepublik, Berndt von Staden, von Amerikanern irrtümlich Komplimente für die eindrucksvolle Darbietung deutscher Kunst. Und doch führte an dieser Imagepflege mithilfe von Hochkultur zu einer Zeit kaum ein Weg vorbei, da die DDR auf dem Gebiet, auf dem der zentrale Wettbewerb des Kalten Krieges stattfand, dem der wirtschaftlichen Prosperität, ähnlich den andern Ostblockstaaten außer Sport und Kultur nur wenig zündende Realien anzubieten hatte. Nach dem Sputnik-Schock Ende der fünfziger Jahre hatte Chruschtschow sich bemüht, die DDR zum Schaufenster des Sozialismus zu machen. In den siebziger Jahren war es damit vorbei, und in dem Bemühen, die Konsumgesellschaft durch Importe einigermaßen aufrechtzuerhalten, mussten Polen und die DDR im Westen große Anleihen aufnehmen, die, wie im Falle der DDR, zu einem Austausch der Abhängigkeit von der Sowjetunion gegen die Abhängigkeit von der Bundes-

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republik führte.230 Das resultierte darin, dass die offizielle Abgrenzungspolitik umso lautstärker und die geheime Überwachung der Bevölkerung umso minutiöser ausgebaut wurden. So geschah es, dass 1985 in dem repräsentativen Magazin aus der Deutschen Demokratischen Republik mit dem zu erwartenden Haupttitel Kultur Klaus Höpcke, der stellvertretende Minister für Kultur, in einem programmatischen Artikel die einst so prominenten Ziele sozialistischer Kultur unerwähnt ließ und stattdessen die Ausstellung des hohen „kulturellen Lebensniveaus unseres Volkes“ als Hauptargument der Kulturwerbung im Ausland brachte: „3,3 Millionen Konzerthörer, 9,8 Millionen Theaterzuschauer, 33,7 Millionen Museumsbesucher, 73,4 Millionen Filmfreunde in den Kinos, 80 Millionen Teilnehmer von Unterhaltungsveranstaltungen, 115,7  Millionen Buchausleihen aus Bibliotheken und 120 Millionen Anwesende an geselligen Abenden mit Tanz“ – gewiss eine hohe Aktivitätsquote bei einer Bevölkerung von 16,7 Millionen. Daneben, extra eingerahmt, die eigentlichen Auslandsaktivitäten: „Jährlich gastieren 60 bis 70 Ensembles, Theater und Orchester in allen Kontinenten, sie nehmen an 500 Veranstaltungen teil; 1 000 Konzertsolisten reisen ins Ausland: 1  000 Konzerte werden von Unterhaltungsgruppen gegeben. Ausländische Künstler gastieren etwa im gleichen Umfang in der DDR. 1985 beteiligten sich DDR-Künstler an 30 internationalen Ausstellungen. In 14 Ländern sind Expositionen aus der DDR zu sehen.“231 Damit wurde der Kulturapparat, den die DDR vom vorherigen Regime erbte und unter sowjetischer Aufsicht sozialistisch um- und ausbaute, selbst zum Ausstellungsobjekt. Das war nicht mehr das, was noch Ulbricht mit der Beschwörung, einen dritten Teil von Goethes „Faust“ unter sozialistischem Vorzeichen zu schaffen, anvisiert hatte. Aber es demonstrierte bis hin zum Ende dieses Staates eindrucksvoll eine deutsche Tradition, deren Fortführung nur in einer Gesellschaft noch einmal möglich war, die nicht vom freien Markt und dessen Popularunterhaltung beherrscht wurde. Die Aktualisierung dieser Tradition trug trotz der Ausrichtung an sowjetischen Organisationsstrukturen die Spuren der Kulturverehrung und ‑praxis der deutschen Arbeiterbewegung.232 230 Emily S. Rosenberg, Consumer Capitalism and the End of the Cold War, in: The Cambridge History of the Cold War, Bd. 3, hg. von Melvyn P. Leffler und Odd Arne Westad. Cambridge: Cambridge University Press, 2010, 489–512; Hermann Wentker, Äußerer Prestigegewinn und innere Zwänge. Zum Zusammenhang von Außen- und Innenpolitik in den letzten Jahren der DDR, in: Deutschland Archiv 40 (2007), 999–1006. 231 Klaus Hoepcke, Kultur kämpferischer Menschlichkeit, in: Kultur. Ein Magazin aus der Deutschen Demokratischen Republik 1985, 1–3. 232 Frank Trommler, Die Kulturpolitik der DDR und die kulturelle Tradition des deutschen Sozialismus, in: Literatur und Literaturtheorie in der DDR, hg. von Peter Uwe Hohendahl und Patricia Heming� house. Frankfurt: Suhrkamp, 1976, 13–72.

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An dieser Stelle sollen jedoch auch solche gemeinsamen ‚deutschen‘ Charakteristika Erwähnung finden, die modernere Wurzeln besaßen und in ausländischen Beobachtern das Bewusstsein erneuerten, dass hier eine seit den zwanziger Jahren innovative Produktkultur neue Ausprägungen fand.233 Die von Werkbund und Bauhaus funktionalistisch begründeten, einfachen Gestaltungsformen in Design und Architektur, die dem bundesdeutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 internationale Anerkennung verschafften, setzten sich dank des Rates für Formgebung und des mit ihm kooperierenden Bundesverbandes der deutschen Industrie in der Bundesrepublik bereits in den fünfziger Jahren durch. Sie rückten nach der Anti-Formalismus-Phase mit der Gründung des Zentralinstituts für Formgestaltung 1963 auch in der DDR zum bevorzugten Stil für Möbel- und Ausstattungsdesign auf, nachdem die Deutschen Werkstätten Hellerau in ihrem Modernismus zunächst abgeblockt worden waren. Inwiefern mit der Kennzeichnung „zweckmäßig, haltbar und schön“ für die Herstellung von Möbeln und Haushaltsgegenständen, die den Werkbund-Prinzipien folgte, eine wirklich eigenständige Formgestaltung gelang, lässt sich nicht nur für DDR-Produkte, sondern auch für bundesdeutsche Erzeugnisse bezweifeln.234 Wichtiger war wohl, dass auf beiden Seiten ein ähnlich konzipierter Neofunktionalismus zu kontinuierlichem Exportvolumen verhalf. Neben einem beachtlichen Anteil am westlichen Markt verbuchte der DDRExport auf diesem Gebiet große Erfolge in der Sowjetunion und in Osteuropa.

Der Umbruch im Denken über Kultur und auswärtige Kulturpolitik Neben der internen Wertschätzung der auswärtigen Kulturpolitik in der DDR mit dem Ziel, internationale diplomatische Anerkennung zu bekommen, nimmt sich die Sicht auf das „Bonner Aschenputtel“, wie einer ihrer Reformer in der Bundesrepublik, Hansgert Peisert, 1970 die Kulturabteilung im Auswärtigen Amt nannte, zunächst wenig eindrucksvoll aus.235 Peisert zeichnete 233 „Auf die deutschen Vorbilder wurde ausdrücklich Bezug genommen.“ Heinrich König, Die inter� nationale Großindustrie diskutiert Probleme der industriellen Formgebung, in: Kulturarbeit 3:11 (1951), 219–220. 234 Gert Selle, Geschichte des Design in Deutschland. Frankfurt/ New York: Campus, 1994, 280; Katrin Schreiter, European Aesthetic Convergence and the Common Market. A Case Study of Cold War East and West Germany, in: Européanisation au XXe siècle. Un regard historique / Europeanisation in the 20th Century. The Historical Lens. Brüssel: Lang, 2012, 129–149. 235 Hansgert Peisert, Das Bonner Aschenputtel. Überlegungen zu einem neuen Konzept der auswärtigen Kulturpolitik, in: Die Zeit, Nr. 41 vom 13.10.1970, 10.

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das Bild einer chronisch unterbesetzten, von wenig Sach- und Auslandserfahrung informierten Abteilung, die als Planungs- und Entscheidungsgremium wesentlich größeren Mittlerorganisationen gegenüberstehe und, da von veralteten Informationsmitteln unterversorgt und von Routinearbeit absorbiert, kaum relevante Konzeptionen entwickeln könne. Historiker haben sich trotz Peiserts provokativer Feststellung daran gehalten, die Tatsache, dass Parlament und Regierung auswärtige Kulturpolitik zu dieser Zeit als „dritte Säule“ oder „dritte Dimension“ der Außenpolitik (nach Politik und Wirtschaft) anerkannt und als substanzielle Aufgabe des Staates mit Handlungsanweisungen versehen haben, zur zentralen Referenz ihrer Darstellung zu machen. Dieser Vorgang stellte eine lange fällige politisch-verwaltungsmäßige Änderung dar, die sich einer innerbehördlichen Aufwertung und in erhöhten Budgets niederschlug. Peiserts Feststellung bleibt jedoch deshalb erhellend, weil sie erkennen lässt, dass entscheidende Anstöße und Begriffsklärungen von außerhalb kamen. Sie hatten drei Quellen. Zum ersten war es eine bis dahin ungewohnt radikale, grundsätzliche und konstruktive Diskussion, welche in den sechziger Jahren teils im Parlament, teils in den Mittlerorganisationen, teils in der Presse stattfand, traditionelle Auffassungen von Kultur, speziell der deutschen Kultur, infrage stellte und nicht nur einen „Definitionsschub“ erzeugte, sondern die Bahnen einer nicht mehr von der Hochkultur begrenzten Kulturpraxis vorzeichnete. Zum zweiten war es die internationale Reformbewegung, die in verschiedenen Ländern und Organisationen wie UNESCO und Europarat (mit der Europäischen Kulturkonvention) zu Reformen führte, die darauf abzielten, den Kulturbegriff aus dem engen Bezug zur (nationalen) Hochkultur zu befreien und Kultur als Praxis (internationaler) Kontaktnahme politisch aufzuwerten.236 Zum dritten war es die in den sechziger und siebziger Jahren geradezu explodierende Umformung des Kulturversorgungsstaates zu einem sozialpolitischen Experimentier- und Handlungsfeld. Im Zuge der neu in der Gesellschaftssphäre angesetzten Reformpolitik der Brandt-Scheel-Regierung zog die von den Kommunen seit Kriegsende systematisch ausgebaute kulturelle Infrastruktur eine Zeit lang die Erwartung auf sich, als Instrument einer partizipatorischen Demokratie zu dienen, was der kommunalen Kulturpolitik – die einen Großteil der Kommunalbudgets absorbierte – unter Einschluss der internationalen Städtepartnerschaften politische Prominenz verschaffte. (1978 gab es im Bereich des Deutschen Städtetages 800 Partnerschaften.) Hilmar

236 Siehe die Sektion „Internationale Akteure“ in: Kultur und Außenpolitik. Handbuch für Studium und Praxis, 241–280.

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Hoffmann, der spätere Präsident des Goethe-Instituts, erwarb sich hier sein Renommee als Reformer.237 In dieser bis Japan ausgreifenden Reformbewegung äußerte sich, bisweilen nur nebelhaft erkennbar, bisweilen direkt ausgesprochen, in der Periode der Entspannung von den schärfsten Konflikten des Kalten Krieges der Abbau der Mobilisierung nationaler Kultur, die seit den späten dreißiger Jahren die Propagandakampagnen der Mächte begleitete. Die damals etablierten Formen propagandanaher Kulturpolitik hatten sich im Kalten Krieg längere Zeit als nützlich erwiesen, bei der Abwehr der ‚Unkultur‘ des Amerikanismus ebenso wie bei der Konfrontation mit der ‚Unkultur‘ des Kommunismus. Nun lieferte die Stagnation im Ost-West-Konflikt Antriebe dafür, über Kultur zu einer besseren Form des politischen Modus Vivendi zu gelangen, die schlimmsten Spannungen zu unterlaufen und künstlerische Brücken zu schlagen. All dies traf auch auf das Umdenken in der Bundesrepublik zu und ist, wenngleich zumeist ohne Bezugnahme auf die größeren Entwicklungen, von den Interessierten zu einer einleuchtenden Erzählung über die Umformung der deutschen Auslandskulturpolitik gemacht worden. Diese Erzählung tendiert dazu, vor allem den verwaltungsmäßigen, vom Parlament politisch aufgeladenen und durchgesetzten Teil der Neugestaltung ins Blickfeld zu rücken. Dazu gehören die „Leitsätze für die Auswärtige Kulturpolitik“, die der führende CDU-Kulturpolitiker Berthold Martin seit Langem angeregt hatte und die der dafür berufene Staatssekretär Ralf Dahrendorf für das Auswärtige Amt 1970 mit der Definition der „zwischenstaatlichen Kultur- und Gesellschaftspolitik“ bereicherte, ebenso das von dem Soziologen Hansgert Peisert 1971 erstellte Gutachten zur auswärtigen Kulturpolitik238 sowie der Bericht der Enquete-Kommission „Auswärtige Kulturpolitik“ des Deutschen Bundestages vom 7. Oktober 1975 und die Stellungnahme der Bundesregierung von 1977 – alles Zeugnisse einer konsensgetragenen offiziellen Reform. Damit besaß die Bundesregierung, wie es im Bulletin hieß, „zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein offiziell und politisch verbindliches Konzept für ihre Auswärtige Kulturpolitik.“239 237 Perspektiven der kommunalen Kulturpolitik. Beschreibungen und Entwürfe, hg. von Hilmar Hoff� mann. Frankfurt: Suhrkamp, 1974; ders., Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt: Fi� scher, 1979; zusammenfassend: Plädoyer für eine neue Kulturpolitik, hg. von Olaf Schwecke, Klaus H. Revermann und Alfons Spielhoff. München, 1974, darin über den Bezug zur auswärtigen Kultur� politik: Georg Kahn-Ackermann, Warten auf eine neue auswärtige Kulturpolitik, 230–235. 238 Hansgert Peisert, Die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Klett, 1978. 239 Bulletin der Bundesregierung Nr. 91 vom 23.9.1977, 841, zit. nach der minutiösen Aufarbeitung von Otto Singer, Auswärtige Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Konzeptionelle Grundlagen und institutionelle Entwicklung seit 1945. Berlin: Deutscher Bundestag (22.12.2003),

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Die im Gleichlauf mit der internationalen Entwicklung und einer schnell expandierenden Praxis seit den frühen sechziger Jahren angekurbelten öffentlichen Debatten über Form und Wert auswärtiger Kulturpolitik besitzen insgesamt jedoch nicht weniger Gewicht als die dann verwirklichten Verwaltungsreformen. Sie lassen erkennen, dass sich über die Diskussion deutscher Kultur und ihr Verhältnis zum Ausland eine generelle Infragestellung der offiziell vertretenen Kulturauffassung anbahnte, mit der man in der Nachkriegszeit noch einmal jahrzehntelange Traditionen aufgenommen und befestigt hatte – jene Traditionen, in denen das Denken deutscher Kulturmacht verinnerlicht worden war. Erst mit dieser bundesweiten Diskussion und den soziokulturell motivierten Demokratisierungsimpulsen ‚an der Basis‘ erschließt sich die Absage an diese Traditionen als Teil einer größeren Abkehr von politischen und kulturellen Lebensformen, die, wie es Adenauer selbst als ein noch im Wilhelminismus akkulturierter Politiker zu erkennen gab, bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichten. Es war eine Umbruchsphase, in welcher der zunehmend intensiver betriebene Austausch mit dem Ausland die Reflexionen über das eigene Land und seine Kultur entscheidend veränderte. . Dieses Umdenken trug dazu bei, dass sich neben der verwaltungsmäßigen, stark von der Ostpolitik der Brandt-Scheel-Regierung um 1970 geförderten Erhöhung der auswärtigen Kulturpolitik noch ein anderer Durchbruch ereignete, der sich nicht aus den Akten ablesen lässt, ebenso wenig wie der spontane Entschluss Willy Brandts, bei dem ersten Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Polen am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal für die Opfer des Ghetto-Aufstandes von 1943 in Warschau auf die Knie zu fallen. Mit diesem Bild, das in die Ikonografie des 20. Jahrhunderts eingegangen ist, tat sich jene Dimension in der Geschichte der Völkerkontakte auf, die der französische Historiker Jean-Baptiste Duroselles als forces profondes bezeichnet hat, jene tiefer liegenden Strukturen, die die Wechselseitigkeit internationaler Beziehungen nur schwer zu einem glatten Prozess des Nehmens und Gebens reduzieren lassen.240 In dieser Geste der Demut manifestierte sich, von vielen Deutschen abgelehnt, die Anerkennung der Schuld, die der Nationalsozialismus mit seinem Machtparoxismus im Osten auf die Deutschen geladen hatte. Sie wurde zur stärksten Aufforderung, die Politik der Versöhnung, die gegenüber Israel und Frankreich zu entscheidenden Verpflichtungen der Bundesrezugänglich im Institut für Auslandsbeziehungen (Cb 24/174), 17 f.; maßgebend der Überblick in: Kultur und Außenpolitik. 240 Guido Müller, Internationale Gesellschaftsgeschichte und internationale Gesellschaftsbeziehungen aus Sicht der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte der internationalen Beziehungen. Er� neuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, hg. von Eckart Conze, Ulrich Lappenküper und Guido Müller. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2004, 231–258, hier 246.

