Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert 9783412319687, 3412085006, 9783412085001

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Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert
 9783412319687, 3412085006, 9783412085001

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Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert

Tagungsbeiträge eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung Bonn-Bad Godesberg veranstaltet vom 14.-18. März 1999 in Bamberg

Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert herausgegeben von Dietrich Papenfuß und Wolfgang Schieder

Redaktion Petra Terhoeven

§ 2000 BÖHLAU VERLAG K Ö L N WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg, und der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert: [Tagungsbeiträge eines Symposiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung Bonn-Bad Godesberg veranstaltet vom 14.-18. März 1999 in Bamberg] / hrsg. von Dietrich Papenfuß und Wolfgang Schieder. Red. Petra Terhoeven. Köln ; Weimar; Wien : Böhlau, 2000 ISBN 3-412-08500-6

© 2000 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln, Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Telefon 0221/91390-0, Fax 0221/91390-11, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten Umschlagabbildungen: Revolution 1918/19 (Foto: AKG Berlin) 30. Januar 1933 (Foto: AKG Berlin) Kriegsende 1945 (Foto: AKG Berlin) Maueröffnung 1989 (Foto: A. Schoelzel, Berlin) Umschlaggestaltung: Karin Krause Satz und Lithographie: Satzpunkt Bayreuth, 95444 Bayreuth Druck: MVR-Druck, Brühl Bindearbeiten: Buchbinderei Freitag, Kassel Printed in Germany ISBN 3-412-08500-6

Inhalt Vorwort

IX

Umbrüche als Problem deutscher

Geschichte

WOLFGANG SCHIEDER

Die Umbrüche von 1918,1933, 1945 und 1989 als Wendepunkte deutscher Geschichte

3

MOSHE ZIMMERMANN

Deutsche Juden und deutsche

Umbrüche

19

1918 Vorbemerkung

33

DENNIS E. SHOWALTER

Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919 . . . .

39

J A Y W . BAIRD

Literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg. Joseph Magnus Wehner und der Traum von einem neuen Reich

63

A L A N KRAMER

Der Umgang mit der Schuld. „Die Schuld im Kriege" und die Republik von Weimar

77

JONATHAN R . C . W R I G H T

Eine politische Karriere zwischen Zusammenbruch und Wiederaufbau. Die Wirkung des Umbruchs von 1918/19 auf Gustav Stresemann

97

DIETER K . BUSE

Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919. Friedrich Ebert und die Wendepunkte deutscher Geschichte

109

WILLIAM W . H A G E N

Mord im Osten. Die polnischen und anderen osteuropäische Pogrome von 1918-1919 im Verständnis der zeitgenössischen deutschen Juden..

135

PETER FRITZSCHE

Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

147

V

JAMES RETALLACK Deutsche Demagogie vor und nach dem Umbruch 1918/19

163

RICHARD BESSEL 1918-1919 in der deutschen Geschichte

173

1933 Vorbemerkung

185

LARRY EUGENE JONES Von Weimar zu Hitler. Deutschlands konservative Eliten und die Etablierung des „Dritten Reichs" 1932-1934

191

DICK GEARY Arbeitslosigkeit und deutsche Demokratie 1929-1933

207

JEREMY NOAKES Die Rolle der N S D A P bei der nationalsozialistischen Machtübernahme

219

HENRYK OLSZEWSKI Hitlers Machteroberung in der Sicht polnischer Parteien

231

GEOFFREYJ. GILES Die erzieherische Rolle von Sammelbildern in politischen Umbruchszeiten

241

HARTMUT LEHMANN Deutsche Historiker und die Zäsur von 1933

267

EDOARDO TORTAROLO Historiker im Exil um 1933. Eine Problemskizze

289

JANKO PRUNK Der Beitrag von Franz Borkenau zur Erforschung des Totalitarismus 1932-1940

297

DAVID SCHOENBAUM Die braunen Revolutionen

309

HANS MOMMSEN Die nationalsozialistische Machteroberung. Revolution oder Gegenrevolution?

329

VI

1945 Vorbemerkung

347

OLEG WISCHLJOW „Ein Unterpfand des Sieges" ... und der Niederlage. Zur Militärstrategie des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg

353

MARTIN VAN CREVELD Die deutsche Wehrmacht. Eine militärgeschichtliche E i n s c h ä t z u n g . . . .

363

MARIAN WOJCIECHOWSKI Ostmitteleuropa und der Zusammenbruch des „Dritten Reiches" 1945

381

JAN RYDEL Zeugen des Umbruchs. Die Polen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands 1945

389

NICHOLAS STARGARDT Der deutsche Zusammenbruch von 1945 als Kindheitserfahrung

397

CORINE DEFRANCE Deutsche Universitäten in der Besatzungszeit zwischen Brüchen und Traditionen 1945-1949

409

CHRISTOPH MICK Forschen für die Siegermächte. Deutsche Naturwissenschaftler und Rüstungsingenieure nach dem Zweiten Weltkrieg

429

DIETHELM PROWE Demokratisierung in Deutschland nach 1945. Die Ansätze des Schlüsseljahres 1947

447

CHRISTOPH KLESSMANN Stationen des öffentlichen und historiographischen Umgangs in Deutschland mit der Zäsur von 1945

459

JONATHAN OSMOND Umgang mit der Geschichte - Umgang mit dem kulturellen Erbe. Uberlegungen zur deutschen Kunst im Zeichen der Jahre 1945 und 1989 . . . 473 DIETRICH ORLOW Einige Bemerkungen zum Wettbewerb der Umbruchsdaten in der deutschen Zeitgeschichte

491

VII

1989 Vorbemerkung

499

MARY ELISE SAROTTE Historische Vorläufer der Veränderungen von 1989. Aspekte der internationalen Politik zur Zeit der Ostpolitik 1969-72

505

MÄTFI SZABÖ Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in den Transformationsprozessen Ost-Mitteleuropas. Ungarn, Polen, D D R

517

KONRAD H. JARAUSCH Implosion oder Selbstbefreiung? Zur Krise des Kommunismus und Auflösung der D D R

543

RAINER ECKERT Sozialismusvorstellungen und Hoffnungen auf Demokratie im Herbst 1989

567

JOYCE MARIE MUSHABEN „Die Lehrjahre sind vorbei!" Die Re-Formierung demokratischer Interessengruppen in den ostdeutschen Bundesländern

585

FRANK LOUIS RUSCIANO Die Neubestimmung der deutschen Nationalidentität nach 1989

627

JERZY W . BOREJSZA D e r Totalitarismusbegriff in der jüngsten europäischen D i s k u s s i o n . . . .

665

ANGELO BOLAFFI Ende des Sonderwegs? Ist Deutschland eine .normale' Demokratie geworden? Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

679 685

Verzeichnis der Tagungs-Teilnehmerinnen und Teilnehmer

689

VIII

Vorwort Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat seit ihrer Wiedererrichtung im Jahre 1953 fast 20.000 Wissenschaftler aus 130 Ländern gefördert. 1973 hat sie damit begonnen, in regelmäßigen Abständen ehemalige Humboldt-Gastwissenschaftler zusammen mit deutschen Wissenschaftlern zu thematisch begrenzten, mehrtägigen Fachsymposien einzuladen. Im Rahmen dieser Symposien wurden bisher Strafrecht und Strafrechtsreform, die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, die neuere deutsche Literatur, die internationale Zusammenarbeit im Grenzbereich von Theologie und Philosophie, neuere Entwicklungen im öffentlichen Recht, Themen aus Archäologie und Frühgeschichte, internationalem Privat- und Wirtschaftsrecht, die „Frankfurter Schule", die Musikwissenschaft, die philosophische Aktualität Heideggers, das geisteswissenschaftliche und literarische Ubersetzen im internationalen Kulturaustausch, die europäische Integration und nationale Rechtskulturen sowie - beim jüngsten dieser Treffen - Probleme des Wissenschaftleraustauschs und der Entwicklungszusammenarbeit vor der Jahrtausendwende behandelt. Diese Fachtagungen sollen den teilnehmenden ausländischen Wissenschaftlern die Gelegenheit geben, mit ihren deutschen Kollegen den aktuellen Stand der Forschung und jüngste Entwicklungen des jeweiligen Fachs zu diskutieren. 1974 fand das erste Fachsymposium der Humboldt-Stiftung für Zeithistoriker in Bad Brückenau statt, das unter dem Thema „Tradition und Neubeginn" 1 Humboldtianer aus zwölf Ländern mit deutschen Fachkollegen zusammenbrachte, um die neuesten Forschungsergebnisse zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu diskutieren. 25 Jahre später wurde nun, in Zusammenarbeit mit der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, im März 1999 ein ähnliches Treffen in Bamberg veranstaltet, das Historiker und Politologen zur gemeinsamen Diskussion über Ursachen, Verlauf und Folgen der Umbrüche von 1918, 1933, 1945 und 1989 zusammenführte. Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert wird durch fundamentale Krisen geprägt. Zweimal waren es die Deutschen, die, fahrlässig beim ersten, vorsätzlich beim zweiten Mal, einen verheerenden Weltkrieg auslösten. Nicht weniger als viermal änderte sich in Deutschland in diesem Jahrhundert das politische System: Je zweimal entstand auf deutschem Boden eine Demokratie, je zweimal entwickelte sich aber auch eine Diktatur. Jeder System-

1 Tradition und Neubeginn. Internationale Forschungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, Köln (Carl Heymanns Verlag) 1975.

IX

Wechsel hatte weitreichende gesellschaftliche, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Folgen, sowohl für die Deutschen selbst als auch für ihre europäischen Nachbarn. Eine unruhige Nation, die erst am Ende dieses Jahrhundert zur Ruhe zu kommen scheint. Besonderer Dank gilt Wolfgang Schieder, der Thema und Programm des 15. Symposiums der Humboldt-Stiftung gestaltete, den einleitenden Uberblicksvortrag hielt und die Herausgabe des vorliegenden Bandes mit betreute. Darüber hinaus danke ich allen ausländischen und deutschen Teilnehmern des Symposiums für ihre aktive Mitarbeit bei den grenz- und fachüberschreitenden Gesprächen. Der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und dem Auswärtigen Amt gelten der besondere Dank für die Finanzierung des Fachsymposiums und der Herausgabe des Bandes. Für die sorgfältige Vorbereitung und Organisation der Tagung sei Frau Ulrika Holdefleiß-Walter herzlich gedankt. Die Redakteurin Petra Terhoeven hat die Manuskripte für die Veröffentlichung vorbereitet sowie die einleitenden Überlegungen zu den vier großen Abschnitten des Bandes verfaßt. Ihr wie den Herausgebern für die wissenschaftliche Betreuung der Publikation herzlichen Dank. Ich bin mir sicher, daß dieses Symposium in Bamberg für alle Teilnehmer ein unvergeßliches Erlebnis war. Allen, die an der Geschichte Deutschlands im gerade abgelaufenen Jahrhundert interessiert sind, sei dieser Band zur Kenntnisnahme und kritischen Befassung vorgelegt.

Reimar Lust Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung 1989-1999

X

Umbrüche als Problem deutscher Geschichte

Die Umbrüche von 1 9 1 8 , 1 9 3 3 , 1 9 4 5 und 1989 als Wendepunkte deutscher Geschichte W O L F G A N G SCHIEDER

I. In einem der ersten historischen Rückblicke auf das 20. Jahrhundert hat Eberhard Jäckel vor kurzem behauptet, es habe sich um ein „deutsches Jahrhundert" gehandelt. Der Einfluß der Deutschen auf die Weltpolitik sei in dieser Zeitspanne so groß gewesen wie der keines anderen Volkes. Kein anderes Land habe „Europa und der Welt im 20. Jahrhundert so tief seinen Stempel eingebrannt wie Deutschland" 1 . Jäckel ist selbstverständlich klug genug, das nicht im Sinne einer Erfolgsbilanz zu behaupten, aber er suggeriert doch, daß sich das Jahrhundert vor allem um die Deutschen gedreht hätte. Niemand wird ihm widersprechen, daß die Deutschen die Welt in diesem Jahrhundert zweimal herausgefordert und damit in einen zweiten „Dreißigjährigen Krieg" (Raymond Aron) gestürzt haben. Sie haben aber diesen Krieg zweimal verloren, zermürbt und erschöpft das erste Mal, geradezu vernichtet das zweite Mal. Den erstrebten ,Platz an der Sonne' haben sie ebensowenig gefunden wie den angeblich benötigten,Lebensraum im Osten'. Die Welt ist nicht ,am deutschen Wesen genesen'. Insofern ist es den Deutschen eigentlich gerade nicht gelungen, das Jahrhundert zu dem ihren zu machen. Statt dessen haben sie, einmal ganz abgesehen von der moralischen Schuldenlast, die sie sich gegenüber anderen Völkern vor allem durch den Mord an den europäischen Juden, dem Jahrhundertverbrechen des ,Dritten Reichs', aufgeladen haben, als Volk aus eigener Schuld alles durchlebt, was dieses „extreme Jahrhundert" kennzeichnet 2 . Sie mußten sich so oft wie sonst kein anderes europäisches Volk, ganz zu schweigen von den US-Amerikanern, einem Systemwechsel unterziehen. Die Erfahrung politischer und gesellschaftlicher Umbrüche ist für die deutsche Kollektiverfahrung das prägende Erlebnis dieses Jahrhunderts gewesen. Nicht umsonst ist heute in Deutschland,Stabilität' der wohl am höchsten geschätzte politische Wert, angefangen von der Regie-

1 E. Jäckel, Das deutsche Jahrhundert, 4. Aufl., Stuttgart 1998, S. 7. 2 E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1999.

Die Umbrüche von 1918, 1933, 1945 und 1989

3

rungsstabilität über die Stabilität der Renten bis hin, und das am meisten, zur Stabilität der immer noch Deutschen Mark. Welche Umbrüche sind es, die den Deutschen im 20. Jahrhundert am meisten zu schaffen machten? Denkt man an die gewaltigen Folgen der von ihnen gewollten Kriege, sollte man den „Griff nach der Weltmacht" 3 von 1914 und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs von 1939 für die wichtigsten Umbrüche in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts halten. Beide Male, so wäre einzuwenden, handelte es sich jedoch um Ereignisse, die längst im voraus angelegt waren und die außerdem an der inneren Verfassung Deutschlands nichts änderten. Erst das Kriegsende 1918 bzw. 1945 bewirkte jeweils einen entscheidenden Umbruch. Nicht ganz falsch wäre es, die Währungswechsel, die 1923 nach der Hyperinflation und 1948 mit der Währungsreform vollzogen wurden, als einschneidende deutsche Umbrüche anzusehen. Mental lasteten sie zweifellos schwer in der kollektiven Erinnerung jeweils einer ganzen Generation. Die Währungssanierung führte aber in beiden Fällen keinen gesellschaftlichen Systemwechsel herbei, sie bestätigte im Gegenteil die bestehende monetäre und gesellschaftliche Ordnung. Als die wichtigsten Umbrüche des Jahrhunderts bleiben so die von 1918, 1933,1945 und 1989 übrig. Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine Auswahl von politischen Ereigniszusammenhängen, aber doch um keine willkürliche. Die Ereignisse, die sich in diesen vier Jahren in Deutschland vollzogen, haben die longue durée der deutschen Geschichte mehr unterbrochen als alle anderen dieses Jahrhunderts. Welcher Art waren die so markierten Umbrüche? Zunächst kann man feststellen, daß sie sich jeweils nicht nur auf ein Jahr, sondern sogar auf einen einzigen Tag datieren lassen: den 9. November 1918, den 30. Januar 1933, den 9. Mai 1945 und den 9. November 1989. Das ist keine reine Äußerlichkeit. Als Historiker sind wir uns zwar der Tatsache bewußt, daß solche Tage jeweils nur symbolische Daten sind, so wie der 14. Juli 1789 für die Französische Revolution. Es besteht aber ganz offensichtlich ein Bedürfnis, jeden Umbruch auf einen einzigen Tag oder gar ein einziges Ereignis an diesem Tag (die Ausrufung der Republik durch Scheidemann, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation und die Öffnung der Mauer) zu verkürzen. In Wirklichkeit handelt es sich zwar selbstverständlich jeweils um längere historische Prozesse. Die herausgehobenen Umbruchsdaten haben jeweils eine Vor- und eine Nachgeschichte. Aber diese vielschichtigen und häufig widersprüchlichen Umwälzungs-

3 F. Fischer, Der Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961.

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Wolfgang Schieder

prozesse waren für die Zeitgenossen schwer zu durchschauen und sind auch nachträglich nicht ohne weiteres epochal einzuordnen. Fing die Revolution von 1918 im Oktober dieses Jahres an oder schon 1917 mit der russischen Oktoberrevolution und dem amerikanischen Kriegseintritt einerseits, der Erklärung des unbeschränkten U-Bootkriegs und der Friedensresolution des deutschen Reichstags andererseits? Und wann endete die Revolution? Mit dem Zusammentritt der ersten gewählten Nationalversammlung am 6. Februar 1918 oder der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles am 28. Juni 1918 (das wäre eine enge Interpretation) oder erst mit der Niederschlagung des Hitlerputsches am 9. November und der Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 (das wäre die weitere Interpretation)? Wann wurde die Machtübernahme Hitlers unvermeidlich? Mit dem Sturz der Großen Koalition im März und den Reichstagswahlen im September 1930 (das wäre wieder die weitere Interpretation) oder erst mit dem Treffen Hitlers und Papens am 4. Januar 1933 (das wäre die wohl engstmögliche Interpretation)? Auch über den Zeitpunkt, an dem die faschistische Diktatur Hitlers sich totalitär verfestigte, gibt es unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, die von der Durchsetzung des Ermächtigungsgesetzes bis zur sogenannten Blomberg-Fritsch-Krise von 1938 reichen. Der 8. Mai 1945 ist erst recht ein fiktives Datum, da die Unterzeichnung der deutschen Kapitulation bekanntlich zunächst in der Nacht vom 7. zum 8. Mai in Reims und dann am 9. Mai nochmals in Berlin-Karlshorst erfolgte. Eigentlich wurde dem deutschen Umbruch von 1945 endgültig sogar erst 1949 mit der Gründung von zwei Staaten auf dem Boden des Deutschen Reiches ein Ende gesetzt. 1989 schließlich ist der 9. November eher als der Beginn einer Entwicklung, die erst mit der Eingliederung der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik an ihr vorläufiges Ende kam, anzusehen. Auf die „blühenden Landschaften" (Helmut Kohl) im Osten der erweiterten Bundesrepublik wird man im übrigen noch sehr viel länger warten müssen. Die deutsche Vereinigung von 1990 ist deshalb bis heute noch alles andere als abgeschlossen. Den Anfang hatte schon, ohne daß das freilich für die Zeitgenossen schon gleich ersichtlich gewesen wäre, der Machtantritt Gorbatschows in der Sowjetunion im Jahre 1985 gesetzt. Auf die Verhältnisse in der DDR bezogen, war die Gründung der Oppositionsgruppen Neues Forum, Demokratie Jetzt und Demokratischer Aufbruch im September 1989 sicherlich das auslösende Ereignis. Selbstverständlich sind das alles nur mögliche, keineswegs unumstritten feststehende Eingrenzungsmöglichkeiten. Die Faktizität der Geschichte sollte in der historischen Rückschau nicht dazu verführen, auch in solch fundamentalen Umbruchssituationen, wie sie in den Jahren 1918, 1933, 1945 und 1989 gegeben waren, alternative Entwicklungen auszuschließen. Es gab in Die Umbrüche von 1918, 1933,1945 und 1989

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allen vier Fällen mehr oder weniger große Handlungsspielräume, innerhalb derer jeweils auch andere Optionen denkbar gewesen wären. Doch würde die Geschichtswissenschaft ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht nach dem Gemeinsamen in der Verschiedenheit fragte.

II. Was war den deutschen Umbrüchen gemeinsam? Hatten sie überhaupt etwas Gemeinsames? Zunächst einmal ist auffällig, daß in der wissenschaftlichen Literatur eine Fülle von synonymen Begriffen benutzt werden, welche den Vorgang eines historischen ,Umbruchs' bezeichnen. Das ist sicherlich kein Zufall. Nichts ist für den Historiker schwerer auf den Begriff zu bringen, als der plötzliche Wechsel geschichtlicher Strukturen. Es gibt nicht nur in den von uns zu betrachtenden Fällen eine ganze Onomasiologie von Umbruchsbezeichnungen. Nicht nur im Hinblick auf 1989 ist zunächst von ,Wende' oder - davon abgeleitet - von ,Wendepunkt', ,Wendemarke' oder Zeitenwende' die Rede. Was sich jeweils veränderte, bleibt in dieser Terminologie im Ungefähren. Etwas deutlicher markiert werden die deutschen Umbrüche des 20. Jahrhunderts, wenn von Einschnitten',,Zäsuren' oder,Scheidewegen' die Rede ist. Die Semantik dieser Begriffe deutet an, daß mit den Umbrüchen jeweils eine Epoche zu Ende war und eine neue begann. Deshalb ist dann auch manchmal von,Epochengrenze' oder,Epochenwandel' die Rede. Schärfer noch deuten dies Begriffe wie Zusammenbruch' (vor allem für 1945 gebraucht) oder ,Umsturz' (für 1918 sehr beliebt) an. A m deutlichsten wird ein Umbruch jedoch akzentuiert, wenn er als ,Revolution' bezeichnet wird. Tatsächlich ist im Zusammenhang der deutschen Umbrüche des 20. Jahrhunderts auch häufig von ,Revolution' die Rede, dies allerdings auf etwas widersprüchliche Art und Weise. 1918 und 1989 glaubten sicherlich die meisten Deutschen eine ,Revolution' zu erleben bzw. mitzuerleben. Die Geschichtswissenschaft mag ihnen jedoch nachträglich nicht ganz folgen. Von 1918 spricht man heute nur noch als von einer „steckengebliebenen Revolution" 4 , und für 1989 hat sich längst der Begriff der,Wende' eingebürgert. Dafür steht immer wieder einmal das Jahr 1933 unter Revolutionsverdacht, als „braune Revolution" 5 oder als „alternative Revolution" 6 . Zieht man diese semanti-

4 E. Kolb, Die Weimarer Republik, 4. Aufl., München 1998, S. 22. 5 D . Schoenbaum, Die braune Revolution. Köln/Berlin 1968. 6 R. Zitelmann, Hitler-Bild im Wandel, in: K . D . Bracher/M. Funke/H.-A. Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. N e u e Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 1992, S. 505. 6

Wolfgang Schieder

sehen Bemühungen der Historiker zusammen, so ergibt sich ein etwas bizarrer Befund: einerseits bemüht man sich, den revolutionären Charakter von 1919 und 1989 in Frage zu stellen, andererseits versucht man, der Machtübertragung an Hitler das Attribut,Revolution' zuzugestehen. Dem 8. Mai 1945 wird dagegen fast nie die Eigenschaft einer .Revolution' zugesprochen, obwohl die Zäsur von 1945 in der jüngsten deutschen Geschichte vielleicht einschneidender war als alle anderen. Es liegt mir fern, mich als Historiker hier vorschnell begrifflich festzulegen. Jedoch sollten wir uns darüber im klaren sein, daß wir auch in diesem Fall „die Geschichte durch ihre jeweiligen Begriffe" interpretieren 7 . Die Behauptung von Hayden White, daß auch „Klio" dichte, weil die Sprache der Historiker von Metaphern durchwirkt sei, trifft ja leider nicht zu 8 . Nur Schriftsteller können sich der Wörter einer Sprache so bedienen wie sie wollen und im Zweifelsfall hinterher immer noch sagen, daß sie es so nicht gemeint hätten. Historiker und Historikerinnen müssen über die von ihnen benutzten Begriffe hingegen immer Rechenschaft abgeben. Es ist deshalb beispielsweise nicht bloß eine metaphorische Variante, ob man Hitlers Machtübernahme von 1933 als ,Wende',,Umsturz' oder als ,Revolution' bezeichnet. Ein zweites Merkmal der vier Umbrüche besteht darin, daß jeweils nur eine Minderheit der Deutschen sie anstrebte. 1918 war es nicht einmal die gesamte USPD, sondern höchstens ihr linker, sich am 1. Januar 1919 dann auch als K P D verselbständigender Flügel. Die SPD hatte gemeinsam mit dem Zentrum und der D D P schon im Oktober 1918 mit der Durchsetzung des parlamentarischen Regierungssystems eigentlich ihre politischen Nahziele erreicht. Am 9. November ging es ihr nur noch um Schadensbegrenzung, nicht aber um eine weitertreibende Revolution. Ihren, wie wir heute wissen, beträchtlichen Handlungsspielraum zu einer durchgreifenden Beseitigung des alten Systems nutzte sie nicht. Die Anhänger des Alten Regimes konnten sich so weitgehend halten und eine zunehmend erstarkende Front von Republikgegnern aufbauen. Daß die Deutschen, die 1933 den Nationalsozialismus an die Macht bringen wollten, in der Minderzahl waren, daß ihre Zahl bei den Novemberwahlen von 1932 sogar zurückgegangen war, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Allerdings waren diejenigen Deutschen, welche die demokratischen Institutionen abschaffen wollten, schon seit 1930 in der Mehrheit, wenn man die politische Rechte und die kommunistische Linke zusammenzählt. Mit einem politischen Unterdrückungsregime, wie es Hitler zwar ver-

7 R. Koselleck, Einleitung, in: ders./O. Brunner/W. C o n z e (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. X X I I I . 8 H. White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Falschen, Stuttgart 1986.

Die Umbrüche von 1918, 1933, 1945 und 1989

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schlüsselt, aber unmißverständlich anstrebte, rechneten dabei allerdings nur die Nationalsozialisten selbst. Die nationalkonservativen Drahtzieher, die Hitler am 30. Januar die Macht übertrugen, glaubten bekanntlich, ihn l ä h men' zu können. Sie stellten sich vor, daß Deutschland auf ähnliche Weise faschistisch würde, wie das große Vorbild Italien. Hitler sollte mit seiner nationalsozialistischen Bewegung von Reichswehr, Bürokratie und Großgrundbesitzern politisch eingebunden werden. Daß Hindenburg kein monarchisch legitimierter Ersatzkaiser war, zeigte sich jedoch spätestens bei seinem Tod. Indem Hitler als Reichskanzler unter eindeutigem Verstoß gegen die Verfassung gleichzeitig das Reichspräsidentenamt usurpierte, machte er den Weg frei zu einer totalitären Qualitätsveränderung seines Regimes. Die Deutschen sind ihm, sofern sie nicht ausgegrenzt, verfolgt, eingesperrt oder vertrieben wurden, schließlich in ihrer ganz großen Mehrheit gefolgt. Hitlers totalitär-faschistische Diktatur beruhte nicht nur auf Terror, sondern bei aller „Resistenz" 9 auf einem hohen Maß an Zustimmung. Nachdem Hitler halb Europa besiegt oder besetzt hatte, war die kollektive Zustimmung bezeichnenderweise am größten. Erst in den letzten Kriegsjahren setzte, wie wir wissen, ein allmählicher Abfall größerer Bevölkerungsteile vom Regime ein. Das Attentat vom 20. Juli 1944 ist dafür der eindrucksvollste Beleg. Es ist freilich schwer zu beweisen, ob sich am Ende des .Dritten Reiches' die Mehrheit der Deutschen innerlich vom Nationalsozialismus losgesagt hat. Noch fünfzig Jahre nach dem 8. Mai 1945 ist darüber die ziemlich absurde Debatte geführt worden, ob die Deutschen das Ende des ,Dritten Reichs' als ,Befreiung' oder als ,Niederlage' erlebt hätten. Auf die Befreiung gewartet haben in Deutschland eindeutig nur die in Lagern und Gefängnissen des Regimes gequälten Menschen und die Verfolgten in ihren Verstecken. Die bis zuletzt in einen sinnlosen Krieg getriebenen Soldaten und die unter dem Bombenkrieg leidende Zivilbevölkerung ersehnten zwar nichts mehr als das Ende des Krieges, nicht aber unbedingt auch das Ende des Nationalsozialismus. Nach den von Erwin Scheuch ausgewerteten 190 Umfragen der amerikanischen Militärbehörden in Deutschland fanden im November 1947 nur 26 % der Befragten, Deutschland habe den Krieg verschuldet 10 . Noch im Juni 1949 hielten über die Hälfte der Deutschen den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Was immer man von solchen Umfragen halten mag, ist aus diesen Ergebnissen jedenfalls doch zu schließen, daß es vor dem 8. Mai 1945 mit Sicherheit nur eine Minderheit der

9 M. Broszat, Resistenz und Widerstand, in: ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1986, S. 68-91. 10 E. K. Scheuch, Der Umbruch von 1945 im Spiegel der Umfragen, in: U. Gerhardt/ E. Mockmann (Hg.), Gesellschaftlicher Umbruch 1945-1990, München 1992, S. 17. 8

Wolfgang Schieder

Deutschen gewesen ist, die mit dem Kriegsende auch das Ende des Nationalsozialismus herbeiwünschte. Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 schließlich stellt sich heute als der Anfangspunkt der Vereinigung der beiden deutschen Staaten dar, die seit 1949 nebeneinander bestanden hatten. Es waren aber, darüber kann kein Zweifel bestehen, zuletzt nur noch wenige Deutsche, die an die Wiederherstellung nationaler Einheit tatsächlich geglaubt oder gar darauf hin gearbeitet hatten. Die Deutschen kamen 1989 tatsächlich zu einer durchaus „unverhofften Einheit" 1 1 . Die Parole der Wiedervereinigung' hatte ja ursprünglich die Wiederherstellung eines Deutschlands in den fiktiven Grenzen von 1937 gemeint, also die Vereinigung der Bundesrepublik mit der D D R und den unter polnischer bzw. sowjetischer Verwaltung stehenden ehemaligen preußischen Ostprovinzen. Diese Vorstellung hatte sich mit den Verträgen mit Polen und der Sowjetunion zu Anfang der 70er Jahre erledigt. Der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag lief, ungeachtet aller staats- und verfassungsrechtlichen Vorbehalte, auf eine dauerhafte gegenseitige Anerkennung der beiden deutschen Staaten hinaus. Bezeichnenderweise gab es denn auch auf den Leipziger Montagsdemonstrationen vor dem 9. November 1989 zunächst keinerlei nationale Töne. Die aufkommende ostdeutsche Oppositionsbewegung wollte eine,andere Republik', das heißt ein wirklich demokratisches, womöglich sozialistisches System, anstelle der polizeistaatlichen Parteidiktatur der D D R . Mit der Bundesrepublik hatte sie zunächst nichts im Sinn. Erst die Auflösung des spätstalinistischen Sowjetimperiums löste einen sich immer mehr selbst beschleunigenden Prozeß aus, der schließlich zu der zunächst nur von Wenigen erwarteten, geschweige denn allgemein angestrebten Vereinigung der D D R mit der Bundesrepublik Deutschland führte. Die Ausrufung der Republik am 9. November 1918, die Regierungsübernahme Hitlers 1933, das Ende des .Dritten Reichs' 1945 und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1989/90 - jedes Mal handelte es sich also um eher unerwartete, jedenfalls nicht von der großen Mehrheit der Deutschen aktiv angestrebte Umbrüche. U m so mehr stellte sich, und das bietet eine dritte Möglichkeit des Vergleichs, nach den vier Umwälzungen jeweils die Frage nach der Kontinuität in der Veränderung. Wieviel Uberhang hatte der „autoritäre Nationalstaat" 1 2 des Deutschen Kaiserreichs nach der Revolution von 1918? In der Geschichtswissenschaft besteht heute kein Zweifel mehr daran, daß von den alten Strukturen viel zu viele bestehen blieben. Die hohe Beamtenschaft blieb

11 K. Jarausch, Die unverhoffte Einheit 1989-1990, Frankfurt a.M. 1995. 12 W. J. Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1990. Die Umbrüche von 1918,1933, 1945 und 1989

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im Amt, der Großgrundbesitz wurde nicht angetastet, notwendige Verstaatlichungen wie z. B. bei der Kohleförderung wurden zurückgestellt. Vor allem wurde die militärische Niederlage im Krieg von der großen Mehrheit des deutschen Volkes nicht akzeptiert, der von den Alliierten aufgezwungene Friedensvertrag von Versailles nicht angenommen. Die parlamentarische Demokratie blieb deshalb nur ein kurzes Zwischenspiel zwischen dem bis fast zuletzt autoritären System des Kaiserreichs und dem bald totalitären System des Nationalsozialismus. Statt von , Weimarer Republik' könnte man eigentlich von einer ,kurzen Republik' sprechen. Zwar blieb die Verfassung von Weimar formal bekanntlich bis zur Erklärung der vier alliierten Militärbefehlshaber vom 5. Juni 1945 in Kraft, durch die die Staatlichkeit des Deutschen Reichs ausgelöscht und die Hoheitsgewalt der vier Siegermächte in Deutschland etabliert wurde. Aber die Verfassungswirklichkeit des ,Dritten Reichs' sprach dem Hohn. Ein anderer Diskurs ist freilich zu führen, wenn man auf die Wirtschaftsordnung und die gesellschaftliche Verfassung Deutschlands von 1933^45 sieht. Es würde zu weit führen, hier auf die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen einzugehen, welche die Historiker über das Problem des sozialen Wandels im,Dritten Reich' geführt haben. Der Hinweis auf die These von Henry A. Turner, es habe sich um eine Modernisierung zur Erreichung von „im Grunde fortschrittsfeindlichen Zielen" gehandelt, mag hier genügen 13 . Wahrscheinlich war es überhaupt nur eine „vorgetäuschte Modernisierung", wie Hans Mommsen gesagt hat 14 . Auch in der ,Stunde Null', wie die Deutschen nach 1945 gerne sagten, so als ob alles von vorne anfinge und alles was vorher war, nicht mehr zählte, blieb - allerdings nur im westlichen Deutschland - sehr viel mehr vom Erbe des Nationalsozialismus erhalten, als sich das viele vorgestellt hatten. Die etwas weltfremde Debatte, die seit den frühen 60er Jahren über die ,deutsche Restauration' geführt worden ist, hatte hier ihren realen Kern. Bei der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland schließlich sollten die Ostdeutschen ihre kommunistische Vergangenheit mit einem Schlag hinter sich lassen. In kürzester Zeit, im Grunde im Verlauf eines einzigen Jahres, mußten sie einen fundamentalen Systemwechsel sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesellschaftlicher und verfassungspolitischer Hinsicht verkraften. Das hatte es selbst im umbruchsgewohnten Deutschland bisher noch nicht gegeben. Daß sich ein großer Teil der Ostdeutschen dadurch 13 H. A . Turner, Faschismus und Anti-Modernismus, in: ders., Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 1972, S. 172. 14 H. Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: W . H. Pehle (Hg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt a. M. 1990, S. 3 W 6 .

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überfordert fühlte, kann deshalb nicht überraschen. Längst haben wir inzwischen auch begriffen, daß es noch mindestens eine Generation dauern wird, ehe die staatssozialistischen Traditionsbestände aus der kollektiven Mentalität der Ostdeutschen verschwinden.

III. Lassen Sie mich abschließend noch aus einer anderen Perspektive auf die vier großen Umbrüche der deutschen Geschichte zurückblicken. Es ist eine uns allen geläufige Erfahrung, daß historische Epochenjahre in der Perzeption der Historiker nicht ein für alle Mal feststehen oder zumindest dieselbe Bedeutung haben. Über die Gemeinsamkeiten der deutschen Umbrüche des 20. Jahrhunderts hinaus muß deshalb danach gefragt werden, was sich jeweils nach einem Umbruch in der Perzeption des vorausgehenden geändert hat. Ich bin mir natürlich darüber im Klaren, daß es sich hier jeweils um sehr komplexe Perzeptionsvorgänge handelt, die nur schwer auf einen Nenner gebracht werden können. Aber es gab nach allen vier Umbrüchen doch gewisse Grundeinstellungen, sozusagen eine jeweils ,herrschende Meinung', über die man in aller Kürze gewisse Aussagen machen kann. Auch wenn man sich das heute nur noch schwer vorstellen kann, erlebten die Deutschen den militärischen Zusammenbruch und die nachfolgende Ausrufung der Republik im Jahre 1918 als eine nationale Katastrophe. Bis zuletzt hatte die verantwortungslose O H L dem Volk eingeredet, im Felde unbesiegbar zu sein. Das hastig herbeigeführte Ende der Kampfhandlungen und die eilige Einführung des parlamentarischen Regierungssystems hatten die soziale Unruhe der kriegsmüden Massen nicht mehr dämpfen können. Ausgehend von der Meuterei der Matrosen breitete sich in ganz Deutschland in wenigen Tagen eine Umsturzbewegung aus. Anders als im Jahr zuvor in Rußland wurde diese Bewegung keineswegs von einer revolutionären Kaderpartei gesteuert. Mit dem Auftritt Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts auf der politischen Bühne schien eine weitertreibende Revolution allerdings möglich zu sein. In Wahrheit stand diese, vor allem dank der tatkräftigen Machtübernahme der SPD und der U S P D in den Arbeiter- und Soldatenräten zwar überhaupt nicht zur Diskussion. Aber hinter der Unruhe der ersten Revolutionsmonate stand immer das,Gespenst der Revolution', ein Gespenst wie das von 1848, aber doch eines, das man im Unterschied zu damals durchaus für real halten konnte. Im Erfahrungshorizont der überwältigenden Mehrheit der Zeitgenossen wurde die deutsche Revolution von 1918, nach allem, was wir heute wissen, zum Fanal eines bolschewistischen Umsturzes. Die ganze Politik der Weimarer Republik war von Kommunistenfurcht geprägt. Die lan-

Die Umbrüche von 1918, 1933, 1945 und 1989

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desweite Konstituierung der Arbeiter- und Soldatenräte und die Ausrufung der Bayerischen Räterepublik wurden als Einstieg in den Bolschewismus verstanden. Noch nach 1945 lief Karl Dietrich Erdmanns einflußreiche Interpretation der Revolution von 1918 bezeichnenderweise darauf hinaus, der deutschen Rätebewegung fälschlich das Ziel einer Sowjetisierung des Landes zu unterstellen 15 . Nicht zufällig hatte Hitler nach 1933 sehr viel daran gelegen, die Revolution von 1918 semantisch zu korrigieren. Er deutete den für ihn eindeutig negativ besetzten Revolutionsbegriff dadurch positiv um, daß er den Zusatz „nationalsozialistisch" hinzufügte. In der gelenkten Öffentlichkeit des ,Dritten Reichs' erschien der Umbruch von 1918 damit durch den von 1933 sozusagen geheilt zu sein. Erst recht wurde die .Revolte' von 1918 aus der Erinnerung des Nationalsozialismus verbannt, nachdem der ,Führer' im September 1934 auf dem Reichsparteitag seine Revolution für beendet erklärt hatte. Das Kapitel Revolution war für die Nationalsozialisten nunmehr abgeschlossen. „In den nächsten tausend Jahren" (sie!) sollte in Deutschland nach Hitlers Prognose keine Revolution mehr stattfinden 16 . Wer aus politischen Gründen das ,Dritte Reich' verlassen mußte, wer aus sogenannten rassischen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und mancher von den ganz gewöhnlichen Deutschen, die im Laufe des Krieges in innere Distanz zu dem NS-Regime gerieten, blickte im Lichte von 1933 sicherlich anders auf 1918 zurück. Aber selbstverständlich war das nicht. Nicht einmal die Verschwörer des ,20. Juli' hatten bekanntlich über die Umwälzung von 1918 wesentlich andere Ansichten als die Nationalsozialisten. Die Revolution war für sie der Anfang jenes Parteienstaates, als dessen - allerdings verhängnisvolle - Aufgipfelung sie Hitlers totalitär-faschistische Parteidiktatur ansahen. Mit dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs' und der totalen militärischen Niederlage änderte sich 1945 für die Deutschen nach nur zwölf Jahren erneut der Fluchtpunkt der historischen Erinnerung. Nicht mehr 1918, sondern 1933 stand mit einem Mal im Zentrum aller Diskussionen. Wieder war in Deutschland eine ,Umwertung aller Werte' notwendig. Wie sollte, wie konnte man den Umbruch von 1933 in den Gang der deutschen Geschichte einordnen? Es dauerte ziemlich lange bis sich nach 1945 die Erkenntnis allgemein durchsetzte, daß es sich 1933 um einen Zivilisationsbruch gehandelt hatte, durch den sich die Deutschen vorübergehend aus dem Kreis der europäischen Zivilgesellschaften verabschiedet hatten. Noch länger umstritten, ja 15 K. D. Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 4,1, Stuttgart 1973, S. 1 4 1 - 1 9 7 . 16 A. Hitler, Aufruf an das deutsche Volk und die N S D A P , 20.8.1934, in: M. Dohmarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1 9 3 2 - 1 9 4 5 , Bd. 1, Wiesbaden 1973, S. 447f.

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bis 1989 im Grunde nicht entschieden, blieb die Frage, weshalb es zu ,1933' gekommen war. War es die unvermeidbare Folge gewisser Präfigurationen, die schon in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs von 1871 angelegt waren oder war es nur ein .Betriebsunfall', der genauso gut hätte vermieden werden können? Tatsächlich waren es diese beiden Denkfiguren, um deren Meinungsführerschaft seit 1945, allerdings nur im westlichen Teil des seit 1949 in zwei einander systemfeindliche Staaten aufgespaltenen Deutschlands, gerungen wurde. Ein wenig zugespitzt könnte man sagen, daß es um die Frage ging, ob man 1933 als historische Konsequenz oder als Bruch mit der deutschen Geschichte interpretierte. Der ersten Interpretationslinie wies schon Friedrich Meinecke mit seinem Buch „Die deutsche Katastrophe" von 1946 die Richtung 1 7 . Das ,Dritte Reich' geriet in Meineckes Sicht zu einem durchaus vermeidbaren Unglücksfall der deutschen Politik zu Ende der Weimarer Republik. Dafür sprach in der Tat die unglückselige Rolle einzelner Führungspersönlichkeiten wie Hindenburg, Papen oder Schleicher. Dafür sprach auch der Einfluß der von Deutschland nicht verschuldeten, aber das Land mit besonderer Härte treffenden Weltwirtschaftskrise von 1929. Schließlich sprach dafür auch, daß der Bruch der ,Großen Koalition' im März 1930 keineswegs unvermeidbar war. ,Weimars Ende' kann deshalb durchaus in hohem Maße auf akzidentelle Faktoren zurückgeführt werden. Das ist um so mehr möglich, wenn man die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik nicht als eine in sich geschlossene Epoche, sondern als einen offenen historischen Prozeß ansieht, in dem es nach den Jahren der Gründungskrise zwischen 1924 und 1929 eine „Phase der relativen Stabilisierung" gab 18 . J e mehr Handlungsspielräume die historische Forschung für die Politik der Weimarer Republik nachweisen konnte, desto weniger unvermeidlich mußte ,1933' erscheinen. Schon 1955 hatte freilich Karl Dietrich Bracher mit seinem monumentalen Werk über „Die Auflösung der Weimarer Republik" einen anderen Akzent gesetzt 19 . Die von ihm für die Endphase der Weimarer Republik rekonstruierten „Stufen des Machtzerfalls" waren letzten Endes das Endprodukt einer von Anfang an fehlkonstruierten politischen Verfassung. ,1918' wurde damit in der historischen Rückschau deutlich an ,1933' herangerückt. Die Weimarer

17 F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946. 18 Kolb, Weimarer Republik, S. 54. 19 K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955.

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Republik schien in vieler Hinsicht nur noch Fortsetzung des Kaiserreichs mit anderen Mitteln gewesen zu sein. Im Kern war dies schon die Denkfigur des,deutschen Sonderwegs', welche weniger die akzidentellen als vielmehr die strukturellen Rahmenbedingungen für die politische Ermöglichung Hitlers als wesentlich ansieht. Deutschland als die „verspätete Nation" 2 0 , als Land, „dem bis 1918 keine bürgerliche Revolution gelungen ist" 21 , als System eines „reactionary modernism" 22 , das sind die Stichworte dieser Sonderwegsthese, wie sie z. B. lange Zeit von Hans-Ulrich Wehler eindrucksvoll vertreten worden ist 23 . ,1933' erscheint in dieser historischen Perspektive als das Ergebnis der Geschichte einer Gesellschaft, die sich gegen einen demokratischen Verfassungswandel sträubte, die weder im Innern zu einer nationalen Homogenität fand noch außenpolitisch saturiert sein wollte, die schließlich einen beschleunigten industriellen Wandel vollzog ohne die sozialen Klassenfronten abzubauen. Eine Schwäche dieser Denkfigur war es allerdings, daß sie sich zwar idealtypisch am westeuropäischen Weg der Modernisierung orientierte, dabei jedoch nicht beachtete, daß der halbe Kontinent seit dem späten 19. Jahrhundert ähnliche Entwicklungen durchgemacht hat wie Deutschland. Als Hitler an die Macht kam, orientierte er sich explizit an dem faschistischen Vorbild, das Mussolini 1922 in Italien geliefert hatte. Nichtfaschistische autoritäre Regime gab es, außer in Frankreich, Großbritannien, den Beneluxländern sowie den skandinavischen Ländern (ohne Finnland) zu diesem Zeitpunkt in fast allen übrigen Staaten Europas vom Baltikum bis Portugal. Deutschland ging insofern 1933 zunächst keinen ,Sonderweg', sondern fügte sich in die Gemeinschaft autoritärer Regime Europas ein. Erklärungsbedürftig ist deshalb eigentlich nur, weshalb Deutschland nach 1933 im Vergleich zu den übrigen autoritären Regimen Europas einen totalitären Sonderweg gegangen ist. Die internationale Faschismusforschung hat dazu wichtige Erkenntnisse beigetragen. Ich nenne nur drei zentrale Ergebnisse. Erstens lehrt der Vergleich im Rückblick auf die Machtübertragung an Hitler im Jahre 1933 und an Mussolini im Jahre 1922, daß es besondere historische Rahmenbedingungen waren, welche nur in diesen beiden Ländern eine faschistische Diktaturbildung möglich machten. Es war die relative Gleichzeitigkeit von krisenhafter innerer Nationsbildung, Modernisierung des Verfassungssystems und ökonomischer Wachstumskrise, die nach dem Ersten Weltkrieg gerade in Italien und Deutschland zu einer fundamentalen gesellschaftlichen Systemkrise 20 H. Pleßner, Die verspätete Nation, 4. Aufl., Stuttgart 1966. 21 E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. 1962, S. 113f. 22 J. Herf, Reactionary Modernism, Cambridge 1990. 23 Vgl. vor allem H. U. Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , Göttingen 1973.

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führte. Anders als in anderen europäischen Ländern ließ sich diese nicht durch die Einführung von Königs-, Präsidial- oder Militärdiktaturen überwinden, weil es in beiden Ländern nach 1918 zur Entstehung systemfeindlicher rechter Massenbewegungen gekommen war. Die modernisierungsfeindlichen national-konservativen Eliten mußten in Italien und in Deutschland mit diesen Massenbewegungen neuer Art zusammenarbeiten, wenn sie ihre politische Hegemonie erhalten wollten. Daher kam es in beiden Ländern zu einem eigentümlichen politischen Machtkartell, in dem ein charismatischer Führer eine politische Vermittlungsdiktatur ausübte. Wenn man davon ausgeht, daß 1933 in Deutschland nach italienischen Vorbild ebenfalls eine faschistische Diktatur gebildet wurde, so muß man jedoch drittens sogleich hinzufügen, daß sich diese spätestens im Zuge des sogenannten Gleichschaltungsprozesses in eine totalitäre Diktatur verwandelte, mit der sich das italofaschistische Vorbild kaum vergleichen läßt. Es entwickelte sich insofern nach 1933 in Deutschland eine totalitär-faschistische Diktaturform, die sich nicht nur von den autoritären, sondern auch den faschistischen Regimen im Europa der Zwischenkriegszeit qualitativ unterschied. Auch wenn das heute schon wieder etwas in Vergessenheit zu geraten scheint, fand 1989 in Deutschland erneut ein „fundamentaler Systemwechsel" statt, „wirtschaftlich, gesellschaftlich, verfassungspolitisch und ideologisch" 24 . In der konkreten historischen Situation galt das zunächst nur für den östlichen Teil des sich vereinigenden Deutschlands. Es war jedoch für alle Deutschen charakteristisch, daß die Erfahrung des Umbruchs von 1989 die Perzeption des vorausgegangenen von 1945 nachhaltig veränderte. Für die meisten Deutschen, gleichgültig ob in der Bundesrepublik oder in der DDR, war es in den ersten Jahrzehnten nach 1945 nur schwer erträglich, die wahre Dimension dieses Umbruchs zu akzeptieren. Die Spaltung des deutschen Nationalstaates von 1871 in zwei einander systemfeindliche Staaten, die künstliche, nach dem Bau der Mauer vollends unerträgliche Isolationshaftung Westberlins, der Verlust der ehemals preußischen Ostgebiete, verbunden mit Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen in den Westen sowie der erzwungene Verzicht auf klassische Souveränitätsrechte in der Militär- und Außenpolitik schien für die Deutschen mittelfristig nur eine Revision der nach 1945 getroffenen Entscheidungen zuzulassen. Es war die historische Leistung der westdeutschen Politik, wie sie vor allem von Konrad Adenauer vorgegeben wurde, diese Revision nur auf dem Wege einer bedin-

24 J. Kocka, Revolution und Nation 1989. Zur historischen Einordnung der gegenwärtigen Ereignisse, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 19 (1990), S. 479-499, hier: S. 479.

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gungslosen Einfügung in den europäischen Integrationsprozeß verfolgt zu haben. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges ergab sich daraus jedoch das Dilemma, daß der Abstand zwischen der D D R und der Bundesrepublik Deutschland immer größer wurde. Die unter der Regierung Willy Brandts abgeschlossenen Ostverträge zu Anfang der 70er Jahre besiegelten in gewissem Sinn diesen Prozeß. Da das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes jedoch keine endgültige völkerrechtliche Trennung der beiden deutschen Staaten zuließ, blieb die deutsche Frage auf eine höchst eigentümliche Weise weiterhin offen. Die Bundesrepublik Deutschland war ihrem politischen Selbstverständnis nach ein unvollendeter Nationalstaat, der für eine supranationale Integration in Europa prädestiniert zu sein schien. In Wahrheit fehlte es der Bundesrepublik mehr als allen anderen europäischen Unionsstaaten an wirklicher Europafähigkeit, weil sie sich nicht nationalstaatlich definieren konnte. In einer Welt von real existierenden Nationalstaaten war der westdeutsche Staat mit seinem staatlichen Vorbehaltscharakter im Grunde ein Fremdkörper. Erst nach dem Umbruch von 1989 war allerdings in voller Klarheit zu erkennen, welchen Sonderweg die Deutschen auf diese Weise seit 1945 in Westeuropa gegangen waren. Deutschland war in Europa der einzige Nationalstaat gewesen, der in zwei Nichtnationalstaaten aufgespalten war. Innerhalb der Europäischen Union war die Bundesrepublik das einzige Mitglied, das sich selbst unter staatlichem Vorbehalt einbrachte. In der ganzen Welt, angefangen von der U N O , führten die Deutschen das Schauspiel eines anhaltenden politischen Systemkampfs zwischen liberal-demokratischem Denken und sowjetischem Dogmatismus auf. Auch wenn diese ideologischen Auseinandersetzungen in den 80er Jahren deutlich abflauten und zunehmend an Bedeutung verloren, konnte im westlichen Deutschland schon deshalb nie ganz auf einen Ideentransfer in die D D R verzichtet werden, weil die Bundesrepublik Deutschland sich politisch nach wie vor als gesamtdeutscher Treuhänder der Bevölkerung in der D D R definierte. Aus der Sicht von 1989 wirkt es heute einigermaßen merkwürdig, welche Folgerungen die politische Intelligenz der Bundesrepublik im Laufe der Zeit aus dem Umbruch von 1945 gezogen hat. Karl Dietrich Bracher glaubte 1986 in seiner „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" im Rückgriff auf frühere Äußerungen die Bundesrepublik eine „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten" nennen zu können 2 5 . Die Westdeutschen sollten sich

25 K. D . Bracher, Politik und Zeitgeist. Tendenzen der siebziger Jahre, in: ders. u.a., Republik im Wandel.1969-1974. Die Ära Brandt ( = Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bd.V/1), Stuttgart 1986, S. 2 8 5 ^ 0 6 , hier: S. 406.

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nach seiner Vorstellung jenseits des gewöhnlichen deutschen Nationalismus als Avantgarde des europäischen Integrationsprozesses verstehen und damit endlich zu einer kollektiven Identität finden, die ihnen in ihrer real existierenden Teilstaatlichkeit abging. Schon 1979 hatte der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger aus ähnlichen Gründen für einen westdeutschen „Verfassungspatriotismus" plädiert, mittels dessen die Westdeutschen ihre politische Mitte außerhalb des Nationalstaates finden sollten 26 . Jürgen Habermas hat diesen Begriff 1986 im Zuge des ,Historikerstreits' aufgenommen und damit beträchtliche Aufmerksamkeit erregt 27 . Die Bundesrepublik Deutschland sollte nach seiner Vorstellung mit diesem Verfassungspatriotismus endgültig den vorgeblichen Sonderweg des deutschen Nationalismus verlassen und deshalb auf eine Vereinigung mit der D D R endgültig verzichten. Vor dem Hintergrund der heutigen Erfahrungen wirken diese wenige Jahre vor 1989 geäußerten, einer breiten intellektuellen Strömung in Westdeutschland entsprechenden Überlegungen eigenartig abgestanden. Die postnationale Anbindung der Bürger und Bürgerinnen eines Staates ohne Nation an eine letzten Endes abstrakt bleibende Verfassung hätte sich auch als illusionär erwiesen, wenn sich 1989 nicht alles geändert hätte. Wie nicht zuletzt die Dynamik des Vereinigungsprozesses von 1989/90 gezeigt hat, wurde die Verfassungsfrage nämlich erst in dem Augenblick zu einer öffentlichen Angelegenheit von erstaunlicher Massenwirksamkeit, als überraschend auch die seit 1945 scheinbar obsolete nationale Frage zur Lösung anstand. Nation und Verfassung können in der Geschichte der Moderne nicht voneinander gelöst werden. Auch das Gelingen des europäischen Integrationsprozesses dürfte künftig davon abhängen, ob über die Wirtschafts- und Währungsfragen hinaus sich eine gemeinsame europäische Identität verfassungspolitisch absichern läßt. Der Umbruch von 1989 hat den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn nicht das „Ende der Geschichte" gebracht, wie reichlich voreilig behauptet wurde 28 . Im Rückblick auf die Umbrüche von 1919, von 1933 und von 1945 stellt sich 1989 eher als ein wirklicher Neubeginn dar. Erstmals in diesem Jahrhundert sind die Deutschen wirklich politisch saturiert. Sie stellen keine territorialen Ansprüche an ihre Nachbarn. Die nach 1945 vollzogene Einbindung in das westliche Wertesystem ist auch im östlichen Teil Deutschlands

26 D. Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: ders., Verfassungspatriotismus. Schriften, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1990, S. 1 3 - 1 6 . 27 J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, in: „Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 6 2 - 7 6 . 28 F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte: W o stehen wir?, München 1992.

Die Umbrüche von 1918, 1933, 1945 und 1989

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nahezu selbstverständlich geworden. Selbst die Partei des östlichen Ressentiments, die PDS, scheint mehr und mehr davon abzukommen, eine Wende rückwärts in den gelenkten Staatssozialismus der D D R zu planen. Der Rechtsextremismus, so unerfreulich er sich immer wieder einmal darstellt, findet letzten Endes in Deutschland weniger Anklang als in vielen anderen europäischen Nachbarländern. Kein Umbruch also in Deutschland mehr in Sicht? Als Historiker bin ich kein rückwärts gewandter Prophet. Das nächste Jahrhundert wird zeigen, ob die Deutschen ihre Lektion aus den Umbrüchen von 1918, 1933, 1945 und 1989 tatsächlich gelernt haben.

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Deutsche Juden und deutsche Umbrüche M O S H E ZIMMERMANN

Wie .deutsch' war die Geschichte der deutschen Juden im 20. Jahrhundert? - Auch wenn die Periodisierung der Geschichte eines gesellschaftlichen Segments noch keine wirklich eindeutige Antwort auf die Frage der Zugehörigkeit dieses Segments zur einen oder anderen .Ganzheit', zum einen oder anderen geschichtlichen Kontext gibt, so ist durch eine adäquate Periodisierung doch wohl ein Indiz gewonnen für die Plazierung des entsprechenden Segments in einem größeren Rahmen - oder auch ein Kriterium für die Gültigkeit einer Interpretation der Geschichte der gesellschaftlichen .Ganzheit'. Der spezifische Fall, der uns im folgenden beschäftigen wird, ist die Geschichte der deutschen Juden im 20. Jahrhundert, eine Geschichte, die ihren Ort sucht innerhalb der deutschen, der europäischen und der jüdischen Geschichte 1 . Es stellt sich dabei alsbald unweigerlich die Frage, ob die Periodisierung durch die Umbrüche von 1918,1933,1945 und 1989, die aufgrund der für die .allgemeine' deutsche Geschichte postulierten Paradigmen vorgenommen wird, auch für die Geschichte der deutschen Juden gültig ist und ohne weiteres auf sie angewandt werden kann, oder ob die Periodisierung hier nicht anders ausfallen müßte und damit eher in den Rahmen der allgemeinen jüdischen Geschichte zu setzen oder wenigstens als ein von der deutschen Geschichte gelöstes Kapitel zu behandeln wäre. Mit anderen Worten - kann die Geschichte der deutschen Juden wie die Geschichte jedes anderen Segments der deutschen Gesellschaft behandelt werden, oder ist die Gruppe der deutschen Juden auch historiographisch zu .ghettoisieren', also wie es häufig geschieht, den bekannten Darstellungen der rein .jüdischen Geschichte' zuzuordnen, und zwar nach den autonomen, jeweils spezifischen Paradigmen und Koordinaten dieser Geschichte? Mindestens eine sekundäre Epoche empfiehlt sich zunächst - vermeintlich - ohne Einschränkung für eine .Ghettoisierung' der deutsch-jüdischen Geschichte: die Epoche, die mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten

1 Dazu und zum folgenden zuletzt: A. Barkai/P. Mendes-Flohr, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4:1918-1945, München 1997; M. Brenner, The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany, N e w Haven/London 1996; J. Kocka, Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, Frankfurt a.M. 1994; M. Zimmermann, Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997. Deutsche Juden und deutsche Umbrüche

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einsetzte. Heißt es doch im allgemeinen, vor allem die Differenzierung zwischen Täter und Opfer in der Zeit nach 1933 versetze die Geschichte der deutschen Juden in diesem Kontext in eine Art Exklave. Aber selbst im Zusammenhang der Jahre 1933 bis 1945 - ebenso wie vor oder nach dieser Periode - muß der Hiat nicht unbedingt zu einer unterschiedlichen Periodisierung führen, hat doch jede Epoche ihr gesellschaftliches Janusgesicht: Die Geschichte der Arbeiter und Kapitalisten im Zusammenhang der industriellen Revolution vollzog sich durchaus in denselben chronologischen Konturen. Und dies gilt auch in unserem Falle. Mehr noch: Vielleicht bietet gerade die Zeit des Nationalsozialismus als Epoche des absoluten Kontrasts zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland eine maximale Kongruenz zwischen der sogenannten allgemeinen' deutschen und der segmentaren deutsch-jüdischen Geschichte. Gilt aber die Regel, die jüdische Geschichte könne nicht in ein Ghetto gepfercht werden, auch in dem historischen Extremfall der nationalsozialistischen Zeit, dann trifft sie ganz sicher auf andere, .normalere' Abschnitte der Geschichte bzw. der deutsch-jüdischen Geschichte zu. Inwieweit die im vorliegenden Band gegebenen Zäsurdaten der deutschen Geschichte - egal ob vor oder nach 1933 - auch für die Geschichte der deutschen Juden adäquat sind, das hängt nicht zuletzt vom Charakter der jeweiligen Zäsur bzw. vom historiographischen Zugang zu diesen Zäsuren insgesamt ab: Handelt es sich um rein formal-konstitutionelle, um politische, strukturell-gesellschaftliche oder gar kulturelle Umbrüche? Die .Entscheidungsjahre' 1918, 1933, 1945 und 1989 bieten sich als Umbruchsdaten zunächst deshalb an, weil sie politisch und konstitutionell für radikale Umwälzungen gesorgt haben. Daß Historiker jedoch auch radikale Umbrüche mit Leichtigkeit relativieren können, wissen wir spätestens seit Tocquevilles „L'ancient Regime et la RevolutionUnd nicht nur in der .allgemeinen' deutschen Geschichte, sondern auch in der deutsch-jüdischen Geschichte kann man selbst die totalen,Null-Stunden' relativieren und Kontinuitäten feststellen. Doch soll dieser bemerkenswerte Sachverhalt nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Vielmehr geht es uns im folgenden akzentuiert um Antworten auf zwei eng zusammenhängende Problemkreise: Zunächst wollen wir fragen, ob die in unserem Rahmen allgemein als Umbruch bezeichneten Jahre aufgrund derselben Kriterien auch im Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte Umbrüche oder .Entscheidungsjahre' darstellen. Anschließend wird zu überlegen sein, ob sich nicht eventuell auch andere, für die deutsch-jüdische Geschichte spezifischere und relevantere Umbruchsdaten ausmachen lassen.

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Bevor diese Fragen jedoch beantwortet werden können, sollten wir einige grundlegende methodologische Überlegungen anstellen, die im wesentlichen auf folgende Punkte abzielen: Ist der übergeordnete zeitliche Rahmen des 20. Jahrhunderts selbst nicht eher ein technisches Konstrukt als eine mit Inhalt zu füllende historische Epoche? Ist der historische Zusammenhang, dem man auch eine epochale Bedeutung zumessen darf, nicht eher allein auf die Jahre 1914 bis 1945 zu beschränken? War der Umbruch des Jahres 1989 in der deutschen Geschichte tatsächlich von solcher Bedeutung, daß der Rahmen der Diskussion auf die Jahre zwischen 1914 und 1989 - also auf das, was man mit Hobsbawm „das kurze 20. Jahrhundert" nennt - ausgedehnt werden darf? Brachte das Jahr 1989 mit der sogenannten .Wiedervereinigung' Deutschlands demnach letztlich eine tiefere Zäsur als das Jahr 1938 mit dem sogenannten .Anschluß' Österreichs? Darüber hinaus ergeben sich entsprechende Überlegungen auch im Hinblick auf den integrativen Charakter einer Epoche überhaupt: Selbst wenn die Spielregeln zur Bestimmung des zeitlichen Rahmens für alle Teilnehmer gelten, bedeutet dies keineswegs, daß eine bestimmte Gruppe nicht aus dem allgemeinen Rahmen ausgeschlossen werden kann. Auch im Fußballsport gibt es Spieler, die auf der Reservebank sitzen, sich im Abseits befinden oder eine rote Karte erhalten - sich also als Folge der allgemein gültigen Regel in der einen oder anderen Form außerhalb des Spiels befinden. Warum also nicht auch in der Historiographie? Schließlich stellt sich uns die Frage nach dem repräsentativen Stellenwert einer kleine Gruppe, wie es die deutschen Juden waren, für die gesamte Gesellschaft, vor allem wenn es um die großen Krisen und Umbrüche geht: Schärft der Blick aus der Perspektive oder durch das Prisma dieser Gruppe eher die allgemeinen Konturen oder verzerrt er letztlich das Gesamtbild? Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen wollen wir zu unseren oben aufgezeigten Problemkreisen zurückkehren. Erste Kriterien zur adäquaten Betrachtung des Sachverhalts sollen die demographischen Verhältnisse und Veränderungen infolge der Umbrüche abgeben: Mindestens drei der vier zur Debatte stehenden Jahreszahlen haben in der deutschen Geschichte eine nicht unerhebliche demographische Bedeutung und einen entsprechenden Wandel herbeigeführt: Durch Gebiets- und Kriegsverluste in den Jahren 1918 und 1945, durch Teilung und Einigung nach 1945 und 1989, kam es zu Massenverschiebungen der Bevölkerung, also zu einem Wandel der demographischen Verhältnisse. Aber auch das Jahr 1933 hat - vielleicht eher indirekt demographische Bewegungen ausgelöst, so daß alle vier Daten in diesem Zusammenhang anschauliches Material liefern. 1918/19 und 1989 weisen mutatis mutandis auf parallele Verhältnisse im Ausmaß der demographischen Veränderungen in der .allgemeinen' und der Deutsche Juden und deutsche Umbrüche

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deutsch-jüdischen Geschichte 2 . Die demographischen Schwankungen der jüdischen Bevölkerung um das Jahr 1918 standen wie im allgemeinen deutschen Kontext vor allem mit dem neuen Verlauf der Ostgrenze im Zusammenhang. Diese relative Entsprechung gilt jedoch kaum für die Jahre 1933 und 1945: 1933 kam es auf jüdischer Seite zu einer Massenauswanderung oder Vertreibung, die quantitäts- oder qualitätsmäßig kaum mit der Emigration oder der .inneren Emigration' nichtjüdischer Deutscher verglichen werden kann. Und noch deutlicher: 1945 gab es für deutsche Juden so gut wie keine demographische Bewegung, abgesehen von der geringen Zahl derjeniger, die aus dem Osten kurz vor Kriegsende in die Konzentrationslager innerhalb Deutschlands „zurückgeführt" wurden. Die eine Hälfte der zirka 500.000 Menschen zählenden deutsch-jüdischen Gemeinschaft war emigriert, die andere ermordet worden - bereits vor 1945. Demgegenüber stehen als einzige, halbwegs vergleichbare Elemente die Migration und Flucht der deutschen Bevölkerung von Osten in die nach Kriegsende weiterhin zu Deutschland gehörenden Gebiete. In demographischer Hinsicht stellte 1933 damit nahezu selbstverständlich eher das Ende des Nebeneinanders der .allgemeinen' deutschen und der deutsch-jüdischen Geschichte dar. Ausgrenzung und Ermordung der deutschen Juden schufen einen klaren Umbruch für den jüdischen Sektor der Gesellschaft, der nur eine marginale Parallele im gesamtdeutschen Kontext hatte. Kurz und paradox: Selbst wenn die Umbrüche von 1918,1945 und 1989 als Umbrüche auch für die Geschichte der deutschen Juden gelten können, so erhalten sie doch gerade wegen des Umbruchs von 1933, der die bisherige Parallelität der Periodisierungen unwiderruflich zerstörte, einen eigenen Stellenwert. Qualitativ gab es den entscheidenden Bruch in der jüdischen Geschichte im Jahre 1933 - ein Umbruch, der die anderen Daten in den Schatten stellt und auch keine .Wiedergutmachung' oder .Aufrechnung' ermöglicht. Nicht wesentlich anders sehen die Parallelen aus dem Blickwinkel der konstitutionellen und politischen Geschichte aus: Rein formal stellten die Einführung der Weimarer Verfassung, des Ermächtigungsgesetzes, die alliierte Besatzung und die Wiedervereinigung auch für deutsche Juden Wendepunkte dar, die jedoch nicht unbedingt von der gleichen Intensität und Qualität waren wie für die nichtjüdische Bevölkerung in Deutschland. Auch im Hinblick auf diese Kriterien ist das Jahr 1933 für die Geschichte der deutschen Juden der sicher

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Zwischen 1918 und 1933 stellten Juden in Deutschland etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Jahre 1989 machten Juden in Deutschland 0,5 Promille der deutschen Gesamtbevölkerung aus, waren also quantitativ praktisch gegenstandslos.

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eindeutigste Umbruch: Mit diesem Datum wurde für Juden nicht nur wie für die gesamte deutsche Bevölkerung der Weg in die Diktatur und den Krieg geebnet, sondern der Anfang des Endes, der Beginn der Vernichtung, eingeläutet. Das Jahr 1945 wurde dann für deutsche Juden die absolute .Stunde Null', während es, so schmerzhaft die Erfahrung des einzelnen auch gewesen sein mag, für die meisten Deutschen eher nur eine scheinbare .Stunde Null' war. Das absolute Nichts, das angeblich mit der Besatzung einherzugehen drohte, wurde bereits vor 1949, aufbauend auf den konstitutionellen und administrativen Traditionen der Vergangenheit, zu einem Neubeginn genutzt, der dem deutschen Judentum der Vorkriegszeit verwehrt geblieben war. Auch das Jahr 1989 bedeutete in der allgemeinen deutschen Geschichte eine radikalere konstitutionelle Wende als im deutsch-jüdischen Kontext: die geringe Zahl der Juden in der D D R , die nun Bürger der Bundesrepublik Deutschland wurden, hat keinen qualitativen oder quantitativen Wandel herbeiführen können. Die Veränderungen des Jahres 1989 gewannen erst in einem anderen Zusammenhang an Bedeutung, ein Aspekt, zu dem wir später zurückkehren werden. Auch hier ist wiederum die Parallele zum Jahr 1918 illustrativ: Die neue Weimarer Verfassung hatte Juden nicht nur die eindeutige Emanzipation gewährt - auch den Frauen wurde nach und nach das aktive und passive Wahlrecht in den Gemeinden zugesprochen - , sie hat auch den jüdischen Gemeinden einen neuen Status verliehen, der letztlich 1932/33 die Gründung der jüdischen Zentralorganisation, der Reichsvertretung der deutschen Juden, ermöglichen sollte. Aber auch in diesem Punkt wurde das Jahr 1933 letztlich zur entscheidenden Zäsur, die alle früheren und späteren Umbruchsdaten weitgehend relativierte, ja sogar marginalisierte, ohne die Periodisierung der deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Rahmen der allgemeinen deutschen Geschichte herauszuheben. O h n e Zweifel gilt nun aber für die Geschichte der deutschen Juden auch der alles überschattende Umbruch in der Periodisierung der allgemeinen jüdischen Geschichte: Die einschneidendste Zäsur in diesem Kontext ist zweifellos die Shoah - die Jahre zwischen 1941 und 1945. Übernimmt man aber diesen Zeitraum als Angelpunkt auch der deutsch-jüdischen Geschichte, so stellt sich automatisch die reziproke Frage nach der Gültigkeit der Periodisierungskoordinaten der deutschen Geschichte: Ist die deutsch-jüdische Geschichte wirklich eine in diesem Rahmen verankerte Exklave? Oder ist die Wahl der vier uns vorgegebenen Grunddaten nicht oder nur teilweise angebracht und sinnvoll? Somit sind wir unwillkürlich Parametern der Periodisierung auch für den Kulturhistoriker sungsänderungen oder ähnliche

zur Grundsatzfrage nach den Kriterien oder zurückgekehrt: Für den Sozial- und wohl können politische Entscheidungen, VerfasKriterien nicht die kritischen Momente sein, Deutsche Juden und deutsche Umbrüche

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die letztlich den Verlauf der Geschichte bzw. ihre Periodisierung bestimmen. Wodurch aber rechtfertigt sich sonst die Wahl der vier hier zugrunde liegenden Umbruchs)ahre als historische Wendepunkte? Ist für den Historiker der vordergründige Entwicklungsprozeß der „Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias) oder der Kultur, dann bewegen wir uns eher in einem Kontext der longue durée, in dem die Suche nach Trendwenden von vornherein nicht von überraschenden, abrupten Krisen ausgeht. Das aber bedeutet: die,Entscheidungsjahre' stehen - wenn sie denn überhaupt sinnvoll als solche zu benennen sind - stärker für ein markantes Symptom der Entwicklung und weniger für die dramatischen Wendepunkte als solche. Sie erhalten somit Symbolcharakter. Entsprechend symbolisiert das Jahr 1933 in der deutschen wie auch der deutsch-jüdischen Geschichte - die Shoah, die sich bereits vor 1933 anbahnte und ihre extreme Form zwischen 1941 und 1945 annahm. Hier allerdings gelangen die Periodisierungen der .deutschen' und der .jüdischen' Geschichte - egal nach welcher historischen Methode zur Überschneidung. In diesem Zusammenhang seien mir zwei weitere Anmerkungen erlaubt: In einem ersten inhaltlichen Entwurf der diesem Band zugrunde liegenden Tagung bestand über die Wahl des Jahres 1933 als Umbruchsdatum in der deutschen Geschichte offensichtlich kein endgültiger Konsens. Als alternativer Wendepunkt wurde zusätzlich - vermutlich unbeabsichtigt - das Jahr 1939 angeboten. Soll die Hinwendung zum Massenmord oder zur Shoah durch eine Jahreszahl bezeichnet werden, dann ist der Beginn des Krieges 1939 vielleicht in der Tat geeigneter zur symbolischen Datierung als das Jahr 1933. Eine derartige Argumentation dürfte jedoch kaum akzeptabel sein, und zwar aus zwei Gründen: Im Bewußtsein vieler Deutscher wird der Wendepunkt in der NS-Zeit nicht durch den Kriegsbeginn, sondern vielmehr erst durch den Beginn des Endes (und der Ermordung der deutschen Juden) in den Jahren 1941/42 bezeichnet. Darüber hinaus setzte der Prozeß des Massenmords nicht erst 1939 ein, sondern bereits vorher - mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und deren Machtergreifung. Macht das Phänomen des Nationalsozialismus an sich die Essenz der Periode aus, dann hat sich der Umbruch selbstverständlich bereits 1933 und nicht erst 1939 ereignet. Meine zweite Anmerkung bezieht sich eher auf den jüdischen Bereich: Setzt man die Geschichte der deutschen, nicht der polnischen Juden an den Ausgangspunkt der Betrachtung, dann ist die Entwicklung, die die Periodisierung maßgeblich bestimmt, der Prozeß der Entrechtung und Demütigung, der für Juden ebenso wie für andere Gruppen der Verfolgten in Deutschland bereits um 1933 einsetzte. Die Geschichte des Holocaust der deutschen Juden mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beginnen zu lassen - das bedeutet, die wichtigsten Schritte der Konter-Emanzipation in diesem Zusammen24

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hang zu ignorieren, ein Verfahren, das allerdings in der historiographischen Literatur allgemein - auch in der jüdischen - leider durchaus üblich ist. Bleiben wir bei den kulturhistorischen Kriterien und versuchen mit ihrer Hilfe die Geschichte der deutschen Juden zu periodisieren, dann bieten sich zunächst alle vier grundlegenden Umbruchsdaten auch für diesen Sektor als adäquat an, wobei die Relation zwischen einer Renaissance jüdischer Kultur und dem Untergang der jüdischen Bevölkerung den Charakter der Umbrüche noch eindeutiger unterstreichen kann. Allerdings ist auch in diesem Zusammenhang die Gleichzeitigkeit der Umbrüche keineswegs zwangsläufig ein Hinweis auf Gemeinsamkeiten, auf die Gleichwertigkeit oder gar auf parallele Tendenzen innerhalb der beiden Sektoren der deutschen und der deutsch-jüdischen Geschichte. So paradox es klingen mag, die vier Daten stehen in der Kulturgeschichte der deutschen Juden stellvertretend für die Anfänge verschiedener jüdischer .Renaissancezeitalter' im wahrsten Sinne des Wortes. Michael Brenner ist kein Einzelgänger, wenn er von einer Kulturrenaissance der Juden in der Weimarer Republik spricht. Gerade in der Zeit der beschleunigten Assimilation der 1920er Jahre profilierten sich jüdische Kulturzüge: Die hebräische und jiddische Sprache befanden sich im Aufschwung. Gleiches galt für die jüdische Erziehung oder den jüdischen Sport. Daß sich die Politik der jüdischen Gemeinden mit dem Phänomen der „Jüdischen Volkspartei" konfrontiert sah, die die Juden als nationale Minderheit repräsentieren wollte, gilt für die Vertreter dieser These als zusätzliches Charakteristikum dieser jüdischen Renaissance. Das Zeitalter deutsch-jüdischer Symbiose par excellence wird somit gleichzeitig zum Zeitalter der separat gepflegten jüdischen Kultur erhoben. Ihre nächste Renaissance soll die deutsch-jüdische Kultur diesem Ansatz zufolge dann absurderweise nach 1933 erlebt haben. Und tatsächlich: Niemals zuvor in der Neuzeit gab es in Deutschland eine so rege, spezifisch jüdische Kulturtätigkeit wie zwischen 1933 und 1938: Der „Jüdische Kulturbund" erzeugte und verwaltete eine für Deutschland präzedenzlose Quantität an Kulturprodukten und -produktionen - Theater, Konzerte, Schulen etc. Die jüdische Presse erreichte Rekordauflagen und jüdische Sport-Organisationen - ob zionistisch (Makkabi) oder nicht zionistisch (Schild) orientiert - , erlebten einen bis zu jener Zeit beispiellosen Zulauf. Das Jahr 1933 war diesbezüglich in der Tat das perfekte Umbruchsjahr, doch mit umgekehrten Vorzeichen - diese .kulturelle Blüte' war ja nichts anderes als die Folge der Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft bzw. .Volksgemeinschaft' und ihrer Ghettoisierung. So kann das Jahr 1933 für die deutschen Juden rein technisch gesehen durchaus als Umbruchsjahr gelten, aber letztlich nur von Zynikern als Einleitung einer echten Kulturrenaissance bezeichnet werden. Deutsche Juden und deutsche Umbrüche

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Das Jahr 1945 könnte ebenfalls als kulturelles .Sprungbrett' für Juden in Deutschland gelten, parallel zum Neubeginn der deutschen Gesellschaft. Doch auch in diesem Falle besagt die Gleichzeitigkeit des Umbruchs nicht, daß auch inhaltlich eine Paralle gegeben ist. Das deutsche Judentum und seine Kultur nach 1945 erhoben sich praktisch aus dem Nichts - hier, anders als im Fall der deutschen Gesellschaft im allgemeinen - ist der Begriff der .Stunde Null' durchaus zutreffend. Judentum und jüdische Kultur in Deutschland nach 1945 können und dürfen nicht in einem Atemzug mit dem früheren, vernichteten deutschen Judentum genannt und bewertet werden. Das Jahr 1989 schien für deutsche Juden aus dem selben Grund einen kulturellen Umbruch einzuleiten, wie er auch für die deutsche Gesellschaft insgesamt bestimmend war: aufgrund der Öffnung des Eisernen Vorhangs. Die neue osteuropäische Komponente des deutschen Judentums seit 1989 hat stark zu Verschiebungen der sozio-kulturellen Schwerpunkte beigetragen. Doch auch hier ist die Essenz des kulturellen Umbruchs mit dem der allgemeinen Gesellschaft nicht zu vergleichen. Die Periodisierung stimmt, die Gleichzeitigkeit der allgemein-deutschen und deutsch-jüdischen Umbrüche ist gegeben. Daraus jedoch zu folgern, daß es sich beim deutschen Judentum tatsächlich um ein konstant repräsentatives Segment der deutschen Geschichte handelt, ist höchst problematisch. Ein genauer Blick auf die Umbruchsdaten als .Meilensteine des Bewußtseins' (also nicht als bloße demographische, politische oder verfassungsrechtliche Einschnitte) hebt akzentuiert hervor, daß es sich bei der angeblichen Parallelität um eine, wenn auch minimale, optische Täuschung handelt. Das Spezifische der deutsch-jüdischen Geschichte entsteht letztlich über eine Verlagerung der Anfänge bzw. Höhepunkte der Umbrüche im jüdischen Kontext gegenüber den Daten, die uns bisher als Diskussionsgrundlage dienten: Statt 1918 war es das Jahr 1916, statt 1933 das Jahr 1938, statt 1945 schon das Jahr 1943, das den eigentlichen Wandel im jüdischen Kollektivbewußtsein herbeigeführt hat. (Daß es keine ähnliche Verschiebung um 1989 gibt, ist wohl belanglos, da Juden in der deutschen Gesellschaft zu dieser Zeit, wie bereits erwähnt, nur eine marginale Rolle spielten, und ein anderes Datum - nämlich 1948/9 - für den entscheidenden Nachkriegsumbruch gesorgt hatte). Blicken wir auf den Ersten Weltkrieg: Weder Kriegsende und Niederlage noch die Revolution von 1918 haben die jüdischen Zeitgenossen stark beeindruckt oder im kollektiven Gedächtnis des Judentums tiefe Spuren hinterlassen. Es war vielmehr das Jahr 1916 mit der sogenannten .Judenzählung', das eine tiefe, bleibende Narbe im Selbstbewußtsein der deutschen Juden hinterlassen hat. In diesem Jahr wurde nicht nur der im Jahre 1914 entstandene Mythos vom .Burgfrieden' endgültig zerstört. Es wurde sogar die von der neuen Verfassung 1919 garantierte Gleichberechtigung der Juden im voraus 26

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belastet und relativiert. Die Judenzählung' gab der Niederlage und der Revolution im Vergleich zur allgemeinen deutschen Gesellschaft einen anderen Stellenwert. Der Rückschlag des Jahres 1916 diente als Vorbereitung für die Rückschläge seit 1933. Er erklärt auch die mentale Bereitschaft des deutschen Judentums, ähnliche und schlimmere Rückschläge fortan zu erwarten und einzustecken, also sich bereits seit 1916 gewissermaßen auf eine .Rückkehr des Mittelalters' vorzubereiten. Mit anderen Worten: Bereits vor 1933 hatten sich Juden in Deutschland auf die Konter-Emanzipation, auf diese .Rückkehr des Mittelalters', eingestellt. Ihre Befürchtungen haben sich letztlich realisiert, doch das entscheidende bzw. symbolische Datum in diesem Zusammenhang war nicht 1933, sondern 1935 - der Erlaß der Nürnberger Gesetze - oder 1938 - die ,Reichspogromnacht'. Auch wenn das Jahr 1933 im kausalen Gesamtzusammenhang von großer Bedeutung war, zeigt sich im deutsch-jüdischen Kontext doch eine gewisse zeitliche Verschiebung des eigentlichen Umbruchsdatums. Anders aber als im Falle des ersten Beispiels, der Judenzählung', lag der .jüdische' Wendepunkt nun nicht vor, sondern nach diesem Datum. Was 1945 anbetrifft, schlug die .Stunde Null' aus der Sicht der deutschjüdischen Geschichte früher als im allgemeinen deutschen Kontext: Bereits 1943 waren die deutschen Juden bis auf wenige Ausnahmen von der Bildfläche der deutschen Geschichte .verschwunden', d.h. sie lebten in der Illegalität, waren vertrieben oder ermordet worden. Auch hier erfolgte also der Umbruch wie im Ersten Weltkrieg früher. Von .zweierlei Katastrophen' der Jahre 1943 und 1945 darf jedoch keinesfalls die Rede sein, da es sich um zwei diametral unterschiedliche .Stunden Null' handelt, die auch miteinander nicht in einem kausalen Zusammenhang standen. U m Radikalität und Intensität eines Umbruchs messen zu können, ist die Gegenüberstellung von Erwartung und Realisierung sinnvoll. W o die Schere zwischen Erwartung und Wirklichkeit am weitesten auseinanderklafft - dort ist wohl am ehesten ein genuiner Bruch zu lokalisieren. Im Nachhinein scheinen die Zeitgenossen von der Revolution 1918, von der .Stunde Null' 1945, vielleicht auch von der Wiedervereinigung 1989/90, mehr Veränderung erwartet zu haben, als dann tatsächlich eintrat. Die Befürchtungen der Juden nach der .Machtergreifung' der Nationalsozialisten von 1933 entsprachen dann wiederum keineswegs der schrecklichen Realität - man hatte weniger erwartet. In diesem Sinne war mit 1933 ein wesentlich stärkerer Bruch verbunden als mit den drei anderen Daten. Aus der deutsch-jüdischen Perspektive wirkte der erste Umbruch - 1916 - von vornherein abschwächend auf die Erwartungen von 1918; die Erwartungen im Jahre 1945 wurden zwar von der Realität der nächsten Jahre übertroffen, zum dramatischen Auseinanderklaffen von Erwartungen und RealiDeutsche Juden und deutsche Umbrüche

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tät kam es jedoch ebenso wenig wie 1989 - letzteres aus einer Distanz von 10 Jahren. Dramatisch war allerdings der Unterschied zwischen den an und für sich schon düsteren Erwartungen der Jahre 1932/33 und der späteren Wirklichkeit: Zehn Jahre nach dem Umbruch war die Realität so eindeutig erschütternd, daß die Bezeichnung ,Umbruch' schon ein Understatement geworden war. In der kollektiven Erinnerung haben sich aber nicht nur Jahreszahlen - 1 9 1 8 , 1933, 1945, 1989 - als Meilensteine des Umbruchs eingeprägt. Die kollektive Erinnerung hat sich auf präzise Daten fixiert, auf bestimmte Tage. Und hier kommt der inhaltliche Unterschied zwischen der allgemeinen und der jüdischen Erinnerung deutlich zum Vorschein, hier zeigt sich, wie die allgemeingültige Jahreszahl als Symbol in beiden Bereichen andere Inhalte transportiert: 1933 - diese Zahl wird in der allgemeinen deutschen Kollektiverinnerung eher mit dem 30. Januar als dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, oder mit dem 25. März, an dem das „Ermächtigungsgesetz" erlassen wurde, assoziiert. Im deutsch-jüdischen Gedächtnis hat sich das Jahr 1933 dagegen eher über die spezifisch .jüdischen' Ereignisse am 1. April (Boykott jüdischer Geschäfte) oder am 7. April (Entlassung der jüdischen Beamten aus dem öffentlichen Dienst) eingeprägt. Während das Jahr 1941 vor allem aufgrund der Ereignisse des 22. Juni in der Erinnerung geblieben ist, konzentriert sich die jüdische Perspektive auf den 1. September, also auf die Einführung des Gelben Sterns, oder den 17. Oktober, den Beginn der .Deportationen' bzw. der .Endlösung der deutschen Judenfrage'. Denkt man an den 9. November, so scheinen sich Tagesikonen stärker ins kollektive Gedächtnis eingeprägt zu haben als Jahreszahlen. Im Jahr 1989 kam es darüber gar zu einem .Wettbewerb' zwischen zwei Sinndeutungen des gleichen Kalendertages: Wem soll der 9. November gehören - der .jüdischen' oder der .allgemeinen' Erinnerung? Hier könnte sich eine neue .Sonderwegstheorie' Geltung verschaffen - und zwar des .jüdischen Sonderwegs' in der deutschen Geschichte. Ähnlich wie bei der Behandlung der gesamten deutschen Geschichte stellt sich darüber hinaus im Zusammenhang der deutsch-jüdischen Geschichte die prinzipielle Frage, ob die vier behandelten Umbruchsjahre nicht doch wichtige Lücken in der Kette wesentlicher Umbrüche im 20. Jahrhundert hinterlassen. Sind die Jahre 1949 oder 1968 nicht auch für die Juden in Deutschland mindestens Umbruchsjahre im .Kleinformat'? Daß die Gründung der Bundesrepublik und mit ihr die Einführung des Grundgesetzes auch für die deutschen Juden Einschnitte bedeuteten, ist nicht zu bestreiten. Ebenso war die 68er Revolution für das Selbstbewußtsein der in Deutschland heranwachsenden jüngeren Generation insgesamt ein markantes Datum. Und ein weiteres Datum, das für deutsche Juden ebenso wie für Juden in anderen Ländern - im Zusammenhang der jüdischen, nicht der deutschen 28

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Geschichte betrachtet - als Umbruch verstanden werden muß, ist das Jahr 1948 - die Gründung des Staates Israel. Im Bewußtsein von Juden und Nichtjuden gleichermaßen gilt 1948 als klarer Einschnitt im Verhältnis beider Gruppen. Seither hält mancher die Israelis, nicht die deutschen Mitbürger für die .Landsleute' von Ignatz Bubis... Hier wird nun nochmals auf das zweite Koordinatensystem verwiesen, das bei der Ortung der deutschen Juden im allgemeinen historischen Kontext anwendbar ist: Nicht nur Deutschland und die deutsche Gesellschaft, sondern das Judentum und die jüdische Geschichte insgesamt schaffen einen relevanten historischen Rahmen für die Geschichte des deutschen Judentums. Eine Parallelität der Umbrüche kann im einen wie im anderen Rahmen gesucht und gefunden werden. Übrigens ist natürlich auch eine Unterscheidung zwischen deutscher und europäischer Geschichte möglich. Das Bild und die Vergleichskoordinaten sind also letztlich multidimensional. Es geht am Ende nicht nur um die Frage, wie deutsch die Geschichte der deutschen Juden im 20. Jahrhundert war; es geht nicht nur um die Parallelität der Umbrüche, der Zäsuren und der Kontinuitäten, sondern um das Rationale hinter den Umbruchsdaten, die uns in diesem Symposium beschäftigen. Das deutsch-jüdische Segment wurde in der vorliegenden Abhandlung als Maßstab herangezogen, um die Wahl dieser vier Entscheidungsjahre kritisch zu beleuchten. Man kann durchaus zu dem Ergebnis kommen, die deutschen Juden wurden beim Durchleben aller Umbrüche und Zäsuren zu Spielern, die ins Abseits geraten oder gar vom Platz verwiesen worden waren. Das bedeutet mehr als nur eine .historische Ghettoisierung'. Und doch: Historisch gesehen geht es auch in diesem Fall, bei dem ein Teil der Bevölkerung real ausgeschaltet wurde, um eine gemeinsame Geschichte mit sich überschneidenden Krisen, praktisch um siamesische Zwillinge, die historiographisch untrennbar bleiben - auch wenn der eine längst zum Skelett im Kabinett der Geschichte geworden ist. Immerhin ist es möglich, sich aufgrund der Erfahrung der deutschen Juden im Hinblick auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf einen Umbruch zu verständigen, nämlich auf die Jahre zwischen 1941-1945 oder vielleicht sogar auf den Zeitraum von 1932 bis 1943. 1918 und 1989 geraten in den Schatten von 1933 und 1945, deren Ereignisse den eigentlichen, entscheidenden Umbruch definieren. Letztlich erübrigt sich dann auch die Diskussion um die adäquate begriffliche Bezeichnung des Umbruchs: Es wird gänzlich unerheblich, ob man von Revolutionen, Wenden oder Einschnitten spricht. In letzter Konsequenz bleibt man trotz alledem bei der .deutschen Katastrophe'.

