Totalitarismuskritik von links: Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert 9783666369100, 9783525369104

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Totalitarismuskritik von links: Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert
 9783666369100, 9783525369104

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Gerhard Besier Band 34

Vandenhoeck & Ruprecht

Totalitarismuskritik von links Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Mike Schmeitzner

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-36910-4 Umschlagabbildung: SPD-Wahlkampfplakat für die Reichstagswahl 1930 Quelle: AdsD 6/PLKA002158

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Gesamtherstellung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Thematische Relevanz und Konzeption Mike Schmeitzner

I. Frühe Analysen und Klärungsversuche (1918 bis 1933)

9

27

Bolschewismuskritik und Revolutionseuphorie. Das Janusgesicht der Rosa Luxemburg Werner Müller

29

Demokratie oder Diktatur: Karl Kautskys Bolschewismuskritik und der Totalitarismus Jürgen Zarusky

49

Totalitarismustheoretische Ansätze bei Alexander Schifrin. Ein Grenzgänger zwischen russischer und deutscher Sozialdemokratie Uli Schöler

69

Rechtsstaat, autoritäre Demokratie und der europäische Faschismus. Hermann Hellers Grundlegungen einer starken Demokratie Stephan Albrecht

83

„Diktatur als Ausnahmezustand“ versus „Diktatur als System“? Totalitarismustheoretische Kontroversen in den „Neuen Blättern für den Sozialismus“ Michael Rudloff

103

Zur Rolle von Totalitarismus- und Sozialfaschismus-„Theorien“ im Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren Bernd Faulenbach

119

6

Inhalt

II. Konzeptualisierungen im Exil (1933 bis 1945)

133

Option für den Westen. Rudolf Hilferding, Curt Geyer und der antitotalitäre Konsens Rainer Behring

135

No longer a „German patriot“? Eduard Heimann an der New School for Social Research Gerhard Besier

161

Ein Renegat schreibt Theoriegeschichte: Franz Borkenau (1900–1957) Clemens Vollnhals

177

Arthur Rosenberg, der Linkszionismus und das Totalitarismus Problem. Betrachtungen im New Yorker Exil Mario Keßler

193

Brauner und roter Faschismus? Otto Rühles rätekommunistische Totalitarismustheorie Mike Schmeitzner

205

Totalitarismustheorie und frühe Frankfurter Schule Alfons Söllner

229

III. Theorie und Praxis im Kalten Krieg (1945 bis 1989/90)

247

Der Totalitarismusbegriff Kurt Schumachers. Politische Intention und praktische Wirksamkeit Mike Schmeitzner

249

Arno Hennig, Carlo Schmid und die Totalitarismuskonferenz der SPD im Juni 1947 Mike Schmeitzner

283

Ernst Reuter – Hoffnungen eines (Re)migranten auf dem Prüfstand Berlin Siegfried Heimann

307

Vom Marxismus zum Antitotalitarismus: Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal Uwe Backes

327

Inhalt

7

Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse Eckhard Jesse

355

Die demokratische Linke und die Umwälzung 1989/90. Zur Bedeutung von Totalitarismustheorien in der deutschen Sozialdemokratie Bernd Faulenbach

377

Anhang Abkürzungsverzeichnis Personenverzeichnis Autorenverzeichnis

393 395 399 405

Thematische Relevanz und Konzeption Mike Schmeitzner

I. Die Kritik an totalitären Herrschaftsorganisationen des 20. Jahrhunderts ist so alt wie diese selbst:1 Im Zuge der Herrschaftsgründungen des Bolschewismus, des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus entstanden bald Analysen, die den neuartigen Charakter dieser Regime betonten: Es war das Novum der Weltanschauungsdiktatur, die auf einem Einparteistaat und dem allumfassenden Anspruch der Staatspartei auf wesentliche oder sämtliche Bereiche der Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens gründete, das kritische Zeitgenossen und politische Gegner frühzeitig beschäftigte. Dominierte in den Jahren nach 1917 verständlicherweise die alleinige Sicht auf Sowjetrussland, schälten sich mit dem Machtantritt der italienischen Faschisten 1922 erste vergleichende Diskussionsansätze heraus. Sie führten schon bald zur übergreifenden Kennzeichnung solcher Regime als „totalitär“. Schrittmacher dieser vergleichenden Diskussionszusammenhänge waren vornehmlich italienische Antifaschisten, die – wie der Liberale Giovanni Amendola und der Christdemokrat Luigi Sturzo – sehr schnell gemeinsame Herrschaftsmerkmale beider Regime benannten. Sprach Amendola bereits 1923 von einem neuen „totalitären System“, klassifizierte Sturzo in derselben Zeit das sowjetische Modell als „Linksfaschismus“;2 1935 listete er dann jene gemeinsamen Merkmale auf, die auch spätere Totalitarismustheoretiker wie Carl Joachim Friedrich zugrunde legen sollten:

1

2

Zur Entwicklung der Diskussion seit den 1920er Jahren vgl. Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968; Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung (2. erweiterte Auflage), Bonn 1999; Hans Maier (Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996; ders./Michael Schäfer (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Band II, Paderborn 1997; ders. (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band III, Paderborn 2003; Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Achim Siegel (Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998. Zit. nach Clemens Vollnhals, Der Totalitarismusbegriff im Wandel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 39/2006, S. 21–27, hier 22.

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Mike Schmeitzner

„Das Einparteiensystem, die diktoriale personale Spitze, die Unterdrückung aller bürgerlichen Freiheitsrechte, die Verwaltungszentralisierung und Ausschaltung aller [...] autonomen Elemente, die Ausschaltung und Inhaftierung in Lagern aller [...] Oppositionellen, die terroristische Einschüchterung der Bevölkerung durch Geheimpolizeien, die Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens, [...] die Propagierung von jeweils nationalspezifischen pseudoreligiösen Ideologien, die permanente Mobilisierung und Indoktrinierung der Massen durch die als Monopol verwalteten Massenmedien.“3

Dass die Popularisierung von Totalitarismustheorien oder – in allgemeinerer Form: von Totalitarismuskritik – nicht nur auf liberale, konservative oder christliche Wurzeln zurückgeht und auch nur bedingt mit der Entfesselung des „Kalten Krieges“ nach 1947 zusammenhängt, ist gerade durch die Forschungen der letzten Jahre immer stärker ins Bewusstsein geraten: Autoren wie William David Jones4, Alfons Söllner5, Wolfgang Wippermann6, Clemens Vollnhals7 oder Beate Häupel8 betonen die Pluralität der verschiedenen totalitarismustheoretischen Ansätze und bemerkenswerte linke Wurzeln einer übergreifenden Totalitarismuskritik. Zweifellos gebührt dabei Jones das Verdienst, in seiner Studie über deutsche sozialistische Intellektuelle und den Totalitarismus erstmals derartige Diskussionszusammenhänge vor allem für die Zeit des Exils (1933–1945) verdeutlicht zu haben. Wenn man unter einer totalitären Diktatur den bereits eingangs erwähnten neuartigen Regimetypus versteht, erscheint es allerdings angemessen, linke Wurzeln der Totalitarismuskritik weiter noch, als dies Jones tut, zurückzuverfolgen. So lässt sich dann neben dem Strang, der in die italienische Diskussion der 1920er Jahre führt, ein zweiter, deutscher entdecken, der ab 1918 beobachtet werden kann: Es ist der totalitarismuskritische Strang der deutschen Linken, der sich nicht nur auf ihre demokratischen Flügel beschränkt (z. B. Eduard Bernstein und Karl Kautsky), sondern ebenso kleinere rätekommunistische oder anarchistische Minderheiten einschließt (z. B. Otto Rühle oder Rudolf Rocker). Wenn es also einen derartigen Strang sowie bestimmte Diskurse und Modelle einer breit gefächerten Linken gegeben hat, steht konsequenterweise die Frage im Raum, woraus sich diese speisten und warum sie ausgerechnet im Kontext der bolschewistischen Herrschaftsgründung zum Tragen kamen. Verkürzt formuliert ist zu fragen, wie – einen linken und rechten Totalitarismus vorausgesetzt – eine totalitarismuskritische Linke, die sich ja auch auf Marx und Engels berief, scharfe Kritik, ja sogar vergleichende Analysen zu allen drei totalitären Systemen hervorzubringen vermochte. Es ist hier nicht der Platz, alt 3 4 5 6 7 8

Ebd. Vgl. William David Jones, The Lost Debate. German Socialist Intellectuals and Totalitarianism, Chicago 1999. Vgl. Söllner/Walkenhaus/Wieland (Hg.), Totalitarismus. Vgl. Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997. Vgl. Vollnhals, Der Totalitarismusbegriff, S. 21–27, hier 22. Vgl. Beate Häupel, Karl Kautsky. Seine Auffassungen zur politischen Demokratie. Eine ideengeschichtliche Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung seines Modells der politischen Institutionen, Frankfurt a. M. 1993, S. 121 ff.