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publik führte, auch Polen gegenüber breiter aufzunehmen.241 Die Geste, der nur Theodor Heuss 1952 mit seiner Rede über die Kollektivscham der Deutschen im ehemaligen KZ Bergen-Belsen vorangegangen war, vertiefte Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 40.  Jahrestag des Kriegsendes am 8.  Mai 1985 vor dem Bundestag mit einer Rede über deutsche Schuld, die, auch ans Ausland gerichtet, inzwischen auf eine viel breitere Zustimmung traf. Das von Dieter Sattler um 1960 ermöglichte, relativ eigengesteuerte Wachstum des Goethe-Instituts als Hauptvermittler zum Ausland erwies sich für die Revision des konservativen Bildes nationaler Kulturrepräsentation als Antrieb ebenso wie als Beweis. In diese Zeit fiel die Etablierung des aus bekannten Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft bestehenden, von Heuss angeführten Kulturbeirats beim Auswärtigen Amt sowie die Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft für Internationalen Kulturaustausch. Die provokativen, viel zitierten Stellungnahmen über das Ende traditioneller Kulturauffassungen von Hellmut Becker, dem Sohn des preußischen Kultusministers in der Weimarer Republik, sowie von Winfried Böll stehen exemplarisch für das generelle Umdenken des Verhältnisses von Nation und Kultur um 1960. Sie fanden Eingang in die wichtigste Sammlung über die Reform der auswärtigen Kulturpolitik, den von Dieter Braun, dem Inspekteur des Goethe-Instituts, 1965 zusammengestellten und kritisch kommentierten Band Deutsche Kulturpolitik im Ausland 1955 bis heute. Er verzeichnet ebenso viele Äußerungen über die Entleerung traditioneller Auslandskulturpolitik wie Vorschläge für eine auf Austausch, Reziprozität, Bildungshilfe und angemessene Kulturwerbung ausgerichtete Politik. Auffallend ist, dass der Band die Neukonzeption auswärtiger Kulturpolitik eng mit dem Umdenken über den Kulturbegriff insgesamt verknüpft, der sich nicht mehr an der Hochkultur orientiert, sondern den Bereich des Zivilisatorischen sowie die Teilnahme der Massen dazurechnet: „‚Kultur‘ sind Leitideen, Wertsysteme, Gesellschaftsordnungen, Lebensformen der Völker, die alle in einem Prozeß der Wandlung stehen. Kulturelle Themen sind also Sport und Massenmedien, Alphabetisierung in Afrika, Städteplanung und die Wissenschaft von der Eroberung des Weltalls.“242 Neben der Aufforderung, den verschiedenen Identitäten dieser Kultur gleichermaßen Rechnung zu tragen, polemisierte Winfried Böll gegen die Verankerung auswärtiger Kulturpolitik in einer sublimierten Machtpolitik, die zugleich mit einem absolut unpolitischen Konzept von Kultur einhergehe. Als Beispiel führte Böll an, dass es praktisch keinen Bildband gebe, den man ausländischen Praktikanten, die ein Jahr in der 241 Lily Gardner Feldman, Germany’s Foreign Policy of Reconciliation. From Enmity to Amity. Lanham: Rowman & Littlefield, 2012. 242 Dieter Braun, Vorwort, in: Deutsche Kulturpolitik im Ausland 1955 bis heute, 9.

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Bundesrepublik verbrachten, zur Erinnerung an Deutschland in die Hand drücken könne: „Obwohl die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes ein eigenes Buchreferat hat, und auch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, vor allem durch ‚Inter Nationes‘, viele Bücher in alle Welt verschickt, gibt es nur Darstellungen vom romantischen Deutschland, ‚Sehenswürdigkeiten‘, aber keine Bilder des deutschen Alltags. Nichts spiegelt besser das nationale Selbstverständnis und das Deutschlandbild der für die Kulturpolitik verantwortlichen Gruppen wider, als die Auswahl des für unsere Freunde in aller Welt bestimmten Buch‑, Bild- und Filmmaterials.“243 Hellmut Becker sprach in seinen Beiträgen am treffendsten die Wandlungen, die sich im Kulturdenken vollzogen, als historischen Umbruch an. Zugleich machte er darauf aufmerksam, dass sich dabei die deutsche Außenkulturpolitik „durch das Erbe des Nationalsozialismus und das sehr unterschiedliche Verhältnis der Welt zu diesem Erbe“ in besonders schwieriger Lage befinde. „Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass man in den hochindustrialisierten Ländern der freien Welt ebenso wie in den Ostblockstaaten immer wieder ein klares Abrücken von der Gesamtheit und den Einzeltaten des Nationalsozialismus vornehmen muß, wenn eine geistige Verständigung überhaupt erfolgen soll. Deutsche unterschätzen immer wieder, wie tief die Wunden sind, die das Dritte Reich gerade den im kulturellen Leben Stehenden in der ganzen Welt geschlagen hat. Die Abwendung vom Nationalsozialismus ist in Deutschland ein für allemal vollzogen. Sie muß aber in der Welt noch lange immer wieder dargestellt werden, weil das Bild des Schreckens, den Deutschland zu verantworten hat, nachhaltiger wirkt als der Eindruck, den das friedliche Deutschland gewährt.“244 Ohne die juristischen Verjährungsfragen im Bundestag und die von Schriftstellern und Journalisten ausgetragenen Diskussionen wäre allerdings der marginale Stellenwert des Nationalsozialismus im Denken über Außenkulturpolitik kaum revidiert worden. Den Auftakt bildete der Eichmann-Prozess, mit dem Israel 1961 die Weltöffentlichkeit im Hinblick auf die Judenverfolgungen aufweckte und deutsche Verantwortlichkeiten ins Zentrum rückte. Er fand zögernde Fortsetzung im Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1963–1965 nur dank der Zähigkeit des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer als erste große bundesdeutsche Selbstabrechnung mit diesen Verbrechen international wahrgenommen wurde. Die Resonanz wuchs mit den Bundestagsdebatten 1960, 1965, 1969 und 1979, die über die Verjährung dieser Verbrechen stattfanden und schließlich zur Aufhebung der Verjährung von Mordtaten führten. Wie stark die Verantwortlichen dem Verdacht entgegenzuarbeiten suchten, all 243 Winfried Böll, Die Stellung der Bundesrepublik in der Völkergemeinschaft, in: ebd., 70–78, hier 73. 244 Hellmut Becker, Außenpolitik und Kulturpolitik, in: ebd., 88–103, hier 97.

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das geschehe nur auf den Druck des Auslands hin, brachte der profilierteste Sprecher gegen die Verjährung, der CDU-Abgeordnete Ernst Benda 1965 mit den viel zitierten Worten zum Ausdruck, er verspüre nicht den Druck der Weltmeinung, er folge nur dem Druck der eigenen Überzeugung und des eigenen Gewissens. Als „Sternstunde des Parlaments“ deklariert, lieferte die Verjährungsdebatte 1965 mit ihren Äußerungen über Schuld- und Mitschuld einen überzeugenden Beweis dafür, dass sich das Land, zumindest seine demokratisch gewählte Vertretung, merkbar von seinem Vorgänger abhob, dessen Rechtsnachfolge es angetreten hatte. Damit vollzog sich, gewiss nicht ohne Druck des Auslands, besonders der Vereinigten Staaten und Israels, ein wichtiger Schritt zur Selbstlegitimierung dieses Staates, der zunächst als Provisorium in der Nachfolge des Dritten Reiches installiert worden war, aus der parlamentarischen und juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Wenngleich der Bundesrepublik kein Gründungsmythos auf den Weg gegeben worden war, hatte sie sich im Antikommunismus in enger Ausrichtung an die USA eine Art Ersatzlegitimierung ihrer Existenz verschafft, die ihren Eliten das Gefühl gab, sich nach der Entnazifizierung und den peinlichen Kriegsverbrecherprozessen vonseiten der Alliierten nicht mehr aktiv um die braune Vergangenheit kümmern zu müssen. In der Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus unter dem Begriff des Totalitarismus, der in den Schulen zum offiziellen Lehrplan gehörte, äußerte sich eine Form der Freisprechung von der NS-Vergangenheit, die sich durchaus mit der Selbstfreisprechung der DDR messen konnte. Allerdings genügte das nicht, um ebendiese DDR daran zu hindern, ebenfalls einen deutschen Staat in der Welt zu repräsentieren. Hier zwang die Regierung mit der Hallstein-Doktrin andere Länder dazu, sich nicht auf politische Beziehungen mit der DDR einzulassen, wenn sie nicht die – im Allgemeinen lukrativeren – Beziehungen zur Bundesrepublik gefährden wollten. Die Fragwürdigkeit dieser Doktrin äußerte sich darin, dass der westdeutsche Staat der DDR die Legitimität, Deutschland zu vertreten, ausgerechnet damit abstritt, dass er diese Legitimität als Nachfolgestaat des Nationalsozialismus allein repräsentiere. Es war eine durchwegs legalistische, darin symbolische Manifestation einer moralischen Fragwürdigkeit, die die Isolation des Landes bis in die sechziger Jahre verlängerte und die sich nicht zuletzt dadurch erhielt, dass ihr die DDR mit ihrer eigenen Alles-oder-nichts-Außenpolitik in die Hände arbeitete.245 Die Revision dieser Politik, als Vorstoß der SPD-FDP-Regierung neben der Aufforderung, mehr Demokratie zu wagen, geschichtlich geworden, führte 245 William Glenn Gray, Germany’s Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany, 1949– 1969. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2003.

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nach der Aufgabe der Hallstein-Doktrin 1967 zur Hinnahme – obgleich bis 1990 nicht zur rechtlichen Anerkennung – der Verluste des Zweiten Weltkrieges im Osten und der Bestätigung der Selbstständigkeit der DDR als Staat 1972. In diesem Zusammenhang kommt der Umgestaltung der auswärtigen Kulturpolitik nur sekundäre Bedeutung zu, jedoch nahm das, was ihre Urheber in den sechziger Jahren in Auslandsveranstaltungen, Memoranden, Parlamentsreden und internen Diskussionen Gestalt werden ließen, exemplarische Bedeutung für die Abkehr von der seit Jahrzehnten herrschenden Praxis an, mit Kultur die ästhetische Überhöhung des Machstaates zu inszenieren – auch noch lange nachdem dieser Machtstaat untergegangen war. Mit der Aufforderung, dass man sich von den traditionellen Praktiken lösen müsse, hoben Reformer ins Bewusstsein, dass etwa im Umgang mit Entwicklungsländern die Ausstellung nationalkultureller Errungenschaften keinerlei Eindruck mehr mache,246 vor allem aber dass der „Wildwuchs“ der kulturellen Auslandsbeziehungen auch das Resultat einer konzeptionslosen Inszenierung nationaler Identität darstelle, die sich noch aus dem „Flaggezeigen“ der Weimarer Republik und des Dritten Reiches nährte. Karl-Ernst Hüdepohl, einer der führenden Reformer mit langjähriger Erfahrung als Direktor eines Goethe-Instituts in Brasilien, machte deutlich, dass das Goethe-Institut alles vermeiden müsse, „was auch nur den Anschein einer Wiederaufnahme der alten und so katastrophal gescheiterten Volkstumspolitik hätte erwecken können“, auch wenn das von den deutschen „Kolonien“ mit Enttäuschung aufgenommen würde.247 Mit diesen Reformen wurde etwas verabschiedet, was Arnold Sywottek und Axel Schildt in ihrem bahnbrechenden Werk über die fünfziger Jahre auch auf sozial- und lebensgeschichtlicher Ebene im Rückbezug auf frühere Jahrzehnte gekennzeichnet haben: die nationale – nationalkulturelle – Überwölbung der Durchsetzung der hochindustriellen Gesellschaft mit ihren Modernisierungsschüben; hierbei waren ständig kulturelle Übersteigerungen und Beschwichtigungen eingesetzt, letztlich aber die wilhelminischen Staatsund Ordnungsstrukturen in zeitgemäßen Abwandlungen bis in die Adenauer-Ära weitergeführt worden. Verabschiedet wurde, nach seinem Rückzug in die Kulturverwaltung der neu-alten Ämter der Bundesrepublik, das Kulturmachtdenken, das im Ersten Weltkrieg die Mobilisierung der deutschen Gesellschaft überhöht und im Nationalsozialismus unter Ausschließung der gewichtigen Komponente von Juden, Sozialisten und Andersdenkenden erneut 246 Dieter Braun, Der Beitrag der deutschen Kulturinstitute zur Bildungshilfe, in: Kulturarbeit 18:7 (1966), 137–139. 247 Karl-Ernst Hüdepohl, Deutschtum und Kulturpolitik in Südamerika, in: Kulturarbeit 19:3 (1967), 45–47, hier 45.

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verfestigt hatte. „Verlaufsgeschichtlich betrachtet“, hat Sywottek provozierend konstatiert, „war die nationalsozialistische Kulturpolitik, die zusammenfassend als übersteigerte Pflege der nationalen Kulturtraditionen charakterisiert werden kann, erfolgreich. Es dauerte bis Ende der 50er Jahre, bis die 1933 ausgegrenzten Kulturleistungen der inzwischen internationalisierten ästhetischen ‚Moderne‘ im Bildungskanon der höheren Schulen und Universitäten Platz fanden.“248 Während in den fünfziger Jahren die Kulturleistungen der Weimarer Republik nur in dem Bedauern darüber ins öffentliche Bewusstsein zurückgebracht wurden, dass man derlei wegen der Barbarei des Nazismus nun entbehren müsse, rückten sie in den sechziger Jahren als Objekt einer intellektuellen Aufarbeitung ins Zentrum. Hierbei liefen Vermittlung und Verlebendigung stark über Emigranten und amerikanische Intellektuelle, von Adorno und Herbert Marcuse bis zu dem Max-Weber-Schüler Talcott Parsons, die sagen konnten, dass sie jene Moderne wieder in das Land zurückbrachten, von dem sie ausgegangen war. Was Gropius während der fünfziger Jahren in der weniger unterbrochenen visuellen Kultur einleitete, fand nach 1960 in Literatur, Film und Theater sowie, dank der Arbeit des Suhrkamp Verlages, generell in Sozialwissenschaft und „Theorie“ seine Fortsetzung: die Neukonstituierung einer Intelligenz, die sich nicht mehr innerhalb einer nationalkulturellen Hierarchisierung kultureller Werte als gesellschaftliche Kraft platzierte. In den folgenden Jahrzehnten widmete sie einen beträchtlichen Teil ihrer intellektuellen Energie der Analyse postnationaler Gesellschaften und kultureller Mehrfachidentitäten. Entnationalisierung war schließlich das Stichwort bei der Vorbereitung der international wichtigsten Veranstaltung, mit der die Bundesrepublik die Schatten des Dritten Reiches, die in den sechziger Jahren erneut markanter geworden waren, vor aller Welt bannen wollte. Die Olympischen Sommerspiele 1972 in München boten eine unwiederbringliche Gelegenheit, der Inszenierung des nationalen Machtstaates bei der Berliner Olympiade von 1936 das Bild eines modernen, friedlichen, demokratischen Deutschland entgegenzusetzen. Japan hatte mit der erfolgreichen Ausrichtung der Olympiade in Tokyo 1964 als völkerverbindendes Fest gezeigt, wie man einen neuen Geist des Landes mit Selbstbewusstsein demonstrieren konnte. Das Vorbereitungskomitee setzte alles daran, die Eröffnungsfeier unter Vermeidung aller nationalen, paramilitärischen Rituale zu einem, wie es hieß, heiteren Fest der Völker zu machen. Man wollte keine Nationalhymnen zum Einmarsch der Nationen, gab stattdessen dem Orchester Kurt Edelhagen freie Hand, eine Musik aus Folklore und Ever248 Arnold Sywottek, Wege in die 50er Jahre, in: Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, hg. von Axel Schildt und dems. Bonn: Dietz, 1993, 13–39, hier 29.