Deutsche Juden und deutsche Umbrüche

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Vorbemerkung In wenigen Fragen ist sich die zeitgenössische Geschichtswissenschaft heute so einig wie in der Bewertung des Ersten Weltkrieges als dem zentralen negativen Ereignis der jüngeren europäischen und insbesondere deutschen Geschichte. Die Einschätzung des ,Großen Krieges' - wie er üblicherweise nicht nur von den Zeitgenossen, sondern in vielen Sprachen bis heute bezeichnet wurde und wird - als der „Urkatastrophe des Jahrhunderts" (George Kennan) ist auch den hier versammelten Textbeiträgen gemeinsam. Die Geschehnisse, die in Deutschland von 1918 ihren Ausgang nahmen, wären nicht denkbar ohne die vorausgehende komplexe Erfahrung des ersten ,modernen' Krieges der Geschichte und die tiefgreifenden sozialen, ökonomischen, territorialen und psychologischen Folgen der erlittenen Niederlage. Dennis E. Showalter beschäftigt sich denn auch im ersten der vorliegenden Beiträge mit dem Erlebnis der Kriegsjahre selbst, und zwar innerhalb derjenigen Institution, die nicht nur direkt in die militärischen Ereignisse involviert war, sondern die auch das stolzeste Symbol des alten Reiches verkörpert hatte: der kaiserlichen Armee. Showalter geht dem Weg des Heeres von 1914 bis 1918 nach und versucht anhand einer Analyse seiner inneren Dynamik, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum die einst militärisch brillante Organisation, verläßlichste Stütze der monarchisch-konservativen Ordnung und wichtigste Agentur gesellschaftlicher Synthese des Kaiserreiches schließlich keine einzige dieser Vorkriegsfunktionen mehr wirksam erfüllen konnte. Er zeichnet das Bild einer fortschreitenden Erosion der militärischen Autorität innerhalb einer Institution, die letztlich weder ihre selbstformulierten Ziele und Ansprüche noch ihre Versprechen gegenüber ihren Angehörigen hat halten können. Eine mangelhafte, auf fahrlässiger Selbstüberschätzung basierende Kriegsplanung und daraus resultierende Versorgungsengpässe, ökonomisches Mißmanagement und ein verantwortungsloser Umgang mit Menschenleben ließen den,Vertrag* zwischen Heeresführung und der Masse der Soldaten zerbrechen und hinterließen bei der Masse der Kriegsteilnehmer ein Gefühl des .Betrogenseins'. Um einen typischen Vertreter dieser enttäuschten und vielfach traumatisierten Frontgeneration geht es im Beitrag von Jay W. Baird. Wie so viele Kriegsteilnehmer versuchte auch der junge Josef Magnus Wehner das auf den Schlachtfeldern Erlebte literarisch zu bewältigen. Mit seinem stark autobiographisch gefärbten Roman „Sieben vor Verdun" traf der ehemalige Kriegsfreiwillige den Nerv seiner Zeit und schaffte unmittelbar vor dem Zusammenbruch der Weimarer Republik den Aufstieg aus der Belanglosigkeit zum Erfolgsautor

Vorbemerkung

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mit Millionenauflage. Ein bis ins äußerste gesteigerter Gefallenenkult, verbunden mit romantisch-schwärmerischen Phantasien von einem neuen deutschen Reich in der Tradition des christlichen Mittelalters war es, der schließlich auch die Nationalsozialisten auf Wehners Werk aufmerksam werden ließ. Die hohe Resonanz, die Wehners unkritische und gefühlsduselige Erinnerungsliteratur fand, entspricht Alan Kramers Befund eines breiten „Wiederauflebens der Kriegskultur" in Weimar. Im Zusammenhang mit seinem Forschungsprojekt „Deutsche Kriegsgreuel 1914" kann Kramer eindrucksvoll aufzeigen, wie nicht nur die Frage der „Schuld am Kriege" (Artikel 231 des Versailler Friedenvertrages) sondern auch die bisher in der Forschung weitgehend vernachlässigte „Schuld im Kriege" (Artikel 227) vom Auswärtigen Amt in den Mittelpunkt eines massiven Propagandafeldzuges gegen das .Diktat von Versailles' gestellt wurde. Indem den Alliierten ein - in dieser Form gar nicht erhobener - Kollektivschuldvorwurf gegen das gesamte deutsche Volk unterstellt wurde, bemühte man sich bewußt, die Bevölkerung gegen Versailles zu mobilisieren. Indem sich, so Kramer, das gesamte Establishment der Republik, einschließlich Auswärtigem Amt und bürgerlicher Reichstagsmehrheit durch die Abwehr der Kriegsschuld mit der alten Armee solidarisch erklärte, leistete man einer „mentalen Remobilisierung vorsätzlich Vorschub". Anstatt sich sowohl von der fahrlässigen Außenpolitik der kaiserlichen Regierung als auch von den Kriegsverbrechen der alten Armee zu distanzieren, wurden letztere schlicht geleugnet oder als .Notwehr' gerechtfertigt. Durch diesen problematischen Umgang mit der „Schuld im Krieg" wurde die Chance für einen ehrlichen Neuanfang vertan. Elemente der Kontinuität zwischen Kaiserreich und Republik auch über den Umbruch von 1918 hinaus betonen auch die beiden personengeschichtlich angelegten Untersuchungen von Jonathan R. C. Wright und Dieter K. Base, die ihre Interpretationen der historischen Rolle Gustav Stresemanns bzw. Friedrich Eberts in den betreffenden Jahren vorstellen. Auch Wright hebt den verheerenden psychologischen Effekt der Niederlage auf Stresemann hervor, den die Nachricht von der Kapitulation nach eigener Aussage „wie ein Keulenschlag" getroffen hatte. Die Geschehnisse von 1918 hatten auf den Nationalliberalen jedoch eine widersprüchliche Wirkung: Ressentiments gegen die republikanischen Parteien verbanden sich mit der Wut auf den Kaiser und die inkompetente OHL. Wie Wright zeigen kann, gelang es Stresemann jedoch schon sehr bald, anknüpfend an seine Uberzeugung einer innenpolitischen Kontinuität des Wählerverhaltens und damit des Parteiensystems, als auch einer außenpolitischen Kontinuität der traditionellen Machtpolitik seine DVP aus der Opposition zu führen und erfolgreich an der Wiederherstellung der .Bündnisfähigkeit' des besiegten Deutschlands mitzuarbeiten. 34

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„Auch Deutschlands führender Sozialdemokrat", so Dieter Buse, „optierte angesichts der großen sozialen Erhebung, die der Krieg mit sich gebracht hat, eher für Kontinuität als für Veränderung". Im Mittelpunkt von Buses Beitrag steht Eberts maßgebliche Rolle bei der Ausgestaltung der Reichspräsidentschaft - einem Amt, das er nicht nur mit großer Zielstrebigkeit angestrebt, sondern dessen Konturen er noch im Rahmen der Ubergangsregierung auch vorentscheidend mitgeprägt hat. Eberts Regierungspraxis etablierte eine äußerst umfassende politische Leitungsfunktion des Präsidenten und rettete nicht wenige politische Prärogativen des Kaisers in die Republik. Auch hinsichtlich der handlungsbestimmenden Ideale brachte der Sozialdemokrat „eine Menge vom Geiste Potsdams und Berlins" in die junge Republik: Im Spiegel der Personalpolitik im Büro des Reichspräsidenten erläutert Buse Eberts zunehmende Entfernung von sozialpolitischen Problemfeldern zugunsten nationalstaatlicher Machtpolitik. Mit dem nationalsozialistischen Erbe der Weimarer Republik will Buse Ebert als hartnäckigen Verteidiger der Rechte des Reichspräsidenten jedoch ausdrücklich nicht assoziiert wissen. In der Tat: Über aller Beschäftigung mit der „steckengebliebenen Revolution" (E.Kolb), mit den Ursprüngen und der inneren Entwicklung der Weimarer Republik liegt der Schatten des .Dritten Reiches' und die Frage nach den Ursachen des Zivilisationsbruches von 1933. Dies gilt auch und gerade für den Beitrag William W. Hagens, der einen Einblick in seine Forschungen zur Situation der deutschen Juden in Weimar gibt. An dieser Stelle behandelt er die Frage, wie das bürgerlich-liberale Judentum in Deutschland - das seine mächtigste Stimme im assimilatorisch geprägten Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) besaß - auf die Verschärfung des Antisemitismus durch den Ersten Weltkrieg reagierte, wie er sich in den blutigen Pogromen von 1918/19 in Osteuropa manifestierte. Der CV beschäftigte sich nicht nur ausführlich mit dem Problem der Integration der jüdischen Bevölkerung in die neuentstandenen, nationalistisch legitimierten Nachfolgestaaten der östlichen Vielvölkerreiche der Vorkriegszeit, sondern stellte sich auch der Frage nach einer potentiellen Gefährdung der Juden in Deutschland. Auch wenn man sich durch den „Mord im Osten" nicht direkt in der eigenen Sicherheit bedroht fühlte, so sah man doch potentielle Gefahren für den Fall, daß es in Deutschland zu einem Überhandnehmen antisemitischer Parteien und einem gleichzeitigen Zusammenbruch des Rechtsstaates kommen sollte - die fatale Kombination, die 1933 eintreffen sollte. Schon 1919 analysierten Sprecher des CV den zeitgenössischen Antisemitismus sehr hellsichtig als keineswegs anachronistisches Phänomen mit dunklen, archaischen Wurzeln, sondern vielmehr als Konstrukt innerhalb der politischen Strategie der extremen Rechten. In der Tat sollte die Vernichtungsmaschinerie des .Dritten Reiches', so Hagens Schlußbemerkung, sich als „ebenso mörderisch wie moVorbemerkung

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dern" erweisen. Die Pogrome von 1918/19 waren in all ihrer Grausamkeit dafür nur schwache Vorboten. Auch Peter Fritzsche schlägt in seinem Text einen direkten Bogen von 1918 nach 1933. Anders als viele seiner Fachkollegen hält er jedoch nicht die starke Kontinuität zum wilhelmischen Kaiserreich für die schwerwiegendste Hypothek der Weimarer Republik, sondern betont gerade die „fundamentale Diskontinuität" der Ereignisse von 1918/19 gegenüber der Vorkriegszeit. Auch wenn es der Revolution an Einmütigkeit und nationaler Entschlußkraft mangelte, so Fritzsche, schaffte „das Revolutionsjahr 1918 doch grell demokratische Formen und einen gemeinverständlichen populären Stil, die zusammen die Weimarer Republik tiefgreifend prägen und den Aufstieg des Nationalsozialismus möglich machen sollten." Gerade die dauerhafte und umumkehrbare politische Massenmobilisierung der Öffentlichkeit sowie die Hypermobilisierung von Partikularinteressen habe zu jener Transformation der politischen Landschaft geführt, der die Nationalsozialisten schließlich am erfolgreichsten Rechnung zu tragen wußten. Daneben habe die umfassende Mobilisierung durch den Weltkrieg dem deutschen Nationalismus emotionale Tiefenwirkung verliehen und die Gesellschaft auf Sozialreform und politische Emanzipation verpflichtet. Die Jahre 1914,1918 und 1933 sollten deshalb, so Fritzsches Plädoyer, „als Varianten ein- und derselben populistischen Aufstandsbewegung" betrachtet werden. Damit liefert Fritzsche das Stichwort für James Retallack, der sich in seinem Beitrag zur Aufgabe gemacht hat, den heuristischen Nutzen der Begriffe .Demagogentum', .Populismus' und .Volkstümlichkeit' in der wissenschaftlichen Diskussion nicht nur der Ereignisse 1918/19 einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Ausgehend von einem aktuellen Fall des politischen Tagesgeschäfts demonstriert Retallack die Inkonsequenz zeitgenössischer wie geschichtswissenschaftlicher Sprachverwendung. Besonders 1918/19 seien die Grenzen zwischen .erlaubten' und .unerlaübten' Formen politischer Massenmobilisierung zunehmend ins Schwimmen geraten - um so mehr sei eine systematische und begrifflich präzise historische Aufarbeitung der Beziehung zwischen Politik und Volk geboten, um nicht Kontinuitäten und Diskontinuitäten heraufzubeschwören, „wo keine existierten". Um die Grundfrage .Kontinuität oder Bruch' geht es auch noch einmal bei Richard Bessel. Inwieweit haben die Ereignisse von 1918/19 „Weichen für das gesamte deutsche Jahrhundert gestellt" ? In seiner differenzierten Antwort wägt er die Elemente der Kontinuität - die unveränderte Struktur von Reichsregierung und Beamtenpersonal, die Fortexistenz der parteipolitischen Landschaft und der wirtschaftlichen und politischen Eliten sowie den insgesamt nur ephemeren demokratischen Aufschwung - gegen die Elemente ab, die das Datum zu einem tatsächlichen .Umbruch' machen. In diesem Zusam36

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menhang hebt er ganz besonders die zunehmende Brutalisierung des öffentlichen Lebens hervor, eine Folge der überaus komplexen Nachwirkungen des Krieges, die weniger in der Revolution, als in einer wachsenden Verrohung des alltäglichen zwischenmenschlichen Umgangs greifbar werde. Bessel wehrt sich gegen die verbreitete Annahme, Träger dieser „inneren Verweigerung des Friedens" (H. Mommsen) seien allein die ehemaligen Frontsoldaten gewesen, die im Gegenteil mit einer enormen Sehnsucht nach .Normalität' ins zivile Leben zurückgekehrt seien. Sein Beitrag betont insgesamt eher den tiefen Einschnitt, den 1918 in der kollektiven Geschichte, aber auch in vielen individuellen Biographien markierte - die Ereignisse des Revolutionsjahres, so Bessel, setzten eine verhängnisvolle Kette der Destruktivität in Gang, der erst 1945 Einhalt geboten werden konnte. Petra

Terhoeven

Vorbemerkung

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Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919* DENNIS E. SHOWALTER

Der deutsche Soldat des Ersten Weltkrieges entzieht sich einer simplen Kategorisierung. Er ist der Freiwillige von 1914, der Grabenkämpfer von 1917, der Revolutionär von 1918. Sein Bild wird weiter verschleiert durch den fundamentalen Unterschied zwischen deutscher und französisch-britischer Veteranenliteratur. Für beide gilt, daß die - zumeist der Mittelschicht entstammenden - Verfasser zur nur kleinen Gruppe derjenigen gehörten, die über ein entsprechendes Selbstbewußtsein und somit über Willen und Fähigkeit zur erinnernden Selbstreflexion verfügten 1 . Aber während französische und britische Erzählungen vor allem von Desillusionierung, Trennung, Fragmentisierung und Verlusterfahrung sprechen, tendierten deutsche Autoren dazu, den Krieg im Sinne Hegels als Teil eines kontinuierlichen Zyklus von Zerstörung und Erneuerung zu interpretieren 2 . Diese Position wurde in der englischsprachigen Welt als militaristisch und proto-faschistisch gedeutet: ,gute' Kriegsliteratur wird hier nach wie vor mit der Antikriegshaltung assoziiert, die man dem britischen Paradigma von 1914— 1918 zuschreibt 3 . Der gemeinsame Nenner deutscher Veteranen war jedoch gar nicht das Fronterlebnis, sondern vielmehr die Armeeerfahrung. Über vier Jahre hinweg waren Männer aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten in eine Institution gedrängt worden, die letztlich, was die selbstformulierten Ziele und Ansprüche anging, ihre Versprechen gegenüber den Männern, die ihre U n i f o r m trugen, nicht hatte halten können. Dieses Scheitern hatte wesentlich zu der .Ohne mich'- Mentalität beigetragen, die im November 1918 den Zusammenbruch des erschöpften Reiches perfekt gemacht hatte.

* Aus dem Amerikanischen von Petra Terhoeven. 1 Vgl. S. Hynes, The Soldiers' Tale: Bearing Witness to Modern War, New York 1996. 2 S. etwa P. Bridgewater, German Poets of the First World War, London 1985; A. Linder, Princes of the Trenches: Narrating the German Experience of the First World War, Columbia (South Carolina) 1996; R. Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1984. 3 S. Linder, Princes, S. 49. Noch größere Probleme werfen die stilistischen Unterschiede des Genres in den beiden Kulturen auf. Die heroisch-pathetischen Wirklichkeitskonstruktionen der Deutschen klingen für an nüchternes Understatement gewohnte britische und amerikanische Ohren fast zwangsläufig hohl und oberflächlich. Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919

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Im Laufe des ersten Kriegsjahres begann das Institut für Angewandte Psychologie in Potsdam mit der Sammlung von Material, das zur Erstellung einer „Psychographie des Kriegers" dienen sollte. Innerhalb des in diesem Zusammenhang erstellten Fragenkatalogs wurde auch das Problem der Kriegsbegeisterung angesprochen. Einer der Befragten erklärte, er habe zwar zu den Freiwilligen der ersten Stunde gezählt, mehr aber aus Vaterlandsliebe gehandelt als aufgrund besonderer Begeisterung für den Krieg als solchen. Ein anderer betonte den Einfluß, den der in seiner Studentenverbindung kultivierte Nationalismus auf seine Entscheidung gehabt habe. Ein dritter wiederum gab an, sich geschämt zu haben, Zivilist zu bleiben, während andere Mitglieder der Familie eingezogen worden seien 4 . Keiner von ihnen sprach von Haß auf die Feinde Deutschlands oder antizipierte den „frisch-fröhlichen Krieg" - ein Befund, der ziemlich genau die Wahrnehmung des Kriegseintritts in der deutschen Öffentlichkeit insgesamt widerspiegelt. Man verstand den Konflikt als Verteidigungskrieg gegen eine Koalition unerbittlicher Feinde, zu gewinnen über eine rasche Folge siegreich gefochtener Schlachten 5 . Seit 1871 war das kaiserliche Heer öffentliches Symbol des Reiches gewesen, dem es in dieser Hinsicht an Alternativen spürbar mangelte. Darüber hinaus war der Wehrdienst ein Ubergangsritus für junge Männer auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Aber die Glaubwürdigkeit beider Funktionen hing stark davon ab, in wie weit das Heer seine eigene Siegesgewißheit in einem Krieg, wie Deutschland ihn führen wollte, unter Beweis zu stellen vermochte 6 . Der erste Realitätstest begann für viele Einberufene 1914 schon in den Militärdepots und -baracken. Während es keine Probleme bereitete, die Reservisten der ersten Reihe zu verpflegen und auszurüsten, die die aktiven Regimenter, Reserve-Divisionen und Korps formierten, für die es entsprechende Mobilisierungspläne aus der Vorkriegszeit gab, wuchs zusehends die Zahl derjenigen Soldaten, für die keine solchen Pläne existierten. Viele von ihnen gehörten zur sogenannten Ersatz-Reserve, ein Euphemismus für die zusätzlich zum Bedarf der Friedenszeit vorhandenen Männer, die in der

4 P. Plaut, Psychographie des Kriegers, in: Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie 20 (1920), S. 11 ff. Vgl. auch B. Ulrich, Kriegsfreiwillige. Motivationen, Erfahrungen, Wirkungen, in: August 1914: Ein Volk zieht in den Krieg, hrsg. v. d. Berliner Geschichtswerkstatt, Berlin 1989, S. 2 3 2 - 2 4 1 . 5 Vgl. J. Verhey, The Spirit of 1914: Militarism, Myth and Mobilization in Germany, C a m bridge 2000. 6 Vgl. dazu die umfangreichen, vergleichend angelegten Darstellungen von J. Vogel, Nationen im Gleichschritt: Der Kult der .Nation in Waffen' in Deutschland und Frankreich 1 8 7 1 - 1 9 1 4 sowie M. Christadler, Kriegserziehung im Jugendbuch: Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914, Frankfurt a.M. 1978.

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Regel keine nennenswerte militärische Ausbildung absolviert hatten. Was die Freiwilligen betraf, so waren sie in der Mehrzahl Angehörige privilegierter Schichten, darunter zahlreiche Intellektuelle. Für sie bedeuteten die ersten Tage in Uniform - wie konnte es anders sein - vielfach ein Schock. Den bunt zusammengewürfelten Formationen fehlte so ziemlich alles, von den Landkarten bis zu den militärischen Befehlshabern. Die Mahlzeiten schmeckten, als seien die Köche in speziellen Kursen dazu ausgebildet worden, das Essen für die Soldaten möglichst vollständig zu ruinieren. Die Offiziere hielten ihre Männer vielfach mit quälendem Begrüßungsdrill, Schuhpflege und Mundhygiene beschäftigt - weniger aus Pedanterie als aufgrund des Fehlens sinnvoller Alternativen 7 . Ein Sieg würde diese Erfahrungen zum Gegenstand liebenswerter Erinnerungen auf Veteranentreffs nach Kriegsende umgeformt haben. Der Preis dafür aber war hoch - und der Erfolg letztlich trügerischer Art. An den Kriegsschauplätzen des Westens bestimmten Gewaltmärsche und karge Kost den Alltag der .Großoffensive'. Als die Versorgungssysteme nachgaben und schließlich zusammenbrachen, wurde Alkohol zum Hauptanreiz, der die Männer bei der Stange hielt. Zudem versuchten die hungrigen Soldaten, ihre mageren Rationen mit dem aufzubessern, was sie auf den Feldern fanden, darunter große Mengen unreifen Obstes. Ergebnis: Das deutsche Heer torkelte der Marne entgegen, die Hosen bis an die Knöchel herabgerutscht 8 . Das Bild verbesserte sich auch nicht im Verlauf der ersten Schußwechsel. Die deutsche Armee war eigentlich besser auf einen Krieg vorbereitet als alle ihre europäischen Gegner. Dennoch war sie eine stumpfe Waffe, behindert durch Reserveoffiziere und Reservisten, deren militärische Ausbildung lange zurücklag und deren taktische Fähigkeiten gegen Null gingen 9 . Automatischen Maschinengewehren, Repetiergewehren und Schrappnelladungen konnte mancher deutsche Infanterist nur die Schnelligkeit seiner beiden Füße und den fragwürdigen Schutz seiner Kleidung entgegensetzen. Seine direkten Vorgesetzten wiederum vermochten es nur in seltenen Fällen, die vorhandenen Kräfte durch professionelles Vorgehen in signifikanter

7 Vgl. K. von Unruh, Langemarck: Legende und Wirklichkeit, Koblenz 1986; H. Kopetzky, In den Tod, Hurra. Deutsche Jugendregimenter im Ersten Weltkrieg, Köln 1981. 8 Darüber berichten M. van Creveld, Supplying War: Logistics from Wallenstein to Patton, Cambridge 1977, sowie H. von Kuehl/J. von Bergmann, Movements and Supply of the German First Army during August and September 1914, Fort Leavenworth (Kansas) 1920. 9 Zu diesem Thema jetzt D. Storz, Kriegsbildung und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford 1992 sowie D. Herrmann, The Arming of Europe and the Making of the First World War, Princeton 1996. Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919

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Weise zu verstärken. Leutnant Erwin Rommel war Karriereoffizier, zweiunddreißigjährig und in guter Kampfesform, Hauptmann Walter Bloem dagegen ein Romanautor in den vierzigern, mit Bauchansatz und einem Reservistenpatent. Rommels erster Einsatz hielt ihn vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, anschließend hieß er seinen Zug in dichtem Nebel ein französisches Dorf angreifen. Nach dem Gefecht brach er auf dem Felde der Ehre regelrecht zusammen: „...nicht zuletzt der verheerende Zustand meines Magens hatte meine Kräfte restlos erschöpft" Hauptmann Bloem verlor seine Unschuld in Möns: „wohin ich sah, zur Rechten und zur Linken: fast nur Tote und blutüberströmte, zuckende, ächzende Verwundete (...), auch von rechts, aus dem sumpfigen Waldesdickicht dort, spritzt's immerzu (...) in unsere Reihen". Diese erste Lektion in Kriegswirren machte aus Bioems „schönem, stolzem Bataillon" einen gänzlich wirkungslosen Haufen 10 . Die Diskreditierung der militärischen Kriegsvorbereitung fand im Oktober und November 1914 bei Ypres ihren vorläufigen Höhepunkt. Frontalangriffe wie Flankenvorstöße endeten in völliger Konfusion. Frisch herangezogene Reserveformationen wurden genauso wie die Eliteregimenter der Preußischen Garde von einer Handvoll britischer Truppen über den Haufen geschossen. In den folgenden Monaten schrumpfte die Welt eines deutschen Soldaten auf einige Erdlöcher und Gräben zusammen. Die Vorkriegsdoktrin hatte Verteidigungsoperationen ziemlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt, eine Lücke, die mit Mythen und Selbstüberschätzung zugedeckt worden war. Zurückweichen galt als schädlich für den Propagandakrieg, die Moral der Soldaten und vor allem für die Karriereaussichten der verantwortlichen Offiziere. Tausende von Männern wurden im Namen der Maxime ,halten, was zu halten ist' geopfert. Unter hohen Verlusten ließ man sie Positionen zurückerobern, die letztlich nicht mehr waren als Koordinaten auf der Landkarte 11 . Die Wirkung von Toten und Verwundeten auf die allgemeine Moral war aufgrund des besonderen Charakters des Nahkampfes, wie er etwa in Notre Dame de Lorette stattfand, besonders verheerend. Seine Brutalität und Grausamkeit wurde durch nichts gemildert, das auch nur im Entferntesten an Kriegskunst oder Kampfeslist erinnert hätte. Die alte Kriegsweisheit ,Leut10 E. Rommel, Angriffe, S. 3 ff; W . Bloem, Der Angriff von Möns, S. 66. 11 Die Weisung, jeden Quadratmeter Boden um jeden Preis zu halten, kam direkt von der militärischen Führung, vgl. E. von Falkenhayn, General Headquarters 1 9 1 4 - 1 9 1 6 and Its Critical Decisions, London 1936, S. 36; F. Sesselburg, Der Stellungskrieg, Berlin 1928. W . Beumelberg gelingt es, in einer subtilen Verschmelzung von Fakten und Fiktion die Kriegswahrnehmung des einzelnen Soldaten in diesen Monaten besonders eindringlich zu vermitteln, vgl. ders., Loretto. Schlachten und Treffen des Weltkrieges XVII, Berlin 1927.

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nants sind zum Sterben da' verlor in diesem ausgedehnten Stellungskrieg jeden Sinn, da auch zahlreiche höhere Offiziere den Tod oder Verwundung fanden. Die Überlebenden mußten vielfach in Situationen Verantwortung übernehmen, die ihre Fähigkeiten bei weitem überstiegen. Junge Leutnants, denen erst im August 1914 beigebracht worden war, wie sie einen Zug zu führen hatten, waren mit einem Mal als Hauptmänner für ganze Bataillone verantwortlich. Die Soldaten, denen sie vorstanden, wurden mit der Zeit älter: Zwei Drittel der 241.000 Gefallenen des Jahres 1914 waren zwischen 20 und 29 Jahren alt gewesen, weitere 20.000 unter 18 - die Kriegsfreiwilligen. An ihre Stelle traten nun mehr und mehr Männer über 30, beruflich etablierte Familienväter, deren Lebensumstände von der Welt der Schützengräben so weit entfernt waren, wie nur eben denkbar war 1 2 . Ihren Normen und Wertvorstellungen wurden nun in systematischer Form Erfahrungen entgegengestellt, die sich jeder Sinnhaftigkeit verweigerten - und zwar im konkreten wie im moralischen Sinne. Das Ergebnis war eine stetig wachsende Zahl emotionaler Zusammenbrüche. Wie es ihrem Wesen entsprach, war die Militärmedizin hauptsächlich darauf ausgerichtet, so viele Männer wie möglich wieder gefechtstauglich zu machen - ungeachtet des Zustands, in dem sich ihre Patienten befanden. Ärzte, die ihr therapeutisches Handeln an den Prinzipien des Sozialdarwinismus und des heroischen Heldentums orientierten, bestanden darauf, daß es letztlich von .Charakter' und Willensstärke des Soldaten abhänge, ob er in der Lage sei, seinen Pflichten nachzukommen. Eine Aufstellung der Methoden, mit denen Militärärzte psychisch Geschädigte zu .behandeln' versuchten, liest sich wie das Handbuch eines Folterknechts: Sinnesberaubung, Elektroschocks, bewußt herbeigeführte Erstickung. Dennoch hatte selbst diese medizinische Praxis eine Kehrseite. Eine typische Erscheinungsform der „Kriegsneurose", wie das deutsche Gegenstück zum englischen „shell shock" in all ihren Variationen verallgemeinernd genannt wurde, war ein mentaler Rückzug von der Wirklichkeit, der von der Depression bis zur Katatonie reichen konnte. Behandlungsmethoden, die zunächst mit dem Ziel entwickelt worden waren, den Betroffenen wieder Pflichtgefühl gegenüber Volk und Vaterland einzuflößen, wurden vielfach fortgesetzt, um durch völlige Teilnahmslosigkeit hindurch Patienten wieder zu erreichen, die Gefahr liefen, ein Leben lang Gefangene hinter der eigenen Stirn zu bleiben. Die kurzfristige Grausamkeit der psychiatrischen Behand-

12 Vgl. dazu D. Showalter, A r m y and Society in Imperial Germany: The Pains of Modernization, in: Journal of Contemporary History 18 (1980), S. 5 8 3 - 6 1 8 .

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lung konnte sich langfristig durchaus als wohltätig erweisen 13 . Der Zustand dieser Patienten verdeutlicht in komprimierter Form das Ausmaß der Kriegsanstrengung, die Deutschland und seine Armee innerhalb eines Jahres bis an die Grenzen menschlicher Belastbarkeit beanspruchte. Drei Faktoren milderten die militärischen Folgen der nationalen Überbeanspruchung von 1915. Zunächst einmal - so miserabel die Deutschen auch befehligt wurden, die Alliierten waren in noch schlechterem Zustand. Die Franzosen schlugen sich in einem solchen Umfang mit Problemen der offensiven Kriegführung herum, daß es ihren Anstrengungen bis 1918 Hohn sprach, während die Briten praktisch wieder bei null beginnen mußten, nachdem die Kämpfe von 1914 ihre regulären Truppen fast gänzlich vernichtet hatten. Daneben wurde es der deutschen Heeresleitung bald klar, daß der neue Krieg keineswegs ,1870 in Großbuchstaben' bedeutete. Das Reich hatte weder die Absicht noch die Mittel, Frankreich physisch zu überrennen. Obwohl das Konzept einer elastischen Verteidigung noch in den Anfängen lag, fühlten sich viele der älteren Offiziere nicht länger dazu verpflichtet, jede Geländeformation unbedingt zu halten. Als wichtiger empfand man es zunehmend, besonders viele .Franzmänner' und .Tommies' ins Gras beißen zu lassen - besonders, seit diese so bereitwillig dabei mitzumachen schienen. Weiterhin wirkten sich 1915 die Sturmtruppenunternehmungen positiv auf die Moral der Truppe aus. Ursprünglich nur auf einzelne lokale Situationen angewandt, konnte diese neue Taktik sorgfältig vorbereiteter, hin und her wechselnder Überfälle gegen ausgewählte Feindstellungen dem einzelnen Soldaten zumindest ansatzweise das Gefühl vermitteln, mehr zu sein als nur ein Rädchen im Getriebe oder gar das sprichwörtliche .Kanonenfutter'. Waren die Vorstöße im Sturmtrupp auch nicht gerade das, was die Männer 1914 erwartet hatten, so kamen sie dennoch ihren bisherigen Erfahrungen ein Stück weit näher 14 . 13 Vgl. die Überblicksdarstellung von K . H . Roth, Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen. Der Konflikt der Psychotherapeuten und Schulpsychiater um die deutschen .Kriegsneurotiker' 1 9 1 5 - 1 9 4 5 , in: 1999 2 (1987), N r . 3, S. 8 - 7 5 ; vgl. auch C . Holzkamp, ,Der blinde Fleck'. Psychologische Forschung im Ersten Weltkrieg, in: Lehrer helfen Siegen: Kriegspädagogik im Kaiserreich mit Beiträgen zur NS-Kriegspädagogik, hrsg. v. d. Arbeitsgruppe .Lehrer und Krieg', Berlin 1987, S. 9 1 - 1 0 1 . 14 Das Konzept dessen, was man als .wissenschaftlichen Gegenangriff' bezeichnen könnte, war bereits im Januar 1914 vom damaligen Stabschef Hans von Seeckt angewandt worden, s. H . Meier-Welcker, Seeckt. Frankfurt a.M. 1967, S. 43 ff; G . E . Torrey, L'affaire de Soissons 1915, in: W a r In History 4 (1997) S. 3 9 8 - 4 1 0 . Allgemeiner zu diesem Thema s. H . Linnenkohl, V o m Einzelschuß zur Feuerwalze. Der Wettlauf zwischen Technik und Taktik im Ersten Weltkrieg, Koblenz 1990; B. Gudmundsson, Stormtroop Tactics, N e w

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In den Monaten der Verdun-Offensive von 1916 bis zum Flandernfeldzug 1917 ließ die Wirkung dieser Veränderungen nach. Während man noch 1915 dem Feind erlaubt hatte, gegen Stacheldraht und Maschinengewehre anzustürmen, machte Stabschef Erich von Falkenhayn nun den Vorschlag, die Franzosen in eine Art Abschlachtungsfeld zu drängen, um dort ihre Armee auszubluten und damit den Krieg endgültig zu entscheiden. Am 21. Februar 1916 überfiel ein Dutzend Divisionen die alte Festung von Verdun. Falkenhayn machte kein Geheimnis daraus, daß es ihm recht gleichgültig war, ob die Festung tatsächlich eingenommen wurde. Entscheidend war es vielmehr, die Franzosen unter das Feuer der 1200 Gewehre zu locken, die das entsprechende Gebiet abdeckten. Tatsächlich agierten die Franzosen wie erwartet: wohl der größte Teil ihrer Truppen quälte sich durch die Schützengräben und Granatentrichter des Gebietes, das einmal ,das Herz Frankreichs' genannt werden sollte. Über 150.000 Franzosen fielen oder wurden als vermißt gemeldet, was in Verdun meist bedeutete, daß es keine identifizierbaren Reste der Betreffenden mehr gab, die für eine Beerdigung hätten geborgen werden können. Auf deutscher Seite waren die Verluste allerdings nicht minder schwerwiegend, die Opfer nicht geringer - während der Zweck ihres Tuns gänzlich im Dunkeln lag 15 . Wie Jahrzehnte später ihre amerikanischen Leidensgenossen in Hamburger Hill, Khe Sanh und hundert anderen namenlosen Orten in Vietnam, starben die deutschen Soldaten für etwas, das ihnen als rein militärische Abstraktion erscheinen mußte. Ihren Operationszielen gaben sie Namen wie „Sargdeckel" oder „Golgatha". Handwaffen waren äußerst begehrt - nicht zum Einsatz gegen den Feind, sondern um im äußersten Falle für den Gnadenschuß gerüstet zu sein. „Eine Pistole war immer gut", erinnerte sich ein Veteran sechzig Jahre später, und ein anderer erklärte: „Hätten wir die Wahl gehabt, so wäre nicht ein einziger von uns freiwillig an der Front geblieben" 16 . Es war weniger die von Falkenhayn peinlich genau überwachte materielle Schlagkraft des Heeres, die in Verdun erodierte, als vielmehr sein moralischer Unterbau. Zumindest seit den Befreiungskriegen hatte die preußische bzw. die deutsche Armee Menschenleben nie als etwas notfalls Entbehrliches be-

Y o r k 1989; M. Samuels, Command or Control? Command, Training and Tactics in the British and German Armies 1 8 8 8 - 1 9 1 8 , London 1995, S. 231 ff. 15 Die beste Analyse des von Falkenhaynschen Vorgehens in Verdun liefert H. Afflerbach, Falkenhayn: Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, Oldenburg 1994, S. 3 5 I f f . 16 Pionier Harry Wiesenbaum in: G. Werth, Verdun. Die Schlacht und der Mythos, Bergisch Gladbach 1974, S. 290; D. Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben: Meine Erlebnisse im Krieg 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , München 1989, S. 324.

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handelt,, mit dem man umging „wie ein Kaufmann mit seinen Bilanzen" 17 . Der Soldatentod, wie ihn die militärische Vorkriegsmythologie beschrieben hatte, hatte mit solchen Metaphern nichts gemeinsam: Der moderne Krieg mochte gewaltige Menschenverluste fordern, die Ergebnisse jedoch würden dieses Opfer legitimieren und heiligen. Die Offensive der Allierten an der Somme vom Juli bis zum November 1916 bedeutete eine weitere Belastung des so skizzierten ,Gesellschaftsvertrages' zwischen deutschem Heer und seinen Soldaten. Ein Kriegsfreiwilliger des 143. Infanterieregiments, Robert Eversmann, beschrieb die vorbereitenden Bombardements der Briten: „Sie kamen von beiden Seiten gleichzeitig. (...) Wie lang soll das noch dauern? (...) Man schätzt, daß in zwölf Stunden 60.000 Granaten auf unseren Stützpunkt niedergegangen sind". Mittlerweile am Ende seiner Kräfte fragte er sich am 1. Juli: „Ob ich den Morgen wohl noch erlebe? Haben wir denn noch immer nicht genug von diesem furchtbaren Schrecken? Fünf Tage und fünf Nächte geht dieses Höllenkonzert jetzt schon. Es ist zum wahnsinnig werden. Die Zunge klebt am Gaumen. Fast nichts zu essen und nichts zu trinken. Kein Schlaf...Wie lange wird all das dauern?" Die Antwort erreichte den jungen Soldaten wenige Stunden später. Zwei Männer der Highland Light Infantry fanden sein Tagebuch vor Thiepval, beim Plündern seiner Leiche 18 . Der Kriegsfreiwillige Eversmann war nur einer auf einer Liste von Toten, die fast eine halbe Million weiterer Namen umfaßte. Diese Zahlen schlössen unverhältnismäßig viele Berufs- und Unteroffiziere ein, Seele einer Wehrpflichtigenarmee, die vor 1914 nie wirklich den Charakter eines Volksheeres im französischen Sinne gehabt hatte 19 . Das preußisch-deutsche Heer hatte eine ehrwürdige Geschichte, in der stets darauf geachtet worden war, daß Höhere Stabs- und Generaloffiziere den Kontakt zu den Frontlinien nicht verloren. Erich Ludendorff selbst, Archetyp des modernen Stabsoffiziers, hatte im August 1914 die höchste militärische Auszeichnung des Reiches erhalten, nachdem er vor der belgischen Festung Lüttich das Kommando einer führerlose Brigade übernommen und eigenhändig die Kapitulation der Festung erzwungen hatte. Solche Aktionen hatten jedoch unter den Bedin-

17 So eine Formulierung General Adolf Wild von Hohenborns gegenüber seiner Frau, in: H. Reichold/G. Granier (Hg.), Wild von Hohenborn. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des preußischen Kriegsministers als Kriegsminister und Truppenführer im Weltkrieg, Boppard 1986, S. 79. 18 L. Macdonald, Somme, London 1983, S. 42, 49, 71 19 Vgl. zu diesem Thema den informativen Beitrag von G. Eley, A r m y , State and Civil Society: Revisiting the Problem of German Militarism, in: ders. (Hg.), From Unification to Nazism: Revisiting the German Past, London 1986, S. 8 5 - 1 0 9 .

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gungen von 1915 und den Folgejahren weitgehend an Bedeutung verloren. Erkundungsgänge auf eigene Faust waren wertlos, wenn die Mittel dazu fehlten, die gewonnenen Einsichten und Informationen weiter zu vermitteln. Das persönliche Beispiel eines einzelnen konnte nichts bewirken, wenn es nur wenige Zeugen gab, für die es ein Ansporn hätte sein können. Deutschlands Reserve an voll ausgebildeten Offizieren war erschöpft. Viele militärische Posten erforderten so spezielle Kenntnisse, daß sie nicht einfach von Reservisten ausgefüllt werden konnten, deren zivile Berufe im besten Fall am Rande etwas mit den administrativen Problemen des militärischen Alltags zu tun hatten. Dabei war die Effizienz des Verwaltungsapparates lebenswichtig, nicht nur aus streng militärischen Gründen, sondern auch, um die .Kompetenzkultur' zu stützen, von der die allgemeine Moral in einem hochtechnisierten Krieg zunehmend abhing. Aktiven Armeeoffizieren, die den Krieg in Geschützgruppen oder Kompanien begonnen hatten, wurden vermehrt Aufgaben übertragen, die weit weg von der Front lagen. 1918 bestanden zwei Drittel der Bediensteten in den Hauptquartieren der aktiven Armeekorps aus Berufssoldaten. Diese Männer verstanden sich selbst schwerlich als Drückeberger. Immerhin wurden volle 25% der Mitglieder des Offizierskorps während des Krieges getötet, unter denjenigen, die 1914 dienten, lag die Q u o t e sogar bei 40%. Solche Statistiken waren dazu angetan, unter den übrigen eine Art ,Uberlebenden-Syndrom' auszulösen. Der Dienst, den diese Männer taten, war durchaus ehrenwert; die meisten verrichteten an ihrem Posten harte Arbeit. Außerdem war ihre Abwesenheit im Kampfgetümmel lediglich vorübergehend. Bald schon, so wurden sie nicht müde einander - und sich selbst! - zu versichern, würden sie einen Antrag auf Rückversetzung an die Front stellen. Vielleicht haben einige von ihnen tatsächlich daran geglaubt 20 . Das Prinzip der Etappe war in gewissem Sinne neu für die deutsche Heeresleitung. In der Erwartung, den Krieg binnen sechs Wochen gewinnen zu können, hatte man zunächst die große Mehrzahl der eigenen Leute in Kampfformationen gesteckt, ohne systematische Pläne für eine längerfristige Kontrolle über besetztes Feindesland auszuarbeiten 21 . Improvisation aber begün-

20 Vgl. H . O s t e r t a g , B i l d u n g , A u s b i l d u n g u n d E r z i e h u n g des O f f i z i e r s k o r p s im deutschen Kaiserreich 1971 bis 1918: Eliteideal, A n s p r u c h u n d Wirklichkeit, F r a n k f u r t a.M. 1990, S. 291 ff. K . von A l t r o c k hebt b e s o n d e r s die W i r k u n g hervor, die der Ausfall der B e r u f s soldaten im Alltag der F r o n t t r u p p e n besaß, in: ders., V o m Sterben des deutschen O f f i z i e r s k o r p s , Berlin 1922. 21 Erst i m S o m m e r 1918 hatte ein Infanteriebataillon mehr als 1 0 % seiner nominellen Stärke ins rückwärtige H e e r e s g e b i e t a b k o m m a n d i e r t , vgl. A . Stenger, D e r letzte deutsche A n griff: R e i m s 1918, in: Schlachten des Weltkrieges, B d . 34, Berlin 1934, S. 7.

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stigt stets Opportunisten: Es gab kaum Kompanien, in denen nicht in der Folge diejenigen Männer, die geschickter, skrupelloser oder egoistischer waren als ihre Kameraden, sich die Jobs ergaunerten, in denen es nur die Post zu sortieren oder ein Nachschublager in einem belgischen oder französischen Dorf zu beaufsichtigen galt. Solche .Etappenhengste' waren für die Frontdivisionen, die sich zeitweise zu Schulungen und Erholungspausen im rückwärtigen Gebiet aufhielten, eine ständige Provokation. Schon 1916 sprachen Zyniker wie Idealisten von zwei Armeen: der einen in den Schützengräben und der anderen, die in den Bars und Bordellen der Besatzungszone ihren ,Krieg' führte. .Etappenhengste' sind in keiner Armee auf der Welt beliebt. Trotzdem waren Mißtrauen und Haß im deutschen Heer, dessen einzelne Glieder besonderen Wert auf - wie man heute sagen würde - Glaubwürdigkeit legten, ganz besonders tief. Ein Mann war an der Front, oder er war es nicht; These stand gegen Antithese 22 . Mitten im Massaker von Verdun wandte sich ein Stabsoffizier an einen zerlumpten Gewehrschützen: „Frieren Sie? Frieren tun Onanisten, Säufer und Hurenböcke. Was sind Sie?" 2 3 Man könnte diese Bemerkung als etwas verunglückten Versuch werten, einen derben Soldatenwitz zu machen. Es hätte auch so verstanden werden können, wenn der betreffende Soldat den Offizier als Leidensgenossen wahrgenommen hätte, der unter den gleichen miserablen Bedingungen litt wie er. Statt dessen wurde der schlechte Scherz, mehr als ein halbes Jahrhundert später von einem Augenzeugen noch erinnert und wiederholt, nicht nur zum Symbol für die Dichotomie zwischen Front und rückwärtigem Gebiet, zwischen aktiv Kämpfenden und Stab, sondern auch zum Sinnbild für die Kluft, die sich mittlerweile quer durch das deutsche Reich als Ganzes zog: zwischen denen, die befahlen, und denen, die gehorchten. Mit dem stetigen Steigen der Verlustzahlen und dem Schrumpfen der verfügbaren Reserven beschwerten sich die verschiedenen Interessengruppen in Deutschland im Chor über die ihrer Ansicht nach ungleich verteilten Lasten. Bei der nun einsetzenden allgemeinen Suche nach einem Sündenbock fiel die erste Wahl auf die Juden. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland hatten, nicht zuletzt, um auf diese Weise ihre fortgesetzte gesellschaftliche Marginalisierung zu überwinden, von der ersten Stunde des Krieges an fest zu ihrem Land gestanden. Die Zahl der von ihnen gestellten Frontsoldaten war proportional mindestens so hoch wie im Falle der übrigen Bevölkerung. So war der erste Reichstagsabgeordnete, der auf dem Schlachtfeld zu Tode kam, ein 22 Vgl. Linder, Princes, S. 55f. Vgl. auch W. Deist, Le Moral des troupes allemandes sur le front occidental a la fin de l'annee 1916, in: J.-J. Becker (Hg.), Guerre et culture 1914— 1918, Paris 1994, S. 91-102. 23 Bericht Heinz Risses in: Werth, Verdun, S. 185. 48

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Jude, ebenso wie einer der besten und berühmtesten Piloten der Kaiserlichen Luftwaffe, Werner Voss 2 4 . Trotz der gegenläufigen statistischen und praktischen Evidenz eröffneten konservative und antisemitische Kreise ein Trommelfeuer an Beschuldigungen: Juden, so die entsprechenden Klagen, drückten sich vor dem Einsatz in Kampftruppen und schusterten einander die sicheren und einträglichen Posten im Etappengebiet zu. Ein Offizierskorps, das es prinzipiell ablehnte, Juden in die eigenen Reihen aufzunehmen, hat eventuell die berüchtigte „Judenzählung" in den Fronteinheiten autorisiert. Die entsprechenden Ergebnisse sind unvollständig, nicht zuletzt weil einige Kommandeure unter dem Hinweis, sie befehligten Deutsche, und das sei alles, was sie interessiere, ihre Mitarbeit verweigerten. Aber Deutschland, so war die verbreitete Ansicht, kämpfte ums eigene Uberleben - wer würde auf der Liste der vermeintlichen Drückeberger der nächste sein? Was war aus dem Burgfrieden geworden, den Wilhelm II. in den weit zurückliegenden Tagen des August 1914 so großspurig verkündet hatte? 25 Die ursprüngliche Erwartung eines nur kurzen Krieges hatte neben der .Frontlastigkeit' des militärischen Systems dazu geführt, daß man sich kaum um das Problem gekümmert hatte, wie die Arbeitskraft der Heimatfront auf Dauer zu halten sei. Der Krieg, so glaubte man, war mit den Ressourcen zu führen, die bereits vorhanden waren; die Ernte sollten Frauen, Kinder und Alte einbringen; und zu Weihnachten seien alle wieder zu Hause bei ihren Familien. Als die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg schwanden, begann das Kriegsministerium mit der Improvisation von Freistellungen, vor allem von Facharbeitern. Anfang 1916 waren 1,2 Millionen freigestellte Facharbeiter in der Industrie des Reiches tätig. Nicht wenige davon waren direkt von der Front abgezogen worden, was weitreichende Konsequenzen besaß: Dem Durchschnittssoldaten war auf diese Weise eine ehrenvolle Möglichkeit gegeben, sich aus der nicht enden wollenden Materialschlacht zurückzuziehen. Jeder von ihnen, einmal dem Frontgeschehen entronnen, tat alles in seiner Macht stehende, um nicht zurückgeschickt zu werden, während Unternehmer wie Generäle über ein Damoklesschwert verfügten, das sie nach Belieben über den Köpfen von Dissidenten schwingen lassen konnten. Gleichzeitig

24 Vgl. etwa F. Oppenheimer, Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums, München 1922 sowie J. Segall, Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914-1918. Eine statistische Studie, Berlin 1922, S. 314-335. 25 Die beste Ubersicht zur „Judenzählung" im deutschen Heer bietet immer noch W. Angress, The German Army's Judenzählung' von 1916, in: Leo Baeck Institute Yearbook 23 (1978), S. 117-135. Vgl auch C . Picht, Zwischen Vaterland und Volk. Das deutsche Judentum im Ersten Weltkrieg, in: W. Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 736-755. Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919

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wuchsen unter den ungelernten Arbeitern und allen, die nicht das Glück hatten, zur Fabrikarbeit freigestellt zu werden, Frustration und Ablehnung 26 . Uberhaupt waren die Schützengräben keine isolierte Welt. Bis 1917 gab es keine Zensur der Feldpost 27 . Die Soldaten bekamen regelmäßig Heimaturlaub - sogar während der Großoffensive vom März 1918 fehlten einem Bataillon eines Frontregiments 5% seiner Leute 28 . Verwundete wurden meistens in Krankenhäuser und Pflegeheime in Deutschland zurücktransportiert, und sei es nur, um der nächsten Welle von körperlich und geistig Gebrochenen in den Lazaretten Platz zu machen. Wer von der Front nach Hause zurückkehrte, begegnete den sichtbaren Folgen eines Rationierungssystems, das es den Begüterten immer noch erlaubte, praktisch nach Gutdünken Luxuswaren einzukaufen. Er sah, wie Veteranen mit Kriegsverletzungen öffentlich Anstoß erregten, besonders die grandes mutilés, die das Ergebnis der modernen Waffen- wie der modernen Medizintechnik waren. Eine diskrete Schiene oder Schlinge waren eine Sache für die guten Bürger von Mainz oder Berlin; ein Torso ohne Gliedmaßen eine ganz andere 29 . Die militärische Demographie besaß mit fortschreitender Kriegsdauer ebenso ihren Einfluß auf die allgemeine Moral. Die Einberufungen der Vorkriegszeit hatten besonders Kleinstädte und ländliche Gebiete getroffen. Ganz abgesehen von politischen Erwägungen war es Teil des militärischen Glaubensbekenntnisses überall in Europa, daß Landbewohner den Strapazen des modernen Krieges physisch und psychisch besser gewachsen seien als die vorgeblich untrainierten und nervenschwachen Städter. Ländliche Gemeinden, die in der Armee des Jahres 1914 überproportional stark vertreten waren, hatten einen entsprechend großen Anteil an den Verlusten. Die Effizienz vieler auf dem Land rekrutierten Divisionen nahm ab. Das Ergebnis spürte das Heer als ganzes, denn es wurde zunehmend schwieriger, zwischen den Einheiten im Feld und den Ersatztruppen eines speziellen Korpsdistrikts Verbindung zu halten. Zwar wurde das territorial gebundene Ersetzungssystem

26 Standardwerk zu diesem Thema ist G. Feldman, Army, Industry and Labor in Germany, 1914-1918, Princeton 1966. Zusätzlich kann nun als Uberblicksdarstellung herangezogen werden ders., The Great Disorder: Politics, Economics and the German Inflation 1914— 1924, N e w York 1993. 27 Eine Analyse der Feldpostbriefe als Medium der Mobilisierung von unten', aber auch als Spiegel der Schrecken und der Ungerechtigkeit des Krieges s. B. Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit, Essen 1997. 28 Vgl. Der letzte deutsche Angriff, S. 7 29 Vgl. R. Whalen, Bitter Wounds: German Victims of the Great War 1914-1918, Ithaca (N. Y.) 1984.

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niemals völlig aufgegeben, dennoch aber nahmen Bataillons und Kompanien immer häufiger Männern aus ganz Deutschland auf 30 . Das Profil der Armee veränderte sich noch in einem anderen signifikanten Punkt. Die Verluste im deutschen Heer betrugen durchschnittlich 130.000 im Monat. Nach 1916 wurden diese Ausfälle, anders als in der ersten Hälfte des Krieges, vornehmlich durch jüngere Männer ersetzt. Die älteren verfügten in höherem Maße über Fähigkeiten, wie sie in der Kriegsindustrie benötigt wurden - oder aber über Verbindungen, die sie ausnutzten, um von der Front weg zu kommen. Die physischen wie psychischen Erfordernisse des Kriegs in den Schützengräben verlangten zudem eher junge Kämpfer. Die Existenz ganzer Klassen von 18- und 19jährigen lud zu vorgezogenen Einberufungsbefehlen vor dem 20. Lebensjahr ein, statt ältere Jahrgänge auszukämmen. In den letzten zwei Jahren des Krieges war bis zu ein Viertel des deutschen Heeres unter 21 Jahren alt. Das Ergebnis dieser Entwicklung war in gewisser Hinsicht die Vorwegnahme der Erfahrungen der U.S.Army in Vietnam. Anders als 1915-1916 enthielten die Gefechtsgruppen immer weniger Männer aus etablierten zivilen Lebenszusammenhängen. Der Rebellionsgeist, der für die Jugendbewegung der Vorkriegszeit charakteristisch gewesen war, tauchte als wachsender Generationenkonflikt zwischen den jungen Männern des Mannschaftsstandes und dem Offizierskorps wieder auf. Anfang 1917 gab es eine signifikante Erhöhung der Desertionszahlen. In einigen Divisionen nahm die Unzufriedenheit offene Formen an. Diese als Meuterei zu bezeichnen, hieße jedoch ihre Dauer und Ausrichtung zu übertreiben. Die kollektive Disziplinlosigkeit dieses Kriegsabschnitts erschöpfte sich in lediglich kurzfristigem Ungehorsam. Keinesfalls führte sie zu einer umfassenden Remobilisierung, die auf einer grundsätzlichen Neuverhandlung der .Arbeitsbedingungen' beruhte, wie sie Leonard Smith für die französische Seite der Front konstatiert. Stattdessen organisierten deutsche Kompanieführer und ältere Unteroffiziere zusätzliche Essensrationen, Sonderurlaub und eine Extraportion Alkohol für ihre Leute, die sie als Opfer einer vorübergehenden Geistesverwirrung betrachteten. Allerdings fragten sie sich auch, was beim nächsten Mal zu tun sei - und in der Tat häuften sich in der Folge die .nächsten Male' 3 1 .

30 Vgl. D . Dreetz, Methoden der Ersatzgewinnung für das deutsche Heer 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , in: Militärgeschichte 16 (1977), S. 7 0 1 - 7 0 6 ; R. Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 8 ff.; sowie - hinsichtlich der Statistiken - H . Gauer, Von Bauerntum, Bürgertum und Arbeitertum in der Armee, Heidelberg 1936. 31 Vgl. B. Ziemanns Uberblick Fahnenflucht im deutschen Heer 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1996), S. 9 3 - 1 3 0 sowie W . Deist, The Military Collapse of

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Auch ihre Vorgesetzten stellten sich zunehmend die Frage nach dem weiteren Umgang mit derartigen Vorfällen. Im Laufe des Jahres 1916 nahm die O H L - wenn auch nach wie vor unwillig - zur Kenntnis, daß der Konflikt den Charakter eines industriellen Krieges, einer Materialschlacht, angenommen hatte. Die Soldaten waren mithin zu Arbeitskräften, das Heer zur Miliz geworden 32 . Es gab zwei Möglichkeiten, auf diese Veränderung zu reagieren. Eine davon hätte die Weiterentwicklung der technischen Kapazitäten der deutschen Industrie bedeutet, aber Hindenburgs Programm der totalen ökonomischen Mobilisierung bewies, um es mit R.H.Tawney zu sagen, daß ein General mit einer Fabrik so viel anzufangen weiß wie ein Affe mit einer Uhr. Auch konnten die deutschen Hersteller bei so entscheidenden Erzeugnissen wie Transportfahrzeugen, Panzern und Flugzeugen nicht mehr weiter Schritt halten. Die deutsche Armee von 1917 und dem frühen 1918 drohte nicht wirklich technisch zu veralten, trat aber über weite Strecken hinweg ganz einfach auf der Stelle 33 . Gelang es der Armee auch nicht, die hohe Kunst des Wirtschaftsmanagements zu erlernen, so konnte sie dennoch Erfolge bei der Weiterentwicklung ihrer strategischen Fähigkeiten verbuchen. Das Prinzip der Tiefenverteidigung, vom Generalstab nach der Schlacht an der Somme systematisiert, ergänzte die zusehends verfeinerte Sturmtruppentaktik, die aus der Erfahrung des Schützengrabens erwachsen war. Im Laufe des Jahres 1917 lernte die deutsche Infanterie „widerstehen, ausweichen und zurückschlagen", also, wenn nötig, auch Boden aufzugeben, aber gleichzeitig immer wieder lokal begrenzte Gegenangriffe zu starten 34 . Diese Taktik schuf einen neuartigen, ganz besonderen Archetyp des deutschen Soldaten: als Kämpfer und Techniker zugleich hatte er die Ansprüche des modernen Schlachtfeldes assimiliert und sich gleichzeitig förmlich darüber erhoben. Ganz kontrollierte Willenskraft, kühl und scheinbar gefühllos, verstand er den Krieg als ultimative Ausprägung

the German Empire: The Reality behind the Stab-in-the-back Myth, in: W a r History 3 (1996), S. 1 8 6 - 2 0 7 . für die Ereignisse in Frankreich vgl. L. Smith, Remobilizing the Citizen-Soldier Through the French A r m y Mutinies of 1917, in. J. H o m e (Hg.), State, Society and Mobilization in Europe during the First World War, Cambridge 1997, S. 1 4 4 - 1 5 9 . 32 Kein geringerer als Ludendorff bekräftigt diese Tatsache - bzw. diese Sicht der Dinge in seinem Werk Meine Kriegserinnerungen 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , Berlin 1919, S. 532. 33 Eine hervorragende Zusammenfassung des Hindenburgschen Wirtschaftsprogramms und seiner Grenzen bietet R. Chickering, Imperial Germany and the Great War, 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , Cambridge 1980, S. 76 ff. 34 Eine Analyse der neuen Taktik aus erster Hand bietet F. von Lossberg, Meine Tätigkeit im Weltkriege 1914—1918, Berlin 1939. Seine Betrachtungsperspektive ,von oben nach unten' wiederholt T. Lupfer, The Dynamics of Doctrine: The Changes in German Tactical D o c trine during the First World War, Fort Leavenworth (Kansas) 1981. Gudmundsson betont dagegen die grass-roots der taktischen Veränderungen, vgl. Stormtroop Tactics, S. 77.

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des modernen Lebens. Im Meistern der moralischen, physischen und technischen Anforderungen des Krieges fand er persönliche Erfüllung. Sein Bild gewann Gestalt in den Werken Ernst Jüngers und Otto Dix': der Mann des Asphalts, eine Zigarette im Mundwinkel, eine Granate im Gürtel, eine der neuartigen Maschinenpistolen mit großer Vertrautheit in der Hand wiegend. Sein Zuhause war die Front, seine Familie die Kameraden seiner Truppe. Schrecken und Zerstörung des Krieges waren für ihn wettgemacht durch die agonistischen, existentiellen Freuden des Opfers - je sinnloser, desto besser 35 . Dieser Entwurf vom Sturmtruppenangehörigen als Inkarnation des Nietzschen Übermenschen blieb jedoch mehr Vorstellung als Wirklichkeit. Vor 1914 war die Primärgruppe des deutschen Soldaten die Kompanie gewesen, 200 Männer oder mehr. Kleinere Einheiten existierten hauptsächlich für administrative Zwecke. Die Kompanie war zu diesem Zeitpunkt auch die primäre taktische Einheit, häufig vom Mutterbataillon abkommandiert, um ein anderes zu verstärken oder um in eine ad hoc gegründete Kampfgruppe integriert zu werden. Solange die Infanteristen noch ausschließlich mit Gewehren bewaffnet waren, hing die Effizienz eines Manövers nicht unerheblich von der Zahl der beteiligten Soldaten ab. Die systematische Einführung des leichten Maschinengewehrs und der Handgranate 1916-1917 aber vervielfältigte die Schlagkraft - wenn auch nicht die des einzelnen, so doch die der Kleingruppe. Das neue .leichte' Maschinengewehr der Deutschen war wassergekühlt und mit einem Gurt versehen. Mit einem Gewicht von etwa 20 Kilo war es sehr viel mehr eine im Team zu bedienende Waffe als die Lewis- und Chauchat-Gewehre der Gegenseite. Es verlangte einen ungewöhnlich kräftigen Schützen, um mit einem solchen Gewehr aus der Hüfte zu schießen, und der Transport war mühsam wie der eines ganzen Motorblocks. Ähnliche Probleme bereitete auch die deutsche Stielhandgranate. Ein einzelner Grenadier lief eher Gefahr, den Feind auf sich aufmerksam zu machen, als ihn einzuschüchtern oder gar seine Stellung zu zerstören. Sechs von ihnen dagegen hatten eine gute Chance, ihren Auftrag zu erfüllen, wenn sie nur lange genug die Köpfe einzogen, ganz besonders, wenn sie zusätzlich von einem leichten M G gedeckt wurden. Aufgrund der veränderten Waffentypen und Kampfmethoden, die zunehmend einander gegenseitig unterstützende Kleingruppen verlangten, fand im Laufe des Jahres 1917 eine entsprechende Umstrukturierung innerhalb der deutschen Kompanien statt. J e nach Anzahl der

35 Vgl. T. Rohrkramer, Die Verzauberung der Schlange. Krieg, Technik und Zivilisationskritik beim frühen Ernst Jünger, in: W . Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 8 4 9 - 8 7 4 ; M. Eksteins, Rites of Spring. The Great W a r and the Birth of the Modern Age, N e w Y o r k 1989; O . Conzelman, Der andere Dix: Sein Bild vom Menschen und vom Krieg, Stuttgart 1983.

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verfügbaren Männer hatten die neuen Verbände sieben bis acht, manchmal auch nur vier oder fünf Mitglieder. Ein starker Zug setzte sich aus zwei oder drei Gruppen von Gewehrschützen und Grenadieren zusammen, dazu kamen zwei Maschinengewehrcrews. Ein schwächerer organisierte sich um seine Maschinengewehre, mit den Schützen als Ersatzbedienung 36 . Der Erfolg des neuen Systems war nicht einfach das Ergebnis entsprechenden Trainings. Ebensowenig aber ergab sich unter den deutschen Soldaten automatisch eine einzigartige ,Grabenkameradschaft'. „Jeder war sich selbst der nächste", kommentierte ein Zeitzeuge. „Im Krieg floriert vor allem der Egoismus", erklärte ein anderer 37 . Nicht wenige unter den bürgerlichen Memoirenautoren erinnerten sich an Schikanierungen durch Kameraden niedrigerer Schichten und geringerer Bildung. Andere beschrieben ihr Judentum als Anlaß zur Ausgrenzung. Wieder andere erfuhren Diskriminierungen als ,Wackes' aus Elsaß-Lothringen 3 8 . Trotzdem begünstigte der Alltag in der Infanterie besonders die Entwicklung kleiner Bezugsgruppen, die auf Nähe, Affinität und gemeinsamer Erfahrung aufbauten. In ihrer Substanz waren dies Schutzmechanismen, die das Uberleben ermöglichten: ein Mann allein für sich war an der Westfront entweder ein Selbstmörder oder ein Verrückter. Die Gruppenbildung besaß aber auch eine wichtige psychologische Funktion. Sehr viel mehr als ihre französischen oder britischen Gegenstücke waren die deutschen Verbände Ersatzfamilien, oft mit einer höchst komplizierten Rollenverteilung. Die Ernährungs- und Schutzfunktion, die die Zivilgesellschaft den Frauen vorbehielt, wurde nun von Männern für andere Männer übernommen. Patriarchen, Onkel, Mentoren, zuverlässige große Brüder und nichtsnutzige jüngere bevölkern jede Seite der einschlägigen Memoirenliteratur und Kriegsbücher. Wie das Beispiel Adolf Hitlers beweist, gab es auch Raum für exzentrische Vettern 39 .

36 Eine gute Übersicht in: Gudmundsson, Stormtroop Tactics, S. 98 ff. Speziell zur Problematik der Bedienung der Maschinengewehre s. R. Bruce, Maschinengewehr 08/15, in: ders., Machine Guns of W o r l d W a r I, London 1997, S. 3 3 ^ 5 . 37 Zitiert in Plaut, Psychographie des Kriegers, S. 83. 38 Vgl. F. Schauwecker, The Fiery W a y , London 1921, S. 217; J. Marx, Kriegstagebuch eines Juden, Frankfurt a.M. 1964, S. 32; Richert, Beste Gelegenheit. 39 E.M. Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929; E. Glaeser, Jahrgang 1902, Berlin 1929; W . Beumelberg, Gruppe Bösemüller, Oldenburg 1930; L. Renn, Krieg, Berlin 1934 sind nur einige Beispiele, die quer durch politische und ideologische Lager nach Belieben weiter vervielfältigt werden können. Für die von Hitler erlebte ,Familiendynamik' s. A. Joachimsthaler, Korrektur einer Bibliographie. Adolf Hitler 1 9 0 8 - 1 9 2 0 , München 1979, S. 106 passim.

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Die Gründe für diese besondere Natur des deutschen Musters sind wenig geklärt. Man könnte vermuten, daß es bestimmte reizvolle Aspekte der Jugendbewegung der Vorkriegszeit wieder aufleben ließ, nämlich Geborgenheit, patriarchalische Struktur und kameradschaftlichen Stil40. Man könnte auch diskutieren, ob sich hier nicht vor allem Defizite spiegelten: Das deutsche Regiment war niemals in dem Maße mit Mythen und Emotionen aufgeladen wie das britische. Anders als die Franzosen kämpften die Deutschen zudem nicht im eigenen Land, so daß ihnen das breite Spektrum an Verbindungen zum Alltag der Heimat fehlte, die der ,Poilu' weiter aufrechterhielt41. In jedem Falle kam die soziale Dynamik innerhalb der deutschen Kampftruppen den neuen Waffen und Strategien in hohem Maße entgegen. Man hat den Ersten Weltkrieg häufig in der Begrifflichkeit einer Fabrik beschrieben - in den Schützengräben von 1917 jedoch begann das deutsche Heer so etwas wie eine Handwerker-Mentalität zu entwickeln. Die Front wurde mehr und mehr zu einer Art Werkstatt, in der eine kleine Gruppe von Arbeitern miteinander daran arbeitete, den anliegenden Auftrag möglichst effizient zu erledigen. ,Krieger' aus dem Holze eines Ernst Jünger waren willkommen, etwa wie der Wolf in einem Rudel verwilderter Hunde, aber nur, wenn ihr persönlicher Ehrgeiz dem gemeinsamen Projekt zu gute kam - der Mission, die mit den Methoden der Sturmtruppe im Geiste von Ersatzfamilien durchgeführt wurde. Die Parallelen mit industriellen Strukturen waren in den Nachschublagern und Ausbildungszentren in Deutschland selbst sehr viel evidenter als an der Front. Streikende und Gewerkschaftsaktivisten wurden häufig zur Strafe in die Armee gesteckt und brachten ihre Militanz, ihre organisatorischen Fähigkeiten und vor allem ihre wachsende Unzufriedenheit dorthin mit. Aber auch für diejenigen, die sich den herrschenden Regeln unterwarfen, wurde es angesichts der zunehmenden Personalknappheit des Heers immer schwieriger, frei- bzw. zurückgestellt zu werden. Dadurch verbreitete sich unter den gerade aufgegriffenen ,Widerstandshelden' das Gefühl, betrogen worden zu sein. Auf der anderen Seite des Zwangsrekrutierungssystems hatten die vorgezo-

40 T. Taylor, Images of Youth and the Family in Wilhelmine Germany: Toward a Reconsideration of the German Sonderweg, in: German Studies Review 1992, S. 55-73, formuliert die sehr nützliche Warnung, die vorgebliche Disfunktionalität deutscher Familiensysteme vor dem Krieg nicht zu übertreiben. 41 G. Krumeich, Le Soldat Allemand sur la Somme, in: J.-J. Becker (Hg.), Les sociétés européennes et la guerre 1914—1918: actes du colloque organisé a Nanterre et a Amiens du 8 au 11 décembre 1988, Nanterre 1990, S. 367-374, vertritt die These, den deutschen Soldaten sei nahegelegt worden, sie verteidigten ihr eigenes Zuhause, obwohl sie selbst in dem der anderen kämpften. Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919

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genen Einberufungsbefehle zur Folge, daß immer mehr Teenager gezogen wurden. Diese hatten allerdings zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Illusionen über das, was sie erwartete. In einer Welt ohne Väter und mit hohen Löhnen hatten zudem viele unmittelbar zuvor ein nie dagewesenes Ausmaß an persönlicher Freiheit erlebt. Solche Leute versprachen bestenfalls das Material für physisch und psychisch angeschlagene Kader zu werden, die nur schnell und möglichst friedlich aus dem Krieg wieder herauskommen wollten. Manche Veteranen, die zur Belohnung für ihr Überleben an die Heimatfront versetzt wurden, betrachteten ihre dortigen Schutzbefohlenen als unverschämte Drückeberger und aufsässige Dummköpfe und zogen ein persönliches Vergnügen daraus, ihnen unnötig das Leben so schwer wie möglich zu machen. Der Schulmeister in „Im Westen nichts Neues", erst in einem späteren Stadium des Krieges einberufen und systematisch gequält von einem der jungen Männer, die er 1914 dazu verleitet hatte, sich freiwillig zu melden, erhielt so die Darstellung des Buches - nichts als seine gerechte Quittung. Solche Praktiken waren jedoch nicht gerade dazu angetan, motivierte und effiziente Soldaten zu schaffen 42 . Der Truppentransfer von der Ostfront, der 1917 in großem Stile begann, schuf eine andere Problemlage. Die russische Front war seit 1915 relativ inaktiv gewesen. Wiederholte Auskämmungen zogen Einheiten ab, die kämpfen wollten oder jedenfalls irgendwie soweit gebracht werden konnten, der Rest blieb sich selbst überlassen. Die Soldaten waren in ständigem, oftmals freundschaftlichem Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung, was es schwierig machte, sie vor Antikriegspropaganda bolschewistischer oder anderer Provenienz zu schützen. Als solche vorgeblichen Kampfformationen nach Westen beordert wurden, machten sich Dutzende von Männern aus dem Staub, wenn die entsprechenden Züge größere Städte passierten. Güterwaggons wurden mit Aufschriften wie „Schlachtvieh für Flandern" verziert. Eine übliche Erwiderung gegenüber unzufriedenen Vorgesetzten war die provozierende Frage: „Und was machen Sie jetzt mit mir, Herr Leutnant? Mich an die Westfront schicken?" 4 3 Die Reaktion der militärischen Führung auf diese Vorkommnisse war so unerwartet, daß sie fast unlogisch erscheint. Im Jahre 1917 lockerte ein neues Strafgesetzbuch die bis dahin üblichen Sanktionen für militärische Disziplinar-

42 Vgl. D. Dreetz, Zur Unerfüllbarkeit der personellen Ersatzanforderungen der deutschen militärischen Führung für das Feldheer im Ersten Weltkrieg, in: Revue Internationale d'histoire militaire 62 (1985), S. 5 1 - 6 0 . 43 Zur Situation an der Ostfront s. D. Showalter, The Homesick Revolutionaries: Soldiers' Councils and Newspaper Propaganda in German-Occupied Eastern Europe 1 9 1 8 - 1 9 1 9 , in: Canadian Journal of History 9 (1976), S. 6 9 - 8 8 .

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vergehen. Damit war Desertion nicht länger ein Kapitalverbrechen, sondern mit Gefängnis oder Straflager abbüßbar; die Mindeststrafe von zehn Jahren für Ungehorsam vor dem Feind wurde ausgesetzt - Veränderungen, die als Zeichen für den drohenden Legitimitätsverlust des Militärs interpretiert worden sind. Das deutsche Heer war jedoch auch als Institution durchaus dazu in der Lage, den gesunden Menschenverstand walten und Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Es war und blieb eine Rechtsarmee, gebunden durch das Gesetz; ihre Mitglieder waren Staatsbürger. Trotz aller Schauergeschichten über preußische Disziplin beträgt die offizielle Zahl hingerichteter Soldaten weniger als fünfzig. Es machte somit weder einen Sinn, als Kapitalverbrechen zu bezeichnen, was nicht mehr als solches bestraft wurde noch war es realistisch, Gefängnisstrafen beizubehalten, wenn die Kriegsgerichte nicht mehr dazu bereit waren, diese auch tatsächlich zu verhängen. Kurz: das Militär veränderte seine Rechtsgrundlage mit der gleichen Flexibilität, wie es auch seine Taktik den neuen Zuständen anpaßte, auf die die Vorkriegsüberlegungen nicht mehr anwendbar waren 44 . Traditionelle militärische Autorität erodierte auch auf andere Art und Weise. Die Heeresführung weigerte sich beharrlich, das Offizierskorps proportional zur größer gewordenen Armee zu verstärken. Die Zahl der Berufsoffiziere stieg während des Krieges um nicht mehr als das doppelte auf insgesamt etwa 46.000. Wie bei so vielen anderen Aspekten des Kaiserreiches muß man sich jedoch auch hier vor einfachen Erklärungen hüten. Das Prinzip .besser kein Offizier als ein schlechter' war nicht einfach eine Abwehrstrategie gegen den Aufstieg von sozial oder politisch Unerwünschten. Den Regimentern stand es frei, Freiwillige mit Gefechtserfahrung für Offiziersausbildungskurse zu benennen. Die Anforderungen in diesen Kursen aber lagen nur geringfügig unter denen der Vorkriegszeit: In viel höherem Maße als sonst üblich gingen für die deutsche Armeeführung die Pflichten selbst eines Junioroffiziers weit darüber hinaus, seine Truppe ins Gefecht zu führen. Wie bei der U.S.Army im Zweiten Weltkrieg mußten die Bewerber entsprechend über mehr als nur elementare Bildungsvoraussetzungen verfügen. Damit kamen in der Praxis nur Kandidaten aus der Mittelschicht in Frage, die vor dem Krieg die meisten Reserveoffiziere gestellt hatte. Wer die Vorbereitungskurse bestanden hatte, wurde meist als Unterfeldwebel an die Front zurückgeschickt, oft zu seinem früheren Regiment. Bewährte er sich, wurde er befördert. 1918 gab es in den Reihen des kaiserlichen Heeres 225.000 Reserveoffiziere, die meisten davon erst nach Ausbruch des Krieges ernannt. Da eine Kompanie mit 150 bis 200

44 Die Veränderungen stellt zusammenfassend dar H. Strachan, The Morale of the German Army 1917-1918, in: H. Cecil/P. Liddle (Hg.), Facing Armageddon: The First World War Experience, London 1996, S. 395. Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919

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Männern selten mehr als zwei oder drei Offiziere besaß - bei den Briten waren es fünf oder sechs -, war die Verantwortung, die der einzelne trug, auch mit der Unterstützung eines erfahrenen Feldwebel erschreckend groß. Die Stellung der Reserveoffiziere war nicht besonders günstig, u m Disziplin- und Administrationslücken zu überbrücken. Für diejenigen, deren Erziehung oder - weniger häufig - deren soziale Herkunft oder Bildungsniveau sie für die Offizierslaufbahn ungeeignet machte, existierten die Ränge .Offiziersstellvertreter' und .Feldwebelleutnant'. Diese Stellungen waren weniger Ausdruck klassenbedingter Diskriminierung als der Versuch, den besten Unteroffizieren mehr Verantwortung zu übertragen und sie vom breiten Mannschaftsstand zu trennen. Im Frieden waren die Unteroffiziere von ihren Junioren streng geschieden: sie waren Berufssoldaten, letztere Wehrpflichtige. Sie waren Ausbilder, aber nicht Mentoren und schon gar nicht Kameraden dieser einfachen Soldaten. 1917 jedoch waren wenige Berufsunteroffiziere in den Zügen und Gruppen verblieben. Ihre Plätze hatten Reservisten und Wehrpflichtige eingenommen, die im Felde befördert worden waren. Aufgrund der geringen Anzahl von Offizieren, die zudem ständig beschäftigt waren, aber auch wegen der kleiner gewordenen Einheiten, die nach dem .Handwerkerprinzip' funktionierten, tendierte die neue Generation von Unteroffizieren dazu, mehr auf Konsens als auf Autorität zu setzen. Unteroffiziere, Feldwebel und manchmal sogar Unterfeldwebel prüften lieber die Ansichten ihrer Untergebenen als Gefahr zu laufen, daß ihre Befehle nicht ausgeführt wurden. Wenn es im Laufe des Jahres 1917 der deutsche Soldat immer vernünftiger fand, einfach zu fragen, wer sich in seiner Kompanie u m die Vorräte kümmere, war die Antwort wahrscheinlich bestenfalls ausweichend 4 5 . Angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung der Junioroffiziere in den Frontbataillons verfielen nicht wenige von ihnen, Berufssoldaten oder Reservisten, nach der Beförderung in eine Art gaudiamus zgitar-Mentalität. Sie kämpften zwar weiterhin mit großem Einsatz, versuchten aber alles an Vergnügungen mitzunehmen, was ihnen außerhalb des Schlachtfeldes geboten wurde. D i e deutsche Armee von 1914 war, wie die deutsche Gesellschaft insgesamt, an ein gutes Leben gewöhnt; die Privilegien der Offiziere gingen in Ordnung, solange der Eintopf noch Fleisch enthielt und es regelmäßig eine Zigarre, einen K r u g Bier und ein Gläschen Schnaps für alle gab. Als die ange-

45 Vgl. B. Thoss, Menschenführung im Ersten Weltkrieg und in der Reichswehr, in: Menschenführung im Heer, hrsg.v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford 1992, S. 113-138; Ostertag, Bildung, Ausbildung und Erziehung, S. 292 sowie das breit rezipierte Werk F. Altrichters, Die seelischen Kräfte des deutschen Heeres im Frieden und im Weltkrieg, Berlin 1933. 58

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nehmen Dinge des Lebens, vom Brot bis zum Toilettenpapier, knapper und schlechter wurden, waren die bisher ganz selbstverständlich hingenommenen Ungleichheiten der Kasten- und Klassengesellschaft immer schwerer zu ertragen. Die Worte „Mißstände" und „Ungerechtigkeit" tauchten immer häufiger in den Feldpostbriefen auf, aber auch im Gespräch während der Gefechtspausen und an den Wänden der Latrinen 4 6 . Die Entscheidung der O H L , während der Vorbereitung der Offensive von 1918 das gesamte Heer in zwei Lager zu teilen, war ein letzter großer Schritt in die Krise. Ungefähr 70 der über 240 Divisionen wurden als „Angriffsdivisionen" deklariert, deren Verstärkung, Ausrüstung und Verpflegung Priorität erhielt. Dies galt auch für Antiseptika und Narkosemittel, deren Mangel die medizinische Versorgung in manchen Feldlazaretten auf fast napoleonisches Niveau reduziert hatte. Der Preis war spezielles Training in Uberfallstrategien nach dem Sturmtruppenmodell, mit der Gewißheit, in der vordersten Reihe der bevorstehenden Offensive zu stehen, die auf jedem Bahnhof und jedem Bordell des Kriegsgebietes einziges Gesprächsthema war. Die übrigen Divisionen wurden als „Stellungstruppen" betrachtet, die allenfalls errungene Gebietsgewinne konsolidieren sollten und die voraussichtlich den Rest des Krieges damit beschäftigt sein würden, Schützengräben zu halten. Diesen „Stellungstruppen" war inzwischen der Statusverlust, der mit ihrer Degradierung einherging, herzlich gleichgültig - abgesehen von einigen feuerspukkenden Offizieren, die nach wie vor vom Orden pour le mérite träumten. Weit schlimmer war, daß ihre ohnehin schon schmale Kost noch kärger wurde. Zudem stießen immer mehr Ersatzmänner mit Kriegsverletzungen zu ihnen, die mehr oder weniger unzuverlässig waren 47 . In gewissem Sinne war das Scheitern der Ludendorffschen Offensive weniger das Ergebnis kurzsichtiger Planung als eine Folge der Logistik an der Front und der Sturmtruppentaktik. Die Verfolgung des Feindes wurde immer wieder durch Plünderungen von Lagern und Bunkern unterbrochen, bei denen die Einheiten Dinge zu Gesicht bekamen, die sie selbst seit Monaten oder gar Jahren nicht mehr gesehen hatten. Als die .Frontschweine' begriffen, wie hervorragend der Gegner nach wie vor ausgestattet war, begann die Moral unwiderruflich zu sinken 48 . Daneben hatte die neuartige Gefechtsstrategie einen unerwarteten Nebeneffekt: Das Prinzip der Infiltration, bei dem die

46 M. Hobohm, Soziale Heeresmißstände im Ersten Weltkrieg, in: W. Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes, München 1992, S. 136-145. Vgl auch H. Kantorowicz, Der Offiziershaß im deutschen Heer, Freiburg 1919. 47 Großer Generalstab (Hg.), Der Weltkrieg 1914 bis 1918, Bd. 14: Die Kriegführung an der Westfront im Jahre 1918, Berlin 1944, S. 29 passim. 48 A. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der O H L , Göttingen 1958. Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914-1919

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stärksten Stellungen umgangen wurden, so wie sich das Wasser den leichtesten Weg sucht, untergrub letztendlich die Ludendorffsche Taktik des ,ein Loch-Machens-und-Abwartens'. In beiden Fällen gab es keine konkreten Ziele, sondern nur eine blinde Dynamik, die nirgendwo hin führte. Als die Alliierten im Juli und August die großen Gegenschläge unternahmen, waren die deutschen Einheiten längst ausgebrannt. Zwischen Juli und November betrugen die Verluste noch einmal über eine Million: Tote, Verwundete, Vermißte und eine wachsende Zahl von Erkrankten. Eine Grippewelle streckte hunderttausende unterernährter und erschöpfter Männer nieder. Anfang Oktober gab ein Armeekorps mit sieben Divisionen seine Infanteriestärke mit weniger als 5000 Mann an - dies entsprach weniger als zehn Prozent dessen, was in den Organisationsplänen vorgesehen war 4 9 . Manchmal war ein Regiment nur 200 Mann stark. Ein anderes zählte sogar nur 120, die in vier Kompanien anstelle der vorschriftsmäßigen zwölf organisiert waren. Einheiten dieser Größe lagen weit unter der kritische Grenze, bei der noch die Kohäsion einer Kampftruppe bewahrt werden konnte. Die Schlagkraft dieser Fronttruppen erodierte somit zusehends - die Korporalschaften, aus denen Kameradschaften geworden waren, kämpften nur noch ums eigene Uberleben. Wilhelm Deist beschreibt das Ergebnis als einen „verdeckten Streik", bei dem das „Proletariat" der Kriegsmaschinerie in marxistischer Manier die Arbeit niederlegte. Auch Robert Darntons Modell vorindustrieller Protestformen könnte zum Vergleich herangezogen werden: die Herausforderung des Systems durch Unterlaufen seiner Normen. Sogar bevor die Armee an die eigenen Landesgrenzen zurückfiel, hatten sich schon viele Männer des rückwärtigen Gebietes allmählich vom Krieg entfernt. Der Wille, mehr als nur die allernötigste Disziplin einzuhalten, war im Schwinden begriffen, weniger aus Angst vor einer Kugel im Rücken als aus dem Gefühl der Sinnlosigkeit heraus 50 . In einem bereits bis an die Grenzen angespannten System war es unmöglich, jeden zu bestrafen, der mit geladenem Gewehr und einer nur halbplausiblen Erklärung hinter der Frontlinie aufgegriffen wurde 51 .

4 9 So der Bericht Hans von Belows, Kommandeur des L X I . Korps, in: Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg, Nachlaß O t t o von Below, N 8 7 / 2 . 50 W . Deist, Verdeckter Militärstreik im Jahre 1918?, in: Wette, Der Krieg des kleinen Mannes, S. 1 4 2 - 1 6 7 . Vgl. auch A. Lipp, Friedenssehnsucht und Durchhaltebereitschaft: W a h r nehmungen und Erfahrungen deutscher Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), S. 2 7 9 - 2 9 2 sowie C . Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , Göttingen 1998. 51 Die normale Praxis des Heeres, Männer auf Urlaub aufzufordern, ihr Gewehr zu behalten, trug aber wahrscheinlich nicht unbeträchtlich dazu bei, daß es in den letzten

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Hew Strachan unterstreicht zu Recht die Bedeutung der Schnittstelle zwischen Front und Heimat, zwischen Militär- und Zivilgesellschaft bei der Legitimitätserosion der Armee 5 2 . Das Deutschland des Jahres 1918 war jedoch noch keine geschlossene Einheit im Sinne totaler Kriegführung. Moderne Wehrpflichtigenarmeen werden von einer Mischung aus Zwang, Patriotismus und Ideologie zusammengehalten. Die Basis all dessen bildet jedoch ein impliziter Vertrag zwischen Soldat und System. Wenn dieser Vertrag durch die Art und Weise der Kriegführung gebrochen wird, ist eine Reaktion des Soldaten wahrscheinlich. Das Wort .Streik* ist in diesem Zusammenhang reduktiv, da es emotionale Faktoren, besonders das Gefühl des Betrogenseins, das diesen Prozeß begleitet, außer Acht läßt. Besser wäre es, von Entfremdung zu sprechen. Im November 1918 konnte die O H L nur noch auf etwa ein Dutzend Divisionen zählen, die noch willens und in der Lage waren, gegen irgendjemanden zu kämpfen 53 . Für die meisten Soldaten entsprach die Bedürfnislage der eines Witzes, der unter amerikanischen GI's im Zweiten Weltkrieg kursierte: „Wenn ich nach Hause komme, mache ich drei Dinge: Erst trinke ich ein Bier. Dann schlafe ich mit meiner Frau. Und dann ziehe ich meinen Tornister und meine Stiefel aus." Solch eine Mentalität muß nicht unbedingt eine Revolution herbeiführen - aber sie kann Kriege beenden. Das deutsche kaiserliche Heer beendete seine Existenz mit einem Seufzer der Erleichterung. Gleichzeitig ging das Reich, dem es gedient und dessen Identität es mehr als jede andere Institution verkörpert hatte, mit einem leisen Winseln zugrunde.

Kriegswochen im Etappengebiet nur zu verhältnismäßig wenig Gewalt kam, indem es auf übereifrige Offiziere oder Militärpolizisten abschreckend wirkte. 52 Strachan, Moral of the German Army, S. 394 ff. 53 R. Bessel, The Great War in German Memory: The Soldiers of the First World War, Demobilization, and Weimar Political Culture, in: German History 6 (1988), S. 20-34. Niedergang und Zusammenbruch der deutschen Armee 1914—1919

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Literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg Josef Magnus Wehner und der Traum von einem neuen Reich JAY W. BAIRD Die Schande der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte tiefgreifende psychologische Auswirkungen auf die Besiegten. Für die jüngere Generation bedeutete das Geschehen einen schweren Schock - eine Generation, deren emotionales Gleichgewicht durch das auf den Schlachtfeldern von Flandern, Verdun und der Somme erlebte Trauma für immer gestört war. Einige Veteranen suchten neuen Halt in politisch radikalen Organisationen, andere flüchteten sich in Alkohol und Drogen. Ehen und Verlobungen zerbrachen; bei nicht wenigen mündete die Verstörung gar in den Selbstmord. Eine weitere Gruppe versuchte die erlittenen Verluste literarisch zu verarbeiten und schriftlich zu bewältigen. Die unerfüllte Sehnsucht der Romantiker - die Suche nach der .blauen Rose', die niemals gefunden werden konnte - verblaßt im Vergleich mit dem psychologischen Trauma vieler dieser^, Autoren der Frontgeneration. Niemand konnte angesichts der neuen Realitäten größere Enttäuschung empfinden als diejenigen, die auf eine Wiedergeburt des Deutschen Reiches auf dem Boden christlicher Moral und ethischer Prinzipien gehofft hatten. Ihre Hoffnung, das Blut der Gefallenen werde Deutschland erlösen, und der Traum der Generation der Schützengräben politische Gestalt annehmen, hatte sich nicht erfüllt. Einer dieser Schriftsteller war Josef Magnus Wehner, ein junger Freiwilliger, der im bayerischen Infanterie-Leibregiment in Frankreich, Italien und auf dem Balkan gedient hatte. Er hielt an einer illusionären Vision des Reiches fest, ohne zu bemerken, daß er einer verlorenen Sache anhing. Wehners Laufbahn legt auf melancholische Weise Zeugnis ab von den zerstörten Träumen der Kriegsgeneration. 1

1 Vgl. P. Loewenberg, The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort, in: American Historical Review 76 (Dezember 1971), S. 1457-1501; R. Wohl, Germany: The Mission of the Young Generation, in: ders., The Generation of 1914, Cambridge 1979, S. 42-84; G . Mosse, Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars, O x f o r d 1990, S. 7 0 106; J. Winter, War Poetry, Romanticism, and the Return of the Sacred und The Apocalyptic Imagination in War Literature, in: ders., Sites of Memory, Sites of Mourning, Cambridge 1995, S. 178-222. Literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg

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Obwohl Josef Magnus Wehner über eher mäßige literarische Begabung verfügte, machte ihn seine stark ideologisch gefärbte schriftstellerische Tätigkeit an einem kritischen Punkt der deutschen Geschichte berühmt: das Ende der Weimarer Republik stand bevor; das .Dritte Reich' nahm erste Formen an. Nach einer eher unauffälligen Jugend - 1891 in Bermbach in der Rhön geboren, Besuch des erzbischöflichen Gymnasiums in Fulda, Studium der Geisteswissenschaften an den Universitäten von Jena und München wurde er 1929 Preisträger des Münchner Literaturpreises, 1933 zum Mitglied der preußischen Akademie der Künste und zum Erfolgsautor mit 1,5 Millionen verkauften Exemplaren seiner Werke. Sicherlich waren es nicht seine frühen Veröffentlichungen, die ihm diese Aufmerksamkeit eingebracht hatten. „Der Weiler Gottes", „Erste Liebe" und „Die Hochzeitskuh" waren von katholischer Frömmigkeit geprägt und zeigten Wehners Begeisterung für die Werte des Landlebens, der Familie und der unbeschwerten Kindheit, während „Der blaue Berg" eine kaum erwähnenswerte Ergänzung zum bereits überstrapazierten Genre des autobiographischen Bildungsromans darstellte. „Das Land ohne Schatten" - Reflex einer langen Beschäftigung mit dem antiken Griechenland - ließ jedoch schon Wehners Tendenz zu einer rein mythisch gefärbten Interpretation von Geschichte und Gegenwart erahnen, die seine späteren Werke über den Krieg auszeichnen würden. Mit seinem Kriegsroman „Sieben vor Verdun" schaffte Wehner den Durchbruch zum beachteten Schriftsteller; kurz darauf wurde er zum vielgepriesenen Propheten des bevorstehenden .Dritten Reichs'. Er würde die poetische Brücke von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zum .Dritten Reich' schlagen und die Schlachtfelder Flanderns mit der Potsdamer Garnisonskirche verbinden, wo im März 1933 Feldmarschall von Hindenburg und Adolf Hitler vor dem Grab Friedrichs des Großen eine symbolkräftige Inszenierung veranstalteten. Wehner avancierte zum mystischen Propheten eines „unsterblichen Reiches", wie er es nannte. 2 Empört über den Erfolg von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues", der Wehners Meinung nach ein falsches Bild vom Heldentum einzelner deutscher Soldaten zeichnete, schrieb er 1930 in wenigen Monaten

2 J. M. Wehner: Der Weiler Gottes, München 1921; ders., Erste Liebe. Roman aus der Jugendzeit, Hamburg 1941; ders., Die Hochzeitskuh. Roman einer jungen Liebe, München 1928; ders., Das Land ohne Schatten. Tagebuch einer griechischen Reise, München 1930; ders., Sieben vor Verdun, München 1930. Zu Wehners eigenen Kommentaren über seinen Werdegang und die von ihm als unausgewogen bezeichnete Beschäftigung mit christlicher Mystik und Apokalypse vgl. ders., Mein Leben, Berlin 1934. Vgl. auch ders., Autobiographie, 15.10.1949, Nachlass A. Beuttenmüller, Deutsches Literaturarchiv, Marbach.