Thematische Relevanz und Konzeption

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bekannte Thesen über das Schisma der europäischen und deutschen Arbeiterbewegung nachzuzeichnen. Für die aufgeworfene Frage ist allerdings der Hinweis auf die Zukunftsvorstellungen der marxistischen „Klassiker“ von einigem Belang. Nur soviel: Das Unvermögen von Marx und Engels, ihren Anhängern und Epigonen präzise Vorstellungen von der angestrebten sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft zu vermitteln, musste bei der von ihnen hinterlassenen Gemengelage aus emanzipatorischen und autoritären Versatzstücken folgerichtig zu einer späteren Ausdifferenzierung und auch zu einer Spaltung in einen demokratischen und autoritären Flügel führen.9 Am deutlichsten wird diese „Erbe“-Diskussion am Beispiel der heftig umstrittenen Formel von der „Diktatur des Proletariats“, die Marx 1875 als „Periode der revolutionären Umwandlung [...] zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft“ bezeichnet hatte. Der Staat könne in dieser Zeit „nichts anderes sein [...] als die revolutionäre Diktatur des Proletariats“.10 Während sich der eine Teil der Linken bei seiner politischen Arbeit künftig genau auf diese Formel berief und sie gar zum Herzstück der marxistischen Revolutionstheorie erhob (Lenin und Luxemburg),11 versuchte ein anderer Teil sie zu 9 Ein gutes Beispiel für die reichlich unzulängliche Definition der Zukunftsgesellschaft gab ausgerechnet Friedrich Engels in seinem weit verbreiteten Werk „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“. Aus der – verkürzt formuliert – anarchischen kapitalistischen Produktionsweise mit ihren zyklischen Krisen und der stetig wachsenden Zahl von Proletariern folge konsequenterweise, dass die Klasse der Zukunft, das Proletariat, die „Staatsgewalt ergreift“ und zunächst die Produktionsmittel in Staatseigentum verwandelt. Schließlich werde das Proletariat die Produktionsmittel in „öffentliches“ bzw. „gesellschaftliches“ Eigentum transformieren und mit der „gesellschaftlichen Produktion nach vorherbestimmtem Plan“ beginnen. Mit diesem Akt werde die Phase des Absterbens des Staates eröffnet, da dieser nunmehr Repräsentant der ganzen Gesellschaft und damit „überflüssig“ sei. Dieses – ebenfalls utopische – Szenario ließ viele Fragen offen: So etwa die Frage, wie denn eigentlich das gesamte Proletariat die Staatsgewalt ergreifen sollte oder ob dies vielleicht durch Gruppen oder Parteien im Namen des Proletariats zu geschehen habe. Darüber hinaus ist zu fragen, weshalb der Staat, dessen Aufgaben in einer immer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft beständig wuchsen, eigentlich absterben müsste. Ungeklärt blieb ebenso, wer oder welche konkrete Gruppe (oder neue „Klasse“) den vorgesehenen Planwirtschaftsprozess steuern sollte. Dass eine solch ganzheitliche Lösung der Menschheitsprobleme zumindest die Gefahr einer totalitären Verwirklichung in sich barg, liegt auf der Hand; sie wurde zuerst in Russland Realität. Vgl. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin (Ost) 1980 (Erstausgabe 1880), S. 87–96. 10 Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei [besser bekannt als: Randglossen zum Gothaer Programm]. In: Die Neue Zeit, 18 (1890/91) 9, S. 563– 575, hier 573. 11 Vgl. W. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin (Ost) 1987 (russ. Erstausgabe 1917); Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution (Erstausgabe 1898). In: dies., Gesammelte Werke, Band 1/1, S. 408 ff., 428 ff.; dies., Zur russischen Revolution (1918 verfasst). In: dies., Gesammelte Werke, Band 4, S. 362 f. Im Gegensatz zu Lenin sah Luxemburg die „Diktatur des Proletariats“ letztlich nicht als Diktatur einer Partei oder ihres Politbüros, sondern als Diktatur der gesamten Arbeiterklasse, was z. B. die Beteiligung anderer sozialistischer Parteien und die stärkere Einbeziehung der Massen einschloss.