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greens zu spielen; erfand einen „Gruß der Jugend“, bei dem 2.800 Schulkinder mit Blumensträußen, Kränzen und Girlanden ins Stadion strömten, sich formierten und schließlich mit einem Rundtanz endeten; suchte das rigide Protokoll aufzuweichen, was das Internationale Olympische Komitee jedoch unterband. Bemerkenswerterweise war an diesen Maßnahmen, die von der internationalen Presse voll gewürdigt wurden, Guido von Mengden als Generalsekretär des bundesdeutschen Nationalen Olympischen Komitees führend beteiligt, der bereits 1936 Generalreferent des Reichssportführers gewesen war.249 Auch der Architekt Egon Eiermann, der dem Preisgericht für den Architekturwettbewerb vorstand, hatte einschlägige Erfahrungen bei Repräsentativveranstaltungen des Dritten Reiches gesammelt. Wiederum war es wie bei der Brüsseler Weltausstellung 1958 ein Werk modernistischer Architekturgestaltung, das das Image des neuen, nachnationalsozialistischen Deutschland erfolgreich formte. Das gelang mit der leichten, technisch bewundernswerten Modernität des lichtdurchlässigen Zeltdachs über dem Stadion, ein gegen den Monumentalismus gerichtetes Symbol, das auch im Ausland große Resonanz fand. Im italienischen Corriere Della Sera hieß es: „Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass die Deutschen sich gewandelt haben, das Stadion in München hat ihn geliefert.“250 Der Erfolg dieser Selbstdarstellung wurde am 5. September 1972 tragisch durchkreuzt, als palästinensische Terroristen auf israelische Sportler einen Anschlag verübten, der aufgrund der inkompetenten Befreiungsaktion deutscher Sicherheitskräfte auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck in einem Massaker endete. Alle elf israelischen Sportler kamen ums Leben, und die Reputation der heiteren Spiele wurde für immer von dem Vorwurf getrübt, dass die Bundesrepublik sich damit in einer Traumwelt der Machtvergessenheit befunden habe. Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass die neue Stellung inmitten der Völker nicht allein aus dem Kontrast zum nationalsozialistischen Gewaltstaat gewonnen werden konnte. Noch einen anderen Einschnitt markiert die Olympiade 1972, die die Chance lieferte, „der Weltöffentlichkeit das moderne Deutschland vorzustellen“, wie es Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 versprochen hatte. War sie auch dafür bestimmt, den Bruch mit dem politisch und kulturell auf die Nation ausgerichteten Deutschland zu besiegeln, verdankte sie doch ihr symbolisches Gesicht einer Tradition, die in diesem Deutschland seit der Jahr249 S. die umfassende Darstellung von Kay Schiller und Christopher Young, The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany. Berkeley: University of California Press, 2010, sowie Uta Andrea Balbier, „Der Welt das moderne Deutschland vorstellen“. Die Eröffnungsfeier der Spiele der XX. Olympiade in München 1972, in: Auswärtige Repräsentationen, 105–119. 250 Zit. nach ebd., 118.

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hundertwende gewachsen war und Modernität als Stil einer neuen Lebenskultur entwickelt hatte. Der Designer Otl Aicher, der sowohl die berühmten, von aller Welt übernommenen nicht sprachlichen Piktogramme der Spiele als auch deren visuelle Gesamtgestaltung entwarf, stand als Mitbegründer der Ulmer Hochschule für Gestaltung in der Werkbund- und Bauhaus-Tradition. Diese international gesinnte Tradition war von konservativen Kulturbürgern in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts bekämpft und von den Nationalsozialisten marginalisiert worden, hatte aber viele der Innovationen in Architektur und Produktkultur ermöglicht, die in den zwanziger Jahren das Signet des modernen Deutschland prägten. In der elegant einfachen Architektur und Ausstattung des deutschen Ausstellungspavillons in Brüssel 1958 hatte sie es vermocht, Assoziationen an den Monumentalismus des Dritten Reiches zu tilgen. In München wurde sie von Aichers Gesamtgestaltung zusammengebunden, die bis in die Wahl von Pastellfarben gegen die „Herrschaftsfarben“ von 1936, Schwarz, Weiß und Rot, den neuen unaggressiven Geist ausstrahlte. Ihr Einsatz bei dieser Veranstaltung beschloss aber auch ihre einprägsame und einflussreiche Funktion für den kulturellen Reformgeist seit der Nationalisierung der Kultur im Wilhelminismus. Die von ihr geförderte Tendenz, nationale Definitionen hinter sich zu lassen, holte sie schließlich in München ein: Was hier inszeniert wurde, war postnational gemeint und ging danach völlig im Internationalismus von Marketing und Konsumkultur auf.

Die große Zeit des internationalen Brückenbaus Hansgert Peisert, der vom Auswärtigen Amt berufene Gutachter, sprach 1970 noch vom „Bonner Aschenputtel“, als er dessen Kulturabteilung charakterisierte. Davon war in den zwei folgenden Jahrzehnten nicht mehr die Rede. Auswärtige Kulturpolitik, nun „zwischenstaatliche Kultur- und Gesellschaftspolitik“ genannt, erfuhr eine ungewohnte Aufwertung als Teil der Reformagenda, mit der die Brandt-Scheel-Regierung eine selbstbewusstere Partizipation der Bundesrepublik in der internationalen Arena anstrebte, die sie dann in den Verträgen mit der Sowjetunion, Polen und der DDR Gestalt werden ließ. Zunächst geriet der Ausbau der Kulturbeziehungen allerdings gerade gegenüber diesen Vertragspartnern ins Stocken, weil sie es ablehnten, Westberlin mit einzubeziehen. Anfang der achtziger Jahre eskalierte der Kalte Krieg sogar wieder und versetzte vor allem die deutsche Bevölkerung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs erneut in Furcht vor einem Atomkrieg. Damit ergaben sich neue Behinderungen und Einschränkungen der Kontakte, neues Misstrauen auf beiden Seiten über die jeweils verfolgten Absichten kultureller Projekte. In

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|  Nach 1945: Die ost- und westdeutschen Erben der Kulturmacht 32 Plakat des GoetheInstituts. Autor: Volker Matthies © Goethe-Institut e.V.

dieser Phase politischer Konfrontation aber hoben die von der KSZE-Schlussakte festgeschriebenen Abmachungen gerade den Kulturbereich als Kontaktbereich heraus und verlangten damit größeren Einfallsreichtum und mehr Risikobereitschaft auf diesem Feld ab. Umso mehr musste sich die Tragkraft der neuen intellektuellen Kontaktstrategien im grauen Alltag der Grenzziehungen erweisen. Das war mühsam, weckte aber die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Veränderungspotenzial von Kultur und sorgte für eine beträchtliche Finanzbasis zahlreicher Unternehmungen. Hauptadressaten der neuen Initiativen stellten neben den Entwicklungsländern ohnehin zunächst die nicht kommunistischen Länder dar, bei denen man dem neuen, weithin nur als Wirtschaftsmacht angesehenen Deutschland auch im Bereich kultureller, wissenschaftlicher und technischer Kontakte ein weniger einseitiges Profil verschaffen wollte. Ihren Einstand erlebte diese Agenda in großem Stil 1974 mit dem „Deutschen Monat“ in London, der einem ähnlichen „Monat“ zu Frankreich 1973 folgte und, wie Hans Schwab-Felisch anmerkte, durch Großbritanniens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft be-

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günstigt wurde. Schwab-Felisch, einer der einsichtsvollsten journalistischen Begleiter kultureller Außenpolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im Merkur, zeigte sich über den beträchtlichen, fast sensationellen Zulauf geradezu verblüfft. Er registrierte in London acht Ausstellungen, vier Konzerte, drei Theaterproduktionen, eine Filmwoche, dazu als Novum sehr unkonventionell präsentierte Dichterlesungen, Vorträge und Seminare. „Neu daran war der Versuch, ein derart breitgefächertes Angebot dem Gastland nicht im Alleingang und kostenlos vorzuführen, sondern es von vornherein mit in die Vorbereitungen einzubeziehen und das Programm nach dem Prinzip des kalkulierten Risikos aufzubauen. […] Nicht weniger als zehn britische Institutionen hatten sich in den ‚Deutschen Monat‘ eingeschaltet, darunter die Tate Gallery, wo ein großer Teil der Bestände der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalens zu sehen war, der Arts Council, das National Filmtheatre und das Institute of Contemporary Arts.“ Schwab-Felisch vergaß nicht, die Rechnung für ein solch kompliziertes Kulturfestival aufzustellen; mithilfe englischer Veranstalter kostete es ‚nur‘ 700.000  DM – im Vergleich benötigte das einmalige Gastspiel der Münchner Staatsoper in Tokio zweieinhalb Millionen. Immerhin zog die Kunstausstellung täglich 1.500 Besucher an; Filmvorführungen waren ausverkauft wie auch die Lesungen von Günter Grass und Siegfried Lenz; überwiegend junge Leute drängelten sich „in der Mall, wo Joseph Beuys mit Weste und Hut in der Ausstellung ‚Kunst und Gesellschaft‘ seine Theorien von der politischen Rolle der Kunst erläuterte, Klaus Staeck seine ironisch-dialektischen Wahlplakate ausstellte – Franz Joseph Strauß mit Schlachtemesser.“251 So weit Schwab-Felischs ermutigender Bericht, dem andere über ähnliche, weniger groß dimensionierte Veranstaltungen an anderen Orten folgten (die, wie er auch deutlich machte, nur einen Teil der „zwischenstaatlichen Kultur- und Gesellschaftspolitik“ darstellten). Die krasse Plakatsatire auf einen deutschen Minister „mit Schlachtemesser“ in ausländischer Umgebung war es allerdings, die dem „Deutschen Monat“ in London ein innerdeutsches Echo verschaffte, das wiederum Klaus Schulz, den Direktor des Goethe-Instituts, der das komplizierte Festival ausgehandelt hatte, verblüffte.252 Konservative Gegner der neuen partnerschaftlichen Kulturpolitik nutzten die Gelegenheit, dem Goethe-Institut als dem Vorreiter dieser Praxis auf politischer Ebene einen Zaum umzulegen, was einsichtige Stimmen in der Regierungskoalition verhinderten. Der lange verzögerte Rahmenvertrag zwischen Amt und Goethe-Institut 1976 legalisierte die Eigenverantwortung für 251 Hans Schwab-Felisch, Ein Höhepunkt und Reformabsichten. Zum Stand der auswärtigen Kulturpo� litik, in: Merkur 28 (1974), 1199–1202, hier 1199 f. 252 Wittek, Und das in Goethes Namen, 228.

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Programmgestaltung und Verwaltung beim Institut und vermied direkte Weisungsbefugnis, ließ aber Raum für Interventionen, die sowohl Amt wie Auslandsvertretungen in einigen breit publizierten, anderen unpublizierten Fällen wahrnahmen. Trotz der Feststellung eines latenten Grabenkriegs über die einer Demokratie gemäße Selbstdarstellung zählte Werner Link nur „wenige VetoFälle und nachtägliche Mißbilligungen in Beziehung zu der großen Gesamtzahl der Veranstaltungen (ca. 15 000 pro Jahr)“ und schloss, dass „die Ausnahmen die liberale Regel bestätigen.“253 Was Link nicht erwähnt, ist, dass über diesen Auseinandersetzungen um jene von (Bundes‑)Deutschen erst neuerlich erarbeiteten demokratischen Ausdrucksformen ein Schatten drohte, den das Amt als Teil des Kontrolldenkens nach Bedarf beschwören oder abberufen konnte: die Gefahr, dass mit allzu großer Selbstkritik der sozialistische Nachbarstaat auf den Plan gerufen werde, der sich ja bevorzugt als hellste Erscheinungsform der deutschen Kultur und Völkerfreundschaft präsentierte. Solche Beschwörungen entsprangen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre dem Kanzleramt selbst, wo Helmut Kohl, selbst mit konservativen Strategien zur Kräftigung des Nationalbewusstseins beschäftigt, dem Goethe-Institut eine ärgerliche Abweichung von solcher nationaler Aufbauarbeit unterstellte; es lag an dem liberalen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der in diesem Amt die Reformen der siebziger Jahre unterstützt hatte, Kohls Interventionen abzufangen. Als der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß 1986, von dem Präsidenten des Instituts, Klaus von Bismarck, eingeladen, die Gelegenheit dazu nutzte, den Versammelten des Goethe-Instituts die Leviten zu lesen, richtete sich das vor allem gegen Genscher, wie er danach selbst zugab. Strauß beließ es nicht bei dem oft gehörten Argument, dass die Goethe-Institute de facto „Günter-Grass-Institute“ seien, die ihre kulturpolitische Aufgabe darin sähen, im Ausland einseitig für die Opposition in der Bundesrepublik zu werben, sondern pries, wie sich Bismarck erinnert, „in pathetischen Worten die auswärtige Kulturpolitik der DDR, die es verstünde, ihr Land in leuchtenden Farben werbewirksam im Ausland darzustellen.“ Die Bundesrepublik leiste es sich, aus dem Etat des Auswärtigen Amtes die „internationale Kulturschickeria“ innerhalb und außerhalb Deutschlands zu finanzieren; demgegenüber hätten die Verantwortlichen der DDR die Rolle der Kultur in der internationalen Auseinandersetzung besser begriffen; jeder „Sieg“ der DDR auf dem „Feld“ der auswärtigen Kulturpolitik sei ein Erfolg des Kommunismus. Bismarck, ein verwaltungserfahrener und überzeugender Verteidiger der weltoffenen, partner253 Werner Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Schmidt 1974–1982, in: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  5/2: Republik im Wandel, hg. von Wolfgang Jäger. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1987, 275–432, hier 416.

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schaftlichen Kulturagenda, stimmte dem Gast in einigen seiner Feststellungen zu, kommentierte jedoch abschließend, Strauß’ „grundsätzliche Kritik sei aber ein ‚Witz‘ und könne sich nur auf mangelhafte Recherche und Vorurteile gründen.“254 Über diese eingefahrenen innerdeutschen Querelen hinaus ist erwähnenswert, dass Strauß noch ein anderes Beispiel als vorbildlich für die deutsche Außenkulturpolitik hinstellte: das PR-Konzept der französischen Kulturpolitik. Hiermit berief er ein Modell, das zweifellos lange Zeit, vom Kaiserreich angefangen, für deutsche Kulturpolitiker, die der Nation in der Welt die Geltung einer Kulturmacht verschaffen wollten, vorbildlich gewesen war und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder mit seiner zentralen Kulturverwaltung die Effektivität kontrollierter Werbe- und Propagandamaßnahmen im Ausland demonstrierte. Wie für Bewunderer und Nachahmer der französischen Konzeption generell lag für Strauß der Wert auswärtiger Kulturpolitik in der vom nationalen Interesse bestimmten Zielgerichtetheit, wobei er den immer noch berufenen, jedoch nach den Kolonialerfahrungen gebrochenen universalistischen Missionsgedanken Frankreichs aussparte. Diese Strategie hatte ihre Gefahren in der Hand deutscher Machthaber bedrückend deutlich gemacht. Klaus von Bismarcks unverblümte Ablehnung entsprach dem Denken der Reformer, die sich in einem langwierigen Prozess von diesem Denken getrennt hatten. Ihr Modell bildete eher die regierungsfinanzierte, organisatorisch aber unabhängige Institution des British Council, dessen innere Struktur Peter Pfeiffer, der Präsident des Goethe-Instituts 1963–1971, gemeinsam mit Dieter Braun Anfang der sechziger Jahre an Ort und Stelle erkundete. Sie wurde nicht übernommen, gab aber den deutschen Reformern, die auf den Ausbau regierungsunabhängiger Mittlerstrukturen zielten, Rückenwind. Entscheidend war die dadurch ermöglichte größere Flexibilität in der Umsetzung des erweiterten Kulturbegriffs, der schließlich die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik nach 1977 offiziell bestimmte. In einer Hinsicht rannte Strauß offene Türen ein: die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre von Kanzler Kohl selbst stärker geforderte Konzentration auf die deutsche Sprachlehre im Ausland. Sie hatte zehn Jahre zuvor einen programmatischen Anschub erhalten, war jedoch erst mit dem Regierungswechsel 1982/83 als Teil der Außenpolitik auch nominell und finanziell aufgewertet worden. Zentrale Bedeutung für diese Aufwertung kam dem steigenden 254 Die wörtlichen Zitate aus Klaus von Bismarck, Aufbruch aus Pommern. Erinnerungen und Perspek� tiven. Piper: München/Zürich, 1992, 321; die indirekten Feststellungen aus Strauß’ Grundsatzrede auf der Regionalbeauftragtenkonferenz des Goethe-Instituts am 12.6.1986 in München, zit. nach Schumacher, Das Ende der kulturellen Doppelrepräsentation, 7.