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seine eigene Antwort auf Remarque. 3 Das Ergebnis war „Sieben vor Verdun", gewidmet der Erinnerung an die Gefallenen („Den toten Brüdern ein Denkmal"). In diesem Roman zeigt sich Wehner fest entschlossen, seine mystische Vision von der Bedeutung der über zwei Millionen geopferten deutschen Männer zu verkünden. Wenn der aristokratische Ästhet Rittmeister Rudolf Binding das literarische Sprachrohr des Offiziersstandes war, Hans Zöberlein der Schriftsteller der zukünftigen Freikorpslern und SAMänner, Ernst Jünger das Idol der nihilistischen Intellektuellen und Karl Bröger die Stimme des Proletariats - Wehner schrieb - zumindest dem Anspruch nach - für alle Deutschen. Keine der sieben Personen in seinem Roman wird gegenüber den anderen besonders hervorgehoben: sie reichen vom nachdenklichen Leutnant Robert Buchholz über den Melder Roppel Blank bis zum Unteroffizier Eduard Lang, in dessen Person sich die Ansichten des Autors am meisten widerspiegeln. Selten hatte ein literarisches Werk ein Geschichtsbild entworfen, das sich dermaßen radikal von der Wirklichkeit entfernte. Wehners Traum vom neuen Reich mit dem katholischen Bamberg als Hauptstadt war pure Romantik und hatte mit den brutalen und aggressiven Kriegszielen eines Feldmarschalls von Ludendorff nichts gemein. Trotzdem fand Wehners Interpretation von der Bedeutung des Opfers ein breites Echo. Das wohl wichtigste Grundthema von „Sieben vor Verdun" war der Generationenkonflikt im Kontext des Weltkriegs. Wehner postulierte, der deutsche Soldat habe im Krieg zwei mächtige Feinde besessen: einen äußeren Feind, die Alliierten, und einen inneren Feind, die deutsche Führung. Seine Darstellung ging weit über den traditionellen Konflikt der Soldatenliteratur zwischen Führungsstab und Frontsoldaten hinaus. Wehner stellte sich eindeutig auf die Seite der Frontsoldaten. Heftig kritisierte er den Oberfehlshaber General Erich von Falkenhayn, Erfinder des strategischen Plans zur Offensive von Verdun, und unterstellte ihm mangelnden Siegeswillen. Wehner zeichnete das Bild eines internen Krieges zwischen jung und alt, dessen Opfer allein die Jungen waren. Doch wichtiger noch war ihm die Betonung des deutschen Kampfeswillens, für ihn repräsentiert durch einen Hauptmann, der trotz ausbleibenden Angriffsbefehls die Festung Douaumont bei Verdun im Sturm eroberte, obwohl seine eigene Flanke nicht ausreichend geschützt war. Die jungen Soldaten hätten hier, so Wehner, eine großartige Lektion gelernt: allein der Triumph eines Willens, der keine Furcht kennt,

3 Zu Remarque vgl. die immer noch hervorragende Arbeit von M. Eksteins, Rites of Spring: The Great War and the Birth of the Modern Age, Boston 1959, S. 275-99. Literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg

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garantiere den Sieg. 4 Wehner war davon überzeugt, daß entschlossene militärische Führer mit den Festungen Douaumont und Vaux in deutscher Hand einen Sieg hätten erzwingen können und müssen: unter Einsatz aller verfügbaren Kräfte, koste es, was es wolle. Das deutsche Oberkommando jedoch habe nicht die notwendige, todesmutige Zuversicht besessen, die eine solche Situation erfordert hätte, wie Wehner Robert Buchholz, dem Battallionskommandanten seines Romans, in Fleury am 11. Juli 1916 in den Mund legt: „Wir hatten nicht den Mut, den Sieg zu erzwingen". 5 Warum aber waren die deutschen Soldaten 1914 mit Zuversicht in den Tod gegangen, 1916 hingegen mit solcher Furcht? 1914 waren sie in der Euphorie einer Offensive gefallen, 1916 jedoch zu Opfern ihrer eigenen Führer geworden, die sie in einen aussichtslosen Zermürbungskrieg verwickelt hatten. Wie großartig mußte das Soldatenleben zu Beginn der Offensive gewesen sein: „Wenn es überhaupt in diesem Kriege einen kühnen, einen faustischen, einen deutschen Gedanken gab, dann ist es der Sturm auf Verdun". 6 Tapferkeit verband die Soldaten und festigte die Kameradschaft an der Front. Wehner verpackt diese Botschaft in einer Szene, in der die Zuneigung der Männer zu ihrem gefallenen Kommandanten zum Ausdruck gebracht wird. Es geht um einen Artilleriegeneral, der sich in der Schlacht als äußerst tapfer erwiesen und bei der Erstürmung der Festung Douaumont in vorderster Reihe gekämpft hatte. Niemals zeigte er Furcht, schien an allen Frontplätzen gleichzeitig zu sein und machte Offizieren und Soldaten unermüdlich Mut. Als er von einem Granatsplitter tödlich verwundet wird, findet er noch sterbend lobende Worte für seine Truppe. Selbst eine französische Katze, die dem General überallhin gefolgt war, verabschiedet den Zug, in dem seine Leiche aufgebahrt ist, mit einem Schmerzensschrei. Kameradschaft war natürlich auch unter den Offizieren zu finden, wie, so Wehner, schon am ersten Tag des Angriffs auf Verdun zu bemerken gewesen sei. Als mysteriöse Kraft und Quell enormer geistiger Stärke habe sie die kämpfenden Männer miteinander verbunden: „Das war der erste Anhauch kriegerischer Kameradschaft, ein starker Strom vom Atem der tausend Männer, die da vorne zwischen dem Feuer standen. Das beflügelte den Schritt. (...) Man war schlagendes Herz unter tausend schlagenden Herzen, eine winzige Masche in dem straffen Gurte der Front". 7 Kameradschaft zeigt sich bei Wehner auch auf andere Art. Während Feldwebel Eduard Lang mit seinen Gefährten am Abend

4 „ U n d so lernten die Jungen, daß dem der Sieg zufällt, der durch freien Entschluß, dem Feinde das Gesetz des Handelns aufzwingt und das war so während des ganzen Krieges.", Wehner, Sieben, S. 87. 5 Ebd., S. 210. S. auch ebd. 258f. 6 Ebd., S. 19. 7 Ebd., S. 51-53. 66

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nach einem harten Gefecht ausruht, beginnt er „Wotans Abschied" von Wagner zu singen. Kein deutscher Soldat kann von der Schönheit dieses Augenblicks unberührt bleiben; ein Augenblick, in dem Kultur und Kraft zu lyrischer Einheit verschmelzen. Für Wehner ein „verzauberter Moment", ein unvergeßliches Beispiel für die Kameradschaft des Jahres 1914. 8 Dieser noble Geist aber war zum Sterben verurteilt. Die jungen Soldaten altern mit unheimlicher Schnelligkeit, als sie sich ihrer Zwangslage bewußt werden: Innerhalb eines einzigen Tages erfahren sie die Leiden eines ganzen Lebens. Sie müssen erkennen, daß ihr Anliegen zum Scheitern verurteilt ist, für Leutnant Buchholz ist ein klares Beispiel für den Kampf des jugendlichen Geistes gegen das Sicherheitsdenken der Alten. Während der Niederlage von 1916 notiert er verbittert: „Man nahm vor unseren Augen die Türme der Kathedralen, die Mauern von Paris (...) und wir wußten, daß man uns damit unsere Ideen nahm (...). Wir verstehen nur zu sterben, getreu dem Befehl". 9 Wehners Feldwebel Eduard Lang variiert dieses Thema und macht deutlich, daß es den kämpfenden deutschen Soldaten weder an Mut noch an Einigkeit oder Frontgeist gefehlt habe. Es sei vielmehr das Oberkommando, das den notwendigen Siegeswillen habe vermissen lassen. Trotzdem hätten die Frontsoldaten ihre Linien gehalten, bereit, sich für ihr Vaterland zu opfern: „Wir aber sind Soldaten, und wir sind geboren für das Vaterland zu kämpfen (...). Laßt uns nun nicht streiten, was das sei, das Vaterland: ein wachsendes Reich, ein schreitendes Volk, ein brauner Acker, ein blitzender Fluß, der Blick eines Menschen daheim, oder ein Ungeborenes, das befreit sein will (...). Wir tun unsere Pflicht, wir können nicht anders. Wir wissen nur, daß unser Opfer nicht den Lumpen gilt, den Leichtsinnigen und Wankelmütigen, den Händlern und Verrätern. Unser Leben zeugt für uns, und der Krieg beweist die Unsterblichkeit unseres Volkes." 1 0 Derselbe Idealismus, geprüft im Feuer und gereinigt im Blut der Frontgefallenen, war an der Front weit verbreitet und findet sich in vielen literarischen Werken dieser Generation. Es sind Wehners eigene Sehnsüchte, wenn Leutnant Buchholz seinen Kameraden verheißt, Deutschland werde nach dem Sieg mit einem neuen Reich der Welt Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung bringen. Allein der Gedanke an das mittelalterliche deutsche Reich Karls des Großen und Friedrich des II. von Hohenstaufen läßt Buchholz ins Schwärmen geraten: „Dann kommt Musik über mich. Für solch ein Reich würde ich gern sterben". 11

8 Ebd., S. 77; 102f. 9 Ebd., S. 259f. 10 Ebd., S. 143f. 11 Ebd., 140—42. Eine Bibliographie der spirituell-utopischen Werke, die im Deutschland dieser Zeit erschienen, liefert J. Hermand, Old Dreams of a N e w Reich: Volkish Utopias and National Socialism, Bloomington 1992, S. 6 6 - 6 9 .

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Obwohl Wehner kein Antisemit war - das Wort J u d e ' kommt in seinem Roman kein einziges Mal vor - gibt es doch Aspekte seines Buches, die auf eine rassistische Weltanschauung hinweisen. Während einer Diskussion über die Zukunft Europas erklärt etwa einer der Kameraden: „Kein Tropfen unseres Blutes darf mehr in fremden Völkern untergehen, wie die Jahrhunderte hinauf, bis jetzt". Und die Anhänger völkischen Gedankenguts fanden sicherlich Gefallen daran, daß die deutschen Soldaten als erste Welle einer neuen Völkerwanderung dargestellt wurden - eine eindeutige Anspielung auf eine Erweiterung des Reichs nach Osten: „Und wo wir stehen," heißt es bei Wehner, „da ist deutsches Reich." 1 2 Während der Autor dem französischen Gegner Respekt zollt und sogar Bewunderung für die von vielen Feinden gezeigte Ritterlichkeit aufzubringen vermag, hat er nichts als Verachtung für die in Verdun stationierten senegalesischen Truppen übrig. Seine Schilderung der Grausamkeiten, denen gefangene deutsche Soldaten in der Festung Douaumont ausgesetzt waren, spricht für sich; Wehners „Bestien", die „stanken wie Urwaldtiere im Käfig", erinnern an die Nazi-Propaganda gegen die „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen". 13 Im eigentlichen Sinne seinem Charakter treu bleibt Wehner jedoch bei der Beschreibung übernatürlicher Erfahrungen in Verdun. Sein christlicher Glaube war auf den Schlachtfeldern auf die Probe gestellt worden, und in mehreren Todesszenen läßt er Erinnerungen an seine fromme Jugend vorüberziehen. Niemals sind Christus und alle anderen Heiligen gegenwärtiger und lebendiger als in der Schlacht. An einer Stelle des Romans überkommt Eduard Lang ein Fiebertraum, nachdem er drei Tage lang schwerverletzt und des eigenen Todes gewiß in einem Krater gelegen hatte. Plötzlich ist es Weihnachten, Lang sieht herrliches Fichtengrün und hört eine liebliche Musik. Dann wird es hell, das Christkind erscheint in den Armen seiner Mutter und badet den verwundeten Soldaten in Strahlen majestätischen Lichts, die aus seinen kleinen Händen hervorkommen. A m nächsten Tag findet ein Sanitätssoldat Eduard im Krater und trägt ihn in die Festung Vaux. Eduard war in den Himmel aufgestiegen, nur um wieder in die düstere Realität der Kriegswelt zurückzukehren. An einer anderen Stelle wird der Soldat Roppel Blank von Granatsplittern getroffen und bleibt schwer verwundet am Boden liegen. Bei Morgengrauen wird das Schlachtfeld in ein prachtvolles rotes Licht getaucht. In seinem Delirium wird Roppel wiedergeboren, geläutert und auf seinen Weg in den Himmel vorbereitet. Plötzlich geschieht ein Wunder: Maria, die Mutter Gottes, erscheint im Morgenlicht, eine Gestalt von

12 Wehner, Sieben, S. 142. 13 Ebd., S. 235; 279-82. 68

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unbeschreiblicher Majestät. Mit sanfter Stimme spricht sie zu Roppel und versichert ihm, daß er nichts zu befürchten habe. Er erhebt sich, scheinbar auf Flügeln, und schwebt über das Schlachtfeld hinauf in die Sicherheit einer neuen Festung. Solche Stellen, in denen Soldaten die einfache Schönheit der christlichen Mystik erfahren, müssen auf den zeitgenössischen Leser tiefen Eindruck gemacht haben. 14 Für den Autor ist es ein kurzer Sprung von der christlichen zur weltlichen Mystik, und sein Ausdrucksmittel ist der Mythos vom Reich. Wehner sieht das Reich wiedergeboren in der geistigen Verbrüderung der Toten von Verdun. Am Ende der „Sieben von Verdun" versammeln sich alle deutschen Gefallenen des Ersten Weltkriegs in der Festung Vaux. Es ist Allerseelen, der 2. November 1916, wenige Stunden vor dem deutschen Rückzug: „Sie sitzen im Rauche und reden. Sie sind allgegenwärtig, und die Zeit haben sie abgetan mit ihren Leibern (...) ihre Häupter flammen von den Sternen fernster Zukunft. Sie wissen, was sie der Welt geschenkt haben, das Beispiel eines unerhörten Opfers die Jahrtausende hinauf. (...) So summen und sagen sie unhörbar vom unsichtbaren deutschen Reiche, das seine Wurzeln hat in ihren Wunden. Und sie wissen, daß dieses Reich unsterblich ist, mitten unter sterbenden Völkern". 1 5 Dies ist die hohe Gemeinschaft der Unsterblichen, und Wehner bringt seine Vision in poetische Form: „Ihr sollt nicht weinen und nicht traurig sein, Denn unser Opferblut ward Lebenswein. Gott hat dem Leben Bruder Tod gesellt: Vom Blut der Helden schlägt das Herz der Welt." 1 6 Für Wehner war das wiedergeborene Reich immer mit den Seelen seiner gefallenen, aber unsterblichen Kameraden verbunden. Als einer der eindringlichsten Hüter dieser Erinnerung wurde Wehner schließlich in den politischen Trubel während der letzten Jahre der Weimarer Republik hineingezogen. Seine literarischen Beschwörungsformeln wirkten wie Balsam auf die Wunden der Millionen Kriegsheimkehrer und überschnitten sich zum Teil mit den Intentionen nationalsozialistischen Propaganda. Bei der Widmung des deutschen Nationalfriedhofs in Langemarck (Ypern) in Flandern, einige Monate vor Hitlers .Machtergreifung', reichte Wehner in seiner Ansprache metaphorisch die Fackel aus der Hand der gefallenen Kriegsjugend an die Führer des zukünftigen Reiches weiter. Seine bewegende Rede 14 Ebd., S. 246-49; 192-93. 15 Ebd., S. 306f. 16 Zit. in: Der gute Kamerad, Die .Grauen Hefte' der Armee Busch, Schriftenreihe zur Truppenbetreuung, Heft 21, S. 71. Literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg

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wurde bei Gedenkfeiern an allen deutschen Universitäten simultan verlesen und klang wie ein Te Deum, bei dem die nationale Erlösung von Niederlage und Schande, von Versailles und den marxistischen Unruhen, gefeiert wurde. Wie ein Hohepriester an den Pforten zum Himmel vereint Wehner die Lebenden mit den Toten: Die deutschen Studenten sollten in dieser schweren Stunde die Ehrenwache vor den Gräbern der namenlosen gefallenen Jugendlichen des Ersten Weltkriegs halten. Die verwandelten Geister dieser großen deutschen Helden erwachten wieder zum Leben und vereinten sich mit den anwesenden Studenten, „von Mensch zu Mensch, von Hand zu Hand, von Glaube zu Glaube, von Ehre zu Ehre, treu bis in den Tod. Noch einmal erstehen sie auf und erobern in heldenhafter Weise die Hügel um Messines und Dixmuiden, Paschendaele und Langemarck. Noch einmal sehen sie die zerstörte St. Martinskirche und die brennende Tuchhalle von Ypres. Verklärt sterben sie, während sie .Deutschland, Deutschland, über Alles' singen und so ihrem Leben eine bleibende Bedeutung verleihen. Sie verschmelzen mit der Nation; sie sind das lebende Reich." Auf dem Höhepunkt seiner romantischen Ekstase versicherte Wehner, daß während er noch spreche, die Toten wiederauferständen und den Glanz der Unsterblichkeit annähmen. Ihre schwachen Schatten begännen schon wieder zu leuchten, die ewige Glückseligkeit der Unsterblichen strahle bereits auf ihren Gesichtern. Sie kämen, um die Überlebenden zu begrüßen, die im Zwielicht stehenden, die Zweifler, die Verzweifelten. Die Wiederauferstandenen seien, so Wehner, die eigentlich Lebenden, sie forderten ein neues Reich, das der Korruption ein Ende mache. Ihre Forderungen würden lauter und lauter, das Reich und seine blutigen Zeugen seien überall, sein Himmel leuchte und seine Toten funkelten wie Sterne. Opferblut der Wiederauferstandenen bilde eine göttliche Brücke, die das Reich der Toten mit dem der Lebenden verbindet. 17 Wehners Ideen sprachen vor allem die Nationalsozialisten an, die den Soldatenethos eng mit dem germanischen Rassenkult zu verbinden suchten. Tatsächlich wurden mehrere Personen, die später einmal tragende Rollen im Kulturleben des .Dritten Reichs' spielen sollten, auf Wehner aufmerksam. Zu ihnen gehörte auch Hanns Johst, der spätere Präsident der Akademie der

17 „Langemarck. Ein Vermächtnis", Worte von Josef Magnus Wehner, am 10. Juli 1932, zur Stunde der Übernahme des Gefallenen-Friedhofs in Langemarck, durch die Deutsche Studentenschaft, gesprochen an allen Hochschulen, in: Wehner, D a s unsterbliche Reich, München 1933, S. 64-71. Ein anderer beliebter nationalistischer Schriftsteller dieser Zeit, Heinz Steguweit, war zu der Schlußfolgerung gekommen, daß Deutschland den Krieg verlieren mußte, um die Nation zu gewinnen. Zitiert bei P. Fechter, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1941, S. 754. 70

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Künste und Leiter der Reichsliteraturkammer unter Goebbels. Er pries die Rede von Langemarck und hielt es für Wehners größten Verdienst, daß er die ständigen Klagen, die deutsche Jugend sei im großen Krieg vergebens gestorben - entstanden „im bolschewistischen Chaos von 1918" - endgültig zum Verstummen gebracht habe. Vielmehr hätten die Gefallenen, so Johst weiter, den völkischen Glauben bestätigt und die Soldatenfriedhöfe zu heiligen Altären gemacht, zu Symbolen für die ewige Schöpfungskraft des arischen Menschen. Die von Wehner geschaffene Einheit aus Politik und Religion lobend und aufgreifend, verkündete Johst, die Gefallenen schienen wie helle Sterne am dunklen Himmel über Weimar, als Zeugen des ewigen Ruhms und als Vorboten des nahenden .Dritten Reiches'. Dem Ausspruch Feldmarschall Mackensens, nichts von dem, was für Deutschland getan worden sei, sei vergeblich, verliehen die gestorbenen Soldaten ewige Bedeutung. 18 Als der Untergang der Weimarer Republik unmittelbar bevorstand, erreichte Wehner den Höhepunkt seiner Karriere. Am 18. Januar 1933, zwei Wochen vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, hielt er in der Berliner Philharmonie die wohl bedeutendste Rede seines Lebens anläßlich einer Feier zum Jahrestag der Reichsgründung von 1871. Unter dem Titel „Das unsterbliche Reich" faßte Wehner all seine Wünsche nach geistiger und politischer Erneuerung zusammen. Viele andere Schriftsteller wären für diese Rolle in Frage gekommen, man denke an Friedrich Hielscher, den Autor von „Das Reich", oder an den esoterischen Ästheten Stefan George, vielleicht sogar an Ernst Jünger. Doch keiner fand bei dem sich nach Veränderung sehnenden Publikum ein so großes Echo wie der ehemalige Student und Soldat Wehner. Im wesentlichen war „Das unsterbliche Reich" eine Übung in weltlicher Religion. Wehners Angriff auf die Moderne verschonte weder Kapitalismus noch Kommunismus. In seiner Ansprache konnte man die geistige Prägung seiner frommen katholischen Kindheit in der Rhön vernehmen, aber auch den Nationalismus des Frontsoldaten. Deutlich war der Appell, daß ein politisches Reich nur aus einem inneren, geistlichen Reich heraus gestaltet werden könne. Wehner bezeichnete sich auf metaphysische Art mit dem Geist des Hohenstauferkaisers Friedrich II. verbunden, der neben Karl dem Großen wohl bedeutendsten Symbolfigur eines universalen Reichs. Diese gedankliche Verbindung offenbart Wehners hoffnungslos romantische Weltanschauung mehr als jeder andere Aspekt seiner Ansprache. 19 18 H . Johst, „Langemarck: Bekenntnis zu Josef Magnus Wehners Rede", 1. August 1932, Sammlung Personen, 4747 Josef Magnus Wehner, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München; Wehner, „Werner Beumelburg", Nachlaß J. M. Wehner, Handschriftensammlung der Stadt München. 19 J. M. Wehner, Das unsterbliche Reich. Reden und Aufsätze, München 1933. Literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg

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Obwohl die Nazis Wehner für sich beanspruchten, unterschieden sich seine Ziele doch wesentlich von denen des Nationalsozialismus. Wehner sprach als ein Priester zur Nation und forderte sie auf, zu ihrem besseren Selbst zurückzukehren. Gegenstand seiner Vision waren nicht die Trommeln und Trompeten der Nürnberger Parteitage, nicht rassistischer Haß, nicht bewaffnete Stärke und Macht um ihrer selbst willen. Sein Traum führte ihn weit weg von den äußeren Insignien eines Reichs; er rief nach geistiger Wiedergeburt der deutschen Seele und forderte die Errichtung eines inneren Reiches. Er hoffte auf die Erschaffung einer geistigen deutschen Kathedrale, des sprichwörtlichen ,Weltbaums', und forderte dazu auf, zur „großen Mutter", dem deutschen Idealismus, heimzukehren. Versailles verkörperte für ihn den Sieg des Antichristen im 20. Jahrhundert, die Tyrannei einer parfümierten Effemination über den mannhaften deutschen Geist. Hier herrsche Technologie über das Herz, Materialismus über den Idealismus, Kapitalismus und Bolschewismus über den deutschen Menschen, der die Rolle des Kriegers, des Priesters und des Künstlers zu einer neuen Dreieinigkeit verschmolzen habe. Entstanden aus der „Französisch-Englischen Aufklärung" und geformt durch die Französische Revolution, hätten die in Versailles vereinten Kräfte für die Entstehung einer verrohten Menschheit und intellektuelles Mittelmaß gesorgt. Scheinheiligkeit setze diesem Gebäude die Krone auf, sei dieses unwürdige System doch im Namen von Demokratie und Humanität errichtet worden. In Deutschland habe das zu einem Sieg der „Untermenschlichkeit", der Schwächlichen und ewig Zweifelnden geführt und die Rechtsanwälte gleich modernen Prinzen in den Adelsstand erhoben. Die Chiffre Versailles steht bei Wehner für den Sieg der Moderne, des Handelsgeistes und der seelenlosen Vernunft, für die krebsartige Auswucherung der Großstadt - Heimat des Massenmenschen, der Kriminalität und der Krankheit. Versailles, so Wehner, habe den Sieg der Technik über die Seele gebracht. Und noch schlimmer: es habe den Weg bereitet für Minderwertige, die die überlegene weiße Rasse vergewaltigten und versklavten. Kreuz und Schwert hätten diesem großen Betrug weichen müssen; Ergebnis sei das Chaos der Moderne. Statt dessen müsse ein „neues Deutsches" entstehen, das die Menschen von der Tyrannei des Mammons befreie. Eine neue Schöpfungskraft werde mit dieser Revolution des Geistes einhergehen, die das Herz wieder über den berechnenden Intellekt, das organische Ganze über die disparaten Einzelteile stelle. Wehners Reich war, so dürfte deutlich geworden sein, ein metaphysisches Konzept, nicht der Wunsch nach einer spezifischen Regierungsform. Die Jugend sollte die Bewegung für das neue Reich anführen und die Ideale im Auge behalten, ohne die weltliche Mission darüber zu. vergessen. Das „neue Deutsche" wäre ritterlich, von hellem Verstand und devot, gelenkt von jenem magischen Raum, in dem sich deutscher Genius mit dem Weltgeist 72

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verbinde. Wehners Sternenreich war von gefallenen Helden und Kaisern bevölkert, die ein himmlisches Schutzschild für die Gottheit bildeten. Diejenigen Deutschen, die bereit seien, das Reich zu empfangen, würden der Menschheit geben, was das Parthenon der Weltkultur gegeben hatte - den Sieg über das Chaos durch eine kosmische Form, dargestellt durch die Herrlichkeit der Kunst. Und was der römische Genius in Form von Gesetzen hervorgebracht habe, schafften die Deutschen durch die Idee vom Reich, dem Schlüssel zur universellen Wahrheit. Die Deutschen seien im Reich geboren und könnten im Reich wiedergeboren werden, wenn sie sich nur seiner majestätischen Vision hingäben. Denn wer von Gott spreche, der spreche auch vom Reich. 20 Wehners Vision ist gänzlich mystischer Art. Sein Reich ist im Unterschied zum Staat, seiner minderwertigen Version, das Zuhause aller Ordnung und Hierarchie. Es verkörpert das Göttliche - während Staaten entstünden und wieder vergingen, bestehe das Reich ewig. Das Deutsche sei in der Herrlichkeit dieses Reiches gut und sicher aufgehoben, komme was wolle, unabhängig von Sieg oder Niederlage eines einfachen Staates. Daher hat dieses Reich weder Bestimmung noch Ziel, es ist, wie Wehner es nennt, „schicksallos". Es ist Heimat für die Archetypen alles Guten, Schönen und Moralischen, und es ist in seiner Ganzheit das Zuhause der gesamten deutschen geistigen Form, Lebensquelle für die deutsche Natur. Wehners Reich beheimatet alle geistigen und kosmischen Werte, während der Staat nur sein Diener ist. Der Staat ist ein Teil des Ganzen, das Reich aber ist unendlich viel mehr, die vollkommene Ewigkeit im grenzenlosen Raum. Krone, Schwert und Kreuz werden zu einer heiligen Einheit verbunden, die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gipfelt. Dieses, so Wehner, bilde eine großartige kulturelle Synthese aus Ost und West und vereine das Jerusalem des Alten Testaments mit Griechenland, Rom und Byzanz. Heldentum, so Wehner weiter, sei eins mit der mystischen Lebensquelle des Reiches, dessen Ursprung in der göttlichen Erschaffung des Menschen liege. Demnach seien die deutschen Kaiser des Mittelalters direkte Nachfahren Adams und Vorbilder für den deutschen Reichsgeist, der schon die großen christlichen Orden inspiriert habe. Wären die Deutschen nur ritterlich, tapfer, selbstlos und rein, so könnten sie ein inneres Reich errichten, so wie die teutonischen Ritter eines vergangenen, besseren Zeitalters es getan hätten. Heldenhaftigkeit gelte als Vorbild innerhalb des staatlichen Kontextes; ein Heldentum, das dank Gottes besonderer Gabe der deutschen Sprache unsterblich sei und in epischer, auf Mythos basierender Dichtung seinen Ausdruck finde. Doch ein Deutscher sterbe weder für den Staat noch für das Volk, son-

20 Ebd., S. 11-19. Literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg

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dem allein für das Reich. Wehner malt ein majestätisches Bild, als er zu den Heiligen seines Reiches betet - eine farbenprächtige Ansammlung aller großen Persönlichkeiten des mittelalterlichen Reiches. Dieser Reichsgeist sei es gewesen, der einen tödlich verletzten deutschen Soldaten im Elsaß dazu inspiriert habe, im Todesfieber die Worte „O Straßburg, O Straßburg" zu singen. Und derselbe Reichsgeist habe einer Mutter dazu verholfen, wieder Mut zu fassen, nachdem sie vom Heldentod ihres Sohnes erfahren hatte. Aus Verzweiflung habe sie sich die Kleider vom Leib gerissen und nackt vor Gott stehend gerufen: „Nimm ihn". Sie habe gefühlt, daß sie durch ihr Opfer trotz des momentanen Leids mit dem ewigen Ruhm des Reiches verbunden sei. So sei sie wiedergeboren und in das Reich hineinverwandelt. Wehner rief die Deutschen dazu auf, diesen Vorbildern zu folgen, innerlich umzukehren, den Charakter zu ändern und die Gnade des Reiches in sich fließen zu lassen. Dann stiegen Kreuz und Schwert noch einmal zur Herrschaft empor und dem germanischen Reich sei eine großartige Zukunft beschieden.21 Wehners leidenschaftliche Liebe zum majestätischen Reich fand ihren Gegenpol in seinem Haß auf Industrie und Technik, die er 1932 in der ebenfalls wichtigen Rede „Uber die deutschen Wirklichkeit" beklagte. Dieser sehr persönliche Vortrag stand im Zeichen eines Nervenzusammenbruchs, den Wehner während einer von ihm gehaltenen Andacht am Heiligen Abend des Vorjahres erlitten hatte. Mit Blick auf seine eigenen seelischen Qualen meinte er, auch die deutsche Nationalseele sei leer und verloren. Und er glaubte auch den Grund dafür zu kennen: Die Neurose des 20. Jahrhunderts sei verursacht durch das wurzellose moderne Leben und die Zerstörung der organischen Einheit mit der deutschen Landschaft. In seiner verklärten Vergangenheitsauffassung beschwor er ein großartiges Gleichgewicht zwischen Boden, Dorf und Intellekt, das einst Harmonie und Ordnung gewährleistet habe. Allerdings sei dieses Gleichgewicht zerstört, was Entfremdung und Verzweiflung hinterlassen habe. Wehner betrachtete sich selbst als Propheten der nationalen Regeneration und ermahnte seine Landsleute, die Wiedergeburt sei die einzige Alternative zum Tod der deutschen Kultur. Die Soldaten des Ersten Weltkriegs, stellte er fest, hätten diese Entfremdung im Zuge der bitteren Erkenntnis erfahren müssen, daß Bürokratie, Generalstab und Etappe die Verbindung zum tapfer kämpfenden Soldaten verloren hatten. Wahre Führungskraft sei der dominierenden Macht der Technik gewichen. Die Maschine diene nicht dem Menschen, sondern beherrsche umgekehrt ihre Erschaffer. Das tragische Resultat sei die Opferung des hilflosen Fußsoldaten im vernichtenden Artilleriefeuer gewesen. Verschwommene Fronten hätten

21 Ebd., S 34. Vgl. auch „Münchner Neueste Nachrichten", 19. Januar 1933. 74

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dazu geführt, daß Freund und Feind nicht mehr zu unterscheiden gewesen seien. Die Technologie habe die Führer beherrscht - nur dies habe zum Massensterben von Verdun geführt. Auch in den darauffolgenden Friedenszeiten habe die Technik den Verstand kontrolliert. Technologie zerstöre den menschlichen Geist, wie sie schon die Köpfe der Industriearbeiter im Ruhrgebiet verwirrt habe, wo es keine menschlichen Wesen mehr gebe, sondern nur mechanische, seelenlose und leblose Golems. Bald sei die ganze Nation ein Spiegel der grauenhaften und verwüsteten Mondlandschaft bei Verdun. Der geistige Tod blicke der Nation ins Gesicht. Die Novemberrevolution von 1918 habe die Lage verschärft; Recht und Ordnung, Kirche und Moral wichen den Ausschweifungen der Weimarer Dekadenz, Pazifismus und parlamentarisches Gezänk trügen ihr übriges zur Vergiftung deutschen Geistes bei. Die kulturelle Welt ersticke in „fremdem Müll", der Geist von Paris herrsche, die literarischen Errungenschaften würden von einem modischen Kosmopolitismus verdrängt und der verletzliche deutsche Spießer verliere endgültig seine Haltung. Besonders beklagenswert schien Wehner dies im Vergleich mit dem faschistischen Italien, wo der Geist der Renaissance und des antiken Roms eine neue Gestalt angenommen und zur Wiedergeburt der großartigen „italianità" geführt habe. Die größte Gefahr für den deutschen Geist sah Wehner in der Verführung durch den Bolschewismus, der einer erwählten Arbeiterklasse die Erlösung verspreche. Als Kollektiv getarnt, gehe der Bolschewismus Hand in Hand mit gottlosem Materialismus und Technologie. Dieses Kollektiv sei mörderisch und grausam gegen den Menschen, zerstöre die Familie, die Freundschaft und die Religion. In Wirklichkeit sei das Kollektiv mit der Verwesung der modernen Massenzivilisation gleichzusetzen, die größte Schande für die westliche Welt, entstanden im Zeitalter der Aufklärung. Die Verführerin der modernen Deutschen sei die Sprache, hinter der sich ein weiterer Fluch des Zeitalters verstecke, die emanzipierte Frau. Die Feministinnen, so Wehner, seien an ihrer Hysterie und ihrem selbstmitleidigen Egoismus zu erkennen; sie prägten eine besondere Sprache und Phraseologie, die ihnen, in die Enge getrieben, als einziges Schutzschild diene. Einmal herausgefordert, suchten sie bei Freud Zuflucht und schöben den Eltern die Schuld für das eigene Fehlverhalten in die Schuhe. Ginge es nach den Feministinnen, die in der Weimarer Republik ihr passendes Milieu gefunden hätten, so würden die Frauen ständig mißverstanden. Sie seien immer in Eile, auf dem Weg zu politischen Versammlungen, ins Theater oder ins Büro - also, so Wehner, auf der Flucht vor der natürlichen Verantwortung ihren Familien gegenüber. Ihre größte Angst, so Wehner, sei ein vom Mann ihnen zugeworfener, zufälliger Blick, welcher sie vollkommen aus der Fassung bringe. Sie seien Relativistinnen, Pazifistinnen, und fühlten sich überhaupt in allen ,ismen' zuhause. Die FemiLiterarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg

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nistin habe zu jedem Thema sofort etwas zu sagen, doch ihre Beiträge hätten wenig Substanz. Feministinnen können laut Wehner alles, nur nicht richtig leben, und ihre Tage seien mit dem Herannahen einer neuen Ära der deutschen Politik gezählt. Wehner sah das Deutschland des 20. Jahrhunderts als unorganisches Chaos, aus dem es nur einen Weg zur Erlösung gebe: die Rückkehr zur „deutschen Wirklichkeit". Dies beinhalte die Ablehnung von Materialismus und Habgier und die Rückbesinnung auf die unvergänglichen Wahrheiten. Weder der weltliche Staat noch seine Führer dürften gepriesen und verehrt werden. Bolschewismus und sogar das italienische Ideal eines auf den Staat zentrierten Lebens seien fallenzulassen. Stattdessen sollten die Deutschen in sich gehen, ins innere Reich als der Verbindung zum Himmel, wo Christus und die Kaiser über den Kosmos herrschten, umgeben von den großen verstorbenen Deutschen. Hier lasse sich die Ganzheit finden, die ihrem Leben abgehe, und nur so könnten sie ein wahrlich sinnerfülltes Leben führen. Den Deutschen allein sei von der ewigen Quelle aller Macht und alles Guten der Auftrag gegeben, diese Ideale zu verwirklichen und zu verbreiten. Nur auf diese Weise könnten die Deutschen einen endgültigen Sieg über die Mächte der dekadenten Moderne erringen. Dem ewigen Gesetz des Reiches gehorchend, sei ihnen eine einzigartige Freiheit beschieden. Sie könnten den Lauf der Geschichte berichtigen, ein für allemal. Die Menschheit kehrte zu der Größe zurück, die sie vor der Französischen Revolution besessen habe, eine Revolution, die Novalis als das prägende Ereignis der modernen Geschichte bezeichnet hatte, das alles, was einmal heilig gewesen, zerstört habe. 22

22 J. M. Wehner, „Über die deutsche Wirklichkeit", in: Das unsterbliche Reich, S. 3 5 - 6 4 .

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Der Umgang mit der Schuld Die „Schuld im Kriege" und die Republik von Weimar A L A N KRAMER

Die Auffassung, die Beschäftigung der Deutschen mit dem Friedensvertrag von Versailles in der Weimarer Republik sei von der Frage der angeblichen Schuld am Kriege - Artikel 231 des Vertrages - dominiert worden, ist weit verbreitet. Es ist heute in Vergessenheit geraten, daß der alliierte Vorwurf der „Schuld im Kriege", d.h. die während des Weltkriegs vermeintlich oder tatsächlich begangenen Völkerrechtsverletzungen deutscher Soldaten und Militärbehörden, in den entscheidenden Anfangsjahren der deutschen Demokratie, 1919 bis 1921, und wieder in den Jahren 1926-27, für die innenpolitische Entwicklung ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger war. 1 Die alliierten Vorwürfe gegen die deutsche Kriegführung hatten einen unbestreitbaren Wahrheitsgehalt: der rücksichtslos geführte U-Boot-Krieg, die Torpedierung von neutralen Schiffen und die Tötung von hilflosen Schiffbrüchigen, die Deportationen von Arbeitern, darunter viele Frauen und Mädchen aus Belgien und Frankreich, die Zerstörungen in Nordfrankreich während des deutschen Rückzuges 1917 und 1918 - all das wurde von der neuen deutschen Regierung 1919 nicht direkt bestritten, sondern als „Notwehr" bezeichnet. In Bezug auf die sogenannten „deutschen Kriegsgreuel" von 1914, d.h. der Tötung von französischen und belgischen Zivilisten im August und September 1914, versuchte das Auswärtige Amt jedoch, mit Hilfe einer gut finanzierten Propagandakampagne den Spieß umzudrehen und Belgien und Frankreich vorzuwerfen, sie selbst hätten gegen das Völkerrecht verstoßen, indem sie einen „illegalen Volkskrieg" gegen die deutschen Truppen führten. Diese Kampagne, die bereits während des Krieges begonnen hatte, wurde nach 1918 zunächst von der Reichswehr und einzelnen rechten Publizisten fortgesetzt und bald auch durch das Auswärtige Amt unterstützt. An der Berechtigung des Vorwurfs der Allierten, in den sechs Wochen nach Ausbruch des Krieges seien etwa 6.000 Zivilpersonen in

1 Zur Definition U . Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, S. 294 Anm. 406. Der Umgang mit der Schuld

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Belgien und Nordfrankreich hingerichtet worden, ist mittlerweile jedoch nicht mehr zu zweifeln. 2 Das Problem der umstrittenen Erinnerung an den Weltkrieg in der politischen Kultur wird hier nicht deshalb erörtert, um dem Anspruch postmoderner Geschichtsschreibung auf die Interpretation von Zeichen und auf Diskursanalyse gerecht zu werden, sondern weil die Erinnerung an den Weltkrieg in den ehemaligen Feindnationen ganz unterschiedliche Wirkungen hervorgerufen hat. So gab es in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und teilweise auch in Frankreich bald nach dem Krieg eine vom Pazifismus getragene Gegenreaktion gegen die während des Krieges übliche Propaganda. Diese Stimmung zeigte sich in einer allmählichen Hinwendung Großbritanniens, teilweise auch Frankreichs, zu einer Entspannungspolitik gegenüber Deutschland. Daneben entstand eine Art internationaler Solidarität der Kriegsveteranen. Im Zuge dieser Entwicklungen machte sich zunehmend eine allgemeine Skepsis gegenüber allen Berichten über Kriegsgreuel breit. Diese Skepsis sollte in den Jahren 1941-42 eine verheerende Wirkung haben, weil den ersten Berichten über den Genozid der Juden mit dem Hinweis auf übertriebene antideutsche Propaganda während des letzten Krieges kein Glauben geschenkt wurde. In Deutschland dagegen hatte der problematische Umgang mit der Erinnerung an die Schuld im Krieg gravierende Konsequenzen für die demokratische politische Kultur insgesamt. Er bildete einen Teil der Ablehnung westlicher demokratischer Politikmuster durch das konservativ-nationalistische, später das nationalsozialistische Lager. Hans Mommsens Konzept vom „Vordringen der zivilen Militarisierung" in der Weimarer Zeit 3 besitzt nicht nur hinsichtlich der militärischen Organisationsmuster Gültigkeit, sondern auch im Sinne des Vordringens militärischer Werte in

2 Zusammen mit John Hörne arbeitet der Verfasser seit mehreren Jahren an einem von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Forschungsprojekt zum Thema der .„German Atrocities, 1914.' Meanings and Memory of W a r " . Eine Reihe von Teilergebnissen der Forschung liegt in einschlägigen Veröffentlichungen vor, vgl. A. Kramer,,Greueltaten'. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, in: G. Hirschfeld/ G. Krumeich/I. Renz (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 8 5 - 1 1 4 ; ders., Les ,Atrocités allemandes': mythologie populaire, propagande et manipulation dans l'armée allemande, in: Guerres Mondiales et conflits contemporains, 171 (Juli 1993), S. 4 7 - 6 7 ; J. Horne, Les mains coupées: .atrocités allemandes' et opinion française en 1914, ebd., S. 2 9 - 4 5 ; A. Kramer/J. Horne, German A t r o cities' and Franco-German Opinion, 1914: The Evidence of German Soldiers' Diaries, in: Journal of Modern History, Bd. 66, 1 (März 1994), S. 1 - 3 3 . 3 H. Mommsen, Militär und zivile Militarisierung in Deutschland 1914 bis 1938, in: U . Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 265; 270.

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die politische Kultur - besonders insofern sie die Erinnerung an den Krieg betrifft.

I. Versailles und die „Schuld im Kriege": Teil einer antidemokratischen Katastrophenpolitik Als der deutschen Delegation am 7. Mai 1919 der Vertragsentwurf vorgelegt wurde, wurden diejenigen Artikel, die sich mit der deutschen Verantwortung befaßten, sofort zum Angelpunkt der deutschen Ablehnungsstrategie. Diese Strategie des Außenministers muß im Kontext eines Konflikts innerhalb der deutschen Regierung gesehen werden. Die SPD hatte freiwillig auf eine Einflußnahme in Fragen der Außenpolitik verzichtet und damit den außenpolitischen Entscheidungsprozeß, vor allem die Friedenspolitik, dem unreformierten Auswärtigen Amt überlassen, das „eine Art Deutungsmonopol" besaß. 4 Seit Ende des Krieges betrieb das Auswärtige Amt eine „Benebelungskampagne" - oder „a campaign of obfuscation" - zur „Kriegsschuld" und zur „Schuld im Kriege", in der systematisch irreführendes Beweismaterial veröffentlicht und unbequeme Dokumente unterdrückt wurden. 5 Gegen den Willen des Kabinetts, aber mit Unterstützung des noch amtierenden Generalstabs wurde emsig zum Thema Kriegsgreuel der Alliierten geforscht. Die neue Regierung hätte einen Schlußstrich ziehen und sich von den Handlungen der kaiserlichen Regierung distanzieren können, sowohl hinsichtlich der Verantwortlichkeit für den Krieg als auch, was die Kriegführung während des Konflikts betraf. Stattdessen entschied sie sich für Kontinuität und erlaubte Generalstab und Auswärtigem Amt, einen propagandistischen

4 Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 35; L. Wieland, Belgien 1914. Die Frage des belgischen .Franktireurkrieges' und die deutsche öffentliche Meinung von 1914 bis 1936, Frankfurt a. M . / B e r n / N e w Y o r k 1984, behauptet (S. 97 und 135), daß die Reparationsforderung auf der Feststellung basiere, „daß das Deutsche Reich sich sowohl der Verursachung des Krieges als auch der barbarischen Kriegführung schuldig gemacht habe." Eine gründliche Untersuchung der Herkunft der Kriegsverbrecherartikel des Friedensvertrages zeigt, daß obwohl die beiden Themen miteinander verwandt waren, die Kriegsverbrechensartikel und Artikel 231 in Absicht und Ursprung verschieden waren. Artikel 231 war als juristische Grundlage für die Reparationsforderung konzipiert, während Artikel 2 2 7 - 2 3 0 keinerlei finanziellen Implikationen hatten, s. W . Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982, S. 7 1 - 1 2 4 . 5 H . H. Herwig, Clio deceived. Patriotic self-censorship in Germany after the Great War, in: S. E. Miller/S. M. Lynn-Jooes/S. Van Evera (Hg.), Military Strategy and the Origins of the First World War, überarbeitete und ergänzte Ausgabe, Princeton (N.J.) 1991, S. 264.

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Gegenangriff zu entfesseln.6 Innerhalb des Auswärtigen Amtes wurde Anfang 1919 das „Spezialbüro von Bülow", das spätere Kriegsschuldreferat, eingerichtet, das in den vierzehn Jahren der Republik einen kontinuierlichen Strom von Propaganda zu Kriegsschuld und Schuld im Krieg produzierte bzw. dirigierte.7 So wurde z.B. bereits im Frühjahr 1919 der deutschen Friedensdelegation in Paris eine Denkschrift des Generalstabs vorgelegt, in der die gegen die deutsche Armee erhobenen Vorwürfe barbarischer Kriegführung schlichtweg abgestritten wurden. Vielmehr wurde behauptet, die Alliierten hätten in der Vergangenheit nicht nur im Weltkrieg, sondern auch etwa im Südafrikanischen Krieg und während des Amerikanischen Bürgerkriegs gegen das Völkerrecht verstoßen. 8 Vor allem der deutsche Delegationsleiter in Paris, Minister des Auswärtigen Graf Brockdorff-Rantzau, suchte geradezu die Konfrontation mit seiner Verurteilung des angeblichen, aber in dieser Absolutheit gar nicht erhobenen Vorwurfs der alleinigen deutschen Kriegsschuld. Die deutsche Empörung gegen Versailles, von der Generationen von Historikern unkritisch gesprochen haben, wurde vom Auswärtigen Amt mit großer Sorgfalt und einer breitangelegten Pressekampagne erzeugt, mit besonderem Augenmerk auf die Auslieferungs- und Kriegsschuldartikel, die als moralische Pauschalverurteilung Deutschlands dargestellt wurden. 9 Dabei überschritt das Auswärtige Amt die Vorgaben des Kabinetts, das nicht imstande war,

6 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), Serie A, Bd. I, Dokument 160: Dieckhoff an Bülow, 5. März 1919, S. 270-271. Dieckhoff referierte die Meinung des Reichsministers des Auswärtigen Graf Brockdorff-Rantzau und des Leiters der Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, Graf Bernstorff. Zur Entscheidung, die Veröffentlichung der von Kautsky edierten „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" zu verschieben, siehe E. J. C. Hahn, The German Foreign Ministry and the question of war guilt in 1918-1919, in C. Fink/ I. V. Hull/M. Knox (Hg.), German Nationalism and the European Response, 1890-1945, Norman/London 1985, S. 53-55. Zum Schicksal der Dokumentensammlung von Kautsky, die im März 1919 druckfertig vorlag, aber erst im Dezember nach Überarbeitung durch die nationalgesinnten Experten Schücking und von Montgelas publiziert wurde, siehe Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 74-78. Zum Generalstab siehe dessen Denkschrift an das Auswärtige Amt vom 20. April 1919 mit Anklage gegen die Franzosen wegen Kriegsverbrechen und Heuchelei: Schwengler, Völkerrecht, S. 162, Anm. 175. 7 Herwig, Clio deceived, S. 263-268; W. Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1984, S. 46-47; Wieland, Belgien 1914, S. 115-120. 8 A. Luckau, The German delegation at the Paris Peace Conference, New York 1941 (= The Paris Peace Conference. History and Documents. Published for the Carnegie Endowment for International Peace, Division of Economics and History), S. 37; vgl. auch S. 31 und 43. 9 Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 43. Zum Kriegsschuldartikel, s. S. Marks, The myths of reparations, in: Central European History, 11 (1978) S. 231-255. 80

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Brockdorff-Rantzaus provokanter Handlungsweise in Versailles Einhalt zu gebieten. 10 In den sechs Wochen zwischen Ubergabe der Friedensbedingungen und Unterzeichnung des Vertrags war es trotz gegenläufiger Urteile späterer Historiker nicht der sogenannte Kriegsschuldartikel 231, sondern die Kriegsverbrecherartikel 227 bis 230, mit denen sich die deutschen Zeitungen in ihrer Ablehnung des Friedensvertrags hauptsächlich beschäftigten. 11 Die deutschen Gegenvorschläge zum Vertragsentwurf waren theoretisch gar nicht unvernünftig. Zum Thema Kriegsschuldfrage brachten sie vor, daß „keine einzelne Tatsache den Krieg hervorgerufen" habe und daß eine einseitige Inkriminierung Deutschlands daher nicht gerechtfertigt sei. Die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger stehe im Gegensatz zum bestehenden Völkerrecht, da die Gerichte sich nur aus Angehörigen der Siegermächte zusammensetzten. Stattdessen solle eine neutrale Kommission mit der Untersuchung der Verantwortlichkeit für den Kriegsausbruch und der Schuld während des Krieges aller Beteiligten betraut werden. 12 Diese Vorschläge kamen jedoch der Forderung einer Gleichbehandlung Deutschlands bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen gleich - eine Provokation, die implizierte, daß die Alliierten im gleichen Maße Schuld auf sich geladen hätten. BrockdorffRantzau verfolgte eine dezidiert aggressive Strategie, indem er versuchte, Frankreich und Großbritannien zur Wiederaufnahme kriegerischer Maßnahmen zu veranlassen, während sich Deutschland möglichst eng an die Vereinigten Staaten hielt. Sein Kalkül einer provozierten europäischen Katastrophe durch eine Invasion Deutschlands und den Ausbruch einer Revolution in den Feindländern, im Zuge derer der Friedensvertrag hinfällig werden würde, ging jedoch nicht auf: 13 Die Regierung mußte schließlich unter Androhung einer Wiederaufnahme des Krieges unterzeichnen.

10 Rantzau übernahm das A m t des Außenministers nur unter der Bedingung, daß ihm für die Friedensverhandlungen freie Hand gewährt werde. Siehe A D A P , Serie A, Bd. I, D o kument 209, S. 398: Aufzeichnung der Besprechung Groener-Rantzau, 4. April 1919. 1 1 M . D r e y e r / O . Lembcke, Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19, Berlin 1993, S. 1 3 1 - 1 3 2 . Auch in den neun Unterredungen mit Vertretern der Presse, die Brockdorff-Rantzau zwischen 13. Mai und 6. Juni 1919 führte, erwähnte er die Frage der Kriegsschuld nur einmal (am 4. Juni): siehe Graf Brockdorff-Rantzau, Dokumente und Gedanken um Versailles, 3. Ausg. Berlin 1925, S. 170-200. 12 Schwengler, Völkerrecht, S. 1 9 0 - 1 9 1 ; Jäger, Historische Forschung, S. 32. Vgl. Brockdorff-Rantzau, Dokumente und Gedanken, „Mantelnote zu den deutschen Gegenvorschlägen" und „Anlage zur Mantelnote", S. 86, 9 7 - 9 8 . 13 Schwengler, Völkerrecht, S. 191. Zum Konzept der Katastrophenpolitik siehe D. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987, S. 6 5 71. K. Schwabe, Germany's peace aims and the domestic and international constraints, in:

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Kurzfristig aber hatte die Strategie der Katastrophenpolitik durchaus Erfolg. Scheidemanns Rede in der Aula der Berliner Universität trug wesentlich zur Mobilisierung gegen den Friedensvertrag bei. In der Folge gab es hunderte von Kundgebungen, in denen besonders gegen die drohende Auslieferung des Kaisers und anderer Beschuldigter protestiert wurde. 14 Dem Auswärtigen Amt war es somit gelungen, eine Bewegung zu schaffen, die die Entscheidungsfreiheit der Regierung einengte und schließlich die Demission des Kabinetts Scheidemann zur Folge hatte. Mittelfristig jedoch scheiterte die Strategie: Die neue Regierung war ebensowenig wie ihre Vorgängerin in der Lage, eine bedeutende Revision des Vertrages zu erreichen. Selbstverständlich bedeutete der Friedensvertrag eine Gefahr für die Armee - und ganz konkret für das Offizierskorps. Anders als man erwarten möchte, waren es jedoch nicht die Abrüstungsartikel, die mit der Forderung einer Reduzierung des Millionenheeres auf 100.000 Mann in der Tat die berufliche Existenz vieler Offiziere gefährdeten, die die größte Entrüstung hervorriefen, sondern die Aussicht auf die Auslieferung von hunderten oder vielleicht tausenden Offizieren und vor allem die darin implizite moralische Verurteilung. Am 19. Juni 1919 drohten dreißig führende Offiziere, unter ihnen die Generäle von Lüttwitz, Below und Loßberg, mit einem Aufstand gegen die Regierung, falls der Vertrag angenommen werden sollte. Obwohl es Reichswehrminister Noske und dem Ersten Generalquartiermeister Groener vorerst gelang, die Offiziere von der Notwendigkeit der Vertragsunterzeichnung zu überzeugen, war das Vertrauen der Offiziere in Noske nur bedingt: Sie forderten weiterhin die „Ablehnung der sogenannten Schmachparagraphen". 15 Der Beschluß der Nationalversammlung und der Reichsregierung am 22. Juni, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, ohne damit jedoch die Artikel 227 bis 231 anzuerkennen, führte zur erneuten Krise. 16 Nach der ablehnen-

M. F. Boemeke/G. D. Feldman/E. Glaser (Hg.), The Treaty of Versailles: A Reassessment after 75 Years, Cambridge/Washington 1998, S. 52-56. 14 Schwengler, Völkerrecht, S. 197-201. 15 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Scheidemann, bearb. von H. Schulze, Boppard 1971, Dokument 114, Aufzeichnung Groener, S. 482; Schwengler, Völkerrecht, S. 217-219; 227. Vgl. J. Erger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20, Düsseldorf 1967, Dokument 1, S. 303: Groener, Bericht 12. Juli 1919, über die Versammlung am 19. Juni 1919. Zu den Protesten von vielen untergeordneten Armee-Einheiten und Offiziersverbänden siehe Schwengler, Völkerrecht, S. 204-205. 16 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Kabinett Scheidemann, Dokument 105, S. 435 Anm. 3. 82

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den Note der Alliierten bestand durchaus die Gefahr eines Putsches der Reichswehr, vor allem wegen der Frage der Schuld im Krieg; entsprechende Bemerkungen über einen drohenden Aufstand kamen von General Maercker, dem die Schutztruppe der Nationalversammlung unterstand, von General von Lüttwitz und von Feldmarschall von Hindenburg, der Noske mitteilte, daß eine hohe Anzahl von Offizieren und Freiwilligentruppen sich den Befehlen der Regierung widersetzen werde, falls die „Schmachparagraphen" unterzeichnet werden sollten. 17 Erst der Realismus eines General Groener und eines Matthias Erzberger vermochte dem Heer und der Regierung die Nutzlosigkeit weiteren Widerstands klarzumachen. 18 Obwohl es den Generalen also endlich aufgegangen war, daß ein Aufstand gegen Versailles utopisch war und keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung finden würde, beharrte die Reichswehr auf ihrer Weigerung, die beschuldigten Offiziere auszuliefern. Vorerst wahrte sie den inneren Frieden mit der Regierung. Langfristig jedoch hatte diese Strategie der Regierung eine verheerende Wirkung auf die Legitimation der Republik, da sie darauf verzichtete, die Vabanquespieler des Konservatismus beim Wort zu nehmen und sie mit den Konsequenzen ihrer Forderungen zu konfrontieren. Die ablehnende Haltung der Regierung spielte schließlich selbst eine Rolle in der Mobilisierung des Hasses gegen die „Ehrenpunkte" von Versailles. 19 Insofern hatte die Strategie der konservativen Eliten Erfolg: sie erwies sich als ein hervorragendes Mittel gegen die Demokratie. So konnten die Sozialdemokraten, Linksliberalen und das Zentrum daran gehindert werden, vom nationalistischen Lager abzudriften. Der Militarismus, der 1918 moralisch und politisch völlig am Ende gewesen war, konnte durch das Wiederaufleben der Solidargemeinschaft - eine Art Wiederkehr des Burgfriedens von 1914 - in die neue Ära hinübergerettet werden.

II. Aufruhr gegen die Auslieferungsbestimmungen: spontaner Massenprotest oder Manipulation? Zunächst hatte die Regierung allerdings durchaus die Absicht gehabt, die Auslieferungsparagraphen zu erfüllen. Das Auswärtige Amt richtete im Juli 1919 eine „Hauptstelle zur Verteidigung Deutscher vor feindlichen Gerichten" ein und die Regierung versprach, alle Anwaltskosten und die Unterstüt17 W. Wette, Gustav N o s k e . Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 491. 18 Schwengler, Völkerrecht, S. 228-229; K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1976, S. 362-363. 19 Schwengler, Völkerrecht, S. 227-228. Der Umgang mit der Schuld

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zung der Familien der Angeschuldigten zu übernehmen. Die „Hauptstelle" empfahl der Presse, die Auslieferungsfrage zurückhaltend zu behandeln. 20 Dagegen ging die Reichswehr in die Offensive: die „Zentralstelle für Völkerrechtsverletzungen" im Reichswehrministerium plädierte für eine Propagandakampagne, die auf die Anklagen der Sieger antworten solle: Laut Reichswehrminister Noske stand, wenn deutsche Offiziere tatsächlich ausgeliefert und angeklagt werden sollten, „ganz Deutschland vor Gericht". 2 1 Selten ist die Instrumentalisierung der Kollektivschuldthese so deutlich zu erkennen. Der Kollektivschuldvorwurf wurde von der Reichswehr und den Revisionisten ganz einfach unterstellt, um auf diese Weise eine Einheitsfront aller Deutschen, ob Zivilisten oder Soldaten, Pazifisten oder Militaristen, zu konstruieren. Kern der deutschen Unschuldspropaganda nach Versailles waren zwei immer wiederkehrende Argumente: der Vorwurf, auch die Allierten hätten sich Kriegsrechtsverletzungen schuldig gemacht und die Behauptung, die belgische Regierung habe einen illegalen „Volkskrieg" vorbereitet. Ohne Beteiligung des Auswärtigen Amts veröffentlichte die Oberste Heeresleitung ( O H L ) im Juli 1919 die Verteidigungsschrift, „Die deutsche Kriegführung und das Völkerrecht", die ebenfalls unter Verwendung des Topos der Kollektivschuld den Vorwurf der „Schuld im Kriege" zurückwies. Die O H L behauptete, die deutsche Kriegführung habe sich durchaus im Einklang mit dem Völkerrecht befunden - so bei den Zerstörungen während des Rückzuges 1918, im Luft- und Giftgaskrieg, bei den Deportationen von Zivilisten, und bei der Behandlung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten - , während diejenige der Feinde viel brutaler gewesen sei. Die „gegen das ganze deutsche Volk" gerichtete Greuelpropaganda habe einen weit schwereren Schaden angerichtet als selbst die völkerrechtswidrige Blockade, „als selbst durch die von Ost und West gegen uns in Bewegung gesetzten Millionenheere. Die Blockade, die feindlichen Massenheere, konnten ja nur Leben und Gesundheit der Deutschen treffen; die Legende von den deutschen Greueln (...) soll ihnen das moralische Lebenselement: die Achtung, die Ehre bei den anderen Völkern rauben". Die O H L widersprach den alliierten Beschuldigungen wegen der „Vorkommnisse in Belgien im Sommer 1914", die als „der Gipfelpunkt der deutschen .Barbarei' gelten" und behauptete stattdessen, das belgische Volk habe einen von der Regierung gebilligten völkerrechtswidrigen, grausamen Franktireurkrieg gegen die deutschen Heere entfesselt. Somit

20 Ebd., S. 253-255. 21 Ebd., S. 255-256. Das preußische Kriegsministerium wurde am 30. September aufgelöst; das Reichswehrministerium nahm offiziell zum 1. Oktober 1919 seine Tätigkeit auf. Ebd., S. 256-257, Anm. 117. Vgl. B A Berlin, R 3003 O R A / R G Generalia, Akte 51. 84

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wiederholte sie die Argumentation einer deutschen Kriegspropagandaschrift von 1915, „Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs". Im Anschluß enthielt die Broschüre eine Reihe von Anklagen gegen die Alliierten: Mißhandlung deutscher Kriegsgefangener und Verwundeter, Ermordung Kriegsgefangener durch britische und französische Truppen, Verstümmelung Verwundeter durch Zivilisten, Mißbrauch und Mißachtung des Roten Kreuzes. 22 Im Januar 1920 begann die „Zentralstelle für Völkerrechtsverletzungen" im Reichswehrministerium unter der Leitung des ehemaligen Generalstabsoffiziers Otto von Stülpnagel damit, eine Liste von angeblichen alliierten Kriegsrechtsverletzungen vorzubereiten. Bereits im Februar 1920 lag diese „Gegenliste" dem Kabinett vor, wurde jedoch auf Anraten des Auswärtigen Amtes weder veröffentlicht noch den Alliierten überreicht. Obwohl Reichswehrführung und andere amtliche Stellen immer wieder eine offensive Strategie forderten, verweigerte das Auswärtige Amt eine Publikation der Liste mit dem Hinweis auf eine mögliche Verschärfung der Haltung der Alliierten in der Auslieferungsfrage. 23 Aus Enttäuschung über die Zurückhaltung der Regierung veröffentlichte Stülpnagel 1920 das Pamphlet „Die Wahrheit über die deutschen Kriegsverbrechen". 2 4 Es enthielt eine krude Wiederholung der Thesen des „Weißbuchs" von 1915, mit der Behauptung, daß im belgischen Franktireurkrieg Geistliche, Greise, Frauen und sogar Kinder an den Kämpfen gegen die deutschen Truppen teilgenommen hätten. Die Maßnahmen des deutschen Heeres gegen die Schuldigen seien somit völlig gerechtfertigt gewesen. Obwohl Stülpnagels Beweisführung zu offensichtlich minderwertig, sein Beweismaterial zu fehlerhaft, und seine Behauptungen zu verwegen waren, als daß das Auswär-

22 Die deutsche Kriegführung und das Völkerrecht. Beiträge zur Schuldfrage, hrsg. im Auftrag des Kriegsministeriums und der Obersten Heeresleitung, Berlin 1919, S. 4 7 - 5 7 . ( B A Berlin, R 43 1/803: am 26. Juli 1919 dem Reichskanzler übersandt.) Vgl. Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs, Berlin 1915. Die Broschüre der O H L fand weder im In- noch im Ausland Anklang, s. Wieland, Belgien 1914, S. 121. 23 Schwengler, Völkerrecht, pp. 3 0 2 - 0 3 . Zur Rolle Stülpnagels, siehe B A Berlin, R 3003 Generalia/51, Bl. 25, Stülpnagel an Oberreichsanwalt Leipzig, 12. September 1920. Vgl. „Zusammenstellung von 100 ausgewählten Fällen von Verbrechen und Vergehen, die seit Kriegsausbruch von Angehörigen Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens und Rumäniens gegen Deutsche begangen worden sind, mit Beweismaterial", Berlin, 1921. A D AP, Serie A, Bd. V, Dokument 297, Aufzeichnung Köpke, 28. Februar 1922, S. 619. 24 O . von Stülpnagel, Die Wahrheit über die deutschen Kriegsverbrechen. Die Anklagen der Verbandsmächte in Gegenüberstellung zu ihren eigenen Taten, Berlin 4. Ausg. 1921. Vgl. B A Berlin, R 3003 O R A / R G Generalia/51, Bl. 25, Stülpnagel an Oberreichsanwalt Leipzig, 12. September 1920.

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tige Amt sein Buch gutheißen konnte, wurde es in der deutschen Presse vielfach positiv besprochen.25 Für den innozentistischen Propagandisten Oszwald war es noch zehn Jahre danach „unentbehrlich im Kampfe gegen die Zumessung der Alleinschuld Deutschlands im Kriege." 26 Ebenfalls im Jahre 1920 veröffentlichte ein geschickterer Verfechter der Unschuldsthese, der Militärhistoriker Bernhard Schwertfeger, ein Buch mit dem Titel „Die Grundlagen des belgischen Franktireurkrieges 1914", in dem er der belgischen Regierung vorwarf, sie habe gegen die deutschen Truppen mit Hilfe einer Zivilmiliz, der „Bürgerwacht", einen Volkskrieg geführt, der die deutschen Repressalien gegen die Zivilbevölkerung erkläre und rechtfertige. Die .Beweise' für diese Argumentation lieferte Schwertfeger in Form von Rundschreiben und Aufrufen der belgischen Regierung an die garde civique im August 1914; diese, so Schwertfeger, seien neben der fehlerhaften Instruierung der Zivilbevölkerung hinsichtlich der Rechte der Nichtkombattanten im Kriege für den „Franktireurkrieg" weitgehend verantwortlich gewesen. Das Buch wurde im Auftrag des Schuldreferats erstellt und mit geheimer finanzieller Hilfe des Auswärtigen Amtes herausgegeben.27 Die auf den ersten Blick einleuchtende und materialreich belegte Argumentation Schwertfegers besitzt eine entscheidende Schwäche, die damals schwer zu erkennen war: die Massenexekutionen von Zivilisten hatten sowohl in Städten stattgefunden, in denen die garde civique in die Kämpfe eingegriffen hatte, als auch in solchen, in denen dies nachweislich nicht der Fall war. So waren beispielsweise auch in Nord- und Ostfrankreich Massenhinrichtungen vorgekommen, wo eine Bürgermiliz gar nicht existierte. Zeitgleich mit dem Einsetzen der Gegenpropaganda gegen die alliierten Auslieferungsforderungen wurde im Sommer 1919 eine aus Mitteln der Reichsmarine und der privaten Wirtschaft finanzierte Geheimorganisation gegründet, die den beschuldigten Offizieren ein Untertauchen ermöglichen sollte. General Groener empfahl denjenigen Offizieren, die, wie er sich ausdrückte, „Dreck am Stecken" hatten, zu verschwinden. Bewaffnete Frei-

25 BA Berlin, R 3003 O R A / R G Generalia/51, Bl. 96, „Berliner Tageblatt", 1. Oktober 1920: Besprechung durch den konservativen Pazifisten (und General a.D.) Graf Montgelas. Zum Inhalt des Buches und zum Presseecho, s. Wieland, Belgien 1914, S. 109-112. 26 R. P. Oszwald, Der Streit um den belgischen Franktireurkrieg. Eine kritische Untersuchung der Ereignisse in den Augusttagen 1914 und der darüber bis 1930 erschienenen Literatur unter Benutzung bisher nicht veröffentlichten Materials, Köln 1931, S. 174. 27 B. Schwertfeger, Belgische Landesverteidigung und Bürgerwacht (garde civique) 1914. Im amtlichen Auftrag bearbeitet. Berlin 1920. Unter dem Titel „Die Grundlagen des belgischen Franktireurkrieges 1914. Das amtliche deutsche Material", Berlin [o.J.: 1920] neu aufgelegt. BA Koblenz, N L 15/180, Schwertfeger an Direktor Schmidt, Verlag Reimar Hobbing, Berlin, 14. Februar 1920.

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korpsverbände, deren Mitglieder zum Teil an Ermordungen von linken Revolutionären beteiligt gewesen und mit politischen Gruppierungen der extremen Rechten verflochten waren, standen Gewehr bei Fuß, um die Verhaftungen zu verhindern und die Männer in Sicherheit zu bringen. 28 Wie wir heute wissen, fühlte sich trotz der versuchten Unterstellung der Kollektivschuld durchaus nicht die ganze Nation auf der Anklagebank. Es ist sogar zu bezweifeln, daß die Mehrheit der Deutschen durch die Kampagnen überhaupt sonderlich beeindruckt worden ist. Der Leiter des Schuldreferats, Freytag, stellte fest, daß „breite Bevölkerungsschichten (...) von der Schuld Deutschlands am Kriege überzeugt seien". 29 Wie der Leiter der britischen Militärmission in Berlin, General Sir Neill Malcolm, Anfang August 1919 nach London berichtete, lehnten zwar die Armee und die Rechts- und Mitteparteien die Auslieferung des Kaisers, Hindenburgs und anderer Offiziere ab; dagegen seien die Mehrheitssozialisten und die USPD nicht unbedingt gegen die Auslieferung. Die Arbeiterschaft sei den Offizieren gegenüber, die als „Noskes Bluthunde" gälten, zweifellos sehr feindselig eingestellt. 30 Mit anderen Worten war der Prozeß der „zivilen Militarisierung" noch nicht sehr weit fortgeschritten. Nach dem Sturz des kaiserlichen Regimes war unter den Kräften, die eine durchgreifende politische Erneuerung suchten, das Verlangen nach einer Abrechnung mit dem Militarismus weit verbreitet. So hatte der Soldatenrat im November 1918 die Einsetzung eines Staatsgerichtshofs gefordert, um die Schuldigen an Kriegsverbrechen in Belgien zur Verantwortung zu ziehen. 31 Die Forderung nach einem Staatsgerichtshof wurde im März 1919 vom sozialdemokratischen Justizminister Landsberg in Form einer Gesetzesvorlage in die Nationalversammlung eingebracht, aber erst am 28. Juli erörtert und in dieser Form nie verwirklicht. 32 In Wahrheit wollte die SPD das Auswärtige Amt und die Reichswehrführung nicht vor den Kopf stoßen. Die Grundsätze der Realpolitik ließen es als geboten erscheinen, eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Armee zu unterlassen, wollte die SPD sich weiterhin 28 Schwengler, Völkerrecht, S. 2 4 6 - 2 5 0 und 295. Über diese Organisation war wenig bekannt, bis Schwengler seine gut informierte Darstellung veröffentlichte, die z.T. auf bisher unzugänglichen Nachlässen basiert. 29 Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 56 (Aufzeichnung Freytag, 24. Juli 1919). 30 E.L. Woodward/ R. Butler (Hg.), Documents on British Foreign Policy 1 9 1 9 - 1 9 3 9 , (DBPF) First Series, Bd. VI, London 1956, Dokument 84, General Malcolm (Berlin) an Director of Military Intelligence, 6. August 1919, S. 124. 31 „Vorwärts", 29. November 1918: „Ein Staatsgerichtshof f ü r Vergehen in Belgien verlangt". Dazu und zu den vielen unterschiedlichen weiteren Forderungen nach Untersuchung der Herbeiführung des Krieges und der Verlängerung des Krieges siehe Schwengler, Völkerrecht, S. 1 4 3 - 1 4 6 . 32 Schwengler, Völkerrecht, S. 1 5 7 - 1 6 0 ; Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 2 3 - 2 4 .

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auf den kleinen Rest des Heeres stützen können, um Umsturzversuche der radikalsozialistischen Bewegungen zu unterdrücken. Zudem hätte eine restlose Aufklärung der Kriegsverbrechen und eine Verfolgung der Schuldigen gezeigt, daß Sozialdemokratie und Zentrum den Krieg bedingungslos unterstützt hatten und mithin für die Irreführung der öffentlichen Meinung und die völkerrechtswidrigen Maßnahmen mitverantwortlich gewesen waren. 33 Statt eines Staatsgerichtshofs mit Strafkompetenzen richtete die Regierung im August 1919 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß ein, der im Oktober seine Beratungen aufnahm. Von den vier Unterausschüssen sollte sich der dritte mit der Aufklärung von Völkerrechtsverletzungen im Kriege beschäftigen. Dessen Bericht wurde aufgrund der Bedenken verschiedener Ministerien, vor allem des Auswärtigen Amtes, erheblich verändert, immer wieder verzögert und erst mehrere Jahre später veröffentlicht. 34 Von einer Erfassung und Bestrafung der Schuldigen in eigener Sache, gleichsam als Ausdruck eines gewollten Bruchs in der Kontinuität zwischen Kaiserreich und Republik, konnte jetzt keine Rede mehr sein. Mitte Oktober 1919 änderte sich mit dem Wiedereintritt der DDP ins Kabinett die Haltung der anfangs kompromißbereiten Regierung in der Auslieferungsfrage. Eugen Schiffer (DDP) sah in diesem Punkt, wie er sich ausdrückte, die „Möglichkeit der Katastrophe", die es auszunutzen gelte. Er rechne in dieser Frage mit der Einheit des Volkes, die „man ausspielen" müsse.35 Jetzt forderte die Regierung von den Alliierten, auf eine Auslieferung der Kriegsverbrecher zu verzichten und schlug stattdessen Prozesse vor dem Reichsgericht in Leipzig vor. 36 Die Kampagne erreichte im Januar 1920 einen Höhepunkt. Den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs wurde mitgeteilt, daß die Auslieferung die Stabilität der Republik schwer erschüttern würde. Es bestehe die Gefahr einer Meuterei innerhalb der Armee und sogar eines Militärputsches; die Kommunisten könnten aus der Krise Nutzen ziehen. 37 Tatsächlich drohte am 10. Januar, dem Tag, an dem der Friedensvertrag in Kraft trat, General von Lüttwitz einmal wieder damit, der Regierung die Treue zu entziehen, sollte sie in den „Lebens- und Ehrenfragen der Nation" nachgeben.38

33 Vgl. G. Huch, „Das Gericht der Rache", in: „Der Deutsche", Bd. 1, Nr. 4 (1920), S. 188189. 34 Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 155-203. 35 Schwengler, Völkerrecht, S. 258-264; Zitat S. 262. 36 DBFP, First Series, Bd. VI, Dokument 256, Sir E. Crowe an Earl Curzon, 6. November 1919, S. 332-334. Vgl. Schwengler, Völkerrecht, S. 265-6. 37 A D AP, Serie A, Bd. III, Dokument 14, S. 33-34: Außenminister Hermann Müller (SPD) an Botschaft Wien, 20. Januar 1920. 38 Schwengler, Völkerrecht, S. 296. 88

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Mittlerweile hatten die Alliierten eine Auslieferungsliste mit 853 Namen von Beschuldigten vorbereitet. Diese war auf britische Intervention bereits von ursprünglich 1590 Namen zusammengestrichen worden. 3 9 Dennoch befanden sich nach wie vor die Namen der herausragenden politischen und militärischen Führer des Kaiserreichs auf der Liste: die Feldmarschälle von Hindenburg, von Bülow und von Mackensen, die Generäle Ludendorff, von Beseler, von Hausen, von Kluck und von Gebsattel, Admiral von Tirpitz, Kronzprinz Wilhelm sowie dessen Brüder Eitel Friedrich, August Wilhelm und Oskar, Kronprinz Rupprecht von Bayern sowie der ehemalige Reichskanzler Bethmann Hollweg. Belgien und Frankreich führten auf ihren Listen jeweils 334 Fälle auf. Die der „deutschen Kriegsgreuel" Beschuldigten bildeten davon einen wichtigen Anteil: etwa die Hälfte der auf der französischen und der belgischen Liste aufgeführten Offiziere war wegen der Hinrichtung von Zivilisten und ähnlicher Verbrechen bei der Invasion 1914 angeklagt. 40 Die Übergabe der Auslieferungsliste am 3. Februar 1920 führte zu einem Sturm der Empörung. 4 1 Dieser war jedoch kein spontaner Gefühlsausbruch der Volksmassen gegen die demütigenden Forderungen der Alliierten, sondern Ergebnis einer gezielten Propagandakampagne der Rechtsparteien und der patriotischen Verbände, die vor allem vom Reichswehrministerium und dessen Zentralstelle für Völkerrechtsverletzungen gesteuert wurde. 42 Es gab Kundgebungen in Kirchen und auf den Straßen; fast jede Zeitung enthielt entsprechende Protestartikel. Das Geschehen dieser Tage erinnert an den ,Geist von 1914' - eine Verbindung, die auch durch die „Erklärung deutscher Hochschullehrer zur Auslieferungsfrage" nahegelegt wird. Herausgeber war der bekannte Althistoriker Eduard Meyer, einer der 93 Intellektuellen, der 1914 bereits den berühmten „Aufruf an die Kulturwelt" mitunterzeichnet hatte. Meyer zerriß aus Empörung über die Auslieferungsforderungen öffentlich seine Doktortitel aus Oxford und Harvard. 43 Wie es um die öffentliche Meinung' zur Auslieferungsfrage bestellt war, ist einfach zu bestimmen, versteht man diese als die .veröffentlichte' Meinung

39 DBFP, First Series, Bd. 2, 1948, Dokument 78, Meeting of Allied Representatives, 20. Januar 1920, S. 927-928; s. auch Schwengler, Völkerrecht, S. 325-327. 40 Kalkuliert nach BA Berlin, R 3003 O R A / R G Generalia/56, Auslieferungsliste. 41 Schwengler, Völkerrecht, S. 304-309. R. Butler/J. P. T. Bury/M. E. Lambert (Hg.), DBFP, First Series, Bd. IX, London 1960, Dokument 595, Kilmarnock an Curzon, 5. Februar 1920, S. 650; ebd., Dokument 597, Kilmarnock an Curzon, 5. Februar 1920, S. 651. 42 BA Berlin, R 3003 O R A / R G Generalia/51, Bl. 25, Stülpnagel an Oberreichsanwalt Leipzig, 12. September 1920. 43 Nach Schwengler, Völkerrecht, S. 283: Eduard Meyer (Hg.) Für Ehre, Wahrheit und Recht. Erklärung deutscher Hochschullehrer zur Auslieferungsfrage, Berlin, 1919. Vgl. J. von UnDer Umgang mit der Schuld

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der Presse: Nur wenige Zeitungen vermochten sich von dem „papiernen Lärm" der Reaktion (so Hugo Ball) zu distanzieren, wobei das Schweigen der linken Presse allerdings nicht als stille Zustimmung gedeutet werden darf, da viele linksgerichtete Zeitungen seit Mitte Januar verboten waren. So durfte das USPD-Blatt „Die Freiheit" erst am 9. Februar wieder erscheinen. 44 Was die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung betrifft, kann man nicht von einem geschlossenen, einheitlichen Meinungsblock ausgehen, sondern wie in so vielen politischen Fragen der Weimarer Zeit von einer starken Polarisierung der Meinungen. Der badische Innenminister Remmele meldete dem Reichskanzler ernste Bedenken wegen des Konfrontationskurses in der Auslieferungsfrage an. Auf eine Verweigerung der Auslieferung, so war Remmele überzeugt, würden die Alliierten mit Repressalien antworten, etwa mit einer Einstellung des Rücktransports deutscher Kriegsgefangener. Dann werde „die Stimmung im Volke umschlagen, und eine mächtige Bewegung des Volkes wird fordern, lieber die Auflage der Entente zu erfüllen, als unsere Gefangenen noch hinterm Stacheldraht Frankreichs zu wissen." Die führenden Vertreter der badischen landwirtschaftlichen Verbände hatten berichtet, „daß die Bauern (...) ganz allgemein der Auffassung zuneigen, man solle die wirklichen Verbrecher nur ausliefern; sie seien gewillt, ihrerseits noch einige bekannt zu geben, die vor den Strafrichter gehörten"; die Industriearbeiter dächten genauso. 45 Es kam sogar zu entsprechenden Gegendemonstrationen. So demonstrierte anläßlich der patriotischen Kundgebung gegen die Auslieferung am 25. Januar 1920 im Zirkus Busch in Berlin eine große Menge von USPD- und KPD-Anhängern, die lautstark die Hinrichtung des ehemaligen Kaisers und Ludendorffs forderten. 46 Dennoch existierte die „patriotische Erhebung" gegen die Auslieferung selbstverständlich nicht nur auf dem Papier. Sie speiste sich, wie Reichskanz-

gern-Sternberg/ W. von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!" Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996. 44 DBFP, First Series, Bd. IX, Dokument 609, Kilmarnock an Curzon, 7. Februar 1920, S. 674; ebd., Dokument 10, Kilmarnock an Curzon, 20. Januar 1920, S. 10-11. Zitat von Hugo Ball in der „Freien Zeitung" (Bern): Wieland, Belgien 1914, S. 102-103. Wieland unterstellt das stillschweigende Einverständnis der deutschen Linken, ohne das Zeitungsverbot zu erwähnen. 45 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Bauer, bearb. v. A. Golecki, Boppard 1980, Dokument 163, Der badische Innenminister an den Reichskanzler, 7. Februar 1920, S. 589-591. 46 DBFP, First Series, Bd. IX, Dokument 584, Kilmarnock an Curzon, 3. Februar 1920, S. 638; vgl. BA Berlin, Nachlaß Kuno von Westarp, 90 We 4/122, Bl. 23-24, Entwurf eines Antrags für die Kundgebung im Zirkus Busch. Vgl. Schwengler, Völkerrecht, S. 290. 90

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ler Bauer seinem Parteifreund Remmele auf dessen Schreiben anwortete, aus einflußreichen Teilen der Bevölkerung, besonders der Beamtenschaft und der Reichswehr. 47 Vor allem aufgrund des britischen Wunsches nach Stabilisierung des Status quo in Deutschland gaben die Ententemächte noch im Februar 1920 nach und nahmen den Vorschlag der deutschen Regierung auf, Prozesse gegen die Beschuldigten vor dem Leipziger Reichsgericht durchzuführen. Die Auslieferungsfrage spielte beim Kapp-Lüttwitz-Putsch nur wenige Tage später keine Rolle; die zeitliche Nähe ergab sich rein zufällig. Wäre das alliierte Zugeständnis nicht gekommen, hätte Lüttwitz allerdings auch wegen der Auslieferungsfrage seinen Aufstand versucht. 48 Aber auch nach dem alliierten Zugeständnis besaß die Frage der „Schuld im Kriege" ein Mobilisierungspotential für rechte Kräfte. So verurteilte die alldeutsche „Tägliche Rundschau" die erneute Weigerung der Regierung, die „Gegenliste" der feindlichen Kriegsverbrechen zu veröffentlichen, mit der Drohung: „So sollen wir Deutschen vor aller Welt als Hunnen verschrien bleiben. Wenn die Regierung ihre Pflicht gegen das Deutschtum versäumt, muß die deutschgesinnte Presse einspringen und die ihr bekanntgewordenen Fälle der neutralen und feindlichen Welt vortragen." 49 Im Juni 1920 zitierte die rechtsstehende „Deutsche Tageszeitung" zustimmend General von Bülows Bekanntmachung an die belgische Stadt Andenne vom 22. August 1914: „Mit meinem Einverständnis hat der Kommandierende General die ganze Ortschaft niederbrennen lassen und sind gegen 100 Personen erschossen worden" - für die „Deutsche Tageszeitung" eine gerechtfertigte Strafaktion für einen mörderischen Angriff von Franktireurs. 50 Bestimmte Teile der politischen Kultur in Deutschland verweigerten sich also nach wie vor einer mentalen Demobilisierung, wodurch sich Militarismus mit den neuen Formen des Rechtsradikalismus verbinden und den Sprung ins altkonservative Lager schaffen konnte. So forderte in der „Kreuz-Zeitung" auch Oberstleutnant a.D. von Stosch die Regierung zur Veröffentlichung der „Gegenliste" auf und kritisierte die fehlende amtliche Untersützung für das Buch von Stülpnagel: „Wahrlich eine bedauerliche Tatsache, wenn man bedenkt, welch' bedeutende staatliche Mittel für andere völlig überflüssige Zwecke, z.B. für die vom einseitig sozialdemokratischen Standpunkte aufgestellten Veröffentlichungen des deutschfremden Herrn Kautsky über die .vermeintliche'

47 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Bauer, Dokument 166, S. 595-596. 48 Erger, Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 1 1 - 1 0 7 . 49 B A Berlin R 901/54476, Bl. 5: „Tägliche Rundschau", 6. März 1920: „Die Kriegsgreuel der Gegner". 50 B A Berlin R 901/54450, Bl. 4, „Deutsche Tageszeitung", 13. Juni 1920.

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Schuld Deutschlands am Weltkriege, verausgabt worden sind." Ferner erregte der „fremdrassige unabhängige Sozialdemokrat Dr. Rosenfeld" das Mißfallen von Stoschs, da dieser eine Anfrage an das Reichsjustizministerium hinsichtlich des Fortschrittes der Kriegsverbrecherprozesse gerichtet hatte. 51 Es erscheint ein Komplex von rechtem Gedankengut, in dem Sozialdemokraten, Auswärtiges Amt - und damit letztlich der gesamte Weimarer Staat - und Juden als Feinde identifiziert werden. Nach dem alliierten Zugeständnis in der Auslieferungsfrage wurden 45 entsprechende Fälle ans Reichsgericht überwiesen. Diese ersten Kriegsverbrecherprozesse der deutschen Geschichte im Mai 1921 waren wiederum von einer nationalistischen Mobilisierung begleitet, die den Kundgebungen vom November 1919, als Hindenburg vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß aussagte, in nichts nachstanden. Es war in der Tat ein beispielloses Verfahren: vor einem deutschen Gericht wurden deutsche Soldaten und Offiziere vom Oberreichsanwalt aufgrund von Vorwürfen aus den ehemaligen Feindnationen angeklagt. Wie wir aus anderen Zusammenhängen wissen, waren die Gerichte in der Weimarer Zeit allerdings wenig geneigt, sich von der überkommenen Treue zum kaiserlichen System zu lösen. Es kann daher kaum überraschen, daß im ersten von der französischen Regierung eingebrachten Prozeß gegen General Stenger, der 1914 als Brigadekommandeur einen Befehl zur Tötung französischer Kriegsgefangener erteilt hatte, das Reichsgericht den Angeklagten freisprach. Die Alliierten verließen unter Protest das Gericht, die Kriegsverbrecherprozesse wurden unterbrochen. Schließlich verzichteten die Alliierten sowohl auf die Auslieferung als auch auf weitere Kriegsverbrecherprozesse. Damit hatte Deutschland 1921 bereits eine wichtige Teilrevision des Friedensvertrages erreicht. Nebenbei fuhr die Reichsanwaltschaft bis 1926 damit fort, Anklagematerial gegen die Offiziere zu sammeln, die auf der Auslieferungsliste standen, um sie förmlich außer Strafverfolgung zu setzen. Zu weiteren Kriegsverbrecherprozessen kam es jedoch nicht. Intern konnten jedoch einige Wahrheiten ausgesprochen werden. Die Untersuchungen der Reichsanwaltschaft hatten massenhaft Material zutage gefördert: Zeugenaussagen von Offizieren und Mannschaften, die an den Hinrichtungen von 1914 beteiligt waren, Aussagen von überlebenden belgischen Opfern, Entwürfe des Kriegsministeriums für die 1915 vom Auswärtigen Amt herausgegebene Verteidigungsschrift „Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs". 5 2 Diese Materialien ließen beim 51 B A Berlin, R 3003 O R A / R G Generalia/52 Bl. 20: „ N e u e Preußische Zeitung (KreuzZeitung)" 6. April 1920, Abend-Ausg.: „Zur Frage der Kriegsverbrecher'". 52 Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs. Berlin 1915. Diese Veröffentlichung wird in der Literatur häufig „Das deutsche Weißbuch" genannt. 92

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Reichsanwalt ernste Zweifel an der offiziellen deutschen Version aufkommen, man habe lediglich gerechtfertigte Maßnahmen gegen einen organisierten, illegalen Volkskrieg in Belgien und Nordfrankreich ergriffen - diese Zweifel gelangten aber niemals an die Öffentlichkeit. 53 Auch Bernhard Schwertfeger, dessen Buch „Die Grundlagen des belgischen Franktireurkrieges 1914" die beste Argumentationshilfe der Unschuldskampagne war, gab intern in einem Vortrag im Auswärtigen Amt im März 1920 zu, daß die belgischen Vorwürfe im wesentlichen zutrafen; er sprach sogar von „schrecklichen Begebenheiten, die abzuleugnen uns absolut nichts nützt." Die fortgesetzte Kriegskultur in Deutschland ließ eine Veröffentlichung solcher Zweifel innerhalb des allgemeinen Konsens der Unschuld jedoch nicht zu. 54

III. Locarno, die Erinnerung, und die Rückkehr der Kriegskultur Nach dem Verzicht der Alliierten auf die Auslieferung von Kriegsverbrechern hätte das Thema „Schuld im Kriege" aus der deutschen Politik verschwinden müssen. In der Tat konzentrierte sich das Schuldreferat nun auf die besonders nach 1924 wichtige Frage von Artikel 231 des Versailler Vertrages, da dieser die juristische Grundlage für die Reparationen bildete. Trotzdem konnte es hinsichtlich der Kriegsverbrechen von 1914 keine Amnesie geben, was exogen und endogen zu erklären ist. Die exogene Erklärung besteht in den Einflüssen der ausländischen Politik, besonders in der Erinnerung an die Opfer des Krieges in Belgien. Die endogene besteht darin, daß die revisionistische Kampagne des Schuldreferats Geister zum Leben erweckt hatte, die trotz der Bedenken des Auswärtigen Amtes nicht mehr ganz unter Kontrolle gehalten werden konnten. Zu den exogenen Faktoren, die das Erinnern förderten, zählten die Prozesse gegen mutmaßliche deutsche Kriegsverbrecher, bei denen in Frankreich und Belgien bis 1926 mehrere hundert Deutsche in Abwesenheit zu Haftstrafen, in einigen Fällen auch zum Tod verurteilt wurden. Zudem erschien in diesen Ländern eine Reihe von Veröffentlichungen, die die Vorfälle von 1914 auf lokaler und nationaler Ebene untersuchten und an die Opfer erinnerten, z.B. in Löwen und Dinant in Belgien oder im französischen Gerbeviller. Vor allem aber war es die Einweihung von Denkmälern, in Stein gemeißelter Erinnerun53 B A Berlin, R 3003 O R A / R G Generalia/51, Bl. 1 7 8 - 1 7 9 , Briefentwurf Oberreichsanwalt an das Reichswehrministerium T V - A , 7. Januar 1921. 54 B A Koblenz, N L 15/402, Vortrag 12. März 1920, S. 1 9 - 2 1 .