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„demokratisieren“ und mit der parlamentarischen Demokratie in Einklang zu bringen (Kautsky).12 Für einen dritten Teil der Linken war sie wiederum nur eine substanzlose Phrase, die das Proletariat nicht nur weiter von der (parlamentarischen) Demokratie und vom reformsozialistischen Gedankengut entfernte, sondern gleichsam auch die Gefahr einer blanquistisch verbrämten Diktatur in sich barg (Bernstein).13 Ganz andere Motive bewog schließlich Rätekommunisten und Anarchisten (Rühle und Rocker), von der Formel einer „Diktatur des Proletariats“, wie sie Lenin und nach ihm Stalin praktizierte, Abstand zu nehmen und sie ebenso scharf zu bekämpfen wie die sozialdemokratische Rechte: Es war die totale Diktatur einer allmächtigen und zentralistischen Partei, der Rühle und Rocker, die ein Räte-Modell und die „direkte Aktion“ verfolgten, nichts abgewinnen konnten.14

II. Am wirkungsmächtigsten war zweifellos die linksdemokratische Kritik an der bolschewistischen Form des Totalitarismus, da sie in Deutschland nicht nur den stärksten Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung geltend machen konnte, sondern auch auf der Basis der parlamentarischen Demokratie argumentierte. Auch in der nachfolgenden Faschismus-Diskussion und bei vergleichenden Analysen traten ihre Repräsentanten (z. B. Karl Kautsky, Hermann Heller, Alexander Schifrin, Eduard Heimann) immer wieder mit bemerkenswerten Stellungnahmen an die Öffentlichkeit. Schon Gerhard Lozek wies in dem DDR-Standardwerk „Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus“ darauf hin, dass es neben dem bürgerlichen Liberalismus der „Sozialreformismus“ gewesen sei, der „wesentlichen Anteil an der Herausbildung des Totalitarismuskonzepts und seiner gesellschaftstheoretischen und weltanschaulichen Begründung“ gehabt habe. Für Lozek bildete Kautskys Schema „Demokratie oder Diktatur“ den „entscheidenden Ausgangspunkt“.15 In der Tat profilierte sich der langjährige 12 Vgl. etwa Karl Kautsky, Demokratie oder Diktatur, 2. Auflage Berlin 1918, S. 28 ff.; ders., Gegen die Diktatur, Berlin 1920. 13 Vgl. Eduard Bernstein, Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus. In: Horst Heimann (Hg.), Texte zum Revisionismus, Bonn 1977, S. 126 f.; Eduard Bernstein, Von der Sekte zur Partei. Die deutsche Sozialdemokratie einst und jetzt, Jena 1911, S. 52 f. 14 Vgl. z. B. Rudolf Rocker, Der Bankerott des russischen Staats-Kommunismus, Berlin 1921. In: ders./Emma Goldmann, Der Bolschewismus: Verstaatlichung der Revolution, Berlin (West) 1968. 15 Gerhard Lozek, Zur Entstehung des Begriffs und des Konzepts des Totalitarismus sowie zu den gesellschaftstheoretischen und weltanschaulichen Wurzeln. In: ders. (Hg.), Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus. Kritik einer Grundkomponente bürgerlicher Ideologie. Hg. von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED gemeinsam mit dem Rat für Grundfragen des ideologischen Kampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus, Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin (Ost) 1985, S. 57–70, hier 62.