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Interesse für Deutsch im Schulwesen Mittel- und Osteuropas zu. „Dominierte am Beginn der Dekade die Klage über einen Rückgang der weltweiten Verbreitung von Deutsch, war es an deren Ende die Befriedigung über steigende Deutschlernerzahlen.“255 Hier setzte sich der Trend, der bis Ende der achtziger Jahre noch von Restriktionen der Ostblockstaaten gegen westdeutsche Organisationen gehemmt, jedoch von den Lektoren des Leipziger Herder-Instituts bedient und erweitert wurde, nach dem Fall der Mauer verstärkt durch. Damit entstand ein von der Kohl-Regierung zunächst mit vielen Ressourcen versehener Schwerpunkt der kulturellen Beziehungen mit den östlichen Nachbarländern und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In der Sprachförderung hatte Frankreich die höchsten Maßstäbe gesetzt. Dieser Teil der französischen Auslandskulturpolitik erhielt sich mit politisch und finanziell bedingten Schwankungen weitgehend auch durch die Reformen hindurch. Aber andere Elemente gelangten in den siebziger Jahren doch unter Beschuss. Die Regierung trennte sich von der Kulturpolitik, die, wie erwähnt, von de Gaulle und André Malraux 1959 mit dem Konzept kultureller Ausstrahlung und damit verbundenen Kulturhäusern im In-und Ausland geprägt worden war. Zur Erarbeitung einer Reform, die dann 1979 im „rapport Rigaud“ Ausdruck fand, trug das Bewusstsein bei, dass man sich mit Großbritannien und der Bundesrepublik im Wettbewerb befand und die inhaltliche Konzeption verbessern müsse. Kritisiert wurde, dass Frankreichs auswärtige Kulturpolitik von „Nationalegoismus und einem selbstgefälligen Kulturbewußtsein“ geprägt sei, „wobei allerdings der äußere Eindruck immer wieder durch eine durchscheinende Harmonie von persönlicher Bildung, politischem Willen und ökonomischer Kalkulation gemildert“ werde.256 Frankreich solle äußeren Einflüssen gegenüber offener werden – womit man aber nicht den amerikanischen Kulturimport meinte. Schlagwörter wie „interdependence des cultures“ und Partnerschaft wurden lanciert. All das sollte zu einer Umstrukturierung der interministeriellen Zusammenarbeit führen. Nur wenige der Vorlagen wurden in die Praxis umgesetzt; immerhin erreichte man mit dem „Projet Culturel Extérieur de la France“ 1983 die erste Formulierung einer kohärenten auswärtigen Kulturpolitik unter François Mitterand. Dem britischen und deutschen Vorge255 Axel Schneider, Die auswärtige Sprachpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Eine Untersuchung zur Förderung der deutschen Sprache in Mittel- und Osteuropa, in der Sowjetunion und in der GUS 1982 bis 1995. Bamberg: Colibri, 2000, 294. 256 Oskar Splett, Abschied von Europas Nabelschau. Frankreichs beispielhafte auswärtige Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Korrespondenz 23 (1980), 3–6, zit. nach Znined-Brand, Deutsche und fran� zösische auswärtige Kulturpolitik. Eine vergleichende Analyse. Das Beispiel der Goethe-Institute in Frankreich sowie der Instituts und Centres Culturels Français in Deutschland seit 1945. Frankfurt: Lang, 1999 64.

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hen war das französische Konzept in seiner klaren Assoziierung an ökonomische Interessen überlegen; die Zielgerichtetheit zahlte sich in der Verteidigung der französischen Kulturindustrie gegen die amerikanische Dominanz auf den Sektoren Kommunikation, Information und Film aus. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile des deutschen, auf Mittlerorganisationen aufgebauten Systems und dem breit vernetzten British Council fand der britische Forscher John M. Mitchell, dass die Reformen dem deutschen System Vorteile verschafft hätten. Zugleich konstatierte er zustimmend 1992: „Die Alexander von Humboldt-Stiftung, die Carl-Duisberg Gesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Entwicklung, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Goethe-Institut, das Institut für Auslandsbeziehungen, Inter Nationes und das Haus der Kulturen der Welt sind alles hochangesehene und in ihrer Kompetenz klar voneinander abgegrenzte Institutionen. In jeder Mittlerorganisation arbeiten Fachkundige, die nicht von einem Sachgebiet oder Posten regelmäßig auf einen neuen Arbeitsplatz versetzt werden müssen, wie das beim British Council der Fall ist, dessen Angestellte normalerweise auf eine lebenslange Laufbahn zählen, wofür sie verschiedene Berufserfahrungen sammeln sollen.“257 Wenn Mitchell anfügte, dass die deutschen Mittlerorganisationen „leichter frisches Blut und Spezialwissen importieren können“, berücksichtigte er allerdings nicht die Mängel der sozialen Absicherung in Nichtregierungsorganisationen, die das Personal, zumal in der Zwischenexistenz zwischen In- und Ausland, langfristig benachteiligten. Auf jeden Fall sei hier – und damit fasste er die Situation der achtziger Jahre zusammen, die sich nach der Wiedervereinigung zum Negativen wandelte – die öffentliche Diskussion auswärtiger Kulturpolitik (cultural diplomacy, cultural relations) animierter als in Großbritannien. Als bemerkenswert hob er den Mut und die Flexibilität der deutschen Organisationen bei der Hilfestellung gegen die Autoritäten verschiedener Gastländer hervor, etwa des verdienten Curt Meyer-Clason in Lissabon, der zur Zeit von Salazars Diktatur das Goethe-Institut dem Austausch portugiesischer Dissidenten mit deutschen Schriftstellern geöffnet habe, oder des Goethe-Instituts Athen, das in der Zeit der Militärdiktatur ähnlich stimulierend und schützend gewirkt habe. In der mit vielen Risiken verbundenen Funktion, neben dem deutschen Kultur- und Sprachangebot den einheimischen Dissidenten Freiräume für Diskussion, Vortrags-, Film-, Theater und Musikveranstaltungen bereitzustellen, erwarben sich die Goethe-Institute ebenfalls in Francos Spanien, vor allem dann unter den Militärdiktaturen in 257 John M. Mitchell, Die deutsche auswärtige Kulturpolitik seit Kriegsende aus britischer Sicht, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, H. 1 (1992), 118–128, hier 120; für einen internationalen Vergleich s. die Sektion „Akteure in Partnerländern“ in: Kultur und Außenpolitik, 281–320.

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Chile (Santiago) und Argentinien (Buenos Aires, Cordoba) besonderes Ansehen. Hier bewährte sich einmal mehr die relative Unabhängigkeit der Institute von den diplomatischen Hierarchien; einsatzfreudige Leiter und Ortskräfte vermochten dem Bild Deutschlands die oft nur rhetorisch beschworene Note eines demokratischen Staates, der sich für Freiheit und Menschenrechte wirklich engagierte, einzuzeichnen. Partnerschaftlichkeit verstand sich dabei von selbst, wobei eine wichtige Rolle spielte, dass die interne Organisation von der Zentrale in München relativ flexibel gehandhabt wurde. In Osteuropa konnten die Mittlerorganisationen und politischen Stiftungen, die in aller Welt Zugang zu wissenschaftlichen und kulturellen Organisationen fanden, trotz offizieller Kulturabkommen bis 1989/90 keine breitere Tätigkeit entfalten. Nach Belgrad (1970) und Bukarest (1979) kam es erst 1988 zur Eröffnung eines westdeutschen Kulturinstituts in Budapest, dem der Name Goethe-Institut zunächst wegen ostdeutscher Sensibilitäten verwehrt wurde. (Nach 1990 entstanden Goethe-Institute in Warschau, Prag, Moskau, Sofia, Krakau, Bratislava, Sarajewo, Zagreb, Ljubljana, Kiew, Minsk, Vilnius, Riga, Tallin und St. Petersburg.) Hans Arnold, der Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes zur Zeit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki, skizzierte einige der Probleme des anvisierten freien Informationsflusses und der Freizügigkeit im Personenaustausch anlässlich der Verabschiedung des „dritten Korbes“ 1975, der die Bereiche Information, Kultur, Bildung und Wissenschaft umfasste. Er hielt unter anderem fest, „dass vom Osten der westliche Begriff von kultureller und menschlicher Freiheit nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern nur sein Mißbrauch für gegen die eigene Ordnung gerichtete Zwecke angeprangert wird. Umgekehrt fällt es im Westen schwerer, mit einfachen oder groben Strichen das Bild vom Osten zu zeichnen, das gelegentlich ‚Feindbild‘ genannt wurde (wird).“258 Dennoch ging kein Weg daran vorbei, dass die sowjetische Seite – und mit ihr die SED – das Konzept der zwischenstaatlichen Gesellschaftspolitik als subtile Fortsetzung traditionell verfolgter auswärtiger Kulturpolitik und als „modifiziertes Konzept zur Realisierung der imperialistischen Doktrin von der Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen“ ansah. Es galt als subversiv, insbesondere mit der Delegierung an Mittlerorganisationen, weil diese „Entstaatlichung“ verhindere, dass der Staat für die Regelung von Konflikten im Kulturaustausch „haftbar“ gemacht werde.259 Trotzdem gelang es 1980, in 258 Hans Arnold, Auswärtige Kulturpolitik. Ein Überblick aus deutscher Sicht. München: Hanser, 1980. 74. 259 Diese Darlegung folgt Barbara Lippert, Auswärtige Kulturpolitik im Zeichen der Ostpolitik. Ver� handlungen mit Moskau 1969–1990. Münster: LIT, 1996, 187.

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Hamburg für die 35 Teilnehmerstaaten ein Wissenschaftsforum auszurichten. Mit der Eskalation des Kalten Krieges Anfang der achtziger Jahre kam den Kulturkontakten besonders prominente Funktion zu. So litt 1985 das große KSZE-Kulturforum in Budapest, auf dem beide Seiten einer Annäherung Ausdruck zu geben versuchten, unter zu viel ‚Offizialität‘. Immerhin gelang es Intellektuellen wie György Konrad, Susan Sontag und Hans Magnus Enzensberger, auf einem „Gegenforum“ freie Debatten über den Ost-West-Konflikt zu führen; west- und ostdeutsche Schriftsteller wie Günter Grass und Hermann Kant nutzten die Gelegenheit, sich gegenseitig Solidarität gegen die erneute Verschärfung des Kalten Krieges zu versichern. Der deutschen Öffentlichkeit war zu dieser Zeit eine ganz andere Begegnung mit dem Osten präsent: der zunehmende Strom deutscher Aussiedler aus diesen Ländern. Seit den siebziger Jahren engagierte sich die Bundesregierung, nachdem sie sich darum bemüht hatte, die deutschen Minderheiten in ihren angestammten Regionen zu halten, nachdrücklich an deren Emigration in die Bundesrepublik. Ihre kulturellen Leistungen gewannen als Dokumente größere Aufmerksamkeit.260 In seiner großen Darstellung über das Verhältnis der Deutschen zu Osteuropa hat der englische Historiker Timothy Garton Ash die „Rückwanderung“ deutscher Siedler aus der Sowjetunion und osteuropäischen Ländern als zentrales Element des Verhältnisses zu diesen Ländern markiert. Es nahm in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, dank der liberalen Asylgewährung durch die Bundesrepublik auch für Osteuropäer, russische Juden eingeschlossen, die Intensität einer Flut an. Die Gesamtzahl von Aussiedlern sprang von 40.000 im Jahr 1986 auf 87.000 ein Jahr später, dann über 200.000 (1988) und 377.055 (1989) bis auf 400.000 im Jahr der deutschen Wiedervereinigung 1990.261 Im Allgemeinen erfolgten die Kontakte zwischen Bundesrepublik und Osteuropa in dieser Phase auf dem Gebiet des Handels. Auf kulturellem Gebiet suchten die kommunistischen Regierungen, um die Zustimmung der Bevölkerung bemüht, die Ablehnung der Deutschen mit dem Feindbild Bundesrepublik am längsten aufrechtzuerhalten. Davon zeugte in den sechziger Jahren der berühmt gewordene Versöhnungsbrief polnischer Bischöfe, die, vom II. Vatikanischen Konzil und einer Denkschrift deutscher Protestanten ermutigt, den 260 S. die Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerkes, u. a. Deutsche Literatur im östlichen und südöstlichen Europa. Konzepte und Methoden der Geschichtsschreibung und Lexikographie, hg. von Eckhard Grunewald und Stefan Sienerth. München, 1997; Alexander Ritter, Deutsche Minderheitenliteraturen. Regionalliterarische und interkulturelle Perspektiven der Kritik. München, 2001. 261 Timothy Garton Ash, In Europe’s Name. Germany and the Divided Continent. New York: Random, 1993, 240.

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deutschen katholischen Amtskollegen ein Scheiben sandten, mit dem sie jenseits der Freundschaftsrituale mit der DDR-Regierung in die tieferen Gefilde von Schuld und Vergebung zielten. Darin standen die viel zitierten Sätze: „Die polnische Grenze an Oder und Neiße ist, und das verstehen wir gut, für die Deutschen eine ungeheuer bittere Frucht des letzten Krieges […] Für unser Vaterland, das aus dem letzten Krieg als Siegerstaat, aber in höchstem Maße geschwächt, hervorgegangen ist, ist dies eine Frage des weiteren Bestehens […] Aber trotzdem versuchen wir zu vergessen […] und aus den Bänken des zu Ende gehenden Konzils strecken wir Euch unsere Hände hin, wir vergeben und bitten um Vergebung.“262 Die Regierung von Wladyslaw Gomulka wies den Brief als Einmischung in die Politik zurück. Den Bischöfen wurde öffentlich vorgeworfen, sich mit dem letzten Satz des Verrats am Vaterland verdächtig gemacht zu haben. Umso enttäuschender muss für die Verfasser die matte Reaktion ihrer deutschen Glaubensbrüder gewesen sein. Mit der neuen Ostpolitik nahmen dann die Bundesregierungen unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl den von Brandt gesponnenen Faden einer offenen Versöhnungspolitik mit (anderen) polnischen Regierungen auf. Kohl schloss in seinen als Versöhnungsreise angelegten Aufenthalt in Polen 1989 eine gemeinsame Messe mit dem Solidarność-Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki in Kreisau ein, dem Ort des deutschen Widerstandes gegen Hitler, eine Veranstaltung, die er fünfzig Jahre nach Hitlers Überfall auf Polen in gewisser Korrespondenz zu Adenauers Aussöhnung mit de Gaulle in der Kathedrale von Reims anlegte. Allerdings schnitt dann der überraschende Fall der Berliner Mauer den letzten Teil der Reise ab.263 Am Tag vor Antritt der Fahrt beschloss der Bundestag die bis dahin am weitesten reichende Garantie, was den Bestand der polnischen Westgrenze anbelangte. Inzwischen hatten sich auch dank der KSZE-Lockerungen die kulturellen Barrieren gesenkt. Barthold Witte, Leiter der Kulturabteilung 1983–1991, fand sich in einer günstigeren Situation als Arnold.264 Auf der Basis nicht staatlicher deutsch-polnischer Gesellschaften konnten Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler in wachsender Zahl Besuchsreisen machen. Angefangen in Frankfurt am Main, fanden zwischen 1971 und 1980 insgesamt 27 Polnische Tage in bundesdeutschen Städten statt, 60 polnische Musikensembles gastierten zwi262 Zit. nach Kataryna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945–1990. Göttingen: Vanden� hoeck & Ruprecht, 2011, 132 f. 263 Ebd., 499–505. 264 Barthold C. Witte, Von der Freiheit des Geistes. Positionsbestimmungen eines Jahrzehnts. Sankt Au� gustin: Comdok, 1998; ders., Dialog über Grenzen. Beiträge zur auswärtigen Kulturpolitik. Pfullin� gen: Neske, 1988.