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gen an den Krieg, die wiederholt zu Spannungen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn führten. Dazu nur ein Beispiel: Die innozentistische Zeitschrift „Der Weg zur Freiheit" protestierte gegen die Einweihung eines Kriegerdenkmals in Dinant, wo 674 Zivilisten hingerichtet worden waren. Das Denkmal zeigte in zwei von insgesamt neun Reliefs am Sockel des Monuments eine Gruppe von Frauen und Kindern, ihnen gegenüber standen drei deutsche Soldaten, die auf Befehl eines Offiziers auf die Zivilisten schössen. Für die deutsche Zeitschrift diente diese Darstellung der Verewigung einer „Legende von der standrechtlichen Erschießung", der „Verewigung des Hasses". 55 Schwerwiegender als die exogenen Ursachen waren für das Wiederaufleben des Themas in den Jahren 1926-27 endogene Gründe. Besonders nach dem Abkommen von Locarno wäre es dem Auswärtigen Amt sicherlich lieber gewesen, wenn die Frage der „Schuld im Kriege" einfach aus der Welt verschwinden könnte. Das hauseigene Schuldreferat, das bekanntlich mit einem üppigen Etat eine Schar von pseudowissenschaftlichen Instituten und Veröffentlichungen finanzierte und freiberufliche Autoren im In- und Ausland beschäftigte, beharrte jedoch auf einer Politik der fortgesetzten Erinnerung. 1926 ging das Reichswehrministerium in die Offensive. Reichswehrminister Geßler erklärte in einem Schreiben an das Auswärtige Amt: „Mit Sicherheit kann jetzt gesagt werden, daß die Verbreitung der Lügen über unsere Kriegführung, kurz über die angeblichen deutschen Barbareien, unserem Ruf (...) weit abträglicher gewesen ist, als die falsche Behauptung von der politischen Alleinschuld Deutschlands an der Herbeiführung (...) des Krieges." 56 Nachdem das Reichsgericht seine Arbeiten zur Widerlegung der deutschen Schuld abgeschlossen hatte und Deutschlands Eintritt in den Völkerbund bevorstand, schlug Geßler dem Auswärtigen Amt einen „geistigen Kampf gegen die falschen Anschuldigungen" vor. Es ging ihm um die Wiederherstellung des internationalen und nationalen Prestige der deutschen Armee; anders gesagt, um die mentale Remobilisierung Deutschlands. Es paßte daher pefekt in das Kalkül des Reichswehrministeriums, daß im Mai 1927 schließlich der Bericht des Untersuchungsausschusses des Reichstages zum Thema „Völkerrecht im Kriege" erschien. Seit 1920 hatten sich drei Unterausschüsse mit dem Thema befaßt. Obwohl erste Ergebnisse bereits 1921 und 1924 vorlagen, hatte das Auswärtige Amt das Erscheinen des Berichts aus Furcht vor außenpolitischen Nachteilen bislang verhindert. In der Tat hatte das Schuldreferat einen entscheidenden Einfluß auf die Arbeit des nur dem Anschein nach unabhängigen parlamentarischen Aus-

55 „Der Weg zur Freiheit", 7. Jg., Nr. 19, 1. Oktober 1927, S. 293. 56 P A A A Bonn, 26578, Geßler, Reichswehrministerium an das A A , 22. Februar 1926. 94

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schusses. Der Bericht stellte eine Wiederholung der amtlichen deutschen Stellungnahme des „Weißbuches" von 1915 dar. Er befand, daß die belgischen Vorwürfe gegen die deutsche Kriegführung haltlos seien. Tatsächlich habe es, wie einmal mehr behauptet wurde, einen belgischen Volkskrieg gegeben, an dem sich die gesamte Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen, Kindern und Priestern, unter Einsatz von solchen Waffen wie Schrotflinten, Dolchen, und kochendem Ol beteiligt habe. Als historisch-politische Forschungsarbeit war der Bericht unzulänglich: Der Ausschuß hatte weder in die Heeresakten Einsicht genommen, noch die umfangreichen belgischen Veröffentlichungen berücksichtigt. Obwohl er die wildesten, aus der Kriegshysterie geborenen Phantasien enthielt, sprachen sich die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien, vor allem Zentrum und DDP, vorbehaltlos für den Bericht aus. Die SPDAusschußmitglieder meldeten angesichts der mangelnden Objektivität ernste Bedenken an und warfen der bürgerlichen Mehrheit vor, sie versuche die Legende der deutschen Unschuld aufrechtzuerhalten. Die DNVP und die völkische Rechte freuten sich über die Gelegenheit, der SPD mit Uberschriften wie „Anwälte der Entente im Reichstag" einmal mehr vaterlandslose Gesinnung vorzuwerfen. 57 Die Revisionsbewegung brachte eine Kurzfassung des Berichts als Taschenbuch heraus. Nach 1933 schließlich setzte sich das neue Regime über die Bedenken des Auswärtigen Amtes hinweg, um den Bericht gezielt als Waffe gegen die „Greuelpropaganda" der Alliierten zu benutzen. Ganz zu Recht urteilte 1927 die pazifistische Zeitschrift „Die Menschheit", der Reichstag habe mit diesem Bericht nicht die Wahrheit, sondern das nationale Interesse gesucht; es sei nicht der Geist von Locarno, sondern der Geist von 1914, der ihn leite.58 In diesem Aufsatz soll keine Geschichte der verpaßten Gelegenheiten präsentiert werden - es ist ungewiß, ob das Eingeständnis der „Schuld im Kriege" die Alliierten zu einem gänzlich anderen, milderen Friedensvertrag geführt und das Schicksal der Weimarer Republik in einem entscheidenden Punkt auf andere Weise beeinflußt worden wäre. Unbestreitbar jedoch hätte eine genuin selbstkritische Untersuchung einen Bruch zwischen den demokratischen Politikern und der Reichswehr herbeigeführt, der auf jeden Fall die Stabilität der Republik gefährdet hätte. O b dies eher eine Chance oder ein Risiko bedeutet hätte, bleibt der Wertung des Betrachters überlassen. Es dürfte jedenfalls kaum zu bestreiten sein, daß endogene, nicht exogene Faktoren für das Wiederaufleben der Kriegskultur in Deutschland verantwortlich waren. Die Krise um die Auslieferung von 1920, das Scheitern der Kriegs-

57 Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 203. 58 H . Frank, „Kriegsreichstag 1927", in: „Die Menschheit", 27. Mai 1927.

Der Umgang mit der Schuld

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Verbrecherprozesse im Jahre 1921 und schließlich der Bericht des Untersuchungsausschusses von 1927 stellten die Außenpolitik des demokratischen Staats auf den Prüfstein. Die erbitterten Auseinandersetzungen darüber haben nicht nur gezeigt, daß die Reichswehr sich dem neuen Geist von Demokratie und Völkerverständigung der Locarno-Ara verschlossen hatte das wußten wir bereits - sondern auch, daß sich das gesamte Establishment einschließlich des Auswärtigen Amtes und der bürgerlichen Mehrheit im Reichstag durch die Abwehr der Schuld im letzten Krieg mit der alten Armee solidarisch erklärte und somit einer mentalen Remobilisierung vorsätzlich Vorschub leistete.

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Eine politische Karriere zwischen Zusammenbruch und Wiederaufbau Die Wirkung des Umbruchs von 1918/19 auf Gustav Stresemann* JONATHAN R . C . WRIGHT

Thema dieses Beitrags ist die Komplexität der Auswirkungen von Niederlage und Revolution, betrachtet anhand des Beispiels von Gustav Stresemann. Wie überwand Stresemann den Schock der Niederlage und den scheinbaren Ruin seiner politischen Karriere in den Jahren 1918-19, um nach 1923 zu einem der maßgeblichen Politiker der Weimarer Republik und zu einem europäischen Staatsmann zu werden? Welche Rolle spielten die Krisen von 1918/19 in diesem Prozeß? Frühere Interpretationen der Entwicklung Stresemanns haben beträchtlich voneinander abgewichen: ihre Bandbreite reicht von der Theorie einer plötzlichen Einsicht verbunden mit einer Art „DamaskusErlebnis", die eine seiner frühesten Biographinnen - und Verehrerin - Antonina Vallentin1 aufgestellt hat, bis hin zu einem graduellen Prozeß des ,SichAbfindens' mit der Republik2 und von einer nur mehr taktischen Adjustierung seines Ziels eines .Größeren Deutschland' in Europa 3 bis hin zu der

Aus dem Englischen von P. O . Cohrs. 1 Vallentin datiert Stresemanns „Weg nach Damaskus" auf den Zeitpunkt einer Unterredung mit dem vormaligen Staatssekretär im Reichsschatzamt und Reichsamt des Inneren, Karl Helfferich, im Spätherbst des Jahres 1922 über die Gründe für das Scheitern der U-BootKampagne der Reichsmarine im Ersten Weltkrieg. Helfferich offenbarte, daß die Admiralität die Anzahl der hierzu nötigen U-Boote völlig falsch veranschlagt hatte. A. Vallentin, Stresemann, London 1931, S. 40-42; dt. Ausgabe: Stresemann. Vom Werden einer Staatsidee, München/Leipzig 1948, S. 42—44. Vallentin mag richtig damit liegen, die Bedeutung der Einsicht Stresemanns zu unterstreichen, daß die Männer innerhalb der Obersten Heeresleitung und der Admiralität, denen er vertraut hatte, sich als inkompetent erwiesen hatten. Aber er war zu diesem Schluß bereits unmittelbar nach der Niederlage des Deutschen Reiches im Oktober 1918 gekommen. Siehe unten, S. 98. 2 H. Ashby Turner, Stresemann and the Politics of the Weimar Republic, Princeton 1963; dt. Ausgabe: Stresemann - Republikaner aus Vernunft, Berlin/Frankfurt a.M. 1968. 3 A. Thimme, Gustav Stresemann. Eine politische Biographie zur Geschichte der Weimarer Republik, Hannover/Frankfurt a.M. 1957. Gustav Stresemann

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These von der Entwicklung eines aufrichtigen Glaubens an .kollektive Sicherheit' im Rahmen des Völkerbunds. 4 Niemand - nicht einmal Vallentin - würde behaupten, daß der Wechsel der Loyalitäten Stresemanns von einem .Saulus des Kaiserreichs' zu einem ,Paulus der Republik' in einer dramatischen Episode in den Jahren 1918-19 bereits vollendet war. Es liegen zu viele Beweise für die in seiner Gedankenbildung vorherrschende Verwirrung vor, und letztere zeigt sich noch immer in seinem Versäumnis, den Kapp-Putsch im März 1920 ohne Zögern zu verurteilen. Nichtsdestoweniger ist bemerkenswert, wie klar er bereits im Jahre 1919 Kernelemente seiner zukünftigen politischen Strategie formulierte. Auf einer Sitzung des Zentralvorstandes der neuen Deutschen Volkspartei im April 1919 beschrieb er es als ihre „parteigeschichtliche Aufgabe", wieder wie die vormalige Nationalliberale Partei die „alte Mittelpartei, (...) die kein Staatsleben entbehren kann", zu werden, und er blickte mit Freude voraus auf die Zeit, da sie sich erneut in einer Regierung der historischen Aufgabe stellen würde, „zum Wiederaufbau Deutschlands unsere Kräfte zur Verfügung zu stellen". 5 Bedenkt man, daß die DVP in dieser Phase eine der beiden kleinsten Parteien war - mit nur 22 Sitzen in der Nationalversammlung - so erscheint diese Sprache verblüffend. Stresemann war selbst zu diesem Zeitpunkt entschlossen, daß ,seine' kleine Partei keinesfalls nur - wie es ihre natürliche Zukunft zu sein schien - ein Juniorpartner der DNVP in ständiger Opposition zur republikanischen Regierung werden sollte. Stresemann formulierte zu diesem frühen Zeitpunkt des weiteren bereits Schlüsselkonzepte seiner zukünftigen Außenpolitik. In Diskussionen über das Parteiprogramm der DVP im August 1919 verwies er darauf, daß ungeachtet all des Geredes über den Völkerbund weiterhin - wie üblich - Machtpolitik betrieben werde, und er nannte es das Ziel deutscher Politik, „wieder bündnisfähig zu werden". 6 Im Verlauf der folgenden Monaten erwog er verschiedene Wege, auf denen dieses Ziel in die Praxis umgesetzt werden konnte - und dies schloß nicht zuletzt ein, sich die ökonomische Bedeutung Deutschlands für die Zukunft Europas zunutze zu machen. Die Sprache Keynes' aufnehmend, schrieb er Ende des Jahres 1919 im Parteiblatt „Deutsche Stim-

4 C. Baechler, Gustave Stresemann (1878-1929). De l'impérialisme à la sécurité collective, Straßburg 1996. 5 Stresemanns Rede vor dem Zentralvorstand der DVP v. 12.4.1919; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin, Nachlaß Stresemann, Bd. 203. E. Kolb, L. Richter (Hg.), Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Volkspartei, Düsseldorf, 1999, S. 79-81. 6 Protokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der DVP v. 24.8.1919; Bundesarchiv Koblenz, R 45 II/50. Kolb/Richter, ibid., S. 179. 98

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men": „Die große Frage unserer Wiederaufrichtung ist die, ob es uns gelingt, eine internationale Verständigung herbeizuführen, die den Zusammenbruch Deutschlands und damit den Zusammenbruch Europas verhindert." 7 Die Idee, nationale Interessen mit der wirtschaftlichen Interdependenz Europas zu verknüpfen, um so die Revision des Versailler Vertrags zu erreichen, war in seinen Gedanken mithin bereits zu diesem Zeitpunkt präsent. Was versetzte Stresemann in die Lage, Kernelemente seiner zukünftigen innen- und außenpolitischen Strategie so rasch nach dem Schock von Niederlage und Revolution in Worte zu fassen? Die Antwort liegt meines Erachtens in der Verbindung eines rapiden Lernprozesses, der durch eine scharfe Reaktion gegen die kaiserlichen Autoritäten gekennzeichnet war, auf die er vormals vertraut hatte, und der Sicherheit gebenden Beibehaltung wichtiger Kontinuitätselemente im Bereich der inneren wie der äußeren Politik, auf die er sich beziehen konnte. Es gab jedoch auch widersprüchliche Einflüsse, die aus der Art und Weise resultierten, in der er von den republikanischen Mehrheitsparteien verschmäht und von seinen vormaligen politischen Mitstreitern verlassen wurde. Dies schuf emotionale Barrieren, die Stresemann eine Akzeptanz der Republik erschwerten und auch den Prozeß seiner Anpassung an die Gegebenheiten der Nachkriegszeit insgesamt schwieriger gestalteten. Der Schock, in den die Niederlage Stresemann versetzte, ist gut dokumentiert. Er hatte sich und seine Partei fast bis zum bitteren Ende mit dem Sieg identifiziert und gegen einen Kompromißfrieden Stellung bezogen. Er gestand ein, daß ihn die Nachricht, die Oberste Heeresleitung bestehe auf einen augenblicklichen Waffenstillstand, am 2. Oktober 1918 „wie ein Keulenschlag" getroffen habe; 8 und als am selben Nachmittag Prinz Max von Baden seine Hoffnungen enttäuschte, in die neue Regierung einzutreten, begann er sich bewußt zu machen, daß Deutschlands Niederlage auch ihn politisch verwundbar machen würde. 9 Am 8. Oktober notierte er in seinem Tagebuch neben dem Friedensangebot Prinz Max von Badens: „Empfindung: finis germaniae".10 Es ist wichtig festzuhalten, daß Stresemann in dieser Phase weder nach einer Erklärung für die Niederlage noch nach einem Weg suchte, seine Karriere dadurch zu retten, daß er die Schuld für den Zusammenbruch auf die Heimat-

7 „Politische Umschau", 31.12.1919, „Deutsche Stimmen", 32. Jg., N r . 1, 4.1.1920. 8 „Politische Umschau", 31.10.1918, „Deutsche Stimmen", 30. Jg., N r . 44, 3.11.1918. 9 In seinen Erinnerungen hielt Prinz Max von Baden in bezug auf eine Unterredung zwischen ihm und „dem Abgeordneten Stresemann" am 2. Oktober 1918 fest: „Stresemann war betroffen durch meine Erklärung, daß ich ihn und seine Gesinnungsgenossen in der Opposition brauche, aber nicht in der Regierung." Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin/Leipzig 1927, S. 343. 10 Notiz-Kalender 1918, Nachlaß Stresemann, Bd. 362.

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front abwälzte. Er war zu nahe am Zentrum des Geschehens gewesen, und zu ehrlich, als daß er auf die ihm zupaß kommende .Dolchstoßlegende* verfallen wäre. Statt dessen stellte er auf einem Treffen lokaler Funktionäre der Nationalliberalen Partei am 13. Oktober mit aller Schärfe das Versagen des Hofes und der Obersten Heeresleitung an den Pranger. 11 Er sprach von ,,ein[em] völlige[n] Zusammenbruch unserer Obersten Heeresleitung". Als Hauptursache hierfür brachte er wie folgt auf den Punkt: Die „Verkennung der tatsächlichen Macht unserer Feinde war unser größter Fehler, auch der O H L (...). Der größte Versager war das Reichsmarineamt". Auch übte Stresemann Kritik am Kaiser für seinen „Zickzackkurs" vor dem Krieg, und er kritisierte den Kronprinz dafür, daß er hohe Offiziere abgesetzt habe, „da sie sich weigerten, seine Mätressen zu grüßen". Sein Verdikt über das kaiserliche Regime war kategorisch: „daß das alte System absolut abgewirtschaftet habe, nicht mehr zu halten sei und auch nicht verdient habe, länger zu bestehen". Auf der anderen Seite beschrieb er die Haltung der Sozialdemokraten, insbesondere jene Eberts, als „musterhaft". Stresemann sollte seine Haltung im Laufe der folgenden Wochen revidieren, aber er ging nie wieder hinter die Erkenntnis zurück, daß Deutschland besiegt worden war. Dies war der entscheidende erste Schritt auf dem Weg zu einem selbständigen Nachdenken über auswärtige Politik. Die Ereignisse des Novembers 1918, die Revolution ebenso wie die Disintegration der Nationalliberalen Partei, verwandelten indes die Stimmung Stresemanns in ein wachsendes Ressentiment gegen die neuen republikanischen Autoritäten. Er war schockiert über die Revolution, die er schlichtweg für unnötig hielt, als das Prinzip einer parlamentarischen Regierungsform im Oktober die Oberhand behalten hatte; und am 9. November bestürmte ihn die alarmierende Empfindung, die Macht entgleite der Kontrolle der Parteien, selbst der SPD, und gehe zu den auf den Straßen demonstrierenden Menschenmengen über. Stresemann verbrachte den größten Teil des Tages im Reichstag und nahm an fruchtlosen Treffen mit seinen Kollegen teil, bis ihnen von bewaffneten Arbeitern befohlen wurde, das Gebäude zu verlassen. Abends versuchte er zurückzukehren, fand den Weg jedoch versperrt. 12 Sein Tagebuch hält fest, daß auf dem Lehrter Bahnhof Schüsse abgegeben wurden, und daß es an den darauffolgenden zwei Tagen unter Beteiligung von Gruppen des Spartakusbundes zu noch mehr Schießereien kam - in der Wilhelmstraße und anderswo. 13

11 Ein Bericht eines Anwesenden findet sich in Stresemanns Nachlaß, Bd. 180. Er ist abgedruckt in E. Matthias/R. Morsey (Hg.), Die Regierung des Prinzen Max von Baden, Düsseldorf 1962, S. 178-80. 12 „Zum Jahrestag der Revolution", 5.11.1919, „Deutsche Stimmen'', 31. Jg., Nr. 45,9.11.1919. 13 Tagebucheintragungen für den 9.-11. November 1918; Notiz-Kalender 1918, Nachlaß Stresemann, Bd. 362. 100

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Mit aller Macht in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte schien sich Deutschland gefährlich nahe auf das zuzubewegen, was Stresemann „russische Zustände" nannte, obgleich er eingestand, daß man dem „Abgrund des Bolschewismus" bislang noch entronnen sei. 14 Im Verlauf der folgenden drei Wochen richtete sich Stresemanns Wirken ganz auf die verzweifelte Anstrengung, seine politische Basis zu erhalten. Nachdem er im September 1917 zum Vorsitzenden der Nationalliberalen Partei im Reichstag gewählt und auch zum Nachfolger im Vorsitz des Zentralvorstands designiert worden war, sah er sich an die Seite gedrängt durch die reißende Entwicklung hin zur Schaffung einer neuen vereinigten liberale Partei im Verbund mit den Fortschrittlichen und der neuen Gruppe der Demokraten auf der Linken. Die Nationalliberalen waren aufgrund ihrer Kriegszielpolitik, und weil sich die preußische Partei ungeachtet des Drängens Stresemanns einer Reform des preußischen Wahlrechts widersetzt hatte, in die Defensive geraten. Dies ermöglichte es den Demokraten, die Bedingungen der Vereinigung zu bestimmen. Stresemann galt aufgrund seiner prominenten Rolle als Vertreter expansionistischer Kriegsziele als kompromittiert und fand sich mehr und mehr isoliert. Andere Nationalliberale, die Stresemanns Ansichten geteilt, sich jedoch mehr in Deckung gehalten hatten, flüchteten sich jetzt zu den Demokraten. Stresemanns Stimmung wurde nicht dadurch gebessert, daß sein Schwager, Kurt von Kleefeld, auf Seiten der Demokraten an den Verhandlungen beteiligt war und ihn als „Meine[n] arme[n] unglückliche[n] irregeleitete[n] Schwager" bezeichnete. 15 Schließlich sah selbst Robert Friedberg, der als Vorsitzender der preußischen Partei den konservativen Flügel der Nationalliberalen repräsentiert hatte, keine Alternative mehr zur Akzeptanz der Bedingungen der Demokraten. Stresemann war tief getroffen. Am 20. November notierte er in seinem Tagebuch: „Tief deprimiert über Abfall früherer Freunde", und am 3. Dezember: „Friedberg vollzieht Kapitulation vor Demokratischer] Partei". 1 6 Wolfgang Stresemann gab sechzig Jahre später an, er könne sich noch immer an den wütenden Ton seines Vaters am Telephon erinnern, als ihn die Neuigkeit vom Abfall Friedbergs erreichte. 17 Stresemann bewegte sich jetzt nach rechts. Er attackierte die Republik und die republikanischen Parteien und entdeckte eine neue Nostalgie nach dem

14 „Politische Umschau", 12.11.1918, „Deutsche Stimmen", 30. Jg., Nr. 46, 17.11.1918. 15 Notiz-Kalender 1918, Eintrag für den 15. November; Nachlaß Stresemann, Bd. 362. 16 Ebd., vgl. auch W. Hartenstein, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918-1920, Düsseldorf 1962, S. 7-33. 17 W. Stresemann, Mein Vater Gustav Stresemann, München/Berlin 1979, S. 159. Gustav Stresemann

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Kaiserreich. 18 Dies traf sich mit der politischen Notwendigkeit, wieder eine Wahlplattform rechter Liberaler gegen die Demokraten zu begründen. Und es entsprach nicht minder einem emotionalen Bedürfnis, seinen Ruf zu retten und gegen jene zurückzuschlagen, die sich an seiner Nemesis weideten. Stresemann wußte, daß sein Urteil über den Krieg falsch gewesen war, aber er wußte auch, daß er sich mit dieser Fehleinschätzung in guter Gesellschaft befunden hatte. Es gebe auf einmal, mokierte er sich, „unendlich viele Republikaner, die mit Inbrunst anbeten, was sie vordem verdammten", aber es gebe auch „Hunderttausende und Millionen, die ihre im Laufe eines Lebens erworbene Uberzeugung nicht wie ein Taschentuch zu wechseln vermögen". 1 9 Der Mangel der deutschen Mittelklasse an Charakter und moralischer Substanz wurde zu einem seiner Standardthemen. Sie hatte es nicht vermocht, ein liberales Gegengewicht zum persönlichen Regiment des Kaisers zu bilden, und von ,,Byzantiner[n] des Kaisertums" waren viele Angehörige ebendieser Schicht zu „Byzantinern] der Republik" geworden. 20 Nicht minder kritisierte er ihren hiermit einhergehenden Mangel an Würde in der Niederlage, den sklavischen Versuch, sich durch eine Loslösung von der deutschen Vergangenheit bei Präsident Wilson lieb Kind zu machen. 21 Er übernahm jetzt eine modifizierte Version der ,Dolchstoßlegende', indem er argumentierte, daß Deutschland in der Lage gewesen wäre, mit den Alliierten bessere Friedensbedingungen auszuhandeln, wenn es die Revolution nicht gegeben hätte. 22 Der Versailler Vertrag, dessen Bestimmungen am 7. Mai 1919 bekannt wurden, schien Stresemanns Warnung zu bestätigen, daß, wenn es eine Illusion gewesen war, an einen deutschen Sieg zu glauben, es eine weit größere Illusion gewesen war, darauf zu vertrauen, daß Präsident Wilson einen gerechten Frieden bringen würde. 23 Auf diesem Wege half der Versailler Ver-

l s In Replik auf einen Demokraten, der gesagt hatte, daß man „mit einem Ruf der Befreiung den Zusammenbruch des alten morschen Systems" willkommen heißen solle, schrieb Stresemann: „Gewiß war manches - nicht alles - morsch. Aber das, was uns jetzt entgegentritt, das darf wahrlich nach den bisherigen Taten den Anspruch nicht erheben, uns Besseres geboten zu haben". „Politische Umschau", 26.11.1918, „Deutsche Stimmen", 30. Jg., N r . 48, 1.12.1918. 19 „Politische U m s c h a u " , 10.12.1918, „Deutsche Stimmen", 30. Jg., N r . 50, 15.12.1918. 20 „Politische Umschau", 3.2.1919, „Deutsche Stimmen", 31. Jg., N r . 6, 9.2.1919. 21 Rede in Berlin, 22.2.1919; G. Stresemann, Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles, Berlin 1919, S. 117-19. 22 ,Zum Jahrestag der Revolution', 5.11.1919, „Deutsche Stimmen", 31. Jg., N r . 45, 9.11.1919. 23 Rede auf dem Parteitage der Deutschen Volkspartei zu Jena am 13. April 1919; Stresemann, Von der Revolution, S. 161-62. 102

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trag Stresemann - paradoxerweise - dabei, seine Karriere zu retten und sein Selbstbewußtsein wiederherzustellen. Er konnte letzten Endes ja behaupten, recht behalten zu haben.24 Das Ziel der westlichen Alliierten sei immer die Zerstörung Deutschlands gewesen; ihre Proklamation einer neuen Weltordnung sei Heuchelei gewesen. Es habe somit niemals eine wirkliche Chance für einen Kompromißfrieden gegeben sondern nur, wie er angenommen habe, Sieg oder Niederlage. Internationale Politik werde durch Macht, nicht durch Idealismus, bestimmt. „Der Wilsontraum war ausgeträumt". 25 Stresemann ging zur Offensive über und genoß es, die republikanischen Parteien, insbesondere die Demokraten zu attackieren. Er schreckte nicht davor zurück, sich gegen die Demokraten eines verschleierten Antisemitismus zu bedienen, und beschuldigte sie eines „kosmopolitischen Denken[s]" - im Gegensatz zur „deutschbewußten Empfindung" der DVP. 26 Zudem griff er sie an einem wunden Punkt an: ihrem Unvermögen, Verstaatlichungsmaßnahmen Einhalt zu gebieten, wie es ihre der Mittelklasse zugehörigen Anhänger von ihnen erwartet hatten. Die Demokraten hatten 1919 für sich in Anspruch genommen, „die ausschlaggebende Partei" zu sein, hatten sich de facto aber nur als „das Beiwägelchen der Sozialdemokratie" erwiesen. 27 Im übrigen unterstrich die DVP ihre antirepublikanische Linie, indem sie gegen die Weimarer Verfassung stimmte, obwohl man andererseits - nach etlichen Diskussionen - davon Abstand nahm, sich auf eine Restauration der Monarchie festzulegen. 28 Als jedoch Philip Scheidemann suggerierte, daß die DVP-Abgeordneten sich zu „Vernunftrepublikanern" entwickeln würden, wies Stresemann diese Beschreibung entschieden zurück, und führte aus, daß seit der Revolution im Gegenteil viele Republikaner zu „Vernunftmonarchisten" geworden seien.29 Seine Haltung vom Oktober 1918 komplett umkehrend, versuchte Stresemann im übrigen, die DVP mit der vormaligen Ober-

24 Anläßlich einer Diskussion über das außenpolitische Programm der D V P sagte Stresemann: „Wir haben jetzt schon mit unserem Standpunkt mehr Recht, als wir ahnten". Protokolle des Treffens des Geschäftsführenden Ausschusses v. 24.8.1919; Bundesarchiv Koblenz, R45 11/50. Kolb/Richter (Hg.), Nationalliberalismus, S. 179. 25 „Politische Umschau", 22.6.1919, „Deutsche Stimmen", 31. Jg., Nr. 26, 29.6.1919; erneut gedr. als „Das bittere Ende" in Stresemann, Von der Revolution, S. 172-80, hier: S. 175. 26 Rede auf dem Parteitage der Deutschen Volkspartei zu Jena am 13. April 1919; Stresemann, V o n der Revolution, S. 1 5 8 - 9 . 27 Stresemanns Rede auf dem Zweiten Parteitag der DVP, 18. Oktober 1919; Bericht über den Zweiten Parteitag der Deutschen Volkspartei am 18., 19. u. 20. Oktober 1 9 1 9 im Kristallpalast in Leipzig, Berlin 1919, S. 2 0 - 2 1 . 28 Hartenstein, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei, S. 106-20. 29 Rede des Abgeordneten Dr. Stresemann zu Magdeburg am 3. November 1919, Magdeburg o . J . [1919], S. 29.

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sten Heeresleitung zu assoziieren, indem er die Idee unterstützte, daß Hindenburg für die Wahl zum Reichspräsidenten kandidieren solle, und von den „Siegfriedgestalten Hindenburgs und Ludendorffs" sprach, welche er von den „traurigen Epigonen in ihrer Erbärmlichkeit" abhob, die von der Nationalversammlung damit beauftragt worden waren, die Gründe für Deutschlands Niederlage zu erforschen. 30 Ende des Jahres 1919 stand Stresemann noch immer ein langer Prozeß der Anpassung an die neue innere wie äußere Ordnung bevor. Er sollte den Völkerbund später gegen dessen Kritiker verteidigen und ihn mit der erfolglosen Kabinettspolitik der Vorkriegszeit kontrastieren. 31 Zudem war er später auch bereit, sich als „Vernunftrepublikaner" bezeichnen zu lassen. 32 Und 1925 erfüllte ihn die Aussicht auf eine Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten mit großem Unbehagen. 33 Er nahm jedoch - wie wir gesehen haben - 1919 trotz der desorientierenden Wirkung, die Niederlage und Revolution auf ihn hatten, bereits wichtige Elemente seiner zukünftigen Strategie voraus. Wie war ihm dies möglich? U m mit der Innenpolitik den Anfang zu machen: Das hervorstechendste Merkmal der Haltung Stresemanns im Jahre 1919 ist, daß er sich nicht mit der Oppositionsrolle zufriedengab. Er blickte mit Vorfreude auf die Zeit voraus, da die D V P in die Regierung eintreten würde. Dies war keine einfache Zielsetzung, auf die man hinarbeiten konnte. Die DVP konnte nur dann zu einem ernsthaften Anwärter auf die Regierungsmacht werden, wenn sie jene nationalliberalen Wähler zurückgewann, die zu den Demokraten übergegangen waren. Dies jedoch bedeutete, daß man die Demokraten dafür attackieren mußte, daß sie im Januar 1919 eine Koalition mit den Sozialdemokraten und der Zentrumspartei eingegangen waren. Indes konnte Stresemann andererseits nicht verhehlen, daß er selbst, sofern sich seine Strategie als erfolgreich erwies, darauf hoffte, eine Koalition mit ebendiesen Parteien einzugehen. In der Zwi-

30 Siehe den Bericht über eine Rede Stresemanns auf dem DVP-Vertretertag für Westphalen in Dortmund, „Kölnische Zeitung", 17. November 1919, und „Der Untersuchungsausschuß", 19.11.1919, in „Deutsche Stimmen", 31. Jg., Nr. 47, 23.11.1919. 31 Rede auf dem DVP-Parteitag in Köln, 2. Oktober 1926; „Nationalliberale Correspondenz", Sonderausgabe, „Siebenter Reichsparteitag am 2. und 3. Oktober 1926". 32 Als im April 1924 Wilhelm Sollmann, ein ehemaliger Minister der SPD im Kabinett Stresemanns, diesen Begriff auf ihn münzte, sagte Stresemann, er habe angenommen, sein eigener Parteikollege, Wihelm Kahl, habe diesen zuerst benutzt - anscheinend hatte er den Vorfall mit Scheidemann im Jahre 1919 vergessen. „Kölnische Zeitung", 29.4.1924; H. Bernhard (Hg.), Gustav Stresemann. Vermächtnis, Bd. 1, Berlin 1932, S. 326-28. 33 Graf Kessler beschrieb Stresemann als „unverhohlen und ehrlich verzweifelt über Hindenburgs Kandidatur". H. Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, Frankfurt a.M. 1961, Eintrag für den 19. April 1925, S. 435. 104

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schenzeit mußte er die D V P auch auf Abstand zur D N V P halten - ungeachtet ihrer gemeinsamen Plattform in der Opposition. Diese komplizierten taktischen Manöver erforderten eine geschickte Führungsarbeit, dies insbesondere insofern, als die D V P den alten rechten Flügel der Nationalliberalen Partei miteinschloß, dessen Stammland das Ruhrgebiet war und der eine Allianz mit der D N V P befürwortete. Stresemann leistete ihrem Druck hartnäckig Widerstand und führte hierbei eine Reihe von Argumenten ins Feld: die Opposition von Teilen der D N V P zur parlamentarischen Regierungsform; die Gefahr, daß die deutsche Politik zwischen jenen, die für sich in Anspruch nahmen, die „nationale Partei" zu sein, und dem Rest polarisiert werde; die Tatsache, daß die Parteien auf dem rechten Flügel in jedem Falle keine Mehrheit haben würden, und deshalb daß die DVP zu einer Zusammenarbeit mit der SPD in Sachen des wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus der Nation gezwungen war, wenn sie Einfluß auf die Regierung gewinnen wollte. Sich darauf festzulegen, eine Koalition nur mit der D N V P einzugehen, hätte die D V P Stresemanns Voraussage zufolge zu „eine[r] Farce" herabgewürdigt. 34 Stresemanns Führungskraft erwies sich als entscheidend nicht nur für die Zukunft der DVP, die ihren Stimmenanteil bei den folgenden Wahlen im Juni 1920 zu Lasten der Demokraten verdreifachte, sondern auch für die Zukunft der Koalitionsregierungen in der Weimarer Republik bis zu seinem Tode im Jahre 1929. Was brachte ihn dazu, eine solch weitsichtige Strategie zu verfolgen? Es lassen sich meines Erachtens hierfür zwei maßgebliche Faktoren ausmachen. Erstens: das Wesen seiner politischen Ambitionen. Seit den allerersten Anfängen seiner Karriere in Sachsen hatte sein Interesse der Macht, nicht der Opposition, gegolten. In der Politik wie im Wirtschaftlichen war er bestrebt, Entscheidungen zu treffen, anstatt nurmehr Posen einzunehmen. 35 Als die große Epoche der Nationalliberalen Partei galt ihm die Zeit, als diese dazu beigetragen hatte, die deutsche Vereinigung herbeizuführen. Für einen Politiker von Stresemanns Ambitionen und Talenten gab das Deutsche Kaiserreich selbst hingegen ein frustrierendes Umfeld ab. Ohne eine parlamen-

34 Protokolle der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der D V P v. 28.1.1920 u. 4.3.1920; Bundesarchiv Koblenz, R45 11/51. Kolb/Richter (Hg.), Nationalliberalismus, S. 210-33. Siehe auch Stresemanns Ansprache auf dem Zweiten DVP-Parteitag, Bericht über den Zweiten Parteitag der Deutschen Volkspartei, Berlin 1919, S. 2 4 - 2 6 und Hartenstein, Anfänge der Deutschen Volkspartei, S. 136—42. 35 Es liegt eine exzellente Darstellung der Vorkriegskarriere Stresemanns vor: K. H. Pohl, Sachsen, Stresemann und die nationalliberale Partei. Anmerkungen zur politischen Entwicklung, zum Aufstieg des industriellen Bürgertums und zur frühen Tätigkeit Stresemanns im Königreich Sachsen vor 1914, in: Jahrbuch für Liberalismusforschung 4 (1992), S. 197-216.

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tarische Regierungsform war es für einen Abkömmling der unteren Mittelklasse zu keinem Zeitpunkt sehr wahrscheinlich, ein Regierungsamt bekleiden zu können. Während des Krieges kritisierte Stresemann, was er als die politischen Fehlschläge dieses Systems ansah, und er unterstützte eine Reform der Verfassung. 36 Obgleich er sich gegen seine Vorschläge für einen Kompromißfrieden wandte, kooperierte Stresemann mit dem parteiübergreifenden Komitee, das von der SPD, den Zentrums- und den Fortschrittlichen Parteien 1917 zur Beratung über Reformfragen gebildet wurde. Als das Prinzip der parlamentarischen Regierungsform im Oktober 1918 tatsächlich durchgesetzt wurde, erwartete Stresemann, an dieser neuen Regierung beteiligt zu werden, und fühlte sich betrogen, als Max von Baden ihn abwies. Vor diesem Hintergrund weist das Ziel, das er der D V P im Jahre 1919 vorgab, eine starke Kontinuität mit seinen früheren Ansichten auf. Was gab Stresemann die Gewißheit, daß dies möglich sein würde? Die Antwort auf diese Frage verweist auf den zweiten der obengenannten Faktoren. Trotz Niederlage und Revolution glaubte Stresemann nicht, daß das Parteiensystem einen grundsätzlichen Wandel erfahren hatte. Insbesondere war er nicht der Auffassung, daß der Erfolg der Demokraten im Januar 1919 den liberalen Stimmenanteil zutreffend widerspiegelte. Er dachte weiterhin, daß sich trotz Niederlage und Revolution die natürliche Trennung von Rechtsund Linksliberalen, die in der Vorkriegszeit vorgeherrscht hatte, erneut durchsetzen würde. Auf der ersten Tagung des Zentralvorstandes der D V P sprach er von den „Hunderttausendefn], ja, Millionen, (...) die in ganz falscher Auffassung der Sachlage zur Demokratie hinübergegangen sind, ohne daß sie wußten, was sie damit taten". 3 7 Desgleichen erwartete er nicht, daß die Rechtsliberalen sich mit den Konservativen zusammenschließen würden - er nahm vielmehr an, daß der Stimmanteil der Konservativen zurückgehen würde. Anders als die katholische Zentrumspartei war der deutsche Protestantismus immer in verschiedene politische Traditionen gespalten gewesen und konnte somit nicht in einer .nationalen' Partei vereinigt werden. „Es mag ein todgehetztes Wort erscheinen und es ist doch wahr: wenn eine nationale und liberale Partei nicht bestände, so müßte sie gegründet werden." 3 8 Unter der Oberfläche der anscheinenden Diskontinuitäten der Jahre 1918-19 und

36 Rede vor dem Reichstag, 26.10.1916, in: G. Zwoch (Hg.), Gustav Stresemann. Reichstagsreden, Bonn 1972, S. 43-56; Rede vor dem Reichstag, 29.3.1917, in R. von Rheinbaben (Hg.), Stresemann. Reden und Schriften, Bd. 1, Dresden 1926, S. 172-92. 37 Rede Stresemanns vor dem Zentralvorstand der DVP, 12.4.1919, Nachlaß Stresemann, Bd. 203. Kolb/Richter (Hg.), Nationalliberalismus, S. 79. 38 „Politische Umschau", 12. 6.1919, „Deutsche Stimmen", 31. Jg., Nr. 24,15.6.1919; s. auch „Politische Umschau", 22.6.1919, ebd., Nr. 26, 29.6.1919. 106

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der persönlichen wie parteipolitischen Rückschläge, die er erlitt, blieb Stresemann von der fundamentalen Kontinuität der Grundlagen des Wählerverhaltens überzeugt. Dies versetzte ihn in die Lage, den Neubeginn einer Karriere zu planen, die unterbrochen, aber nicht ruiniert worden war. Es bleiben hier nur noch einige Worte zur Entwicklung der Ideen Stresemanns auf dem Felde der Außenpolitik im Jahre 1919 anzufügen. Wie wir bereits gesehen haben, bestätigte ihn der Versailler Vertrag in seiner Auffassung, daß Beziehungen zwischen Staaten durch Machtpolitik bestimmt würden. Ende 1919 hatte er jedoch auch das Leitmotiv der ökonomischen Interdependenz Europas entdeckt. Er argumentierte in einer an Norman Angell erinnernden Sprache, daß der Krieg keine Sieger hervorgebracht habe - außer den Vereinigten Staaten. 39 Ungeachtet all dessen, was er über die Illusion eines Vertrauens auf Präsident Wilson gesagt hatte, beruhten seine Hoffnungen für die Zukunft auf einem der Prinzipien Wilsons, genauer gesagt: dem Freihandelsprinzip. 40 Dies war eine für Stresemann geradezu natürliche Neuausrichtung. Vor dem Krieg war seine Karriere auf das engste mit dem Exportsektor der deutschen Industrie verknüpft gewesen. 41 Er sah ein, daß Autarkie unmöglich war. Deutschland mußte Lebensmittel und Rohstoffe importieren und aus diesem Grunde exportieren. Es war somit von entscheidender Bedeutung, daß ihm wieder Zugang zu ausländischen Märkten gewährt wurde. Aber um dies zu erreichen, mußte Deutschland auch „den moralischen und wirtschaftlichen Kredit des Auslandes" zurückgewinnen. 42 Hierbei mochte es sich um eine Form von Machtpolitik handeln, aber dies war eine subtile Form, die auf einem Appell an das „erleuchtete Eigeninteresse" der kapitalistischen Welt beruhte. Stresemann fügte diesem Appell einen weiteren Anreiz hinzu:

39 Rede in Halberstadt, 19.12.1919; „Halberstadter Zeitung", 1.1.1920. Andererseits hatte er vor dem Krieg Norman Angells Ansicht kritisiert, daß der Krieg keine Gewinne abwerfen werde und sagte voraus, daß die Geschlagenen ihren Anteil am Welthandel einbüßen, die Zerstörung ihrer Handelsflotte mitansehen und zur Zahlung von Reparationen gezwungen sein würden. Siehe „Norman Angells falsche Rechnung", „Nationalliberale Blätter", 25. Jg., N r . 1 8 - 1 9 (4.-11. Mai 1913), S. 430-31, 451-56. 40 Punkt 3 der 14 Punkte Wilsons besagte: „Die weitestmögliche Beseitigung aller wirtschaftlichen Schranken und die Schaffung gleicher Handelsbedingungen zwischen all jenen Nationen, die dem Frieden beipflichten und sich zu seiner Aufrechterhaltung zusammenschließen." 41 E r war vor allem verantwortlich gewesen für die Schaffung einer Lobby-Organisation für die sächsischen Exportindustrien, den Verband sächsischer Industrieller, der im Jahre 1914 mehr als 5000 Firmen repräsentierte. H . - P . Ulimann, Der Bund der Industriellen, Göttingen 1976. 42 „Politische Umschau", 31.12.1919, „Deutsche Stimmen", 32. Jg., Nr. 1, 4.1.1920.

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nämlich das gemeinsame Interesse der westlichen Mächte und Deutschlands an einer Eindämmung des Bolschewismus. Für den Fall, daß selbst dies nicht überzeugen und der Westen auf einer Politik beharren sollte, die Deutschlands Ruin herbeiführen würde, erwog er auch eine deutsch-sowjetische Kooperation - aber dies war eine Strategie für den äußersten Notfall. 4 3 Stresemann setzte 1919 seine Hoffnungen vielmehr darauf, daß die Feinde Deutschlands akzeptieren würden, daß der europäische Wiederaufbau von einer Wiederbelebung der deutschen Produktion und des deutschen Marktes abhing. Er mußte hieran glauben, um überhaupt noch Hoffnung für die Zukunft hegen zu können. 44 Auf diesem Wege hatte ihn die Niederlage dazu gezwungen, Deutschlands Platz in der Welt neu zu überdenken und auf gemeinsame Interessen eher als schlicht auf Macht zu vertrauen. Das Maß und die Grenzen dieser gemeinsamen Interessen auszuloten, sollte ihn für den Rest seiner Karriere in Anspruch nehmen.

43 „Politische Umschau", 10.2.1920, „Deutsche Stimmen", 32. Jg., Nr. 7, 15.2.1920. 44 Er warnte den Geschäftsführenden Ausschuß der DVP: „Wir dürfen (...) nicht immerfort dem Volke predigen, daß wir auf Jahrzehnte hinaus Sklaven der Entente seien." Protokoll der Sitzung vom 19.1.1920; Bundesarchiv Koblenz, R 45 11/51. Kolb/Richter (Hg.), N a tionalliberalismus, S. 203. 108

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Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919 Friedrich Ebert und die Wendepunkte deutscher Geschichte * DIETER K. BUSE 1

I. Einführung Die Frage, warum sich in Deutschland eine Demokratie mit diktatorischem Anstrich entwickeln konnte, aus der schließlich eine Diktatur wurde, die in Barbarei verfiel, treibt die Intellektuellen seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder um. Einen wichtigen Stellenwert in allen entsprechenden Diskussionen hatten dabei einerseits die Kontinuität der Führungseliten und der handlungsbestimmenden Ideale - besonders hinsichtlich des Nationalstaats - , andererseits die zu verzeichnenden Brüche in Regierungsform und politischem Stil. Zeitgenössische wie spätere Analysen haben in diesem Zusammenhang von einer Deformation des Patriotismus in rassistischen Nationalismus gesprochen. Es geht also die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gebrauch staatlicher Macht und den Anschauungen der Deutschen über sich selbst und ihr Land. Aufstieg und Amtsführung des Reichspräsidenten Ebert führen mitten hinein in die kontroverse Frage nach Kontinuität und Wandel in der deutschen Vergangenheit. Das Präsidentenamt umfaßte eine große Zahl vonVor- und Sonderrechten, von denen Ebert auch viele erstmals in Anspruch nahm 2 . Sein Bemühen um die Etablierung einer starken, überparteilichen Präsidentschaft setzte in einer Weise Maßstäbe, die zu einer neuen Auseinander-

* Aus dem Amerikanischen von Petra Terhoeven. 1 Der vorliegende Text ist eine Neubearbeitung einer umfangreicheren, zum größten Teil vor 1990 verfaßten Studie, die einigen Wissenschaftlern im Umkreis der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte bereits vorlag. Mein Dank gilt der Alexander von Humboldt-Stiftung für ihre großzügige Unterstützung. Ebenfalls danken möchte ich Judith Buse und Jürgen C . Doerr für ihre kritischen Hinweise sowie Richard Bessel, Richard Geary, Alan Kramer, John A. Moses, Dennis Showalter und anderen Teilnehmern der Bamberger Tagung für ihre hellsichtigen Anregungen. 2 Die hohe Bedeutung des Reichspräsidentenamtes für die Geschichte der Weimarer Republik ist kürzlich erneut unterstrichen worden von H . A. Turner, Hitler's Thirty Days to Power, N e w York 1997, S. 3 ff. Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919

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Setzung mit der Frage einlädt, welche Elemente des Kaiserreiches am Ende des verlorenen Krieges durch die Revolution beseitigt worden waren und welche dagegen unangetastet blieben 3 .

II. Der Aufstieg ins mächtigste Amt und die Improvisation einer neuen Exekutive Wie und aus welchen Gründen Ebert die Präsidentschaft anstrebte und auch erhielt, kann aus der Erinnerungsliteratur sowie den Sitzungsprotokollen der beteiligten Gremien ermittelt werden. Einige wichtige Aspekte sollen hier Erwähnung finden 4 . Als Chef der vorläufigen Regierung hatte Ebert in einem Gespräch mit Philipp Scheidemann, einem der Mitbewerber für das Präsidentenamt, mit dem er sich den Vorsitz der SPD teilte, vor allem die Punkte Repräsentation und Macht herausgestellt. In diesem Gespräch unmittelbar nach den Wahlen vom 19. Januar 1919, bei denen die Sozialisten die alleinige Mehrheit verfehlt hatten, teilte Ebert seine Absicht mit, die erste Rede vor der Nationalversammlung zu halten. „Das Repräsentative liegt mir besser", so Ebert, und fügte hinzu: „Der Reichspräsident wird ungeheuer viel machen können" 5 . Verteidigungsminister Gustav Noske betont in seinen Erinnerungen, ursprünglich habe Scheidemann Ebert in die Kanzlerschaft drängen wollen, um selbst das Amt des Präsidenten zu übernehmen. „Aber Ebert drängte ihn ab", so Noskes Kommentar 6 . Ganz ähnlich setzte Ebert in der SPD-Fraktion die Vereinbarungen durch, die seine politischen Freunde in und außerhalb der Partei hinsichtlich der zukünftigen Ämterverteilung getroffen hatten. Als Fraktionsvorsitzender gab Ebert am 4. Februar bekannt, wie er und die übrigen Regierungsmitglieder die ersten Tage des Parlaments zu gestalten beab-

3 Die ausführlichste Übersicht über die Sozialdemokratie in der Revolution ist S. Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1 9 1 8 - 1 9 2 0 , Düsseldorf 1974. Zur sozialen Situation nach Kriegsende s. R. Bessel, Germany after the First World War, London 1993, teilweise zusammenfassend wiedergegeben in M. Fulbrook (Hg.), German History Since 1800, London 1997, S. 235 ff. 4 Vgl. L. Richter, Der Reichspräsident bestimmt die Politik und der Reichskanzler deckt sie: Friedrich Ebert und die Bildung der Weimarer Koalition, in: E. Kolb (Hg.), Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, München 1997, S. 1 7 - 5 9 ; hier besonders S. 20 ff. 5 P. Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Dresden 1928, S. 352. 6 G. Noske, Erlebtes und Erstrebtes, Kiel 1947, S. 90; vgl. auch W . Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Stuttgart 1948, Bd. 2, S. 171 sowie W . Dittmann, Memoiren, in: J. Rojahn (Hg.), International Institute of Social History Amsterdam, Frankfurt a.M. 1995, S. 1009.

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sichtigten: Diskussion und Verabschiedung des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt, Formierung des Staatenausschusses und Suche nach Kreditgebern 7 . Sodann referierte er über den Gang der Koalitionsverhandlungen mit den bürgerlichen Parteien. Damit agierten Ebert und Scheidemann bereits als Präsident und Kanzler, bevor die Nationalversammlung überhaupt zusammengetroffen und die Fraktion um ihre Meinung gefragt worden war. Auch die Position seiner Partei innerhalb der Koalitionsverhandlungen suchte Ebert bereits vorab in seinem Sinne zu bestimmen. Er und seine Parteifreunde Hermann Müller und Gustav Bauer wünschten sich eine Koalition mit den Liberalen und Katholiken und lehnten eine Zusammenarbeit mit der U S P D ab 8 . In einem vertraulichen Gespräch mit dem Liberalen Conrad Haußmann am 4. Februar bekundete Ebert, er werde der Koalitionseinladung der SPD an die U S P D zwar zustimmen, aber nur, um diese „ins Unrecht" zu setzen 9 . Aus der Kandidatenliste für die einzelnen Komitees vom 6. Februar, auf denen signifikanterweise die Namen Ebert, Scheidemann, Bauer und Noske fehlen, kann man den Rückschluß ziehen, daß die meisten Wahlberechtigten, wie die Führer der vorläufigen Regierung selbst, der Auffassung waren, diese würden auch in Zukunft die wichtigsten Regierungsämter innehaben 10 . Auch andere Quellen untermauern den Befund, daß sich Ebert sehr bewußt und zielstrebig darum bemüht hat, das von ihm ins Auge gefaßte Präsidentenamt auch tatsächlich zu erhalten 11 . Am 7. Februar 1919 wurde seine Kandidatur im „Vorwärts" angekündigt. Ebert hatte allen Grund, die Präsidentschaft anzustreben. Der Präsident verfügte über den entscheidenden Kontakt zum Militär - ein Machtfaktor, der

7 H . Potthoff/H. Weber (Hg.), Die SPD-Fraktion in der Nationalversammlung 1 9 1 9 - 1 9 2 0 , Düsseldorf 1986, S. 3 - 5 , Anmerkung 11, Diskussionen zwischen SPD- und D D P - F ü h rung. 8 Vgl. die Ausführungen O t t o Landsbergs am 29. Januar 1919 in S. Miller (Hg.), Die Regierung der Volksbeauftragten 1 9 1 8 - 1 9 , Bd. 1, Düsseldorf 1969, S. 348; sowie seinen Kommentar zu Eberts entscheidender Rolle in den Koalitionsverhandlungen mit den Katholiken im Rat der Volksbeauftragten, in: O . Landsberg, Friedrich Ebert und seine Zeit, Berlin 1928, S. 208. 9 C . Haußmann, Schlaglichter, Frankfurt a.M. 1924, S. 276. 10 Potthoff, SPD-Fraktion S. 7 ff., bes. S. 9 - 1 0 . 11 Entsprechendes ist einem Bericht über die Amterverteilungsverhandlungen mit den übrigen Parteien zu entnehmen, die nicht bereit waren, der SPD alle Spitzenpositionen Reichspräsident, Kanzler und Präsident der Nationalversammlung - zu überlassen. David, der für letzteren Posten vorgesehen gewesen war, wurde von Ebert, Scheidemann, Lobe, Severing und Baake überredet, zugunsten eines Zentrums-Kandidaten auf das A m t zu verzichten, s. Potthoff, SPD-Fraktion, S. 16 f.; der Sachverhalt wird bestätigt im Tagebuch Paul Lobes, jetzt abgedruckt in: Richter, Reichspräsident, S. 45 ff.

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schon seit dem November 1918 in Eberts Händen gelegen und den er dann mit Noske geteilt hatte. General Wilhelm Groener, Eberts heimlicher Verbündeter seit der Übereinkunft vom November 1918, notierte am 1. Februar 1919 in seinem Tagebuch: „Diskussion mit Ebert unter vier Augen. Starke Präsidentschaft." 12 Es ist anzunehmen, daß Groener zu diesem Zeitpunkt nicht nur Ebert zur Übernahme des Amtes drängen, sondern Einfluß auf dessen Ausgestaltung selbst nehmen wollte, da Ebert schon seit dem 29. Januar von nicht wenigen Beobachtern als aussichtsreichster Kandidat genannt wurde 13 . In der Führungsspitze der bürgerlichen Parteien, die Anfang Februar an den Beratungen zur Bildung einer Regierungskoalition beteiligt waren, regte sich wenig Widerstand gegen Eberts Kurs. Die Hinterbänkler mußten jedoch erst davon überzeugt werden, daß den Sozialdemokraten so viele bedeutende Amter zustanden. Besonders innerhalb der D D P mußte die Führung vor den Parteifreunden rechtfertigen, daß es bei Lage der Dinge geboten war, das Übergewicht der SPD in der Regierung als vorläufige Notmaßnahme gegen Arbeiter- und Soldatenräte zu akzeptieren. Als Friedrich Payer der Partei am 10. Februar mitteilte, daß die SPD unter allen Umständen das Präsidentenamt für sich beanspruche, wobei Ebert Präsident, Scheidemann Kanzler werden solle, protestierten die Anwesenden, jeder von ihnen sei besser zum Reichspräsidenten geeignet als ausgerechnet Ebert. Parteivorsitzender Friedrich Naumann stellte daraufhin kühl abwägend die Gründe dar, warum es die Entscheidung der SPD zu tolerieren galt: „Für normale Zeiten sei die Art, wie von den Fraktionen die einzelnen Posten besetzt werden, nicht gut; wie die Dinge aber heute lägen, sei dieser Weg geboten. Man solle bedenken, daß die Arbeiter und Soldatenräte noch beständen. Die Regierung zu übernehmen sei heute ein riskantes Geschäft (...). Wenn die Sozialdemokraten Ebert zum Reichspräsidenten machen wollen - und er hat diesen napoleonischen Ehrgeiz - so müssen wir dies tun', so Naumann. ,Die Ämter, die uns zufallen, sind uns wichtig genug. Wir wollen

12 Bundesarchiv Koblenz (in der Folge BA), N L Groener N46/25,45. Die Argumente, die Groener vor Ebert ausbreitete, sind einem umfangreichen Memorandum zu entnehmen, das die Vollmachten des amerikanischen und französischen Präsidenten verglich. Groener versicherte, der französische Präsident sei nichts weiter als eine Marionette des Parlaments, während der amerikanische, gewählt durch das Volk, weitreichende Vollmachten besitze. Die deutsche Bevölkerung habe ein Recht darauf, zu erfahren, wie gut das amerikanische System schon seit dem 18. Jahrhundert funktioniere, während das französische für ständige Unordnung gesorgt habe. Groener betonte insbesondere das Vetorecht des amerikanischen Präsidenten. 13 Hapag Archiv im Staatsarchiv Hamburg, Holtzendorff X X , Bericht vom 29. Januar 1919. U.a. werden Friedrich Naumann und Prinz Max von Baden erwähnt. 112

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doch den kapitalistischen Betrieb aufrechterhalten. Mit dem Reichsschatzminister bekommen wir den Manometer in die Hand'" 1 4 Nicht nur die Tatsache, daß die D D P die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten akzeptierte, auch das Vertrauensverhältnis, das ihn mit entscheidenden Figuren des Zentrums und anderer demokratischer Parteien verband, ebnete Eberts Weg zum Präsidentenamt. Schon vor der Revolution hatte er in parteiübergreifenden Gremien, etwa als Vorsitzender des Hauptausschusses des Reichstags, aber auch während der Interimsregierung Prinz Max von Badens freundschaftliche Beziehungen zu Constantin Fehrenbach, Matthias Erzberger, Haußmann, Payer und Eugen Schiffer knüpfen können 15 . Zweifellos verringerte sich die Bereitschaft der D D P , den Sozialdemokraten das Anrecht auf die Präsidentschaft streitig zu machen, durch diesen Umstand in zusätzlichem Maße. Während der Revolution hatte Ebert zudem das Vertrauen weiter Teile des Militärs, der Industrie und der Bürokratie gewonnen, die traditionell den bürgerlichen Parteien nahestanden. Dennoch bestimmten, nachdem das Amt erst im Februar 1919 tatsächlich zu besetzen war, Ehrgeiz und Hast das politische Klima der Stunde. Wie Naumann es formuliert hatte, war ein Reichspräsident Ebert angesichts der durch die Revolution geschaffene Situation das kleinere Übel: vor allen Dingen galt es, so die Uberzeugung des bürgerlichen Lagers, das kapitalistische System zu verteidigen. Paradoxerweise formierte sich ausgerechnet innerhalb der SPD eine kleine, aber lautstarke Oppositionsgruppe gegen Eberts Kandidatur. Diese wehrte sich gegen die Etablierung des Reichspräsidentenamtes selbst, da für sie dem Parlament und den Parteien die höchste Machtvollkommenheit zukam. Die gleichen Stimmen sollten später, als Ebert sein Büro organisierte, vor der Schaffung eines „Ersatzkaisers" warnen - noch dazu in einem Amt, das die SPD vielleicht schon bald an eine andere Partei verlieren mochte 16 .

III. Das Gesetz über den Ausnahmezustand Etablierung eines Ersatzkaisers? Die Furcht vor einem Ersatzkaiser rührte vor allem aus dem Charakter der Vorschläge, die die Ubergangsregierung hinsichtlich der Ausnahmegewalten der Regierung, aber auch der zukünftigen Verfassung insgesamt der SPD14 Staatsarchiv Hamburg, N L Petersen L 62, 31-32. 15 Weitere Details in D. K. Buse, Eberts Weg zum Politiker von nationaler Bedeutung 19151918, Heidelberg 1992, S. 3-28. 16 Beispiele zitiert Potthoff, SPD-Fraktion S. 43-45. Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919

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Fraktion und der Nationalversammlung vorgelegt hatte. Schon während der Diskussion der entsprechenden Entwürfe Mitte Januar 1919 war Eberts eigenes Interesse an der Präsidentschaft deutlich geworden. Er hielt eine weitreichende Autorität an der Staatsspitze zur „entschlossenen und kraftvollen Führung der Reichsgeschäfte" für unerläßlich 17 . Der nun vorgelegte Verfassungsentwurf stellte eine Kombination aus Präsidialsystem und parlamentarischer Demokratie in Aussicht, wie sie in ganz ähnlicher Form dann auch später durch die Nationalversammlung beschlossen werden sollte 18 . Wie der Verfassungsentwurf, so war auch das Notverordnungsgesetz auf Geheiß Eberts von Hugo Preuß ausgearbeitet und anschließend von den Repräsentanten der Länder untersucht worden. Nachdem letztere - mit Ausnahme Bayerns - den Entwurf genehmigt hatten, wurde er am 28. Januar dem Kabinett präsentiert. Ebert legte wiederum ein besonderes Interesse am Präsidentenamt an den Tag: „Die Stellung des Präsidenten ist nicht recht klar. Ist er zugleich Ministerpräsident und gehört er dem Kabinett an?" 19 Die Frage blieb ohne rechte Antwort, so daß die neun Artikel, die die Vollmachten der Regierung definierten, von den Ministern selbst näher bestimmt werden mußten. Laut dem Gesetz, das die rechtliche Basis der deutschen Regierung von Februar bis August 1919 darstellte, kam dem Präsidenten eine eindeutige Führungsrolle zu: „Die Geschäfte des Reiches werden von einem Reichspräsidenten geführt" 20 . Er repräsentierte das Land in diplomatischer Hinsicht und verkündete Gesetze. Von der Nationalversammlung gewählt, dauerte seine Amtszeit bis zur Wahl eines Präsidenten durch das Volk im Rahmen einer neuen Verfassung. Die verwirrenden und widersprüchlichen Elemente ergaben sich aus der unbestimmten Führungsrolle des Präsidenten im Zusammenhang mit den Bestimmungen über Zusammensetzung und Kompetenzen

17 E. Matthias/S. Miller (Hg.), Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, Bd. 2, Düsseldorf 1969, S. 240. E. Kolb hat auf die Bedeutung des Ausnahmezustandsgesetzes in verschiedenen Publikationen hingewiesen, so im V o r w o r t des von ihm herausgegebenen Friedrich Ebert als Reichspräsident, 1997, S. 10. 18 In diesem Verfassungsentwurf wie auch in der Version, die schließlich aus der Diskussion des Kabinetts hervorging, sollte der Präsident 1. direkt vom Volk gewählt werden, 2. für das diplomatische Protokoll zuständig sein, 3. Gesetze ankündigen, 4. Plebiszite verkünden, 5. Regierungsbeamte und militärische Führer ernennen, 6. das Vorrecht des Reiches gegenüber den Ländern verstärken, 7. in Verbindung mit dem Parlament durch militärische Gewalt Recht und Ordnung sichern, 8. Begnadigungen aussprechen, 9. den Kanzler bestimmen können. Zur Bedeutung des Kompromisses s. Bessel, in: M. Fulbrook (Hg.), Germany Since 1800, S. 2 4 0 - 4 1 . 19 Zitiert in: Miller, Regierung der Volksbeauftragten 2, S. 327. 20 Ebd., S. 334.

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des Kabinetts: „Der Reichspräsident beruft für die Führung der Reichsregierung ein Reichsministerium, dem sämtliche Reichsbehörden und die Oberste Heeresleitung unterstellt sind." 2 1 Mit einer derartig vagen Abgrenzung der Einflußsphären trat das Übergangskabinett vor die Nationalversammlung, die das Gesetz am 10. Februar 1919 genehmigte 22 . Die eigentliche Wahl Eberts und die Beauftragung Scheidemanns mit der Kabinettsbildung waren schließlich nur noch Formalitäten. Als führender Kopf der größten deutschen Partei hatte Ebert das Amt mit der - allem Anschein nach - größten Machtfülle in der deutschen Regierung mitgeschaffen, es für sich angestrebt und es schließlich auch erhalten 23 . Der Reichspräsident mochte das einflußreichste Regierungsamt sein - die Zuständigkeiten der Regierung blieben insgesamt überraschend ungenau definiert, obwohl die institutionellen Parameter für den Reichstag, den Reichsrat und das Präsidentenamt gesetzt waren. O b dies bewußt geschehen war oder nicht, Ebert und mit ihm die vorläufige Regierung hatten eine neue Exekutive geschaffen, die letztlich von zwei Faktoren abhing: von den jeweiligen Personen, die die Ämter innehatten und von der Möglichkeit der Nationalversammlung, über die Gesetzgebung direkt in die Politik einzugreifen. D a Ebert und das Koalitionskabinett jedoch bereits im Amt waren, wurde das Parlament nicht selten vor vollendete Tatsachen gestellt - nach dem Vorgehen der Exekutive zu urteilen, durfte die Nationalversammlung damit zwar an Details herumbasteln, nicht aber Grundsatzentscheidungen treffen oder die Institutionen selbst in Frage stellen. Eines der Ergebnisse dieser Konstellation war, daß die von Preuß ausgearbeitete und von der Ubergangsregierung vor den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 genehmigte provisorische Verfassung größtenteils mit der im August beschlossenen endgültigen Version identisch war 24 . Darüber hinaus benutzten Präsident und Kabinett die mangelhafte Klärung der Autoritätsfrage, die durch den Notverordnungsparagraphen noch verstärkt worden war, dazu, ein System der Regierungspraxis zu etablieren, bevor die Verfassung überhaupt endgültig in Kraft getreten war.

21 Ebd., S. 338. Eine weitere Klausel beschränkte die Macht des Präsidenten, indem sie die Gegenzeichnung seiner Dekrete durch einen Minister des Kabinetts vorschrieb. 22 Hinsichtlich der kleineren, durch die Versammlung vorgenommenen Änderungen s. H. Schulze (Hg.), Das Kabinett Scheidemann, Boppard 1971, S. 1 ff. 23 Eine detaillierte Illustration der Bedeutung personeller Differenzen, aber auch der fortgesetzten Verhandlungen der Parteiführer unmittelbar vor der Eröffnung der Nationalversammlung bietet Richter, Reichspräsident, S. 17 ff. 24 Zur Rolle der SPD in der Ausarbeitung der Verfassung s. H. Potthoff, Das Weimarer Verfassungswerk und die deutsche Linke, in: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972), S. 43383 sowie H. A. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, Bonn 1984, S. 227 ff. Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919

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Einzelne Amtsträger, nicht die Nationalversammlung, waren es, die die politische Landschaft der jungen Weimarer Republik gestaltet hatten 25 .

IV. Politische Praxis und Prärogativen Zwischen Februar und Juli 1919 prägte Ebert als vorläufiger Präsident die Grundmuster der öffentlichen, politischen und administrativen Tätigkeiten des zukünftigen Reichspräsidenten. Damit wurden entscheidende Bereiche der Politik in ihren Grundzügen schon vor der offiziellen Präsidentenwahl festgelegt, darunter die Repräsentation des Staates in der Öffentlichkeit Ebert wandte sich mit persönlichen Appellen an die Bevölkerung, um sie stärker in die Regierungspolitik einzubinden wichtige Maßstäbe der Außenpolitik, die Beziehungen zum Militär, der Aufbau eines beträchtlichen bürokratischen Apparats. Eberts Politik der öffentlichen Appelle begann bereits am 11. Februar 1919. Anders als der Kaiser, der im Juli 1914 „keine Parteien" mehr hatte kennen wollen, erkannte Ebert die Existenz verschiedener politischer Lager explizit an, indem er die Parteien zur Kooperation in politischen und sozialen Fragen aufrief 26 . Keine einseitige Parteienherrschaft schwebe ihm jedoch vor: Indem das Parlament ihn zum Präsidenten gewählt habe, habe es den großen Veränderungen in Deutschland, der Beschränkung geburtsmäßiger Privilegien sowie der politischen Emanzipation der Arbeiterschaft, Rechnung tragen wollen. Die neuen Freiheiten, so Ebert, müßten sich jedoch im Rahmen von Recht und Ordnung entfalten. - Obwohl der größte Teil seines Aufrufs zur friedlichen Kooperation der gesellschaftlichen Klassen und zum Beginn einer neuen Ära in der deutschen Politik schließlich wie eine Seifenblase zerplatzen sollte, hatte Ebert mit seiner Rede einen wichtigen Schritt dahin getan, mit Hilfe des Präsidentenamtes die öffentliche Meinung zu beeinflussen. In seinem zweiten öffentlichen Auftritt, einer innerdeutschen Pressekonferenz, definierte Ebert sein Amt ganz ähnlich als Verpflichtung, „mit Ihnen allen in Beziehungen zu treten ohne Rücksicht auf Ihre oder meine Parteizugehörigkeit. (...) Ich glaube, wir alle, die wir im öffentlichen Leben politisch tätig sind, haben zu einem gewissen Teil diese Pflicht, uns nicht als Vertreter nur eines Teiles, sondern als Vertreter des ganzen Volkes zu fühlen (...)

25 Auch E. Kolb hat darauf hingewiesen, daß die Vereinbarungen, obwohl als „provisorisch" bezeichnet, faktisch die Grundstrukturen der zukünftigen Verfassung vorherbestimmten, ohne jedoch weiter auf ihre konkrete Funktionsweise einzugehen, s. ders., Weimar Republik London 1988, S. 17. 26 F. Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Dresden 1926, Bd. 2, S. 156. 116

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und bei mir auch vorauszusetzen, was ich auch bei Ihnen voraussetzen will: Eine tiefste Auffassung von der Pflicht zum Vaterlande" 27 Durch derartige Appelle versuchte Ebert, wie auch auf seinen späteren Reisen, die tiefen Risse, die sich in der deutschen Gesellschaft durch Krieg, Revolution und ideologische Gegensätze aufgetan hatten, zu kitten, um die notwendige Unterstützung für einen Friedensschluß mit den Mächten der Entente zu erhalten und die gesellschaftliche Ruhe herzustellen, die Voraussetzung zur Vollendung der Verfassung war. Eberts Appell an die nationale Einheit war im übrigen nur vordergründig mit den Beschwörungsformeln Wilhelms II. zu vergleichen: der Ton seiner Reden war rational und paritätisch, während die Rhetorik des Kaisers pathetisch und paternalistisch gewesen war. In etatistischer Tradition, wie sie führende Sozialdemokraten in den Kriegsj ahren zu akzeptieren gelernt hatten, warb Ebert für das Konzept einer neutralen, überparteilichen Präsidentschaft. Gleichzeitig jedoch ergriff er Partei für das Programm der Regierung und pries dessen demokratischen und sozialistischen Charakter - obwohl es ein diesbezügliches, innerhalb der Koalition abgestimmtes Programm noch gar nicht gab. Diese Art öffentlicher Auftritte praktizierte Ebert immer wieder, wobei sich zwei Variationen unterscheiden lassen. Da waren zum einen die offiziellen Repräsentationsaufgaben, wie sie zu den Verpflichtungen jedes Staatsoberhauptes gehören: etwa die Reden vor der Nationalversammlung, der offizielle Empfang der Schutzverbände am 15. Mai oder die offizielle Abendeinladung der Abgeordneten am 24. März 1919. Uber die März-Veranstaltung - Eberts ersten Gehversuch in der High Society - äußerte sich ein guter Kenner der Empfänge am kaiserlichen Hof folgendermaßen: „Die Sache ist sehr gut gelaufen: sehr gutes Büffet, gute Weine, gute Cigarren, die Herren saßen an kleinen Tischen, sehr viel und gute Bedienung, Aufzug ganz wie beim alten Regime..."28. Ganz in diesem Sinne auch schaute sich Ebert nach einem repräsentativen Amtssitz für den zukünftigen Präsidenten des deutschen Reichs um 29 . Die zweite Form öffentlichen Auftretens umfaßte Regierungserklärungen oder persönliche Stellungnahmen, die direkte Eingriffe ins politische Geschehen bedeuteten, darunter die Verkündung außenpolitischer Entscheidungen.

27 Ebd., S. 159-60. 28 Hapag Archiv, Cuno Politik, Holtzendorf gegenüber Cuno, 25. März 1919. 29 Vgl. L. Demps, Berlin-Wilhelmstraße, Berlin 1994, S. 171-74, der die entsprechenden Überlegungen über in Frage kommende und eventuell verfügbare Gebäude referiert. Vgl. auch W. Mühlhausen, Das Büro des Reichspräsidenten, in: E. Kolb (Hg.), Friedrich Ebert als Reichspräsident, München 1974, S. 61-107, hier S. 70. Leider fehlt in Mühlhausens detaillierter, solider Schilderung der Entwicklung des Büros eine Berücksichtigung des sozialen Milieus.

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Beispiele dafür sind die Interviews und Statements, die Ebert im Frühjahr 1919 hinsichtlich einer möglichen Vereinigung mit Osterreich abgab, sein öffentlicher Protest gegen die Bestimmungen des Friedensvertrages und sein Zusammentreffen mit einer der protestierenden Gruppierungen im Mai 1919 3 0 . Die Wahrnehmung repräsentativer wie genuin politischer Funktionen blieb eine Konstante sowohl in Eberts wie auch später in Hindenburgs Amtsführung. Offensichtlich ging es Ebert bei dieser Praxis darum, die öffentliche Wahrnehmung auf den Reichspräsidenten zu fokussieren - und zwar nicht nur in seiner Funktion als Staatsoberhaupt, sondern auch als Regierungschef. Eberts Öffentlichkeitspolitik ohne klar definierte Grenzen wurde durch die Methoden ergänzt, mit der er sich selbst Informationen zu verschaffen pflegte. Am 5. Februar wandte er sich in einem Brief an Scheidemann, um von diesem weitreichende Auskünfte über Gesetzesvorhaben, außenpolitische Beziehungen, den Verlauf der Friedensverhandlungen und die Ernährungslage zu erfragen 31 . In seinen Bemühungen, möglichst umfassend über die Aktivitäten der einzelnen Ministerien unterrichtet zu sein, spannte er ein weit verzweigtes Beziehungsnetz. Seine Vorstellungen von den ausgedehnten Zuständigkeiten des Präsidenten sowie sein besonderes Interesse an außenpolitischen Fragen belegen, wie umfassend er seine politische Leitungsfunktion verstand. Am 19. Februar 1919 führte er die Praxis monatlicher Lageberichte des Wirtschaftsministeriums für den Reichspräsidenten ein. 32 Nur mit Hilfe eines sehr großen Mitarbeiterstabes konnte Ebert hoffen, eine solche Informationsflut auch tatsächlich bewältigen zu können. Daher veranschlagte er das monatliche Budget seines persönlichen Büros mit 100.000 Reichsmark monatlich - 1,2 Millionen im Jahr. Scheidemann, dem Ebert diesen Vorschlag mitsamt einiger Anweisungen zu seiner schnellen Bewilligung zukommen ließ, hielt solche personellen und finanziellen Vorstellungen für ungerechtfertigt: „Was Ebert wollte, war im Grunde genommen ein vollkommen selbständiges Reichsamt mit einem großen Apparat" 3 3 . Auch dem Kabinett, das am 28. Februar über Eberts Pläne zu entscheiden hatte, schien die Summe angesichts des provisorischen Charakters des Büros zu hoch 3 4 . Als Ebert insistierte, erkundigte sich Scheidemann im Kabinett,

30 Vgl. die Liste der Ansprachen und Reden in B A R54 191. 31 B A R 43 11/956; gedruckt in: P . - C . Witt, Friedrich Ebert, Bonn 1971, S. 42. 32 Witt, Friedrich Ebert, S. 43, übersieht in seiner besonderen Betonung dieses Sachverhalts, daß die Berichte eine Fortführung der bereits durch Emanuel W u r m während der Revolution eingeführten, zweimonatlichen Reporte waren. Kopien von einigen der Wurmschen Berichte in: International Institute for Social History, Amsterdam, Zentralrat B 15, A. 33 Scheidemann, Memoiren 2, S. 381. 34 Schulze, Kabinett Scheidemann, S. 10.

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wie möglichem Protest gegen das Budget aus der Nationalversammlung zu begegnen sei35. Trotz Scheidemanns Bemühungen, die 1,2 Millionen in der Debatte vom 26. März innerhalb der SPD-Fraktion zu verteidigen, sprachen sich alle Redner gegen die Vorlage aus. Mehrheitlich wurde dem Antrag von Heinrich Schulz stattgegeben, der eine Reduzierung des Präsidentengehalts vorsah sowie insgesamt detailliertere Informationen verlangte 36 . Tags darauf kritisierten fast alle Parteien der Nationalversammlung, einschließlich der Sozialdemokraten, nicht nur die Höhe der Summe, sondern vor allem die fehlende Spezifizierung des Verwendung des Geldes. Im Finanzausschuß, dem die Angelegenheit übertragen wurde, einigte man sich schließlich auf einen Kompromiß Vorschlag Payers, der ein Gehalt von 100.000 Reichsmark jährlich für den Präsidenten vorsah - die gleiche Summe, die der Reichskanzler während des Kaiserreichs erhalten hatte - und 500.000 für Personal- und Bürokosten ansetzte 37 . Mit diesem Budget, das genau der Hälfte seiner ursprünglichen Forderungen entsprach, konnte Ebert mit mindestens sieben Mitarbeitern - plus Stenographen und Dienstpersonal - seine Amtsgeschäfte aufnehmen 38 . Im Jahre 1921 waren in Eberts Büro mindestens 20 Personen beschäftigt; dazu kamen sein Bürochef sowie die Verbindungsleute aus Militär und Auswärtigem Amt 3 9 .

35 Ebd. S. 104. 36 Potthoff, SPD-Fraktion, S. 68. 37 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Berlin 1919 f., Bd. 335 I, S. 164; Bd. 337, S. 827 ff., Bd. 335 I, S. 201; Bd. 337, S. 884 ff. Die Berechnungen O. Meisners, in: ders., Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg und Hitler, Hamburg 1950, S. 46, der die Summen weit geringer beziffert, sind nicht korrekt. 38 R. Nadolny, Mein Beitrag, Wiesbaden 1955, S. 69. Nicht mitgerechnet ist dabei Eberts Privatsekretär Franz Krüger. 39 Bundesarchiv Potsdam, Büro des Reichspräsidenten (im folgenden BAP BdRprä) 0/1. Eine Dienstanweisung hinsichtlich der Briefe und Dokumente, die Ebert in seinen Kuraufenthalt von 1921 nachgesendet zu bekommen wünschte, ist aufschlußreich hinsichtlich der von ihm gesetzten Prioritäten, aber auch der organisatorischen Struktur seiner Postverwaltung: als erstes wurden die Berichte des Außenministeriums, dann die der Kommissare für öffentliche Ordnung genannt. Es folgten Dokumente, die wichtige innere Angelegenheiten betrafen oder die unterzeichnet werden mußten, Gnadengesuche, private Korrespondenz und schließlich Zeitungen, s. BAP BdRPrä 0/0/10, 27-28. Am 1. August 1921 beklagte sich Ebert, die außenpolitischen Informationen, die ihn erreichten, könne er auch der Presse entnehmen, während wichtige Telegramme aus Paris oder Rom niemals bei ihm einträfen. Die Aufmerksamkeit, die Ebert auf die Flut von Material richtete, die auf ihn einströmte, dokumentiert das häufig auftauchende, handschriftliche „E" auf den entsprechenden Dokumenten, meist gefolgt vom Datum sowie kurzen Anweisungen zum betreffenden Fall. Außenpolitische, ökonomische und militärische Fragen standen dabei im Mittelpunkt seines Interesses. Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919

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Der Wert politischer Informationen bemißt sich an ihrer Aktualität - eine Maxime, die Ebert im November 1918 begriffen hatte und die sich in seinen Anweisungen an Scheidemann vom 15. Februar niederschlug. Über seine persönlichen Kontakte und Informationsquellen konnte Ebert sich zwar leicht über die jüngsten Entwicklungen auf dem Laufenden halten, um Entscheidungen aber direkt beeinflussen zu können, mußte er im voraus über die Absichten des jeweiligen Ministers Bescheid wissen. Dieses Hintergrundwissen erwarb Ebert normalerweise in seinen fast täglichen Besprechungen mit dem Kanzler, die im gemeinsamen Garten hinter den Dienstgebäuden der Wilhelmstraße stattfanden. Außerdem nahm er entweder persönlich oder vertreten durch einen seiner Mitarbeiter an den im März 1919 beginnenden Kabinettsitzungen teil. Später bestand Ebert sogar darauf, Gesetzesvorlagen schon weit vor den Kabinettsmitgliedern zu Gesicht zu bekommen und forderte im jeweils zuständigen Ministerium detaillierte Berichte an 40 . Dennoch beschwerte er sich mehrmals darüber, nicht rechtzeitig unterrichtet worden zu sein 41 . Während der ersten Amtsjahre verschaffte sich Ebert durch häufige Treffen mit Repräsentanten aller möglichen Interessenverbände aus Wirtschaft, Militär und Presse sowie zahlreiche private Kontakte zusätzliche Hintergrundinformationen. Seine Informationsstrategien wie seine politischen Beziehungen standen bereits im Juli 1919 in den Grundzügen fest. Was die Außenpolitik betraf, verzichtete der vorläufige Reichspräsident auf größere Aktionen, bemühte sich aber energisch um ein reibungsloses Fortschreiten des Friedensprozesses. Die divergierenden Ansichten der beteiligten Personen, was Taktik und inhaltliche Ausrichtung der Friedenspolitik betraf, führten zu so manchen Auseinandersetzungen hinter den Kulissen. Die Bemühungen, die Konflikte zwischen der militärischen Führung und den Verantwortlichen im Auswärtigen Amt im Rahmen zu halten, sowie die Vermittlungstätigkeit zwischen Erzberger, dem Vorsitzenden der Waffenstillstandsdelegation auf der einen, Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau auf der anderen Seite nahmen das ganze Verhandlungsgeschick in Anspruch, das Ebert vor dem Krieg erworben hatte, als es gegolten hatte, über alle Spaltungstendenzen hinweg die Einheit der SPD zu bewahren. Rantzau hat detaillierte Berichte über Eberts Vermittlungsrolle während seiner fast wöchentlichen Zusammenstöße mit Erzberger hinterlassen, der in eigenmächtigen Waffenstillstandsverhandlungen Rantzaus riskante Abwehrstrategie zur Erzielung günstigerer Friedensbedingungen unterminierte 42 . Ebert schlüpfte während

40 Vgl. BA R 43 11/856, 29. 41 Vgl. BAP BDRPrä 0/0/10, 57. 120

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seiner Präsidentschaft immer wieder in die Rolle des Schlichters, der hinter den Kulissen das Funktionieren des Kabinetts sicherstellen half. Ebert ermutigte den deutsch-österreichischen Vereinigungsprozeß durch Treffen mit dem entsprechenden Verbindungsmann, Otto Bauer. Mit der Schweiz und dem Vatikan tauschte er diplomatische Noten aus 43 . Einige dieser Bemühungen zielten auf die Rückkehr deutscher Kriegsgefangener, andere auf die Normalisierung staatlicher Nachkriegsbeziehungen. Durch solches Handeln wurde einmal mehr deutlich, daß der Präsident gleichzeitig als Staatsoberhaupt und als Regierungschef fungierte. Später würden einige der Interventionen Eberts als faux pas im Stile Wilhelms II. kritisiert werden 44 . Eberts politisches Hauptaugenmerk lag zweifellos auf dem Fortgang des Friedensprozesses, den er als Mitwirkender bei der Auswahl der Verhandlungsdelegation, bei taktischen Besprechungen des Kabinetts und bei der Formulierung der Antwort der Regierung auf die Bedingungen der Allierten nachhaltig mitzubestimmen suchte. Während der Krise, in die die Frage der Akzeptanz des Friedensvertrages von Versailles die junge Republik stürzte, machte Ebert Kabinettsumbildungen, die Sicherung der Funktionen des Staatsapparats und die Abwehr einer militärischen Revolte mit Groeners Hilfe zu Gegenständen seines Kompetenzbereichs. Als einer von Eberts engsten Ratgebern, Brockdorff-Rantzau, im Zusammenhang mit Versailles sein Amt niederlegte, versprach der Reichspräsident, ihn auch weiterhin bezüglich der Verteilung diplomatischer Aufgaben zu konsultieren45. Später kam es sogar zur einer nicht verfassungskonformen Verständigung, im Zuge derer Brockdorff-Rantzau

42 Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (in der Folge P A A A ) , NL BrockdorffRantzau, bes. 7/7. Ein Teil der Auseinandersetzungen ist nachzuverfolgen in: C. Scheidemann, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, Frankfurt a.M. 1998, S. 385 ff. 43 Ebert setzte sich für die Vereinigung mit Osterreich ein und bemühte sich um gute Beziehungen zum Heiligen Stuhl, zur Schweiz und zu anderen neutralen Staaten, da er auf einen positiven Einfluß solcher Verbindungen auf die Rückkehr der Kriegsgefangenen und auf das Zustandekommen eines Verständigungsfriedens hoffte, s. etwa S. Stehlin, Weimar and the Vatican, 1 9 1 9 - 1 9 3 3 , Princeton 1983, S. 25 u. 53. Ebert hatte den Papst ausdrücklich von seiner Wahl informiert und erntete im Gegenzug das Prädikat eines „hervorragenden, ehrenwerten Mannes", von dem man sich eine Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen erhoffte. Entscheidend wurden Eberts enge Beziehungen zu Erzberger. Zur Schweiz s. Swiss National Archive, Bern 2300 Berlin 20, Bericht vom 4. Juni 1919, w o es um die offizielle Anerkennung und den deutschen Dank f ü r die Unterstützung in der Kriegsgefangenenfrage geht. 44 Vgl. Mühlhausen, Büro, S. 9 1 - 9 2 . 45 P A A A N L Brockdorff-Rantzau, 8/1 „Geheime Aufzeichnung" Juni 1919; s. auch Scheidemann, Brockdorff-Rantzau, S. 509 u. 551, der von „nicht verfassungsgemäßen" Forderungen spricht, die Ebert 1922 angenommen habe.

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Botschafter in Rußland wurde. Die beiden blieben im engen Kontakt, wenn es um die Frage ging, wie Deutschlands außenpolitischer Status zu restaurieren sei.

V. Ausnahmegewalten und Militär Üblicherweise entwickelt sich die Auslegung der Kompetenzen und Vorrechte eines politischen Amtes in der politischen Praxis der Ausübung dieser Rechte. Im Falle eines neuen oder nicht klar von anderen Positionen abgegrenzten Amtes kann die Forderung nach ausgedehnten Befugnissen ein Mittel für zukünftigen Machtgewinn sein. Dieser Befund trifft auf die ersten Monate von Eberts Amtszeit zu. In einer auf den 5. April 1919 datierten Note beanspruchte Ebert für sich selbst als Reichspräsidenten die Lenkung des Ausnahmezustands, die zuvor dem Kaiser und dann der Ubergangsregierung zugestanden hatten 46 . Insbesondere bestand er darauf, daß Präsident und jedes Kabinettsmitglied befugt sein sollten, Gesetze und Dekrete zu unterzeichnen; nur in militärischen Fragen sollte dem preußischen Kriegsminister ein gesetzlich garantiertes Mitspracherecht gewahrt bleiben. In weiteren Briefen ans Kabinett wiederholte Ebert die Forderung nach den früheren kaiserlichen Prärogativen, besonders, was den Einsatz von Militär sowie die Sicherung von Recht und Ordnung anging. Er ging sogar so weit, das Recht auf die Absetzung von Länderregierungen zu verlangen 47 . Diese rechtlichen Fragen waren direkt mit der konkreten politischen Realität verknüpft, hatte doch das Militär unter dem Oberbefehl Noskes und der Billigung Eberts die Regierungen von Bremen und Braunschweig gestürzt. Die U S P D entschloß sich zur Herausforderung des Präsidenten, indem sie die Rechtmäßigkeit einer solch umfassenden Machtballung öffentlich in Frage stellte 48 . Im Gegenzug ließ Ebert den Justizminister ein Memorandum ausarbeiten, nach dem der Artikel 68 der kaiserlichen Reichsverfassung durch die Revolution nicht berührt worden und der Reichspräsident somit berechtigt sei, das Kriegsrecht auszurufen 49 . Die Rechtsexperten der U S P D versuchten, die Unrechtmäßigkeit des Kriegsrechts als solchem nachzuweisen und argumentierten entsprechend, Eberts und Noskes Militäreinsatz sei illegal gewesen. Juristischen Argumenten unzugänglich, definierten Ebert und die Minister die Rechte des Präsidenten rein über die Praxis.

46 B A R 43 11/856, 1 0 - 1 8 . 4 7 Ebd. 48 „Freiheit", 26. April 1919; Herzfeld führte die entsprechende Kampagne an. 4 9 Abgedruckt in: Schulze, Kabinett Scheidemann, S. 2 6 1 - 6 3 .

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Was die Zusammensetzung des Kabinetts anbetraf, so war das erste Kabinett der Weimarer Republik von den SPD-Vorsitzenden Ebert und Scheidemann in Absprache mit den übrigen Parteien gebildet worden. Wie man es in einem Parteiensystem erwarten konnte, hatte die Fraktion - in der SPD wie auch in den übrigen Parteien - das letzte Wort; dennoch kamen im allgemeinen die Kandidaten der Vorsitzenden durch 50 . Als der Finanzminister der D D P , Eugen Schiffer, von seinem Amt zurücktrat, verhielten sich die Parteien wie während der Koalitionsverhandlungen: Die D D P beanspruchte nicht nur den Posten, sondern bestand auch auf ihrem Recht, ohne vorherige Konsultationen den entsprechenden Kandidaten nominieren zu dürfen. Ebert und das Kabinett, einschließlich des Kanzlers, wurden erst informiert, als mit Bernhard Dernburg schon der Nachfolger Schiffers bestimmt worden war. U m zukünftigen Streitigkeiten zuvorzukommen, legte das Kabinett eine Reihe von Richtlinien fest, nach denen der Kanzler in jedem Falle einen Kandidaten aus der Partei des Vorgängers bestimmen sollte, wenn ein Kabinettssitz frei wurde, die Fraktionen jedoch nicht das Recht haben sollten, ihm Namen vorzuschlagen. Dem Reichspräsidenten sollte in diesem Falle nur eine ratifizierende Rolle zukommen 51 . Die Aktivitäten Eberts in diesem Bereich gingen jedoch weit darüber hinaus, die Entscheidung, die sein Kanzler und dessen Partei getroffen hatten, lediglich abzusegnen. Als die Regierung Scheidemann angesichts der Krise über Annahme oder Zurückweisung des Versailler Vertrages zurücktrat, gelang es Ebert nicht nur, seinen Wunschkandidaten Bauer zum Kanzler zu machen, sondern auch die Kabinettsbildung massiv zu beeinflussen, stellte er doch persönlich mehreren Personen Ministerposten in Aussicht 52 .

50 Günther Arns ist der Auffassung, Eberts diesbezügliche Bemühungen „könnten höchstens über-, nicht unterschätzt werden", in: Friedrich Ebert als Reichspräsident, Historische Zeitschrift Beiheft 1 (1971), S. 1-30; hier S. 27. Dabei stützt er sich auf einen einseitigen Bericht mit mangelhafter Quellenbasis und übersieht die Auswahlverfahren, in denen es nicht um den Kanzler, sondern weitere Kabinettsmitglieder ging. Was die Kanzlerfrage betrifft, so war Eberts Operationssphäre durch die notwendige Zustimmung des Parlaments natürlicherweise eingeschränkt. Insgesamt zieht Arns in seiner Bewertung die weitreichenden Privilegien des Präsidenten, etwa die engen Beziehungen zum Militär, nicht ausreichend in Betracht. 51 Schulze, Kabinett Scheidemann, S. 256; 160-61. 52 A. Kastning hat gezeigt, welche Entschuldigungen David und Müller vorbringen mußten, um Bauer gewinnen zu lassen, in: Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition, 1919-1923, Paderborn 1970, S. 25. N a c h Scheidemanns Rücktritt am 20. Juni trug L ö b e der Fraktion Eberts Wunsch vor, Scheidemann zum Bleiben zu bewegen, s. Potthoff, SPD-Fraktion, S. 94-96; 101-104. Wie alle Welt wußte auch die Fraktion über die starke persönliche Abneigung zwischen Ebert und Scheidemann Bescheid, die jede weitere Zusammenarbeit unmöglich machte, und lehnte ab. N u r aus Respekt und Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919

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Was die Beziehungen zum Militär betrifft, so verstand es Ebert, die entscheidenden Kontakte zu Groener und Noske zu halten. Von März bis Mai 1919 erstattete ihm Major von Feldmann regelmäßig über die Vorgänge im Generalstab Bericht 5 3 . Während der Regierungskrise im Zusammenhang mit Versailles dachte Ebert sogar kurzzeitig daran, Noske neben seinem Ministerposten auch noch mit der Kanzlerschaft zu betrauen, wie es ihm Groener vorgeschlagen hatte, fürchtete aber eine negative Reaktion der Arbeiterschaft 54 . Das Trio Ebert, Noske und Groener hatte sich nach dem Februar 1919 auf die gemeinsame Strategie verständigt, in ganz Deutschland gewaltsam die Räte niederzuschlagen und das Militär wiederaufzubauen. Das Gespann Noske-Groener (später Reinhardt)-Ebert fand sein Äquivalent in der Troika Geßler-Seeckt-Ebert. Beide sorgten dafür, daß militärische Angelegenheiten dem Gesichtskreis des Kabinetts weitestgehend entzogen blieben. In den zahlreichen Briefen, die Groener an Ebert richtete, sowie während seiner Besuche beim Präsidenten in dessen Feriensitz im Schwarzwald im Frühjahr und Sommer 1919 ging es um „die restlose Wiederherstellung der Staatsautorität", darum, daß „zum Regieren Macht notwendig ist" und daß „der Arbeiterrat-Unsinn aus der Verwaltung schnell und restlos verschwinden muß": „Die Gesundung unseres Wirtschaftslebens (...) ist hauptsächlich von zwei Dingen abhängig: Ordnung und Arbeit. Das bedeutet unter den derzeitigen Verhältnissen Belagerungszustand und Streikverbot" 5 5 . Die Beispiele für Groeners Bemühungen, Ebert von der Notwendigkeit der Restauration eines starken Staates zu überzeugen, um Deutschland wieder mächtig zu machen, ließen sich beliebig erweitern. Tatsächlich war Eberts Gebrauch des Notverordnungsrechtes unter den Bedingungen des Belagerungszustandes eine Vorwegnahme des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung. Wie dieser richtete er sich gegen politische Unruhen und Streiks und stand für hartes Durchgreifen im Dienste von Recht und Ordnung 5 6 . Wie in späteren Jahren, besonders 1923, billigte er

Höflichkeit hatte Ebert seinen Antrag formuliert. A m gleichen Tag sprach er bereits mit Groener über die Unmöglichkeit, Noske durchzubekommen und verriet seine Absicht, Bauer zu nominieren; s. Schulze, Kabinett Scheidemann, S. 490 f.; P A A A N L Nadolny 1447 und A. Golecki, Das Kabinett Bauer, 1980, Einleitung, X X I V ff. 53 B A N L Groener N 4 6 / 3 1 , 266. Aber auch Groener hielt den persönlichen Kontakt, s. die Tagebucheinträge vom 20. März und 24. April sowie diverse Briefe, die er, u.a. am 1. Mai 1919, in Hindenburgs Namen an Ebert richtete, s. N 4 6 / 2 5 . 54 Schulze, Kabinett Scheidemann, S. 490. 55 B A N L Groener 46/37, Brief an Ebert vom 27. Juni 1919; abgedruckt in: H . Hürten (Hg.), Zwischen Revolution und Kapp-Putsch, Düsseldorf 1977, S. 158 ff. 56 Vgl. B A P BdRprä S. 61.