Thematische Relevanz und Konzeption

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Theoretiker der II. Internationale zu einem der einflussreichsten und wirkungsmächtigsten Bolschewismuskritiker der Sozialdemokratie, was insofern erstaunlich ist, als er – anders als Bernstein – nicht zu den Reformsozialisten zählte, sondern zum marxistischen Zentrum der Partei, das am sozialistischen Endziel festhielt. Es waren Kautskys eigene Interpretationen der Marx’schen Staatslehre, die ihn seit 1918 vehement vom bolschewistischen Diktaturmodell abrücken ließen: Seiner Meinung nach konnte das Proletariat nur in einer hochindustrialisierten Gesellschaft, in der es die Mehrheit stellte, zur Herrschaft gelangen – und zwar in Form der parlamentarischen Demokratie, wenn sie denn das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht sicherte. In Russland, wo das Proletariat als verschwindende Minderheit der Bevölkerung nur ein Schattendasein fristete, musste die Machtergreifung einer Partei, die im Auftrag des Proletariats zu handeln vorgab und selbst vom missionarischem kommunistischen Eifer durchdrungen war, in eine blanquistische „Diktatur des Proletariats“ münden. Eine solche Diktatur würde sich allerdings nicht auf eine Bevölkerungsmehrheit stützen, sondern nur mit neuen Herrschaftsmitteln- und Methoden sowie mit einer neu herauszubildenden Klasse von Partei- und Staatsfunktionären behaupten können. Diese Thesen vertrat Kautsky in einem mehrjährigen publizistischen Schlagabtausch, den er bis 1921 sowohl mit Lenin als auch mit Trotzki führte.16 Dabei ging er von der zutreffenden Beschreibung aus, das sich der Typus der russischen sozialdemokratischen Partei in einem entscheidenden Punkt von dem der mittel- oder westeuropäischen Sozialdemokratie unterscheide: der inneren Parteidemokratie. Lenins Bolschewiki, die sich 1903/04 als eigene (angebliche) Mehrheitsfraktion der Sozialdemokratie organisiert hatten, stützte sich auf eine Parteistruktur, in der die Avantgarde, d. h. die Spitze der Partei, die Beschlusslinien vorgab und nicht umgekehrt. Damit war die Demokratie innerhalb der „Bolschewistenorganisation beseitigt und durch die Diktatur des Zentralkomitees [...] ersetzt, lange ehe der Bolschewismus der Demokratie als Staatsform den Krieg erklärte“. Als die Partei 1917 die Macht übernahm (sie nannte sich jetzt kommunistisch) und zuerst die bürgerlichen und wenig später auch alle anderen sozialistischen Parteien ausschaltete, passte sie nach Kautsky nur „die Verfassung des Staates der Verfassung der Partei“ an. Innerhalb von nur drei Jahren kam er zu dem Schluss, das die neue russische Diktatur „ihresgleichen in der Geschichte nicht findet – zum mindesten nicht in den letzten Jahrhunderten“.17 Die neue „despotische“ Regierung Sowjetrusslands stütze sich gerade nicht auf die zuerst noch bestehende 16 Hans-Jürgen Mende (Hg.), Demokratie oder Diktatur?, Berlin 1990. Die beiden Bände enthalten die wesentlichen Schriften der Disputanten: Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918; W. I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Moskau 1918; Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus, Berlin 1918; Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus, Hamburg 1920; Karl Kautsky, Von der Demokratie zur Staatssklaverei, Berlin 1921. 17 Karl Kautsky, Von der Demokratie zur Staatssklaverei (nach Mende), S. 212.

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Konstituante (das erst im Spätherbst 1917 gewählte Parlament) oder auf die Räteorganisationen, sondern auf den zentralistischen Körper der Partei, der eine neue ebenso zentralistische Staatsbürokratie herauszubilden beginne. „Nirgends“, so Kautsky, sei dem „Staat mehr die Gesellschaft untergeordnet, als in Russland“.18 So urteilte er schließlich 1921: „Eine neue Bürokratie wurde im Staate eingerichtet, ganz nach dem Muster, das Lenin 1904 für die Parteiorganisation aufgestellt hatte. Wenn nach diesem Muster die Zentralbehörde der Partei alle Lebensäußerungen der Parteigenossen und der Arbeiterbewegung überhaupt zu überwachen, zu leiten, zu bestimmen hatte, so sollte die neue Bürokratie alle Lebensäußerungen der gesamten Bevölkerung nicht nur im staatlichen Leben, sondern auch im Produktions- und Zirkulationsprozess, ja das gesamte soziale Leben, jegliches Denken und Fühlen der Massen überwachen, leiten und bestimmen. Wenn nach dem Worte der Bibel ohne Gottes Willen kein Sperling vom Dache fällt, so kann nach den Bestimmungen der Sowjetrepublik kein Nagel in eine Mauer geschlagen werden ohne den Willen der allmächtigen und allwissenden Sowjetbürokratie.“19