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schen 1970 und 1975. Städtepartnerschaften entstanden in großer Zahl.265 Derartige nicht staatliche Brücken ließen sich nur unter Schwierigkeiten mit der Sowjetunion bauen, die sehr viel stärker ‚ihre‘ Brücke nach Deutschland benutzte, die DDR, etwa im Lehreraustausch; der Deutschunterricht an den Schulen, der über zehn Millionen Lernende erfasste, bildete einen Teil des staatlichen Schulsystems. Vom Auswärtigen Amt nicht ermutigt, blieb dort die Präsenz westdeutscher Kultur-und Informationsangebote bis Ende der achtziger Jahre „verschwindend gering“.266 Besonders hohe Barrieren überschatteten die Beziehungen zu Israel. Hier versagte sich zunächst jede Form kultureller Kontaktaufnahme, zumal Westund Ostdeutsche bei ihrer Entwicklung guter – auch kultureller – Beziehungen mit arabischen Staaten keinerlei Sensibilität bewiesen, die DDR dem Staat bis 1988 sogar feindlich gegenübertrat. Ein Knesset-Beschluss von 1962 erlegte deutschen Unternehmungen scharfe Restriktionen auf, nach und nach aber ergaben sich neue Kontaktformen. Sie wurden 1971 bei einer ersten deutschen Kulturwoche auf die Probe gestellte, als die Bevölkerung scharf protestierte, da sie sich mit der Symbolik einer Eröffnung am 9. November, dem Tag des Pogroms der Reichskristallnacht 1938, nicht abfinden wollte.267 Die wichtigsten nicht staatliche Schienen bildeten die Etablierung von Städtepartnerschaften, wissenschaftlichen Kontakten sowie der Jugendaustausch, bei dem die Aktion Sühnezeichen der deutschen Jugendlichen das abgegriffene Motto der Wiedergutmachung am ehesten mit praktischem Engagement erfüllte. In den achtziger Jahren kam es zu regelmäßigen Konsultationen über den Kulturaustausch, danach zu größeren Aktivitäten des Goethe-Instituts Tel Aviv und 1994 sogar zur Einführung von Deutsch als Wahlfach an mehreren Schulen. Zu einem Kulturvertrag konnte sich die israelische Regierung nicht entschließen. Die kurioseste Gründung dieser Zeit internationaler Vernetzung soll hier zumindest erwähnt werden: die des Goethe-Instituts Peking als des einzigen ausländischen Kulturinstituts unter eigener Regie in China 1988. Dass die Gründung trotz des Misstrauens der chinesischen Regierung gegen selbstständige ausländische Kulturpolitik im Lande überhaupt geschah – wenn das Institut dann auch zunächst eine Durststrecke mit bloßer Sprachlehre durchmachen 265 Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945–1990, 371–377. 266 Lippert, Auswärtige Kulturpolitik im Zeichen der Ostpolitik, 553; vgl. Die deutsche Sprache in Russland. Geschichte, Gegenwart, Zukunftsperspektiven, hg. von Ulrich Ammon und Dirk Kemper. München: Iudicium, 2011. 267 Sebastian Josef Schwärzl, Die auswärtige deutsche Kultur- und Bildungspolitik in Israel unter beson� derer Berücksichtigung der Vermittlung eines realitätsnahen und differenzierten Deutschlandbildes vor dem Hintergrund der Schoah. Diplomarbeit an der Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg, 2007, 83.

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musste –, lag an Chinas Interesse, die Handelsbilanz mit der Bundesrepublik aufzubessern, aber auch an dem vom Gründungsdirektor Michael KahnAckermann überlieferten Startschuss: „Auf höchster politischer Ebene wurde die Gründung eines Goethe-Instituts in China zum ersten Mal vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem ersten Chinabesuch 1985 während eines Gesprächs mit Deng Xiaoping angesprochen. Der Legende nach soll Chinas großer alter Mann seine Einwilligung gegeben haben, ohne die geringste Vorstellung davon zu besitzen, was ein Goethe-Institut ist oder tut.“ 268 Kultur als Pfand bzw. Handelsobjekt hat ihre eigene Dynamik; nicht nur hier vermochte sie ihren eigenen Nutzen daraus zu ziehen, der schließlich dem Aufblühen des Deutschunterrichts und der Germanistik in China in großem Maße zugutekam. Bereits die Durchsetzung eines politischen Modus Vivendi mit dem Osten durch Brandts Ostpolitik machten Begriff und Praxis von Internationalität in der Kulturpolitik zu einem neuen Thema. Von der Gewohnheit, Internationalität als Geschenk des Westens für sich zu reklamieren, ging man dazu über, sie als eine Option geistiger Selbstdarstellung zu thematisieren, die mit der Anerkennung des östlichen Deutschland auch die Selbstanerkennung der Bundesrepublik verband. Diese Thematisierung des Internationalismus gipfelte 1980 in dem von der Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Hildegard Hamm-Brücher, einberufenen Symposium „Internationale Kulturbeziehungen. Brücke über Grenzen“.269 Mit Teilnehmern aus 54 Ländern auf die Diskussion der Zusammenarbeit angelegt, bestätigte die Zusammenkunft in Bonn die Richtung der Reformen und ließ keinen Zweifel daran, dass sie vor allem der Arbeit mit den Entwicklungsländern zugutekämen. Viele der öffentlichen Auseinandersetzungen über Sinn und Zweck der Außenkulturpolitik richteten sich zu dieser Zeit ebenso auf das internationale Engagement wie auf ihre Bedeutung für die deutsche Gesellschaft. HammBrücher formulierte das in direktem Bezug auf Bethmann Hollwegs Worte von 1913: „Ich bin von der Wichtigkeit, ja Notwendigkeit unserer Auswärtigen Kulturpolitik überzeugt. Aber wir sind noch nicht so weit. Wir sind unserer Kultur, unseres inneren Wesens […] nicht sicher und bewußt genug.“ HammBrüchers Kommentar: „Daran hat sich seither offenbar nichts Wesentliches geändert.“ Summiert man die in den siebziger und achtziger Jahren immer 268 Michael Kahn-Ackermann, Über die Schwierigkeit, einzigartig zu sein. Der Sonderfall China, in: Murnau Manila Minsk, 90–92, hier 90; Kathe, Kulturpolitik um jeden Preis, 354–356. 269 Dokumente zum Symposium 80. Internationale Kulturbeziehungen. Brücke über Grenzen. Hand� buch für internationale Zusammenarbeit. Baden-Baden: Nomos, 1980; Internationale Kulturbezie� hungen, Brücke über Grenzen. Symposium 80, hg. von Dieter Danckwortt. Baden-Baden: Nomos, 1980.

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wieder geäußerten Zweifel über deutsche Kultur, muss man ihrer Skepsis wohl recht geben, darf allerdings nicht auslassen, was dieser Verunsicherung vorausging: die systematische Indienstnahme deutscher Kultur für die Expansion des Reiches. Dazu gehörte, dass bereits ein Jahr nach Bethmann Hollwegs Brief an Karl Lamprecht der Erste Weltkrieg, den er mitverantwortete, als ein Kulturkrieg begann, der die europäische Kultur von ihrer Höhe herabriss. Als Antwort auf die Worte über die kulturelle Unsicherheit der Deutschen schrieb HammBrücher 1978: „Gerade die kulturelle Auslandsarbeit könnte hier die große Chance bieten, den nötigen Abstand zu unserer ‚inneren Unsicherheit‘ und zu den unfruchtbaren innerkulturellen Grabenkämpfen zu gewinnen. Aus der unbefangenen Begegnung mit den vielfältigen kulturellen Reichtümern und Weisheiten, die andere Völker hervorgebracht haben, können wir neuen Mut schöpfen und neue Impulse für die Entfaltung der eigenen kulturellen Kräfte sammeln. Mag die außenkulturpolitische Erfahrung vom ‚freudigen Geben und Nehmen‘ [Theodor Heuss] zunächst nur eine individuelle sein – sie könnte durchaus auch zu einer kollektiven Erfahrung werden, wenn wir konsequent und möglichst alle Bereiche umfassend auf Gegenseitigkeit, Austausch und Partnerschaft bestehen.“270 Die Option blieb offen, ihre Kraft schwächte sich aber bald ab.271 Sie fand ihre eindrucksvollste Ausprägung dort, wo Internationalität aus der selbstbewussten Präsentation einer demokratischen Gesellschaft heraus praktiziert wurde, das heißt, wo sich Kulturpolitik nicht mehr als Kompensation oder ästhetische Überhöhung einer fragwürdigen Politik verstand, sondern als geistiger, wissenschaftlicher, ökonomischer Brückenschlag einer offenen Gesellschaft über die staatlichen Grenzen hinweg. Solange damit für das Ausland ein Gegenbild zu dem nationalistischen und nationalsozialistischen Deutschland der früheren Jahrzehnte aufgestellt und die Problematik der Nachfolge des Dritten Reiches reflektiert werden konnte, gewann in vielen Programmen und Projekten, zumal der Goethe-Institute an verschiedenen Orten der Welt, so etwas wie eine Mission ihren Ausdruck. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Zweistaatlichkeit verlor diese Mission als entscheidenden Antrieb den Rechtfertigungszwang gegenüber dem anderen Deutschland, ganz abgesehen vom Verlust der langfristigen finanziellen Absicherung. Mit Ausnahme der 270 Hildegard Hamm-Brücher, Geben und Nehmen – Prinzipien der Auswärtigen Kulturpolitik (Frank� furter Allgemeine Zeitung, 17.1.1978), in: dies., Kulturbeziehungen weltweit. Ein Werkstattbericht zur Auswärtigen Kulturpolitik. München: Hanser, 1980, 30. 271 Über die Stagnation auswärtiger Kulturpolitik in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre sowie die Enttäuschung von Kulturpolitikern über das Ausbleiben neuer Impulse in den Jahren nach der Wie� dervereinigung s. Freund oder Fratze? Das Bild von Deutschland in der Welt und die Aufgaben der Kulturpolitik, 1994.

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diesmal sehr überlegten und professionellen Präsentation des vereinigten Deutschland in Goethe-Instituten in Mittel- und Osteuropa, deren Aufbau bis Mitte der neunziger Jahre dauerte, verlor sich das Engagement bald in der Routine der zwischenstaatlichen Kommunikation. Als bedeutsamste Mission, die keine Kulturpolitik darstellte, wohl aber kulturpolitische Konsequenzen zeitigte, stellte sich dem vereinigten Deutschland die Aufgabe, das Gedenken an die ermordeten Juden Europas in das Fundament des neuen gesamtdeutschen Staates einzubauen. Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin. Es war Abschluss und Neubeginn zugleich. Dieses „zugleich“ ist die eigentliche Herausforderung an Historiker, die sich gern an Abschlüssen orientieren. Das gilt auch hier. Aber die vorangehenden Kapitel über die kulturelle Überhöhung der auf Größe und Expansion der deutschen Nation gemünzten Politik des Reiches im 20. Jahrhundert sollten klargemacht haben, weshalb man bei der Wiedervereinigung 1990 auf eine entscheidende Komponente verzichtete: auf die Agenda einer nun wieder geeinigten und gestärkten Nationalkultur als Basis für einen neuen (alten) Gründungsmythos. Noch weniger war von einer Kulturmacht die Rede. Trotzdem vertritt, verhandelt und fördert dieses Land deutsche Kultur und Sprache in Wechselwirkung mit dem Ausland relativ selbstbewusst. Neue Impulse, den Begriff deutscher Kultur von seiner nationalen Verengung zu befreien, berühren sich, erst zögernd wahrgenommen, mit einem früheren Verständnis dieser Kultur als eines heterogenen, durch gemeinsame Sprache und Geschichte geprägten Phänomens, einem Verständnis, das sich weit über das 19. Jahrhundert hinaus, zumal außerhalb des Deutschen Reiches, erhielt und das nie ganz verschwand. Dieses Verständnis hält für den Kulturbegriff der sich wandelnden deutschen Gesellschaft wichtige Anknüpfungen bereit. Schon Helmuth Plessner hat in den dreißiger Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die deutsche Geschichte dank ihrer föderalen Rahmenbedingungen immer schon vornational oder nachnational zugleich sei.272 Das hilft dabei, diese Kultur in ihren Schwankungen und nationalen Exzessen zu verstehen, sie aber auch als aktiven Gestaltungsfaktor für die Verflechtung des Landes im zukünftigen „Geben und Nehmen“ der Welt zu nutzen.

272 Reinhard Koselleck hat Helmuth Plessners Konzept von Deutschland als „verspäteter Nation“ zu Recht abgelehnt, wohl aber dessen Feststellung zugestimmt, die deutsche Geschichte sei, dank ihrer föderalen Rahmenbedingungen, „immer schon vornational oder nachnational zugleich“. Reinhard Koselleck, Zeitschichten. Frankfurt: Suhrkamp, 2000, 359–379.

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Personenregister Abd ul-Hamid II. 70 Abetz, Otto 390, 471, 504, 505, 506, 507, 514, 515, 516, 544 Abusch, Alexander 618 Achenbach, Ernst 507 Acito, Alfredo 548 Addams, Jane 498 Added, Serge 510 Adenauer, Konrad 403, 410, 411, 430, 574, 575, 577, 578, 579, 610, 611, 629, 631, 636, 642, 643, 644, 648, 650, 654, 660, 661, 692, 696, 708 Adler, H. G. 175, 176 Adler, Victor 230 Adorno, Theodor W. 454, 489, 580, 656, 697 Ahad Ha-am 177 Aicher, Otl 699 Albers, Josef 485 Alexander II. 132 Alexander III. 132 Algren, Nelson 639 Altenstein, Karl vom Stein zum 351 Althoff, Friedrich 65, 66, 67, 86, 87, 90, 92, 93, 94, 97, 98, 107, 108, 350, 351, 362 Altman, Nathan 347 Altwegg, Jürg 512 Améry, Jean 492 Amitai 261 Ammende, Ewald 365, 367 Andersch, Alfred 589, 644 Andrian, Leopold von 272 Angell, Norman 498 Arafat, Yasir 675 Aragon, Louis 510, 511 Archipenko, Alexander 347 Arnhold, Eduard 320, 481 Arnold, Hans 706, 708 Aron, Raymond 413, 414 Arp, Hans 228

Ash, Timothy Garton 707 Auden, W. H. 344 Auerbach, Berthold 156 Augstein, Rudolf 651 Avenarius, Ferdinand 52, 183 Bab, Julius 361 Badeni, Kasimir Graf 158, 159, 167 Baeck, Leo 152, 153, 176, 177, 178, 599 Bahr, Hermann 230 Balázs, Béla 350 Balfour, Arthur James 256, 257, 258, 261 Ball, Hugo 228 Ballin, Albert 260 Barbie, Klaus 676 Barlach, Ernst 319, 439, 641, 654 Barnes, Harry Elmer 338 Barnowsky, Victor 245 Baron, Erich 410 Barr, Alfred H. 399 Bartels, Adolf 29 Barthes, Roland 512 Baselitz, Georg 686 Bauer, Catherine 398 Bauer, Fritz 694 Bauer, Gustav 294 Bauer, Otto 358, 564 Baumeister, Willi 485 Bäumer, Gertrud 301, 408 Baum, Vicky 485 Bayer, Herbert 397 Beauvoir, Simone de 511, 639, 644 Becher, Johannes R. 571, 574, 586, 587, 614, 616 Becker, Carl Heinrich 99, 254, 293, 294, 295, 296, 300, 351, 352, 354, 382, 384, 386, 387, 388, 391, 405, 407, 440, 463, 513, 530, 574, 577, 583 Becker, Hellmut 693, 694 Becker, Jacques 518 Beck, Józef 473, 474