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bereits im April und Mai 1919 Maßnahmen, die in seinem Namen soziale Unruhen und Streiks als Herausforderungen der Staatsmacht gewaltsam niederschlugen. Durch diese improvisierten Präzedenzfälle wurde der Präsident weit mehr als eine repräsentative Galionsfigur. Zur eigentlichen Werkstatt, in der Ebert und seine Mitarbeiter Ideen und Informationen zusammentrugen und diese in politischen Einfluß umschmiedeten, entwickelte sich das Büro des Reichspräsidenten. Hier entstand praktische Hilfe, aber auch Kampfansagen für Kabinettsmitglieder, Parteien, Interessengruppen. Ebert brauchte den Apparat seines Büros, um die Flut seiner diplomatischen und offiziellen Korrespondenz zu bewältigen, benutzte seine Mitarbeiter aber durchaus auch als Ratgeber in politischen Fragen. Sowohl die Persönlichkeiten, die Ebert um sich versammelte, als auch die Organisation seines Büros lassen vermuten, daß er gleich nach seiner Wahl im Februar davon ausging, daß die Reichspräsidentschaft ein dauerhaftes Amt bleiben würde - ein Amt mit großem politischen Gewicht, unterstützt von einem effizienten, leistungsfähigen und - vorgeblich - politisch neutralen Mitarbeiterstab. Obwohl John Heartfield in seiner bekannten Collage, die Adolf Hitler als Schmetterling aus dem Kokon schlüpfen läßt, den vorher, .verpuppt', Paul von Hindenburg und Ebert bewohnt hatten, in sicherlich übertriebener Weise Form über Inhalt gestellt hat, gibt es trotzdem an der personellen Kontinuität des Büros über die verschiedenen Präsidenten hinweg nichts zu deuteln. In der ersten Zeit nach Aufnahme der Arbeit lassen sich zwei einander teilweise überlappende Entwicklungsstufen ausmachen. Zwischen Mitte Februar und Mitte März 1919 legte Ebert die Grundlagen, wobei er sich vor allem auf seine Mitarbeiter aus der vorläufigen Regierung - besonders auf Kurt Baake - , aber auch auf SPD-Funktionäre wie Franz Krüger stützte, die zuvor in der Reichskanzlei gearbeitet hatten. In dieser Zeit gab es noch keine formellen Organisationsprinzipien. In der nächsten Phase, von März 1919 bis April 1920, bevölkerten zunehmend Nicht-SPD-Mitglieder das Büro, wobei die Rechtsexperten und Karrierediplomaten mehrheitlich im Außenministerium rekrutiert wurden. Parallel dazu setzte eine fortschreitende Formalisierung in der Behandlung politischer und sozialer Fragen ein. Der Wechsel in der Zusammensetzung des Personals war im übrigen nicht nur ein Zeichen für Eberts gegenüber der Kriegszeit gewandelte politische Ansichten, sondern spiegelte das Konzept einer Neutralität des Amtes, das weit über die bürokratische Hilfestellung hinaus auch politisch nutzbar war. Der Mitarbeiterstab eines Büros ist gleichzeitig Spiegel und Erzeuger eines bestimmten Milieus - im Falle Eberts verlagerte sich dieses immer mehr in Richtung der politischen Konservative. Eberts erster Büroleiter war Kurt Baake, sozialdemokratischer Journalist, der seit 1893 ein kleines Nachrichtenblatt herausgegeben und an der EtablieReichspräsidentschaft und neue Exekutive 1 9 1 9

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rung des Berliner Arbeitertheaters mitgewirkt hatte. Auf der Parteischule hatte er als einer der Schützlinge Rosa Luxemburgs gegolten. Während des Krieges wurde er zu einem der wichtigsten Journalisten des rechten Parteiflügels: zusammen mit Eduard David bemühte er sich um die Integration der Arbeiterbewegung ins Kaiserreich. Als die Parteizeitung „Vorwärts" sich gegen Kriegsanleihen ausgesprochen hatte und damit auf die Seite der Minderheit getreten war, schuf der Goethe-Kenner Baake mit einem parlamentarischen Nachrichtenblatt ein wichtiges Kommunikationsmedium zwischen der SPD-Exekutive und den Parteifunktionären. Scheidemann beschrieb Baake als „ein treuer, vielseitiger Berater Eberts in der Kriegszeit" und „seit dem 9. November 1918 als Untersekretär" dessen „rechte Hand". 5 7 Anfang März verließ Baake Eberts Büro und gab jede Regierungstätigkeit auf, um sich wieder seiner Theaterarbeit zu widmen. Ein weiterer Sozialdemokrat an Eberts Seite war sein Privatsekretär aus der Zeit der vorläufigen Regierung, Franz Krüger. Von 1907 bis 1914 Gewerkschaftssekretär in Königsberg, hatte er im Anschluß eine der Führungspositionen innerhalb des Verbands der Berliner Büroangestellten inne. In der Berliner SPD spielte er eine wichtige Rolle, besonders als er nach der Abspaltung der U S P D im Jahre 1917 die fast zusammengebrochene Parteiorganisation wieder aufbauen half. Auch, als er während der Revolution in der Reichskanzlei und ab Februar 1919 in Eberts Büro tätig war, blieb er in der Führungsriege der Büroangestelltengewerkschaft. Am 12. Februar teilte er dieser in einem Brief aus Weimar mit, er werde das neuentstehende Büro leiten und sich um Eberts Post und geschäftliche Angelegenheiten kümmern 58 . Tatsächlich scheint er sich dann vor allem mit Fragen der Parteipolitik beschäftigt zu haben 59 . Am 29. April 1919 unterzeichnete er immer noch als „Direktor", so daß die genaue Trennung zwischen seinen Aufgaben und denen seines Nachfolgers Rudolf Nadolny unklar bleibt. Krüger kehrte nach seinem Ausscheiden aus Eberts Büro nach dem Kapp-Putsch im April 1920 zu seiner Gewerkschaftstätigkeit zurück. Wie Baake hatte er während des Krieges zum reformistischen Lager gezählt. Baake hatte Annexionen befürwortet, war häufig selbst an der Front gewesen und unterhielt wie Adolf Köster, ebenfalls Kriegsberichterstatter des rechten Parteiflügels und seit Dezember 1919 sein Mitarbeiter, Kontakte zur militärischen Führung 60 . Während Baake in der Revolutionszeit auch ein direktes politisches

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Scheidemann, Memoiren 2, S. 356. Baake frequentierte wie Ebert den Salon Holtzendorffs. BA R 43 1/577, S. 8. Vgl. etwa die Korrespondenz über die Räte in BA R 43 1/1944, S. 4. Zu Köster s. K. Doß, Adolf Köster, Düsseldorf 1977; sowie seinen Nachlaß im Archiv der sozialen Demokratie Bonn, N L Köster, 4 (Fahrt an die Front mit Noske, Korrespondenz mit Ebert).

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Engagement zugunsten Eberts nicht gescheut hatte, ist Krügers Standpunkt schwieriger zu greifen. Im März 1919 erläuterte er vor dem Parteiausschuß seine Auffassungen über die Schwächen der SPD. Während der Revolution habe die Partei teilweise auf Seiten der USPD agiert, teilweise zu ihr in Opposition gestanden; nun sei es notwendig, daß sie unverzüglich den eigenen Standpunkt zu den Arbeiterräten und den Friedensverhandlungen deutlich mache. Dabei machte Krüger aus seiner eigenen, stark national gefärbten Sichtweise keinen Hehl: „Die Entente fordert von uns große Bezirke, deren Verlust das politische und wirtschaftliche Leben Deutschlands vollständig ruinieren würde." 61 Die SPD, so seine Überzeugung, müsse den Widerstand gegen solche Pläne aktiv anführen. Nachdem Krüger im April 1920 seine Stellung in Eberts Büro „wegen politischer Meinungsverschiedenheiten" niedergelegt hatte, arbeitete er bis zu seinem Tod im Jahre 1924 weiter in der SPDFührung mit 62 . Alle genannten Reformisten in den Reihen der SPD hatten sich für eine Parlamentarisierung des Reichs eingesetzt und befürworteten staatliche Interventionen in der Sozialpolitik. Ab Mitte März 1919 begannen Vertreter einer anderen politischen Richtung in Eberts Büro Fuß zu fassen. Es handelte sich ausschließlich um Mitglieder der alten Reichsbürokratie, die schließlich die Sozialdemokraten gänzlich zu verdrängen drohten. Gleich nach der Wahl Eberts zum Reichspräsidenten hatte das Auswärtige Amt wie auch die militärische Führung Verbindungsoffiziere entsandt. Brockdorff-Rantzau hatte sich für Rudolf Nadolny entschieden, der Ebert aus den Verhandlungen mit dem Außenministerium während des Krieges gut bekannt war 63 . Nadolny war einer der einflußreichen Beamten gewesen, die der SPD während der internationalen Gespräche .Hilfestellung' geleistet hatten - nebenbei kontrollierten und kopierten sie den Inhalt der sozialdemokratischen Korrespondenz 64 . Nadolny hatte aktiv an den deutschen Bemühungen mitgewirkt, die Revolution während des Krieges in die feindlichen Lager zu tragen 65 . Als er Anfang März 1919 nach Weimar kam, war Ebert gerade auf der Suche nach geeigneten Leuten. Laut Nadolnys eigenen Angaben bat Ebert ihn sofort, in sein Büro einzutreten und dessen Leitung zu übernehmen; nach kurzer Bedenkzeit habe er angenommen. Sodann habe er, wie er selbst - wohl nicht ganz ohne Übertreibung - berichtet, das Büro mitsamt des dazugehörigen Personals aus der

61 Vgl. D. Dowe (Hg.), Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses der SPD 1912 bis 1921, Bd. 2, Bonn 1980, S. 635 f. 62 „Vorwärts" Nr. 158, 26. März 1920. 63 Nadolny, Beitrag, S. 68. 64 PAAA Weltkrieg 2c 8, 15. August 1917. 65 Vgl. F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961, S. 136 ff.

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Taufe gehoben: „Ich konstituierte darauf das Büro, indem ich den späteren Staatssekretär und Leiter des Büros Meissner, damals noch Regierungsrat der elsaß-lothringischen Eisenbahnen und mir während meiner russischen Arbeit dadurch bekannt geworden (...) und weiterhin mit seiner Hilfe Ministerialrat Doehle als Referenten gewann und mir einen Herrn vom Auswärtigen Amt als außenpolitischen Referenten zuteilen ließ; die früher im Büro tätig gewesenen, für eine amtliche Geschäftsführung nicht geeigneten sozialdemokratischen Parteifunktionäre wurden mit Hilfe des Präsidenten abgebaut. Kurz, ich richtete das Büro ein, wie es im wesentlichen seitdem bestand" 6 6 Nadolny leitete das Büro bis Ende November 1919. Seine politischen Ansichten tendierten natürlich weiter nach rechts als dies bei den Sozialdemokraten des rechten Flügels der Fall gewesen war, die er abgelöst hatte. Man hat seine Ideen, die eine freie Marktwirtschaft mit einer expansionistischen Außenpolitik verbinden wollten, einmal als „liberalen Imperialismus" bezeichnet 67 . Wie sein Nachfolger Kurt Riezler interpretierte auch Nadoldy die Geschichte als sozialdarwinistischen Kampf unter konkurrierenden Völkern. Riezler und Nadolny standen für mehr als eine bloß personelle Kontinuität bei Beamten, Diplomaten, Offizieren und anderen hochkarätigen Mitarbeitern vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Als „liberale Imperialisten" prägten sie die Umgebung, in der Ebert Tag für Tag arbeitete, eine Umgebung, die beherrscht war von der Wunschvorstellung eines wiedererstarkten Großdeutschland 68 . Der Einfluß eines solchen Ambientes auf politische Entscheidungen ist schwerlich präzise meßbar - die Gesamtatmosphäre, die durch diese Männer geschaffen wurde, läßt sich jedoch anhand eines Briefes aus dem Jahre 1922, den Nadolny nach einem Besuch bei Ebert an Otto Meissner, Riezlers Nachfolger als Büroleiter, richtete, sehr plastisch rekonstruieren: „Sodann möchte ich Ihnen noch sagen, daß ich mich ein wenig darüber gefreut habe, beim Herrn Reichspräsidenten diesmal eine etwas stärkere Absicht gegenüber den Dingen in der nächsten Nachbarschaft bemerkt zu haben. Hoffentlich kommt es bald dazu, daß er wirklich zugreift, denn seit 4 Jahren treiben wir, abgesehen von unserer larmoyanten Bettel- und Verle-

66 P A A A N L Nadolny 1447; Nadolny, Beitrag, S. 68 ff. 67 K. Jarausch, The Enigmatic Chancellor, London 1973, S. 191 ff. 68 Als der Vorsitzende des Berlin-Brandenburger Wehrvereins Nadolny am 31. März 1919 ein Schreiben zukommen ließ, in dem von Landkarten „für unsere Verteidigung und einen m.E. unvermeidbaren künftigen Krieg" die Rede war, leitete dieser den Brief an Noske mit der Bemerkung weiter, er enthalte Informationen, die Deutschland in die Lage versetzten, gegen den Bolschewismus vorzugehen, B A P B d R P r ä 768,2.

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genheits-Politik in der Reparationsfrage und gewissen krampfhaften und taktisch nicht immer richtig angesetzten Aktionen in der Schuldfrage wesenlos und planlos in der Sphäre der Außenpolitik umher und stehen - ein starkes Volk von 60 Millionen, mit der Folie der gewaltigsten Leistungen in Kriegsund Friedenszeit hinter und mit einer Fülle von Möglichkeiten vor uns - fast ohne jeden politischen Kredit vollkommen isoliert, überhaupt als politische quantité négligeable da" 69 . Schon im Juni 1919 machte Nadolny den Versuch, sich aus Eberts Büro zurückzuziehen, da er es ablehnte, unter Kollegen zu arbeiten, die den Frieden von Versailles zu akzeptieren bereit waren. In seinem Rücktrittsgesuch an Ebert bekräftigte er, daß kein ehrbarer Politiker denjenigen Artikeln des Vertrages zustimmen dürfe, in denen es um die Auslieferung deutscher „Kriegsverbrecher" an ein Tribunal der Siegermächte ging: „In der heutigen Nachtsitzung habe ich meinen Standpunkt in der Friedensfrage dahin festgelegt, daß ich die Annahme der Auslieferungsbedingung als eine von der ganzen Welt und von unseren Nachkommen zu verurteilende Verleugnung unserer nationalen Ehre betrachte und daß die Wahrung dieser Ehre den Leitern des Volkes obliege. Nachdem die Annahme dieser Bedingung trotzdem erfolgt ist, halte ich bei diesem meinem Standpunkt eine weitere Teilnahme an der Arbeit der Regierung und überhaupt die Ausübung dienstlicher Funktionen unter dem Regime derer, die diese Annahme ausgesprochen haben, mit meinem Diensteid für unvereinbar. (...) Wie schwer mir der Entschluß, mich von meinem Beruf und speziell von der Tätigkeit bei Ihnen, für die ich Ihnen nur den allergrößten Dank schuldig bin, fällt, brauche ich nicht nach den mündlichen Verhandlungen, die wir gehabt haben, weiter auszuführen" 70 Erst im November 1919 trat Nadolny dann tatsächlich zurück, um in den diplomatischen Dienst einzutreten und als deutscher Botschafter nach Schweden zu gehen. Seine Bemühungen, Einfluß auf die deutsche Politik zu nehmen, setzte er jedoch fort, besonders, wenn es um eine Rückgewinnung der .Weltgeltung' Deutschlands ging. Mit Mitgliedern des Auswärtigen Amtes, denen ebenfalls an der Restauration der früheren Großmachtstellung gelegen war, wie etwa Brockdorff-Rantzau, arbeitete er weiter eng zusammen. Teil seiner Anstrengungen war beispielsweise ein Memorandum mit dem Titel „Unser Kampf gegen Versailles", in dem er das deutsche Reich als „politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Europas" definierte, „im Norden, Westen und Süden sich fest und rein defensiv an geographisch und ethnographisch

69 PAAA N L Nadolny 1520, 2. November 1922. 70 PAAA N L Nadolny 1118; vgl. Nadolny, Beitrag, S. 76.

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möglichst klare natürliche Grenzen lehnend, als welche im großen und ganzen das Meer im Norden, Ardennen und Vogesen im Westen und der Alpenkamm im Süden zu betrachten sind; im Osten mit expansiver kultureller und wirtschaftlicher Mission und abgegrenzt nach Maßgabe der Fortschritte dieser Mission und der politischen Möglichkeiten; in Ubersee friedlich, wirtschaftlich und kulturell tätig ohne territoriale Tendenzen" 7 1 . Nadolnys Hoffnungen auf ein Wiedererstarken und eine territoriale Expansion Deutschlands wiederholte Auffassungen, die schon Bethmann-Hollwegs Septemberprogramm von 1914 zugrunde gelegen hatten, das seinerzeit von Riezler, Eberts nächstem Büroleiter, ausgearbeitet worden war. War es der Einfluß von Männern wie Nadolny oder Riezler, der Eberts Nationalgefühl wachsen ließ? Oder waren es seine veränderten politischen Präferenzen, die dazu führten, daß er sich für diese und keine anderen Mitarbeiter entschied? Kann ein politisches Amt noch überparteilich sein, wenn sein gesamter Unterbau politisch zu einer Seite neigt? Ein Hinweis auf eine Antwort mag sein, daß Ebert die Zusammenarbeit mit Nadolny und Riezler als leichter empfand als mit den reformistischen Sozialdemokraten. Zweifellos hatten Ausbildung und Leistungsfähigkeit bei der Auswahl der betreffenden Männer eine wichtige Rolle gespielt. Im April 1920 schrieb Ebert in einem Brief an den Führer der schwedischen Regierung, bei der Nadolny in der Zwischenzeit diplomatischer Vertreter des Reiches geworden war: „Sie dürfen ihn wohl vertrauen, er ist ein durchaus aufrichtiger und tüchtiger Mann." 7 2 Bemerkenswert ist jedoch, daß Ebert immer Männer ähnlicher politischer Gesinnung an die Spitze seines Büros stellte. Kurt Riezler, der Nadolny im November 1919 als Büroleiter ersetzte, hatte schon seit April des gleichen Jahres aktiv mit Ebert zusammengearbeitet. Wie sein Vorgänger hatte auch Riezler im Auswärtigen Amt Karriere gemacht. Schon 1917/18 hatte er auf Ebert als dem „besten" unter den Parlamentariern seine Hoffnungen gesetzt: dieser sei am ehesten dazu in der Lage, die innenpolitischen Probleme zu lösen ohne darüber die außenpolitischen Ziele aus den Augen zu verlieren 73 . Während der Revolution bemühte sich Riezler, Eberts Position gegen die Spartakisten zu stützen 74 . Im April 1919 berichtete er als spezieller Emissär sowohl Ebert als auch dem Auswär-

71 PAAA N L Nadolny 1132; ähnliche Ansichten drückte er in den Briefen an Maltzan vom 12. Mai 1921 und H. Müller vom 19. September 1919 aus. 72 Abgedruckt in: A. Blänsdorf, Friedrich Ebert und die Internationale, in: Archiv für Sozialgeschichte 9 (1969), S. 321—428; hier: S. 425 f. 73 Vgl. K. D. Erdmann (Hg.), Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972, S. 478 (30. September 1918). 74 H. Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, Frankfurt a.M. 1961, S. 84. 130

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tigen Amt über die Vorgänge in Bayern. Diese Berichte enthüllen eine brutale Kompromißlosigkeit, da sie zur völligen Ausmerzung aller Anarchisten und Kommunisten aufriefen, die in München zu diesem Zeitpunkt die Kontrolle übernommen hatten 75 . Später half Riezler bei der juristischen Ausarbeitung der Amtspflichten des Reichspräsidenten innerhalb der Weimarer Verfassung. Wie Krüger verließ er das Büro im April 1920 unmittelbar im Anschluß an den Kapp-Putsch. Die Gründe für seinen Rückzug bleiben verschwommen; in einem der entsprechenden Berichte ist von einer telefonischen Standpauke Eberts an Riezlers Adresse die Rede 76 . Zeitgenössische Spekulationen sprechen von unterschiedlichen Denkstrukturen und Temperamenten, die zum Bruch zwischen Riezler und Ebert geführt hätten 77 . Man hat Riezler mit einem Weihnachtsbaum verglichen, der vor Ideen nur so sprühte, dem es aber gänzlich an praktischen organisatorischen Qualitäten fehlte 78 . Als prominenter Verfechter des „liberalen Imperialismus" hatte Riezler beträchtlich zum etatistischen Charakter des Büros beigetragen - sein Nachfolger Otto Meissner vertrat ähnliche ideologische Positionen und behielt den Posten unter Hindenburg und Hitler. In nur wenigen Monaten war die neue deutsche Exekutive als ein Kompromiß zwischen parlamentarischer Demokratie und Präsidialsystem errichtet worden. In der ersten Hälfte des Jahres 1919 war es Ebert gewesen, der sich besonders aktiv um die Präsidentschaft bemüht, sie mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet und diese bereits in hohem Maße in Anspruch genommen hatte. In langfristiger Perspektive repräsentiert Ebert den Typ des aufgestiegenen Arbeiters. Die „Berliner Illustrierte" plante im Mai 1919 ein Porträt des ehemaligen SPD-Vorsitzenden und jetzigen Reichspräsidenten, das mit zahlreichen Familienfotos - Ebert mit Zigarre in seinem Palais, seine Tochter am Flügel, seine Ehefrau im Garten, die Räume mit Blumen dekoriert - illustriert werden sollte. Der Artikel wurde schließlich auf Eberts Verlangen nicht gedruckt, da dieser fürchtete, die Szenen könnten vor dem Hintergrund der Krise um Versailles mißverständlich wirken 79 . Ironischerweise hätte die Häuslichkeit der oberen Mittelklasse, die von den Fotos ausstrahl-

75 B A P BdRPrä 215, 3 5 - 3 7 ; gedruckt in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin 1958, S. 3; 4 1 2 - 1 3 . 76 BA N L Payer 48, datiert auf den 13. April 1920. 77 Vgl. A . Brecht, A u s nächster Nähe. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1966, S. 325 f. 78 Kessler, Tagebücher, S. 165. 79 Entsprechende Kopien: „Die Woche", in BA N L Alfred Hugenberg 80; Das Schreiben, in dem um die NichtVeröffentlichung des Artikels gebeten wurde, wurde von Eberts Sekretär verfaßt.

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te, einen durchaus positiven Kontrast zur Extravaganz des Kaisers abgegeben 80 . In sämtlichen Repräsentativfunktionen diente das Staatsoberhaupt Ebert dem Deutschen Reich vorbildlich. Hinter der häuslichen Fassade praktizierte Ebert staatliche Macht im Namen der Stabilität. Wann immer seine Motivationen greifbar werden, rechtfertigte er eigenes Handeln als positiv im Sinne einer Restitution der Großmachtstellung Deutschlands. Zu diesem Zweck betrieb er eine möglichst zügige Etablierung der neuen Exekutive, und vielleicht sah er sich selbst als entscheidende Brücke zwischen alten und neuen Interessen und Institutionen. Jedenfalls stellte er sich später selbst in einem Gespräch mit dem Schweizer Botschafter als Retter des Vaterlandes aus den Wirren der Revolution 1918/19 dar 81 . Ebert war auch die Symbolfigur für den Bruch zum wilhelmischen Umgang mit der Sozialdemokratie: 1912 hatten SPD-Mitglieder in Neuwied nicht in die Freiwillige Feuerwehr eintreten können; 1913 war ihnen in Bad Godesberg der Besuch öffentlicher Badeanstalten verboten. Ende Oktober 1918 verkehrte ihr Parteivorsitzender im Salon eines industriellen Lobbyisten, wo er insistierte, „Die Firma [der Staat] aber kann und muß erhalten bleiben" 82 . 1919, inzwischen Präsident des Deutschen Reiches, frequentierte er den Salon noch immer - zusammen mit Bankern, Militärführern und Industriellen 83 . Das Büro des Reichspräsidenten, das Ebert als Teil der Exekutive in den wenigen Monaten Anfang 1919 improvisieren half, illustriert wie die Präzedenzfälle, die er schnell zu etablieren verstand, sowohl die sozialen Veränderungen wie die politischen Kontinuitäten von Kaiserreich und Republik. Festzuhalten bleibt, daß die prompte Übernahme traditioneller deutscher Machtpolitik eines Teils der kaiserlichen Elite durch Ebert es nicht rechtfertigt, ihn und seine Politik mit dem Erbe der Republik oder ihren Nachwirkungen zu assoziieren - er war einfach vom Patrioten der Kriegszeit zum moderaten Nationalisten der Nachkriegszeit geworden. Wäre Hindenburg ein so aktiver und wachsamer Verteidiger der Rechte des Reichspräsidenten gewesen wie er, hätte die Republik möglicherweise bessere Uberlebenschan-

80 J. C. Röhl, Kaiser, Hof und Staat, München 1988, hat die kaiserlichen Exzesse in einer höchst unterhaltsamen Studie beschrieben. 81 Schweizer Nationalarchiv, Bern 2300 Berlin 26; Bericht vom 4. März 1925 über die vorausgegangenen Mitteilungen Eberts an den Botschafter. 82 B A R 1/16, Fol. 4: Holtzendorff an Ballin, Bericht vom 31.10.1918. 83 Vgl. D. K. Buse, Economic Interests and Lobbying in the Early Weimar Republic: Holtzendorff's Political Salon, in: Histoire sociale/Social History 14 (1981), S. 455-484; hier S. 461 ff.

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cen besessen. Dennoch: angesichts der großen sozialen Erhebung, die der Krieg mit sich gebracht hatte, optierte Deutschlands führender Sozialdemokrat eher für Kontinuität als für Veränderung. Aus dem Sozialexperten der Vorkriegszeit wurde ein Nachkriegspolitiker, den nationalstaatliche Fragestellungen viel mehr interessierten. Sogar seine Sprachverwendung verschob sich von sozialen zu nationalen Themen. Weder das Personal seines Büros noch seine politischen Vertrauten vor und nach der Revolution können als „überparteilich" gelten 84 . Seine neuen politischen Berater und Verbündeten, wie Nadolny, Brockdorff-Rantzau und Groener, die allesamt die Wiedererlangung von Deutschlands Weltgeltung an die erste Stelle der politischen Tagesordnung setzen wollten, untermauern zusätzlich, daß Ebert eine Menge vom Geiste Berlins und Potsdams in die neue ,Weimarer' Republik einbrachte.

84 Die Annahme, daß Eberts Büro überparteilich strukturiert gewesen und vor allem zur technischen Hilfestellung genutzt worden sei, vertritt Mühlhausen, Büro, S. 106, ohne jedoch die ideologische und politische Orientierung des Mitarbeiterstabes zu berücksichtigen. Reichspräsidentschaft und neue Exekutive 1919

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Mord im Osten Die polnischen und anderen osteuropäischen Pogrome von 1918-1919 im Verständnis der zeitgenössischen deutschen Juden WILLIAM W. H A G E N

Überall in Mittel- und Osteuropa führte der Erste Weltkrieg zu einer Verschärfung des Antisemitismus. Aber auch aus einem anderen Grund gewann die Judenfrage' an Bedeutung: Die Aussicht auf einen deutschen Sieg über Rußland während des Krieges hatte eine Neuregelung der staatsbürgerlichen Verhältnisse der Ostjuden unter deutscher Herrschaft versprochen, die dann auch im November 1916 nach der Gründung des Königreichs Polen im ehemaligen russischen Polen durch die verbündeten Deutschen und Österreicher Wirklichkeit wurde. Der Friede von Brest-Litowsk vom Februar 1918 eröffnete noch weitere Möglichkeiten des deutsch-jüdischen Verhältnisses in Osteuropa. Später, nach der deutschen Niederlage, stellte sich die ganz andere Frage der jüdischen Integration in die neu entstandenen, national legitimierten Nachfolgestaaten der besiegten Vielvölkerreiche. Politischer Hauptsprecher der überwiegend bürgerlich geprägten deutschen Juden war bekanntlich der liberal-assimilatorische Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), mit dem die viel kleinere, aber einflußreiche Zionistische Vereinigung für Deutschland rivalisierte. Die folgenden Seiten bieten eine stark verkürzte Fassung einer empirisch und thematisch breiter angelegten Untersuchung. An dieser Stelle soll es hauptsächlich um die Einstellung der deutsch-jüdischen Liberalen des Centraivereins zur Lage der Ostjuden, und besonders der polnischen Juden, nach Kriegsende gehen; die Ansichten der Zionisten werden lediglich am Rande zur Sprache kommen. Es fehlt leider der Raum, auch die relevanten Passagen der reichhaltigen Forschungsliteratur zu diesem Thema in den Blick zu nehmen. Die Geschichtswissenschaft hat sich vor allem vor dem Hintergrund der Rivalität des CV mit den Zionisten sowie der Verschärfung des deutschen Antisemitismus in den Kriegsjahren mit der Politik der deutschen Juden gegenüber den Ostjuden befaßt, während die vorliegende Analyse sich auf die Reaktionen auf die osteuropäischen Pogrome nach Kriegsende konzentrieren möchte 1 . 1 Vgl. u.a. W. E. Mosse (Hg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, Tübingen 1971; E. Zechlin, Die deutsche Politik und die J u d e n im Ersten Weltkrieg, G ö t Mord im Osten

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Der Rückzug des deutschen Heeres aus Osteuropa ermöglichte die Gründung eines unabhängigen polnischen Staates, der aber nur langsam aus einem staatlich ungeregelten Machtvakuum entstand und dessen Führung unter konkurrierenden bewaffneten polnischen Lagern umstritten war. Schon vor dem Oktober 1918 ereigneten sich polnische Ausschreitungen und Gewalttaten gegen Juden, die in den folgenden Monaten bis Mitte 1919 im ehemaligen habsburgischen Galizien und russischen Polen an Intensität und politischem Organisationsgrad noch weiter zunahmen 2 . Die deutschen Juden, Liberale wie Zionisten, mußten die gegen die Juden gerichteten Gewalttaten in Polen und anderswo in Osteuropa mit dem Bewußtsein betrachten, daß sie während des Krieges im Rahmen der deutschen Politik Verantwortung für die Ostjuden und ihre Zukunft auf sich genommen hatten, nicht nur im hochprofilierten gemischt liberal-zionistischen Komitee für den Osten. Die polnischen Juden wurden regelmäßig lautstark von polnischen Nationalisten und Antisemiten wegen ihrer vermeintlich pro-deutschen Gesinnung verurteilt. In der Tat hatten während des Krieges verschiedene deutsch-jüdische Aktivisten versucht, unter ihren östlichen Glaubensgenossen eine solche Stimmung zu verbreiten. Antisemitismus und Gewalt in Osteuropa riefen allgemein die Furcht vor einem möglichen jüdischen Emigrationsdrang aus, der unter den deutschen Juden die

tingen 1969; S. E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison (Wisconsin) 1982; ders., Eastern Jews, German Jews and Germany's Ostpolitik in the First World War, in: Leo Baeck Institute Yearbook [LBIY] 27 (1983), S. 351-366; P. Pulzer, The First World War, in: M. A. Meyer/ M. Brenner (Hg.), German-Jewish History in Modern Times, 4 Bde., New York 1997-1998; hier: Bd. 3, S. 360-384; P. Mendes-Flohr, In the Shadow of the World War, ebd., Bd. 4, S. 7 29; D. Engel, Patriotism as a Shield: The Liberal Jewish Defence against Antisemitism in Germany During the First World War, in: LBIY 31 (1986), S. 147-172; J. Matthäus, Deutschtum and Judentum Under Fire - The Impact of the First World War on the Strategies of the Centraiverein and the Zionistische Vereinigung, in: LBIY 33 (1988), S. 129-148. Zu den rivalisierenden Interpretationsmustern des deutschen Antisemitismus, s. W. W. Hagen, Before the .Final Solution': Toward a Comparative Analysis of Political Anti-Semitism in Interwar Germany and Poland, in: The Journal of Modem History, 68 (1996), Nr. 2, S. 351-381. Zur weiteren Literatur s. M. Zimmermann, Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997. 2 Ausführlich zum Thema polnischer antijüdischer Gewalt: F. Golczewski, Polnisch-Jüdische Beziehungen 1881-1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden 1981. In der polnischen Literatur s. J. Tomaszewski u.a. (Hg.), Najnowsze dzieje Zydow w Polsce, Warschau 1993; A. Zbikowski, (Hg.), Dzieje Zydöw w Polsce. Ideologia antysemicka 1848-1914, Warschau 1994. Zur Problematik des polnischen Antisemitismus (mit weiterführenden Literaturangaben) s. auch Hagen, Before the ,Final Solution'. 136

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unerwünschte Folge haben würde, die Zahl der Ostjuden in Deutschland zu vermehren und damit das Antisemitismus-Risiko auch dort zu erhöhen. Aber die Hauptsorge der deutschen Juden nach Kriegsende war die Bedeutung der antijüdischen Pogrome in Polen und anderswo für das mittel- und osteuropäische Judentum insgesamt. Hatte der Weltkrieg eine neue Ära rücksichtsloser und verheerender antisemitischer Gewalt eingeläutet? Bestand die Gefahr, daß diese nach Deutschland übergreifen oder sich aus schon vorhandenen deutschen Wurzeln entwickeln würde? Gab es Gründe dafür anzunehmen, daß das Blutvergießen des Weltkrieges, die Revolutionen in Rußland und Deutschland und die osteuropäischen Nationalitätenkämpfe die jüdische Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa auf lange Sicht gefährden würden? Aus Sicht der CV-Liberalen waren Grad und Gefährlichkeit des Antisemitismus in der Hauptsache von drei Faktoren abhängig. Der wichtigste davon war die Volksmeinung, d.h. das Ausmaß antijüdischer Vorurteile und Ressentiments in den niederen Bevölkerungsschichten, deren Mitglieder unter Umständen zu körperlicher Gewalt fähig waren. Dazu trat selbstverständlich die Einstellung der Staatsmacht zu Antisemitismus und antijüdischer Gewalt: dämmte sie solche Erscheinungen ein oder ließ sie sie zu? Der dritte Faktor war der Einfluß, den organisierte antisemitische Parteien und Propaganda im politischen Leben besaßen. Auf der einzigen Hauptversammlung des C V während des Krieges im Februar 1917 drückte man für Deutschland in allen drei Punkten Besorgnis aus 3 . Zur Frage der polnischen Juden bezog der C V 1917 dahingehend Stellung, daß sie im neuen Königreich Polen bleiben und unter deutschem Einfluß und nach preußischem Muster emanzipiert, aufgeklärt und modernisiert werden sollten, wobei sie in der Schule Hochdeutsch als Alternative zum Jiddischen lernen sollten. Das Thema ihrer neuen politischen Loyalitäten war ein heikles, da die betreffenden Juden gemäß dem Konzept des C V kulturell germanisiert werden sollten, während sie gleichzeitig Staatsbürger eines zwar konservativen und pro-deutschen, aber immerhin polnischen Staatsgebildes waren. Das gesamte deutsch-liberale Mitteleuropa-Programm setzte voraus, daß das enorm erweiterte Gebiet deutscher Oberherrschaft in Osteuropa, einschließlich des Königreichs Polen, allmählich stärker an die deutsche Kultur und Gesellschaft gebunden werden sollte 4 .

3 Leo Baeck Institute, New York, Mikrofilm Nr. 369: Stenographischer Bericht über die Hauptversammlung des Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens vom 4. Februar 1917. 4 S. u. a. W. Conze, Polnische Nation und deutsche Politik, Köln 1958. Mord im Osten

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Mit dieser Einstellung mußten die deutsche Niederlage von 1918 und der Sturz der reichsdeutschen Besatzungsmacht in Osteuropa für den Centraiverein erschütternd sein. Die Wiedergeburt eines unabhängigen polnischen Staates im Bündnis mit den Westmächten wurde mit Verbitterung und pessimistischen Vorahnungen betrachtet. Die CV-nahe „Allgemeine Zeitung des Judenthums" berichtete im Oktober 1918 über die deutsche Annahme von Wilsons 14 Punkten als Friedensbasis: „Wir, die wir die geschichtliche Notwendigkeit einer Teilung Polens anerkannt [haben] (...) können nur mit tiefster Trauer von diesen Erklärungen Kenntnis nehmen" 5 . Seit Frühling 1918 wurde über vereinzelte Ausschreitungen seitens der polnischen Bevölkerung gegen Juden in Krakau und Galizien berichtet. Im aufgeheizten Klima des Kampfes um die Regierungsmacht im neuen Polen, der zwischen der einflußreichen, westorientierten und antisemitischen NationalDemokratischen (Endek) Partei unter der Führung von Roman Dmowski und Ignacy Paderewski und dem heterogenen Lager unter Jözef Pilsudski entbrannt war, gerieten die polnischen Juden in die Gefahr, als pro-deutsch oder pro-bolschewistisch oder zionistisch oder anti-polnisch in die Schußlinie zu geraten. Mit den anti-jüdischen Ausschreitungen nach Kriegsende, die unter dem propagandistischen Einfluß der Endeks nicht nur Ausdruck sozial-wirtschaftlicher Verelendung waren, sondern auch politische Akzente trugen, hatten solche Angriffe 1918 schon begonnen. Ende November kam es in der zwischen Polen und Ukrainern umkämpften ostgalizischen Stadt Lemberg zum gewaltsamsten und opferreichsten polnischen Pogrom der Nach- und Zwischenkriegszeit, in dem in drei Tagen 72 Juden getötet und 443 verletzt wurden. 38 jüdische Häuser wurde in Brand gesteckt; bei den Behörden gingen 3.620 Schadensmeldungen ein. Mit Duldung der militärischen Leitung beteiligten sich hauptsächlich polnische Legionäre der pro-nationaldemokratischen Haller-Armee, aber auch Teile der polnischen Zivilbevölkerung an dem Pogrom. Die polnischen Stadtmagistrate von Lemberg, Krakau und Warschau wie auch die provisorische Staatsregierung unter der Führung von Paderewski verurteilten das Pogrom. Trotzdem fügte das Geschehen dem Bild des neuen Polen in deutschen und westlichen Augen empfindlichen Schaden zu, besonders weil es nur der H ö hepunkt in einer ganzen Welle von Pogromen war, die sich zu Kriegsende in Galizien entladen hatte 6 . Die CV-Schriften lieferten sehr einsichtige Analysen und Bewertungen der polnischen Pogrome von 1918/19, wie auch anderer Manifestationen osteuro-

5 „Allgemeine Zeitung des Judenthums" [AZJ], 18.10.1918, N r . 41, S. 495. 6 Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. 197 f. und 1 8 5 - 2 0 5 , passim.

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päischen Antisemitismus in dieser Zeit. Diese Auslegungen sagen viel über das Antisemitismus-Verständnis der deutsch-jüdischen Liberalen im allgemeinen aus. Das wichtigste Motiv dieser Schriften war die Interpretation des Antisemitismus als modernem Phänomen des mitteleuropäischen politischen Lebens nicht als archaischem Gewaltreservoir oder Quelle dunklen Vorurteils und Hasses. Die CV-Analysen legen Nachdruck auf die politische Konstruiertheit antisemitischer Ereignisse und Emotionen, deren Bekämpfung hauptsächlich von verfassungsmäßigen und rechtstaatlichen Maßnahmen und Einrichtungen abhing - eine Antwort auf die zionistische Behauptung, in der Diaspora sei ein für die Juden bedrohlicher Antisemitismus unvermeidlich. Auf diese Weise rückt der Ansatz des CV in die Nähe heutiger Deutungen von Nationalismus und ethnischem Konflikt, die wie bei Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Bernhard Giesen, aber auch früheren deutschsprachigen Wissenschaftlern wie Friedrich Meinecke, Hans Kohn und Eugen Lemberg die Modernität und Labilität dieser politischen Phänomene unterstreichen7. Schon im August 1918 kommentierte die CV-Zeitschrift „Im deutschen Reich" scharfsinnig die antijüdischen Ausschreitungen in Krakau und Galizien. Der Verfasser betonte, daß „die dauernden Pogromerscheinungen (...) Früchte der sorgsam von den polnischen Nationaldemokraten vor und während des Krieges ausgestreuten Saat [sind], die mächtig aufgegangen ist". Die Endeks-Botschaft vom „Haß gegen die Fremdnationalen" sei „polnisches Gemeingut" geworden. „Was Wunder", so der Autor, „daß die vielleicht ehrlichen, aber unwissenden Massen gegen die Juden losschlagen!" Die langanhaltende Boykottpropraganda der Endeks gegen die Juden, jetzt auch in den Hauptorganen der bäuerlichen Presse betrieben, bringe jetzt seine Ernte hervor8. Eine Erklärung für die Pogrome machte man mithin in der antijüdischen Wirtschafts- und besonders der Boykottpolitik der Endeks aus. Danach wurden die politischen Vorteile einer Integration der Juden in eine modernisierte polnische Wirtschaft und Gesellschaft der Ausbildung einer nichtjüdischen polnischen bürgerlichen Sphäre im Geiste eines rücksichtslosen

7 E. J. Hobsbawm, Nations and Nationalism Since 1780: Programme, Myth, Reality, N e w Y o r k 1992; B. Anderson, Imagined Communities: Reflections on th Origins and the Spread of Nationalism, London 1991; B. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt a.M. 1993; F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München/Berlin 1908; H. Kohn, The Idea of Nationalism, N e w Y o r k 1944; E. Lemberg, Nationalismus, 2 Bde. Hamburg 1 9 6 1 - 1 9 6 4 . 8 „Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" [IdR], Juli/August 1918, Nr. 7/8, S. 2 8 2 - 2 8 7 ; vgl. auch ebd. Dezember 1918, Nr. 12, S. 451—455.

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.nationalen Egoismus' geopfert: eine Modernisierungsstrategie, die früheren Generationen polnischer Nationalisten, die in einer frühkapitalistischen Agrargesellschaft wurzelten, nicht in den Sinn gekommen war 9 . Ende Juni 1919 publizierte der C V eine Deutung der polnischen Pogrome als Gesamtphänomen. Sehr einsichtig wurde bemerkt, daß „die Pogrome nicht nur den Juden, sondern den Polen selber überraschend kamen. Sie suchten sich deswegen nicht nur vor der Welt, sondern vor sich selber zu entschuldigen", indem sie jüdische Lebensmittelwucherer und Preistreiber beschimpften und den angeblichen Bolschewismus und Anti-Polonismus der Juden anprangerten. Derlei Ausreden entsprächen ganz der Propaganda der Endeks, um so mehr, als die Lemberger Auschreitungen nicht in erster Linie von „Elementen der Unordnung", sondern von der National-Demokratischen Haller Armee begangen worden seien 10 . Zum Gedenken an die Lemberger Tragödie veröffentlichte der C V im Dezember 1919 seine erste Analyse der polnischen Pogrome seit 1918. Der Lemberger Pogrom, so hieß es, habe 3.000 Tote gefordert. Hinsichtlich der polnischen Gewalttätigkeiten im allgemeinen wartete man auf den Bericht der amerikanischen Untersuchungskommission unter der Leitung von Henry Morgenthau, die Mitte 1919 von der Wilson-Regierung nach Polen entsandt worden war. Morgenthaus Besuch war in den Augen des Centraivereins ein Sieg des Zionismus, weil dadurch auf der Pariser Friedenskonferenz die Unterzeichnung eines von den Zionisten geforderten polnischen Minderheitenvertrages sichergestellt worden sei. (Tatsächlich war Morgenthau sehr stark antizionistisch eingestellt, während der Minderheitenvertrag im Prinzip schon vor Wilsons Ernennung der Morgenthau-Kommission polnischerseits akzeptiert wurde). Warum, so fragte der CV, tolerierten die westlichen Alliierten die polnischen Pogrome zehn Monate lang, ohne einzugreifen? Würden sie in Zukunft zum Schutz der polnischen Juden ihr gutes Verhältnis zu Polen riskieren? 11 1920 stellte der C V Überlegungen an, in denen das Bild, das die deutschjüdischen Liberalen vom Aufstieg eines Pogrom-Antisemitismus in Mittelund Osteuropa hatten, sehr deutlich zu Tage trat:

9 Über die Entwicklung des polnischen Nationalismus am Beispiel des preußischen Teilungsgebietes s. W . W . Hagen, Germans, Poles and the Jews: the Nationality Conflict in the Prussian East, 1 7 7 2 - 1 9 1 4 , Chicago 1980. Zum Thema im allgemeinen: J. Jedlicki, Jakiej cywilizacji Polacy potrzebujq. Studia z dziejów idei i wyobrazni X I X wieku, Warschau 1988. 10 AZJ, 20.6.1919, N r . 25, S. 2 6 5 - 2 6 7 . 11 H . Morgenthau, All in a Life-Time, N e w Y o r k 1923, S. 3 4 8 - 3 8 4 ; IdR Dezember 1919, N r . 12, S. 5 1 8 - 5 2 1 ,

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„Bei den Polen ist der Pogrom etwas künstlich Hineingetragenes, Suggeriertes, weder in ihrer Tradition noch in ihrer Geistesart Begründetes. Seit dem Beginn der russischen Pogrom-Ära [d.h. um 1881], der mit dem deutschen Antisemitismus zeitlich zusammenfällt und ursächlich zusammenhängt, haben sich die Polen gegen beide bis zum Erstarken der allpolnischen Nationaldemokratie erfolgreich gewehrt. Aber wie künstliche Pflänzchen oft üppiger gedeihen als natürliche, so hat der Pogrom in Polen nichtswürdigere, rohere und gemeinere Formen angenommen als anderswo: das Ausreißen der Bärte, Mißhandeln und Schikanieren ist noch nichtswürdiger und niederträchtiger als der eigentliche Kernpogrom, und wirkt durch die kühle Gemeinheit verbitternder und nachhaltiger als das Plündern und Blutvergießen. (...) Wenn die Juden in Polen, und namentlich in Ostgalizien, wo sie in den Städten die Hauptstützen des Polentums waren, massakriert werden durften, und zwar von den Polen, die stets den Pogrom verdammten, so hatte dieser nunmehr offenbar nichts sittlich Anstößiges und bildete keinen Schandfleck auf der Ehre einer zivilisierten, zur Freiheit erwachenden Nation. Der Pogrom in Lemberg bewies der ganzen Welt, daß Pogrome unter Umständen sehr erwünscht sein können" 1 2 . Hier wird ersichtlich, daß in den Augen der deutsch-jüdischen Liberalen die Hauptgefahr für die polnischen und anderen osteuropäischen Juden nicht nur in gewaltsamen Ubergriffen bestand, sondern mehr noch in rücksichtslosen antisemitischen und mittelstandsbildenden Ideologien, die zu Regierungsprogrammen extrem nationalistischer Nachkriegsstaaten zu werden drohten. Die Ansichten der deutsch-jüdischen Liberalen über den polnischen Antisemitismus stimmen in vielerlei Hinsicht mit ihrer Auslegung der Lage der Juden in anderen osteuropäischen Ländern überein. Ein besonders besorgniserregender Fall war Rumänien, wo den Juden der Anspruch auf staatsbürgerliche Rechte streitig gemacht wurde. Weil die westlichen Großmächte seit 1878 die jüdische Forderung nach Staatsbürgerschaft unterstützt hatten, erschien Rumänien als ein Beispiel dafür, wie internationale Garantien und lokaler Antisemitismus zusammenhingen - angesichts der Pariser Minderheitenverträge von 1919-1920 ein sehr aktuelles Thema. Dem CV-Organ zufolge war der rumänische Judenhaß keineswegs seit jeher in diesem Land verwurzelt, sondern galt als Folge der ersten Manifestationen eines europäischen Nationalismus in den 1860er Jahren. Die Errungenschaften der Juden im Geschäfts- und Geistesleben wurden von den rumänischen Eliten als Bedrohung empfunden. Diese appellierten dann an die Vorurteile der analphabetischen Bauern gegen die jüdische Einbürgerung.

12 Ebd., November 1920, Nr. 11, S. 340-346. Mord im Osten

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Angesichts dieser Feindschaft identifizierten sich nur die wenigsten unter den wohlhabenderen Juden mit der rumänischen Nation und ihrer Kultur. Diese Argumentation deutete den rumänischen Antisemitismus sehr überzeugend als moderne, politische Strategie der nationalen Rechten. Jetzt, so der CV, sollten auch Polen und die Tschechoslowakei als Folge der Minderheitenschutzpolitik der Entente-Mächte .rumänisiert' werden 13 . Der neu entstandene tschechoslowakische Staat stelle allerdings einen Ausnahmefall dar, da die tschechische Führung, obwohl bürgerlich und nationalistisch, ihre Anhänger erfolgreich von antijüdischen Ausschreitungen abhielt - ein weiterer Beweis dafür, daß das Wohlergehen der Juden stark von politischen Faktoren abhing. Im Jahre 1920, nach der Unterdrückung der ungarischen Räterepublik vertrat der CV die Ansicht, unter den ungarischen Konservativen habe eine neue Feindschaft ihr früheres Wohlwollen gegenüber den magyarisierten Juden ersetzt: „Sozusagen über Nacht ist die führende politische Schicht in Ungarn antisemitisch geworden. Man steht vor einem Rätsel. Ein solch plötzlicher Umschwung der Gefühle und Gesinnungen ist unerklärlich". Die Veränderung, so der CV, sei allerdings gar nicht emotional oder ideologisch zu erklären, sondern „aus Berechnung, aus Politik" entstanden. So bezahlten die Juden für ihre früheren Loyalitäten, die ihnen allzuoft nach dem Kriege zum Verhängnis wurden 14 . Auch die Juden der polnischen Gegenden des ehemaligen preußischen Ostens mußten wegen ihrer deutschen Identität schwere Repressalien hinnehmen, besonders in der Provinz Posen, wo nach der November-Revolution die polnischen National-Demokraten an die Macht kamen. Die CV-Presse sah für die Posener Juden eine schlimme Zukunft voraus. 15 Nach Meinung der deutsch-jüdischen Liberalen standen den zentral- und osteuropäischen Juden jedoch keinerlei verläßliche Verteidigungsmittel gegen den Antisemitismus zur Verfügung - außer Rechtstaatlichkeit und ihrer eigenen staatsbürgerlichen Loyalität. Im Extremfalle sollten sie sich jedoch gegen die gegen sie gerichtete Gewalt wehren. 16 Doch waren weiter im Osten die Möglichkeiten jüdischer Selbstverteidigung wie auch die Bereitschaft der Großmächte, den Ostjuden zu Hilfe zu kommen, sehr begrenzt. In seiner Polemik mit den deutschen Zionisten kritisierte der Centraiverein ihren Begriff vom unabhängigen jüdischen Volkstum, ihr Rufen nach einer Institutionalisierung jüdischer Autonomie und ihr Vertrauen auf jüdische Eigenständigkeit. Im November 1918 zog der Libe13 14 15 16

Ebd., Oktober 1918, Nr. 10, S. 384-392; vgl. AZJ, 18.7.1919, Nr. 29, S. 313-15. IdR, Januar 1920. Nr. 1, S. 25-31; AZJ, 22.11.1918, Nr. 47, S. 559 f. AZJ, 9.5.1919, Nr. 19, S. 223; ebd., 8.8.1919, Nr. 32, S. 349f.; ebd. 18.7.1919, Nr. 29, S. 316. IdR, September 1918, Nr. 9, S. 334.

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ralenführer Paul Nathan, Vorsitzender des philanthropischen Hilfsvereins der deutschen Juden, die Fähigkeit der Ostjuden, ein System nationaler Autonomie in den Nachfolgestaaten erfolgreich zu verwalten, öffentlich in Zweifel: „Weit schwerer aber fällt ins Gewicht, daß diese völlige Absonderung der Juden, diese Bildung eines Staates im Staate, bei der jetzigen allgemeinen Überreizung nationaler Leidenschaften, die Pogromgefahr in verhängnisvoller Weise steigern würde, und Pogrome finden bereits überall in Rußland und in den früheren russischen Randstaaten statt." 17 Im August 1919 fand der CV aber recht positive Worte zum gerade ausgehandelten polnischen Minderheitenvertrag. Während die von den Zionisten geforderte national-politische Autonomie nicht realisiert wurde, zeigte sich der CV mit den Vertragsbestimmungen zum Thema Schulen und Sabbat zufrieden. Die Welle der Nachkriegspogrome schien vorbei zu sein; Morgenthau hielt sich in Warschau auf, die polnische Regierung sicherte ihm ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu. Optimistisch schrieb die CV-Zeitung, daß „Polen sicher sein darf, daß es seine jüdischen Staatsbürger zu jeder Zeit zur freudigen Mitarbeit bereit finden wird" 1 8 . Wenn sich die Lage der polnischen Juden verbessert hatte, war dies die Folge der rechtsstaatlichen Stabilisierung Polens im Rahmen einer internationalen Ordnung, deren Aufrechterhaltung ein elementares Interesse der West-Mächte zu sein schien. Das war eine Lösung, die in das Weltbild der CV-Liberalen paßte. In Rußland und der Ukraine aber tobte eine brutale Sozialrevolution, auf die die Entente keinen Einfluß nehmen konnte. Sie wurde von blutrünstigen Pogromen auf anti-bolschewistischer Seite begleitet. Im Dezember 1919 analysierte der CV die Situation in der Ukraine: Aus dem politischen und wirtschaftlichen Chaos heraus sei in der Bevölkerung ein enormes Haßpotential entstanden und der klassenbewußte Arbeiter Bolschewist geworden. „Ist das ein Bauer mit einem primitiven Gehirn, so geht er in die Stadt und schlägt die Juden". Obwohl der Bolschewismus keine Pogrome verursache, stifte seine Gewalttätigkeit Nachahmungen in anderen Richtungen an, um so mehr als „ein bewaffneter Kampf gegen die Bolschewiki psy-

17 IdR, November 1918, Nr. 11, unpaginierte Beilage. 18 AZJ, 1.8.1919, Nr. 31, S. 340 f. Der Bericht der Morgenthau-Mission über antijüdische Gewalttätigkeiten in Polen wurde am 3.10.1919 der amerikanischen Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz übergeben. Seine Befunde, ohne die gewaltsamen Tatsachen oder Mordfälle herunterzuspielen, widersprachen extremistischen Erklärungen, ob polnisch oder jüdisch, und unterstützten eine politische Auslegung der Pogromwelle, die den Ansichten des C V zu dieser Zeit nicht weit entfernt waren. Auch war Morgenthau A n hänger des antizionistischen Liberalismus. Der Text des Berichts ist abgedruckt in: M o r genthau, All in a Life-Time, S. 4 0 7 - 4 2 0 .

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chologisch mit Judenpogromen verbunden ist". Das skizzierte Bild war denkbar düster: „Judenhaß, Verwilderung, Anarchie, ökonomisches Chaos, Valutasturz, Kampf gegen Bolschewismus, Reaktion - das ist ein Komplex von Ursachen, der die Judenpogrome hervorruft". Angesichts dieser Situation waren alle Erwartungen eines Endes der „Schlächtereien" illusorisch 19 . Endlich war die Frage unvermeidlich, ob Deutschland selbst zum Schauplatz eines vergleichbaren, gewaltsamen Antisemitismus werden könne. Im April 1919 fand in Berlin eine CV-Massenversammlung statt, die unter der Frage stand „Ist Deutschland antisemitisch?" Vor tausend Zuhörern fragte sich der Abgeordnete zur Nationalversammlung Georg Davidson: „Wie ist es zu erklären, daß in einer solchen Zeit, die so pogromreif gemacht war, Pogrome bei uns doch nicht haben aufkommen können, trotzdem nicht geleugnet werden kann, daß sich auch unter den Soldaten und Arbeitern Antisemiten befinden? Aus allen Erfahrungen heraus ist diese Frage dahin zu beantworten, daß der Kern des deutschen Volkes nicht als antisemitisch angesprochen werden kann. Bei vielen Millionen Deutschen ist der Antisemitismus nicht über die Schwelle des Bewußtseins gelangt; bei vielen ist er erfolgreich bekämpft worden." 2 0 Im August 1919 vermerkte die CV-Zeitschrift zur Lage in Deutschland, daß „eine gewaltige antisemitische Sturmflut über uns hereingebrochen ist". Diese sei jedoch kein Naturereignis, sondern das Resultat von „dunklen Machenschaften" antisemitischer politischer Bewegungen, hinter denen sehr viel Geld stecke. Zwar wiesen „anständige Antisemiten" den Gedanken weit von sich, „die Judenfrage mit Flinte und Knüppel zu lösen". Aber die „Helden der Tat (...) beneiden die Polen und Rumänen um ihre Judenpogrome und arbeiten im lieben Vaterlande systematisch darauf hin, es ihnen gleichzutun. Deshalb ist die antisemitische Hetze unserer Tage als Pogromhetze anzusprechen." 21 Aus Sicht der deutsch-jüdischen Liberalen bestand ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Deutschland und Osteuropa darin, daß die in Osteuropa konstatierte Bereitschaft der unteren Bevölkerungsschichten, aus ihrer sozialen und wirtschaftlichen Misere und kulturell-religiösen Vorurteilen heraus mit Gewalt gegen die Juden vorzugehen, in ihren deutschen Pendants fehle. Als entscheidend für die Situation in Osteuropa wurde der Einfluß starker politischer Parteien betrachtet, die die aufstrebende antisemitische Intel-

19 AZJ, 5.12.1919, N r . 49, S. 557. Zu den Pogromen im ehemaligen Zarenreich, s. P. Kenez, Pogroms and White Ideology in the Russian Civil War, in: J. G. Klier/S. Lambroza, Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 2 9 3 - 3 1 3 . 20 IdR, Juni 1919, N r . 6, S. 271 f. 21 Ebd., Juli/August 1919, N r . 7/8, S. 289 f.

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ligenz und den Mittelstand repräsentierten. Diese legten ihren Anhängern in entsprechenden Zeitungen, aber auch in den Kirchen Gewalt gegen die Juden nahe und trugen zur Entfesselung der Bevölkerung bei. Eine erfolgreiche Verteidigung der Ostjuden gegen Pogrome hing deswegen unmittelbar von der Existenz einer schützenden Staatsmacht und Rechtsstaatlichkeit ab. Die Gewalt gegen die Ostjuden war keineswegs unvermeidlich. Der Schlüssel für die Garantie jüdischer Sicherheit im Osten lag in der internationalen politischen Konstellation. Im Gegensatz zu den Zionisten waren die deutsch-jüdischen Liberalen der Auffassung, daß sich die Ostjuden mit den neuen Nachfolgestaaten identifizieren sollten, wenn auch ihre Rechte als religiöse Minderheiten anerkannt werden müßten. Ob das Jiddische nun beibehalten wurde oder nicht: die Ostjuden, so der CV in seinen Veröffentlichungen, hätten die neuen Staatssprachen zu erlernen und sich zu loyalen und integrierten Staatsbürgern zu entwickeln, nach dem Muster der CV-Liberalen in Deutschland. Unter dem Einfluß des Schocks, den die Nachrichten über die polnischen Pogrome von 1918/19 unter den deutschen Juden verursachten, wurde - wie wir gesehen haben - das neu entstehende Polen in der CV-Presse sehr scharf kritisiert. Die Verbitterung über die Niederlage im Krieg verband sich mit einem schlechten Gewissen aufgrund der deutsch-jüdischen Versuche, die Ostjuden während des Krieges als deutsche Verbündete zu gewinnen - ungeachtet der Gefahren, die diese Politik die Ostjuden gegenüber ihren osteuropäischen Nachbarn aussetzte. Diese Faktoren vertieften noch die negative Reaktion in Deutschland auf die polnischen Pogrome, verdammenswert wie sie waren. Als aber der polnische Staat im Jahre 1919 .Ordnung machte', die Bolschewisten bekämpfte und sich den Verpflichtungen des Pariser Minderheitenvertrags gegenüber den Juden beugte, schien dem Centraiverein die Nachkriegskrise überwindbar. Nun war in seinen Augen die Möglichkeit einer sicheren Zukunft für die polnischen Juden gegeben, wenn sie nur im Verhältnis zu ihrem neuen Heimatstaat eine Integrationspolitik nach deutsch-jüdischem Muster verfolgten, was keineswegs einer Verleugnung ihrer jüdischen kulturell-religiösen Identität gleichkommen müsse. Die polnischen Pogrome waren für den CV zwar „östliche Mordtaten", die Deutschland nicht direkt bedrohten. Trotzdem sah er durchaus die Gefahr eines Uberhandnehmens antisemitischer Parteien, die auch die deutschen Juden gefährden könnte, falls eine von einem starken und funktionstüchtigen Staat getragene Rechtstaatlichkeit fehlen sollte. Die fatale Kombination von politisch organisiertem, populistischem Antisemitismus und Zusammenbruch des liberalen Rechtsstaats würde nach 1929 Mordtaten unter deutscher Herrschaft ermöglichen, die die polnischen Pogrome von Mord im Osten

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1918/19 und sogar die antijüdischen Gewalttaten der russischen Revolutionszeit als harmlos erscheinen lassen würden. Der Genozid der Nationalsozialisten an den Juden war die größte und letzte Schreckenstat in einer Reihe mittel- und osteuropäischer Pogrome, die sie sich zweifellos zum Vorbild nahmen. Dennoch aber entsprang die .Endlösung' nicht einer rückständigen, östlichen Volkshetze: durch ihre Begründung in einer rassistischen Eugenik und die technische Präzision der Vernichtungsmaschinerie war sie so mörderisch wie modern. Sowohl die Pogrome in Osteuropa wie der nationalsozialistische Massenmord waren nicht einfach barbarische Anachronismen: Ihr gemeinsames Ziel war es, das politische Programm eines modernen, ins Extreme getriebenen Nationalismus zu verwirklichen. Diesen Charakter des Pogrom-Antisemitismus erkannt zu haben, war eine bedeutende Einsicht der deutsch-jüdischen Liberalen schon lange vor 1933.

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In einer wunderbaren Karikatur hat Heinrich Zille, seinerzeit beliebtester Künstler Berlins, die Konfusion und den schrillen Ton der Revolutionsereignisse von 1918-19 dargestellt. An einer schmierigen Mauer sind noch zerfetzte Reste vorrevolutionärer Plakate lesbar: eine Werbeanzeige für eine patriotische Ausstellung über den Weltkrieg sowie eine offizielle Bekanntmachung mit den Unterschriften Hindenburgs, Ludendorffs und Graf von Hertlings. Auch die Namen Eberts und Scheidemanns sind auf einem Plakat auszumachen, das wohl aus den ersten Tagen der Revolution stammt. Dieses ist jedoch halb überkleistert mit einem Zettel, der für den 18. Dezember ein Treffen des Spartakusbundes in den Moabiter Arminiushallen ankündigt. Zwei Zeichnungen, direkt nebeneinander geklebt, bilden die oberste, aktuelle Papierschicht. Sehr unterschiedliche Botschaften sind es jedoch, die sie vermitteln: Eines der Blätter stellt eine Figur dar, die an die Deutschen appelliert, ihre „junge Freiheit" nicht durch sinnlose, mörderische Konflikte zu „erwürgen"; das zweite beschwört eine slawisch-bolschewistische Bedrohung der Heimat und des heimischen Herdes herauf. Handgeschriebene Parolen drükken spontanere, simplere Empfindungen aus: „Heil Liebknecht!"- „Nieder mit Ebert!". - Zilles deutscher Herbst ist scharfkantig, voller Aggression, Anklage und Unruhe. Er verändert sich schnell. Patriotische und revolutionäre Gefühle kommen und gehen - Wind und Regen tun ein übriges. Es liegt etwas Melancholisches über dieser zerstrittenen Revolution, der es an einer einheitlichen Botschaft und großzügigen Gesten fehlt. Dennoch aber zeichnet Zille ein treffendes Bild des neuen, energiegeladenen öffentlichen Raumes: Eine pulsierende, politisch mobilisierte Öffentlichkeit hat ihre Spuren an der Ziegelmauer hinterlassen - sogar einfache Passanten haben mit Kreide ihre Botschaften an die Wand geschrieben. Genau diese Form der Selbstautorisierung ist es, die für alle sozialen Gruppen die Revolution zum einschneidenden Ereignis macht. Auch wenn es ihr an Einmütigkeit und nationaler Entschlußkraft mangelt, so schafft das Revolutionsjahr 1918 doch grell demokratische Formen und einen gemeinverständlichen, populären Stil, die zusammen die Weimarer Politik tiefgreifend prägen und den Aufstieg des Nationalsozialismus möglich machen sollten. Die deutsche Demokratie von

Aus dem Amerikanischen von Petra Terhoeven. Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

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1918 ist mit der deutschen Diktatur von 1933 direkt verwandt. Beide sind sehr viel mehr ineinander verzahnt, als ihre gegensätzlichen politischen Programme glauben machen mögen: Sie stehen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu jener politischen Mobilisierung, die auf der über und über beklebten Mauer Heinrich Zilles Gestalt gewinnt. Wie schon Zilles flüchtiges Palimpsest andeutet, war die deutsche Revolution keine einheitliche Bewegung, die notleidende Proletarier „Unter den Linden" entlang und in die entsprechenden Machtpositionen fegte. Die Arbeiterpräsenz war zwar massiv, besonders in den Städten, die Reihen der Arbeiter aber waren in sich gespalten und zudem von revolutionären Soldaten, meuternden Seeleuten und radikalen Intellektuellen durchsetzt, die alle ihre eigenen politischen Programme im Sinn hatten. Gleichzeitig paßten sich auch die Angehörigen der Mittelschicht in erstaunlicher Geschwindigkeit den neuen Gegebenheiten an, organisierten politische Parteien, Bürgerräte und spezifische Interessengruppen. Als Ende November Tausende von Veteranen von der Westfront nach Hause zurückkehrten, bedeutete dies nicht das Ende der Revolution, es bremste sie jedoch und gab ihr eine neue Richtung. Auf die militärische Demobilisierung folgte sehr schnell über Freikorps, Veteranengruppen und - besonders häufig - Einwohnerwehren eine Remobilisierung der ehemaligen Soldaten in politischem Sinne. Jede neue politische Mobilisierungswelle aber bedeutete im Herbst 1918 auch eine Erweiterung des Registers revolutionärer Beschwerden und Forderungen. Zur Illustration dieser Thesen mögen einige Beispiele aus Zilles Berlin folgen, die jedoch für die Situation in Gesamtdeutschland charakteristisch sind. Gerade einmal drei Tage nach der Revolution, am 12. November, veröffentlichte der Hansa-Bund, eine einflußreiche Organisation liberaler Geschäftsleute, eine Erklärung in den Berliner Tageszeitungen, in der sie die Leser aufforderte, ihre eigenen Bürgerräte zu gründen und öffentliche Versammlungen zu organisieren, um ihre Interessen zu vertreten und dem Sozialismus sowjetischen Stils etwas entgegenzusetzen. Das Ergebnis war eine Fülle von Aktivitäten, die kaum weiter beachtet wurde. In Mittelklassevororten wie Friedenau und Tempelhof schlössen sich die Nachbarn zu Räten zusammen, Berufsverbände und Freiwilligenorganisationen kamen dazu, und am 18. November versammelte sich die bemerkenswerte Zahl von 2.000 Delegierten als „Bürgerrat Groß-Berlin". Aus der Erkenntnis heraus, daß in einem demokratischen Volksstaat politische Macht auf Größe und Einfluß der jeweiligen Organisationen beruht, taten auch zahlreiche ökonomische Vereinigungen den Schritt in die Politik. Mit einem Mal fanden die verschiedenartigsten Neigungen und Interessen politischen Ausdruck. Schon am 11. November vertrat ein Beamtenrat die Interessen der staatlichen Bediensteten in Neukölln, einen Tag später grün148

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deten die niedrigeren Angestellten des Außenministeriums einen Rat, dem im Regierungsbezirk mehrere vergleichbare folgen sollten. Die Rechtsanwälte organisierten sich am 13., die Antwort der Journalisten folgte vier Tage später mit dem Presserat. Am 16. November drängten sich 2.000 Ingenieure, Chemiker und Architekten im großen Speisesaal des „Rheingold", eines beliebten Warenhauses am Potsdamer Platz, um die Vereinigung der technischen Berufe ins Leben zu rufen. Es versteht sich von selbst, daß das „Rheingold" in diesen Wochen ständig ausgebucht war: über 800 Mediziner trafen sich am 26. November in den gleichen Räumlichkeiten und beschlossen die Gründung eines Ärzterates, der sich auf lokaler Ebene des Problems der öffentlichen Gesundheit annehmen und die Interessen des Berufsstandes vertreten sollte. „Keiner kümmert sich um uns, wenn wir es nicht selbst tun", war die pragmatische Devise der Delegierten. Am 17. November fanden sich 10.000 linksgerichtete Büroangestellte im Zirkus Busch ein, um ihrer Unterstützung der Revolution Ausdruck zu verleihen. Als dort der Platz nicht mehr ausreichte, strömten sie auf den nahen Domplatz. Einen Tag darauf hielten nicht-sozialistische Angestellte zwei Mammutveranstaltungen im „Deutschen Hof" an der Luckauer Straße ab. Besonders auffällig waren die Aktivitäten von zuvor unorganisierten Interessengruppen wie eben den niederen Beamten, Büroangestellten, Handwerkern und Geschäftsleuten, die sich gegen das Großunternehmertum in Handel und Industrie richteten. Ende Dezember organisierten sich politische Parteien jeder Couleur für die Wahlen zur Nationalversammlung. Keine Zeitung, die sich nicht ausführlich über die noch nie dagewesene fieberhafte parlamentarische Aktivität verbreitete. Die Bürger strömten in die Versammlungsräume und Festsäle; kein Sitzplatz blieb leer. Den offiziellen Reden folgten spontane Diskussionen, angezettelt von sich lautstark bekennenden Sozialisten und Monarchisten, Demokraten und Liberalen, so daß die Veranstaltungen häufig erst spät in der Nacht endeten. Das Publikum, weit entfernt von passivem Zuhören, stampfte mit den Füßen, klatschte oder buhte die Redner aus. Pfiffe, Zwischenrufe und wilde Flüche waren an der Tagesordnung. Die Parteien hatten keinen Mangel an Aktiven und wuchsen schnell. O b für oder gegen die Weimarer Republik - die Wählerschaft bestand auf einer Ausdehnung ihrer politischen Partizipation in den öffentlichen Raum hinein. Organisation war das Gebot der Stunde; der Ton des Zeitgeistes schrill. Arbeiter und Angehörige der Mittelschicht organisierten sich, demonstrierten, führten Wahlkampf. Dabei fühlte sich jeder von einer stetig wachsenden Zahl politischer Gegner umgeben, die man mit immer schärferer und beleidigender Rhetorik angriff. Auf diese Weise erzeugte die Novemberrevolution ebenso viele Haß- und Neidgefühle wie Bürgersinn. Stolze Souveränitätserklärungen - nicht immer vereinbar mit liberalen Prinzipien und Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

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parlamentarischen Spielregeln, aber typisch für den deklamatorischen Stil und die Selbstreferenzialität der Demokratie - waren das herausragende Merkmal deutscher Nachkriegspolitik. Das konventionelle Bild vom November 1918 zeigt eine tief gespaltene Nation: ein zu allem entschlossenes Proletariat drängt eine passive, reaktionäre Mittelklasse aus dem Weg; die Proletarier der Räte und sozialistische PolitRedner, weniger Handwerker im blauen Kittel oder heimkehrende Veteranen sind die Protagonisten dieser Version. Dazu paßt Prinz Max von Badens dramatische telegraphische Zusammenfassung der Lage der Nation vom 8. November: „Düsseldorf, Haltern, Osnabrück, Lüneburg rot; Magdeburg, Stuttgart, Oldenburg, Braunschweig, Köln rot." In Wirklichkeit waren es keineswegs nur die Sozialisten, die ihre Anhänger mobilisierten. Kein einziges Ereignis der deutschen Geschichte, nicht einmal die Juli-Krise 1914, hatte so viele Menschen auf die Beine gebracht und die nationale Bühne so zum Bersten gefüllt wie die November-Revolution. Sogar in den kleinsten Städten formierten sich Räte, Interessengruppen und Parteien. In Bayerns vorwiegend ländlich geprägten Regionen Schwaben und Mittelfranken bildeten sich in 65 der 119 kleinen Gemeinden mit ungefähr 1.500 Einwohnern revolutionäre Räte. Nach 1918 eröffneten die Parteien lokale Büros. Während zahlreiche, in den späteren zwanziger Jahren verfaßte Berichte von roten Fahnen und gefährlichen Massenaufmärschen der Proletarier sprechen, waren zur Zeit der Ereignisse tatsächlich die meisten Deutschen erfreut über die neuen politischen Perspektiven. Signifikant ist die Aussage eines konservativen Augenzeugen: „Alles hing von den Leuten an der Spitze ab, und alles ist auch an der Spitze gescheitert: der Kaiser, die Regierung, der Reichstag, die ganze Politik. Wenn nur das deutsche Volk endlich sein Schicksal in die eigene Hand nehmen würde!". Für diesen Exponenten eines konservativen Nationalismus bot die Revolution die Chance, „die ganze Politik" von Grund auf zu erneuern. Das Beharren auf einer Generalüberholung der Politik ist ein Zeichen dafür, daß sich nicht nur der Umfang politischer Betätigung erweitert, sondern sich auch ihr äußerer Rahmen verschoben hatte. Der öffentliche Raum war während der Weimarer Jahre viel dichter und vielfältiger besetzt als jemals zuvor. Wenn es ein verbindendes Element in der Politik jener Zeit gab, dann die Forderung nach einer gerechteren Verteilung der Macht. Der permanente Druck der nächsten Wahlen zwang sogar die konservativsten Parteien des Parlaments, sich in Volksparteien zu verwandeln - eine Neuformulierung der politischen Praxis, die nicht nur rhetorisch blieb: Von der ersten bis zur letzten Reichstagswahl wurden die Parteien unablässig mit der Forderung nach sozial ausgewogeneren Kandidatenlisten bombardiert. Auf der Linken wie auf der Rechten orientierten sich die politische Erwartungen an den inflationär benutzten Begriffen Volksgemeinschaft, Volksstaat und Volkspartei. In den 150

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Folgejahren entkam keine einzige der etablierten Parteien dieser Form der Wählerüberwachung, und jeder liefen die Wähler weg, wenn sie das Gefühl vermittelte, gegenüber den Bedürfnissen des Volkes zu wenig sensibel zu sein. Diese Wählerbewegungen rechtfertigte man mit dem Verweis auf „Elitedenken", „soziale Reaktion" und „Großunternehmertum", Vorwürfe, vor denen keine Partei geschützt war. Daß es keineswegs auf der Hand lag, worin die Interessen des Volkes eigentlich bestanden, nahm dem Anspruch und Auftrag des Wählers dabei nicht das geringste. Die meisten Deutschen wechselten während der Weimarer Jahre mehrmals die bevorzugte Partei, eine Flatterhaftigkeit, die ein sicheres Zeichen für die von Zille Jahre zuvor an der Ziegelwand eingefangene politische Selbstautorisierung war. In mancher Hinsicht jedoch änderte sich „die ganze Politik" nur wenig: von der ersten Anfangsbegeisterung einmal abgesehen, wurden Frauen im Zuge einer zunehmenden Verrohung des politischen Kampfes, in dem die männlichen Aktivisten mehr und mehr als nationale Kriegshelden galten, bald ganz an die Seite gedrängt. Auch die Vervielfältigung der Interessengruppen in den zwanziger Jahren ist Ausdruck der konstatierten Selbstmobilisierung von Gruppen, die zuvor keine eigene Stimme besessen hatten. Wenn Deutsche in der Nachkriegszeit für sich selbst sprachen, taten sie dies am häufigsten und am vernehmlichsten als Vertreter sozialer und ökonomischer Partikularinteressen. Öffentliche Versammlungen und Plätze hallten wider von den Parolen der Postangestellten, der Volksschullehrer, der Lieferanten und Kneipenbesitzer - eine Provinzrebellion, die an die traditionelle Taktik der Arbeiterbewegung erinnerte und die der Mittelstandspolitik in Weimar einen prononciert populistischen Zuschnitt gab. Bei den unwahrscheinlichsten Gelegenheiten verlangten plötzlich wirtschaftliche Interessengruppen Gehör; ein Phänomen, das nichts als eine Fortsetzung der Rätebegeisterung bedeutete, jener zwanghaften Selbstorganisierung der Künstler, Arzte, Musiker, Seeleute und sogar der Prostituierten, die die ersten Wochen nach der Revolution geprägt hatte. Jedes Grüppchen, vom Bund blinder Kriegsteilnehmer bis zum Verein der Zeitungsverkäufer oder der Liga der deutschen Kantinenpächter, verlangte ein Büro, ein Telefon, eine Mitteilungsblatt und, mit ein bißchen Glück, die Protektion des Parlaments. Interessengruppen organisierten nicht nur eine größere und bunter gemischte Klientel als vor dem Krieg, sondern bedienten sich militanterer politischer Taktiken. Wie die politischen Parteien, so standen auch die verschiedenen Interessengruppen ständig unter dem Druck von (oftmals von ihnen selbst abgespaltenen) Konkurrenzorganisationen, die ihre Existenz mit dem Hinweis auf die mangelnde Repräsentanz ihrer jeweiligen Klientel rechtfertigten. Die Hypermobilisierung von Partikularinteressen ist eine der charakteristischsten Eigenschaften des politischen und gesellschaftlichen Lebens der Weimarer Zeit. Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

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Zugegeben - das Phänomen der Interessengruppen konnte ein absurdes Niveau erreichen: in Breslau zerstritt sich ein Verband über die Frage, ob er Hausbesitzer mit oder ohne Zentralheizung repräsentieren solle. Trotz solcher Kuriosa war die Organisation nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht so engstirnig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Auf der Grundlage der Beschäftigung lernten Millionen Deutsche, gemeinsame Interessen zu artikulieren, Trennendes zwischen den einzelnen Gewerben zu überwinden und einen hohen Organisationsgrad zu erreichen, der allein in einer kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft das Uberleben sicherte. Der Korporativismus lieferte auch das nötige Vokabular, eigene Ansprüche zu formulieren. Appelle, die auf berufliches Interesse abzielten, spiegelten den hohen Stellenwert von Arbeit und Leistung unter den Mittelschichten, neue Ideale, die zunehmend den wilhelminischen Ehrenkodex mit seiner überkommenen Wertehierarchie ersetzten. Korporatistische Slogans und Ideen waren deshalb attraktiv, da sie weder - wie der Marxismus - nur auf eine gesellschaftliche Klasse zugeschnitten waren, noch die Business-Kultur des Großkapitalismus reproduzierten. Sie waren das logische Derivat der Forderung nach dem ,Volksstaat'. Interessenpolitik war jedoch nur die eine Seite der betreffenden Jahre. Sie wurde begleitet von stark patriotisch oder sonstwie gemeinnützig gefärbten Aktivitäten, die gegen die Fragmentierung der Gesellschaft arbeiteten. Das typische Bild provinzieller Geselligkeit in der Weimarer Republik vereinigte etwa auf einem spätsommerlichen Schützenfest - alle nur denkbaren Interessengruppen: Grundbesitzer, Beamte, Angestellte, Handwerkergilden, aber auch Gesangvereine, Veteranengruppen und Sportclubs. Die lange Liste von Freiwilligenorganisationen in jedem lokalen Telefonbuch belegt die wachsende Dichte organisierten Lebens auch in der Provinz. Wo vor dem Krieg zwei Vereine existiert hatten, gab es nach dem Krieg drei und zu Beginn der dreißiger Jahre vier. Zudem vergrößerte sich die soziale Bandbreite der Organisierten, die mehr und mehr den Handwerker, den Lebensmittelhändler und den Buchhalter mit einschloß. Der Stahlhelm, der eine große Zahl von Industriearbeitern in seinen Reihen hatte, ist exemplarisch für den zunehmend volkstümlicheren Charakter des gesellschaftlichen Lebens. All dies war Beleg für die weitere Verbreitung egalitärer Ideen nach der Revolution. Das politische Selbstvertrauen und das Geschick vieler Freiwilligenorganisationen waren dabei bemerkenswert. Was bisweilen abschätzig als Vereinsmeierei bezeichnet wird, war „weniger (...) ein Ärgernis (...) als vielmehr Ausdruck überbordender Kreativität". Diese Sicht der Dinge ist nicht neu. Dennoch hat sie bisher die gängige, in schematischen Rechts-Links-Deutungen verhaftete Wahrnehmung der Weimarer Politik als einer einzigen lähmenden Zersplitterung nicht wirklich herausfordern können. Zu oft haben sich historische Rekonstruktionsversuche nur am Platz der Republik vor dem Reichstag mit seinen schwindenden repu152

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blikanischen Mehrheiten orientiert, ohne die Selbstautorisierung der deutschen Bevölkerung und die damit verbundene Wiederherstellung politischer Aktivität hinreichend zur Kenntnis zu nehmen. Zwar wurde den Deutschen - aus welchen Gründen auch immer - die Weimarer Politik immer mehr gleichgültig, dies aber bedeutete keineswegs, daß sie in Passivität oder Apathie verfielen. In gewisser Hinsicht war die wichtigste Konsequenz der Revolution weniger das parlamentarische Regierungssystem als die Massenorganisierung und -mobilisierung, die sie hervorgebracht hatte. Das neue Deutschland war am ehesten im alltäglichen Einerlei der Interessengruppen, Veteranenvereine und Parteisektionen oder den hunderten von selbsternannten politischen Rednern zu finden, ganz gleich wie verleumderisch, illiberal und chauvinistisch ihre Botschaften auch sein mochten. Natürlich wäre es verfehlt, dieses Stimmengewirr für den Gesang der Demokratie zu halten. Im nationalistischen Lager herrschte wenig Einsicht in die Notwendigkeit von Kompromissen, des Minderheitenschutzes oder des Festhaltens an formalen Regeln. Auch vom .Geist der Verfassung' war in der Öffentlichkeit so gut wie kaum etwas zu spüren. Und dennoch konnte kein Zweifel daran bestehen, daß das eigentliche Subjekt deutscher Politik nunmehr das Volk geworden war. Sichtbar wurde diese Veränderung zum Beispiel in ernsthaften Versuchen, Arbeiter und Bauern, Studenten und Soldaten auf der politischen Bühne wieder sichtbar zu machen und bisher marginalisierte gesellschaftliche Gruppen zu reintegrieren. Sichtbar wurde sie auch an der fieberhaften Aktivität der Interessengruppen, die schnell ihre Ansprüche politisch zu formulieren lernten, und sichtbar wurde sie sogar an der sarkastischen Wiederholung der berühmten Formulierung Scheidemanns: „Das Volk hat auf der ganzen Linie gewonnen." Die Wähler blieben bei der Sache und brachten sich ein, und sei es nur, indem sie auf jede neue Petition an Zilles Ziegelmauer ihre eigenen Ergänzungen kritzelten. Wieder und wieder pochten sie auf ihr Recht auf Einfluß und Repräsentation. All dies summierte sich zu einer Demokratiewelle, die die etablierten Parteien im Laufe der zwanziger Jahre zusehends hinwegschwemmte, die 1924, 1928 und noch einmal 1930 ein Dutzend Splittergruppen begünstigte, die das gesellschaftliche Leben in der Provinz belebte - und die Popularität der Nationalsozialisten garantierte. Die politische Unzuverlässigkeit der Wähler, an der die Wissenschaft so oft die Mühen der Weimarer Republik gemessen hat, wäre somit nichts anderes als steigende demokratische Sensibilität. Es ist ein trauriges, aber zwingendes Paradox, daß viele Deutsche aus der Mittelschicht zwar die Revolution verabscheuten, dennoch aber ihre größten Nutznießer blieben, indem sie die neuen Foren nutzten, um Forderungen nach politischer Reform und sozialer Anerkennung vorzutragen. Meine Argumentation kommt der These Heinrich August Winklers, der Weimar als „die erste deutsche Demokratie" bezeichnet hat, nahe, ohne ihr Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

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jedoch ganz zuzustimmen. Winkler gibt sich große Mühe, die Breite demokratischer Uberzeugung aufzuzeigen. In meinen Augen hat er Recht, wenn er für 1918 im rechten und linken politischen Lager von einer noch vagen, undefinierbaren, aber untrüglichen Suche nach einem politischen Neubeginn spricht, der endgültig mit den autoritären Traditionen der Vergangenheit brechen sollte. So wie die Arbeiterklasse das Extrem des Kommunismus ablehnte, forderte man entsprechend auch im nationalen Lager die Einrichtung von Repräsentativinstitutionen und eine glaubwürdigere Verwirklichung des Ideals der Volksgemeinschaft. Winkler geht jedoch meiner Meinung nach zu weit, wenn er die politischen Kompromisse der ersten zehn Weimarer Jahre über Gebühr hochjubelt. Vor allem die Sozialdemokraten ernten Lob für ihre Kritik am Eroberungskrieg, ihren Widerstand gegen die undemokratische Rätebewegung und ihre Koalitionsbereitschaft mit bürgerlichen Partnern in schwierigen Zeiten. Weniger konsequent, aber dennoch lobenswert die moderate Rechte: Winkler preist das Ausmaß des sozialen Friedens während des „Inflationskonsens" 1919-1921 und des „Rationalisierungskonsens" 1924-1930. Schließlich findet er - in einer höchst originellen Argumentationskette - den Beweis, daß auch durchschnittliche Deutsche ihre grundlegende Lektion in Demokratie gelernt hätten, im Erfolg der NSDAP, die sich nach 1930 als Vertreter der kleinen Leute gegen autoritäres Intrigantentum präsentiert habe. Tatsächlich forderten die meisten Deutschen im Jahre 1932, wie schon 1918, eine populärere Form der Repräsentation. Indem Winkler das Ausmaß der Bewußtheit übertreibt, mit der die Wähler sich für die NSDAP statt für Brüning oder Papen entschieden, so als sei dies ein gezielter Versuch zur Rettung der Demokratie gewesen, erkennt er an, daß die Nazis vielen Deutschen als demokratische Kraft erschienen seien. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Trends der Weimarer Politik, vor allem dem Niedergang der etablierten Mittelklasseparteien, dem Aufstieg von Splittergruppen und der Vitalität der Öffentlichkeit in der Provinz, erscheint mir dieses Argument durchaus einleuchtend. Unter den Bürgern der Provinz war die Wertschätzung der Nation und der Grad der Identifikation mit ihrem Schicksal beträchtlich. In einer Vielzahl von Festen und Zeremonien volkstümlichen Charakters polemisierte man gegen die Angriffe auf die deutsche Souveränität während der Nachkriegszeit und beschwor - gegen eine vorgeblich unpatriotische, verräterische Linke die Idee der nationalen Einheit. In den patriotischen Aktivitäten der zwanziger Jahre ging es um die Wiederbelebung der nationalen Solidarität vom August 1914. In diesem Lichte wird deutlich, daß Millionen von Wählern auf der Suche nach stärkeren politischen Identifikationsmomenten waren, als sie die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand vermitteln konnte. Andererseits aber beharrten die Deutschen auf den neuen, basisdemokratischen Formen, in denen alle sozialen Interessengruppen ihren ehrenhaften Platz fanden. Moch154

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ten die politisch Aktiven der mittleren Gesellschaftsschichten auch vordergründig die Republik verachten - die Demonstrationen, die sie anführten, bauten genauso wie die unabhängigen Listen, die sie zusammenstellten, auf der Legitimität des November 1918 auf. Sie verstanden sich auf die neue Rhetorik, die von Bürgerrechten und Ansprüchen sprach. Es lag auf der Hand, daß es kein Zurück zur Politik der ehrerbietigen Form mehr geben konnte, wie sie das Vorkriegsdeutschland gekannt hatte. Die Instabilität der deutschen Politik resultierte aus der unterschiedlichen Betonung, die Wähler wie Kandidaten auf die Idee der Volksgemeinschaft legten. Viele Gruppierungen gaben ihren patriotischen Gefühlen, ihren antisozialistischen Ängsten und ihren Ressentiments gegen die herrschenden Eliten breiten Ausdruck; wenigen gelang es, dabei das rechte Maß zu halten. Hugenbergs deutsche Nationalisten hißten stolz die schwarz-weiß-rote Fahne des deutschen Kaiserreiches, verprellten aber viele Wähler durch ihre reaktionäre Haltung in Fragen der Sozialpolitik. Obwohl die Freikorps-Veteranen Beifall für ihre Aktionen gegen die Kommunisten ernteten, paßten sie denkbar schlecht ins gesellschaftliche Leben deutscher Kleinstädte. Das Landvolk wiederum gab sich genügend populistisch, erwies sich aber als zu engstirnig. Die Mitglieder des Stahlhelm investierten viel in die Idee der nationalen Einheit, blieben aber auf die traditionellen Parteien fixiert. Was viele bürgerliche Wähler - und nebenbei gesagt, auch zahlreiche Arbeiter - suchten, war eine politische Bewegung, die eindeutig nationalistisch, zukunftsorientiert, und sozial integrierend war, die den Populismus des Wahlvolks bediente, ohne es erneut in einzelne Berufsstände zu spalten. Diejenige Partei, die dieser Wunschvorstellung am nächsten kam, war Adolf Hitlers nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei. Natürlich waren die Nazis nicht .unvermeidlich', aber sie waren diejenigen, die der Transformation der politischen Landschaft in Deutschland seit 1918 am ehesten Rechnung trugen und gleichzeitig die .nationalen' und .sozialen' Neigungen der meisten protestantischen Wähler am besten bedienten. Ein vager .national-sozialistischer' Konsens - mit kleinem ,n' und kleinem ,s' - war bereits im Wahlsieg der DNVP 1924, sicher aber in der Wahl Hindenburgs 1925 und in den verschiedenen Angriffen auf die politischen Parteien der Folgejahre vorhanden gewesen. Für die Millionen von Wählern, die in den zwanziger Jahren mit dem Stahlhelm marschierten, den etablierten Parteien den Rücken kehrten und ihre Stimmen diesem oder jenem politischen Dissidenten gaben, hatte die NSDAP keineswegs eine verbotene Präsenz noch war sie für sie eine extremistische Partei. Die Deutschen schwenkten nicht mit einem Mal auf eine klare, ihnen jedoch bis zu diesem Zeitpunkt verhaßte NS-Position um. Die Nazis bliesen nicht zum Generalangriff auf unschuldige Kleinstädter: Sie gaben bewußt unpräzise gehaltenen Neigungen und enttäuschten Erwartungen erstmals eine klare politische Gestalt. Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