Mit dieser Analyse hatte Kautsky bereits alle wesentlichen Elemente der neuen Weltanschauungsdiktatur genannt: den Einparteistaat, der ursprünglich auf den diktatorischen Charakter der nunmehrigen Staatspartei zurückging, die Herausbildung einer neuen Klasse aus Partei- und Staatsfunktionären sowie den allumfassenden Anspruch der Partei auf das gesamte gesellschaftliche Leben. Darüber hinaus erläuterte er, mit welchen selbst geschaffenen Machtmitteln dieser „ungeheure Polyp“ jeden Widerstand zu brechen in der Lage sei: Zum einen mit einer „stehenden Millionenarmee mit eiserner Disziplin“ und zum anderen mit dem „riesenhaften Polizeiapparat der außerordentlichen Kommissionen (Tscheka), denen die Macht gegeben war, jeden ohne viel Federlesens aus dem Weg zu räumen, der für die Diktatoren unbequem oder auch nur verdächtig erscheint“.20 Aber auch die Tatsache, dass sich diese neue Diktatur expansionistisch gebärde und ihre diktatorische Herrschaft auf andere Staaten übertrage, wurde von ihm frühzeitig konstatiert.21 Auch ohne den Begriff der „totalitären“ Diktatur verwendet zu haben, hatte Kautsky ihn in seinen frühen Analysen doch im Wesentlichen erfasst. Wenn man also Kautsky mit einigem Recht als „Urvater“ linker Totalitarismuskritik, ja sogar linker Totalitarismustheorien bezeichnen kann,22 so blieben seine vergleichenden Analysen, in denen er nach 1922 auch das faschistische Italien einbezog, seltsam blass. Bis zu seinem Tod 1938 konzentrierte er sich vorrangig auf die sowjetische Entwicklung, die ihn als die ursprünglichere der Großtotalitarismen weit mehr interessierte als vergleichbare in Italien und 18 19 20 21 22

Ebd., S. 209. Ebd., S. 232. Ebd. Vgl. ebd., S. 233. Schon Häupel, Karl Kautsky, S. 127, kam zu dem Schluss, dass Kautsky mit seinen bolschewismuskritischen Arbeiten „als Begründer der Totalitarismustheorie angesehen werden“ kann, obwohl er den Begriff „totalitär“ noch nicht verwendete.

Thematische Relevanz und Konzeption

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Deutschland.23 Dennoch gelangte er schon 1923 zu dem Ergebnis, das die „arbeitenden Menschen“ in Ungarn, Italien und Russland „durch eine unerhört brutale und willkürliche Diktatur einer Partei, durch weißen oder roten Fascismus“ geknebelt werden.24 1925 erschien ihm bereits das sowjetische Regime „schlimmer sogar als das infame Regime Horthys in Ungarn oder Mussolinis in Italien“.25 Fünf Jahre später erklärte er folgerichtig, das der Faschismus „aber nichts als das Gegenstück des Bolschewismus, Mussolini nur der Affe Lenins“ sei. Ein Vergleich beider Diktaturen zeige, dass das, „was beim Faschismus von vornherein Absicht ist, die Einschnürung aller proletarischen Bewegungsfreiheit, beim Bolschewismus unausbleibliches Resultat wird“. Beide Regimetypen subsumierte er aus diesem Grund als „faschistisch-bolschewistische“ Gegenrevolution, die den Weg zum demokratischen Sozialismus blockieren wolle.26

III. Vergleiche zwischen dem faschistischen Regime Italiens und dem sowjetischen Regime stellten seit Mitte der 1920er auch andere sozialistische Intellektuelle an: Stärker noch als Kautsky legte z. B. der führende austromarxistische Theoretiker Otto Bauer die von Marx und Engels entwickelte Bonapartismus-Theorie einem italienisch-sowjetischem Vergleich zugrunde. In beiden Ländern, so Bauer, habe das „Gleichgewicht der Klassenkräfte dazu geführt, dass sich bewaffnete Parteien der Staatsgewalt bemächtigten und ihrer Diktatur alle Klassen unterwarfen“. In Italien habe sich die Bourgeoisie der Mussolini-Partei in die Arme geworfen, um „gegen Preisgabe ihrer politischen Herrschaft, ihr vom Proletariat bedrohtes Eigentum zu retten“. In Sowjetrussland sei der Bolschewismus „unter dem Druck der ökonomischen Notwendigkeiten zu etwas [...] ganz ähnlich[em] wie der Faschismus“ geworden, zu einer „Diktatur einer über den Klassen stehenden regierenden Kaste, die in der Praxis die Klasseninteressen der Arbeiter, der Bauern und der Nep-Männer, der neuen Bourgeoisie, gegeneinander ausbalancieren muss“.27 Ähnliche Argumente wie Kautsky oder Bauer bemühten auch Alexander Schifrin, Georg Decker, Otto Rühle oder Rudolf Rocker, auch wenn Intellektu23 Folgt man Lothar Fritze, dann ist der „Begriff der totalitären Diktatur nicht an die faktische Möglichkeit eines Vergleiches zwischen mehreren Diktaturen dieser Art gebunden“. Auch wenn nur ein totalitäres System wie die Sowjetunion existierte, ließen sich Aussagen über spezifische Eigenheiten dieser modernen Diktatur duchaus machen; also so, wie es Kautsky getan hat. Lothar Fritze, Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Totalitarismusforschung? In: Totalitarismus und Demokratie, 1 (2004) 2, S. 229– 264, hier 235. 24 Karl Kautsky, Maifeier und Internationale. In: Vorwärts vom 1. 5. 1923. 25 Ders., Die Internationale und Sowjetrussland, Berlin 1925, S. 175. 26 Ders., Der Bolschewismus in der Sackgasse, Berlin 1930, S. 102. 27 Otto Bauer, Das Gleichgewicht der Klassenkräfte. In: Der Kampf, 17 (1924), S. 57–67. Zit. nach Wippermann, Totalitarismustheorien, S. 12.