Personenregister  |

Beckmann, Max 269, 641 Beethoven, Ludwig van 48, 69, 89, 186, 485, 560, 567 Behne, Adolf 290, 346 Behrens, Peter 22, 23, 27, 31, 119, 120, 190, 299 Belling, Rudolf 346 Belyi, Andrej 348 Benda, Ernst 695 Bender, Peter 675 Benjamin, Walter 121, 424, 588 Benn, Gottfried 269, 439, 440 Berdjajew, Nikolai 348 Bergmann, Alfred 418 Bergmann-Pohl, Sabine 675 Bergson, Henri 189, 332 Bergstraesser, Arnold 392, 393, 435, 530, 579 Bernanos, Georges 510 Bernhard, Georg 491 Bernhardi, Friedrich von 191 Bernhard, Thomas 601, 679 Bernstorff, Johann-Heinrich von 210, 211 Bersarin, Nikolai 570 Bertaux, Felix 503 Bertkau, Friedrich 275 Beseler, Hans Hartwig von 272 Best, Werner 516 Besymenski, Lew 664, 665 Bethmann Hollweg, Theobald von 12, 39, 41, 80, 81, 109, 110, 111, 112, 113, 187, 202, 211, 216, 232, 267, 268, 271, 273, 710, 711 Beumelburg, Werner 496 Beuys, Joseph 701 Bieneck, Horst 601 Biermann, Wolf 685 Binding, Rudolf G. 436, 437, 442 Bintz, Walther 245 Birley, Robert 633 Birot, Pierre Albert 228 Bismarck, Klaus von 601, 683, 702, 703 Bismarck, Otto von 10, 12, 13, 15, 24, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 45, 46, 50, 51, 53, 68,

75, 76, 88, 113, 123, 125, 129, 137, 139, 140, 141, 143, 145, 147, 150, 154, 162, 166, 216, 229, 293, 306, 316, 337, 369, 418, 430, 463, 560, 573 Blanchot, Maurice 512 Bledstein, Burton J. 103, 104 Blei, Franz 354 Bleyer, Jakob 371 Bloch, Ernst 437, 470, 476 Bloch, Marc 509 Blum, Léon 503 Blunck, Hans Friedrich 442 Boas, Franz 329 Bobrowski, Johannes 601 Bock, Hans Manfred 382 Bock, Siegfried 674 Bodenheimer, Max 262 Boelitz, Otto 408 Bohle, Ernst Wilhelm 456, 460, 461 Böhm, Adolf 176 Böhm, Franz 629 Böhm, Karl 624 Boje, Walter 408 Böll, Heinrich 601, 602, 651, 669 Böll, Winfried 669, 693 Bömer, Karl 393 Bonnard, Abel 548 Bonnet, Henri 407 Borchardt, Rudolf 480 Born, Max 611 Bosch, Robert 414 Bottai, Giuseppe 486, 487 Bouhler, Philipp 456 Bourdieu, Pierre 468 Bourne, Randolph 213, 249, 250, 251 Bracher, Karl Dietrich 115 Brandsch, Rudolf 365 Brandt, Otto 305, 340 Brandt, Willi 498, 499, 652, 681, 683, 690, 692, 698, 699, 708, 710 Braque, Georges 321, 322 Brasillach, Robert 512, 513, 516, 548 Brauer, Max 585 Braun, Dieter 693, 703

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Braun, Friedrich 346 Brecht, Bertolt 348, 353, 437, 494, 496, 587 Breckinridge Long, Samuel Miller 450 Breitenbach, Josef 501 Breker, Arno 458, 519 Brentano, Heinrich von 575 Brentano, Lujo 66 Bresson, Robert 518 Breuer, Marcel 349, 397 Briand, Aristide 340, 385 Brochard, Leo 570 Broch, Hermann 160, 161, 233 Brock, Clutton 239 Brockdorff-Rantzau, Ulrich von 342 Brod, Max 229 Bruckner, Ferdinand 494 Brueckner, Aleksander 532 Bryce, James 106 Buber, Martin 177, 261 Buck, Otto 186 Bülow, Bernhard Fürst von 39, 41, 88, 154, 260 Bülow, Bernhard Wilhelm von 335, 336 Bunin, Ivan 496 Bürckel, Josef 566 Burmeister, Wilhelm 457, 463, 525 Burrin, Philippe 517 Busch, Adolf 485 Busch, Adolphus 75 Busch, Fritz 485 Butenandt, Adolf 499 Butler, Nicholas Murray 416 Camus, Albert 511, 644 Canetti, Elias 354 Čapek, Karel 353 Caprivi, Leo von 76 Carducci, Giosuè 63 Carlyle, Thomas 454 Carnegie, Andrew 108 Carnés, Marcel 518 Caro, Emile 45, 187 Carossa, Hans 547 Casarès, Maria 518

Caspar, Karl 654 Ceauŗescu, Nicolae 672 Céline, Louis-Ferdinand 510 Cézanne, Paul 31 Chamberlain, Joseph Austen 340 Chamberlain, Neville 477, 478 Chaplin, Charlie 403 Chardonne, Jacques 548 Chateaubriand, Assis 330 Chevalier, Maurice 511 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 620, 687 Claß, Heinrich 217 Clay, Lucius D. 624, 641, 658 Clemens, Gabriele 634 Clouzot, Henri-Georges 518 Coenen, Günter 684 Cohen, Hermann 179 Colette 511 Conant, James B. 631 Conzen, Kathleen 130 Corinth, Lovis 19, 319 Coubertin, Pierre de 83 Coudenhove-Kalergi, Richard Graf 385 Courbet, Gustave 31 Cousin, Victor 58 Creel, George 213, 622 Croce, Benedetto 63, 446, 447, 454, 480, 484, 489 Csaki, Richard 461, 462 Curtius, Ernst Robert 384, 407, 631 Curtius, Julius 386 Dahm, Volker 439, 440, 451 Dahrendorf, Gustav 571 Dahrendorf, Ralf 691 Daladier, Édouard 501, 504 Dalmier, Albert 240 Dana, John Cotton 101, 102 Dante Alighieri 480, 630 d’Arezzo, Maria 228 Darquier, Louis 676 Darwin, Charles 292 Däumig, Ernst 291, 296 Dawes, Charles Gates 339

Personenregister  |

Debye, Peter 469 De Felice, Renzo 677 De Gasperi, Alcide 650 Dehio, Georg 66 Dehmel, Richard 231, 275 Delbrück, Hans 71, 198 Deleuze, Gilles 169 Demuth, Fritz 466, 467 Deng Xiaoping 710 Dernburg, Bernhard 243 D’Este, Nicola 486 Deuerlein, Ernst 50 Dewey, John 213, 249 Diaghilew, Serge 197 Diederichs, Eugen 253 Diels, Hermann 285 Digeon, Claude 56 Dimitroff, Georgi 571 Diner, Dan 366 Dmitreva, Marina 620 Döblin, Alfred 410, 437, 485, 496, 587, 640, 641 Doderer, Heimito von 354 Doesburg, Theo van 347, 349 Dollfuß, Engelbert 358, 385, 563 Domagk, Gerhard 499 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 197, 198, 202, 349, 616 Draeger, Hans 415 Dreyfus, Alfred 61, 178, 181 Drieu la Rochelle, Pierre 512, 516, 548 Du Bois-Reymond, Emil 90 DuBois, W. E. B. 469 Duggan, Stephan 414 Duhem, Pierre 282, 283 Duisberg, Carl 388 Duncker, Hermann 590 Duroselles, Jean-Baptiste 692 Düwell, Kurt 42 Dymschitz, Alexander 614, 615, 639 Ebert, Friedrich 292, 314, 315, 316, 418, 509 Ebner-Eschenbach, Marie von 156 Edelhagen, Kurt 697

Edschmid, Kasimir 299, 589 Eggebrecht, Axel 590 Egli, Karl 244 Ehrenburg, Ilja 615 Ehrenfreund, Jacques 180, 181 Ehrlich, Eugen 264, 265 Eich, Günter 589 Eichmann, Adolf 694 Eiermann, Egon 659, 698 Einstein, Albert 186, 331, 332, 333, 400, 410, 414, 467, 480, 498, 604, 605 Einstein, Carl 269 Eisenhower, Dwight D. 626 Eisenman, Peter 593 Eisenstein, Sergej 402, 403 Eisner, Kurt 297 Elias, Norbert 144 Eliot, T. S. 636 Eluard, Paul 510 Engels, Friedrich 126, 292 Enzensberger, Hans Magnus 651, 707 Epting, Karl 389, 427, 472, 505, 507, 508, 516, 517 Erhard, Ludwig 575, 651 Erkelenz, Anton 414 Ermatinger, Emil 494 Ernst Ludwig (Großherzog) 27, 77 Erpenbeck, Fritz 571 Erzberger, Matthias 243, 294 Eschmann, Ernst Wilhelm 530 Eucken, Rudolf 192 Eulenberg, Herbert 275 Eyck, Jan van 559 Fabre-Luce, Alfred 437, 513, 521 Fahlbusch, Michael 528 Falkenhausen, Ludwig von 261, 262 Falkenhayn, Erich von 273, 552 Farinelli, Arturo 548 Fay, Sidney 338 Feist, Manfred 667 Fellner, Fritz 356 Fernandez, Ramon 548 Feuchtwanger, Lion 485, 508 Fichte, Johann Gottlieb 48, 292, 487

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Fischer, Eugen 516 Fischer, Karl 95 Fischer, Klaus 523 Flake, Otto 269 Flasch, Kurt 202 Flechtheim, Alfred 321 Flex, Walter 226 Flitner, Wilhelm 488 Foerster, Friedrich Wilhelm 324, 360 Foerster, Wilhelm 186 Fogarasi, Béla 350 Fontane, Theodor 150, 602 Forst, Willi 560 Foucault, Michel 512 Fourcard, Louis de 82, 165 Fox, Robert 85 Fradkin, Ilja 614 Fraigneau, André 548 Francke, Kuno 75 Franck, James 467, 604 Franco, Francisco 424, 609, 705 François-Poncet, André 641 Franke, Otto 44 Frank, Hans 554, 555 Frank, Josef 357, 358 Frank, Leonhard 485, 496 Frank, Robert 645 Frantz, Constantin 216 Franz Ferdinand von Österreich-Este 229 Franz Joseph I. 59, 161, 229, 264 Franzos, Karl Emil 174 Frenssen, Gustav 414 Frentz, Hans 275 Freud, Sigmund 480, 588 Freundlich, Herbert 467 Freyer, Hans 533 Freytag, Gustav 146, 147, 150, 201, 273 Freytag, Hans 336, 374, 377, 386 Frick, Wilhelm 546 Friedemann, Adolf 262 Friedensburg, Ferdinand 571 Friedjung, Heinrich 232 Friedman, Milton 513 Friedrich II. der Große 75, 153

Frisch, Max 605 Frischmuth, Barbara 601 Fry, Varian 508 Fulda, Ludwig 186 Furtwängler, Wilhelm 447, 458, 459, 460, 476, 477, 571, 624 Fussell, Paul 226, 227 Gabaccia, Donna 138 Gabo, Naum 347 Gábor, Andor 350 Gadamer, Hans-Georg 516, 533 Gardiner, Rolf 391 Gauguin, Paul 641 Gaulle, Charles de 637, 639, 643, 644, 645, 676, 681, 704, 708 Gay, Peter 350 Geiser, Alfred 207 Genet, Jean 511 Genscher, Hans-Dietrich 702 Gentile, Giovanni 411 George, Heinrich 519 George, Stefan 393 Gerlach, Hellmuth von 498 Gide, André 510 Gilman, Daniel Coit 104 Giménez Caballero, Ernesto 548 Giono, Jean 548 Giraudoux, Jean 339 Gley, Émile 283 Glum, Friedrich 468 Goebbels, Joseph 12, 401, 421, 422, 428, 432, 433, 436, 438, 440, 442, 443, 445, 450, 451, 456, 457, 458, 459, 460, 463, 465, 471, 473, 474, 477, 479, 486, 490, 495, 496, 500, 506, 517, 518, 519, 524, 534, 536, 537, 538, 539, 541, 542, 543, 545, 546, 548, 561, 566, 567, 569, 588, 615 Goethe, Johann Wolfgang von 45, 69, 89, 158, 173, 174, 186, 224, 264, 292, 315, 348, 359, 379, 383, 413, 418, 446, 454, 479, 485, 517, 558, 572, 588, 612, 615, 630, 631, 656, 688 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 132

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Goldmann, Nahum 268, 655 Goldschmidt, Richard 467, 604 Goldstein, Moritz 183, 184, 452, 453, 454 Gollancz, Victor 633 Gomulka, Wladyslaw 708 Gorbatschow, Michail 664, 675 Göring, Hermann 456, 498, 505, 515, 558 Gorschkow, Viktor Iwanowitsch 668 Graf, Oskar Maria 470 Gramsci, Antonio 424 Grasset, Joseph 283 Grass, Günter 601, 602, 651, 701, 702, 707 Grassi, Ernesto 487, 488 Grautoff, Otto 382 Grävenitz, Kurtfritz von 577 Grémillons, Jean 518 Greven, Alfred 518 Grewe, Wilhelm 530 Grey, Edward 189 Grillparzer, Franz 158, 233 Grimme, Adolf 405 Grimm, Friedrich 507 Gronemann, Sammy 275, 276 Gropius, Walter 117, 120, 290, 318, 322, 346, 349, 391, 396, 397, 398, 399, 403, 404, 650, 658, 659, 697 Grosser, Alfred 643, 651 Grosz, George 228 Grotewohl, Otto 594 Grothe, Hugo 218 Gründgens, Gustav 570 Grünspan (Grynszpan), Herschel 450 Grzesinski, Albert 370 Guattari, Felix 169 Gumbel, Emil Julius 393, 525 Gürster, Eugen 579 Haas, Willy 353 Habe, Hans 615 Haber, Fritz 186, 284, 327, 332, 333, 391, 400, 412, 467 Haeckel, Ernst 191 Haenisch, Konrad 254, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 316, 332, 352, 577 Haffner, Sebastian 448

Hahn, Otto 499, 603, 604, 607, 608, 611 Halbe, Max 555 Haldane, Richard 95 Hale, George Ellery 284 Hallstein, Walter 668, 683, 695, 696 Hammann, Otto 41 Hamm-Brücher, Hildegard 710, 711 Hamsun, Knut 499, 548 Handke, Peter 601 Handl, Willy 361 Hanfstaengl, Eberhard 457, 458 Hanisch, Ernst 166, 561, 562 Harding, Warren G. 414 Harich, Wolfgang 618 Härlen, Hasso 532 Harnack, Adolf von 93, 97, 103, 106, 107, 185, 186, 325, 351 Hašek, Jaroslav 353 Hasenclever, Walter 116 Hasselblatt, Werner 366 Hassell, Ulrich von 481 Hauptmann, Gerhart 20, 186, 231, 519, 615 Hausenstein, Wilhelm 268, 579, 589, 642, 648 Haushofer, Albrecht 461, 588 Haushofer, Karl 387, 461, 462 Hausmann, Frank-Rutger 531, 533, 548, 549 Havemann, Robert 608 Hayek, Friedrich 513 Heartfield, John 491 Hebel, Johann Peter 222 Heckel, Erich 269, 654 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 485, 487 Heidegger, Martin 435, 511, 512, 644 Heilbron, Friedrich 113, 302, 304, 308, 312, 336 Heine, Heinrich 175, 503 Heinrich von Preußen, Prinz Albert Wilhelm 107 Heisenberg, Werner 607, 610, 611 Heisig, Bernhard 686 Heller, Gerhard 506, 510, 511