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Die Nationalsozialisten verzeichneten Stimmengewinne nicht etwa, weil sie den übrigen Mittelklasseparteien so ähnlich gewesen wären, sondern weil sie so anders waren. Dies bestätigen fast alle Selbstzeugnisse aus den dreißiger Jahren. Selbstverständlich artikulierten die Nazis den Anti-Marxismus und Hypernationalismus der Rechten, sie sprachen aber auch von Deutschlands kollektiver Verantwortung im Sozialbereich und hießen Arbeiter in ihren Reihen willkommen. Damit entwarfen sie eine für viele unwiderstehliche Vision der Nation als Solidargemeinschaft, die wenig mit der hierarchisch strukturierten Gesellschaft des Kaiserreichs, dem heißblütigen Expansionsdrang der Kriegszeit oder der Interessenpolitik der Weimarer Republik gemein hatte. Was die Nazis attraktiv machte, war die Vision einer neuen Nation, die vom Volk ausging. Das entsprach sowohl dem populistischen Nationalismus der Mittelschichten, als auch in größerem Maße, als wir bisher geneigt sind zu glauben, den sozialistischen Empfänglichkeiten der Arbeiter. Es kam sowohl den individuellen Bedürfnissen nach sozialer Mobilität wie auch der kollektiven Forderung nach sozialer Gleichheit entgegen. Die Tatsache, daß das Kollektiv in streng rassischen Kategorien definiert wurde, tat dabei der Popularität der Grundidee keinerlei Abbruch: im Gegenteil mochte sie dadurch noch an Plastizität und Substanz gewinnen. Auch wenn Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Ende Januar 1933 hinter verschlossenen Türen von unbeirrbaren Reaktionären und hundertprozentigen Monarchisten wie Hindenburg, Hugenberg und vor allem Papen ausgehandelt wurde, wäre er doch nie in Erwägung gezogen worden, wäre er nicht Vorsitzender von Deutschlands stärkster Partei gewesen. So wie lokale Eliten - Landbesitzer, Geschäftsleute und Geistliche - mit den Nazis kollaboriert und ihre Stellung zu gegebener Zeit legitimiert hatten, basierte der Erfolg des Nationalsozialismus doch auch auf einer breiteren populistischen Erhebung, die die Macht der Konservativen im Laufe der zwanziger Jahre zunehmend herausgefordert und unterminiert hatte. Folglich war die nationalsozialistische Machtergreifung der Triumph eines rechten Jakobinertums, in dem vielfältige Strömungen der Arbeiterklasse wie des Mittelstands im Namen der deutschen Nation nach Einfluß und politischer Veränderung strebten. In dieser Hinsicht stehen 1918 und 1933 in enger Verbindung und sollten nicht länger als Chiffren für vollkommen verschiedene politische Entwicklungen gelesen werden. Während viele Wissenschaftler den Nationalsozialismus in der Kontinuität gewisser antidemokratischer Strukturen des Kaiserreiches und in direkter Opposition zu den Ereignissen von 1918 sehen, lautet meine These, daß die Revolution für den Aufstieg der Nazis geradezu konstitutiv war. Daneben sollte allerdings auch die Rolle des Krieges beachtet werden. Werfen wir einen Blick zurück auf Zilles Ziegelsteinmauer. Unter den diversen Schichten politischer Meinungsäußerung kommt noch der Rest 156

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einer Proklamation mit den Unterschriften Hindenburgs, Ludendorffs und Hertlings zum Vorschein, wahrscheinlich ein Aufruf zur Zeichnung von Kriegsanleihen. Wie paßt dieses Fragment des Patriotismus zu den übrigen, den Plakaten der Revolution? Auf den ersten Blick scheint das Überbleibsel nur die schier unendliche Kluft zwischen letztem Kriegssommer und folgendem Revolutionswinter ins Gedächtnis zu rufen. Jürgen Kocka zum Beispiel vertritt den Standpunkt, daß erst die Klassenkonflikte des totalen Kriegs die Revolution möglich gemacht hätten. Detlev Peukert machte die Ursprünge der deutschen Revolution ebenfalls im deutschen Erwachen von 1914 aus: Nur im Lichte des Mythos von 1914 werde das Drama vom November 1918 verständlich. Für Peukert ist es die allgemeine Desillusionierung, die an die Stelle der Euphorie von 1914 getreten sei und die sozialen Konflikte der Vorkriegszeit mit noch verstärkter Virulenz wieder auf die Tagesordnung gebracht habe. Aber ist es nicht möglicherweise die Erfahrung des Volkskrieges selbst, mit seinen utopischen Versprechungen, seinen ungeheuren Opfern und seiner Rhetorik vom volkseigenen Interesse, die die Revolution von 1918 mit Leben gefüllt hat? Wäre dies der Fall, so wären die Plakate der Kriegsund der Revolutionszeit engstens miteinander verbunden. Meiner Ansicht nach spricht vieles für die hohe Bedeutung des Sommers 1914 bei der politischen Mobilisierung der Deutschen. Er erzeugte zugleich populistische und vage demokratische Erwartungen, die 1918 und dann noch einmal 1933 kulminierten. Eine solche Beurteilung des Jahres 1914 läuft gegen die Tendenz der meisten neueren Publikationen zum Ersten Weltkrieg. Man tut auch sicher gut daran, die Massen, die in der Nacht zum 25. Juli und dann nochmals am 1. und 2. August vor dem Schloß randalierten, nicht allzu ernst zu nehmen. Nachdem man jahrelang allzu unkritisch die Vorstellung akzeptiert hatte, die Deutschen seien in einhelliger Begeisterung unter dem Banner von Kaiser und Reich in den Krieg gezogen, richteten die Arbeiten jüngeren Datums die Aufmerksamkeit auf pazifistische Kundgebungen der Sozialisten, auf die verbreitete Kriegsfurcht, die Kirchenbänke füllte und Warenlager leerte oder auf das pubertäre Gehabe der meisten Männer der Mittelschicht, wenn sie zusammenkamen, um Deutschlands Sache lautstark hochleben zu lassen. Diese Revisionsbemühungen des allzu vertrauten Bildes von der Kriegsbegeisterung übersehen allerdings, daß die sich formierenden Massen ein ganz neues Maß an politischem Profil besaßen. Viel interessanter als die allzu simple Frage, ob die Deutschen nun für oder gegen den Krieg waren, wäre eine Untersuchung der Formen ihrer politischen Meinungsäußerung und der Vorstellung von Nation, die sich darin äußerte. In der Nacht des 25. Juli beispielsweise, als die Nachricht von der Ablehnung des österreichischen Ultimatums durch die Serben Berlin erreichte, versammelten sich hunderte von Menschen vor dem Schloß. Die Fenster der Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

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Residenz blieben jedoch dunkel, denn der Kaiser war in Ferien auf seiner Yacht in der Nordsee. Nach einiger Zeit löste sich die Versammlung auf, kleinere Grüppchen zogen „Unter den Linden" hinab zum Bismarck-Denkmal vor dem Reichstag, wo sie noch eine Weile erwartungsvoll herumlungerten, improvisierten Rednern lauschten und patriotische Lieder sangen. Aufgrund der in hohem Maße ritualisierten Aspekte dieser patriotischen Szenen - des Auf und Abs „Unter den Linden", des standardisierten Liederbuches, der Treuedemonstration vor dem Schloß - waren diese Geschehnisse neuartig. Schon der Rollentausch vom Zuschauer zum Demonstranten auf der kaiserlichen Straße „Unter den Linden", bei dem die zumeist der bürgerlichen Mittelschicht entstammenden jungen Männer den Platz der kaiserlichen Soldaten bei ihren Paraden einnahmen, war gewagt, wenn man bedenkt, wie steif nationale Kundgebungen in der wilhelminischen Zeit waren. Ob am Tag der Reichsgründung, ob am Sedan-Tag oder anläßlich der spektakulären Feierlichkeiten des Jahres 1913, als das Silberjubiläum des Kaisers mit dem 100. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig zusammenfiel: stets war der offizielle Patriotismus sehr stark offiziöser Art gewesen, mehr um das Vermächtnis der Hohernzollern als im eigentlichen Sinne um deutsche Errungenschaften kreisend. Vor diesem Hintergrund sind die Massen von 1914 ein wirklicher Bruch - kein Wunder, das sie der Polizei einiges Kopfzerbrechen bereiteten. Am dritten Tag bezeichnete die Polizei die patriotische Menge öffentlich als „Pöbel" und verbot alle Versammlungen im Stadtgebiet. Sogar der Kaiser selbst schien sich vor seinem Volk unwohl zu fühlen. Bei seinem ersten, nur kurzen öffentlichen Auftritt nach seiner Rückkehr nach Berlin am 31. Juli drängte er die Patrioten auf dem Schloßplatz „in die Kirche zu gehen, vor Gott niederzuknien und für das tapfere Heer zu beten", kurz, nach Hause zu gehen und sich unter die Auspizien der traditionellen Autorität zu begeben. Die Patrioten standen im übrigen nicht in Opposition zu ihrem Kaiser. In Anerkennung der zentralen Rolle des Monarchen in der Geschichte der Nation füllte sich der Schloßplatz wieder und wieder; die kaiserliche Rede vom ersten August war emotionaler Höhepunkt einer wochenlangen Krisenstimmung. Gleichzeitig jedoch entwickelte die Menge zunehmend politische Erwartungen, die über die Monarchie hinausgingen. Das Hin und Her vom Schloß zum Königsplatz ist dafür symptomatisch. Der Krieg sollte endgültig beweisen, wie symbolträchtig diese Bewegung bereits gewesen war: vom Schloß mit seinen dunklen Fenstern, zu denen das Volk abwartend aufgeblickt hatte, ging es zur Bismarckstatue, wo patriotische Lieder gesungen und improvisierte politische Reden gehalten wurden. Die Energie, die große Teile der Bevölkerung während der vier Kriegsjahre zu mobilisieren vermochten, erfüllte die Öffentlichkeit mit ganz neuem Leben, wobei sich das allgemeine Interesse immer weniger auf das monarchische Staatswesen und immer mehr auf die Nation richtete. 158

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Die patriotischen Gedichte und Lieder, mit denen die ausrückenden Soldaten verabschiedet wurden, sind als Elemente der gesellschaftlichen Mobilisierung im August 1914 bekannt. Dem Beitrag zahlreicher Zivilisten an der Kriegsanstrengung selbst ist demgegenüber viel weniger Aufmerksamkeit gewidmet worden. Freiwilligenverbände, wie zum Beispiel der Nationale Frauendienst, vermochten mehr Menschen für ein öffentliches Engagement zu gewinnen als jemals zuvor in Deutschland, ein Phänomen, an dem alle gesellschaftlichen Schichten ihren Anteil hatten. Dieses neue Gemeinschaftsbewußtsein führte zu breiten Koalitionen auf lokalpolitischer Ebene und zu engerer Zusammenarbeit zwischen Unternehmern, Arbeiterschaft und Heer, so daß sich für die Zeit nach Kriegsende bereits eine fortschrittlichere Form des Gesellschaftsvertrages anzukündigen schien. Bei allem süßlichen Pathos steht der oft strapazierte Begriff des Burgfriedens doch für die allmähliche Entstehung einer politischen Kultur, in der das Gemeinwohl nach demokratischen Spielregeln festgelegt wurde. Die historische Bedeutung dieses Prozesses sollte eher an den gedanklichen Voraussetzungen, die er schuf, als an seinen konkreten sozialen Erträgen bemessen werden. Auch wenn die Monarchie nicht offen abgelehnt wurde, geriet der Kaiser doch über die allgemeine Mobilisierung der Öffentlichkeit, in deren Mittelpunkt die Anstrengungen der Bevölkerung selbst standen, einfach mehr und mehr in Vergessenheit. Zwar bezeichnete der allgegenwärtige Begriff ,Volk' ein nebulöses und weitgehend nur in der politischen Rhetorik existierendes Kollektiv, das mit den tatsächlich existierenden substantiellen politischen Differenzen und sozialen Konflikten schwerlich in Einklang zu bringen war. Die ständige Wiederholung des Begriffs aber diskreditierte zunehmend alle diejenigen politischen Ideen, die seinem Siegeszug im Wege zu stehen schienen - konkret die Vermittlerrolle der Körperschaften, das himmelschreiende Unrecht des Drei-Klassen-Wahlrechts und die Unterwürfigkeit, die Bestandteil der monarchischen Etikette war. Je wortreicher Schriftsteller und Journalisten die Masse verherrlichten, die Freiwilligen zu Volkshelden machten, Feldpostbriefe zu hoher Literatur erklärten und die Unterwerfung unter das Gemeinwohl selbst des gebildetsten und kultiviertesten Individuums feierten, desto mehr redeten sie damit einer Selbstorganisation der zivilen Gesellschaft das Wort, die sich neben der Autorität der staatlichen Institutionen zu konstituieren begann. Der bunte Mischmasch der .Ideen von 1914' - preußischer Sozialismus und ähnliches bezeugt, wie intensiv sich die Deutschen durch den Krieg dazu herausgefordert fühlten, die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft neu zu denken. Der Karneval vom August 1914 mündete aber auch in einen vier Jahre andauernden Aschermittwoch, in dem die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderklaffte und der Unmut zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten wuchs. Unter den Belastungen des Krieges schien Deutsche Demokratie - Deutsche Diktatur

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sich die deutsche Gesellschaft langsam aber sicher in unzufriedene und zunehmend aggressive Segmente zu zerspalten. Der Rückschluß, daß das Konzept der Volksgemeinschaft damit an Geltung verloren hätte, wäre jedoch verfrüht. Die Mobilisierung ökonomischer und sozialer Interessengruppen war in erster Linie ein Nebeneffekt der besonderen Emphase, die der Burgfrieden auf die kollektiven Fähigkeiten des deutschen Volkes gelegt hatte. Sogar während des Steckrübenwinters, als vorrangig materielle Bedürfnisse zu befriedigen waren, diente der Begriff zur Legitimierung und Absicherung der ökonomischen Forderungen der Bevölkerung. Auch jetzt beschwor man die Solidarität von 1914 und argumentierte bevorzugt im Namen des öffentlichen Interesses. Die einzelnen Gruppierungen brachten lautstark ihre eigenen materiellen und politischen Ziele vor und beurteilten das Handeln des Staates und der anderen politischen Parteien vor dem Hintergrund der kollektiven Verantwortung der Volksgemeinschaft. Mehr als jedes andere Ereignis des 20. Jahrhunderts, so meine ich, hat der Erste Weltkrieg den deutschen Nationalismus verwandelt, indem er ihm emotionale Tiefe verlieh und ihn auf Sozialreform und politische Emanzipation verpflichtete. Die revolutionären Veränderungen von 1918 sind dafür der beste Beweis. Die Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise sind vielfältig. Zunächst möchte ich mit Goldhagen die Bedeutung unterstreichen, die Ideologie und Wunschdenken in der politischen Dynamik der Jahre 1914 bis 1933 entwickelt haben. Die langfristige politische Mobilisierung auch der nichtsozialistischen Kräfte in den Jahren nach 1914 war hier ebenso entscheidend wie die durch Krieg und Revolution ausgelöste materielle Krisensituation. Anders als Goldhagen halte ich jedoch antisemitische Beweggründe im politischen Denken und Handeln der Deutschen dieser Jahre für nicht besonders ausgeprägt. Ihr politisches Engagement war zum einen direkt mit der Hoffnung auf mehr Demokratie verknüpft, zum anderen mit der Gestaltwerdung der Nation als wichtigstem Subjekt der Geschichte des 20. Jahrhunderts gekoppelt. 1933 hatte seine Wurzeln in der zunehmenden Ausdifferenzierung demokratischer Politik im Laufe von Krieg und Revolution. Desweiteren weise ich eine Betrachtungsweise zurück, die im politischen Handeln der Deutschen während der zwanziger und frühen dreißiger Jahre lediglich den Ausdruck einer weitgehend passiven Protesthaltung sieht. Erweitert man den zeitlichen Rahmen der Analyse über 1918 hinaus, so kommt mit dem Jahr 1914 eine sehr viel aktivere und positivere politische Bewegung ins Blickfeld. Auch lokal und regional angelegte Studien zeichnen ein facettenreiches Bild der politischen Wirklichkeit der späten zwanziger Jahre, die sich keineswegs in berufsständisch geprägtem Partikularismus erschöpft hat. Der Stahlhelm als die eigentlich innovative politische Kraft in Weimar (und erster Schritt in Richtung Nationalsozialismus) ist Beweis genug für die rege, selbst160

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sichere und anspruchsvolle politische Aktivität der angeblich in Auflösung begriffenen Mittelschichten. Hans Falladas quälende Frage „Kleiner Mann, was nun?" ist irreführend. Zweifelsfrei waren Geldentwertung und Depression Auslöser extremer Notsituationen, die allem politischen Handeln eine außerordentliche Dringlichkeit verliehen. Trotzdem sind die deutschen Wähler durch diese Katastrophen eben nicht aus einer angestammten politischen Heimat an den äußeren Rand des politischen Spektrums gedrängt worden. Langfristige politische Mobilisierungstendenzen und die Identifikation mit einem übertrieben nationalen Bezugsrahmen hatten diese Heimat schon lange vor der großen Wirtschaftskrise dem Erdboden gleichgemacht. Bedingt durch den geschilderten Mobilisierungsprozeß unterschieden die Wähler nicht immer zwischen den Nazis und anderen, diesen geistig nahestehenden Gruppierungen. So hatten etwa die sinkenden Stimmenzahlen für die NSDAP im Dezember 1932 nicht viel zu bedeuten, da die Wähler einem .national-sozialistischen' Milieu treu blieben, das von den Nazis dominiert, nicht aber mit ihnen deckungsgleich war. Das launische Wahlverhalten der späten zwanziger Jahre spricht in diesem Zusammenhang eine deutliche, bedrohliche Sprache. Diese politische Reizbarkeit müßte wie die späte Entwicklung der NS-Wählerschaft noch weiter hinterfragt werden. Vor dem geschilderten Hintergrund bin ich der Auffassung, daß sich die Deutschen nach 1933 in ihrem NS-Staat weit mehr zu Hause gefühlt haben, als dies von der Geschichtswissenschaft bisher suggeriert worden ist. Eine Untersuchung der sozialen Errungenschaften der Jahre 1933-1945, wie sie Peukert oder Broszat vornehmen, als seien diese Posten in einer Leistungsbilanz, basiert auf der Vorstellung, die Machtergreifung von 1933 sei das Ergebnis eines gigantischen Glücksspiels gewesen, das die ein wenig überraschten Deutschen zu akzeptieren bereit waren, solange es Gewinne abwarf: hohe Gehälter, gute Geschäfte und Steuererleichterungen. Der nationalsozialistische Konsens aber war nicht annähernd so zufälliger Natur. Er besaß viel tiefere ideologische Wurzeln, die die Machthaber mit den Interessen der Bürger verbanden. Dadurch wurde die Politik des Regimes als angemessen und .familiär' empfunden. Durch die hier vorgeführte Verknüpfung von 1933 mit den Jahren 1914 und 1918 soll ein in den Diskussionen über die Politik der zwanziger Jahre oft vernachlässigter Punkt in den Vordergrund treten: der Umstand, daß der massenhafte nationalsozialistische Konsens überhaupt erst durch einen vorausgegangenen breiten Demokratisierungs- und Mobilisierungsprozeß möglich gemacht worden ist. Über die Erkenntnisse, die wir daraus gewinnen, wenn wir 1914,1918 und 1933 als Varianten ein und der selben populistischen Aufstandsbewegung betrachten, die erst den wilhelminischen Staat und schließlich Weimar zu Fall brachte, bleibt weiter nachzudenken.

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Deutsche Demagogie vor und nach dem Umbruch 1918/19 1 JAMES RETALLACK

I.

To demagogue - dieses sperrige Verb kam während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 1992 plötzlich in Mode. In diesem Wahlkampf schlug der demokratische Außenseiter Bill Clinton den gestandenen republikanischen Amtsinhaber George Bush. Interessanterweise benutzten die Medien das Verb ,demagogisieren' nur selten, um die politische Taktik des unabhängigen Kandidaten und populistischen Milliardärs Ross Perot aus Texas zu beschreiben. Perot galt als unprätentiös und hatte etwas Gewöhnliches, Einfaches an sich. Es schien niemanden weiter zu kümmern, ob er zur Rechten oder zur Linken gehörte. Im Gegensatz dazu ,demagogisierte' Bush die Frage der Unruhen in Los Angeles, um die Krise zu seinen Gunsten auszunutzen, indem er Recht und Ordnung verteidigte. Ahnlich .demagogisierte' Clinton die Themen Großstadtkriminalität und Massenarmut, um sich selbst als Außenseiter zu profilieren. Die beiden offiziellen Kandidaten warnten die Wählerschaft vor Perots launischem Charakter und seinen autoritären Neigungen - zu Recht, wie sich bald zeigte. Aber sie störten sich weniger an Perots Verschwörungstheorien denn an seiner Weigerung, die rules of the game einzuhalten. Es ist bemerkenswert, daß amerikanische Talkshow-Moderatoren davon ausgingen, ihre Hörer würden das Verb ,demagogisieren' ohne Probleme verstehen. Das mag unter anderem an den beiden Bedeutungen liegen, die gemeinhin mit dem Substantiv .Demagoge* verknüpft werden. Im ersten, positiven Sinne ist ein Demagoge kaum von einem Volkshelden zu unter-

1 Dieser Aufsatz ist Ergebnis eines Forschungsprojektes, das durch die großzügige finanzielle Unterstützung des University of Toronto's Connaught Fund, des Social Sciences and Humanities Research Council of Canada, des D A A D , der Alexander von Humboldt-Stiftung und des TransCoop Program der Stiftung Deutsch-Amerikanisches Konzil ermöglicht wurde. Für seine Anregungen und Kritik bin ich Peter Steinbach besonders dankbar. Eine ausführlichere Fassung der folgenden Überlegungen ist vor kurzem erschienen: J. Retallack, Demagogentum, Populismus, Volkstümlichkeit. Überlegungen zur .Popularitätshascherei' auf dem politischen Massenmarkt des Kaiserreichs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48, 4 (2000), S. 3 0 9 - 3 2 5 .

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scheiden. Er ist ein Führer, der wie in alten Zeiten die Sache des Volkes gegen andere Gruppen im Staat vertritt. Im zweiten, negativen Sinne jedoch ist ein Demagoge ein gewissenloser Agitator oder Redner. Er gilt als jemand, der weitverbreitete Vorurteile und Leidenschaften des Volkes anstachelt, um sich selbst oder seiner Partei Vorteile zu verschaffen. Er stellt trügerische, ausgefallene oder unerfüllbare Forderungen. Wir sollten daher in Erinnerung behalten, daß die Demagogie ein zweischneidiges Schwert ist. Die eine Seite ist scharf. Sie glitzert vor Rechtschaffenheit - jener Rechtschaffenheit, die jahrhundertelang Außenseiter beseelt hat, im Namen des Volkes die Bastionen politischer Macht zu stürmen. Die andere Seite ist stumpf und selbstzerstörerisch. Sie macht beim Blutvergießen keine Unterschiede. Sie mißbraucht das Vertrauen des Volkes. Sie verwundet Freund wie Feind. Uber diesen Dualismus waren sich die Amerikaner oft nicht ganz im klaren, und auch die Historiker sind es nicht immer. Es ist deshalb ein Ziel dieser Bemerkungen, die Nützlichkeit von Begriffen wie Demagogentum, Populismus und Volkstümlichkeit zu prüfen - sowohl in dem Sinne, wie sie heute von Historikern benutzt werden, um das zu beschreiben, was Hans Rosenberg den „politischen Massenmarkt"2 und Carl Schorske „politics in a new key"3 genannt hat, als auch im zeitgenössischen Sinne. Ich will mich weiterhin damit beschäftigen, wie .erlaubte' und .unerlaubte' Formen der Massenmobilisierung vor dem Umbruch 1918/19 immer weniger auseinanderzuhalten waren, und wie Historiker mit diesem zunehmenden Verschwimmen der Grenzen umgegangen sind. Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß in der zeitgenössischen Vorstellung von .schmutziger Politik' kaum zwischen zwei verschiedenen Arten von Politik, zwischen „politics in a new key" und „politics in an off key", unterschieden wurde.

II. Die Begriffe Demagogie und Populismus erweisen sich mittlerweile als problematisch. Zum einen sind sie inzwischen konzeptionell derart belastet, daß sie

2 Vgl. u.a. H . Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: H . - U . Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln/Berlin 1973, S. 2 8 7 - 3 0 8 ; ders., Aristokratischer Agrarismus in Osterreich und Preußen, in: ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 279f.; ders., Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im zweiten Reich, in: ebd., S. 1 0 2 - 1 1 7 . 3 Vgl. C . Schorske, Politics in a N e w Key: An Austrian Trio, in: Journal of Modern History 39 (1967), S. 3 4 3 - 3 8 6 .

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sogar als heuristische Instrumente so gut wie unbrauchbar geworden sind. Die Benutzer haben inzwischen oft schon Antworten auf Fragen parat, die ihre Modelle eigentlich erst hätten aufwerfen sollen. Zum anderen hat man Erklärungsmuster, die auf der Vorstellung von .demagogischen' und .populistischen' Politikstilen beruhen, auf viele verschiedene Phänomene in sehr unterschiedlichen historischen Zusammenhängen angewandt. So haben Historiker oft Kontinuitäten und Diskontinuitäten heraufbeschworen, wo gar keine existierten. Eine Ursache für dieses Problem ist möglicherweise die Tendenz, Populismus und Demagogie als zwei Seiten einer Medaille anzusehen, bei der lediglich die moralischen und politischen Vorzeichen vertauscht sind. In diesem Verständnis ist keiner der beiden Begriffe doppeldeutig. Also: Meine Politik ist aufgeklärt und dient dem Wohle des Volkes - d.h. sie ist populistisch im Sinne von volkstümlich. Deine Politik dagegen ist unehrlich und führt das Volk in die Irre - d.h. sie ist demagogisch. Wie können Historiker den Begriff Populismus nun eindeutiger und konsequenter benutzen? Sie könnten sich zum Beispiel als erstes ins Gedächtnis rufen, daß Populismus ein Politik-Stil ist, also keinen solchen ,-ismus' wie Liberalismus oder Konservatismus darstellt. Darüber hinaus trifft der Begriff am besten auf jene Persönlichkeiten in der Geschichte zu, die die Dinge von Grund auf ändern, die aufrütteln wollten. Und genau in diesem Sinne benutzen viele Historiker heute das Wort Populismus: U m die Politik von Einzelnen und Gruppen zu beschreiben, die der Zukunft vertrauensvoll entgegensahen. Diese Menschen waren sich absolut sicher, daß sie den sozialen, wirtschaftlichen und sogar politischen Wandel auf ihrer Seite hatten. An wen erinnern uns diese zukunftsoptimistischen, selbstbewußten und zuversichtlichen Menschen? Sehen sie nicht fast genauso aus wie Liberale? Geoff Eley hat geschrieben, daß radikale Nationalisten in den 1890er Jahren Populisten waren, weil sie die „zuversichtlichen Nutznießer der kapitalistischen Transformation Deutschlands" waren und weil sie sich selbst als „freie unabhängige Menschen" sahen 4 . Das klingt in meinen Ohren wie eine klassische Charakterisierung von Liberalen.

III. Schon vor dem Zusammenbruch des .Dritten Reichs' wurde Hitler zum Idealtyp des Demagogen stilisiert: Er hatte eine Vorliebe für die .große Lüge' in 4 G . Eley, Reshaping the German Right: Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, N e w Haven 1980, S. 199f. Vgl. R. Chickering, We Men Who Feel Most German, London 1984, S. 303. Deutsche Demagogie vor und nach dem Umbruch 1918/19

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der Politik und bediente sich einer besonders brutalen Spielart direkter politischer Propaganda. In den 1950er Jahren behaupteten einige Historiker, die deutsche politische Kultur sei intakt gewesen, bis 1918 Niederlage und Revolution den Demagogen sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten Tür und Tor geöffnet hätten. Bald verabschiedeten sich die meisten Historiker von dieser Interpretation. Schon lange vor Ausbruch der Fischer-Kontroverse hatten Geschichtswissenschaftler wie Hans Rosenberg, Fritz Stern oder George Mosse damit angefangen, die Wurzeln des nationalsozialistischen Triumphzuges ins 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen 5 . Die kaiserlichen Herrschaftseliten fungierten jetzt nicht als Bollwerk gegen Demagogie, sondern als seine Paten und Erbauer. Schon in den 1940er Jahren zitierte Alexander Gerschenkron Heinrich Heines Verdammung der „Junker, die nichts gelernt haben als ein bißchen Pferdehandel, Kartenbetrügerei, Würfelspiel oder andere dumme Tricks, mit denen bestenfalls Bauern auf Jahrmärkten betrogen werden können; die denken, daß sie ein ganzes Volk an der Nase herumführen können". 6 1958 prägte Hans Rosenberg den Begriff „Pseudo-Demokratisierung" zur Beschreibung der politischen Strategien eben dieser Junker. Rosenberg kritisierte zwar Gerschenkrons „alarmierenden Gebrauch des Wortes Demokratie und nicht klar definierte Klischees wie .unreife Demokratien' und (...) .Demokratie ohne Demokraten'." Dennoch kam Rosenberg mehr oder weniger zum gleichen Schluß. Zur Bekräftigung seines Arguments zitierte Rosenberg Friedrich Naumann, der im Jahr 1900 Agrarier als „Herrenmenschen mit demokratischen Handschuhen" charakterisiert hatte 7 . Hans-Jürgen Puhles Studie über den Bund der Landwirte (BdL) führte 1966 die verschiedenen Elemente der Argumentation zusammen 8 . Nach Puhle „verformte" der BdL

5 Vgl. u.a. R. Dahrendorf, Society and Democracy in Germany, N e w Y o r k 1967; F. Stern, The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of the German Ideology, 2. Aufl. Berkeley (Ca.) 1974; G. L. Mosse, The Nationalization of the Masses: Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars Through the Third Reich, N e w Y o r k 1975. 6 H . Heine, Französische Zustände, in: ders., Sämtliche Werke, Leipzig 1912, Bd. 6, S. 83; A. Gerschenkron, Bread and Democracy in Germany, Berkeley (Ca.), 1943 (2. Aufl. N e w Y o r k 1966). 7 Rosenberg, Pseudodemokratisierung; F. Naumann, Demokratie und Kaisertum, Berlin 1900, S. 92f. 8 H.-J. Puhle, Conservatism in Modern German History, in: Journal of Contemporary History 13 (1978), S. 6 8 9 - 7 2 0 , bes. S. 7 0 3 - 7 0 6 ; ders., Lords and Peasants in the Kaiserreich, in: R. G. Moeller (Hg.), Peasants and Lords in Modern Germany: Recent Studies in Agricultural History, Boston 1986, S. 8 1 - 1 0 9 ; ders., Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893-1914), 2. Aufl. Bonn 1975, bes. S. 2 7 4 - 2 8 9 .

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die Konservative Partei sowohl strukturell als auch ideologisch. Die „neue Rechte", so schrieb Puhle, wurde von „Desperados" und „Ausgestoßenen" dominiert. Diese Demagogen nutzten die „Werkzeuge der modernen direkten Demokratie" und eine „bewußt gesteuerte Demagogisierung [sie]". Dadurch wurde die deutsche Rechte lange vor 1918 „präfaschistisch".

IV. Obwohl sich in den 1980er Jahren unter angelsächsischen Wissenschaftlern ein gewisser Unmut angesichts dieses Standpunktes breit machte, waren die Begriffe Demagogie und Populismus z.B. für David Blackbourns Gesamtinterpretation des Kaiserreichs derart entscheidend geworden, daß er seinem Aufsatzband den Titel „Populists and Patricians" gab9. Gleichzeitig erweiterte er seine eigene Definition von Demagogie derart, daß darunter sogar regierungstreue Konservative und Staatsminister fielen, die versucht hatten, Aufwiegler für ihre eigenen Zwecke zu manipulieren und einzuspannen. Ich möchte hier fünf Punkte aus Blackbourns Argumentation hervorheben: 1. Blackbourn ruft uns in Erinnerung, daß mit dem Vorwurf der .Demagogie' in der Kaiserzeit sehr häufig und relativ willkürlich um sich geworfen wurde. Liberale erhoben diese Anklage gegen Bismarck, Antisemiten erhoben sie gegen Konservative und Max Weber erhob sie gegen fast jeden. 2. Blackbourn bemerkte, daß es so gut wie keinen Zweck hatte, „die Hunde bellen zu lassen", um auf diese Weise den Wolf an der Tür zu zähmen. Statt dessen setzte diese politische Taktik das in Gang, was Blackbourn als „Politik der Respektlosigkeit" bezeichnete - ein politisches „Idiom", mit dem etablierte politische Führer wie auch Außenseiter mehr oder weniger gezwungen wurden, dem Volk „alles zu versprechen". 3. Einer von Blackbourns wichtigsten Beiträgen zur Forschung lag darin, daß er .demagogische' Gewohnheiten auf der Ebene der alltäglichen Politik herausarbeitete. Er beobachtete z.B., daß mit Schreibmaschinen und

9 D. Blackbourn, Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London 1987. Für die folgenden Abschnitte s. ders., Peasants and Politics in Germany, 1 8 7 1 - 1 9 1 4 ; Catholics, the Centre Party and Anti-Semitism; The Politics of Demagogy in Imperial Germany; sowie Politics as Theatre: Metaphors of the Stage in German History, 1 8 4 8 - 1 9 3 3 , in: ebd., S. 114-139, S. 1 6 8 - 1 8 7 , S. 2 1 7 - 2 4 5 und S. 2 4 6 - 2 6 4 . Vgl. ders./G. Eley, The Peculiarities of German History: Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford 1984.

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Diavorführungen bereits ein Teil der technischen Voraussetzungen moderner Demagogie zur Verfügung stand. 4. Blackbourn verknüpfte die wichtigsten Motive demagogischer Rhetorik mit dem, was man die soziale Prägung ihrer Vertreter nennen könnte. Es war, so Blackbourn, kein Zufall, daß die berühmtesten „rabble romers" im kaiserlichen Deutschland von ihren Kritikern als politische Spekulanten und Abenteurer abgestempelt wurden. Blackbourn selbst benutzte lieber den Ausdruck „Einzelgänger" und „politische Freibeuter", aber er ließ sich nie auf eine genaue Untersuchung dieses Diskurses ein. Statt dessen bemerkte er, daß solche Einzelgänger genauso leicht ganz oben wie ganz unten auf der sozialen Leiter hätten ankommen können - also entweder wegen Verleumdung, Unterschlagung und Erpressung im Gefängnis landen oder aber Mitglied des Reichstags werden konnten. 5. Schließlich stellte Blackbourn die These auf, daß es keine große Rolle gespielt habe, ob sich Demagogen vor 1918 als Bürger, Patrioten oder Volkstribune verstanden. Er erklärte, Historiker hätten mit vollem Recht Junker, Imperialisten und auch Regierungsmitglieder als „unbestreitbar demagogisch" angeprangert. Die tiefere Ironie lag für ihn aber darin, daß frühere Historiker die langfristigen Auswirkungen dieser Demagogie, ihre potentielle Explosivität, im Grunde noch unterschätzt hätten.

V. Diese Beobachtungen werfen eine Reihe offener Fragen auf. Es scheint mir, erstens, daß Historiker permanent gefährdet sind, die Begriffe Demagogie und Populismus als austauschbar anzusehen und zu verwenden. Ist das so hinzunehmen? Stellt es einen Fortschritt gegenüber früheren Schriften dar, in denen Populismus stets positiv und Demagogie stets negativ bewertet wurde? Zweitens: In welchem Umfang können wir von Historikern verlangen, daß sie schlüssig darlegen, ob Demagogie oder Populismus als politische Strategie im wilhelminischen Deutschland jeweils tatsächlich erfolgreich waren? Im Hinblick darauf sind Blackbourn und Eley hinsichtlich der Frage der Kontinuität sehr unterschiedlicher Meinung. Während Eley zuletzt die Diskontinuität zwischen wilhelminischen Konservativen und den Faschisten betont hat, stützt Blackbourns Vorstellung von der „eskalierenden Spirale" der Demagogie die gegenteilige Ansicht. Blackbourn und Eley haben drittens eine Art Puzzle aus vier Teilen vorgelegt - Populismus, Demagogie, Insider, Outsider - , das von komplizierten 168

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Anziehungs- und Abstoßungskräften nur mühsam zusammengehalten wird. Nach wie vor ist jedoch nicht klar, welche historische Form die jeweiligen Puzzleteile vor und nach dem Umbruch 1918 hatten oder wie stark die gegenläufigen Kräfte im Wandel der Zeiten jeweils waren. Hat sich der Begriff Populismus in seiner Nützlichkeit überlebt? Meines Erachtens ist diese Frage mit einem vorsichtigen ,ja' zu beantworten. Warum müssen wir denn eine neue Wunderwaffe, sozusagen einen .Generalschlüssel' suchen, wenn wir im Grunde genauso gut ohne ihn auskommen? Wenn wir den Begriff Populismus überhaupt weiter benutzen müssen, dann sollten wir wenigstens einräumen, daß er nach wie vor mit einem Manko behaftet ist, das Isaiah Berlin einmal als „Aschenputtelkomplex" bezeichnet hat: „Es existiert da ein Schuh, das Wort .Populismus', zu dem irgendwo ein Fuß gehört. Es gibt alle möglichen Füße, denen er beinahe paßt, aber wir sollten uns nicht von diesen beinahe passenden Füßen täuschen lassen. Der Prinz wandert die ganze Zeit mit dem Schuh umher; und an irgendeinem Ort, da sind wir uns ganz sicher, wartet ein Gliedmaß auf ihn, das .reiner Populismus' genannt wird". 1 0 Andere sind brutaler. In bestimmten politischen Zusammenhängen von Populismus zu sprechen, bemerkte Kenneth Minogue einmal, „ist manchmal so, wie von spanischem Champagner zu sprechen; es ist zwar einleuchtend, aber es sollte gesetzlich verboten sein." 11 Es entspricht übrigens nicht meiner Meinung, daß wir die Forschung über das Verhältnis zwischen Politik und Volk aufgeben sollten. Ganz im Gegenteil. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, daß Historiker oft dazu neigen, dieses Problem in erstaunlich unsystematischer Weise anzugehen. Dazu möchte ich anregen, daß wir weiterhin die Frage der populären Politik mit der Idee der politischen Ehre verbinden. Wie Ute Frevert demonstriert hat, ist Ehre als Konzept etwa genauso vielgestaltig und schwer zu greifen wie Populismus 12 . Wenn wir jedoch genau untersuchen, was in verschiedenen historischen Epochen jeweils als ehrbare politische Praxis angesehen wurde, erkennen wir, daß Theorie und Praxis oftmals weit auseinanderfielen. Oder etwa nicht? Vielleicht hat sich an der demagogischen' Praxis der deutschen Rechten nach 1918 doch etwas verändert, etwas nur schwer zu Fassendes. „Fürchterlich, fürchterlich" - so charakterisierte Hitler die ersten Treffen der Deutschen Arbeiter-Partei, die er besuchte: „Das war Vereinsmeierei aller-

10 Zitiert in: J. B. Allcock, Populism: A Brief Biography, in: Sociology 5 (1971), S. 385, Anm. 34. 11 K. Minogue, Populism as a Political Movement, in: E. Gellner/G. Ionescu (Hg.), Populism: Its Meanings and National Characteristics, London 1969, S. 197-211, hier: S. 197, 200. 12 U. Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Deutsche Demagogie vor und nach dem Umbruch 1918/19

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ärgster Art und Weise." 13 In einem Memorandum vom Januar 1922 beschrieb Hitler das bisherige bürgerliche Parteileben als eine „Mischung von gutem Willen, harmloser Naivität, theoretischem Wissen und dem Fehlen jedes Instinkts." 14 In ihrem besessenen Festhalten an Statuten, Debattierregeln und Wahlzeremonien waren die bürgerlichen Vereine genau jenem parlamentarischen .Wahnsinn' treu geblieben, den Hitler unbedingt zerstören wollte. Aber Hitler machte sich nicht nur über den „bürgerlichen Träträklub", den „literarischen Teeklub" und die „spießbürgerlichen Kegelgesellschaft[en]" aus Vorkriegszeiten lustig. Er zog auch mit Häme über genau jene völkischen, nationalistischen Gruppen her, die von Historikern immer noch als demagogisch und populistisch bezeichnet werden. Hitler beschrieb später einmal ein patriotisches Treffen, bei dem er in München gewesen war: „Auf dem Podium saß der Vorstand. Links ein Monokel, rechts ein Monokel, und zwischendrein einer ohne Monokel. Alle drei im Gehrock" 1 5 . Wir sollten uns natürlich davor hüten, Hitlers Beschreibungen für bare Münze zu nehmen. Seine Konsequenz in dieser Sache gibt jedoch Anlaß zum Nachdenken. Wie stark hatte „politics in a new key" das deutsche Vereinsleben vor den zwanziger Jahren tatsächlich schon durchdrungen? Wenn der entscheidende Bestandteil jeder Definition von Populismus und Demagogie denn wirklich in einer Massenbeteiligung zu sehen ist, muß man doch sofort fragen:,Massen' in welchem Maßstab? Und .Beteiligung' nach wessen Bedingungen? 16

VI. Ich hoffe, daß meine Ausführungen in zwei Richtungen zum Weiterdenken angeregt haben: Zum einen habe ich mich bemüht, die Distanz zwischen Honoratiorenpolitik und Demagogentum nicht zu vergrößern, sondern zu verringern. Meine eigenen Forschungen in Sachsen zu extrem antisemitischen konservativen Publizisten, Funktionären und Parteiführern zwingen mich

13 A. Hitler, Mein Kampf, 400.-404. Aufl. München 1939, S. 241. 14 Zitiert in: W. Jochmann (Hg.), Nationalsozialismus und Revolution. Dokumente, Frankfurt a.M. 1963, S. 87. 15 Hitler, Mein Kampf, S. 660, 392, 378, 539. 16 E. Rosenhaft, Women, Gender and the Limits of Political History in the Age of „ M a s s " Politics, in: L. E. Jones/J. Retallack (Hg.), Elections, Mass Politics and Social Change in Modern Germany: N e w Perspectives, C a m b r i d g e / N e w York 1992, S. 149-173, hier: S. 154; J. Retallack, Notables of the Right: The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876-1918, London/Boston 1988, S. 3. 170

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dazu, die sozialen und ideologischen Unterscheidungen zwischen .Populisten' und ,Notabein' in ihrer Bedeutung herunterzuspielen. Zum anderen scheint es mir sinnvoll, den Blick auf langfristig wirkende Fragen und Einflüsse zu richten, und nicht unbedingt das eine oder andere Jahrzehnt als entscheidenden Wendepunkt hervorzuheben. Aus Gründen, die im folgenden ersichtlich sein werden, halte ich die 1860er und 1870er Jahre für die Geburt einer eindeutig modernen politischen Kultur in Deutschland für viel wichtiger als die 1890er 17 . Die meisten Leser werden den Verfasser der folgenden Passage problemlos aus dem Text erkennen. Wie aber schätzen diejenigen, die das Zitat nicht direkt zuzuordnen vermögen, den Stand der politischen Entwicklung ein, den Deutschland nach Meinung des Autors gerade erreicht hatte, als er die folgenden Zeilen schrieb? Sie werden sicher der Auffassung sein, daß es sich hier um ein fortgeschrittenes Stadium handle - als die Verrohung der öffentlichen Meinung schon weit vorangetrieben worden war; als Honoratiorenpolitik längst der Vergangenheit angehörte; und als .demagogische' Appelle an niedrige menschliche Instinkte bereits weit verbreitet waren. „Es findet gegenwärtig ein (...) allgemeines Wahlfieber statt (...). [Doch] will ich (...) von einer lustigen Fahrt [nach Erfurt hin] erzählen. (...) Marsch nach einem großen wüsten Saal, in welchem die Wähler rauchend und Bier trinkend ehrbar saßen. (...) [Es hatte] zuweilen zornig an eine kleine Thür gedonnert (...). Als geöffnet wurde, drang ein Haufe trotziger Wähler in den heiligen Raum des Comité, und stellte sich drohend im Halbkreise hinter uns auf. (...) Mit dem Bewußtsein einen schwarzen Frack und graue Hosen anzuhaben, also grade die richtige Mischung von Hochachtung und Vertraulichkeit, begann ich meinen Punch zu rühren, mit Gemüth, aus alten vielerprobten Sätzen der Grenzboten, mit tiefsinnigen Betrachtungen über Menschenleben und Schicksal. Das gefiel den guten Kerlchen. (...) Die Grobheit entschied die Sache, (...) ich wurde mit großem Geschrei und Händeschütteln als Erwählter proclamirt, ein Bildhauer erbot sich, mich zu modelliren, ein Hofphotograph forderte Sitzungen, der Verleger der Thüringischen Zeitung erklärte, seine Frau sei entbunden und ich als Gevatter wünschenswert, ein Bauer (...) hielt mir eine kleine Rede und sprach den Wunsch aus,

17 Vgl. J. Retallack, „Why Can't a Saxon Be More Like a Prussian?" Regional Identities and the Birth of Modern Political Culture in Germany, 1866-67, in: Canadian Journal of History 32 (1997), S. 2 6 - 5 5 ; ders., Anti-Semitism, Conservative Propaganda and Regional Politics in Late Nineteenth-Century Germany, in: German Studies Review 11 (1988), S. 3 7 7 - 4 0 3 ; ders., Herrenmenschen und Demagogentum. Konservative und Antisemiten in Sachsen und Baden, in: ders. (Hg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1 8 3 0 - 1 9 1 8 (Studien zur Regionalgeschichte Bd. 17), Bielefeld 2000, S. 1 1 5 - 1 4 1 .

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,Soll und Haben' zu besitzen, er könne sichs recht wohl kaufen, aber ihm sei lieber, wenn ichs ihm schenke. Am andern Tag (...), ich vertröstete den Bildhauer, saß dem Photographen, nahm ein Vice-Gevatterfrühstück bei dem neuen Vater ein und sandte dem Bauer das Buch. (...) Ach, dies allgemeine Wahlrecht ruinirt den Charakter, fünfzig Jahre habe ich mich um Popularität nicht gekümmert, und jetzt sende ich einen Blumenstrauß an eine Wöchnerin, von der ich nicht weiß, ob sie einen Jungen oder ein Mädel taufen läßt, und schüttle hundert guten Freunden die Hand, deren Namen ich nicht weiß und niemals wissen werde. Pfui, Bismarck, das war kein Meisterstreich. (...) Niemand weiß, ob er gewählt wird." 1 8 Diesen Absatz hat natürlich nicht einer der entschlossensten deutschen Antidemokraten geschrieben, sondern der liberale Publizist Gustav Freytag. Und er entstand nicht, als die deutsche Demokratie kurz vor 1933 schon fast am Boden lag, sondern im Januar 1867, während des Wahlkampfs zum konstituierenden Norddeutschen Reichstag. Und so sehe ich mich am Schluß zu folgender Frage veranlaßt: Als Freytag sich auf Popularitätshascherei verlegte, war er da Zeuge des Untergangs der Honoratiorenpolitik? Trug er mit zum Aufstieg des modernen Demagogentums bei? Oder hatte er einfach gelernt, so wie Bill Clinton 1992 (und dann noch einmal 1996), gleichzeitig volkstümlich, populistisch und wahlfähig zu sein? Hat Freytag .demagogisiert'?

18 E. Tempeltey (Hg.), Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893, Leipzig 1904, S. 215ff. 172

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1918-1919 in der deutschen Geschichte RICHARD BESSEL

Die politischen Zäsuren 1918/19, 1933, 1945 und 1989 ergeben zusammengenommen ein recht merkwürdiges Bild von der neueren deutschen Geschichte: einmal handelt es sich um den Zusammenbruch eines Kaiserreichs, einmal einer Demokratie, einmal um den Zusammenbruch des .Dritten Reichs', einmal des Sozialismus; zwei Niederlagen nach zwei Weltkriegen, den Anfang der ersten und das Ende der zweiten deutschen Diktatur. Die Vorstellung, die hinter dieser Datenreihe steht, die Konzeption der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert als einer Geschichte von Zusammenbrüchen, ist bemerkenswert. Das erste Glied dieser schicksalhaften Kette bildet das Jahr 1918/19. In unserem Zusammenhang ist nicht nur nach den Ereignissen von 1918/ 19 selbst zu fragen, sondern auch danach, inwieweit der hier erfolgte Umbruch Weichen für das gesamte deutsche Jahrhundert gestellt hat. Zweifelsohne markiert das Datum 1918/19 wichtige Zäsuren in der neueren deutschen Geschichte. 1918 war das Jahr der Niederlage im Ersten Weltkrieg und des Zusammenbruchs des Kaiserreichs, aber auch der ersten einem Parlament verantwortlichen Regierung Deutschlands; es war das Jahr der Novemberrevolution und der schlimmsten Grippe-Epidemie, die Deutschland und die Welt je erlebt hatten. 1919 war sowohl das Jahr der blutigen Niederwerfung des Spartakus-Aufstandes und größerer Streikbewegungen als auch das Jahr der Weimarer Verfassung und der ersten Wahlen für ein deutsches Parlament, an denen auch Frauen teilnehmen durften. Es war auch das Jahr des Versailler Vertrags, das Jahr der (am 31.12.1918 verordneten) allgemeinen Demobilmachung und der Gründung des ersten reichsdeutschen Heeres, der Reichswehr. Es gibt also in der Tat nicht wenige Gründe dafür, 1918/19 als Umbruchszeit zu beschreiben. In vielerlei Hinsicht aber stand 1918/19 auch unter dem Zeichen der Kontinuität. Die schicksalhafte Entscheidung Friedrich Eberts, den revolutionären Umwälzungen sozialistischer Prägung Einhalt zu gebieten und unmittelbar nach der Novemberrevolution Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung durchzuführen, war im Grunde eine Entscheidung für die Kontinuität. Es gab in Deutschland in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zwar eine (kurzlebige) Mehrheit für eine parlamentarische Demokratie, doch nicht für eine umfassende sozialistische

1918-1919 in der deutschen Geschichte

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Umwandlung - ganz zu schweigen von einer Sehnsucht nach einem .Sowjetdeutschland'. Auch die rasche Annahme der vorläufigen Regierungsform, die in der Weimarer Verfassung von 1919 im wesentlichen übernommen wurde, bedeutete keinen radikalen Bruch mit der unmittelbaren Vergangenheit: Die Struktur der Reichsregierung blieb mit ihren Ämtern und Ministerien, aber auch ihrem Beamtenpersonal weitgehend unverändert. Versuche, neue alternative Entscheidungsprozesse und -strukturen zu etablieren, wie zum Beispiel durch eine Herrschaft der (Arbeiter-)Räte, blieben eine Totgeburt. Sowohl in den Regierungsgebäuden in Berlin als auch in der Kommunalverwaltung vor Ort verlief die Regierungsroutine weitgehend in den alten Bahnen. Selbstverständlich kann man sich darüber streiten, wie es vor etwa zwanzig oder dreißig Jahren Mode war, ob 1918/19 ein echtes, erfolg-versprechendes ^evolutionäres' Potential durch die Schüchternheit der Mehrheitssozialdemokraten und die Brutalität der Freikorps unterdrückt und dadurch eine große historische Gelegenheit verspielt worden ist. Es scheint jedoch ziemlich sicher zu sein, daß die deutsche Revolution von 1918/19 niemals den unzweideutigen Charakter einer wirklich umfassenden Umwälzung hatte. Die Zustimmung für die neue demokratische, wenn auch nicht revolutionäre Regierungsform scheint in den ersten Wochen nach der Novemberrevolution bemerkenswert hoch gewesen zu sein. Im Januar 1919 hatten mehr als drei Viertel der deutschen Wähler für die Träger des neuen demokratischrepublikanischen Regierungssystems gestimmt - also für die Mehrheitssozialdemokraten, die Linksliberalen oder die Vertreter des politischen Katholizismus. In Mecklenburg-Schwerin, wo vor dem Ersten Weltkrieg geradezu absolutistische Zustände geherrscht hatten und die Gesellschaft in entscheidendem Maße vom Großgrundbesitz geprägt war (und wo gegen Ende der Weimarer Zeit die NSDAP eine besonders starke Wählerunterstützung finden sollte), stimmten im Januar 1919 sogar über 75% der Wähler allein für die SPD und die DDP; in Mecklenburg-Strelitz waren es im Dezember 1918 sogar über 90% I1 Dies war ein Bruch ohnegleichen in der Geschichte des Wählerverhaltens in Deutschland. Doch wie wir wissen, hatte die hohe Unterstützung für die Weimarer Koalition leider nur ephemeren Charakter. Schon 1920 war diese Mehrheit verschwunden, um während der kurzen Geschichte der Weimarer Republik nie wieder aufzutauchen. Der demokratische Aufschwung, der sich in den Wahlen von Januar 1919 gezeigt hatte, war demnach nicht von Dauer. Er ist also weniger als entscheidender Bruch in der politischen Willensbildung der Deutschen, als vielmehr

1 J. Falter/T. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1 9 1 9 - 1 9 3 3 , München 1986, S. 98 f.

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als flüchtige Veränderung der öffentlichen Stimmung unter den besonderen Umständen unmittelbar nach Kriegsende zu bewerten. Aus einer längerfristigen Perspektive läßt sich erkennen, daß die erstaunlichen Wahlergebnisse vom Januar 1919 in erster Linie wohl Ausdruck einer weitverbreiteten Verachtung des alten Systems und einer naiven (und schnell wieder verschwundenen) Hoffnung auf die Verheißungen einer neuen demokratischen Welt waren, wie sie von Woodrow Wilson verkörpert wurden. Mit den blutigen Wirren der ersten Monaten des Jahres 1919, mit der andauernden Wirtschaftsnot und Inflation, mit der Verkündung der Friedensbedingungen durch die Alliierten im Mai 1919, mit der Ratifizierung des Versailler Vertrags und seines ,Schmachparagraphen' im Juli waren die Flitterwochen der ersten deutschen Demokratie beendet. Obwohl die Wahlergebnisse der 1920er Jahre erhebliche Kontinuitäten mit dem Kaiserreich bewiesen, blieb im politischen und öffentlichen Leben Weimar-Deutschlands freilich nicht alles beim Alten. In einem ganz entscheidenden Punkt bildete 1918/19 nämlich tatsächlich einen Bruch im politischen und öffentlichen Verhalten. Nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Einführung einer neuen politischen Ordnung drängte sich in einem zuvor kaum vorstellbaren Ausmaß die Gewalt ins öffentliche Leben der Deutschen. An dieser Stelle soll keinesfalls das stark simplifizierende Argument aufgewärmt werden, der Erste Weltkrieg habe Millionen von Kriegsteilnehmern schlicht brutalisiert. Allein die Tatsache, daß die größte Organisation der deutschen Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges der Sozialdemokratie nahestand und alles andere als ein kriegerischer „Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen" war, deutet auf vielschichtigere historische Prozesse hin. Die meisten Veteranen des Ersten Weltkrieges wollten nichts anders als zurück nach Hause, nichts anderes als ein friedliches, .normales' Leben. Die These, die deutsche Gesellschaft sei durch den Krieg brutalisiert worden, ist zwar nicht falsch - sie ist dies aber in einem etwas komplizierteren Sinne. Es greift zu kurz, einfach zu behaupten, die Kriegsteilnehmer seien durch ihre Fronterlebnisse „für das normale Leben verdorben" 2 gewesen. Vielmehr hatten die große Umbrüche Krieg und Revolution die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen in Deutschland derart erschüttert, daß in gewissem Sinne der gesamte .Zivilisationsprozeß'

2 So die Beschreibung des späteren schlesischen SA-Führers Edmund Heines durch Professor Friedrich Grimm, der Heines bei dem Fememord-Prozeß verteidigte. Zitiert bei D. B. Southern, Anti-demokratischer Terror in der Weimarer Republik: Fememorde und schwarze Reichswehr, in: W . J. Mommsen (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert Stuttgart 1982, S. 385.

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zurückgedreht wurde. Krieg und Revolution wirkten als Katalysator für jene „Krise der klassischen Moderne", die die Geschichte der Weimarer Republik entscheidend prägen sollte.3 Eines der wichtigsten Symptome dieser Krise wurde in einem allgemeinen Anstandsverlust ersichtlich. Das Leben in Deutschland wurde 1918/19 rauher und gewaltsamer. Es stimmt zwar, daß die Novemberrevolution 1918 zunächst erstaunlich friedlich verlief: Die Hafenstadt Kiel fiel in die Hände der meuternden Matrosen; am 7. November rief Kurt Eisner in München, am 9. Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus; der Kaiser dankte ab, die Landesfürsten der deutschen Staaten taten es ihm nach; Friedrich Ebert wurde Nachfolger des Reichskanzlers Max von Baden; Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich in fast allen Ländern und Städten des Reiches; die Polizei verschwand vorübergehend von der Straße; und die Revolution konnte sich zunächst nahezu unblutig entfalten. Doch in den nächsten Monaten und Jahren versank das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland buchstäblich in einer Welle von Gewalt. Dazu trugen nicht nur die einschlägig bekannten Ereignisse bei, wie der Spartakus-Aufstand und seine Niederschlagung in Berlin im Januar 1919, das äußerst blutige Ende der Münchner Räterepublik, der Ruhrkrieg im März 1920, die drei polnischen Aufstände in Oberschlesien, die blutige militärische Kampagne gegen den Mitteldeutschen Aufstand von 1921, die Terror- und Sabotagekampagne gegen die Franzosen während der Ruhrbesatzung, der Hitler-Putsch im November 1923 sowie Hunderte von politischen Morden, die in den ersten Jahren der jungen Republik u.a. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Hugo Haase, Matthias Erzberger und Walter Rathenau das Leben kosteten. Zu erwähnen ist auch die fast alltäglich gewordene Gewalt, die das öffentliche Leben kennzeichnete - und von der in den einschlägigen Darstellungen der Weimarer Republik so gut wie nichts zu lesen ist. Im folgenden sollen nur einige ausgewählte Beispiele aus den ersten zwei Jahren der Weimarer Republik erwähnt werden: Am 8. August 1919 kam es in Chemnitz zu blutigen Straßenkämpfen und Plünderungen, bei denen 29 Menschen getötet wurden; am 13. Januar 1920 endete eine Berliner Kundgebung gegen das Betriebsrätegesetz nach dem Einsatz der Polizei in einem Blutbad, bei dem 42 Menschen ums Leben kamen und weitere 105 verwundet wurden; am 26. August 1920 kam es in Breslau zu erheblichen Unruhen, bei denen das polnische und das französische Konsulat gestürmt wurden. Die 3 D. Peukert, Die Weimarer Republik. Die Krise der klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987; R. Bessel, Die Krise der Weimarer Republik als Erblast des verlorenen Kriegs, in: F. Bajohr/W. Johe/U. Lohalm (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 9 8 - 1 1 4 .

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Verrohung des öffentlichen Lebens in Deutschland zeigte sich aber nicht nur in solch aufsehenerregender Form, sondern auch bei geringfügigeren Anlässen des tagtäglichen Lebens. In besonders plastischer Form hat dies vor einigen Jahren Gerald Feldman in einem sehr aufschlußreichen Aufsatz mit dem zynischen Titel „Welcome to Germany?" beschrieben, in dem er unter anderem über den bösen Empfang ausländischer Touristen in Deutschland während der Inflationszeit berichtet. 4 Auch die allgemeine Kriminalität nahm besonders im Zusammenhang mit der ausufernden Inflation - in Deutschland beträchtlich zu. Es mag vielleicht paradox erscheinen, daß diese Verrohung der Sitten zeitlich mit der Anerkennung der Frauen als gleichberechtige Staatsbürger zusammenfiel. 1918/19 war ein Wendepunkt für die Geschlechterbeziehungen in Deutschland: Die Erlangung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen und ihr Einzug in die deutschen Parlamente bildeten eine kaum zu überschätzende Zäsur in der neueren deutschen Geschichte. Allerdings waren Frauen in Deutschland in diesen Jahren nach wie vor Zielscheibe stark abwertender, vor Vorurteilen nur so strotzender Propagandakampagnen wie die Parolen des konservativen Deutschen Handlungs-Gehilfen-Verbandes zeigen, der während der Demobilmachung einen militanten Feldzug gegen die weitere Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte führte. Nur allzu verbreitet waren Ansichten wie die eines Regierungsbeamten, der die Ursachen einer „Zunahme der Störungen der Sicherheit und öffentlichen Ordnung" während der unmittelbaren Nachkriegszeit in den „hohen Löhnen und der kurzen Arbeitszeit" sahen: Diese Zustände hätten „viele früher in geordneten Verhältnissen lebende Mädchen" verleitet, „einen großen Teil des Tages und der Nacht in Vergnügungslokalen und auf der Straße zuzubringen", weswegen vor einer wachsenden Zahl „heimlich Unzucht treibender Personen und Geschlechtskrankheiten" zu warnen sei. 5 Die partielle Unterminierung des patriarchalisch strukturierten Beziehungssystems der Geschlechter, die schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte und durch die Kriegsfolgen an der Heimatfront stark vorangetrieben worden war, führte, wie Elisabeth Domansky konstatiert, zu einer starken „neuen Frauenfeindlichkeit" in der deutschen Öffentlichkeit. 6 Es scheint kein Zufall zu

4 G. D. Feldman, Welcome to Germany? The Fremdenplage in the Weimar Inflation, in: W. Treue (Hg.), Geschichte als Aufgabe. Festschrift für Otto Busch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 629-649. 5 Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann 122a/XI, Nr. 103 1, Bl. 9-12: Der Regierungspräsident an den Minister des Innern in Berlin, Hannover, 22. Sept. 1919. 6 E. Domansky, Der Erste Weltkrieg, in: L. Niethammer u.a. (Hg.), Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1990, S. 312-318. 1918-1919 in der deutschen Geschichte

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sein, daß das öffentliche Leben der deutschen Zwischenkriegszeit sowohl durch die Erlangung des Wahlrechts der Frauen als auch durch eine gewaltbetonte, explizit .männliche' Vorstellung von Politik - die in der NSDAP ihren größten Triumph feierte - geprägt war. Es wäre freilich trotz der großen Resonanz der vor mehr als zwanzig Jahren veröffentlichten Arbeit von Klaus Theweleit verfehlt, 7 den Ort von 1918/ 19 in der deutschen Geschichte auf „Männerphantasien" zu reduzieren. Die Frage der Neubestimmung von Mann und Frau und ihres Verhältnisses zueinander, die während und nach dem Krieg eine besondere Brisanz entwickelt hatte, spielt in diesem Zusammenhang dennoch keine unwichtige Rolle, wie die unüberhörbaren öffentlichen Klagen über die angeblich sinkende Moral und die „Verwahrlosung" des deutschen Volkes - insbesondere der Frauen und Jugendlichen - während und nach dem Ersten Weltkrieg nahelegen.8 Der Krieg habe bis weit in die Nachkriegszeit hinein, so die verbreitete Meinung, die guten alten Werte des anständigen Deutschen in den Schmutz gezogen. Typisch eine Stellungnahme des Regierungspräsidenten von Lüneburg, der im September 1919 den allgemeinen moralischen Verfall in der Folge des Krieges beklagte: Die „vielen Nöte des täglichen Lebens, der Mangel an Lebensmitteln und anderen nötigen Bedarfsgegenständen in Verbindung mit der immer fühlbarer werdenden Teuerung und den dadurch großgezogenen Schleichhandel" habe „eine Verwirrung der Rechtsbegriffe in der Bevölkerung" verursacht und „die früher vorhandene straffe Ordnung stark beeinträchtigt". Folge sei eine „zunehmende Vergnügungssucht": „Die schlechten Elemente sind obenauf gekommen und haben den übelsten Einfluß ausgeübt. Die Jagd nach mühelosem Gewinn hat fast alle Bevölkerungskreise erfaßt und der frühere Sinn für fleißiges und strebsames Arbeiten, für eine geregelte Tätigkeit mit bescheidenem, aber immerhin ausreichenden Gewinn, ist verloren gegangen. In Folge der Ungewißheit der Zukunft und der Befürchtung der schweren Lasten, welche der verlorengegebene Krieg und der harte Friedensvertrag auferlegt, lebt alles dem Augenblick und greift skrupellos nach Vorteilen, welche sich bieten." 9 Immer wieder wird in der frühen Weimarer Zeit die Vorstellung greifbar, daß Deutschland durch den Krieg einen moralischen Niedergang erlitten habe. Der Ubergang vom Krieg zum Frieden, vorgestellt als Schritt aus der Unordnung zur Ordnung, sei nicht geleistet worden. Statt dessen entwickele 7 K. Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a.M., 1977-1978. 8 Vgl. hierzu allgemein R. Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 220253. 9 Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 122a/XI, Nr. 103 1, Bl. 19-21: Der Regierungspräsident an den Minister des Innern, Lüneburg, 20. Sept. 1919.

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sich das öffentliche Leben, so der Bericht einer bayerischen Dienststelle über die Stimmungslage in der Bevölkerung vom Anfang 1920, „fast wie eine Orgie des Leichtsinns [...] unter der Parole: Nach uns die Sintflut". 1 0 Dieses für den entsprechenden Zeitraum sehr typische Urteil bietet einen wichtigen Anhaltspunkt für die Ortsbestimmung von 1918/19 innerhalb der deutschen Geschichte. In einem Sinne hatte man Recht: Nach dieser Zäsur kam in der Tat die Sintflut! Ein andere wichtige, aber in der Geschichtsschreibung oft unterschätzte Veränderung des Jahres 1918/19 ergab sich aus den Folgen des Verlusts von Elsaß-Lothringen, Nordschleswig, Posen, Westpreußen und Ost-Oberschlesien. Die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der neuen Grenzziehungen sind allgemein bekannt - der Verlust der preußischen Ostprovinzen traf in der gesamten Zwischenkriegszeit auf keinerlei Akzeptanz. In fast allen Teilen des politischen Spektrums sprach man während der Weimarer Republik von der „blutenden Grenze" im Osten. 1 1 In einem politischen System, das von bitteren Auseinandersetzungen und einem riesigen Konsensdefizit gekennzeichnet war, bildeten der Versailler Vertrag und die „blutende Grenze" im Osten als Haßobjekte den vielleicht einzigen gemeinsamen politischen Nenner, auf den sich fast alle Deutsche einigen konnten. Die schmerzhafte Perzeption dieses Bruchs erwies sich allerdings als von nur temporärer Bedeutung: Angesichts der weit größeren Verluste nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden die verlorenen Ostgebieten der Versailler Vertragsbestimmungen weitgehend aus dem Bewußtsein der Deutschen - und am Ende des 20. Jahrhunderts gab es wohl kaum mehr Stimmen, die darauf beharrten, daß Posen oder Thorn oder Kattowitz wieder zu Deutschland gehören sollten. Die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg bildeten jedoch in einem anderen Sinne eine wichtige Zäsur: Sie markierten das vorläufiges Ende Deutschlands als multinationaler Staat. Mit der in Versailles vereinbarten Grenzziehung und den Aufständen in Oberschlesien verlor Deutschland die meisten seiner Bürger polnischer (und auch dänischer) Nationalität. Fast ein halbes Jahrhundert nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde Deutschland dann ganz überwiegend ein Land der Deutschen (abgesehen von dem kurzen .Einsatz' des Millionenheeres der Fremdarbeiter während des Zweiten Weltkrieges). Erst in den letzten Jahren, als Folge der massiven Einwanderung ausländischer Arbeitnehmer seit den sechziger und siebziger Jahren, ist die Frage der sozialen und juristischen Stellung der vielen Einwohner nichtdeutscher 10 Archiwum Panstwowe w Poznanie, Rejencja w Pile, N r . 92, Bl. 1: „N-Bericht vom 8. Januar 1920". 11 Vgl. R. Bessel, Eastern Germany as a Structural Problem in the Weimar Republic, in: Social History, Bd. 3 / 2 (1978), S. 1 9 9 - 2 1 8 .

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Nationalität auf die politische Tagesordnung gekommen, so daß Deutschland erneut zur multikulturellen und multinationalen Gesellschaft wird. Zweifelsohne gab es 1918/19 eine Reihe tiefgreifender Änderungen in Deutschland, die dauerhafte Folgen zeitigen sollten. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht war 1918/19 ein tiefer Bruch - die erste Station einer ganzen Kette von schicksalhaften und oft katastrophalen Umbrüchen in diesem „deutschen Jahrhundert". Allerdings bleibt nachzufragen, wie und inwieweit 1918/19 auch im Alltagsleben der einzelnen Menschen in Deutschland eine Zäsur markierte. Auch wenn die Veränderung in den allermeisten Fällen nicht das Ausmaß des politischen Wandels erreicht hat, bedeuteten die Ereignisse des Jahres 1918/19 dennoch für Millionen von Deutschen einen tiefen Bruch in ihren Biographien. Als Beispiel möchte ich meinen eigenen Großvater erwähnen, der im Ersten Weltkrieg im württembergischen Heer - zuletzt als Leutnant - an der Westfront gedient hatte. Im Herbst 1918 starb seine erste Frau an Influenza; kurz danach kam er mit seiner Mannschaft zurück über den Rhein und wurde in Schweinfurt demobilisiert. 1919 kehrte er in sein württembergisches Heimatdorf zurück, gründete mit einem seiner Brüder ein kleines Textilgeschäft, heiratete meine Großmutter, und baute zusammen mit seinem Bruder das Haus, in dem meine Mutter aufwuchs. Keine welterschütternden Erlebnisse, aber grundlegende Wendepunkte seines Lebens: der Tod seiner ersten Frau, Kriegsende, Demobilmachung, erneute Familiengründung, Eröffnung seines Geschäfts. Obwohl er für den Rest seines Lebens auf seine Beförderung zum Offizier stolz war und die Franzosen immer als Feinde betrachtete, war er für eine Teilnahme an irgendeinem paramilitärischen Verband nicht zu haben. Er wollte zurück ins zivile Leben und hat es geschafft. Seine Geschichte war nicht untypisch für die Millionen Männer, die Ende 1918 und Anfang 1919 von der Front zurück nach Deutschland kamen und den Sprung ins zivile Leben taten. Allerdings fand diese Rückkehr in die ,Normalität' zu einer Zeit statt, die alles andere als .normal' war. Ein wichtiges Merkmal der Ereignisse von 1918/ 19 war gerade die Gleichzeitigkeit tiefgehender politischer Umwälzungen und ausgeprägter Sehnsucht nach Kontinuität und .Normalität'. Dieses Nebeneinander von Ausnahmezustand und Kontinuität erschwerte den Übergang vom Krieg zum Frieden und vom Kaiserreich zur Republik und bestimmt in einem erheblichen Maße den Ort von 1918/19 in der deutschen Geschichte. Die weitverbreitete und durchaus verständliche Sehnsucht nach .Normalität', die sich im persönlichen Bereich zum Teil auch erfüllte, mußte im öffentlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben unbefriedigt bleiben. Die Tragödie von 1918/19 liegt gerade in dieser Dissonanz: Der in der deutschen Bevölkerung stark ausgeprägte Wunsch nach einer geordneten Welt fast mythischen Charakters, die angeblich vor 1914 existiert hatte, war unter 180

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den Bedingungen der Nachkriegszeit unerfüllbar. Deutschland hatte den Krieg verloren, sich mit der Niederlage und ihren unvermeidlichen Folgen jedoch nicht abfinden oder diese gar anerkennen können: eine große politische Erblast für die erste, mißglückte deutsche Demokratie. 1 2 Eine „innere Verweigerung des Friedens" wurde ein zentrales Merkmal sowohl der Politik als auch der Gesellschaft in Deutschland während der Zwischenkriegszeit. 13 Zum Schluß einige thesenhaft formulierte Überlegungen zur Bedeutung von 1918/19 in der neueren deutschen Geschichte: 1. Der besondere und besonders destruktive Kurs der deutschen Geschichte nach 1918 ist vor allem auf die Teilnahme am Ersten Weltkrieg und die darauf folgende Niederlage zurückzuführen. Freilich sind die längerfristigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Strukturen, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelten, ebenfalls von Bedeutung. Auch in diesem Fall gilt das (in einem anderen Zusammenhang) von Christoph Kleßmann zitierte Diktum: „Das Haus wurde gebaut aus den Steinen, die vorhanden waren." 1 4 Doch erst die Tatsache, daß diese Steine durch den Ersten Weltkrieg derart durcheinandergewirbelt worden waren, bildet den Schlüssel für den besonderen Weg, den die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts genommen hat. Deutschland hatte die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs nicht überwinden, hatte die U m wandlung in eine Friedensgesellschaft nicht erbringen können. Die deutsche Gesellschaft blieb eine Nachkriegsgesellschaft, in der die Bezugspunkte immer noch durch den Krieg geliefert wurden. Die Zwischenkriegszeit war genau das: eine Zeit, die durch zwei Weltkriege definiert wurde. .Friedenszeit'-das blieb die Zeit vor 1914. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg - und nach dem totalen Zusammenbruch des .Dritten Reiches', nach dem völligen Verlust der Souveränität und der Liquidierung des deutschen Militärs, nach der alliierten Besatzung und der Teilung des Landes über mehr als vier Jahrzehnte - konnte Deutschland sich endlich eine .Friedensgesellschaft' nennen. 2. Die erste Nachkriegszeit hatte in Deutschland eher im Zeichen der Diskontinuität als der Kontinuität gestanden. Dieser Befund gilt trotz der

12 Vgl. Bessel, Krise. 13 Hierzu vgl. allgemein Bessel, Germany. Die Phrase „innere Verweigerung des Friedens" stammt von H . Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Frankfurt a. M./Berlin 1990. 14 C . Kleßmann, „Das Haus wurde gebaut aus den Steinen, die vorhanden waren" - Zur kulturgeschichtlichen Kontinuitätsdiskussion nach 1945, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 19 (1990), S. 1 5 9 - 1 7 7 .

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starken Kontinuitäten bei den Eliten, den Strukturen des Staates und der Wirtschaft, den Mentalitäten, der Kultur, der parteipolitischen Landschaft und der Verteilung der Wählerstimmen vor und nach 1918. Auch wenn man den katastrophalen politischen und sozialgeschichtlichen Gang der Weimarer Republik ohne eine intensive Diskussion dieser Kontinuitäten nicht erklären kann, muß man auch erkennen, daß es durch den Krieg und die großen Unruhen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer entscheidenden Veränderung der deutschen Öffentlichkeit kam - zu einer Verrohung der Gesellschaft und einer Brutalisierung der Politik. 15 Die Brutalisierung der politischen Sprache und Praxis und die Zunahme der öffentlichen Gewalt ging nicht direkt auf die Millionen ehemaliger Kriegsteilnehmer zurück: die meisten der ehemaligen Frontsoldaten wollten nichts anderes, als den Faden eines friedlichen und geordneten Lebens wieder aufnehmen. Doch die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Nachwirkungen und Lasten des Krieges hatten eine neue Bitterkeit in das öffentliche Leben gebracht, die für den Aufstieg des Nationalsozialismus nicht ohne Bedeutung war. 3. Die Destruktivität der Veränderungen von 1918/19-die markante Zunahme von Gewalt und die Verrohung der Sitten in Politik und öffentlichem Leben, die Frauenfeindlichkeit, das Fehlen einer tiefen, dauerhaften Unterstützung der demokratischen Ordnung, die allgemeine Unfähigkeit, die Folgen des verlorenen Krieges anzunehmen, die ,große Unordnung' der Inflation und die damit einhergehende Zerstörung der deutschen Währung (und damit des regulären Verhältnisses zwischen Arbeit und Ware), die gesellschaftlich und moralisch .verkehrte Welt' der Nachkriegszeit - blieben während des gesamten Zeitraums bis hin zum übernächsten Umbruch der deutschen Geschichte, 1945, bestimmend. Erst durch die totale Niederlage, den Zusammenbruch nicht nur des deutschen Staates, sondern auch der deutschen Gesellschaft, durch ihren moralischen Bankrott, wurde das giftige Erbe des Umbruchs von 1918/19 überwunden. Anders als nach 1918/19, als der Triumph der Volkssouveränität und der Demokratie schließlich in die Tragödie der Gewaltherrschaft und in den Zivilisationsbruch mündete, konnte nach 1945 eine demokratische, zivile und zivilisierte Gesellschaft aufgebaut werden - trotz aller ihrer Probleme und Widersprüche.

15 Hierzu vgl. G. L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World War, N e w York/Oxford, 1990, S. 159-181; B. Weisbrod, The Crisis of Bourgeois Society in Interwar Germany, in: R. Bessel (Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, Cambridge 1996, S. 23-39.

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Vorbemerkung „Ich prophezeie Ihnen feierlich, daß dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere Nation in unfaßbares Elend bringen wird. Kommende Geschlechter werden Sie wegen dieser Handlung in Ihrem Grabe verfluchen", kommentierte Erich von Ludendorff Ende Januar 1933 gegenüber Reichspräsident Hindenburg die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Nur wenige Beobachter sahen zu diesem Zeitpunkt voraus, welche Katastrophe nicht nur für Deutschland, sondern für alle Völker Europas von jenem Januar ihren Ausgang nehmen sollte. Nach langen, kontrovers geführten Debatten sind sich die Historiker heute weitgehend darin einig, daß dieses Datum weder einen .Betriebsunfall' der deutschen Geschichte darstellt noch die unvermeidliche Folge langfristiger, spezifisch deutscher Entwicklungen. Larry E. Jones und Dick Ceary beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickrichtungen mit der Frage, warum die erste deutsche Demokratie so kampflos aufgegeben und die Freiheit so leichtfertig „verspielt" (H. Mommsen) wurde. Jones, der die Befindlichkeit der deutschen Rechten unmittelbar vor und nach .Machtergreifung' analysiert, weist die These einer ungebrochenen Kontinuität von einer konservativen Opposition gegen 1918/19 zu einer konservativen Unterstützung des Nationalsozialismus als historisch falsch zurück. Eine solche Kontinuitätslinie setze einen Kohäsionsgrad innerhalb der konservativen Eliten voraus, den es tatsächlich niemals gegeben habe. Die Weimarer Spaltung der Rechten in einen radikalen und einen moderaten Flügel habe sich vielmehr seit der Regierung Brüning strukturell und politisch fortschreitend verschärft. Erst diese Neutralisierung der konservativen Elite habe eine kohärente Antwort auf die Krise des Weimarer Systems verhindert und damit die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trotz der weitverbreiteten Skepsis auf der politischen Rechten möglich gemacht. Erst in der Folge des Röhm-Putsches, so Jones, habe sich die deutsche Konservative schließlich den Realitäten des .Dritten Reiches' auf breiter Linie anzupassen begonnen. Dick Geary beleuchtet in seiner Analyse der Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf die Erfolgschancen der Weimarer Demokratie die andere Seite der politischen und gesellschaftlichen Realität dieser Krisenjahre. Ausgehend von neueren Erkenntnissen, die eine positive Korrelation von Erwerbslosigkeit und Stimmabgabe für die NSDAP verneinen, stellt er die traditionelle Sicht auf das Verhältnis von Arbeitslosigkeit und Zusammenbruch der Republik aus der Perspektive des politischen Radikalismus in Frage. Die fatale Wirkung der hohen Arbeitslosenzahlen macht Geary dagegen

Vorbemerkung

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in einer zunehmenden Entfremdung der Arbeiter von der Weimarer Republik im Zuge des Abbaus des Wohlfahrtsstaates (und des damit einhergehenden Legitimitätsverlust der SPD) und einer Vertiefung der Spaltung zwischen SPD und KPD aus. Vor allem aber habe die Massenarbeitslosigkeit zu einer Vervielfachung der Alltagskonflikte und damit zu einer Atomisierung der Arbeiterschaft geführt. Die Gegensätze zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen, älteren und jüngeren Arbeitnehmern, Männern und Frauen (den sogenannten .Doppelverdienern') leisteten einer fortschreitenden Entsolidarisierung Vorschub. Daneben, so Geary, breiteten sich nicht nur unter den Arbeitslosen, sondern auch unter den stets um ihren Arbeitsplatz fürchtenden Beschäftigten Passivität und Resignation aus. Mit den Arbeitern aber verlor die Demokratie ihre wichtigste Stütze; während der Widerstand gegen die Steuer- und Sozialkosten der Arbeitslosigkeit der NSDAP die Stimmen des radikalisierten Mittelstands zutrieb. Letztlich erwiesen sich also, so Gearys Fazit, „die indirekten Folgen der Arbeitslosigkeit für den Aufstieg des Nationalsozialismus möglicherweise wichtiger als die Aktivitäten der Arbeitslosen selbst." Von der Vorgeschichte der .Machtergreifung' führt uns der Beitrag von Jeremy Noakes zu deren praktischer Durchsetzung in den Jahren 1933/34. Im Mittelpunkt seiner Analyse steht die nationalsozialistische Usurpation der Machtpositionen auf lokaler Ebene durch eine charakteristische und höchst wirksame Kombination von Terror und Propaganda. Auf der Basis der inzwischen zahlreich vorliegenden Lokal- und Regionalstudien sowie eigener Forschungsarbeiten kommt Noakes zu dem Schluß, daß den Parteiorganisationen vor Ort ein vergleichsweise hoher Grad an autonomem Handlungsspielraum blieb. Die Form der Machtübernahme variierte dabei je nach der sozialen Zusammensetzung und der politischen Kultur der Gemeinde, der Verankerung der NSDAP innerhalb der Gemeindeelite, dem Organisationsstand der Partei selbst sowie der Persönlichkeit des lokalen Parteiführers. Dabei habe die NSDAP in Gemeinden mit einer starken linken Kultur meist rigoros durchgegriffen, während sie sich im ländlichen Raum sehr viel stärker zurückgehalten und eher auf die Integration möglichst vieler örtlicher Honoratioren gesetzt habe. Die gerade in kleineren Gemeinden beobachtete personelle Kontinuität der lokalen Führungseliten über 1933 hinaus veranlaßt Noakes zur Schlußbemerkung, wenn überhaupt, könne auf dieser Ebene lediglich von einer „schleichenden Revolution" die Rede sein; ein Thema, auf das zurückzukommen sein wird. Henryk Olszewski vermittelt in seinem Beitrag eine Außensicht auf die Vorgänge in Deutschland. Seine Perspektive ist die des unmittelbaren östlichen Nachbarn, des Landes also, das binnen weniger Jahre das erste Opfer der nationalsozialistischen Variante der .Außenpolitik' werden sollte. Lange 186

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Zeit war der Nationalsozialismus der polnischen Aufmerksamkeit entgangen; viel zu problematisch hatte sich das Verhältnis zu den verschiedenen Regierungen der ersten deutschen Republik dargestellt. Nach der Machtübernahme Hitlers zeigten sich Sozialisten (und in Ansätzen auch die Christdemokraten) jedoch besorgt und verstanden den Wechsel als „reale Gefahr für die Interessen Polens". Auf konservativer Seite und im Regierungslager verstellten jedoch alte Stereotypen in der Wahrnehmung des deutschen Nachbarn den Blick für die Realität. Im Sinne einer .Entmachtung Preußens' wurde der Aufstieg der NSDAP hier sogar mit Erleichterung aufgenommen. Die extreme nationaldemokratische Rechte sympathisierte sogar offen mit Hitlers politischen Zielen. Sein Vorgehen - ausdrücklich genannt wurden etwa die unmittelbar nach seinem Regierungsantritt getroffenen Maßnahmen zur „Lösung der Judenfrage" - könne polnischen Politikern, so der Parteiführer Dmowski, eine „großartige Lektion" sein. Zurück in die innerdeutsche Realität führt die Untersuchung von Geoffrey J. Giles, der ein bisher in der Forschung unberücksichtigtes Medium auf die Darstellung politischer Umbrüche hin befragt hat: die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vor allem Zigarettenpackungen beigelegten farbigen Sammelbilder. Im Mittelpunkt steht die Politisierung dieser Bilder durch den Nationalsozialismus, der sich eine Instrumentalisierung der in Millionenauflagen verbreiteten Karten zur Indoktrination der meist jugendlichen Sammler nicht entgehen ließ. Die Beiträge von Helmut Lehmann, Eduardo Tortarolo und Janko Prunk berühren dagegen eine der derzeit am heftigsten geführten historischen Debatten, deren Relevanz für die Zunft mit der „Fischer-Kontroverse" zu Beginn der sechziger oder dem „Historikerstreit" Mitte der achtziger Jahre verglichen worden ist: die Frage nach der Bedeutung der Zäsur von 1933 innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft. Die drei hier vorgestellten Texte dürfen allerdings - wie auch Helmut Lehmann im Rahmen seines Beitrags ausdrücklich betont - keinesfalls als repräsentativ für das Gesamtproblem gelesen werden, behandeln sie doch ausschließlich solche Historiker, die aus politischen bzw. .rassischen' Gründen in die Emigration gedrängt wurden oder aber Distanz und politische Standfestigkeit gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern bewahrt haben. Lehmann rekonstruiert im Spiegel der persönlichen Korrespondenz Friedrich Meineckes, Gerhard Ritters und Felix Gilberts den unmittelbaren Eingriff, den die .Machtergreifung' auch für das wissenschaftliche Leben in Deutschland bedeutet hat, indem sie gerade die „vielversprechendsten Talente" in die Emigration gezwungen, wissenschaftliche Karrieren „von der Erfüllung politischer Vorgaben" abhängig gemacht und „geschichtswissenschaftliche Denkmuster und Vorstellungen" mitgeprägt habe. Für die Zukunft regt Lehmann eine ErforVorbemerkung

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schung der „Milieus" historischer Karrieren, der Leitvorstellungen des historischen Denkens, einen Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Eliten im Nationalsozialismus sowie die Berücksichtigung der politischen Emigration an. Auch Edoardo Tortarolo hält den Einschnitt, den Exil und Emigration im Leben der betroffenen Historiker und der Geschichtswissenschaft insgesamt hinterlassen haben, bisher für ungenügend zur Kenntnis genommen. In seinem Beitrag widmet er sich anhand von Fallstudien der Frage, welchen Niederschlag die Erfahrung des erzwungenen Exils im Werk einiger nach 1933 aus Deutschland ausgewanderter Historiker gefunden hat. Als eine der wichtigsten Folgen der Emigration bezeichnet Tortarolo die Internationalisierung des historischen Diskurses nach 1945. Janko Prunk schließlich stellt mit dem österreichisch-deutschen Historiker und Soziologen Franz Borkenau die Arbeit eines Geschichtsforschers im Exil vor. Aufgrund seiner linksgerichteten politischen Einstellung und im Sinne der Nationalsozialisten ,Halbjude', verfaßte Borkenau - ein früher Pionier der Totalitarismusforschung - seine kritischen Analysen des italienischen Faschismus, des spanischen Bürgerkriegs und der Komintern sowie seine vergleichend angelegte Untersuchung zu Nationalsozialismus und Bolschewismus zwischen 1932 und 1940 als Getriebener zwischen den Welten. Auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges blieb dem kompromißlosen Demokraten Borkenau eine erfolgreiche wissenschaftliche Laufbahn verwehrt. In den abschließenden Beiträgen greifen David Schoenbaum und Hans Mommsen - als Protagonisten ebendieser Debatte - eine der großen Kontroversen innerhalb der NS-Forschung auf, die mit dem Datum 1933 verknüpft ist: Stand die nationalsozialistische .Machtergreifung' eher im Zeichen der gesellschaftlichen Reaktion oder der Revolution? Schoenbaum gehört zu den prominentesten Verfechtern der zweiten Interpretation: „Die Jahre zwischen der Ernennung Hitlers zum Kanzler und dem Tod des .Führers' waren durch ein Ausmaß an Veränderung gekennzeichnet, das jeder der großen und anerkannten Revolutionen der Moderne gleichkommt." Gleichzeitig sei der .Führer' auch durchaus im Recht gewesen, wenn er die nationalsozialistische als „einzig wahre Revolution" der deutschen Geschichte überhaupt bezeichnet habe. Schoenbaum, der an dieser Stelle den Titel seiner grundlegenden Studie „Die braune Revolution" in den Plural übertragen hat, spricht von drei miteinander verbundenen, aber deutlich unterscheidbaren „Revolutionen": an erster Stelle stehe die Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb Deutschlands, charakterisiert durch die Stichworte Suspendierung der bürgerlichen Freiheiten, Auflösung der Parteien, Abschaffung des Föderalismus, Beschlagnahmung der Vermögenswerte der Arbeiterschaft, umfassende Nazifizierung aller Vereine, Institutionen und Medien, öffentliche 188

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Mobilisierung und Delegitimierung der alten Eliten, Schrumpfung der Privatsphäre. Die „zweite Revolution" verortet Schoenbaum außerhalb der deutschen Grenzen, im ungemein aggressiven Expansionsdrang des .Dritten Reichs' mit dem letzten Ziel der Weltherrschaft, während als „dritte Revolution" die radikale Umdeutung des Verhältnisses von Krieg und Politik im nationalsozialistischen Völkermord gedeutet wird. Zum ersten Mal, so Schoenbaum, habe ein souveräner Staat bis hin zur Selbstzerstörung die physische Vernichtung sogenannter .Feinde', vor allem der Juden, betrieben, deren einziges Verbrechen in ihrer bloßen Existenz bestand. Diese „sukzessiven und rivalisierenden Revolutionen" mündeten in den zerstörerischsten Krieg der Geschichte, der wiederum, so Schoenbaum, den Weg freigemacht habe für eine „vierte Revolution": die Pazifizierung Europas als Staatenbund und die Normalisierung Deutschlands. Demgegenüber hält Hans Mommsen, vor allem unter Berufung auf die „ganz überwiegend destruktive Funktion Hitlers" in der deutschen und europäischen Politik, die Anwendung des Revolutionsbegriffs auf das .Dritte Reich' für verfehlt - jedenfalls im Sinne des allgemein anerkannten Unterscheidungskriteriums der „Erringung einer qualitativ neuen politischen Entwicklungsstufe". Eigentlich nirgends, so Mommsen, habe der Nationalsozialismus „neue, geschweige denn innovative Gestaltungsprinzipien an die Stelle der überkommenen" setzen können; der Revolutionsbegriff - von Hitler selbst zu primär propagandistischen Zwecken benutzt - lenke im Gegenteil von der „genuin parasitären Qualität" faschistischer Politik ab. In Ermangelung einer eigenständigen inhaltlichen Substanz erschöpfe sich das ideologische Fundament des .Dritten Reichs' in einem aggressiven Antisozialismus und Antikommunismus. Unter Verweis auf das „Trauma von 1918" als handlungsbestimmendem Moment vieler früher Nationalsozialisten und auch Hitlers selbst schließt sich Mommsen an den durch Juan J. Linz geprägten Begriff der „postrevolutionären Protestbewegung" zur Charakterisierung des Nationalsozialismus an. Im Unterschied zu Schoenbaum erblickt Mommsen auch in der NS-Außen- bzw. Kriegs-Politik keinerlei revolutionäres Potential. Die fortschreitende Radikalisierung des Systems im Zeichen des .totalen Kriegs' setzte nur destruktive Energien frei - die Idee einer .rassischen Homogenität' im Rahmen eines stetig wachsenden nationalsozialistischen Herrschaftsraums blieb eine „verhängnisvolle Chimäre". Petra Terhoeven

Vorbemerkung

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Von Weimar zu Hitler Deutschlands konservative Eliten und die Etablierung des .Dritten Reiches' 1932-1934* LARRY E U G E N E J O N E S

Die Prämisse, von der die vorliegende Analyse ausgeht, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Uneinigkeit der deutschen Rechten war für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und die anschließende Etablierung der NS-Diktatur eine gleichermaßen entscheidende Voraussetzung wie die Auflösung der liberalen Parteien oder die Spaltung auf der sozialistischen Linken. Hitlers Aufstieg wurde nicht nur durch die Unterstützung ermöglicht, die er von bestimmten Elementen der konservativen Elite erhielt, sondern mehr noch durch den Umstand, daß diese Elite politisch und strukturell so fragmentiert war, daß sie keinerlei kohärente Antwort auf den Zusammenbruch der Weimarer Demokratie und den Erfolg des Nationalsozialismus zu geben imstande war. Die kritische Rolle, die einzelne Konservative wie Franz von Papen und Alfred Hugenberg bei der Bildung von Hitlers sogenanntem .Kabinett der nationalen Konzentration' am 30. Januar 1933 spielten, darf die Tatsache nicht verschleiern, daß ihre Mitwirkung im Kabinett vor dem Hintergrund extremer Unsicherheit und manchmal sogar regelrechter Opposition innerhalb der von ihnen vorgeblich repräsentierten Schicht stattfand. Der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ging somit die Neutralisation der konservativen Elite voraus, die, wäre sie in sich geschlossener gewesen, seinen Griff nach der Macht durchaus hätte blockieren können 1 . Diesem Sachverhalt ist bisher, wie ich meine, von der umfangreichen Forschung zum Zusammenbruch der Weimarer Republik und den Anfängen des .Dritten Reiches' zu wenig Rechnung getragen worden. Entsprechend erschöpfen sich die gängigen Interpretationen in zwei Deutungsrichtungen, von denen keine gänzlich befriedigen kann. Die eine Variante behandelt von Papen, Hugenberg und die übrigen Vertreter der sogenannten,Hitler-Lösung' im Januar 1933 als Agenten einer konservativen Elite, die darauf aus gewesen

Aus dem Amerikanischen von Petra Terhoeven. 1 Für eine ausführliche Darstellung dieses Sachverhalts s. L. E. Jones, Nazis, Conservatives and the Establishment of the Third Reich 1932-34, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 23 (1994), S. 41-64.