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elle wie Schifrin eine so schematische Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur (wie es Kautsky tat) nicht unterschreiben wollten.28 Dennoch sahen viele von ihnen, egal ob es sich um demokratische Sozialisten, Rätekommunisten oder Anarchisten handelte, in den italienischen Faschisten, den russischen Bolschewisten und später in den deutschen Nationalsozialisten „Zwillingsbrüder“,29 die der ökonomischen Befreiung des Individuums keinen Schritt näher gekommen seien, sondern seine viel wirkungsvollere Knechtung bewirkten. Harsch geißelten sie die „erstickende Atmosphäre eines unerträglichen Despotismus“, die „rücksichtslose Unterdrückung jedes freien Gedankens, die Abwesenheit aller Garantien, welche die persönliche Freiheit wenigstens innerhalb gewisser Grenzen gewährleisten, [...] die Beraubung der Arbeiter von allen Rechten, die ihnen allein die Möglichkeit geben ihre eigenen Ansichten und Meinungen kundzugeben, wie die Versammlungsfreiheit, das Streikrecht usw., die scheußliche Entwicklung eines Polizei- und Spionagesystems, das wohl alles übertrifft, was auf diesem so dunklen Gebiete je geleistet wurde.“30 Wie man sieht, beurteilten auch demokratische Linke, Rätekommunisten und Anarchisten die neuen Weltanschauungsdiktaturen in erster Linie aus der Perspektive der individuellen Freiheitsrechte. Ein „Zurück“ hinter die Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft war für sie nicht vorstellbar. Für Linke, die mit der Vision eines sozial gerechteren Gesellschaft vor allem die ökonomische Befreiung der Einzelperson verbanden, war daher Lenins Herrschaft in Sowjetrussland und Mussolinis Regime in Italien völlig inakzeptabel und Formen der Totalitarismuskritik unverzichtbar. Dass am Marxismus geschulte Sozialisten die größten Differenzen vornehmlich in der abweichenden Zielsetzung, in den unterschiedlich starken sozialen Umwälzungen und in der unterschiedlichen Wirtschaftsmacht der Diktaturen erblickten, liegt auf der Hand. Vor einem Vergleich schreckten aber alle drei linke Richtungen weder zu Zeiten der Weimarer Republik noch in der Emigration und schon gar nicht während des „Kalten Krieges“ nach 1945 zurück. Vergleiche ziehen hieß für sie jedoch nicht automatisch, Gleichsetzungen vorzunehmen, auch wenn sie sich seit Beginn der 1930er Jahre häufig der Begriffe „totalitär“ und „Totalitarismus“ bedienten oder aber zu polemischen Ausfällen („rotlackierte Nazis“) hinreißen ließen. Viele von ihnen sahen in den neuen Weltanschauungsdiktaturen Formen der „Gegenrevolution“, die eine sozial gerechtere und demokratischere Gesellschaft verhindern wollten. Empirisch fundierte Anklagen gegen die Terrorregime in Moskau, Rom oder Berlin,31 Vergleichstudien zu den Weltanschauungsdiktaturen oder zu den La28 Vgl. den Beitrag Uli Schölers über Alexander Schifrin in diesem Band. 29 Z. B. Hermann Heller, Europa und der Faschismus, Berlin 1929, Neudruck: Gesammelte Schriften, Band 2, Leiden 1971, S. 463–609, hier 515. Zur Äußerung Rockers aus dem Jahre 1927 vgl. Peter Wienand, Der „geborene“ Rebell. Rudolf Rocker. Leben und Werk, Berlin (West) 1981, S. 359. 30 Rocker, Der Bankerott des russischen Staats-Kommunismus, S. 86. 31 Vgl. etwa R. Abramowitsch, Die politischen Gefangenen in der Sowjetunion. Hg. von der Kommission zur Untersuchung der Lage der politischen Gefangenen. Mit einem