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Helmholtz, Hermann 89 Herbert, Ulrich 11 Herder, Johann Gottfried 275, 384 Herrnstadt, Rudolf 617, 618 Hertz, Henriette 320, 481 Herz, Henriette 174 Herzl, Theodor 176 Herzog, Wilhelm 171, 197 Hess, Rudolf 460, 462 Heuss, Theodor 9, 24, 236, 238, 306, 311, 317, 338, 365, 631, 653, 654, 655, 656, 657, 658, 693, 711 Heydrich, Reinhard 523, 529 Heyking, Edmund von 44 Heyking, Elisabeth von 44 Himmler, Heinrich 456, 462, 463, 494, 495, 523, 527, 553, 554 Hindemith, Paul 459 Hindenburg, Paul von 211, 225, 266, 273, 274, 275, 297, 315, 428, 433 Hinkel, Hans 451, 540, 555 Hinneberg, Paul 92 Hirt, August 529 Hitchcock, Alfred 344 Hitchcock, Henry-Russell 399 Hitler, Adolf 278, 362, 366, 390, 400, 413, 419, 420, 421, 422, 425, 426, 427, 428, 429, 430, 431, 432, 433, 434, 435, 436, 437, 438, 441, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 450, 455, 456, 458, 459, 460, 461, 462, 467, 468, 469, 470, 471, 472, 473, 474, 475, 478, 479, 480, 482, 484, 485, 489, 491, 494, 497, 498, 499, 500, 501, 505, 506, 509, 514, 517, 518, 519, 521, 522, 527, 531, 532, 536, 538, 542, 545, 546, 547, 552, 553, 554, 558, 560, 562, 563, 564, 566, 567, 569, 572, 588, 589, 618, 620, 628, 631, 632, 656, 675, 676, 708 Hoesch, Leopold von 397, 428, 476, 477, 479 Hoetzsch, Otto 198, 408, 409 Hofer, Carl 654 Hoff, August 320

Hoffmann, Adolph 298 Hoffmann, Hilmar 691 Hoffmann, Josef 82, 270, 357 Hofmannsthal, Hugo von 163, 164, 166, 170, 171, 183, 231, 232, 234, 237, 238, 355, 356, 359, 360, 362, 385, 561, 679 Holitscher, Arthur 347 Honecker, Erich 665, 668, 675, 682 Höpcke, Klaus 688 Horkheimer, Max 489 Horthy, Miklós 533 Hoshi, Hajima 330, 333, 412 Howe, George 399 Huber, Kurt 525 Huberman, Bronislaw 447, 455 Huch, Ricarda 589 Hüdepohl, Karl-Ernst 696 Huebner, Friedrich Marcus 312, 313 Hugo, Victor 222 Hull, Cordell 450 Humboldt, Alexander von 104 Humboldt, Wilhelm von 94, 96, 351 Hundhammer, Alois 586 Huret, Jules 144, 145, 147, 150, 248, 598 Husserl, Edmund 414 Ihering, Herbert 403 Isherwood, Christopher 344 Jäckh, Ernst 43, 111, 117, 216, 239, 247, 290, 317, 403, 404 Jacob, Berthold 498 Jacobsohn, Siegfried 267 Jagow, Gottfried von 272 James, Henry 227 Jannings, Emil 402 Janssen, Henry 469 Jaspers, Karl 589 Jeanneret, Charles-Edouard (Le Corbusier, siehe auch dort) 31, 322 Jessenin, Sergei 348 Jessner, Leopold 410 Jochum, Eugen 624 John, Erhard 677 Johnson, Alvin 466 Johnson, Philip 399

Personenregister  |

Johnson, Uwe 601 Johst, Hanns 442 Jouhandeau, Marcel 548 Jouvenel, Bertrand de 513 Jünger, Ernst 228, 511 Justi, Ludwig 321 Kafka, Franz 169, 354 Kahn-Ackermann, Georg 581, 652, 653 Kahn-Ackermann, Michael 710 Kahnweiler, Daniel-Henry 321 Kaiser, Georg 496 Kandinsky, Wassily 347, 485 Kant, Hermann 707 Kant, Immanuel 45, 69, 186, 656 Kantorowicz, Alfred 490, 588, 591 Karajan, Herbert von 624 Karl I. 144, 246 Kaschuba, Wolfgang 597, 598 Kassák, Lajos 349 Katajew, Valentin 587 Katharina II. die Große 130 Keilberth, Joseph 624 Keller, Gottfried 156, 172 Kelljén, Rudolf 198 Kempe, Rudolf 624 Kerr, Alfred 384 Kessler, Harry Graf 77, 244, 245, 251 Keynes, John Maynard 338, 535 Kiderlen-Waechter, Alfred von 43 Kienzl, Hermann 361 Kiep, Otto 465 Kiepura, Jan 474 Kippenberg, Anton 328 Kirchner, Ernst Ludwig 319, 320, 641 Kirsanow, Alexander 614 Kisch, Egon Erwin 353 Klaczko, Julian 149 Klebelsberg, Kuno Graf 350, 351 Klee, Paul 641 Klemperer, Otto 447 Klemperer, Victor 276, 372, 384, 453 Klepper, Jochen 588 Knackfuß, Hermann 73 Knappertsbusch, Hans 624

Koch-Weser, Erich 301 Koch, Wilhelm 396 Koestler, Arthur 491 Kohl, Helmut 702, 703, 704, 708, 710 Kohn, Hans 125 Kokoschka, Oskar 319 Kolbe, Georg 319 Kolbenheyer, Erwin Guido 437 Kollo, Walter 555 Kollwitz, Käthe 19, 23 Konoe Fumimaro 424 Konrad, György 707 Kopelew, Lew 348 Koppel, Leopold 86 Kornfeld, Paul 353 Korrodi, Eduard 172 Korsch, Karl 299 Koskenniemi, Veikko Antero 546 Krahmer-Müllenberg, Erich 310 Kraus, Karl 159, 160, 231, 233, 360, 522 Krauss, Clemens 560, 567, 624 Kreisky, Bruno 454 Krekeler, Heinz 580 Kreyßig, Friedrich 156 Krumeich, Gert 324 Krüss, Hugo Andres 408 Kuckhoff, Adam 588 Kühnemann, Eugen 212 Kuhn, Richard 499 Kun, Béla 349 Kursell, Otto von 457 Ladenburg, Rudolf 604 Laemmle, Carl 402 Lamprecht, Karl 80, 98, 103, 106, 108, 109, 110, 113, 114, 116, 186, 218, 253, 304, 391, 582, 711 Langbehn, Julius 53 Lange, Konrad 59 Langgässer, Elisabeth 588 Langhoff, Wolfgang 587 Langmann, Otto 426 Lasky, Melvin 587, 592 Lassalle, Ferdinand 292 Lattmann, Dieter 685

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Laue, Max von 610 Lavisse, Ernest 57 Lebey, André 240 Le Carré, John 682 Le Corbusier (Charles-Edouard Jeanneret, siehe auch dort) 31, 322, 397, 502 Legal, Ernst 570 Lehmbruck, Wilhelm 319 Leistikow, Walter 19 Lemberg, Eugen 600 Lenard, Philipp 333 Lenin, Wladimir Iljitsch 331, 345, 616 Lenz, Siegfried 601, 701 Lesseps, Ferdinand de 62 Lessing, Gotthold Ephraim 133, 173, 292, 656 Lessing, Theodor 503, 588 Lethaby, William Richard 238, 239 Lexis, Wilhelm 66, 92 Ley, Robert 540 Lichtenberger, Henri 383, 384, 385, 408 Lichtwark, Alfred 59 Lieber, Dr. 329 Liebermann, Max 19, 84, 183, 186, 319, 321 Liebknecht, Karl 316 Lienhard, Fritz 29, 170 Link, Werner 702 Lissitzky, El 347, 349 Lloyd George, David 81, 256, 257, 259, 260 Löbe, Paul 363, 385 Loerke, Oskar 588 Loewenstein, Otto 470 Lombard, Émile 86 Louis XIV. 30 Louis XV. 30 Louis XVI. 30 Lubitsch, Ernst 402 Lublinski, Samuel 147 Ludendorff, Erich 143, 211, 224, 225, 242, 243, 246, 249, 262, 266, 268, 270, 273, 274, 275, 297, 301, 552 Ludwig, Emil 479, 485, 498

Ludwig I. 27 Ludwig II. 27, 36 Luebke, Frederick 214 Luitpold (Prinzregent) 27 Lukács, Georg 349, 350 Lunatscharski, Anatoli 345 Lusset, Felix 639 Luther, Martin 207 Luxemburg, Rosa 316 Lyons, Francis 84 Maaß, Kurt-Jürgen 684 Mach, Ernst 160 Mackensen, Hans Georg von 420, 463 Magris, Claudio 233 Maier, Charles 340 Maier, Richard M. 393 Maillol, Aristide 31, 519 Majakowskij, Wladimir 348 Malewitsch, Kasimir 347 Malraux, André 681, 704 Manet, Édouard 31 Mann, Golo 651 Mannheim, Karl 350 Mann, Heinrich 196, 198, 199, 382, 437, 470, 485, 490, 491, 496, 498, 587 Mann, Klaus 492 Mann, Thomas 169, 172, 195, 196, 197, 198, 199, 202, 348, 382, 383, 384, 385, 391, 410, 431, 437, 485, 497, 498, 567, 569, 587, 588, 604, 612, 616 Marais, Jean 518 Marcks, Gerhard 654 Marcuse, Herbert 697 Maria Theresia 130 Marschall von Bieberstein, Michael 651, 656, 682 Marti, Kurt 171 Martin, Berthold 691 Martius, Ursula Maria 607 Marx, Karl 292 Masaryk, Thomas 230 Maschmann, Melita 553 Mason, Max 468, 469 Massow, Ewald von 393

Personenregister  |

Matisse, Henri 31, 641 Mauriac, François 510 Mauthner, Fritz 160 Max von Baden 260 Mayer, Hans 590, 591 May, Ernst 357, 398, 399 Mayrisch, Émile 382 Mazowiecki, Tadeusz 708 Mazzucchetti, Lavinia 485 McCarthy, Joseph 637 McCloy, John Jay 627, 628, 629, 630, 631, 632, 655 McDonald, James G. 450 Mehnert, Klaus 389, 390 Meidner, Ludwig 346 Meinecke, Friedrich 125, 198, 199, 325, 487, 572 Meitner, Lise 603 Mencken, Henry Louis 249 Mendelssohn, Erich 403 Mendelssohn, Moses 173 Mengden, Guido von 698 Menzel, Adolph 84 Merkatz, Hans Joachim von 530 Merleau-Ponty, Maurice 644 Meyer-Clason, Curt 705 Meyer, Conrad Ferdinand 156 Meyer, Hannes 399 Meyerhof, Otto 467, 604 Meyerhold, Wsewolod Emiljewitsch 348 Meyer, Konrad 528 Michelangelo 559 Mies van der Rohe, Ludwig 398, 399 Milchsack, Lilo 638 Mitchell, Allan 56 Mitchell, John M. 705 Mitterand, François 682, 704 Moellendorff, Wichard von 299 Moholy-Nagy, László 349, 397 Molo, Walter von 588, 589, 604 Mommsen, Theodor 34, 89, 158, 159, 178, 179, 180, 181, 183, 487 Mondrian, Piet 349 Moniuszko, Stanislaw 474

Monzie, Anatole de 382, 384, 513 Morandi, Carlo 486 Morel, Edmund 338 Morris, William 120, 238 Morsbach, Adolf 387, 389, 391, 392, 393, 428, 434, 453, 457, 579 Mounier, Emmanuel 643 Mozart, Wolfgang Amadeus 158, 540, 566 Mühsam, Erich 503, 588 Müller, Bruno 531 Müller-Meiningen, Ernst 21 Mumford, Lewis 398, 399 Münsterberg, Hugo 92, 97, 98, 103, 108 Münzenberg, Willi 491 Murnau, F. W. 344 Musil, Robert 160, 161, 164, 230, 233, 354, 355, 360, 588 Mussolini, Benito 16, 138, 385, 411, 421, 423, 424, 427, 472, 473, 479, 480, 481, 482, 483, 484, 485, 486, 531, 533, 535, 564, 650, 677 Muthesius, Hermann 22, 23, 30, 59, 65, 66, 116, 120, 121, 128 Nabokow, Wladimir 348 Naimark, Norman 617 Nansen, Fridtjof 449 Napoleon Bonaparte 64, 338, 418, 515, 620 Nathan, Paul 263 Naumann, Friedrich 28, 29, 54, 80, 102, 111, 118, 119, 121, 168, 193, 231, 232, 234, 235, 236, 237, 238, 249, 286, 295, 296, 309, 317, 355, 360 Negri, Pola 474 Nestroy, Johann 160 Neuberg, Carl 467 Neumann, Franz 624 Neurath, Konstantin Freiherr von 428, 429, 430, 449, 466, 472 Nicolai, Georg Friedrich 186 Nicolai, Walter 266 Niebuhr, Barthold Georg 487 Niessen-Deiters, Leonore 217, 218 Niethammer, Lutz 572

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Nietzsche, Friedrich 45, 46, 47, 53, 56, 76, 127, 160, 177, 191, 195, 196, 224, 485, 487, 512, 644 Nikisch, Arthur 245 Ninkovich, Frank 623 Nipperdey, Thomas 54 Nobel, Alfred 84 Nolde, Emil 432, 439, 458 Northcliffe, Alfred Lord 243 Noske, Gustav 316 Oberländer, Gustav 416 Olbrich, Joseph Maria 22, 23, 27, 82 Oncken, Hermann 325 Ortega y Gasset, José 631 Ossietzky, Carl von 498, 499, 503, 588 Osthaus, Karl Ernst 102, 117, 120 Ostwald, Wilhelm 87, 106 Oud, J. J. P. 398 Ould, Herman 633 Ozenfant, Amédée 502 Palme, Anton 463 Palonen, Kari 115, 124 Pankok, Otto 23 Pansaers, Clément 269 Papen, Franz von 212, 563 Pap, Gyula 349 Paquet, Alfons 402 Paret, Peter 19 Parsons, Talcott 697 Pasternak, Boris 348 Paszkowski, Wilhelm 98 Paul, Bruno 23 Paulhan, Jean 516 Pauli, Gustav 320 Paulsen, Friedrich 103, 134, 135, 136, 154, 155, 215 Payr, Bernhard 512, 513 Peabody, Francis G. 107 Pechel, Rudolf 308 Pechstein, Max 320 Peisert, Hansgert 689, 690, 691, 699 Pelinka, Anton 559, 678 Penck, A. R. 686 Perier, François 518

Pershing, John J. 209 Pétain, Philippe 509, 510, 513 Peterich, Eckart 650 Petersen, Jens 482 Pfeffer, Karl-Heinz 530 Pfeiffer, Heinrich 656 Pfeiffer, Peter 685, 703 Pfemfert, Franz 171 Pfetsch, Frank 95 Pfister-Schwaighusen, Hermann von 221 Piaf, Édith 511 Picard, Émile 282, 283, 284 Picasso, Pablo 321, 322, 641 Picht, Werner 384, 387, 388, 405 Pieck, Wilhelm 594, 614, 617 Pierzchala, Henryk 532 Pilsudski, Józef 473 Pinder, Wilhelm 435 Pinthus, Kurt 116 Pintor, Giaime 487 Pirenne, Henri 269 Piscator, Erwin 348, 353, 410 Planck, Max 92, 186, 283, 284, 285, 325, 326, 467, 469, 607, 608 Plenge, Johann 198 Plessner, Helmuth 712 Poincaré, Henri 335 Polgar, Alfred 354 Ponsonby, Arthur 443 Posener, Julius 121 Posse, Hans 320 Preuß, Hugo 193, 194, 293, 295, 438 Prittwitz und Gaffron, Friedrich Wilhelm von 416, 429 Puni, Ivan 347 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 132 Putlitz, Gustav 156 Queseda, Ernesto 407 Quidde, Ludwig 498 Raczynski, Joseph Graf 656, 682 Radbruch, Gustav 299 Radvanyi, László 350 Raffalt, Reinhard 650 Rahel, Ernst 467