Von Weimar zu Hitler

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sei, ihre soziale und politische Hegemonie der Jahrzehnte vor 1914 wiederherzustellen. Sie konstruiert mithin eine direkte Kontinuität von der Feindseligkeit, mit der die Konservativen der demokratischen Veränderung des Kaiserreiches gegenübergestanden hatten, zu ihrer Mitwirkung an der Zerstörung der Weimarer Demokratie und der Entstehung der Hitler-Diktatur 2 . Die zweite Variante, neuerdings vertreten etwa von Henry Turner, vernachlässigt die Rolle organisierter Interessengruppen bei Hitlers Machtergreifung, um die alleinige Verantwortung einer kleinen Clique von Politikern zuzuschieben, die ihren Einfluß dazu mißbraucht habe, die Kontrolle über den Staat in die Hände Hitlers und der N S D A P zu legen 3 . Die erstgenannte Deutung räumt mit ihrer Konstruktion direkter Kausalitätsbezüge der Kontinuitätsidee in der deutschen Geschichte einen zu großen Raum ein. Sie geht von einem Grad der Kohäsion innerhalb der konservativen Eliten Deutschlands aus, den es in diesem Maße ganz einfach nie gegeben hat 4 . Die zweite wiederum reduziert die Motive derjenigen, die letztlich für Hitlers Ernennung zum Kanzler verantwortlich waren, auf die banalsten unter den menschlichen Gefühlsregungen, auf, um es mit Turners eigenen Worten zu sagen, „persönliche Affinitäten und Abneigungen, Verletztheiten, enttäuschte Freundschaften und Rachegefühle". Damit werden ideologische und interessengeleitete Beweggründe der beteiligten Personen in unzulässiger Weise ausgeblendet. Was ich im folgenden versuchen möchte, ist eine nuancenreichere Analyse der deutschen Rechten am Vorabend der Machtergreifung, die das individuelle politische Handeln und dessen unerhörte Bedeutung in den Monaten vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler in den Kontext übergeordneter struktureller und kultureller Kräfte einzuordnen vermag, die den Zweck, die Bedeutung und die Richtung individueller politischer Aktionen letztlich bestimmen. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Beziehung zwischen den konservativen Eliten und der NS-Bewegung in der kritischen Zeitspanne zwischen der Entlassung des Kabinetts Brüning im späten Frühjahr 1932 und dem Röhm-Putsch im Sommer 1934 liegen. Vorausschicken möchte ich zunächst jedoch einige allgemeine Bemerkungen über die deutsche Rechte

2 So argumentieren etwa F. Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1 8 7 1 - 1 9 4 5 , Düsseldorf 1979, besonders S. 7 4 - 9 6 und H . U . Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , Göttingen 1973, besonders S. 133-46. 3 H.A.Turner (Jr.), Hitler's Thirty Days to Power: January 1933, Reading ( M A ) 1996, S. 1 6 3 - 8 3 . 4 Vgl. dazu L. E. Jones, W h y Hitler C a m e to Power: In Defence of a N e w History of Politics, in: K. H . Jarausch/J. Rüsen/H. Schleier (Hg.), Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. (Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag), Hagen 1991, S. 2 5 6 - 7 6 .

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vor 1932/33. Man tut gut daran, sich ins Gedächtnis zu rufen, daß die Rechte im politischen Leben Deutschlands keineswegs einen homogenen, monolithischen Block bildete. Die Forschungen zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik haben vielmehr die Existenz zweier verschiedener, grundsätzlich unversöhnlicher Traditionen auf der Rechten aufgezeigt. Zum einen gab es eine Form des gouvernmentalen Konservatismus, der seine Ziele innerhalb des gegebenen politischen Systems zu verwirklichen suchte, zum anderen einen radikalen alldeutschen Nationalismus, der der wachsenden Parlamentarisierung des deutschen politischen Lebens grundsätzlich feindlich gegenüberstand und lautstark nach einem autoritäreren Regierungssystem verlangte, um die deutschen Großmachtansprüche mit größerem Nachdruck vertreten zu können 5 . In den ersten Jahren der Weimarer Republik wurde der Gegensatz zwischen den beiden Fraktionen jedoch durch die Tatsache entschärft, daß beide bedingungslose Gegner der neuen republikanischen Ordnung in Deutschland waren und unter dem Zeichen der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) miteinander kooperierten 6 . In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre jedoch bemühte sich der prominenteste Politiker des bürgerlichen Lagers, Außenminister Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei (DVP), mit großer Bestimmtheit um eine Stabilisierung der Republik, wobei er auf die Unterstützung der gemäßigten Elemente auf der deutschen Rechten setzte. Die Spaltung der DNVP-Reichstagsfraktion in der Abstimmung zum Dawes-Plan vom August 1924, der darauf folgende Eintritt der Partei in das zweite Kabinett Marx im Januar 1925 und die Wahl des pensionierten Kriegshelden Hindenburg zum Reichspräsidenten im April des gleichen Jahres waren weitere Stationen einer allmählichen Aussöhnung der Konservativen mit der Republik, die im übrigen einen großen Teil ihres Impetus von einflußreichen ökonomischen Interessengruppen wie dem Reichsverband der deutschen Industrie (RDI) und dem Reichs-Landbund (RLB) erhielt7. Ein Nebeneffekt dieser Anpassung war jedoch eine Akzen-

5 Zur Spaltung der deutschen Rechten vor dem Ersten Weltkrieg s. G.Eley, Reshaping the German Right: Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, N e w Haven/ Connecticut/London 1980 sowie J. N . Retallack, Notables of the Right: The Conservative Party and Political Mobilization in Germany 1876-1918, Boston (MA) 1988. 6 Zur deutschen Rechten in den frühen Weimarer Jahren s. J. Streisow, Die deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen 1918-1922, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981 und R. Scheck, Alfred von Tirpitz and German Right-Wing Politics, 1914-1930, Atlantic Highlands ( N . J . ) 1998, S. 82-131. 7 Vgl. dazu M. Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924-1928, Düsseldorf 1967 sowie R. P. Grathwol, Stresemann and the D N V P : Reconciliation or Revenge in German Foreign Policy, 1924-1928, Lawrence (KS) 1980. Von Weimar zu Hitler

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tuierung der Antipathie zwischen den beiden Strömungen auf der politischen Rechten bis hin zum offenen Bruch, der bis zum Ende der Weimarer Republik und in die ersten Jahre des .Dritten Reiches' hinein fortbestand. Als Reaktion auf diese Entwicklung begannen Hugenberg und seine Mitstreiter auf der radikalen Rechten ihre Anhänger für einen nationalen Kreuzzug zu organisieren, der das politische Leben in Deutschland von der „Herrschaft der organisierten Interessen" befreien und die deutsche Rechte wieder geschlossen in die bedingungslose Opposition zur republikanischen Ordnung führen sollte. Hugenbergs Wahl zum Vorsitzenden der DNVP im Oktober 1928 und seine anschließenden .Säuberungsaktionen' vom Dezember 1929 und Juli 1930, die gegen die gemäßigten Strömungen der Partei gerichtet waren, waren nur die offensichtlichsten Aspekte einer grundsätzlichen Auseinandersetzung auf der Rechten zwischen denjenigen, die im Rahmen der existierenden politischen Ordnung weiter arbeiten wollten und denen, die jede Form der Kollaboration mit dem republikanischen Regierungssystem ablehnten. Die Kampagne gegen den Young-Plan im Sommer und Herbst 1929, der Volksentscheid für die Auflösung des preußischen Landtags im Frühjahr und Sommer 1931 sowie die Bildung der Harzburger Front im Oktober des gleichen Jahres sind Beispiele für die Bemühungen Hugenbergs und seiner Mitstreiter, die DNVP, den Stahlhelm und andere Organisationen der politischen Rechten, darunter auch die NSDAP, in einer einzigen antiparlamentarischen Sammlungsbewegung zu vereinigen, deren letztes Ziel es war, das gegebene politische System zu Fall zu bringen. Die Mobilisierung der .nationalen Opposition' in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren war gezielt gegen die systemstabilisierende Rolle der organisierten Interessengruppen zwischen 1924 und 1928 gerichtet und war Teil einer übergeordneten Strategie Hugenbergs, durch eine Spaltung des deutschen Parteiensystems in zwei unversöhnliche Lager die politische Mitte endgültig zu zerstören 8 . Der Konflikt innerhalb der Rechten kam mit der Kanzlerschaft Heinrich Brünings im Frühjahr 1930 zu einem Höhepunkt. Brünings Ernennung war Teil eines breiter abgestimmten Versuchs des politischen Chefstrategen des deutschen Militärs, Kurt von Schleicher, das Staatsschiff aus den gefährlichen demokratischen Gewässern herauszulenken und es an der Autorität einer Persönlichkeit zu verankern, die weit über dem unablässigen Parteiengezänk angesiedelt war - der des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Dieser Schach8 Zur Rolle Hugenbergs in diesem Prozeß s. J. A. Leopold, Alfred Hugenberg: The Radical Nationalist Campaign against the Weimarer Republic, N e w Häven/London 1977, besonders S. 2 7 - 1 0 6 sowie H. Holzbach, Das .System Hugenberg'. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik v o r dem Aufstieg der N S D A P , Stuttgart 1981.

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zug, der darauf angelegt war, die Ausübung exekutiver Gewalt vom Willen des Volkes, wie er sich in der Parteienkonfiguration des Reichstages manifestierte, zu entkoppeln, fand breite Unterstützung unter den gemäßigten Konservativen, die darauf hofften, Brüning werde die verfassungsmäßigen Möglichkeiten des Reichspräsidenten und speziell das Notverordnungsrecht dazu ausnutzen, eine tiefgreifende Revision der deutschen Verfassungsstruktur zu erwirken. Aber weder Hugenbergs D N V P noch Hitlers N S D A P waren dazu bereit, Brünings Kabinett auch nur zu tolerieren - geschweige denn, es zu unterstützen - trotz wiederholter Annäherungsversuche des zunehmend umzingelten Kanzlers. Gleichzeitig tat die sich weiter verschlimmernde Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre ein übriges, um die Wählerschichten, von denen Brüning politisch abhängig war, weiter zu radikalisieren. Das Ergebnis war, daß Schleicher im Frühjahr 1932 bereits die Grundlagen für eine Verständigung mit der N S D A P gelegt hatte, die, so hoffte er, seinen Eintritt in die nationale Regierung möglich machen werde 9 . All diese Vorgänge hatten auf der deutschen Rechten zu einer tiefen Spaltung geführt, die sie unfähig machte, auf die Wirtschaftskrise, die Lähmung der parlamentarischen Institutionen und den Aufstieg des Nationalsozialismus eine eindeutige Antwort zu finden. Während der Zusammenbruch der Weimarer Demokratie eine notwendige, wenn nicht sogar unverzichtbare Voraussetzung für die Kanzlerschaft Adolf Hitlers darstellte, war diese dennoch keineswegs die unvermeidliche oder historisch zwingende Konsequenz der parlamentarischen Sackgasse, in die die deutsche Demokratie seit Beginn der dreißiger Jahre geraten war. In diesem Zusammenhang stellt sich dem Historiker ein nicht leicht zu lösendes methodisches Problem. Der Kollaps der parlamentarischen Demokratie in den letzten Weimarer Jahren auf der einen, Hitlers Ernennung zum Reichskanzler auf der anderen Seite waren logisch voneinander getrennte Prozesse, die jeder für sich ganz unterschiedliche analytische Strategien erfordern. Wenn eine Strukturanalyse, die besonders die Rolle organisierter ökonomischer Interessen in den Blick nimmt, auch gut dazu geeignet ist, die Paralyse der deutschen demokratischen Institutionen der späten zwanziger Jahre zu erklären, ist weder sie noch die neue Kulturgeschichte mit ihrem viel

9 Besonders hellsichtige Analysen der Kanzlerschaft Brünings bieten die beiden Aufsätze von H. Mommsen, Heinrich Brünings Politik als Reichskanzler: Das Scheitern eines Alleingangs, in: K. Holl (Hg.), Wirtschaftskrise und liberale Demokratie. Das Ende der Weimarer Republik und die gegenwärtige Situation, Göttingen 1978, S. 1 6 - 4 5 ; ders., Staat und Bürokratie in der Ära Brüning, in: G. Japser (Hg.), Tradition und Reform in der deutschen Politik. Gedenkschrift für Waldemar Besson, Frankfurt a.M. 1976, S. 8 1 - 1 3 7 . Vgl. außerdem die detailreiche Biographie Brünings von W . L. Patch (Jr.), Heinrich Brüning and the Dissolution of the Weimar Republic, Cambridge 1998.

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beschworenen linguistic turn dazu in der Lage, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie und warum die Krise des Parlamentarismus in Deutschland von 1930 bis 1932 zum 30. Januar 1933 geführt hat. Der Zusammenbruch des Systems in den frühen dreißiger Jahren hatte eine Situation im Fluß geschaffen, in der einzelne historische Akteure - mit all ihrem enttäuschten Ehrgeiz, ihrer kleingeistigen Eitelkeit und ihren privaten Animositäten - eine sehr viel größeren Einfluß auf den Gang der Dinge nehmen konnten als dies unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre. In den acht Monaten zwischen Brünings Entlassung im Mai 1932 und Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wuchs den Aktionen eines Schleicher, eines Papen oder eines Hugenberg eine kausale Relevanz zu, die sie in anderen historischen Konstellationen niemals besessen hätten. Um eine befriedigende Antwort auf das Problem zu finden, warum die Weimarer Systemkrise in Hitlers Machtergreifung endete, muß die Aufmerksamkeit von den kulturellen und strukturellen Faktoren, die diese Krise bedingt hatten, umgelenkt werden auf das politische Handeln der einzelnen Akteure in den kritischen Tagen vor Hitlers Kanzlerschaft. Die Bildung von Hitlers Kabinett im Januar 1933 beruhte auf der Annahme, daß die Konservativen um Papen und Hugenberg in der Lage sein würden, den Radikalismus der NS-Bewegung herabzumildern und ihre eigenen Ansprüche auf soziale und politische Hegemonie durchzusetzen10. Mit der Last der Regierungsverantwortung, so hofften Papen und seine konservativen Gesinnungsgenossen, würden Hitler und seine Anhänger viele der Vorteile einer Oppositionspartei verlieren und die radikale Rhetorik aufgeben müssen, die sie in ihrem Kreuzzug gegen die Weimarer Republik so erfolgreich eingesetzt hatte11. Keinesfalls - und an diesem Punkt ist eine Wiederholung gerechtfertigt - genossen die Konservativen, die in Hitlers Kabinett eintraten, die ungeteilte Unterstützung derjenigen Elemente, die sie zu repräsentieren vorgaben. Jeder, der etwa die Passagen des Tagebuchs von Reinhold Quaatz gelesen hat, die den Diskussionen im Umkreis Hugenbergs unmittelbar vor der Bildung des Kabinetts gewidmet sind, muß sich darüber im Klaren sein, daß

10 Neben Turner, Hitler's Thirty Days, bieten die detaillierteste Übersicht über die Verhandlungen, die zur Bildung von Hitlers Kabinett führten, H. Mommsen, Die Verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Berlin 1989, S. 4 9 5 - 5 4 7 sowie V. Henschel, Weimars letzte Monate. Hitler und der Untergang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1979, S. 7 9 - 1 0 1 . Für den weiteren Kontext s. G. Jasper, Die gescheiterte Zähmung. Wege zur Machtergreifung Hitlers 1 9 3 0 - 1 9 3 4 , Frankfurt a.M. 1986. 11 Zu von Papens Rolle bei der Bildung von Hitlers Kabinett s. H.Muth, Das „Kölner Gespräch" am 4. Januar 1933, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37 (1986), S. 4 6 3 - 8 0 ; 529-541 wie auch die Biographie J. Petzolds, Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis, München/Berlin 1995, besonders S. 1 1 9 - 1 6 2 .

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Hilgenbergs Entscheidung für den Eintritt in die Regierung auch unter einigen seiner engsten Mitarbeiter und Freunde auf scharfe Ablehnung stieß 12 . Auch die Situation im Stahlhelm stellte sich nicht grundsätzlich anders dar. An der Spitze der Frontkämpferorganisation gab es große Vorbehalte gegen die Bildung der Hitler-Regierung, die nicht einmal durch die Ernennung Franz Seldtes, Begründer und einer der beiden nationalen Führer des Stahlhelms, zum Reichsarbeitsminister vollständig zerstreut werden konnten 13 . Der Dreh- und Angelpunkt, von dem Erfolg oder Scheitern der konservativen Bemühungen, die N S D A P zu .zähmen', letztlich abhingen, war das deutsche Militär. Was dessen langfristige strategische Ziele betraf, so war sich die Führungsspitze der Reichswehr darin einig, daß zunächst eine Revision der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Friedensvertrages anzustreben sei, um eine Modernisierung der Streitkräfte betreiben und damit die ersehnte Großmachtstellung Deutschlands wiedererlangen zu können. Es war der militärischen Führung klar, daß solche Pläne kaum mit Hilfe eines Parlaments zu verwirklichen waren, das den Zwängen der prekären Weimarer Parteipolitik unterworfen war. Bei aller Antipathie für den Weimarer Parlamentarismus, begriff Schleicher aber sehr wohl, daß es der Reichswehr kaum möglich sein würde, auf das Mäntelchen einer Legitimation durch das Volk zu verzichten, wenn es darum ging, die Ressourcen für eine Modernisierung des Heeres zu mobilisieren. Beeindruckt durch den Umstand, daß die N S D A P in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre sogleich als politische Massenbewegung in Erscheinung trat, begann er mit der Idee zu spielen, die Nazis zum Beitritt in die Regierung einzuladen - nicht nur, um ihnen den Bonus der Oppositionspartei zu nehmen, sondern vor allem, um Deutschlands konservative Führung mit der Aura demokratischer Legitimation zu umgeben, die sie brauchte, um die Demontage der Weimarer Verfassung perfekt zu machen 14 .

12 H . Weiß/P. Hoser (Hg.), Die Deutschnationalen und die Zerstörung der Weimarer Republik. Aus dem Tagebuch von Reinhold Q u a a t z 1928-1933, München 1989, besonders S. 221-231. Weitere Details in L. E. Jones, „The Greatest Stupidity of M y Life": Alfred Hugenberg and the Formation of the Hitler Cabinet, January 1933, in: Journal of C o n temporary History 27 (1992), S. 63-87. 13 Nähere Einzelheiten in: V. Berghahn, Der Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten 1918— 1935, Düsseldorf 1966, S. 245-250. 14 Maßgebende Studie zu Schleichers strategischen Zielen in den letzten Jahren der Weimarer Republik ist nach wie vor T. Vogelsang, Reichswehr, Staat und N S D A P . Beiträge zur deutschen Geschichte 1930-1932, Stuttgart 1962. Als jüngsten Beitrag zu Schleichers Revisionsplänen der Weimarer Verfassung s. W. Pyta, Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis Januar 1933, in: ders./L. Richter (Hg.), Gestaltung des Politischen, Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 173-197.

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Ende 1932 war der substantielle Bankrott von Schleichers politischer Strategie einer wachsenden Zahl seiner Kollegen in der Bendlerstraße bewußt. Schleicher war nicht nur mit seinem Vorhaben gescheitert, die N S D A P im Zeichen einer weniger radikalen Rhetorik in die Regierungen Brünings oder Papens einzubinden; auch seine Hoffnungen, nach seiner eigenen Ernennung zum Kanzler am 2. Dezember 1932 eine Verständigung mit Hitlers rechter Hand Gregor Strasser zu erreichen, erfüllten sich nicht und endeten vielmehr mit einer bitteren und demütigenden Niederlage für Strasser 15 . Vor diesem Hintergrund brachen zunehmend Differenzen mit der Reichswehrführung auf - weniger über die strategischen Ziele der Reichswehr als vielmehr über die richtige Taktik, wie diese zu erreichen seien. In den höheren Rängen der Armee hielt sich der Enthusiasmus für Hitler und seine Bewegung nach wie vor in Grenzen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hegten die militärischen Führer ein tiefes und beständiges Mißtrauen gegenüber dem Führer der N S D A P und waren, was die Aussicht einer Ernennung dieses Mannes zum Reichskanzler betraf, in hohem Maße skeptisch. Überdies waren viele der bisherigen Anhänger Schleichers dessen Machenschaften leid und sehnten sich nach den Zeiten zurück, in denen die Reichswehr sich noch ihrer politischen Neutralität' hatte rühmen können. Dies wiederum isolierte Schleicher innerhalb der Führungsschicht der Reichswehr und neutralisierte im Ergebnis das Militär als einen Faktor, der den Machttransfer zu Hitler auf der Basis der Absprachen zwischen diesem selbst, Papen und Hugenberg möglicherweise hätte verhindern können. Die Ernennung von Generalmajor Werner von Blomberg zum neuen Reichswehrminister jedenfalls trug nicht dazu bei, diejenigen Konservativen zu bestärken, die noch darauf hofften, die Reichswehr werde bei der Domestizierung und weiteren Instrumentalisierung der NaziBestie eine wichtige Rolle übernehmen 16 . Die Rahmenbedingungen der Kabinettsbildung vom 30. Januar 1933 unterstrichen nur noch einmal die grundsätzliche Fragilität des Bündnisses, das Papen, Hugenberg und ihre Anhänger auf der deutschen Rechten mit der N S D A P eingegangen waren. Von Beginn an war es sogar denen, die die HitlerPapen-Absprachen begrüßten, letztlich unklar, ob die konservativen Mitglieder des .Kabinetts der nationalen Konzentration' die Macht dazu haben wür-

15 Für weitere Details s. P. D. Stachura, Gregor Strasser and the Rise of Nazism, London 1983, S. 103-20. 16 Die besten Studien zur Rolle der Reichswehr bei der Kabinettsbildung im Januar 1933 sind K . - J . Müller, Das H e e r und Hitler. A r m e e und nationalsozialistisches Regime 1 9 3 3 - 1 9 4 0 , Stuttgart 1969, S. 3 5 - 8 7 und M. Geyer, Etudes in Political History: Reichswehr, N S D A P , and the Seizure of Power, in: P. D. Stachura (Hg.), The Nazi Machtergreifung, London 1983, S. 1 0 1 - 1 2 3 .

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den, die Radikalität der NS-Bewegung einzudämmen. Die konservative Reaktion auf die neue Wendung der Ereignisse war eine Mischung aus Erleichterung und Besorgnis - in vielen Fällen überwog letztere. Nirgends wird dies deutlicher als im Briefwechsel zwischen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Präsident des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und ein Vertreter der gemäßigten Richtung innerhalb der Ruhr-Industrie, und seinem Schwager Tilo Freiherr von Wilmowsky, verfaßt unmittelbar unter dem Eindruck des Schocks von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. „Inzwischen", so Wilmowsky am 30. Januar 1933, „ist ja nun die allen völlig unerwartete Hitler-Lösung zur Tat geworden. (...) Im übrigen kannst Du Dir meine Verfassung vorstellen. Alles, was in den letzten Jahren und vor allem Monaten mit doch wirklich unendlicher Mühe eingeleitet und vorangetrieben ist, muß nun von neuem und mit neuen Männern begonnen werden. Bracht [Franz Bracht, Reichskommissar für Preußen; d. Verf.] scheidet endgültig aus. Ein fast unersetzlicher Verlust, und an seiner Stelle Herr Göring, der doch gar keine Ahnung haben kann." 1 7 Darauf Krupp: „In die neue Wendung der Dinge kann auch ich mich schwer hinein finden. Ich fürchte, Harald [Krupps Sohn, d.Verf.] hat recht, der neulich bemerkte, aus Wasserstoff und Sauerstoff entstünde beim Zusammenkommen Knallgaß!" 18 Krupps Verweis auf die explosive Mischung von Wasser- und Sauerstoff ist eine passende Metapher für das Unbehagen, mit dem viele einflußreiche Konservative den Beginn des .Dritten Reiches' begrüßten. Sogar unter den Konservativen, die das Hitler-Papen-Experiment unterstützten, war die Skepsis bezüglich der tatsächlichen Fähigkeiten von Hitlers konservativen Bündnispartnern, die radikaleren Elemente der Regierungskoalition im Zaume zu halten, ausgesprochen groß. Die Nervosität, die Papens und Hugenbergs ,Deal' mit Hitler prominenten Konservativen einflößte, verwandelte sich alsbald in Panik, als der neue Reichskanzler am 1. Februar den Reichstag auflöste und zu Hugenbergs größtem Mißfallen für Anfang März Neuwahlen ankündigte. Das Ergebnis dieser Reichstagswahlen bezeugte in dramatischem

17 Wilmowsky an Krupp, 30. Januar 1933, in: Familienarchiv Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Krupp-Archiv, Essen-Hügel, F A H 23/507. 18 Krupp an Wilmowsky, 31. Januar 1933, ebd. Zur deutschen Industrie und der Bildung des Kabinetts Hitler s. R.Neebe, Die Industrie und der 30. Januar 1933, in: K. H . Bracher/ M. Funke/H. A. Jacobsen (Hg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz. Bonn (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 192) 1983, S. 155176. Ausführlichere Informationen in ders., Großindustrie, Staat und N S D A P 1930-1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981, S. 174-180 sowie in H. A. Turner (Jr.), German Big Business and the Rise of Hitler, N e w Y o r k / O x f o r d 1985, S. 313-339. Von Weimar zu Hitler

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Ausmaß die Schwäche der traditionellen deutschen Rechten und lieferte dem radikalen Flügel der NSDAP den Katalysator, den sie brauchte, um das Tempo der nationalsozialistischen Revolution zu beschleunigen. Die Stellung der nicht-nationalsozialistischen Rechten wurde nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März noch prekärer. Die bösen Ahnungen, die diese Wendung der Dinge unter Hitlers konservativen Bündnispartnern erzeugte, werden besonders greifbar in der bangen Frage, die Martin Spahn von der DNVP am Abend des 20. März bei einem Festbankett der nationalistischen Reichstagsdelegation an seine Tischgefährten richtete: „Glauben Sie nicht, daß wir Hitler genauso ausgeliefert sind, wie in der französischen Revolution die Girondisten den Jakobinern? Was 1793 in Frankreich geschah, wird sich jetzt bei uns wiederholen." 19 Die drei Monate, die auf die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes folgten, sahen eine Welle des Terrors der SA, die sich nicht nur gegen Organisationen auf der politischen Linken, sondern auch solche auf der Rechten richtete 20 . Während die Dichotomie .Revolution - Gegenrevolution' als analytische Strategie wohl alles andere als hilfreich zum Verständnis dieser Zeitspanne ist, kann andererseits kein Zweifel daran bestehen, daß Augenzeugen der tumultuarischen Monate von März bis Juni 1933 sehr wohl das Gefühl hatten, eine .Revolution' mitzuerleben. In dieser Situation wurden Deutschlands ökonomische Eliten und die verschiedenen Organisationen, über die sie traditionsgemäß ihre sozialen und wirtschaftlichen Interessen vertreten hatten, durch den NS-Staat und seine paramilitärischen Organisationen einem erheblichen Druck ausgesetzt, sich entweder aufzulösen oder in der institutionellen Struktur des neuen Regimes aufzugehen. Die Art und Weise, wie Deutschlands konservative Führungsschichten auf diesen Druck antworteten, bildet ein äußerst wichtiges Kapitel in der Geschichte der deutschen Rechten und erwies sich als entscheidend, um die Basiskoordinaten der Kollaboration zwischen Nationalsozialismus und Konservativen in den ersten Jahren des .Dritten Reiches' zu definieren. Ohne weiter ins Detail zu gehen, genügt hier der Hinweis, daß innerhalb eines halben Jahres nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler so gut wie alle konservativen wirtschaftlichen Interessengruppen sich entweder zwangsaufgelöst oder auf die eine oder andere Art und Weise in die Organisationsstruktur des .Dritten Reiches' integriert hatten. Als die einzigen Institutionen, die diesem Prozeß mehr oder weniger unzugänglich blieben, erwiesen sich die katholische Kirche und, in 19 Zitiert in: E. Forschbach, Die Deutschnationalen. V o m Ende einer Partei, in: Politische Meinung 5 (1960), S. 12. 20 Über den SA-Terror des Frühjahrs 1933 s. P. Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, S. 1 6 5 - 1 7 9 .

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etwas geringerem Maße, auch das Offizierskorps. Nicht einmal Hitlers frühere Verbündete im Kampf gegen die Weimarer Demokratie blieben gegen dieses Schicksal gefeit, wie die Geschichte des Stahlhelms, des Reichslandbundes und Hugenbergs eigener Partei, der DNVP, nur allzu deutlich zeigen21. Durch den Zusammenbruch der organisatorischen Infrastruktur der deutschen Rechten in der ersten Hälfte 1933 waren die konservativen Mitglieder in Hitlers Kabinett dem Druck der Nationalsozialisten zunehmend ungeschützt ausgesetzt; ihre Versuche, mäßigend auf die NS-Bewegung einzuwirken, zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig griff die Angst vor einer sozialen Revolution weiter um sich, als die Sonderkommissare der SA vermehrt auch in die Privatwirtschaft eingriffen. Vor diesem Hintergrund verstand es Hitler geschickt, die Befürchtungen der Konservativen und der Mittelschichten hinsichtlich der nationalsozialistischen Revolution zu zerstreuen, zunächst auf einem Treffen mit Deutschlands industrieller Führungsspitze am 29. Mai, dann auf einer Konferenz mit den NS-Reichsstatthaltern am 6. Juli, während der er seinen Untergebenen mitteilte, daß mit der Zerstörung der demokratischen Institutionen die wichtigsten Ziele der Revolution erreicht seien und mithin eine Periode der Konsolidierung bevorstehe. Pläne, die eine korporative Neuorganisation der Wirtschaft vorgesehen hatten, wurden ad acta gelegt, und die Kompetenzen der Sonderkommissare, die diesen Prozeß überwachen sollten, summarisch zurückgezogen22. All diese Maßnahmen waren darauf angelegt, den Schaden, den die tumultuarischen Ereignisse in den vorausgegangenen Monaten in Hitlers Bündnis mit den Konservativen angerichtet hatte, wieder zu beheben und die Bündnispartner davon zu überzeugen, daß die nationalsozialistische Revolution nunmehr ihr Ziel erreicht habe und die Zerstörung des Staates von Weimar keineswegs auch einen Umsturz der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung nach sich ziehe. Zusammen mit dem Abschluß des Konkordats mit dem Vatikan am 8. Juli 1933, trugen diese Maßnahmen nicht unerheblich zur allgemeinen Beruhigung der politischen Situation in der zweiten Hälfte des Jahres 1933 bei. Es ist anzunehmen, daß Deutschlands Konservative mit den Bedingungen, die mit Hitlers Burgfrieden verbunden waren, nicht gänzlich glücklich waren, aber durch den Verlust ihrer politischen Bürgerrechte seit den Märzwahlen blieb ihnen nicht viel anderes übrig, als sie zu akzeptieren. Nur im Militär, den Kirchen und Papens Vizekanzlei existierten noch Reste orga-

21 Ein kurzer Überblick über die Ereignisse findet sich in Jones, Nazis, S. 53-59. 22 Weitere Einzelheiten in: A . Barkai, Nazi Economics: Ideology, Theory and Policy, New Haven/London 1990, S. 1 1 6 - 1 3 8 .

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nisierten, konservativen Widerstands. Die Führungsspitze der Reichswehr war jedoch viel zu zufrieden mit ihrem Status als einer der,Säulen' des .Dritte Reiches', um sich in offenem Widerstand gegen den NS-Staat zu engagieren, während man in protestantischen und katholischen Kirchenkreisen jedes Risiko scheute, das ihre sowieso schon prekäre Situation weiter zu gefährden vermochte 23 . Dies wiederum führte zu einer Isolierung der NS-Gegner in der Vizekanzlei, deren Pläne, den Nazis die Macht wieder zu entwinden, herzlich wenig mit den gegebenen politischen Realitäten zu tun hatte. Sogar erbitterte Feinde des Regimes, wie Edgar Jung, ein selbsternannter konservativer Revolutionär, der seit dem Wahlkampf für die Märzwahlen als Papens Redenschreiber fungierte, beklagte den Umstand, die konservative Elite Deutschlands habe jeden Willen zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur verloren 24 . Tatsächlich war die zweite Jahreshälfte 1933 eine Zeit relativer Ruhe, in der Hitler und die übrigen nationalsozialistischen Größen, wenn schon nicht die direkte Unterstützung der konservativen Elite, so doch deren Einwilligung in ihr Tun gewonnen zu haben schienen. Dies änderte sich allerdings mit dem Wiederaufflammen des SA-Radikalismus Ende 1933 und Anfang 1934. Hitlers Entscheidung, die nationalsozialistische Revolution zu stoppen, bevor sie die soziale und wirtschaftliche Sphäre erreicht hatte, war für Ernst Röhm und die gesamte SA-Führung ein schwerer Schlag und stellte ihre Position im neuen Hitler-Staat grundsätzlich in Frage. Röhms wiederholte Beschwörung der SA als Hüter der Revolution malte das Schreckgespenst einer neuen Terrorwelle an die Wand und löste in den besitzenden Schichten verbreitet Ängste aus. Hitlers eigene Anstrengungen, die zunehmende Militanz der SA zu dämpfen, indem er Röhm einen Posten im Kabinett anbot, zeigten nur wenig Wirkung und mißfielen der militärischen Führung, die durch Röhms Pläne, SA und Reichswehr zu einem einzigen Volksheer zu verschmelzen, zunehmend in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Als Hitlers Versuche, zwischen SA und Reichswehr einen Burgfrieden auszuhandeln, Ende Februar 1934 keine Veränderung in Röhms Haltung bewirkten, war das Bündnis des Reichskanzlers mit dem Militär ernsthaft gefährdet 25 . Parallel trat auch in der Beziehung des Regimes zur katholischen Kirche eine bedrohliche Verschlechterung ein, als Anfang 1934 deutlich wurde, daß die Regierung nicht die Absicht hatte, das

23 Vgl. dazu K. Scholder, Die Kirchen u n d das Dritte Reich, 2 Bde., bes. Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung, Rom/Barmen 1985, S. 89-121. 24 Z u r Rolle Jungs s. L. E. Jones, Edgar Julius Jung: The Conservative Revolution in Theory and Practice, in: Central European History 21 (1988), S. 164-166. 25 Einzelheiten in Longerich, Die braunen Bataillone, S. 203-205 sowie Müller, Heer u n d Hitler, S. 88-100.

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Kirche auszudehnen, wie etwa den Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen oder den Katholischen Jungmännerverband 26 . Vor diesem Hintergrund faßten Jung, Herbert von Bose und eine Handvoll weiterer NS-Gegner in Papens Vize-Kanzlei den Plan, den schwachen Moment der Regierung auszunutzen, um den Konservativen um Papen wieder das Zepter in die Hand zu geben. Im Dezember 1933 begann Jung seine alten Kontakte mit seinen früheren Gönnern im konservativen Establishment wiederaufzunehmen, um eine große konservative Renaissance vorzubereiten, die die deutsche Revolution zu einem erfolgreichen Abschluß bringen werde. Im Laufe der nächsten sechs Monate trafen Jung und seine Gesinnungsgenossen mit einem breiten Querschnitt der deutschen konservativen Elite zusammen, um sich der Unterstützung derjenigen zu versichern, die wie sie selbst das Hitler-Regime stürzen wollten. Unter den kontaktierten Personen war nicht nur Theodor Duesterberg vom Stahlhelm sowie die alten konservativen Politiker Brüning und Schleicher, sondern auch verärgerte Senioroffiziere des Heeres, wie Werner von Fritsch, Gerd von Rundstedt und Erwin von Witzleben; dazu kamen einflußreiche Industrielle wie Paul Reusch und Fritz Springorum. Das Ausmaß konservativer Unzufriedenheit, das diese Kontakte enthüllten, bestärkte Jung in seiner Überzeugung, das Regime sei reif für den Umsturz, wenn nur der richtige Weg dazu gefunden werde. Nachdem Jung und seine Mitverschwörer den Plan, ein Attentat auf Hitler zu verüben, erwogen und verworfen hatten, entwickelten sie den Gedanken, mit Hilfe einer Rede von Papens den konservativen Widerstandsgeist gegen Hitler zu mobilisieren. Papen sollte dem NS-Regime die Rechtstaatlichkeit aberkennen, die Gerüchte von einer,zweiten Revolution' publik machen und zu einer Rückkehr zu den geistigen Werten aufrufen, die im Herzen der christlichen Kultur Deutschlands begründet lägen. Dies wiederum würde den Führungsspitzen der Reichswehr einen Vorwand liefern, an Hindenburg heranzutreten und um die Autorisierung nachzusuchen, nicht nur die SA-Meuterei zu unterdrücken, bevor sie begonnen hatte, sondern auch die Nazis insgesamt von der Macht zu verdrängen 27 . Der Katalysator, der all das in Bewegung bringen sollte, war eine Rede, zu der Papen am 17. Juni 1934 an die Universität Marburg geladen war. Papens

26 Scholder, Kirchen 2, S. 8 9 - 1 2 1 . 27 Eine detailliertere Analyse dieses Plans in: L . E . Jones, The Limits of Collaboration: Edgar Jung, Herbert von Bose, and the Origins of the Conservative Resistance to Hitler 1933— 34, in: ders./J. Retallack (Hg.), Between Reform, Reaction, and Resistance: Essays in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence ( R I ) / O x f o r d 1993, S. 4 6 5 - 5 0 1 .

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„Marburger Rede", verfaßt von Jung und einigen seiner engsten Mitarbeiter, sollte nach diesen Plänen die Krise, die seit Beginn des Jahres brodelte, zu einer dramatischen Eskalation führen 28 . In vielerlei Hinsicht ähnelten die Ideen Jungs und seiner Mitstreiter der ,Zähmungsstrategie', die Papen und Hugenberg im Januar 1933 verfolgt hatten, allerdings unter Bedingungen, die den Ausgang mehr als unsicher machten. Ihr Scheitern rührte von einer Vielzahl von Faktoren her, nicht zuletzt von Hitlers blutiger Mordaktion vom 30. Juni 1934, die mit der Zerschlagung der SA-Spitze den wichtigsten Konfliktherd zwischen Reichswehrführung und Regime beseitigte. Gleichzeitig nutzten Göring und Himmler den Schlag gegen die SA, um sich auch der Führer der konservativen Opposition zu entledigen. Unter den Opfern dieser zweiten Phase von .Hitlers doppeltem Coup' waren neben Jung Herbert von Bose aus Papens Vizekanzlei, Erich Klausener von der Katholischen Aktion, Gregor Strasser, Ex-Kanzler Kurt von Schleicher sowie Schleichers ehemaliger Adjutant im Wehrministerium, Ferdinand von Bredow. Nur Hindenburgs schützende Hand bewahrte Papen vor dem gleichen Schicksal, während eine Reihe anderer prominenter Konservativer, die der Verwicklung in die Verschwörung gegen Hitler verdächtigt wurden, einige Tage in Haft blieben, bevor sie durch Hindenburgs Intervention wieder frei kamen. Die unmittelbare Wirkung dieser Geschehnisse war eine profunde Demoralisierung der konservativen Opposition. 29 Der sogenannte Röhm-Putsch war ein entscheidender Moment im Verhältnis zwischen konservativen Eliten und dem neuen NS-Staat. Wenn die Entschlossenheit, die Hitler bei der Disziplinierung der SA an den Tag gelegt hatte, die Befürchtungen der Konservativen, dem Ende der Weimarer Republik könne eine Umverteilung von Vermögen und Besitz folgen, auch zerstreut hatte, so ernüchterten jedoch die Morde an Jung, Schleicher und anderen prominenten Konservativen, die an dem Komplott gegen Hitler beteiligte gewesen waren, die konservativen Kritiker des Regimes in erheblichem Maße und setzten all ihren verbliebenen Hoffnungen auf eine konservative Restauration ein jähes und definitives Ende. Nachdem die SA als potentieller Rivale ausgeschaltet worden war, beeilte sich Reichswehrminister Werner von Blomberg, Hitler der Loyalität der Reichswehr zu versichern und stellte sich allen Forderungen nach einer Untersuchung der Morde an Schleicher und Bredow gegenüber taub 30 . Auch

28 Bezüglich der Rolle Papens in dieser Krise s. Petzold, Papen, S. 198-230. 29 Die detaillierteste Studie zur Röhm-Affäre ist nach wie vor H. Höhne, Mordsache Röhm. Hitlers Durchbruch zur Alleinherrschaft 1 9 3 3 - 1 9 3 4 , Reinbek b. Hamburg 1984. Zur generellen Bedeutung der Mordaktion s. N. Frei, Der Führerstaat 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , München 1987, S. 3-27. 30 Müller, Heer und Hitler, S. 1 2 6 - 1 4 1 .

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die katholischen Bischöfe ließen hastig alle Pläne fallen, in einem Hirtenbrief offen die totalitären Ansprüche des Regimes herauszufordern und zogen sich auf die schüchterne Position zurück, die sie schon seit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler eingenommen hatten 31 . In ähnlicher Form begannen auch Carl Goerdeler und andere konservative Beamte, die zum weitesten Kreis der Verschwörung gehört hatten, nach Wegen zu suchen, sich mit dem Regime zu arrangieren - unter der Voraussetzung, daß die Eliminierung der Radikalen um Röhm eine Rückkehr zu den Prinzien von Recht und Ordnung bedeutete 32 . All das war Ausdruck eines generellen Musters konservativer Anpassung an die Realitäten des .Dritten Reiches', ein Muster, daß sich im Zuge der Röhm-Affäre ausgebildet hatte und bis zur nächsten größeren Krise, der Fritsch-Blomberg-Affäre Anfang 1938, in seinen wichtigsten Zügen unverändert blieb. An die Stelle der Unbeständigkeit, die die Beziehungen zwischen Nationalsozialisten und Konservativen in den ersten achtzehn Monaten des .Dritten Reiches' charakterisiert hatte, trat mehr und mehr die Akzeptanz der Nazi-Hegemonie durch nahezu alle Kreise des konservativen Establishments. Zweifellos waren die Konservativen auch in der Folge nicht ohne Einfluß auf die Politik des .Dritten Reiches'. Schließlich besetzten sie - zumindest bis zur Fritsch-Krise - weiterhin unangefochten Schlüsselpositionen im Militär, im Auswärtigen Amt und in der Wirtschaft und konnten somit einige Exzesse der nationalsozialistischen Herrschaft auf wichtigen Feldern - einschließlich der Rassenpolitik - abmildern. Aber ganz gleich wie groß der Einfluß tatsächlich war, den Konservative nach 1934 noch ausüben konnten - ermöglicht wurde all dies nur durch die grundsätzliche Akzeptanz des untergeordneten Status, zu dem man sie nach der Röhm-Affäre verurteilt hatte. Zu einer wirklichen Herausforderung der Grundlagen nationalsozialistischer Macht waren sie nicht mehr in der Lage.

31 Weitere Details in: Scholder, Kirchen 2, S. 2 0 2 - 0 7 . 32 Zu Goerdelers Haltung in dieser Phase s. die kürzlich erschienene Studie von I. Reich, Carl Friedrich Goerdeler. Ein Oberbürgermeister gegen den NS-Staat, Köln/Weimar/ Wien 1997, S. 197-203.

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I. Einführung Nach Angaben der Erwerbslosenstatistik des Deutschen Reiches waren im April 1932 fast sechs Millionen Menschen arbeitslos - das entspricht rund 30% der gesamten Arbeiterschaft. Nach den Schätzungen der Freien Gewerkschaften und anderen Zeitgenossen waren zu diesem Zeitpunkt sogar sieben Millionen deutscher Bürger erwerbslos. Das Problem der Arbeitslosigkeit konzentrierte sich vor allem in den Großstädten und dort wiederum besonders in der Schwerindustrie, im Baugewerbe und im Maschinenbau. Im Winter 1931/32 waren sogar 90% der Bauarbeiter und fast 60% der DMVMitglieder erwerbslos; von Anfang 1930 bis Ende 1931 waren mehr als 40% der Arbeiter der Dortmunder Eisen- und Stahlindustrie entlassen worden. Mitte 1932 war fast die Hälfte der Bevölkerung der Stadt Herne von Arbeitslosen-, Krisen- oder Wohlfahrtsunterstützung abhängig. Wichtig war auch die Tatsache, daß Dauerarbeitslose - Arbeitnehmer, die seit mehr als zwölf Monaten auf der Suche nach einer Beschäftigung waren - einen immer größeren Teil der erwerbslos Gemeldeten ausmachten: Mitte 1932 waren es in Bochum sogar fast die Hälfte 1 .

1 Vgl. „Die Arbeit" 9 (1932), S. 310; L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, S. 165 f.; F. Niess, Geschichte der Arbeitslosigkeit, Köln 1979, S. 40; H. D r ü k e u.a., Spaltung der Arbeiterklasse und Faschismus, Hamburg 1980, S. 95; Protokoll des 15. Außerordentlichen Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, Berlin 1932, S. 26; R. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1918-1933, Berlin 1986, S. 447; Stiftung Westfälisches Industriearchiv K 2, 350, 9; Verwaltungsbericht der Stadt Bochum 1929-1932, Bochum 1934, S. 113; D. Petzina, The Extent and Causes of Unemployment and the Great Depression in Weimar Germany, in: P. D. Stachura, Unemployment and the Great Depression in Weimar Germany, N e w York 1986, S. 29—48. Arbeitslosigkeit und deutsche Demokratie 1929-1933

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II. Arbeitslosigkeit und politischer Radikalismus Daß die Dauer- und Massenarbeitslosigkeit für die brüchige Weimarer Demokratie eine Gefährdung darstellte, ist seit langem erkannt, meistens aber vom Gesichtspunkt des politischen Radikalismus (d.h. des Aufstiegs sowohl der K P D als auch der NSDAP) verstanden worden. In der Tat ist nicht zu bestreiten, daß eine stark positive Korrelation zwischen der Arbeitslosigkeit und dem Wachstum des deutschen Kommunismus besteht. Schon 1924, also gleich nach der sogenannten Stabilisierungskrise, waren ungefähr 6 0 % aller KPD-Mitglieder arbeitslos. Fast alle Arbeitslosenausschüsse waren seit 1928 in den Händen der Kommunisten; und während der Weltwirtschaftskrise wurde das Verhältnis zwischen Arbeitslosigkeit und Mitgliedschaft in der K P D noch eindeutiger: ungefähr 90% der Parteimitglieder im Ruhrgebiet waren Mitte 1932 ohne Beschäftigung. Auch die Straßenkämpfer des Roten Frontkämpferbundes rekrutierten sich vor allem aus den Reihen der Jungarbeitslosen 2 . Dieser Befund soll natürlich nicht den Schluß nahelegen, daß Massenarbeitslosigkeit notwendigerweise politischen Radikalismus erzeugt: das Fehlen starker kommunistischer oder faschistischer Bewegungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten ist Beweis genug für die Tatsache, daß die politischen Folgen der Erwerbslosigkeit in hohem Maße von der jeweils vorhandenen politischen Kultur abhängig waren. Die Wirtschaftskrise 1929-33 traf die Vereinigten Staaten mindestens ebenso verheerend wie das Deutsche Reich: so schrumpfte beispielsweise die Industrieproduktion in Deutschland im entsprechenden Zeitraum um 4 0 % , in den USA dagegen um 4 8 % 3 . Die politischen Folgen der Krise stellten sich jedoch ganz unterschiedlich dar, wie Gerry Feldman resümiert: „In den Vereinigten Staaten führten die Wirtschaftskrise und die Bemühungen, sie abzumildern, zur längst überfälligen Anerkennung der organisierten Arbeiterschaft und ihrer vollen Integration in das Wirtschafts- und Sozialgefüge, was unzweifelhaft eine Vertiefung der demokratischen Traditionen der Vereinigten Staaten bedeutete. In Deutschland dagegen war die Lösung der durch die Wirtschaftskrise geschaffenen Probleme letztlich mit der Zerstörung der Arbeiterbewegung und der parlamentarischen Regierung verbunden" 4 .

2 O.K.Flechtheim, Die K P D in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1971, S. 3 1 8 - 3 2 1 ; B. Herlemann, Kommunalpolitik der K P D im Ruhrgebiet, Wuppertal 1977, S. 9 0 - 1 0 7 , 1 7 6 ; S. Bahne, Die K P D und das Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1976, S. 16; H . Reiners/H. Meyerhoff, Herne. Auf dem Weg zur Großstadt, Herne 1953, S. 37. 3 S. Pollard, German Trade Union Policy 1 9 2 9 - 1 9 3 3 in the Light of the British Experience, in: J .Baron von Krudener (Hg.), Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1 9 2 4 - 1 9 3 3 , Oxford 1990, S. 2 9 - 3 0 . 4 G. D. Feldman, Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise, Göttingen 1984, S. 220.

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So war auch die Entstehung einer starken K P D im Ruhrgebiet keine Folge der Massenarbeitslosigkeit allein: der Kommunismus war hier bereits vor der Depression sehr stark gewesen; schon seit 1924 war die K P D etwa in Herne und Wanne-Eickel stärkste Partei. Es ist oft behauptet worden, die Massenarbeitslosigkeit sei auch und vor allem den Nationalsozialisten zugute gekommen. In der Tat strömten die Wähler der N S D A P gerade zwischen 1929 und 1932 zu, als die Zahl der Erwerbslosen in die Höhe stieg. Diese Wähler begannen der Partei erst dann wieder den Rücken zuzudrehen, als die Wirtschaftslage sich in der zweiten Jahreshälfte '32 etwas verbesserte. Sogar KPD-Vorsitzender Ernst Thälmann war der Ansicht, die nationalsozialistische Wahlpropaganda finde starke Resonanz innerhalb der Reihen der Jungarbeitslosen 5 ; was vom Direktor der Frankfurter Arbeiterakademie bestätigt wurde: „Die Arbeiterschaft zerfiel in zwei grundverschiedene Teile, die Beschäftigten und die Arbeitslosen. (...) Auf den Stempelstellen befanden sich junge Leute, die zum Teil seit der Lehrzeit ohne Beschäftigung waren, die gewerkschaftliche Erziehung nie genossen hatten und daher radikalen Schlagworten jeder Art zugänglich waren. Dort war für den Nationalsozialismus die Einbruchsstelle in die Reihen des Proletariats, dessen arbeitsloser Teil atomisiert war und nicht selten auf die Stufe des Lumpenproletariats zurücksank" 6 . Der berühmte Soziologe Theodor Geiger war ähnlicher Meinung; und Hitler selbst behauptete im April 1932, 300.000 der 400.000 SA- und SSMitglieder seien ohne Beschäftigung. Seitdem haben sich viele Historiker diesem Urteil angeschlossen. So waren z.B. laut des Urteils des schottischen Historikers Conan Fischer ungefähr 5 6 % der SA-Mitglieder im ganzen Reich arbeitslos. Eine Bochumer Studie beweist, daß in dieser Stadt rund 4 0 % der SA-Leute ohne Beschäftigung waren. In Chemnitz, wie Gerhard Uhlmann uns mitteilt, hatte „die Arbeitslosigkeit einen geringen Teil der seit vielen Jahren arbeitslosen Jungarbeiter aus Hunger in die SA getrieben. 6- bis 7jährige Arbeitslosigkeit hatte sie demoralisiert" 7 . Die neuesten Forschungen stehen jedoch der Behauptung sehr skeptisch gegenüber, die N S D A P habe starke Unterstützung aus den Reihen der

5 E. Thälmann, Der revolutionäre Ausweg, Berlin 1932, S. 8. 6 C . Severing, Mein Lebensweg, Köln 1950, S. 357. 7 „Die Arbeit" 9 (1930), S. 658; „Rheinisch-Westfälische Zeitung", 15.4.1932; C . Fischer, Stormtroopers, London 1983; C . Fischer/D. Mühlenberger, The Pattern of the SA's Social Appeal, in: C. Fischer (Hg.), The Rise of National Socialism and the Working Classes in Weimar Germany, Oxford 1966, S. 9 7 - 1 1 3 ; J.V. Wagner, Hakenkreuz über Bochum, B o chum 1983, S. 87; G. Uhlmann, Der Kampf der Chemnitzer Werktätigen gegen die Errichtung der faschistischen Diktatur, Leipzig 1966, S. 65 f.

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Erwerbslosen gewonnen - davon auszunehmen sind lediglich arbeitslose Angestellten. Erstens war die Mitgliedschaft in der SA nicht gleichbedeutend mit der in der NSDAP. Nur 50% der SA-Leute gehörten der Partei an 8 . Die überwiegende Mehrheit der Parteimitglieder war erwerbstätig und nicht erwerbslos 9 . Immerhin konnten die Nationalsozialisten ihre prozentual größten Wahlerfolge in den ländlichen Gebieten und Kleinstädten des Reiches erzielen, wo die Zahl der Erwerbslosen relativ klein geblieben war. Die Arbeitslosigkeit konzentrierte sich demgegenüber vor allem in den Großstädten, d.h. gerade dort, wo der NS-Stimmenanteil 10 bis 15% unter dem Reichsdurchschnitt geblieben war. Nicht zuletzt deswegen steht es um die behauptete positive Korrelation Arbeitslosigkeit/NSDAP sehr fragwürdig, ein Eindruck, der durch die Analysen von Thomas Childers und Jürgen Falter weiter bestätigt wird. Den beiden Autoren ist es sogar gelungen, eine stark negative Korrelation zwischen NS-Wählern und Arbeitslosigkeit festzustellen. Nach Falter wählten nur 13,2% der wahlberechtigten Arbeitslosen die NSDAP 10 . Wahlanalysen im Ruhrgebiet zeitigten ähnliche und sogar noch eindeutigere Resultate. Hauptnutznießer der Stimmen der Arbeitslosen in Castrop-Rauxel, Wanne-Eickel und Herne waren ohne Zweifel die Kommunisten. In den Herner Bergkolonien der stillgelegten Zechen „Constantin der Große" und „Teutoburgia" z.B., wo die Arbeitslosigkeit ganz besonders hoch war, konnte die KPD im November 1932 fast 70% aller Stimmen gewinnen. Die NSDAP dagegen erhielt dort nur 12% der Wählerstimmen 11 !

III. Entsolidarisierung Obwohl die Arbeitslosen also im allgemeinen der NSDAP nicht massenhaft zuströmten, erwies sich die Erfahrung der Massen- und Dauerarbeitslosigkeit sowohl für die deutsche Arbeiterbewegung als auch für die Erfolgschancen

8 Fischer/Mühlberger, The Pattern, S. 9 7 - 1 1 3 . 9 M. Kater, The Nazi Party, Chapel Hill 1983, S. 55. 10 R. Mc Kibbin, The M y t h of the Unemployed, in: Australian Journal of Politics and History X V (1969), 2, S. 2 5 - 4 0 ; T. Childers, The Nazi Voter, Chapel Hill 1983, S. 184 f., 243, 253, 256; J. Falter, W e r verhalf der N S D A P zum Sieg?, in: A u s Politik und Zeitgeschichte, 14.7.1979, S. 3 - 2 1 ; ders., Wählerbewegungen zur N S D A P 1 9 2 4 - 1 9 3 3 , in: O. Büsch, Wählerbewegungen in der deutschen Geschichte, Berlin 1980, S. 159-202; ders., Unemployment and the Radicalisation of the German Electorate 1 9 2 8 - 1 9 3 3 , in: Stachura, Unemployment, S. 187-208; ders., H o w likely were workers to vote for the N S D A P ? , in: Fischer, Rise, S. 13; Kater, Nazi Party, S. 55. 11 Herne, Stadtarchiv V/38, 39, 42, 50, 63, 64, 66.

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der Weimarer Demokratie insgesamt als eine Katastrophe, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die Erfahrung der Arbeitslosigkeit entfremdete viele Arbeiter sowohl der SPD als auch der Weimarer Republik, nicht zuletzt, weil die Regierungen Brüning und von Papen eine Deflationspolitik betrieben, bei der die Arbeitslosenunterstützungssätze wie auch die Zahl der potentiellen Empfänger dieser Gelder ständig reduziert wurden. Als Folge einer Notverordnung Papens 1932 wurde das System der Arbeitslosenversicherung selbst unterminiert, da jeder, der den entsprechenden Anspruch erhob, eine Familieneinkommensveranlagung über sich ergehen lassen mußte. Viele Jungarbeitslose wurden dadurch gezwungen, entweder Pflichtarbeit zu leisten oder in den sogenannten Freiwilligen Arbeitsdienst einzutreten; noch andere erhielten gar keine Arbeitslosen-, Krisen- oder wenigstens Wohlfahrtsunterstützung 12 . Durch diesen Abbau des Wohlfahrtsstaates verlor die Weimarer Republik fast jede Chance, sich die Loyalität der Arbeiter bzw. der Arbeitslosen zu erhalten. Dasselbe gilt für die deutsche Sozialdemokratie. Ihre Unfähigkeit, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm zu entwickeln, die Tatsache, daß die Partei ein solches Programm der Freien Gewerkschaften sogar ablehnte, wie auch ihre Tolerierung der Deflationspolitik Brünings hatten einen hochgradigen Legitimitätsverlust der SPD bei den Erwerbslosen zur Folge. Die Kluft zwischen der deutschen Sozialdemokratie und den Arbeitslosenmassen vergrößerte sich auch dadurch, daß es oft sozialdemokratisch geführte Gemeinden waren, die in der Krise Gemeindearbeiter entlassen oder die Löhne kürzen mußten. Es war kein Zufall, daß solche Arbeiter oft in den Reihen der Kommunisten bzw. der Nationalsozialisten zu finden waren 13 . Die Massen- und Dauerarbeitslosigkeit vertiefte die Spaltung von SPD und KPD, deren soziale Zusammensetzung sich immer weiter voneinander entfernte. Sicher war die deutsche Arbeiterbewegung schon in den frühen zwanziger Jahren in einen kommunistischen und einen sozialdemokratischen Flügel gespalten. Bis zu diesem Zeitpunkt aber waren die Grenzen zwischen den beiden Parteien sowohl sozial als auch politisch relativ flüssig geblieben. Auf

12 E. Harvey, Youth Unemployment and the State, in: R. E. Evans/D. Geary (Hg.), The German Unemployed, London 1987, S. 142-171; dies., Youth and the Welfare State in Weimar Germany, O x f o r d 1993, S. 118-140; D. Geary, Jugend, Arbeitslosigkeit und politischer Radikalismus am Ende der Weimarer Republik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Mai 1983, S. 304-309; P. D. Stachura, The Social and Welfare Implications of Youth Unemployment in the Weimarer Republic, in: ders., Unemployment, S. 121-147. 13 „Arbeiterwohlfahrt" (1932) 2, 60 und 5, S. 133 f.; „Verwaltungsbericht der Stadt Herne 1932/22", S. 37; Herne Stadtarchiv Bestand V; M. Schneider, D a s Arbeitsbeschaffungsprogramm des A D G B s , Bonn 1975. Arbeitslosigkeit und deutsche Demokratie 1929-1933

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lokaler Ebene konnte die Arbeiterschaft Streiks und andere Protestaktionen gemeinsam führen, so geschehen 1920 beim Kapp-Putsch, bei den Vereinbarungen zwischen den Arbeiterparteien in Bezug auf die Wahl des Ausschusses des DMVs 1922, und in den proletarischen Hundertschaften und Arbeiterregierungen Sachsens und Thüringens des Jahres 1923. Bis 1928 blieben viele Kultur- und Freizeitorganisationen der Arbeiterbewegung von einer Spaltung unberührt. Aber spätestens seit 1927 begann die Situation sich drastisch zu verändern, nicht zuletzt durch die Arbeitslosigkeit. Eine deutliche Mehrheit der SPD, rund 70% der Mitglieder, hatte 1930 einen Arbeitsplatz. Ungefähr 80-90% der KPD-Mitgliedschaft waren dagegen erwerbslos 14 . Nicht zuletzt aus dieser Tatsache, und nicht nur als Folge der Politik Moskaus, radikalisierte sich die KPD während der Weltwirtschaftskrise. Ein Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts", Friedrich Stampfer, bemerkte, die Mitglieder der beiden Parteien seien so unterschiedlich, daß sogar „soziale Schützengräben" zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten ausgehoben worden seien15. Der Umstand, daß es oft sozialdemokratische Polizeipräsidenten waren - wie Zörgiebel in Berlin - , die versuchten, Arbeitslosendemonstrationen mit polizeilichen Maßnahmen zu kontrollieren, verstärkte ohne Zweifel die Verbitterung. Mit ihrer überwiegend arbeitslosen Mitgliedschaft glaubte die KPD an einer Rettung der Weimarer Republik absolut kein Interesse haben zu müssen. In dieser Situation war eine radikale Straßenpolitik verständlich, eben weil die theoretisch streik-orientierte Kampfstrategie der Partei nicht mehr sinnvoll erschien 16 . Die SPD dagegen hatte sich mit außerparlamentarischen Aktionen schon immer schwergetan. Jetzt entstand eine zunehmende Spaltung zwischen der Alltagskultur der Arbeitslosen, in der Kleinkriminalität und Gewalt zu relativ gewöhnlichen Phänomenen geworden waren, und dem Selbstverständnis der SPD. Die Sozialdemokratie zog eine immer schärfere Trennlinie zwischen ihrer Aufgabe, die Massen aufzuheben, auf höhere Bahnen zu bringen, sie zu veredeln und ,neue Menschen' aus ihnen zu machen und dem unanständigen Verhalten der .Lumpen'. Während die SPD Raub, Diebstahl und Gewalt als Aktivitäten der .Unorganisierten', der .Ungeschulten', der .Lumpen' denunzierte, sprach die KPD von proletarischer Selbsthilfe oder sogar von proletarischen Einkaufsexpeditionen 17 . Diese kommunistische Politik spiegelte die Verzweiflung eines Teils der deutschen Arbeiterklasse, der in den Institutio-

14 15 16 17

Flechtheim, KPD, S. 318-331; Bahne, KPD, S. 16. „Vorwärts", 26.1.1933. E. D. Weitz, Creating German Communism, 1890-1990, Princeton 1997; S. 132-188. D. Geary, Unemployment and Working-Class Solidarity in Germany 1929-33, in: Evans/ Geary, German Unemployed, S. 268-70.

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nen des Weimarer Staates - in den Stempelstellen, der Pflichtarbeit, und dem Freiwilligen Arbeitsdienst - eher Überwachungs- als Wohlfahrtsinstanzen sah, ganz besonders angesichts des fortschreitenden Abbaus des Wohlfahrtssystems nach 1930 1 8 . Im Lichte der Ergebnisse einer Arbeit von Klaus-Michael Mallmann 1 9 erscheint das Bild einer unüberbrückbaren Kluft zwischen den beiden Arbeiterparteien allerdings etwas übertrieben. Mallmann macht z.B. im Saarland eine häufige Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten auf lokaler Ebene aus. Beispiele für eine derartige Kooperation sind in der Tat nicht selten; und es ist bekannt, daß einige Kommunisten die Parteilinie der unablässigen SPD-Schelte ablehnten. Immerhin befürworteten manche sozialdemokratische Branchen 1932 eine Einheitsfrontpolitik; und in einigen Städten ergab sich eine Zusammenarbeit von Jungsozialdemokraten und Jungkommunisten 2 0 . Dennoch darf nicht aus dem Blick geraten, daß der deutsche Kommunismus anders als der französische und englische gerade dann am populärsten war, als er, wie 1924 oder später in der Wirtschaftskrise, eine linksradikale Politik betrieb. Bekanntlich wurde die Beseitigung der sozialdemokratischen Regierung in Preußen von einigen KPD-Ortsorganisationen sogar lautstark bejubelt 21 . Besonders im Ruhrgebiet konnte die Untersuchung von Weitz wie auch meine eigene Forschungsarbeit nur vereinzelte Beweise für Zusammenarbeit, eher aber Verbitterung und wachsenden Konfliktstoff zwischen den Arbeiterparteien ausmachen 22 . Wichtiger als alle Kooperation zwischen den politischen Aktivisten der beiden Parteien sind meines Erachtens die Reibungen, Konflikte und Zusammenstöße im proletarischen Alltag, die sich aus der Massen- und Dauerarbeitslosigkeit ergaben und sich nur teilweise in der Politik widerspiegelten. Tatsächlich hatten sich im Laufe der Weltwirtschaftskrise innerhalb der deutschen Arbeiterklasse nicht wenige solcher Alltagskonflikte entwickelt, be-

18 „Die Arbeit" 7 (1932), S. 4 1 5 ^ 2 5 ; 5 (1931) S. 328; „Arbeiterwohlfahrt" 1 (1933), S. 2; 2, S. 323. 19 K.-M. Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik, Darmstadt 1996. 20 Bahne, K P D , S. 2 4 - 2 6 ; D . Peukert, Ruhrarbeiter gegen den Faschismus. Dokumentation über den Widerstand im Ruhrgebiet 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , Frankfurt a.M. 1976, S. 1 7 - 1 9 , 21, 28; H . Skrzypczak, Kanzlerwechsel und Einheitsfront, in: I W K 18 (1982), S. 4 8 2 - 4 9 9 ; K . - H . J a h n k e u.a., Geschichte der Arbeiterjugendbewegung, Dortmund 1973, S. 448; R. Toßstorf, Einheitsfront, in: W . Lutharts (Hg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1978, S. 2 0 9 f. 21 Bahne, KPD, S. 26. 22 Weitz, Creating, passim; Geary, Unemployment, S. 2 6 0 - 2 8 0 .

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sonders Konflikte zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen. Die „Metallarbeiterzeitung", die Zeitschrift des DMVs, erhielt eine Reihe von Briefen arbeitsloser Mitglieder, die sich darüber beklagten, daß ihre noch erwerbstätigen Kollegen ihnen keinerlei Mitgefühl entgegenbrächten, sondern ihnen sogar eher feindlich gegenüberständen 23 . Die Erwerbstätigen beteiligten sich an den Arbeitslosendemonstrationen nicht; und sie standen solchen Aktivisten besonders feindlich gegenüber, die sie im Winter 1931/32 bei kommunistisch geführten Streiks an der Arbeit zu hindern suchten. Die arbeitslosen Streikposten wurden in dieser Situation von den noch Arbeitenden nicht selten massiv angegriffen. Bemerkenswert ist etwa die Tatsache, daß ein Bochumer Bergarbeiterstreikausschuß von 1931 keinen einzigen erwerbstätigen Bergmann in seinen Reihen hatte. Berichte aus Hochlamarck bei Recklinghausen sprachen ebenfalls von Zusammenstößen zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen: an den Stempelstellen wurden Gewerkschaftsfunktionäre angegriffen; und die Ortsorganisationen der Gewerkschaften blieben den Aktivitäten der Arbeitslosenausschüsse demonstrativ fern. 1931 sprach der Sozialdemokrat und Preussischer Staatsuntersekretär Hans Staudinger vom „Haß und Neid" der Arbeitslosen gegenüber denjenigen, die noch in Arbeitsverhältnissen standen 24 . Dieser Haß richtete sich ganz besonders gegen die sogenannten ,Doppelverdiener'. In den Beständen der Arbeitsämter im Staatsarchiv Dresden lassen sich eine Menge Briefe finden, in denen weibliche Arbeitskräfte nebst ihren Arbeitgebern und den Behörden, die ,solche Zustände' erlaubten, auf das heftigste kritisiert wurden 2 5 . 1931 wurde auch auf der Versammlung der Freien Gewerkschaften bemerkt: „Die Verbitterung in den Reihen der Arbeitslosen und die Furcht der noch in Arbeit stehenden, gleichfalls in das Heer der Arbeitslosen zu sinken, hat zu einem Kampf gegen die sogenannten Doppelverdiener geführt" 26 . Die ständig gegenwärtige Drohung der Fabriken- oder Zechenstillegung zersplitterte die

23 „Metallarbeiterzeitung" August 1931, S. 9 5 - 1 0 3 ; S. 2 3 7 - 2 6 1 . 24 Bericht des V D A V s , 22.4.1931, in: Bergbauarchiv Bochum 15/184; Protokoll des 13. K o n gresses der Gewerkschaften Deutschlands, Berlin 1928, S. 87; Bergbauverein an den Kanzler 4.4.1932, S. 4 in: Bergbauarchiv 15/1081; „Wanne-Eickler Zeitung" 4.2.1932; „Herner Anzeiger" 6.1.1931, 5. und 12.2.1932; „Rotengewerkschaftsinternationale" 1928, S. 323f., M. Zimmermann, Ein schwer zu bearbeitendes Pflaster, in: D. Peukert/J.Reulecke (Hg.), Die Reihen sind fest geschlossen, Wuppertal 1981, S. 70-72; „Betrieb und Gewerkschaft" 15.7.1930; F. Eisner, Das Verhältnis der K P D zu den Gewerkschaften in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1976, S. 188 f.; „O-Dienst Nachrichten" 16.1.1931; H. Staudinger, Die Erwerbslosigkeit der Jugendlichen, in: „Arbeiterwohlfahrt" 6 (1931), S. 165. 25 Staatsarchiv Dresden, Bestand „Arbeitsämter" 66, „Doppelverdiener"; Bestand Außenministerium 6159, „Doppelverdiener". 26 Protokoll des 15. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, Berlin 1932, S. 26

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Reaktionen der deutschen Arbeiterschaft noch auf andere Weise. Sie spielte die Belegschaft einer Fabrik bzw. Zeche gegen die einer anderen aus. Als eine Bergwerksgesellschaft während der Krise entweder in Moers oder in Essen eine Zeche stillegen wollte, sprachen sich Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaften zunächst gegen die Stillegung in der einen genauso wie in der anderen Stadt aus. Mit der Zeit jedoch änderte sich diese Situation. Die Essener Bergleute verlangten jetzt die Schließung der Moerser Zeche und umgekehrt. Die „Bergwerkszeitung" der Zechenbesitzer jubelte, die ,künstliche' Solidarität der Gewerkschaft und der Klasse sei durch die .natürliche' Solidarität der einzelnen Zeche ersetzt worden 2 7 . Im Gegensatz zu den Behauptungen der Gewerkschaftsführer kam es auch vor, daß Bergleute den Einsatz von Arbeitskräften aus anderen stillgelegten Zechen in ihren eigenen Werken zu verhindern suchten. Aufgrund der Opposition der Bergleute war es den Gewerkschaften im Ruhrgebiet nicht gelungen, das sogenannte K r ü m persystem einzuführen, nach dem die Arbeit unter mehreren Arbeitnehmern sinnvoll verteilt werden sollte 2 8 . In der Wirtschaftskrise wurden Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre mit der Frage konfrontiert, welche Arbeiter bei Massenentlassungen das Nachsehen haben sollten. Gewöhnlich versuchten sie, die Stellen der älteren Genossen mit Familie zu verteidigen. Relativ häufig gab es entsprechende Klagen vor den Arbeitsgerichten, weil jüngere Leute noch Arbeitsplätze hatten, nachdem ältere bereits entlassen worden waren. Selbstverständlich verschärfte eine solche Politik die sowieso schon starken Konflikte zwischen den Arbeitergenerationen. Es war kein Zufall, daß die Freien Gewerkschaften und ihre sozialdemokratische Brüder sich immer mehr zu Vertretungen der älteren Arbeiterschaft entwickelten, während die K P D ihre Mitglieder eher aus den Reihen der Jugend bzw. der jüngeren Erwachsenen rekrutierte 2 9 .

IV. Passivität und Resignation D i e Wirtschaftskrise und insbesondere die Massen- und Dauerarbeitslosigkeit haben neue Spannungen und Spaltungen innerhalb der deutschen Arbeiterklasse herbeigeführt und bereits bestehende verstärkt: zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Menschen mit und ohne Arbeit wie auch zwischen den Arbeitern unterschiedlicher Fabriken oder Zechen. Eine gemeinsame antifaschistische Aktion wurde da-

27 „ D e u t s c h e B e r g w e r k s z e i t u n g " 15.1.1933. 28 V D A V Bericht v o m 22.4.1931 (Bergbauarchiv 15/184; ebenso 15/1081). 29 B e r g b a u a r c h i v 15/140; 15/142.

Arbeitslosigkeit und deutsche D e m o k r a t i e 1929-1933

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durch erschwert bzw. sogar unmöglich gemacht, zumal es während der Krise nicht nur zu internen Streitigkeiten, sondern auch zu verbreiteter Resignation und Passivität innerhalb der deutschen Arbeiterschaft kam. Das läßt sich nicht nur am deutlichen Rückgang der Arbeitsniederlegungen ablesen 30 , sondern an zahlreichen zeitgenössischen Berichten. So hieß es über die Stimmung der Ruhrbergleute: „Die Wahrheit ist, daß sich die Arbeiter unterwerfen (...), sie wollen das Los der Entlassenen nicht teilen müssen. Die Vorgesetzten aller Grade sagen, daß sie das Personal in der Hand haben und unterstreichen diesen Ausdruck mit den Worten ,Wir haben sie wieder besiegt'"31. Zum gleichen Ergebnis kommt der Bergrevierbeamte Recklinghausen-West: „Man weiß auch in den Belegschaften, daß die Zeiten nicht dazu angetan sind, wirtschaftliche oder arbeitspolitische Streitfragen auszufechten. Vielmehr herrscht eine Resignation vor, die aktive Betätigungen auf diesen Gebieten lähmt" 32 . Ein alter Bergmann aus Hochlamarck erinnert sich: „Eins lernte man damals: die Kumpels hatten Angst vor der Arbeitslosigkeit, und das wurde ausgenützt. (...) Da trat jeder gegen jeden an. (...) Keiner wollte seinen Arbeitsplatz verlieren (...), und du hast immer Angst gehabt, daß dir gekündigt wurde. Die Drohung stand ja da" 33 . Aus diesem Grund stieg ironischerweise die Produktivität der Zechen während der Depression - und sowohl Gewerkschaftsfunktionäre als auch Arbeitergeber mußten zugeben, daß viele Arbeiter Angst davor hatten, sich krank zu melden. Aus demselben Grund verzichteten einige Arbeitnehmer sogar auf ihren Urlaub 34 ! In vielen Fällen stürzte die Arbeitslosigkeit die Betreffenden eher in Apathie und Resignation, als daß sie in radikale Aktionsbereitschaft mündete. 1932 berichtete „Die Arbeit", die Arbeitslosen trügen ihr Los mit „Gleich-

30 Jahr Zahl der Streiks Zahl der Streikenden 2.132.547 1919 3.719 3.807 1920 1.508.370 1921 4.455 1.617.225 1922 4.785 1.895.792 1929 429 189.723 353 223.885 1930 172.139 1931 463 1932 648 129.468 31 Stimmungsbericht des Oberbergamtes Dortmund 14.1.1929, in: Staatsarchiv Münster, Oberbergamt Dortmund 1871. 32 Stimmungsbericht des Bergamtes Herne 23.12.1930, Staatsarchiv Münster, Bergamt Herne A8, 141 33 Zitiert in: Zimmermann, Schwer zu bearbeitendes Pflaster, S. 118 f. 34 Bergbauarchiv 15/137; „Bergbauindustrie" 16.4.1932.

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gültigkeit...[und] leerer Ergebenheit" 3 5 . Im August desselben Jahres meldete die „Herner Zeitung": „als wesentliche Begleiterscheinungen der Erwerbslosigkeit wurden beobachtet: ein starkes Verschwinden der Arbeitslust, das sich in einer allgemeinen Erschlaffung, einem .Sichgehenlassen', einer Abneigung, irgendwelche Widerstände zu überwinden ausdrückte" 3 6 . Das alles bedeutet natürlich nicht, daß die Resignation unmittelbar auf die Entlassung folgte. Einige Arbeitslose berichteten auch über verschiedene Freizeitaktivitäten - Spaziergänge, Sport usw. J e länger jedoch die Arbeitslosigkeit anhielt, desto mehr ließen auch solche Aktivitäten nach. Es kam zu einem regelrechten Verlust der Zeiterfahrung, besonders bei jungen Arbeitslosen. Für die zeitgenössische Sozialarbeiterin Maria Tippelmann „gerät der erwerbslose Jugendliche mit der Zeit leicht in Erschlaffung" 3 7 . Unter diesen Umständen war die deutsche Arbeiterklasse nicht mehr dazu imstande, Vergleichbares zu leisten wie 1920 beim Kapp-Putsch. So verlor die Weimarer Demokratie ihre wichtigste Stütze. Aber die Zersplitterung und Erschlaffung der deutschen Arbeiterklasse war nur eine der fatalen Folgen der Arbeitslosigkeit.

V. Die Regierung Die immer weiter steigende Massen- und Dauererwerbslosigkeit war selbstverständlich ein riesiges Problem für die Finanzsituation des Reiches. Die Arbeitslosen bezahlten keine Steuern und mußten von der staatlichen Wohlfahrt bzw. der Staatsversicherung unterstützt werden. Es ist bezeichnend, daß die Weimarer Regierungskoalitionen hielten, solange sie sich ,nur' mit den Folgen des Versailler Vertrags beschäftigen mußten, die Große Koalition über der Frage der Arbeitslosenversicherung 1929/30 jedoch zusammenbrach. Dies lag nicht zuletzt an den engen Kontakten, die die deutschen Parteien mit bestimmten Wirtschaftsinteressen unterhielten - die SPD beispielsweise mit den Freien Gewerkschaften, die D V P mit verschiedenen Unternehmergruppen.

35 „Die Arbeit" 5 (1931), S. 328. 36 „Herner Anzeiger", 5.8.1932. 37 „Freie Wohlfahrtspflege" 6 (1931), S. 376.

Arbeitslosigkeit und deutsche Demokratie 1 9 2 9 - 1 9 3 3

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VI. Die deutschen Mittelschichten Um die Krise der Staatsfinanzen zu überwinden, betrieben die Regierungen Brüning und von Papen nach 1930 eine Deflationspolitik und kürzten die staatlichen Ausgaben. Teil dieser Politik war auch eine Kürzung der Gelder, die der Zentralstaat den Regionen bzw. Gemeinden zuteilte sowie eine Lastenverschiebung der Wohlfahrtsunterstützung zuungunsten der Länder und Gemeinden. Für die Gemeinden verschärfte sich das Problem noch dadurch, daß die Zahl der Wohlfahrtsarbeitslosen innerhalb der Masse der Erwerbslosen ständig wuchs. Unter diesen Umständen waren Länder und Gemeinden gezwungen, eine Reihe neuer Abgaben - Gewerbe-, Bürger-, und Schlachtsteuer, in Preußen auch eine indirekte Konsumsteuer - einzuführen, die den dem Staat bereits entfremdeten deutschen Mittelstand noch weiter empörten 38 . Aus dem Widerstand gegen diese Steuer- und S o z i a l i sten ergab sich ein Rechtsruck, der diesmal ohne Zweifel der NSDAP zugute kam. So waren letztendlich die indirekten Folgen der Arbeitslosigkeit für den Aufstieg des Nationalsozialismus möglicherweise wichtiger als die Aktivitäten der Arbeitslosen selbst.

38 D. Orlow, Weimar Prussia, Bd. 2, 1925-1933, Pittsburgh 1991, S. 170 f.

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Die Rolle der NSDAP bei der nationalsozialistischen Machtübernahme JEREMY NOAKES

Es sind nunmehr fast 40 Jahre seit dem Erscheinen der bahnbrechenden, inzwischen zum Klassiker gewordenen Geschichte der nationalsozialistischen Machtergreifung von Bracher, Sauer, und Schulz vergangen. 1 Inzwischen liegt eine große Anzahl von lokalen und regionalen Studien vor, die die Geschichte der NS-Machtübernahme behandeln. Der vorliegende Text möchte danach fragen, inwiefern diese regional angelegten Arbeiten zu einem tieferen Verständnis des Geschehens und speziell der Rolle der N S D A P beigetragen haben. Bracher, Sauer und Schulz haben gezeigt, daß das Zusammenspiel zwischen den NS-Ministern in Berlin - Wilhelm Frick als Reichsinnenminister und Hermann Göring als kommissarischem Preussischen Innenminister - und den nationalsozialistischen Organisationen draußen im Lande für die Machtübernahme entscheidend war. Diese Feststellung läßt jedoch offen, welche präzise Rolle die lokalen Parteiorganisationen spielten. Bevor ich mich dieser Frage zuwende, möchte ich die Lage der Partei im Januar 1933 kurz skizzieren. Dabei ist zunächst zu betonen, daß die N S D A P eigentlich gar nicht auf die Machtübernahme vorbereitet war. Es gab nicht nur sehr wenig forward planning, die Partei befand sich sogar in einer ernsthaften Krise. 2 Erstens war es eine Krise der Parteimoral, die nach dem Verlust von 4% der Stimmen bei der vorausgegangenen Reichstags wähl im November 1932 zu einem beträchtlichen Mitgliederschwund geführt hatte. Es handelte sich bei diesem Stimmen- und Mitgliederverlust um den ersten Rückschlag seit 1928, der nur teilweise durch das Ergebnis der Lippischen Landtagswahl im Januar 1933 wettgemacht werden konnte. Zweitens war es eine finanzielle Krise, die die Propagandaarbeit der Partei schwer behinderte. Drittens hatte

1 K. D. Bracher/W. Sauer/G. Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totaltären Herrschaftsystems in Deutschland 1933/34, Opladen 1961. 2 S. z.B. D. Orlow, The History of the Nazi Party 1919-1933, Bd. 1: 1919-1933, Newton Abbot 1969, S.286ff;J. Noakes, The Nazi Party in Lower Saxony 1 9 1 9 - 1 9 3 3 , Oxford 1971, S. 233 ff.; T. Childers, The Limits of National Socialist Mobilization: The Elections of November 1932 and the Fragmentation of the Nazi Constituency, in: ders. (Hg.), The F o r mation of the Nazi Constituency 1 9 1 9 - 1 9 3 3 , London/Sydney 1986, S. 2 3 2 - 2 5 9 .

Die Rolle der N S D A P bei der nationalsozialistischen Machtübernahme

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sich die chronische Spannung zwischen der politischen Organisation der Partei (PO) und der SA, die sich während der vergangenen Jahre entwickelt hatte, weiter zugespitzt. Die Rebellion der fränkischen SA gegen den Gauleiter Julius Streicher war dafür nur ein besonders frappierendes Beispiel. 3 Ein anderes und besonders gravierendes Problem war die Tatsache, daß Hitler den umfangreichen Zentralapparat der Partei, den Gregor Strasser seit 1930 aufgebaut hatte, im Dezember 1932 im Zuge der Strasserkrise zerschlagen und durch eine dualistische Struktur unter Rudolf Hess und Robert Ley ersetzt hatte, die sich für eine effektive Kontrolle und Koordination der Partei als völlig ungeeignet erwies. 4 Was die PO betraf, so war das Ergebnis dieser Umstrukturierung zumindest in der Zeit der Machtübernahme ein erheblicher Machtzuwachs der Gauleiter. Was die Partei als Ganzes anging, erscheint es kaum als übertrieben, von einer Desintegration in ihre einzelnen Komponenten - PO, SA, SS, H J usw. - zu sprechen. 5 Auch der Umstand, daß das Wachstum der NSDAP trotz ihrer bemerkenswerten Entwicklung 1930-1933 nicht überall gleich stark gewesen war, bedeutete ein Problem. Zwar hat die Wahlgeschichtsforschung in letzter Zeit gezeigt, daß die Mitglieder-, bzw. die Wählerbasis der Partei insgesamt breiter war als ursprünglich angenommen. Dennoch aber gab es viele Orte in Deutschland, etwa die Industriegebiete der Großstädte, aber auch industriell geprägte Dörfer und Kleinstädte wie z.B. das Bergarbeiterdorf Penzberg in Bayern, wo die NSDAP Anfang 1933 als signifikanter Faktor im politischen Leben kaum präsent war. Dasselbe galt für viele katholische Gebiete, vor allem im ländlichen Bereich. 6 Außerdem war die Parteibasis, hinsichtlich Mitgliedern und Wählern, insgesamt äußerst labil, weswegen die NSDAP vor 1933 treffend mit einer .Drehtür' verglichen worden ist. In Anbetracht alldessen stellt sich die Frage, wie die NSDAP eine so entscheidende Rolle bei der NS-Machtergreifung spielen konnte. In der Tat hat3 Vgl. E. G. Reiche, The Development of the S A in Nürnberg 1 9 2 2 - 1 9 3 4 , Cambridge 1986, S. 1 4 6 - 1 7 2 . 4 Vgl. O r l o w , History, S. 294 ff. sowie W . Horn, Führerideologie und Parteiorganisation in der N S D A P , Düsseldorf 1972, S. 384 ff. 5 Vgl. J. Noakes, The Nazi Party and the Third Reich: the M y t h and Reality of the OneParty State, in: ders. (Hg.), Government, Party and People in Nazi Germany, Exeter 1980, S. 15 ff. 6 Für Penzberg s. K. Tenfelde, Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900-1945, in: M. Broszat/ E. Fröhlich/A. Grossmann (Hg.), Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Bd. 4, München 1981, S. 1 - 3 8 2 . Für zwei weitere Beispiele unter vielen s. N. Fasse, Das A m t Velen-Ramsdorf 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Bielefeld 1996, S. 199 und U. Rennspiess, Aufstieg des Nationalsozialismus. Eine vergleichende Lokalstudie der Bergbaustädte Ahlen und Kamen i.W., Essen 1993, S. 215.

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te die Partei trotz der vielen Probleme, mit denen sie sich Anfang 1933 konfrontiert sah, auf der anderen Seite auch einige wichtige Vorteile. Der wichtigste Grund für die Krise der Partei hatte in der Tatsache gelegen, daß sie die Machtübernahme bislang verfehlt hatte. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 war die Krise der Moral sofort und die finanzielle Krise sehr bald behoben. Zweitens hatte der Zusammenbruch des zentralen Parteiapparates der NSDAP noch nicht ihre einzelnen Komponenten tangiert, die noch bemerkenswert effektiv arbeiten konnten. Das gilt beispielsweise für den agrarpolitischen Apparat von Richard Walther Darre und, noch wichtiger, für die Reichspropagandaleitung von Joseph Goebbels.7 Auch SA und SS hatten ihre eigenen, mehr oder weniger autonomen Organisationen. Die einzelnen Gauleiter waren ebenfalls fähig und bereit, weitgehend unabhängig zu arbeiten. Das Entscheidende war, daß sich alle über das nächste Ziel einig waren, nämlich die Ergreifung der Macht im Staat. Der zweite Vorteil war die große Integrationskraft der NSDAP. Was ich als Labilität der Partei bezeichnet habe, kann man auch als Offenheit verstehen: als die Bereitschaft, alle Deutschen aufzunehmen und zu integrieren. Die Propagandaversprechungen, die gezielt an die verschiedenen Berufe und sozialen Gruppen gerichtet wurden, die Unbestimmtheit ihrer Vorstellungen von einer Regeneration Deutschlands durch die Schaffung einer neuen Volksgemeinschaft und, last but not least, die in der deutschen Parteigeschichte ganz neue Tatsache, daß die NSDAP in ihrer sozialen Zusammensetzung eine Art Volkspartei darstellte - all diese Eigenschaften schufen ein inklusives Image, das sich - verglichen mit den engen Milieu- bzw. Interessenparteien der Weimarer Republik, die auf bestimmte soziale Schichten, Berufe oder Konfessionen begrenzt waren - im Sinne der Partei durchaus positiv auswirken konnte. Eines der hervorstechenden Merkmale der NS-Machtübernahme war das atemberaubende Tempo, mit dem die Partei die Schalthebel der Macht auf allen Ebenen innerhalb von drei Monaten besetzen konnte. Dieser Erfolg der NSDAP beruhte zu einem wesentlichen Teil auf ihrem ausgeprägten Machthunger. Dieser Machthunger war Reflex einer zweiten Eigenschaft der Partei, die die Machtübernahme erleichterte, nämlich der ungeheuren sozialen Dynamik, die sie enthielt. Martin Broszat war einer der ersten, der in einem brillanten Aufsatz von 1970 auf diesen Tatbestand aufmerksam machte, ein 7 Vgl. H . Gies, N S D A P und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), S. 3 4 1 - 3 7 6 ; ders., Die nationalsozialistische Machtergreifung auf dem agrarpolitischen Sektor, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 16 (1968), S. 2 1 0 - 2 3 2 . Der NS-Propagandaapparat stellte seine Effektivität in den ersten Monaten des Jahres 1933 nachdrücklich unter Beweis.