Personenregister  |

Ranke, Leopold von 89 Rathenau, Walter 260, 309, 332, 343, 400, 438 Rath, Ernst vom 450 Rathkolb, Oliver 565 Rauschning, Hermann 433 Read, Herbert 478 Reck-Malleczewen, Friedrich 588 Redlich, Oswald 363 Redslob, Edwin 293, 313, 314, 315, 317, 318, 320, 347, 500, 577, 589, 650 Reich, Jens 621, 671 Reich-Ranicki, Marcel 454 Reinhardt, Max 169, 183, 245, 359, 485, 566 Remarque, Erich Maria 393 Rembrandt van Rijn 53 Remme, Karl 388 Rennenkampf, Paul von 209 Renner, Karl 356, 358, 560, 678 Renoir, Jean 518 Renoir, Pierre-Auguste 641 Reuleaux, Franz 118, 126, 127, 128, 659 Ribbentrop, Joachim von 12, 421, 422, 426, 430, 445, 456, 466, 471, 486, 504, 505, 506, 514, 519, 520, 536, 545, 577, 578, 580, 629 Richard, Lionel 480 Richter, Gerhard 686 Richter, Hans Werner 644 Richter, Werner 583 Riehl, Wilhelm Heinrich 148 Riemerschmid, Richard 23 Riezler, Kurt 112, 113, 202 Riezler, Walter 121, 320 Rilke, Rainer Maria 169, 480 Ringer, Fritz 95 Ritterbusch, Paul 530 Rocholl, Heinz 391 Rodenberg, Julius 156 Rodtschenko, Alexander 347, 349 Rohan, Karl Anton Prinz 385 Röhm, Ernst 393

Rohrbach, Paul 111, 115, 198, 216, 259, 261, 367 Rokkan, Stein 125 Rolland, Romain 437, 442, 503, 513 Romberg, Konrad-Gisbert von 245 Röntgen, Wilhelm Conrad 74, 186 Roosevelt, Franklin D. 450 Rosegger, Peter 485 Rosenberg, Alfred 421, 428, 432, 433, 436, 451, 456, 457, 458, 459, 471, 479, 494, 505, 512, 515, 523, 553, 554, 558 Rosen, Friedrich 314 Ross, Werner 650 Rostand, Edmond 109 Rothacker, Erich 533 Rothbarth, Margarete 434 Rothe, Carl 548 Rothfels, Hans 454 Roth, Joseph 233, 354, 588 Rueff, Jacques 513 Ruf, Sep 659 Rühle, Günter 445 Rühlmann, Paul 337, 404, 543 Rusinek, Bernd-A. 609 Ruskin, John 120 Rust, Bernhard 436, 440, 451, 456, 457, 458, 526, 529 Saenger, Samuel 50, 51, 298 Salat, Rudolf 577 Salazar, António de Oliveira 705 Saldern, Adelheid von 396 Salvisberg, Paul von 99, 100 Santayana, George 213 Sartre, Jean-Paul 414, 511, 512, 639, 640, 644 Sattler, Dieter 583, 585, 586, 596, 646, 647, 648, 649, 650, 652, 693 Sauerbruch, Ferdinand 435 Sauer, Christoph 550, 552 Schairer, Reinhold 387, 388, 393 Scheel, Walter 690, 692, 699 Scheidemann, Philipp 438 Scheler, Max 143, 251, 252, 299, 598, 646 Scherer, Wilhelm 66

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|  Personenregister

Schickele, René 170, 171, 177, 496, 588 Schieder, Theodor 63, 594 Schiemann, Paul 366, 367, 368 Schiff, Jacob 108 Schildt, Axel 10, 696 Schiller, Friedrich von 48, 133, 134, 142, 158, 174, 195, 196, 225, 264, 292, 519, 558, 602, 615, 656 Schirach, Baldur von 545, 566, 567 Schlange-Schöningen, Hans 580 Schleier, Rudolf 507 Schlieffen, Alfred Graf von 268 Schlögel, Karl 600, 601 Schmid, Carlo 646 Schmid, Karl 493, 494 Schmidt, Erich 96 Schmidt, Franz 39 Schmidt, Helmut 708 Schmidt-Ott, Friedrich 78, 108, 254, 296, 325, 328, 331, 350, 351, 363, 409 Schmidt-Rotluff, Karl 320 Schmitt, Carl 480, 516 Schmitt, Christian 651 Schmittlein, Raymond 640 Schmoller, Gustav 66 Schnitzler, Arthur 183 Scholem, Gershom 182 Scholz, Wilhelm von 436 Schönemann, Friedrich 530 Schönerer, Georg von 155 Schönfeld, Herbert 667 Schopenhauer, Arthur 224 Schreiber, Georg 328, 363, 377, 380, 381, 389, 392 Schröder-Gudehus, Brigitte 286, 325 Schröder, Rudolf Alexander 268 Schubert, Carl von 378 Schubert, Franz 560 Schuchardt, Hugo 221 Schücking, Lothar 79 Schüler, Edmund 303 Schulz, Klaus 701 Schumacher, Kurt 584, 654 Schumburg, Emil 449

Schurman, Jacob Gould 416, 470 Schurz, Carl 414, 415, 416 Schuschnigg, Kurt von 358, 563 Schwab-Felisch, Hans 700, 701 Schwarz, Angela 476 Schwarzschild, Leopold 491 Schweitzer, Albert 631 Schwippert, Hans 659, 660 Scurla, Herbert 422, 423, 434, 435, 457, 506 Seghers, Anna 350, 454 Seibt, Ferdinand 401 Seipel, Ignaz 358, 385 Selig, Anna 381, 382, 387 Seligmann, Kurt 485 Serkin, Rudolf 485 Shakespeare, William 630 Shawcross, Hartley 612 Shaw, George Bernard 192 Shdanow, Andrej Alexandrowitsch 620 Shils, Edward 91 Siebert, Ludwig 533 Sieburg, Friedrich 507, 508 Sievers, Johannes 296, 303, 318, 319, 320, 321, 397, 398, 457, 650 Simmel, Georg 50, 51 Simon, James 78, 263 Simons, Hans 388 Simons, Leo 248, 251 Simons, Walter 304 Singer, Kurt 451 Sintenis, Renée 319 Sitte, Willi 686 Six, Franz Alfred 427, 529, 530, 536 Slevogt, Max 19, 319 Sobański, Antoni Graf 471, 475, 500 Sobernheim, Moritz 449 Sohnrey, Heinrich 29 Sombart, Werner 93, 103, 106, 161, 201 Sontag, Susan 707 Speer, Albert 445, 456, 502, 659 Spender, Stephen 344, 631, 635 Spengler, Oswald 385 Sperber, Manès 504

Personenregister  |

Speyer, James 108 Spitzer, Leo 410 Spitzweg, Carl 478 Spranger, Eduard 254, 372, 487, 488 Srbik, Heinrich Ritter von 363 Staden, Berndt von 687 Stadler, Ernst 170 Staeck, Klaus 701 Staël, Anne Louise Germaine Madame de 57 Staiger, Emil 494 Stalin, Josef 399, 400, 424, 504, 615, 616, 617, 618, 620 Stark, Johannes 284, 333 Stead, William T. 220 Stehr, Hermann 496 Steinacher, Hans 461, 462 Steiner, George 489 Stein, Ludwig 80 Steltzer, Theodor 582, 583 Sterenberg, David 347 Stern, Fritz 151, 332 Sternheim, Carl 269 Stieve, Friedrich 336, 445, 457, 466, 467 Stoecker, Adolf 179 Stone, Shepard 629 Stoskopf, Gustave 170 Strauß, Franz Josef 610, 611, 701, 702, 703 Strauss, Leo 470 Strauss, Richard 245 Streccius, Alfred 505 Stresemann, Gustav 12, 16, 289, 290, 300, 309, 310, 312, 333, 340, 341, 352, 367, 368, 373, 374, 375, 376, 377, 384, 385, 386, 391, 426, 430, 517, 584 Streuvels, Stijn 546 Struck, Hermann 262, 275 Studemund, Wilhelm 66 Südekum, Albert 21 Sudermann, Hermann 186 Sundermeyer, Wilhelm 479 Süskind, Wilhelm Emanuel 590, 591 Sverdrup-Lunden, Mimi 498 Sywottek, Arnold 10, 696, 697

Szöllösi-Janze, Margit 334 Tappan, Henry P. 104 Tatlin, Vladimir 347, 349 Taut, Bruno 117, 120, 290, 346, 357, 398, 399 Teutsch, Friedrich 219 Thierfelder, Franz 379, 387, 428, 462, 532, 578, 582, 583 Thiess, Frank 588, 589 Thomas, Wilbur K. 416, 469, 470 Thun, Friedrich 469 Tietjen, Heinz 570 Timmermans, Felix 546, 548 Tirpitz, Alfred von 33, 39, 40, 43, 110, 131 Tjulpanow, Sergej 586, 614, 616 Tocqueville, Alexis de 106 Toller, Ernst 205, 253, 497, 498, 588 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 198, 202, 348, 621, 630 Tönnies, Ferdinand 103, 106 Toscanini, Arturo 446, 447, 455, 566, 567 Treitschke, Heinrich von 34, 159, 178, 179, 183, 191 Trietsch, Davis 263, 264 Triolet, Elsa 511 Troeltsch, Ernst 103, 106, 187, 198, 199, 201, 203, 204, 227, 252, 325 Trollope, Anthony 222 Trott zu Solz, August von 254 Trouillet, Bernard 56, 58 Trützschler von Falkenstein, Heinz 577, 583, 629 Tschaikowski, Pjotr Iljitsch 560, 621 Tschitscherin, Georgi Wassiljewitsch 343 Tübke, Werner 686 Tucholsky, Kurt 344, 437 Turrini, Peter 601 Twardowski, Fritz von 374, 375, 376, 417, 430, 533, 536, 580, 583 Tzara, Tristan 228 Uecker, Günther 686 Uhde, Fritz von 84 Ulbricht, Walter 614, 662, 667, 688 Valéry, Paul 407, 418

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van de Velde, Henry 120, 269 van Gogh, Vincent 31, 641 Varnhagen, Rahel 174 Vasmer, Max 532 Veblen, Thorstein 249 Vercors 512, 513, 514, 521 Vesper, Will 485 Viénot, Pierre 342, 344, 352, 396 Vietta, Egon 487 Vischer, Melchior 353 Vogt, Oskar 467 Voigt, Klaus 484 Vordemberge-Gildewart, Friedrich 485 Vossler, Karl 372, 384, 533 Vranitzky, Franz 679 Waetzoldt, Wilhelm 408 Wagner, Martin 357, 398 Wagner, Richard 36, 37, 46, 74, 89, 171, 266, 419, 430, 431, 480, 540, 560, 567 Wais, Kurt 548 Walden, Herwarth 347, 348 Waldheim, Kurt 560, 679 Walser, Martin 601, 651 Walter, Bruno 447, 485 Walther, Hilde 498 Wangenheim, Gustav von 571 Wanner, Theodor 309, 462 Warburg, Felix 259 Warburg, Max 259 Warburg, Paul 259, 388, 416 Wassermann, Jakob 182, 206, 485 Weber, Max 51, 93, 103, 106, 143, 161, 193, 209, 235, 251, 252, 253, 297, 392, 487, 598, 697 Wechssler, Eduard 372 Wegener, Paul 570 Weichlein, Siegfried 125 Weinert, Erich 614 Weisenborn, Günter 588 Weiskopf, Franz Carl 353 Weiss, Ernst 353 Weizmann, Chaim 257 Weizsäcker, Richard von 693 Wells, Herman B. 624

Wengenroth, Ulrich 334, 602 Werfel, Franz 169, 485, 496 Werner, Anton von 19, 31, 36, 100 Werner, Bruno E. 579, 650 Wertheimer, Fritz 309, 367, 368, 369, 462 Westphal, Wilhelm 346 Weyrauch, Wolfgang 589 White, Andrew Dickson 104 Whitman, Walt 349 Wiechert, Ernst 485 Wied, Viktor Prinz zu 498 Wiene, Robert 402 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 187 Wilder, Thornton 567, 631 Wilhelm I. 38, 79 Wilhelm II. 19, 20, 23, 24, 28, 34, 37, 39, 50, 66, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 88, 96, 97, 107, 110, 123, 128, 141, 143, 216, 316, 431 Wilhelm, Theodor 389, 390 Wilson, Edwin Bidwell 280, 281 Wilson, Thomas Woodrow 106, 211, 212, 249, 257, 280 Winkler, Max 310 Winkler, Ralf 686 Winzer, Otto 571 Wirth, Joseph 309 Wirtz, Karl 610 Witte, Barthold 708 Wolf, Christa 601, 602 Wolff Metternich, Franz Graf 505 Wolff, Theodor 479 Wright, Frank Lloyd 399 Young, Geoffrey Winthrop 391 Zaleski, August 367 Zechlin, Edmund 530 Ziegler, Adolf 501 Zischka, Anton 516 Zola, Émile 61 Zschintzsch, Werner 533 Zuckerkandl, Berta 162 Zweig, Arnold 262, 275, 299, 454, 485 Zweig, Stefan 230, 485, 588 Zwetajewa, Marina 348

JOST HERMAND

POLITISCHE DENKBILDER VON CASPAR DAVID FRIEDRICH BIS NEO RAUCH

Jost Hermand stellt politisch intendierte Werke vor, die in der Zeit von 1806 bis heute entstanden sind, und bindet sie in den politisch-historischen Kontext ein. Themen sind zudem die Entstehungszeit des Bildes sowie Herkunft und Bedeutung des Künstlers. Behandelt werden Werke von: Friedrich, Schnorr von Carolsfeld, Menzel, Böcklin, Schmidt-Rottluff, Barlach, Kollwitz, Heartfield, Picasso, Nagel, Prechtl, Mattheuer, Kiefer und Rauch. 2011. 294 S. 29 FARB. U. S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-20703-8

„Hermands Beispiele dienen als anschauliche Hintergrundfolie für einen Querschnitt durch den Nationalismus und seine Rezeption als zentrales Thema der jüngeren deutschen Geschichte. Die Verflechtung des Historischen mit dem Mythischen bzw. die Ausdifferenzierung nationaldemokratischer und faschistischer Strömungen bis in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik fungieren dabei […] als tragende und von Hermand engagiert und kenntnisreich vorgetragene Gesichtspunkte.“ Sehepunkte

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

JOST HERMAND

VERLORENE ILLUSIONEN EINE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS

Der Begriff „Nationalismus“ hat im deutschsprachigen Bereich Zentraleuropas seit dem Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts bis zur heutigen Berliner Republik höchst dramatische Wandlungen erlebt. Aufgrund der ständig wechselnden realpolitischen Voraussetzungen wurde dabei von den jeweils Herrschenden im Hinblick auf die Bevölkerung dieses Territoriums nicht nur von einer Reichsnation gesprochen, sondern auch Begriffe wie Kulturnation, Kriegsnation, Wirtschaftsnation sowie Staatsbürgernation verwendet. Wie viele Illusionen damit verbunden waren, stellt Jost Hermand in diesem Buch dar. 2012. 390 S. 40 S/W- U. 26 FARB. ABB. GB. MIT SU | ISBN 978-3-412-20854-7

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PHILIPP THER (HG.)

KULTURPOLITIK UND THEATER DIE KONTINENTALEN IMPERIEN IN EUROPA IM VERGLEICH (DIE GESELLSCHAFT DER OPER. MUSIKKULTUR EUROPÄISCHER METROPOLEN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT, BAND 10)

Der Band untersucht die Grundlagen und Entwicklung der staatlichen Kultur politik in Europa seit dem späten 18. Jahrhundert. Neben Österreich und seinen Ländern werden das Russische Reich, Preußen und das Osmanische Reich und damit zugleich prägende Herrscher wie Katharina die Große oder Josef II. behandelt. Das Buch verortet sich damit auch im Feld der vergleichenden Imperienforschung. Der Schwerpunkt auf dem Theater ist mit dessen Funktion als Schnittstelle zwischen Staat und Öffentlichkeit, Ort der staatlichen Repräsentation und Elitenintegration begründet. Der Band behandelt zunächst die Ursprünge und Entwicklung der Kulturpolitik in den kontinentalen Imperien und dann deren Umsetzung an den Höfen, in den imperialen Hauptstädten und Peripherien von Posen, Galizien bis nach Georgien. 2012. 324 S. 2 S/W-ABB. BR. 148 X 210 MM. ISBN 978-3-205-78802-7 [A], ISBN 978-3-486-71211-7 [D]

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