Die Rolle der N S D A P bei der nationalsozialistischen Machtübernahme

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Aspekt, der später von Detlef Peukert und neuerdings auch von Peter Fritz sche erneut aufgegriffen worden ist. 8 Die Nazis wandten sich an Bevölkerungsgruppen, die radikale Änderungen wünschten, nicht jedoch die Revolution des Proletariats. Die NSDAP war die einzige Partei, die diesem Verlangen zu entsprechen schien. Die betreffenden Gruppen hatten sich bisher mehr oder weniger ausgeschlossen gefühlt; ihre Interessen und Aspirationen empfanden sie als vernachlässigt oder ignoriert. Dies gilt vor allem für die Jugend, und in der Tat rührte vieles von der Schubkraft der NSDAP aus einem Generationskonflikt her, der zum Teil demographische Ursachen hatte. Er war jedoch vor allem Ergebnis der spezifischen Sozialisation einer Generation, die durch die politische Kultur der Kriegszeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt worden war. 9 Diese soziale Dynamik entsprang teilweise einer Ablehnung der alten Besitz- und Bildungsgesellschaft und der Autorität der Honoratioren, der die Hoffnung auf eine neue Meritokratie, eine Leistungsgemeinschaft entsprach, die auf die Wiedergewinnung nationaler Größe ausgerichtet sein würde. Die Angehörigen dieser Generation neigten dazu, ihre persönliche Identität und ihr Selbstwertgefühl mit dem Zustand der Nation zu verbinden. Dieser Veränderungsdruck war vor allem für die Aktivisten innerhalb der Partei bezeichnend, die die Machtübernahme ohne irgendwelchen politischen oder moralischen Skrupel durchgeführt haben. Dazu gehörte einerseits die Parteiführerschaft, d.h. die sogenannten Hoheitsträger: Gauleiter, Kreis- und Ortsgruppenleiter sowie die Führer von SA und SS; aber auch ein Teil der Parteibasis, vor allem in SA und SS. Was für Menschen waren diese Aktivisten? Auch auf lokaler Ebene scheint sich die These zu bestätigen, daß die Parteiführer häufig in irgendeiner Form als .Außenseiter' gelten können: Sie waren zum Beispiel Mitglieder einer evangelischen Minorität in einem katholischen Milieu wie im badischen Ettlingen, Vertreter der antiklerikalen Richtung in einem sonst stark katholischen Umfeld wie in Bamberg oder im südlichen Schwarzwald, sie waren erst vor relativ kurzer Zeit zugezogen wie im niedersächsischen Osterode oder Bauernsöhne wie im hessischen Körle, die sich im Unterschied zu ihren konservativen Vätern für die Partei engagierten

8 M. Broszat, Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18 (1970), S. 392-409. D. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 37 ff.; P. Fritzsche, Germans into Nazis Cambridge (Mass.) 1998. 9 Vgl. z.B. U. Herbert, „Generation der Sachlichkeit". Die völkische Studentenbewegung der frühen Zwanziger Jahre in Deutschland, in: F. Bajohr/W. Johe/U. Lohalm (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 1 1 5 - 1 4 4 . 222

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- Menschen also, die aus irgendeinem Grund nicht zum lokalen Establishment gehörten. 10 Andererseits waren viele dieser .Außenseiter' gut ausgebildet, entweder als Akademiker wie Arzte, Zahnärzte, Tierärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Pfarrer und Beamte des gehobenen Dienstes oder als Angestellte. Viele kamen aus den Geburtsjahrgängen 1890-1905, die als sehr junge Männer am Krieg teilgenommen oder die Teilnahme gerade verpaßt hatten, und waren Mitglied bei einem Freikorps und/oder einem paramilitärischen Verband gewesen. Viele auch waren Anhänger der völkischen Bewegung der frühen zwanziger Jahre gewesen. Ulrich Herberts Biographie Werner Bests beschreibt ein in vielerlei Hinsicht typisches Beispiel aus dieser Gruppe, auch wenn die meisten ein viel kleineres Format hatten. 11 Das Selbstverständnis, mit dem diese Aktivisten an die Machtübernahme gingen, wird in einer Erklärung des Ortsgruppenleiters der westfälischen Kleinstadt Bünde deutlich. Diese war eine Entgegnung auf den Bürgermeister, der seine Weigerung, am 7. März das Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Dach des Rathauses zu gestatten, damit begründet hatte, daß das Rathaus eine allgemeine und unparteiische Einrichtung sei und nicht nur einer Partei zu dienen habe. Die Antwort des Ortsgruppenleiters lautete: „Der Herr Bürgermeister operiert immer mit dem Begriff .Partei'. Er hat nicht begriffen, dass die N S D A P nicht eine Partei im Sinne des Liberalismus ist, sondern eine Volksbewegung darstellt, etwas durchaus Neuartiges, eine revolutionäre Umgestaltung des deutschen Denkens und Handelns bedeutet (...). Er hat nicht verstanden, daß diese Bewegung durch das Ergebnis des vorigen Sonntags Volk geworden ist, und daß diese .Partei' damit das heilige Recht

10 Für Ettlingen s. C . Rauh-Kühne, Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft. Ettlingen 1918-1939, Sigmaringen 1991, S. 246 ff. Für Bamberg s. W . K. Blessing, „Deutschland in N o t , wir im Glauben..." Kirche und Kirchenvolk in einer katholischen Region 1933— 1949, in: M. Broszat u.a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1990, S. 3 - 1 1 1 . Für den südlichen Schwarzwald s. O . Herilbronner, The Failure that Succeeded. Nazi Party Activity in a Catholic Region in Germany 1929-33, in: Journal of Contemporary History 27 (1992), S. 5 3 1 - 5 4 9 und ders., Der verlassene Stammtisch. Vom Verfall der bürgerlichen Infrastruktur und dem Aufstieg der N S D A P am Beispiel der Region Schwarzwald, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 178-201. Für Osterode siehe W . Struve, Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus in einer industriellen Kleinstadt. Osterode am H a r z 1918-1945, Essen 1992, S. 71 ff. Für Körle s. K. Wagner/G. Wilke, Dorfleben im Dritten Reich: Körle in Hessen, in: E. Hennig u.a. (Hg), Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der N S D A P in Hessen, Frankfurt a.M. 1984, S. 1 0 7 - 1 1 6 . 11 U . Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1 9 0 3 - 1 9 8 9 , Bonn 1996. S. auch J. Banach, Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1 9 3 6 - 1 9 4 3 , Paderborn 1998.

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und die verfluchte Pflicht hat, am Tage des herrlichsten Sieges, den sie bisher errungen, auch auf sämtlichen Gebäuden des Staates, der ja nur die äußere Form des Volkes darstellt, das Symbol des neuen Volkes flatternd hochsteigen zu lassen". 12 Daneben gab es die Aktivisten an der Parteibasis und vor allem in der SA und SS.13 Viele davon waren junge Arbeitslose, Mitglieder jener .überflüssigen Generation', die .zwischen Krieg und Krise' aufwuchsen und für die der Ubergang in die Erwachsenenwelt der Weimarer Republik extrem problematisch war. Sie fanden in der NS-Bewegung eine Quelle materieller Unterstützung, neue Hoffnung auf die Zukunft, und vor allem einen Lebenssinn. Ihr Verhältnis zur Partei war weniger durch ideologische Ubereinstimmung als vielmehr durch die konkrete Erwartung materieller Vorteile bestimmt, obwohl sie die ideologischen Feindbilder der Partei durchaus aufnahmen und teilten. Es waren diese beiden Gruppen, die der NSDAP ihre ungeheure Durchschlagskraft verliehen, als sie sich Ende Januar 1933 anschickte, in Deutschland die Macht zu übernehmen. Diese Dynamik wurde von der Präsenz einer dritten Gruppe von Anhängern, die Rudy Koshar „Joiners" genannt hat, zunächst teilweise kaschiert. 14 Diese „Joiners" waren Menschen, die in der jeweiligen lokalen Gesellschaft gut integriert waren, angesehene Bürger, die oft Mitglieder oder gar Führer von Vereinen waren. Diese Gruppe hat eine unerläßliche Brückenfunktion wahrgenommen, um die Akzeptanz der Partei zu erleichtern und die schnelle Gleichschaltung des Bürgertums 1933 zu ermöglichen. Der Beitrag der NSDAP zur NS-Machtübernahme bestand aus einer Kombination von Terror und Propaganda. Einerseits vermochte der Terror seitens der SA und SS, möglich gemacht durch die Unterstützung der Staatsbehörden, die aktiven Gegner der Partei vor allem auf der politischen Linken auszuschalten und die Bevölkerung nachhaltig einzuschüchtern. Andererseits hat die Partei eine glänzende Propagandakampagne geführt, die zum Teil von 12 N. Sahrhage, Bünde zwischen „Machtergreifung" und Entnazifizierung. Geschichte einer westfälischen Kleinstadt von 1929 bis 1933, Bielefeld 1990, S. 96. 13 R. Bessel, Political Violence and the Rise of Nazism. The Storm Troopers in Eastern Germany 1 9 2 5 - 1 9 3 4 , N e w Haven 1984; C. Fischer, Stormtroopers. A Social, Economic and Ideological Analysis 1929-35, London 1983; M. Jamin, Zwischen den Klassen. Zur Sozialstruktur der SA-Führerschaft, Wuppertal 1984; P. Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989; H. Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1981; R. L. Koehl, The Black Corps. The Structure and Power Struggles of the Nazi SS, Madison 1983; B. Wegner, Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , Paderborn 1982. 14 R. Koshar, Social Life, Local Politics, and Nazism. Marburg 1 8 8 0 - 1 9 3 5 , Chapel Hill 1986, S. 2 1 0 ff.

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oben, d.h. vom neuen Propagandaministerium und von der NS-Reichspropagandaleitung gelenkt, zum Teil durch die lokalen Parteiinstanzen initiiert wurde. Diese Propagandaaktion bestand aus einer monatelangen, ununterbrochenen Kette von Großereignissen: der Märzwahlkampagne, dem „Tag von Potsdam", der mit seiner quasi-religiösen Rhetorik und entsprechenden Ritualen eine ungeheure Wirkung auf das Bürgertum ausübte 15 , der feierlichen Eröffnung der neuen Gemeindeparlamente Anfang April, Hitlers Geburtstag, dem 1. Mai, usw. Diese Kampagne hat die Bevölkerung in einem Zustand dauernder Mobilisierung gehalten uud Entscheidendes zur Atmosphäre der sogenannten .nationalen Erhebung' und damit zur Selbstgleichschaltung des Bürgertums beigetragen. 16 Im folgenden soll es um die Frage gehen, ob es eine entsprechende Strategie für die Partei als Ganzes gab, d.h. inwiefern die lokalen Aktivitäten der NSDAP einem gemeinsamen Plan folgten und von oben gelenkt und koordiniert wurden - und wenn ja, auf welcher Ebene und von wem. Wie wichtig waren demgegenüber lokale Initiativen? Gab es eine Art .Revolution von unten'? Wie hat die Partei versucht, die verschiedenen Milieus zu durchdringen und gleichzuschalten? Hat die NSDAP 1933 eine Revolution durchgeführt? Die zahlreichen Lokalstudien, die inzwischen erschienen sind, zeichnen ein sehr differenziertes und vielfältiges Bild von der NS-Machtübernahme auf Kreis- und Gemeindeebene. Jede lokale Parteiorganisation, so wird in diesen Arbeiten deutlich, mußte bei ihrem Vorgehen ortsbedingte Faktoren berücksichtigen. Obwohl es bestimmte Rituale gab, die fast jede lokale Machtübernahme begleiteten, wie etwa das Hissen von Fahnen auf Staatsund Kommunalgebäuden nach der Märzwahl und das Zeremoniell bei der ersten Sitzung der neuen Gemeindeparlamente mit ihren Straßenbenennungen, Ehrenbürgerschaften für Hitler und Hindenburg usw., ist es bislang unklar, ob und von welcher Ebene diese zentral angeordnet worden sind oder ob sie vielmehr auf lokale Initiativen zurückgehen. Wenn es überhaupt eine Koordination von oben gab, so steht angesichts des Mangels an einem starken zentralen Parteiapparat zu vermuten, daß diese von der Gauebene ausging. Es gibt auch gewisse Hinweise darauf, daß in Preußen, wo Göring während der fünf Wochen vor der eigentlichen Machtübernahme Zeit gehabt hatte, seine Macht zu etablieren, die preußischen Behörden, im Vergleich zu den Ländern, die erst zwischen dem 6. und 9. März gleichgeschaltet wurden, ihre Autorität in diesem Prozeß effektiver durchsetzen konnten.

15 W . Freitag, Nationale Mythen und kirchliches Heil: Der „Tag von Potsdam" in: Westfälische Forschungen 41 (1991), S. 3 7 9 - 4 3 0 . 16 Vgl. immer noch Bracher/Sauer/Schulz, Nationalsozialistische Machtergreifung, S. 75-219.

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In seiner Studie über den Landkreis Aachen machte Walter Pehle einen Unterschied zwischen den Regierungsbezirks- und Kreisebenen, wo es keine Parteirevolution ,von unten' gab und sich weitgehend das Ministerium durchsetzen konnte und der Gemeindeebene aus, wo die Gauleitung es den NS-Ortsgruppen überließ, Bürgermeister abzusetzen und, wie häufig geschehen, mit dem Ortsgruppenleiter zu ersetzen. 17 Für Osterode im preußischen Regierungsbezirk Hildesheim behauptet auch Walter Struve, wenn auch wohl etwas übertreibend, daß „selbst bis hinunter zu den Einzelheiten der kommunalen Ereignisse die .nationale Erhebung' von oben inszeniert wurde": damit meint er die Behörden und nicht die Partei. 18 In Hessen war es dagegen Gauleiter Sprenger, der die Initiative ergriff. In den Dreieichgemeinden in der Nähe von Frankfurt am Main, kann, so eine entsprechende Studie, „kaum ein Zweifel bestehen, daß die Machtergreifung in den Kommunen Teil eines auf der Ebene der NSDAP-Parteizentrale des Gaues Hessen-Nassau geplanten und von dort gelenkten Vorhabens war". 1 9 Dieses Urteil muß man jedoch, so glaube ich, einer weiteren Prüfung unterziehen. Dieter Rebentisch geht zwar in seiner Arbeit über eine von diesen Gemeinden, Neu-Isenhagen, ebenfalls davon aus, daß das Vorgehen am 6. März, das die Machtergreifung einleitete, „von der Parteizentrale des Gaues Hessen-Nassau einheitlich gesteuert wurde", spricht allerdings später von „teils gelenktem, teils eigengesetzlich ablaufendem Terror" und von der „Unkontrollierbarkeit und Eigendynamik des revolutionären Terrors" im Frühjahr 1933. 20 Auch in der Pfalz wurde die Initiative von Gauleiter Bürckel ergriffen, der am Abend des 9. März an einem Zug der SA und SS zur Polizeidirektion in Kaiserslautern teilnahm und dort die Absetzung des Polizeichefs verkündete, bevor er Instruktionen vom neuen NS-Innenminister in München erhalten hatte. 21 Andererseits stand die Gauleitung den lokalen Aktionen in der Pfalz anscheinend ebenso machtlos gegenüber wie die staatlichen Aufsichtsbehör17 W. H . Pehle, Die nationalsozialistische Machtergreifung im Regierungsbezirk Aachen unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen und kommunalen Verwaltung 1922-1933, Bd. 1, Düsseldorf 1976, S. 405 ff. 18 Struve, Aufstieg und Herrschaft, S. 180. 19 H . Vogel, Nationalsozialismus in der Dreieich. Aufstieg und Herrschaft der N S D A P im heterogen strukturierten Lebens- und Erfahrungsraum des südlichen Frankfurter Umlandes, Darmstadt/Marburg 1991, S. 89. 20 D. Rebentisch/A. Raab, Neu-Isenburg zwischen Anpassung und Widerstand. Dokumente über Lebensbedingungen und politisches Verhalten, Neu-Isenburg 1978, S. 51-53. 21 L. Meinzer, „Die Pfalz wird braun". Machtergreifung und Gleichschaltung in der bayerischen Provinz, in: G. Nestler/H. Ziegler (Hg.), Die Pfalz unterm Hakenkreuz. Eine deutsche Provinz während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, Landau/Pfalz 1993, S. 42-44. 226

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den; insofern ist schwerlich von einer effektiven Koordination der lokalen Machtergreifung auf Gauebene zu reden. Im Zuge meiner eigenen Forschungen über den Kreis Kronach habe ich feststellen können, daß Gauleiter Schemm nach der Märzwahl eine Kreisleitertagung abhielt, auf der die Kreisleiter Direktiven zur Durchführung der lokalen Machtübernahme erhielten. 22 Die Koordinierung des Gleichschaltungsprozesses in ihren jeweiligen Kreisen wurde ihnen jedoch weitgehend selbst überlassen. Welche Strategie hat die N S D A P nun bei der Gleichschaltung auf Lokalebene verfolgt und welche Wirkungen hatte dies auf die weitere Entwicklung der Machtverhältnisse? Kann man für 1933 von einer nationalsozialistischen Revolution auf Lokalebene sprechen? Zweifelsohne ging es der Partei darum, ihre Macht so schnell und so weitgehend wie möglich durchzusetzen. Andererseits mußte dieser Prozeß so reibungslos wie möglich ablaufen - und vor allem galt es, die neuen Machtverhältnisse auf Dauer zu sichern. Ich möchte behaupten, daß die Form der Machtübernahme auf Lokalebene vor allem durch vier Faktoren bestimmt wurde: Erstens durch die soziale Zusammensetzung und politische Kultur der jeweiligen Gemeinde; zweitens durch die Verankerung der N S D A P in der bestehenden Gemeindeelite; drittens durch den Stand des Ausbaus der Parteiorganisation in der jeweiligen Gemeinde; und viertens durch die Persönlichkeit des lokalen Parteiführers. 23 D a s relative Gewicht dieser vier Faktoren war natürlich von Gemeinde zu Gemeinde verschieden. Bei einer überwiegend aus Arbeitern bestehenden Gemeinde mit einer starken linken politischen Kultur, wie z.B. im Falle der Bergarbeiterstadt Penzberg in Oberbayern, wo die Partei nur wenig Rückhalt hatte, mußte sie mit großer Vorsicht und verhältnismäßig langsam vorgehen. Sie konnte zwar rasch die K P D unterdrücken. Die Anhänger der S P D - und sogar sozialdemokratische Funktionäre - wurden jedoch zurückhaltender behandelt. 24 N a c h Klaus Tenfelde zog sich die Machtübernahme deshalb bis zum Frühjahr 1934 hin. In vielen Fällen konnten selbst ehedem prominente Sozialdemokraten weiterhin Vereinsfunktionen wahrnehmen, solange sie sich nur gefügig zeigten. Dabei spielte es eine Rolle, daß die NS-Ortsgruppe damals eine relativ moderate, .bürgerliche' Führung hatte. Wahrscheinlich aufgrund der relativ schwachen Parteiorganisation in Penzberg scheint die Machtübernahme in den kommunalen Selbstverwaltungsorganisationen und die spätere Gleichschaltung weitgehend durch die Kreisbehörde selbst durchgeführt worden zu sein.

22 „ D e r Fränkische W a l d " , 6.3.1933. 23 Vgl. auch Z. Z o f k a , Dorfeliten u n d N S D A P . Fallbeispiele der Gleichschaltung aus d e m B e z i r k G ü n z b u r g , in: B r o s z a t / F r ö h l i c h / G r o s s m a n n , Bayern in der N S - Z e i t , S. 401. 24 T e n f e l d e , Proletarische Provinz, S. 2 2 1 - 2 5 6 .

D i e Rolle der N S D A P bei der nationalsozialistischen M a c h t ü b e r n a h m e

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Eine ähnliche Situation existierte in ländlichen Gegenden, vor allem dort, wo es ein starkes katholisches Milieu gab. Hier mußte die Partei darauf bedacht sein, die Gemeindeelite zu integrieren. Für Günzburg im bayerischen Schwaben hat Zofka gezeigt, wie vorsichtig die NSDAP vorgegangen ist. Ihr Handeln zielte nicht nur darauf ab, den eigenen politisch-weltanschaulichen Willen durchzusetzen, sondern gleichzeitig auch darauf, die vor 1933 vielfach von gesellschaftlichen Außenseitern bestimmte NS-Bewegung nunmehr als Herrschaftspartei salon- und integrationsfähig zu machen - zwei Anliegen, die einander nicht selten zuwiderlaufen mußten. 25 Sie wollte also möglichst viele von den alten BVP- oder Bauernbundangehörigen unter den Gemeindehonoratioren in das neue Regime integrieren. Diese Strategie war sehr erfolgreich, nicht zuletzt, weil viele Mitglieder der Gemeindeeliten bereit waren, der Partei weit entgegenzukommen, um ihre alten Positionen zu behalten. Manchmal wurden sie auch von Kollegen oder dem Dorfpfarrer dazu gedrängt, um dem Dorf mögliche Repressionen zu ersparen. Schließlich lagen viele ihrer eigenen politischen Ansichten gar nicht so weit von denen der NSDAP entfernt. In ganz Bayern hatten 80% der nach der Machtergreifung amtierenden Landbürgermeister vor 1933 nicht der NSDAP angehört; 40% waren 1935 immer noch nicht Parteigenossen. 26 In Günzburg blieben 35 von 67 der vor 1933 amtierenden Bürgermeister nach der Gleichschaltung im Amt, obwohl sehr wenige damals die NSDAP unterstützt hatten. Diese Integrationsstrategie wurde der Partei z.T. durch die Gegebenheiten aufgezwungen. Denn, wie Zofka zugibt, waren dem Machtanspruch und den Interventionsmöglichkeiten der Kreisleiter enge Grenzen gesetzt. Der beschränkte Zeitraum, der für die Durchführung der Gleichschaltung zur Verfügung stand, die große Zahl der Gemeinden, die Unmöglichkeit umfassender Detailkenntnisse über die jeweilige Ausgangssituation in den einzelnen Gemeinden, vor allem die sehr begrenzte Zahl von Alten Kämpfern, die für solche Posten geeignet waren - all diese Faktoren, die im Untersuchungsgebiet überall verbreitet waren, hemmten den Einfluß der Kreisleiter auf die Personalpolitik in den Gemeinden. In einem anderen Kreis im Gau Schwaben, Memmingen-Land, war die Situation ähnlich. 27 Unter den 24 NSDAP-Bürgermeistern des Bezirks, die von

25 Zofka, Dorfeliten, S. 392-423. 26 Ebd., S. 397-398. s. auch Z. Zofka, Die Ausbreitung des Nationalsozialismus auf dem Lande. Eine regionale Fallstudie zur politischen Einstellung der Landbevölkerung in der Zeit des Aufstiegs und der Machtergreifung der N S D A P 1928-1936, München 1978, S. 51. 27 E. Fröhlich/M. Broszat, Politische und soziale Macht auf dem Lande. Die Durchsetzung der N S D A P im Kreis Memmingen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 546-572.

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1933-36 noch im Amt geblieben waren, befanden sich nur sieben Altparteigenossen; die anderen siebzehn hatten sich der NSDAP erst im Frühjahr 1933 angeschlossen. Zehn von ihnen waren (offenbar vorher parteilose) Altbürgermeister, die dieses Amt zum Teil schon seit Jahren innehatten. Weitere zehn Alt-Bürgermeister der BVP konnten sich dann ab 1933 als parteilose Bürgermeister bis 1936 (oder länger) halten. Solche Verhältnisse gab es jedoch nicht nur in den ländlichen und überwiegend katholischen Gebieten in Süddeutschland, sondern auch im überwiegend evangelischen Niedersachsen. Beatrix Herlemann hat einen interessanten Vergleich zwischen dortigen Kreisen verschiedener Sozialstruktur durchgeführt. 28 Im Landkreis Bückeburg etwa, der vom Bergbau geprägt und SPD-dominiert war, wurden 25 von 33 Bürgermeistern, d.h. ungefähr drei Viertel, nach der Wiederwahl nicht bestätigt und durch einen von der Mehrheit der dortigen Bevölkerung unerwünschten Vorsteher ersetzt. Im benachbarten Kreis Stadthagen, wo der bäuerliche Anteil der Bevölkerung weit höher lag als in Bückeburg, wurden 23 von 33 amtierenden Bürgermeistern nach ihrer Wiederwahl bestätigt. Es waren in diesem Landkreis vier Gemeindevorsteher vor 1933 in die NSDAP eingetreten, 20 traten im Frühjahr 1933 ein, sieben in den Jahren 1934-37. Die Ergebnisse von Herlemann bestätigen mithin den Befund aus den bayerischen Kreisen und dem Landkreis Aachen: in sozial gemischten Kreisen, wo linke Parteien dominierten, wurde rigoros durchgegriffen und die SPD Bürgermeister schnell ersetzt, in überwiegend ländlichen Gemeinden, ob katholisch oder evangelisch, wurde eine weitgehende Zurückhaltung geübt. Die Gründe für dieses Verhalten waren in Niedersachsen die gleichen wie in Bayern. In Norddeutschland war diese Strategie für die NSDAP noch einträglicher, denn meistens hatte man dort statt potentiell resistenter BVP- oder BBGemeindevorsteher und -räte evangelische, national-konservativ eingestellte Gemeindeeliten zu bestätigen, die ohnehin Sympathie für viele Aspekte der neuen Ordnung hatten. In all diesen ländlichen Kreisen, ob in Niedersachsen oder Bayern, gab es 1933 auch eine hohe personelle Kontinuität bei der Ernennung von Vereinsvorständen und -ausschüssen. Zur Frage, ob die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 eine Revolution darstellte, gibt es eine lange und kontrovers geführte Forschungsdebatte, in die ich an dieser Stelle nicht eingreifen möchte - natürlich hängt die Antwort vor allem von der Definition ab, dem man dem Terminus .Revolu-

28 Für das Folgende s. B. Herlemann, „Der Bauer klebt am Hergebrachten". Bäuerliche Verhaltensweisen unterm Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heutigen Landes Niedersachsen, Hannover 1993.

Die Rolle der N S D A P bei der nationalsozialistischen Machtübernahme

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tion' zu geben gewillt ist. 29 Aus der Perspektive der demokratischen Kräfte Deutschlands stellte sich die Machtergreifung gewiß als revolutionäres Geschehen dar. In seiner Dokumentensammlung über Neu-Isenhagen im .Dritten Reich', eine hauptsächlich von der Arbeiterschaft und den Linksparteien beherrschte Stadt in der Nähe von Frankfurt am Main, wo die N S Machtübernahme besonders rücksichtslos vonstatten ging, hat Dieter Rebentisch diese Perspektive folgendermaßen zusammengefaßt: „Nicht nur hatten die in den Ereignissen selbst Handelnden das Bewußtsein, als Revolutionäre tätig zu sein, sondern es treten auch in der nachträglichen Analyse dieses gewaltsamen Umsturzes alle Merkmale hervor, die eine echte Revolution kennzeichnen. Schneller, tiefgreifender und entschlossener als durch Hitler und die N S D A P ist selten eine Staatsordnung verändert worden. Die radikale rassistische Ideologie und der bedingungslose Glaube an eine welthistorische Sendung, die rücksichtslose Ausübung terroristischer Gewalt und die virtuose Technik der Massenlenkung sind konstitutive Elemente einer politischen Revolution." 3 0 Wenn man jedoch die Ereignisse in vielen Landgemeinden und auch in manchen Kleinstädten betrachtet, dann erscheint die NS-Machtübernahme viel weniger revolutionär. Hier kann man, meine ich, wenn überhaupt, nur von einer schleichenden Revolution sprechen, die allerdings während der Folgejahre gravierende Veränderungen mit sich brachte.

29 Für einen äußerst nützlichen Überblick über die entsprechende Forschungsdiskussion s. das Kapitel „The Third Reich: 'Social Reaction' or 'Social Revolution'?" in: I. Kershaw, The N a z i Dictatorship. Problems and Perspectives of Interpretation, London 1993, S. 131-149. Vgl. auch die Beiträge von Hans Mommsen und David Schoenbaum in diesem Band. 30 Rebentisch/Raab, Neu-Isenburg, S. 47. 230

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Hitlers Machtergreifung in der Sicht polnischer Parteien H E N R Y K OLSZEWSKI

Bevor wir zum eigentlichen Thema dieses Beitrags kommen können, sind einige Vorbemerkungen vonnöten. So ist zum Verständnis der Problematik zu berücksichtigen, daß die Polen mit einem erheblichen Ballast aus Komplexen und Deformationen in die Periode ihrer zweiten Unabhängigkeit eingetreten waren: Mit einer allgemeinen Sehnsucht nach Wiederherstellung eines eigenen Staates zwar, aber innerlich gespalten; mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft, aber voneinander entfremdet durch unterschiedliche kulturelle Erfahrungen, Lebensbedingungen und politische Ansichten. Die Epoche der Teilungen hatte der Mentalität der Menschen ihren Stempel aufgedrückt, über Analogien und Differenzen in der Sichtweise gemeinsamer Probleme entschieden, für die Herausbildung von Mythen und Stereotypen gesorgt. Diese kamen in der Einstellung zum Deutschen Reich und den Deutschen mit am deutlichsten zum Ausdruck. Im Urteil eines großen Teils der polnischen Bevölkerung war Deutschland mit Preußen identisch; die negative Einstellung zu den Preußen wurde - insbesondere nach der Reichsgründung - auf alle Deutschen ausgedehnt. Der Preußen-Deutsche trat hierbei die Nachfolge des einstigen Ordensritters an, des uralten Feindes also. So erklärte einer der bekanntesten Intellektuellen aus dem nationaldemokratischen Lager, Roman Rybarski, Professor für Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Posen: „Das auf fremdem Leid aufgebaute Preußen hat den deutschen Geist vergiftet und demoralisiert, es hat im deutschen Volk die großen Ideen und die edlen Gefühle abgetötet." 1 Er wies darauf hin, daß die Deutschen zur Polenfeindschaft nahezu gezwungen seien, weil jede denkbare Lösung der .deutschen Frage' nur über eine Nichtbeantwortung der .polnischen Frage' möglich war. Die preußischen Eigenschaften der Deutschen, so Rybarski, seien immun gegen Zeit und äußere Umstände. Eine nicht geringere Bedeutung - dies als zweite Vorbemerkung - hatte auch die politische Realität der Nachkriegszeit, die Wege und Irrwege, die

1 R. R y b a r s k i , Sita i p r a w o [Macht u n d Recht], W a r s c h a u 1936, S. 84.

Hitlers M a c h t e r o b e r u n g in der Sicht polnischer Parteien

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die Entwicklung der Zweiten Republik kennzeichneten 2 . Seit Mitte der zwanziger Jahre wurde bekanntlich eine demokratische Entwicklung Polens immer mehr zweifelhaft und schließlich ganz abgeschnitten. Nach dem Maiumsturz Pilsudskis im Jahre 1926 rückte der junge Staat zunehmend nach rechts, in Richtung eines autoritären Systems. Dies veranlaßte polnische Politiker und Ideologen, die Entwicklung Polens vor dem gesamteuropäischen Hintergrund aufmerksam zu verfolgen. So richtete sich bereits seit den frühen zwanziger Jahre der Blick vieler auf Italien. Zwar distanzierte sich das Regierungslager formal von Mussolini: Marschall Pilsudski selbst schätzte den ,Duce' nicht und beabsichtigte keineswegs - wie er gerne hervorhob - ihn „nachzuäffen". Die offiziell verkündete Botschaft des Regierungslagers lautete, Polen werde bei der Lösung seiner Probleme seinen eigenen Weg gehen. Dennoch fehlte es in den Kreisen der sogenannten Sanacja nicht an Sympathiebekundungen und Begeisterung für den Faschismus. Der Zerschlagung des italienischen Vielparteiensystems, dem „Streben nach unmittelbarem Handeln" und dem integralen Syndikalismus wurde Verständnis entgegengebracht. Der politische Schriftsteller Boleslaw Borowik würdigte den faschistischen Staat sogar als das „in Wirklichkeit fortschrittlichste System" 3 , was er wie folgt begründete: „Der Faschismus verspricht nicht den Himmel auf Erden, nicht einmal eine mystische materielle Gleichheit. Dennoch aber gibt er den Menschen Arbeit, Brot und finanzielle Hilfe, wenn es notwendig ist. Er erlaubt einem jeden, seine Kräfte und Fähigkeiten frei zu entwickeln und reduziert den Menschen nicht auf ein unpersönliches Kollektiv" 4 . Am meisten Aufmerksamkeit weckte der Faschismus in den Kreisen der Nationaldemokraten. Sie waren von seiner brutalen Durchsetzungsfähigkeit fasziniert und von der kraftvollen Effizienz seines Handelns und seinem eindeutigen Antikommunismus begeistert. Außerdem zeigten sich die Theoretiker des nationaldemokratischen Lagers von der Idee des Korporativismus und vom Führerprinzip beeindruckt. Roman Dmowski vertrat die Ansicht, der Faschismus verkörpere „das aufrichtige Streben, dem Vaterlande eine sichere Zukunft aufzubauen": Er habe sich dazu in der Lage erwiesen, „unter großen Anstrengungen die Elemente der moralischen, sittlichen und religiösen Zersetzung aus dem Leben der Nation hinauszufegen". Der Faschismus

2 S. die Ausführungen von H. Olszewski, Der Nationalsozialismus im Urteil der polnischen Kräfte Polens, in: U . Büttner (Hg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 1: Ideologie - Herrschaftssystem - Wirkung in Europa, Hamburg 1986, S. 5 2 7 - 5 5 5 . 3 B. Borowik, Ekonomiczny system faszyzmu [Das ökonomische System des Faschismus], Warschau 1926, S. 3. 4 Ebd., S. 8.

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stelle den „ersten großen Versuch im Kampf gegen die politische Krise der Zivilisation" dar, „die erste nationale Bewegung in Europa, die in ihrem Kampf gegen den Marxismus marxistische Methoden" anwende 5 . Die Leistungen des Faschismus für die Freiheit könnten nur von „freimaurerischen Liberalen" angezweifelt werden. Das Verhältnis zum Nationalsozialismus dagegen unterschied sich von der Einstellung zum italienischen Faschismus sowohl inhaltlich als auch bezüglich seiner chronologischen Entwicklung. Der Nationalsozialismus war für die Polen nicht so sehr ein theoretisches Problem als vielmehr eine Frage der politischen Praxis. So rief er in den ersten Jahren seiner Existenz keine größere Resonanz hervor: Er schien ein bedeutungsloses Übergangsphänomen ohne politische Zukunftschancen zu sein. Die Wirklichkeit war die Weimarer Republik mit ihrer unversöhnlichen Politik gegenüber Polen. Die N S D A P blieb im Schatten der Deutschnationalen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei. Die Bedeutung Hitlers trat hinter der Hugenbergs und Stresemanns zurück. Die polnischen Befürchtungen, Vorurteile und Feindbilder gegenüber ihren deutschen Nachbarn schienen sich durch die deutsche Ostpolitik nur zu bestätigen. Die Einschätzung der Lage änderte sich erst in den letzten Jahren der Weimarer Republik, parallel zum Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung einerseits und zur Verschärfung des politischen Kurses Pilsudskis andererseits. Die Stellungnahmen der Parteien zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933 enthalten jedoch nach wie vor sehr unterschiedliche, schwankende und unvollständige Bewertungen. Ein Uberblick über die Standpunkte der Parteien müßte mit den Kommunisten beginnen, auf die ich jedoch nicht näher eingehen möchte, weil die Kommunistische Partei Polens kein eigenständiger Bestandteil der polnischen ideellen Landschaft war, sondern lediglich die agenturale Haltung der 3. Internationale an den Tag legte. Die dem Klassengedanken entsprechende Interpretation des Faschismus als ein internationales kapitalistisches Krisenphänomen ließ den polnischen Kommunisten nur wenig Spielraum. Immerhin erblickten sie im sogenannten deutschen Faschismus eine Kriegsgefahr und prophezeiten, Hitler werde die Sowjetunion angreifen 6 . Anders müssen die Meinungen innerhalb der Polnischen Sozialistischen Partei beurteilt werden. Sie bildeten ein buntes Panorama. Auch die Soziali5 R. Dmowksi, Przewrot [Der Umsturz], Warschau 1934, S. 393. 6 H . Olszewski, N a u k a historii w upadku. Studium o historiografii i ideologii historycznej w imperialistycznych Niemczech [Die Geschichtswissenschaft in der Krise. Eine Studie zur Historiographie und historischen Ideologie im imperialistischen Deutschland], Warschau/Posen 1982, S. 170 ff. Hitlers Machteroberung in der Sicht polnischer Parteien

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sten legten keine vollständige Analyse des Nationalsozialismus vor. Viele Fragen entgingen ihrer Aufmerksamkeit, andere Beobachtungen waren unzutreffend; manchmal erwiesen sich die Repräsentanten der PPS geradezu als naiv. Zu einer Reihe von Problemen vertraten sie allerdings einen interessanten Standpunkt, indem sie bestimmte Züge des Nationalsozialismus aufdeckten und einer scharfen Kritik unterzogen. Die PPS - eine der verdientesten Parteien Polens, die in der Gesellschaft große Popularität genoß beobachtete die Erfolge der N S D A P sehr aufmerksam und gehörte bei aller analytischen Unzulänglichkeit zu ihren entschiedendsten Kritikern. Deutschland - hoben die sozialistischen Parteiführer hervor - sei „ein einzigartiges Laboratorium", in dem „die Vision gesellschaftlicher Umwälzungen Realität werden" könne. Der Nationalsozialismus sei ein Produkt der Katastrophe des Jahres 1918, ein Ausdruck der Frustration der Besiegten, Gedemütigten und Rachehungrigen; ein Befund, der die künftige Militarisierung und den aggressiven Expansionsdrang Deutschlands vorwegnahm. In den Veröffentlichungen der PPS fehlte es auch nicht an zutreffenden Einschätzungen der sozialen Basis der Hitlerbewegung. Mehrere Autoren deuteten auf das demagogische Element in der nationalsozialistischen Propaganda hin, die die Stimmungen der Massen, insbesondere die Sehnsüchte des Kleinbürgertums, geschickt ausbeute. Die Sozialisten hoben die Dynamik der Bewegung hervor, die die Deutschen in einen fast ekstatischen, aggressiven Zustand versetze. Eine Zeitlang hielten die Sozialisten es für unmöglich, daß Hitler mit seiner billigen Primitivität nach der Macht in Deutschland werde greifen können. Sie glaubten an die Vernunft der deutschen Arbeiter und die Stärke der deutschen Sozialdemokratie. Die Karikaturen Hitlers oder Goebbels', die sich häufig in der Presse fanden, sollten vor den Porträtierten nicht warnen, sondern diese lächerlich machen. Vor diesem Hintergrund riefen die Machtergreifung Hitlers und die Niederlage der SPD tiefe Beunruhigung in den Reihen der PPS hervor. Sie trug dazu bei, daß die bisherige Einschätzung des Nationalsozialismus um einige Elemente bereichert wurde. Das Zentralorgan der Partei - „Robotnik" [Der Arbeiter] - publizierte jetzt Berichte, die den Nationalsozialismus als eine Bewegung „entgleister Massen, deklassierter Bürger und Beamten, arbeitsloser Intellektueller und Arbeiter" entlarvten. 7

7 Im „Robotnik" vom 4.2.1933 war unter dem Titel „Die Stunde Deutschlands" zu lesen: „Der Hitlerismus, als Produkt der Niederlage Deutschlands im Krieg, als Produkt des Zerfalls nach der Nachkriegszeit, ist ein erwünschtes und notwendiges Element für die deutsche Reaktion". Die Wochenschrift „ N a p r z ö d " [Vorwärts] hob in der N r . 26 vom 1.2.1933 die bedrohlichen Implikationen des nationalsozialistischen Siegs in Deutschland für den Weltfrieden hervor. 234

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Die Regierungsmethoden der Anhänger Hitlers, der Straßenterror, die Verhöhnung von Parlamentarismus und Demokratie sowie die Verwilderung der NSDAP wurden auf das heftigste kritisiert. Die PPS-Autoren waren z.B. überzeugt, daß der Reichstagsbrand eine nationalsozialistische Provokation darstelle und daß die neue Regierung auf Diktatur und Krieg drängen werde. Wieder verwiesen sie darauf, daß der Nationalsozialismus eine hauptsächlich kleinbürgerliche Bewegung sei. Aufmerksamkeit verdient vor allem die Betonung, die die Sozialisten auf die Beobachtung legten, daß der Nationalsozialismus ein spezifisches politisches System darstelle, das sich institutionell in der Führerdiktatur widerspiegele. Sie vertraten die feste Überzeugung, daß der Nationalsozialismus eine Variante des Faschismus sei, den es als reale Gefahr für die Interessen Polens zu betrachten gelte. Diese Warnungen rissen - verbunden mit einer stetigen Kritik des „polnischen Faschismus" - bis 1939 nicht ab. Die politische Gesamtkonstellation führte dazu, daß die Gruppierungen, die nicht oder nicht dauerhaft zu den Gegnern des Regierungslagers gehörten, eine andere Haltung zu Deutschland und zum Nationalsozialismus einnahmen. Ihre Kritik hatte einen milderen Ton und war weniger fest. Dies gilt vor allem für die bäuerlichen Parteien, die dem Problem nur geringe und sporadische Beachtung schenkten, obschon ihre Einschätzung in der Regel eine antideutsche und antifaschistische Färbung hatte. Die Wankelmütigkeit, die in dieser Hinsicht für die Bauernbewegung typisch war, ergab sich in erster Linie aus ihrer internen Zersplitterung und ihrer Beteiligung an den innerpolnischen Machtkämpfen. Dies gilt auch für die polnischen Konservativen. Ihr Hauptvertreter Fürst Janusz Radziwitt machte in seiner bekannten Parlamentsrede vom 22. Februar 1933 zwar deutlich, daß er keinerlei Sympathien für den Nationalsozialismus hege, dessen Taten ihm vielmehr als „ein erniedrigender und beschämender Akt der Sittenverwilderung" erschienen. Er verurteilte auch die nationalsozialistische Rassenlehre, empfand aber, wie er bekanntgab, trotzdem Befriedigung über Hitlers Machtergreifung. Besser Hitler als Stresemann, behauptete er, besser die brutale und amoralische, aber dafür offene Politik Hitlers als das kunstvolle, undurchsichtige, gerade deshalb aber wesentlich gefährlichere Spiel Stresemanns. Radziwitt hegte die Hoffnung, daß der Pakt mit Hitler es Polen ermöglichen werde, bessere Beziehungen zu Rußland zu knüpfen. 8 Eine ähnliche Haltung vertraten angesehene Intellektuelle wie Wladyslaw Studnicki und Stanislaw Mackiewicz. Mackiewicz verfaßte enthusiastische Berichte über den Nürnberger Parteitag der NSDAP von 1934.

8 „Gazeta Polska" [Polnische Zeitung] Nr. 14 vom 23.2.1933.

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Harte Urteile waren dagegen in der christdemokratischen Presse zu finden. Kurz nach Hitlers Machtübernahme schrieb Jan Rostworowski in der „Przeg^d Powszechny" [Allgemeinen Revue]: „Mit dem Nationalsozialismus taucht im Herzen Europas eine Höllenmaschine auf, deren Explosion nur eine Frage der Zeit ist" 9 . Als repräsentativ für die Einstellung der Christdemokraten können die Texte von Wojciech Korfanty gelten. Korfanty, der zu den Befürwortern einer .italienischen Lösung' gehört und sogar mit dem sogenannten Rettungsdienst Polnischer Parteien sympathisiert hatte, wurde nach 1933 zu einem leidenschaftlichen Gegner des Nationalsozialismus, in welchem er eine „wilde, ungezügelte Kraft, den Ausdruck fehlender Ausgeglichenheit und Solidaritätsbereitschaft" erblickte. Er begriff den Nationalsozialismus als Synthese der Untugenden des deutschen Volkes, das, wie er meinte, „von Zeit zu Zeit von einem regelrechten Wahnsinn ergriffen wird, wobei eine dämonische Kraft voller Dynamik entsteht, die nicht nur seine eigenen Errungenschaften zerstört, sondern wie ein düsterer Orkan über ganz Europa hereinbricht, um Vernichtung und Verwüstung zu verbreiten". 1 0 Der Faschismus bedeute die Bedrohung der europäischen Zivilisation und Kultur, „die Herrschaft der Konjunkturritter, eines in moralischer wie geistiger Hinsicht zweitrangigen Menschenmaterials" 1 1 . Hitler war für Korfanty nicht nur der „moderne Antichrist", sondern auch ein „Parvenü, ein Karrierist, ein Opportunist bis auf die Knochen" 1 2 . Die ideologische Schwäche der Sanacja verhinderte ein differenziertes Urteil über den Nationalsozialismus im Regierungslager bzw. bei Pitsudski selbst. Vor 1930 interessierte er sich überhaupt nicht für dieses Thema; seine Voraussetzungen erschienen ihm fremd und undurchsichtig. Polen werde seinen eigenen Weg gehen; der Nationalsozialismus sei eine innerdeutsche Angelegenheit. Der Gedanke, ihn für Polen zu übernehmen, könne nur in den Köpfen heimischer Faschisten entstehen, unter denen Piisudski die Extremisten aus den nationaldemokratischen Gruppierungen verstand. Der Sieg der nationalsozialistischen Revolution im Januar 1933 rief zwiespältige Reaktionen hervor. Einerseits machte sich ein gewisses Gefühl der Erleichterung bemerkbar, da man in einem Regierungswechsel in Deutschland eine Chance zur Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen erblickte, die sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik ausgesprochen schlecht entwik-

9 H . Olszewski, Nationalsozialismus, S. 548 10 M. Orzechowski, Wojciech Korfanty. Biografia polityczna [Wojciech Korfanty. Eine politische Biographie], Wroclaw 1975, S. 3 5 3 - 3 5 5 . 11 Ebd. 12 Ebd., S. 356.

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kelt hatten. 13 Die Regierungskreise verließen sich darauf, daß Deutschland durch den Umsturz Hitlers von inneren Angelegenheiten absorbiert sein und sich damit als weniger aggressiv und für Polen weniger gefährlich erweisen werde 14 . „Hitler - das ist kein Preuße", soll Pilsudski in einem Gespräch zu Außenminister Beck gesagt haben 15 . Die nationalsozialistische Machtübernahme sei ein Symbol für den Sieg Deutschlands über Preußen. Die polnische Regierung verfolgte den Prozeß der .Gleichschaltung' im Reich mit Wohlwollen und suchte geradezu nach Beweisen für eine Änderung der deutschen Haltung. Gekrönt wurde die positive Reaktion der polnischen Regierung auf den Machtwechsel von 1933 bekanntlich durch den Nichtangriffspakt vom Januar 1934. Auf der anderen Seite rief der Sieg des Nationalsozialismus aber auch Bestürzung und Unruhe hervor; die Folge war eine Wiederbelebung alter Ressentiments. Aber erst in den Jahren der unmittelbaren Bedrohung Polens durch das .Dritte Reich' nahm die Sanacja auf komplexere und entschiedenere Weise die Kritik am Nationalsozialismus als einen integralen Bestandteil des deutschen Problems auf, obschon ihr dies im Zusammenhang mit dem Verfall des Regierungslagers nach dem Tod des Marschalls und den wachsenden extremistischen Einflüssen der Rechten nicht leicht fiel. Zum Schluß komme ich zum NS-Bild der Nationaldemokratie, derjenigen polnischen Gruppierung, die am meisten Interesse und auch Sympathie für den Nationalsozialismus entwickelte. Diese Sympathie war das Ergebnis von zumindest drei Ursachenkomplexen. Erstens sahen die Nationaldemokraten Preußen und das Deutsche Reich als den traditionellen Hauptfeind Polens an. Zweitens vertraten sie das Primat der Nation über den Staat und sprachen sich für ein Polen aus, das die Völker Osteuropas in einer Staatenföderation umfassen sollte. Drittens war eine wichtige Voraussetzung für das nationaldemokratische Interesse an der Hitlerbewegung, daß sie sich nach dem Maiumsturz von 1926 in Opposition zur Regierung befanden und im Laufe der Zeit immer weniger die Chance hatten, an die Macht zurückzukehren, obwohl sie ihr Ziel, die verlorenen Posten zurückzugewinnen, nie aus den Augen verloren und im politischen Kampf zu immer rücksichtsloseren Methoden griffen.

13 H. Olszewski, Nationalsozialismus, S. 54. 14 Smogorzewski schrieb in der „Gazeta Polska" mit Genugtuung: „Wenn man von einer kleinen, verachtenden Bemerkung in ,Mein Kampf' absieht, kann festgestellt werden, daß sich Adolf Hitler während seines langen und anhaltenden Kampfes um die Macht kein einziges Mal dem C h o r der antipolnischen Agitation angeschlossen hat", ders., „Mifdzy Wschodem a Zachodem" [Zwischen Ost und West], in: „Gazeta Polska", 22.3.1934. 15 M. Wojciechowski, Stosunki polsko-niemieckie 1 9 3 3 - 1 9 3 8 [Die polnisch-deutschen Beziehungen 1933-1938], 2. Aufl. Posen 1980, S. 65.

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Die starken und die schwachen Seiten der .deutschen Doktrin' der Nationaldemokraten kamen am deutlichsten in den Schriften ihres Begründers, Anführers und Haupttheoretikers Roman Dmowski zum Ausdruck. Im Jahre 1934 erschien sein Buch „Przewrot", das man als Synthese seiner Ansichten über den Nationalsozialismus und zugleich als repräsentativ für die Auffassung ansehen muß, die in seiner Partei in der ersten Hälfte der 30er Jahre in dieser Frage vorherrschend war. Dmowski nannte Hitler nun nicht mehr einen braven Kerl, dem man allerdings unmöglich politische Erfolge voraussagen könne. Der Nationalsozialismus hatte sich als siegreiche Bewegung erwiesen, wodurch die Revolution von 1933 in den Augen Dmowskis zum „gewaltigsten Phänomen der Gegenwart" avanciert war. Die Bedeutung der Machtübernahme maß auch Dmowski an der Latte seiner antipreußischen Tendenzen. Bisher habe Preußen über die Gestalt Deutschlands und die Richtung seiner Politik entschieden, Deutschland „unter dem Kommando" Preußens gestanden. Der Sieg Hitlers und seine erfolgreiche Gleichschaltungspolitik im neuen Reich setzten der preußischen Hegemonie ein Ende. Ebenso wichtig sei es, daß die neue Regierung sofort die „Lösung der Judenfrage" in Angriff genommen habe, die für Deutschland von weitaus größerer Bedeutung sei als zum Beispiel für Italien. Die „Hitler zur Ehre gereichende" Politik der Bändigung der Juden habe sich - so Dmowski - vor allem deshalb als wirksam erwiesen, weil sie sich mit dem Kampf gegen die Freimaurerei gepaart habe, einer destruktiven, weil internationalen, plutokratischen und natürlich eben jüdischen Kraft 1 6 . Dmowski stellte mit Bewunderung fest, wie tief das Wissen der Anhänger Hitlers „über die Aktivitäten der jüdischen Freimauererei" sei. Im Lager des Führers des .Dritten Reichs' machte er ihrer viele aus: Er hob „die Berliner, die preußische, die aristokratische, die antipolnische und die Freimaurerei der Junker" hervor und resümierte: „Weil das Nordische im Hitlerismus eine nicht geringe Rolle spielt, ist es kein Wunder, daß die Hitlerbewegung in größerem oder geringerem Maße den Kampf einer Richtung der ostpreußischen Freimaurerei gegen andere Logen darstellt mit dem Ziel, den entscheidenden Einfluß auf die deutsche Politik zurückzugewinnen". 17 Bewunderung weckte in ihm auch Hitler selbst. Er sei „die Inkarnation des Volksgeistes", ein großer „Hypnotiseur", der „mit unglaublicher Leichtigkeit alle Gedanken und Gefühle, mit denen das heutige deutsche Volk in all seinen Schichten und Gruppierungen lebt, aufsaugt und in Lösungen und Programme umarbeitet, die er mit einem

16 Dmowski, Przewot. S. 261. 17 Ebd., S. 260. 238

Henryk Olszewski

Talent aus sich herausschleudert, das nicht nur Begeisterung, sondern sogar Ekstase bei seinen Zuhörern hervorruft". Dennoch war das Bild des Nationalsozialismus auch für Dmowski nicht frei von Nachteilen und Unzulänglichkeiten. Nicht alle Prinzipien der nationalsozialistischen Weltanschauung seien positiv zu bewerten. Er machte bezüglich des Führerprinzips Vorbehalte geltend, kritisierte den extremen Chauvinismus und die Militarisierung der nationalsozialistischen Bewegung, deren ostentatives Antichristentum und anthropologische Rassenlehre ihn störten. Dmowki kam bereits 1934 zu der Überzeugung, daß „der Imperialismus in den deutschen Seelen geblieben ist" und daß Hitler versuchen werde, „die traditionelle, zumindest auf das 10. Jahrhundert zurückreichende historische Entwicklunglinie aufrechtzuerhalten". Die Uberzeugung, daß Deutschland ohne die Unterstützung von Liberalen und Juden geschwächt sein werde, beruhigte ihn nur teilweise. Das Entscheidende war für Dmowski, daß der Nationalsozialismus nicht folgenlos für die Zukunft Polens bleiben werde. Dmowski hob hervor: „Der Nationalsozialismus erteilt den in Polen regierenden Politikern eine großartige, strenge Lektion, er lehrt, wie man ein Volk zu organisieren und wie man die Schwierigkeiten innerhalb der Gesellschaftsordnung zu lösen hat. Zudem stellt der Nationalsozialismus eine mustergültige Lösung im Verhältnis zu Juden und Freimaurern dar" 1 8 Zugleich sei er aber, so Dmowski, eine für Polen sehr gefährliche Bewegung, da er gerade deshalb, weil er „die Bündelung aller Wünsche und Bestrebungen des deutschen Volkes bedeute, die Unabhängigkeit des Landes bedrohe". Diese in der Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung entwickelten Ideen der Nationaldemokraten wurden im weiteren Verlauf der 30er Jahre zu einem integrierenden Faktor für die Kräfte der Zweiten Republik. Daß sie dabei insbesondere bei der nationaldemokratischen Jugend das Feuer eines polnischen Nationalismus entfachten, erscheint nur folgerichtig.

18 Ebd., S. 267f.

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Die erzieherische Rolle von Sammelbildern in politischen Umbruchszeiten GEOFFREY J . GILES

In Deutschland wie auch in anderen Ländern werden und wurden Kinder und Jugendliche nicht selten von ihren Eltern und Lehrern dazu ermuntert, eine Sammlung anzulegen. Briefmarken gelten dabei seit jeher als pädagogisch wertvolle Sammelobjekte, weil sie dazu beitragen können, die Geographiekenntnisse des betreffenden Kindes zu verbessern. Vielen Kindern gerade in der ersten Hälfte des Jahrhunderts war dieses erbauliche Hobby aber ein bißchen zu ernst und gutbürgerlich. Aufregende Motive wie Siegfrieds Abenteuer, die neuesten Filmstars und Fußballhelden oder exotische Tiere kamen auf Briefmarken damals überhaupt nicht vor. So etwas gab es nur auf Reklame-Marken oder -Karten - eine neue Verkaufsstrategie, die aufgrund des großen Erfolgs in Ubersee in den zwanziger Jahren auch von der deutschen Zigarettenindustrie übernommen worden war. Allein die Firma Yenidze in Dresden berichtete 1929, in den vorausgegangenen zwei Jahren eine Million Alben für ihre Zigarettensammelbilder versandt zu haben 1 . Dieselben Serien fanden sich bei noch einem halben Dutzend weiterer Firmen, die ihre eigenen Alben mit einem anderen Einband verkauften. Bis in die Mitte der dreißiger Jahre produzierte der größte Tabakwarenhersteller Deutschlands, Reemtsma in Hamburg, Auflagen von mehr als einer Million Alben für ihre beliebtesten Serien und erhielt Bestellungen für 250.000 Alben pro Monat für die verschiedenen Sammlungen 2 . Im Jahre 1939 löste Reemtsma 12 Milliarden Gutscheine gegen die gleiche Zahl von Sammelbildern ein. Die Rede ist also nicht von einer Freizeitbeschäftigung einer kleinen Minderheit von Kindern: das Sammeln von Zigarettenbildern war ein weit verbreitetes,

1 Angabe aus dem Vorwort der Firma zu ihrem Album „Die Welt in Bildern" N r . 4, vollständig zitiert in E. Wasems populärwissenschaftlich angelegter Studie Das Serienbild. Medium der Werbung und Alltagskultur, Dortmund 1987, S. 153. Die ersten drei Alben umfaßten insgesamt 444 Karten, was einer Auflage von insgesamt 444 Millionen Karten entspräche. 2 Interview mit Professor Dören beim Reemtsma-Firmenarchiv in Hamburg-Othmarschen im August 1994. D a s entsprechende Aktenmaterial für die Zeit vor 1945 wurde laut Auskunft der Firma bei einem Bombenangriff zerstört. Die erzieherische Rolle von Sammelbildern

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leidenschaftlich ausgeübtes Hobby in fast allen Familien, in denen es zumindest einen Raucher gab. Vor einer Inhaltsanalyse der häufig erzieherisch oder propagandistisch ausgerichteten Sammelbilder soll ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte dieses Mediums geworfen werden. Die Entwicklung der Farblithographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zur Geburt der Ansichts- und Glückwunschkarte. Diese wurden schnell zu Sammlerobjekten, für die besondere Kartenalben hergestellt wurden. Das späte 19. Jahrhundert war auch das Zeitalter der Visitenkarte. Unternehmer traten schnell mit ihren geschäftseigenen, dekorativ illustrierten Karten auf den Plan. Eine der ersten und bekanntesten Firmen der Lebensmittelbranche, die als Beigabe zu ihren Produkten Reklamesammelkarten verschenkte, war die Firma Liebig mit ihrem berühmten Fleisch-Extrakt, deren Farbbilder einen künstlerischen Höhepunkt erreichten, der bis heute seinesgleichen sucht. Sammelkarten der Firma Liebig kamen ab 1872 zunächst in Serien von jeweils sechs Stück heraus. Bis 1920 waren allein in deutscher Sprache 1.100 Serien erschienen, ganz zu schweigen von den exportierten Karten in englisch oder französisch. Um die Jahrhundertwende wuchs die Beliebtheit der Sammelkarten sprunghaft: Schokoladenhersteller Stollwerck, wie Liebig berühmt für seine exquisiten Sammelkarten, veröffentlichte sein erstes Album im Jahre 1897. Es war jedoch die Zigarettenindustrie, die eine besonders enge Beziehung zu den Sammelkarten entwickelte. Die ersten Zigarettenkarten waren bereits 1880 unter der Regie der geschäftstüchtigen und innovativen Hersteller in den Vereinigten Staaten erschienen 3 . In Großbritannien waren sie eine Fortentwicklung der unbeschriebenen Pappblätter, die zur Verstärkung in die papiernen Zigarettenpackungen hineingesteckt wurden. Der amerikanische Tabakmagnat James B. Duke kaufte 1901 die englische Ogden-Zigarettenfabrik in Liverpool auf und löste damit den sogenannten „Tabakkrieg" gegen die britische Imperial Tobacco Company aus, der zum Teil auch über die Attraktivität der Sammelbilder ausgefochten wurde. Erst nach einem ganzen Jahr des künstlerischen Wettbewerbs kam es zum Waffenstillstand' und zum Zusammenschluß der beiden Konkurrenten im neuen British-American Tobacco Company. In der deutschen Zigarettenindustrie sahen auch die später führenden Herausgeber von Sammelbildern in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch keinen Grund, in das Geschäft mit den bunten Bildchen einzusteigen - anders 3 Nach heutigem Kenntnisstand war es Thomas H. Hull, der im Jahre 1880 in N e w Y o r k die ersten Zigarettenpackungen beigelegten Serien herausgab, s. Cartophilic Society of Great Britain Limited (Hg.), The W o r l d Tobacco Issues Index (Reprint der Ausgabe von 1956), Newport 1975, S. 5 - 7 .

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in England, wo eine der großen Tabakfirmen 1910 sogar damit begann, seidene Bilder zu verschenken. Die Bilder, deren gehobener Anspruch sofort anerkannt wurde, wurden schon während des Krieges recht populär. Die sogenannten silks zielten auf Frauen, die das seidene Bild von seinem Papprücken ablösen und zu Kissenbezügen zusammennähen sollten. Große Zigarettenpackungen enthielten auch entsprechend anspruchsvolle silks in einer Größe von ca. 15x10 cm. Die Kissen wurden zu einem Ausdruck weiblicher Vaterlandsliebe, denn die Themen der Bilderserien verlegten ihr Schwergewicht von Kunst und Natur auf Porträts der königlichen, militärischen und politischen Führer des Landes, die Landesfarben der Alliierten und die Insignien der ruhmreichen alten Regimenter. In Deutschland nutzte man dieses Medium nicht, wenn man auch ab 1913 dekorative ,Militärmarken' kaufen und wie Briefmarken auf den Umschlag kleben konnte 4 . Erst in den zwanziger Jahren begann auch die deutsche Zigarettenindustrie auf breiter Basis mit der Verbreitung patriotischer Motive, allerdings nicht im Briefmarkenformat oder als elegantes Seidenbild, sondern als Sammelbildkarte. In den frühen Jahren der Weimarer Republik hatte es nur die unaufhaltsamen Liebig-Karten gegeben. Erst 1927 begannen auch einige deutsche Zigarettenfirmen, mit Sammelkarten in ihren Zigarettenpackungen gegen die Konkurrenz anzutreten. Eine Gemeinschaft von acht Firmen gab die Serie „Die Welt in Bildern" heraus, die im ersten Band nach dem Liebig-Modell Gruppen von sechs Karten, später Dreiergruppen beinhaltete. Die Themen der Bilder schienen in diesem ersten Band recht willkürlich gewählt, offenbar hatten die Verfasser kein übergreifendes Thema bestimmt, sondern schlicht in einer Enzyklopädie herumgeblättert, um sich inspirieren zu lassen. Trotzdem muß das Unternehmen ein großer Erfolg gewesen sein, da sieben weitere Bände der „Welt in Bildern" auf den ersten folgten. Seit 1930 beschränkte sich die Serie auf je ein einziges Thema pro Jahr, diesmal auf heimische Vögel. Naturkunde blieb auch bei anderen Firmen und in späteren Jahren nicht nur in Deutschland ein beliebtes Bildthema - wenn eine Bemerkung John Williams auch besonders auf die Verhältnisse in Deutschland zutreffen mochte: „Die Natur wurde nunmehr als Quell der Erneuerung nach Krieg und Revolution betrachtet." 5 In den Jahren 1931 und 1932 folgte auch „Die Welt in

4 L. Maier, Militärmarken, Dortmund 1981, S. 9. 5 J. A.Williams, ,The Chords of the German Soul are Tuned to Nature': The Movement to Preserve the Natural Heimat from the Kaiserreich to the Third Reich, in: Central European History, 29, 3 (1996), S. 383. Der wichtige Hersteller Reemtsma gab zum Thema Natur folgende Serien heraus: „Wunder der Tierwelt" (1932), „Aus Deutschlands Vogelwelt" (1932), „Aus Wald und Flur: Pflanzen unserer Heimat" (1937), „Tiere unserer Heimat" (1939).

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Bildern" dem fünfzehn Jahre zuvor erstmals erprobten britischen Beispiel und verbreitete Fahnenserien. Unterm Strich kann das Jahr 1928 als eigentlicher Auftakt zu neuer leidenschaftlicher Sammeltätigkeit betrachtet werden, da mehrere Firmen nun Themen aus der Welt des Sports lancierten. In Großbritannien, wo alle Zigarettenhersteller Bildkarten als wettbewerbsorientierte Marketingstrategie einsetzten, hatte das Publikumsinteresse nie nachgelassen. Der kommerzielle Erfolg der Briten war es wohl auch, der die deutschen Firmen anspornte, dieses Werbemittel nachzuahmen, denn es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß Sammelbilder von Anfang an als erzieherisches oder propagandistisches Mittel an sich erkannt wurden. Sie spielten im Waffenlager der patriotischen Literatur, die damals wieder aufblühte, eine vergleichsweise bescheidene Rolle. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß Bilder, vor allem Fotos, in den zwanziger Jahren immer häufiger als Mittel der Überzeugung eingesetzt wurden. Ein kürzlich erschienener Quellenband drückt die Veränderung folgendermaßen aus: „In dem Maße, in dem Bilder immer weniger von einem kommentierenden Text abhängig wurden, begannen sie, als eigenes visuelles Medium Geschichten zu erzählen und dabei nach und nach die Autorität des geschriebenen Wortes zu untergraben. Die wachsende Bedeutung der visuellen Kommunikation, die das moderne städtische Leben immer stärker durchdrang, zeigte sich etwa in der sich rasch vermehrenden Zahl der mit Fotos illustrierten Zeitungen." 6 Da die Zigarettenbilder oft einzeln in die Hände junger Betrachter fielen, mußten sie in der Lage sein, schon auf ihre Weise eine Geschichte zu erzählen. Das anschließend erworbene Sammelalbum sah dann schon wie eine Illustrierte aus jenes neue, überaus populäre Genre. Der Erfolg dieser Zeitschriften war so durchschlagend, daß ein enttäuschter Kritiker pessimistisch bemerkte: „Nicht mehr lesen! Hingucken! Das wird bald das Leitwort in der Erziehung sein." 7 Die Bedeutung, die der visuellen Propaganda durch die Nationalsozialisten beigemessen wurde, ist bekannt: nicht umsonst hatte Propagandaminister Joseph Goebbels stets ein Auge auf die Filmproduktion. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die diesem Medium inhärenten Möglichkeiten im Erziehungssektor wohl nicht in allen Fällen ausgeschöpft werden konnten, wie David Welch konstatiert hat: „Im allgemeinen waren die für die Schulen produzierten Filme aus der Sicht eines Propagandisten recht enttäuschend. Es ist eine Überraschung(...), daß der generelle Eindruck der NS-Schulfilm6 A. Kaes/M. Jay/E. Dimendberg (Hg.), The Weimar Republic Sourcebook, Berkeley 1994, S. 642. 7 J. Molzahn, Nicht mehr Lesen! Hingucken!, in: Das Kunstblatt 12, 3 (März 1928), S. 78-82, in Übersetzung zitiert in: Kaes/Jay/Dimendberg, Weimar Republic Sourcebook, S. 648 f. 244

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propaganda die dürftige technische Qualität bleibt." 8 Hitler selbst versprach sich sehr viel vom politischen Plakat als Medium. Schon „Mein Kampf" enthielt klare Richtlinien für die Erstellung wirksamer politischer Plakate. Mit dem künstlerischen Wert des Produktes solle keine Zeit vergeudet werden: Die einzige Kunst, so Hitler, liege in der Fähigkeit, durch Form und Farbe die Aufmerksamkeit der Massen zu erregen. Ein Plakat könne auch nicht zur Aufklärung über komplizierte Sachfragen dienen, sondern müsse in seiner Aussage einfach bleiben. Die höchste Leistung und daher das höchste Ziel eines Plakats sei es, den Betrachter von der Notwendigkeit und Richtigkeit eines bestimmten Tuns zu überzeugen 9 . In der Tat haben Historiker die politischen Plakate des Dritten Reiches sowohl hinsichtlich ihrer massenpsychologischen Effektivität wie auch zur Enthüllung der ideologischen Fragen und Sorgen des Nazi-Regimes selbst als aussagekräftige Quellen eingeschätzt 10 . Ansichtskarten mit politischen Motiven, häufig Wiedergaben eines größeren Plakats, wurden im ,Dritten Reich' in großer Zahl verkauft. Eine kürzlich erschiene Studie vertritt die These, die Karten seien weniger zum Nachrichtenaustausch benutzt als einfach gesammelt worden 11 . Das spricht für die ikonographische Bedeutung dieser Bilder, die häufig gleichzeitig auf Plakaten, Postkarten und als Sammelbilder erschienen (so beispielsweise im Falle von Abbildung 1 und 2). Zigarettenkarten waren also auch Ikonen, die emblematisch für die Mentalität ihres Zeitalters stehen. Einige Sammelbilder sind Miniaturplakate. Wie ein Plakat oder eine Postkarte wurden sie von ihrem Besitzer individuell betrachtet und einzeln geprüft, um ihre Plazierung innerhalb der Serie festzustellen. Das viel kleinere Format sollte über ihre Wichtigkeit nicht hinwegtäuschen. Adolf Hitler entwickelte seine extremistischen Ideen bekanntlich nicht in einem hermetisch abgeschlossenen Raum, sondern übernahm sie aus vielerlei Quellen seiner Zeit, die er verschärfte und neu kombinierte. Vor diesem Hintergrund könnte eine Prüfung des ideologischen Inhalts früherer Bilderserien, etwa der weitverbreiteten Serie „Die Welt in Bildern", interessant sein. Das erste, 1927 erschienene Album verriet noch wenig vom erzieherischen Potential des Mediums. Das Album hatte keinen Textteil, und die Bildunter-

8 D. Welch, Educational Film Propaganda and the Nazi Youth, in: ders. (Hg.), Nazi Propaganda. The Power and the Limitations, London/Totowa, 1983, S. 71. 9 A. Hitler, Mein Kampf, 330.-334. Aufl., München 1938, S. 196 f. 10 A. Fleischer/F. Kämpfer, The Political Poster in the Third Reich, in: B. Taylor/W. van der Will (Hg.), The Nazification of Art: Art, Design, Music, Architecture and Film in the Third Reich, Winchester 1990, S. 183. 1 1 E . von Hagenow, Die Postkarte als Medium der Politik. Eine Einführung, in: dies. (Hg.), Politik und Bild. Die Postkarte als Medium der Propaganda, Hamburg 1994, S. 20.

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Abbildung 1: Werbeplakat für das Winterhilfswerk. Quelle: Der Staat der Arbeit und des Friedens. Ein Jahr Regierung Adolf Hitler (Cigaretten-Bilderdienst: AltonaBahrenfeld, 1934), S. 72

Schriften waren äußerst knapp. Insgesamt gesehen schien dieser erste Band entschieden für die liberalistischen Werte der Weimarer Republik einzutreten. Schon auf der 6. Seite findet der Betrachter etwa eine Reihe von Bildern, die den Leistungen von „Bedeutenden Frauen" gewidmet ist: Drei von ihnen besitzen den Doktortitel, eine, die Künstlerin Käthe Kollwitz, sogar den der Professorin. 1 2 Die Bildergruppe „Unsere jungen Dichter" schloß auch Ber-

12 Die anderen dargestellten Frauen mit D o k t o r h u t waren Ricarda H u c h („Deutschlands größte lebende Schriftstellerin"), die Frauenrechtlerin Alice Salomon sowie Marie Elisabeth Lüders („Vertreterin von Millionen von Frauen aus allen Ländern auf der Weltwirtschaftskonferenz in Genf"). Ebenfalls abgebildet waren die Schriftstellerin Karin Michaelis und die Schöpferin des Ausdruckstanzes, Mary Wigman. „Die Welt in Bildern", 1. Album (1927), S. 6.

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Abbildung 2: Werbeplakat

* fuftfrfiutj ift Sflbftfdiutj *

für den Reichsluftschutzbund. Quelle:

Der Staat der Arbeit und des Friedens. Ein Jahr Regierung Adolf Hitler (Cigaretten-Bilderdienst: AltonaBahrenfed. 1934), S. 87

fieithsluftfrtiubbunO tolt Brecht als „charakteristischen Vertreter der radikalen Jugend" ein - wie auch Käthe Kollwitz konnte er kaum als Säule des Establishments gelten. Nicht nur die stillen, ungefährlichen' „Berühmten Schachspieler" gab es also im Album, auch einem ,Unruhestifter' wie Brecht mit seinen kommunistischen Sympathien wurde Anerkennung gezollt. Die pädagogische Wirkung des Bandes litt jedoch unter der Kürze der Unterschriften. Die sechs Bilder amerikanischer Indianer wurden unter dem Motto „Ein sterbendes Volk" präsentiert, keine nähere Erläuterung aber benannte die Gründe und die Verantwortlichen für dieses „Aussterben". 13 Ab dem zweiten Album wurden jedem Bild dann fünf oder mehr Zeilen Text zugeordnet. Auch wenn die thematische Auswahl sich wiederum als ein

13 Ebd., S. 19, 23 u. 17.

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buntes Durcheinander ohne erkennbare Leitlinie darstellte, bieten die ausführlicheren Bildunterschriften die Gelegenheit, den weltanschaulichen Hintergrund der Alben, der wenige Jahre später überdeutlich werden sollte, besser zu identifizieren. So zeugen viele Serien von hoher Begeisterung für Modernität und Technik, unter anderem im Bereich des Sports, wo deutsche Leistungen im Segeln oder in der Luftfahrt bejubelt wurden. Aber auch der Entwicklungsfortschritt in anderen Ländern wurde gefeiert - der Ton der Veröffentlichungen ist also nicht als einseitig nationalistisch zu bezeichnen. Ein Beispiel dafür sind drei Sammelkarten mit Bildern „Amerikanischer Wolkenkratzer". Im Kommentar zu einer Abbildung der Universität Chicago wurde darauf hingewiesen, daß es der Platzmangel in amerikanischen Großstädten sei, der die Bevölkerung dazu bewege, diese Riesen ohne Protest zu akzeptieren: „es befremdet nicht weiter, daß selbst Kirchen und Universitäten in Hochhaus form ausgeführt werden". Solchen Zweifeln liegt wohl die Skepsis zugrunde, ob im zwölften Stock noch ernsthafte Gedanken und seriöse Wissenschaft möglich sind! Demgegenüber findet das Gebäude der New Yorker Telefongesellschaft in Manhattan uneingeschränktes Lob: „In seiner wuchtigen Majestät erinnert das mächtige Bauwerk an unsere Vorstellungen von der hehren Götterburg Walhall." 14 Im Falle der nichtwestlichen Kulturen sind die entsprechenden Kommentare jedoch weniger pathetisch und folgen den rassistischen Stereotypen dieser Jahre. Karten über „Frauenleben in Ostafrika" suggerieren, die dazugehörigen Männer führten „meist ein faules Leben" und lungerten „in den Ortschaften umher, (...) da die Negerfrau in Afrika größtenteils die Arbeit verrichtet". In den frühen 40er Jahren sollte eine ähnliche Sprache in Berichten von Ghettobesuchern in Litzmannstadt wiederkehren, die ebenfalls die trotz der Unordnung und des Schmutzes umherlungernden Männer tadeln. Das Bild einer „Jugendlichen Dschagga-Negerin beim Wasserschöpfen" zeigt eine junge Frau mit ebenso nacktem wie vollbusigem Oberkörper, die dem Fotograf zulächelt, während sie sich bückt. Der Leser erfährt: „Da diese Tätigkeit von den unbewaffneten Frauen ausgeübt wird, fallen sie vielfach den Löwen und Leoparden zum Opfer." Die implizierte Kritik an den faulen, unverantwortlichen Eingeborenen wächst hier zu einer unterschwelligen Einladung an den (männlichen) Betrachter, sich Phantasien über die Rettung gefährdeter nackter Frauen hinzugeben. Zu Recht sind vergleichbare Abbildungen in anderen Zusammenhängen als „Ethnopornographie" bezeichnet worden-das souveräne Daseinsrecht exotischer Kulturen findet keine Anerkennung. Eine ähnliche Einstellung dominiert das Verhältnis zu Indochina: Da zeigt ein Sammelbild einen

14 „Die Welt in Bildern", 2. Album (1928), S. 12.

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„Typ des Moistammes" aus Anam, dessen Volk sich durch „verhältnismäßig primitive Sitten und Gebräuchen" auszeichne. Die Bildunterschrift verbreitet jedoch ein wenig Hoffnung, weil „heute (...) auch in ihrem tropischen Heimatland unter dem Einfluß Europas die Kultur eingezogen" sei 15 . Wie die heutigen Medien bedrückend häufig die vom Hunger aufgeblähten Leiber unterernährter schwarzafrikanischer Kinder präsentieren, wurden dem jugendlichen Sammler in Deutschland im vierten Album der Reihe „Die Welt in Bildern" von 1929 ähnliche Darstellungen geboten. Nebenbei wurden sie allerdings darüber ,belehrt', daß an den ,dicken' Bäuchen die beklagenswerten Eßsitten der Farbigen schuld seien. Die erste Unterschrift zur Bilderserie „Kinder in Afrika" gab zwar großzügigerweise zu, die abgebildeten Kinder seien nicht von vornherein verachtenswert, drückte dieses Kompliment allerdings auf recht befremdliche Weise aus: „So wenig schön uns vielfach die menschlichen Vertreter des schwarzen Erdteils erscheinen mögen, so niedlich und drollig sind die Negerkinder in zartem Alter." Das große Problem der afrikanischen Völker lag in den Augen des unbekannten Verfassers in ihrem Anderssein: „Das Leben der Naturvölker spielt sich nicht immer in so gleichmäßigen Bahnen ab wie das des Europäers," meinte er. Sie müßten oftmals lange Zeit auf ein größeres Stück Wild warten, seien aber dann derart unbesonnen, daß sie dieses sofort aufäßen: „...die Neger verschlingen das Fleisch in ungeheuren Mengen. Die Folge hiervon ist der häufig anzutreffende Hängebauch, der sich sich im Alter in vielen Falten zusammenlegt." Die drei Bilder, auf die sich die ,Kritik' bezieht, zeigen Kinder mit leicht geblähtem Leib, die in ganz normaler Weise eine Mahlzeit zu sich nehmen. Kommentar: „Ein kleiner Vielfraß. Manche Merkmale prägen sich bei den braunen Söhnen der afrikanischen Steppe schon in recht jugendlichem Alter aus. So kann als eine der hervorstechendsten Eigenschaften der Neger die Gefräßigkeit genannt werden, die sich mit großer Hartnäckigkeit vererbt. Das hier dargestellte, sich mit vollem Genuß dem Frühstück hingebende kleine Kaffernkind scheint bestrebt zu sein, den Urtrieben seiner Väter begeistert nachzueifern." Trotz des Kontrastes zwischen Text und Bild, der dem heutigen Betrachter ins Auge springt, wird der junge zeitgenössische Leser die Interpretation des Verfassers wahrscheinlich ohne weiteres akzeptiert und das ihm nahegelegte Vorurteil übernommen haben - ein Rassismus, der später umso leichter in extreme Formen umschlagen konnte 16 .

15 Ebd.,S. 11. Den Rassismus einiger Serien kommentieren D . W e y e r / C . Köck, Mit Abdulla durch die Welt und mit Birkel zum Mond. Zum kulturellen Sinn des Werbemediums Sammelbild, in: C. Cantauw (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen: die feinen Unterschiede im Alltag, Münster/New York, 1995, S. 2 8 - 3 0 . Dr. Hasso Spode hat mich freundlicherweise auf diesen Aufsatz aufmerksam gemacht. 16 „Kinder in Afrika," in: „Die Welt in Bildern", 4. Album (1929), S. 9.

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Das letzte Drittel dieses Bandes wendet sich von der üblichen Form des Sammelalbums ab und widmet sich in einem achtseitigen, bebilderten Aufsatz der Verherrlichung deutscher Leistungen auf- dem Gebiet der Technik. Im Mittelpunkt stehen die wichtigen Entdeckungen und Leistungen von deutschen Wissenschaftlern und deutschen Ingenieuren, die in der ganzen Welt Verwendung fänden. Zwar muß der Verfasser feststellen: „Der Deutsche leidet selten an übertriebenen Selbstgefühl, sieht vielmehr das Bessere immer außerhalb seiner Grenzpfähle". Dennoch aber ist er sich in einem Punkte sicher: „Aber daß es deutsche Leistungen, £rsileistungen waren, das bleibt; und das ist das ist das Wesentliche. Nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt." Schließlich wird er fast lyrisch und konstruiert einen Zusammenhang zwischen dem Ruhm der Deutschen auf literarischem Gebiet und ihren technologischen Erfolgen: „Das Volk der Dichter und Denker auch das der großen Techniker? Gewiß, denn kein Wissen ist ohne Spekulation und Phantasie zu erwerben. Und so ist die deutsche Technik im Grunde vielleicht nur eine Abart der deutschen Dichtung. Wie das Dichten, ist die Technik das Ringen, ein Letztes und Höchstes zu formen und auszudrücken." 1 7 Es folgen Bildergruppen beispielsweise über deutsche Hochhäuser - darunter das berühmte Chilehaus in Hamburg - , jetzt genauso attraktiv wie die amerikanischen Gebäude des früheren Bandes, deutsche Zeppelin-Luftschiffe, deutsche Ozeandampfer, deutsche Wasserkraftwerke, deutsche Talsperren, deutsche Riesen-Fernrohre und, last but not least, die technischen Fortschritte der deutschen Bierbrauer. Die Verherrlichung des nationalen industriellen Erfolgs sollte ein beliebtes Thema der Zigarettenbilder werden, wie sie dies seit den großen internationalen Ausstellungen des viktorianischen Zeitalters bereits in der übrigen Kinderliteratur nicht allein in Deutschland gewesen war. In seinem 1935 veröffentlichten Aufsatz über die „volkserzieherische Bedeutung des deutschen Bilderbuches" benannte Hugo Wippler die seiner Ansicht nach in diesem Zusammenhang angemessensten Themen: deutsche Volksmärchen und Volkskunde; die deutsche Landschaft und der deutsche Wald; moderne deutsche Leistungen, besonders auf dem Gebiet der Verkehrstechnik; Schutz von Mutter und Kind. All diese Themen - außer des letztgenannten - wurden auch bestimmend für die Motivik der Zigarettenbildersammlungen, was auf eine größere Sammlerneigung unter Jungen hindeuten mag 18 . 17 Ebd., Hervorhebung im Original [diese Sektion ohne Seitennumerierung]. 18 H . Wippler, Die volkserzieherische Bedeutung des deutschen Bilderbuches, zitiert in: C . Kamenetsky, Children's Literature in Hitler's Germany: The Cultural Policy of N a tional Socialism, Athens/Ohio, 1984, S. 152 f. Sammelbilder finden in diesem Band keinerlei Berücksichtigung. 250

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Mehrere Serien zielten auf die Faszination, die die Luftfahrt auf Jungen ausübte. Wiederum waren es deutsche Leistungen, die im Vordergrund standen, einige Bände waren jedoch offensichtlich bestrebt, den Nationalismus nicht zu übertreiben. Die Serie „Die Eroberung der Luft" von 1932 pries die Luftfahrt als ein Mittel, die Nationen näher zueinander zu bringen und ihr harmonisches Miteinander zu fördern. Sie lobte den wissenschaftlichen Fortschritt, der die Luftfahrt möglich gemacht hatte, als einen „Dienst an der Verbindung der Völker", eine „gewaltige Idee", die stets wach bleiben solle. Der Bau von neuen Flugzeugen war deshalb nicht nur ein wirtschaftlicher Gewinn für Deutschland, sondern auch ein Schritt zur „Erfüllung großer volkswirtschaftlicher und kultureller Aufgaben" [Hervorhebung d. Verf.] 19 . Die patriotische Begeisterung kannte keine Grenzen mehr, wenn die Verfasser solcher Alben auf die Zeppelin-Luftschiffe zu sprechen kamen - hier das Vorwort zum Album „Zeppelin-Weltfahrten": „Die Entwicklung der Zeppelin-Luftschiff-Fahrt steht mit goldenen Lettern in Deutschlands Geschichte. Zeppelin ist das Luftschiff unseres Volkes und der Stolz der Nation. (...) der Jugend soll [unsere Sammlung] zeigen, welche Taten unbeugsamer Wille und unermüdlicher Schaffensgeist zu vollbringen vermögen (...). Deutschlands Zukunft liegt in seiner geistigen Führerstellung und der Wille, sie zu halten, stärke unseren Glauben an Deutschlands Zukunftl"20 Die Begeisterung für die neue Technik ist mutatis mutandis auch in anderen Ländern feststellbar.21 Ein Jahr darauf beanspruchte jedoch die nationalsozialistische Regierung den nationalen Überschwang der Deutschen für sich. Einem zweiten, im Jahre 1934 veröffentlichten Band wurde bezeichnenderweise nicht mehr ein großes Bild von Graf Zeppelin vorausgestellt, sondern eine Aufnahme des neuen Reichsministers für Luftfahrt, Hermann Göring. Der Titel sprach immer noch unverfänglich von der „Luftfahrt", im Text verstreute subtile Andeutungen ließen jedoch keinen Zweifel mehr daran, zu wessen Herrschaftsbereich die Luft nun gehörte. Der Kommentar zu den „Österreich-Fahrten" erwähnte beiläufig, daß diese „auch als Süd-

19 Vorwort der Garbäty (Zigarettenfabrik, „Die Eroberung der Luft" (1932). 20 Hervorhebung im Original. Vorwort zum Album „Zeppelin-Weltfahrten" der Greiling Zigarettenfabrik (1933). 21 So brachte ein Hersteller in den Vereinigten Staaten ein „Zeppelin

Construction

Set" her-

aus, aus dessen Metallteilen Jungen Modelle verschiedener Luftschiffen, darunter auch die „Graf Zeppelin", selbst nachbauen konnten, vgl. J. L. Meikle, Deconstructing Modernity: Ambivalence and Appropriation, 1920-1940, in: W. Kaplan (Hg.), Designing Modernity: The Arts of Reform and Persuasion, 1885-1945, New York, 1995, S. 160 f. S. auch z.B. das Plakat für die Hamburg-American

¿zwe/Norddeutscher Lloyd mit dem Titel

„Two

Days to Europe" in J. Heskett, „Design in Inter-War Germany," ebd., S. 268.

Die erzieherische Rolle von Sammelbildern

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deutschland-Fahrten bezeichnet werden." Ohne weitere Erklärung schloß die „österreichische" Reiseroute auch Prag mit ein, und es war bestimmt kein Zufall, daß „die Grenze bei Braunau am Inn, der Geburtsstadt des Reichskanzlers Adolf Hitler, überflogen und die Fahrt über Linz nach Wien fortgesetzt" wurde. Für junge Nationalsozialisten, die die Beziehung des jugendlichen Hitler zu diesen Städten kannten, war jeder weitere Kommentar überflüssig. Das Propagandaministerium sah in diesen Luftschiffen ein wunderbares Mittel, für die Sache des Nationalsozialismus zu werben. Goebbels selbst orderte eines dieser imposanten Flugobjekte während seines ItalienBesuchs im Mai 1933, um den König zu einer Probefahrt einzuladen. Hitler selbst hatte die neue Luftfahrttechnik während der Weimarer Wahlkämpfe bereits propagandistisch geschickt eingesetzt, indem er in einem Tag von Stadt zu Stadt flog, um Reden zu halten. Die „Deutschland-Fahrt" des Luftschiffes „Graf Zeppelin" am neu bezeichneten ,Tag der deutschen Arbeit', dem 1. Mai 1933, war ein ähnlicher Publikumsmagnet. Nach seinem mitternächtlichen Abflug von Friedrichshafen erreichte das Luftschiff bei Sonnenaufgang schon Aachen, um dann über Köln einige Postsäcke abzuwerfen und über Bremen und Hamburg nach Berlin weiterzufliegen. Eins der Luftbilder im Album zeigt Marschkolonnen in den Straßen der Hauptstadt, die zu einer großen Parade der nationalsozialistischen Bewegung am Tempelhofer Feld marschieren. Nachdem die „Graf Zeppelin" dann „mit abgestellten Motoren in 150 m Höhe einige Minuten über dem Festgelände" gestanden hatte, ging es weiter über Dresden, Chemnitz, Bayreuth und Nürnberg nach Ulm, das unmittelbar vor Einbruch der Dunkelheit erreicht wurde. Die Luftbilder dieser Städte, die das Album klugerweise aufgenommen hatte, waren selbstverständlich reizvolle Andenken für die Zehntausende, die bei diesen Massenversammlungen anwesend gewesen waren. Sie beförderten sowohl den Umsatz der Zigarettenindustrie als auch die Verbreitung der propagandistischen Parole: Nationalsozialismus heißt Fortschritt. 2 2 Ein verwandtes und ähnlich beliebtes Thema, das die Gelegenheit zur Veranschaulichung landschaftlich eindrucksvoller oder historisch bedeutender Orte des Landes bot, war die Serie „Deutsche Heimat". Die Dresdner Zigarettenfabrik Yramos veröffentlichte zwischen 1932 und 1937 sechs verschiedene Serien mit diesem Titel und war damit nur eine von mehreren Herstellern, die ihn im Repertoire führten. In Dutzenden solcher Serien war schon die Wahl der Städte und Ortschaften, die angeblich zur „Heimat" gehörten, eine ideologische Behauptung, selbst wenn die entsprechenden Bilder nicht

22 „Zeppelin-Weltfahrten" 2. Buch, Greiling/Bilderstelle Lohse, Dresden 1934, (ohne Seitenzahlen). 252

Geoffrey J . Giles

beschriftet waren. Nicht die Zigarettenindustrie, sondern die Bayerische Regierung selbst war mehr als ein Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkrieges der Herausgeber eines Albums für Sammelbilder mit dem Titel „Bilderwerk Deutschland". Die Verfasser dachten überhaupt nicht daran, etwa Ostpreußen oder die anderen „Ostgebiete des Deutschen Reiches" verloren zu geben. Auch Böhmen und Mähren gelten in diesem Werk „seit dem 10. Jahrhundert" als „Bestandteil des Reiches". In einem abenteuerlichen geschichtlichen Uberblick hagelt es Kritik am Versailler Vertrag, um sodann mit der Darstellung der Deutschen als Opfer der Geschichte ungebrochen fortzufahren. Einiges Unrecht in der deutschen Herrschaft wird zögernd eingestanden: „Während der Kriegs) ahre fordert der Terror der Gestapo Tausende von Opfern, hauptsächlich unter der tschechischen Intelligenz". Dann folgt mehr als nachträglicher Zusatz: „auch die Juden werden weitgehend ausgerottet". Verglichen mit denen der Deutschen hätten sich die Leiden der Zivilbevölkerung jedoch in Grenzen gehalten: „Doch können die Tschechen wenigstens ihre Jugend schonen, da sie nicht zum Wehrdienst eingezogen werden." [Hervorhebungen d. Verf.]. Nach der deutschen Niederlage werden „rund 300 000 Deutsche(...) Opfer der Todesmärsche, Folterungen, Hinrichtungen und Entbehrungen in den Konzentrationslagern." Damit waren wohlgemerkt nicht die deutschen Juden gemeint, die als Opfer der Nationalsozialisten in den KZs gelitten hatten, obwohl der Satz außerhalb seines Kontextes so klingt. Man verlor kein Wort über die geringe Zahl jüdischer Uberlebender. Es ist die ehemalige Tätergruppe, deren Leiden schwerer wiegt als das aller anderen. Ein Bild von der Karlsbrücke in Prag soll darauf hindeuten, diese Stadt sei deutschen Händen unrechtmäßig wieder entwendet worden. Die jungen Betrachter - das Album war speziell für Berufsschüler gedacht lasen gleich darauf: „1945 beginnt dann die ,humane' Austreibung der Sudetendeutschen." Und dann folgen Sätze, die gut zwanzig Jahre früher, also im Jahre 1938, hätten geschrieben werden können: „Über eine Million von ihnen wohnt in Bayern. Ihre Landsmannschaft hat die Geschlossenheit der Kampfjahre bewahrt. Sie und alle Sudetendeutschen fordern weiterhin das Recht auf ihre Heimat." An diesem Beispiel aus der Nachkriegszeit wird auf besonders plastische Weise deutlich, wie gut Sammelbilderalben als Propagandaschriften zu mißbrauchen sind. 23 Uber das komplexe Potential schriftlichen und bildlichen Propagandamaterials waren sich natürlich auch die Nationalsozialisten im Klaren. Die neuen Errungenschaften der Technik waren für viele Menschen ein begeisterndes

23 „Bilderwerk Deutschland. Heimat-Wirtschaft-Staatliche Ordnung", Bayerische Landeszentrale für Heimatdienst, München, 1958, besonders S. 7 5 - 8 8 .

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Deutsche Arbeit (Großeinkaufsgenossenschaft Hamburg, 1934)

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