Thematische Relevanz und Konzeption

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gerwelten in Stalins Sowjetunion und Hitlers Drittem Reich32 ebbten erst im Zuge der inneren Wandlungen im Ostblock, der Entspannungspolitik und der 1968er „Kulturrevolution“ im Westen merklich ab. Totalitarismuskritik war zumindest für die westdeutsche Linke schon bald kein Thema mehr; und linke Totalitarismustheorien, wie sie von Otto Rühle, Curt Geyer, Rudolf Hilferding oder Richard Löwenthal entwickelt worden waren, gerieten schnell in Vergessenheit. Der Faschismus, und hier vor allem seine deutsche Extremvariante, der nationalsozialistische Rasseantisemitismus, schob sich immer stärker in den Vordergrund der Diskurse, was angesichts der generationenspezifischen Vergangenheitsbewältigung gewiss auch folgerichtig erschien. So konnte es passieren, dass – wenn überhaupt – linke Historiker wie z. B. Reinhard Kühnl nur noch jene „linke Totalitarismusversionen“ als akzeptabel bezeichneten, die sich entweder auf den Faschismus als einzige Weltanschauungsdiktatur oder aber auf den in Studentenkreisen als Halbgott verehrten Herbert Marcuse bezogen. Marcuse repräsentierte eine Position, die „sowohl die sozialistischen wie die kapitalistischen Industriestaaten der Gegenwart als totalitär betrachtet“.33 Von der Epochenwende 1989 kalt erwischt, sah sich die deutsche Linke bald einer Totalitarismus-Renaissance gegenüber, die für sie ebenso überraschend kam wie der Zusammenbruch des osteuropäischen Herrschaftskommunismus und die deutsche Einheit. Für ost- und westdeutsche Linke zählte die „Totalitarismus-Problematik“ nun „zu den schwierigsten Themen“. Für die „überwiegende Mehrheit von ihnen“, so Gerhard Lozek 1995, „gilt sie als absolut negativ besetzt, von den politischen Gegnern infam zur Verleumdung und Bekämpfung jedweder sozialistischer und kommunistischer Anschauungen, Parteien, Bewe-

Vorwort der Kommissionsvorsitzenden Louis de Brouckère (Brüssel) und Arthur Crispien (Berlin), Berlin 1930. 32 In einem bemerkenswertem Manuskript von 1948 kam der jüdische Sozialist und spätere SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Blachstein zu folgendem Vergleich der nationalsozialistischen und sowjetischen Lager: Während sich das „Dritte Reich“ in seinen ersten Jahren des Lagers als eines „Instruments der Machtausübung und der Angsterregung“ bedient habe, konstatierte er für die spätere Zeit die „Errichtung eines Zwangsarbeitssystems“ der SS, das er als eine „in der Absicht treue, in der Ausführung unfähige und widerwärtige Nachahmung des russischen Systems“ kennzeichnete. Auch wenn er KZ und GULag gleichermaßen als „Sklavereisysteme“ definierte, so unterschied sich nach seiner Auffassung das „Zwangsarbeitssystem der Sowjet-Union“ vom „KZ-System der SS“ dadurch, dass es „nicht auf schließliche Ausrottung, sondern auf Ausbeutung abgestellt ist. Es ist nicht ‚Vernichtung durch Arbeit‘, was das Kennwort des KZ-Systems war, sondern ‚Arbeit ohne Rücksicht auf Vernichtung‘. Deshalb fehlt dem russischen System auch der Zug der absichtlichen Grausamkeit und der Tötungswut, die den SSLagern charakteristisch war und die nur durch den Vernichtungs- und Ausrottungszweck erklärbar sind.“ Peter Blachstein, Zwangsarbeit, o. D. [vermutlich 1948], S. 2, 11, 18, 23 f. (AdsD, NL Peter Blachstein, Nr. 10). 33 Reinhard Kühnl, „Linke“ Totalitarismusversionen. In: Martin Greiffenhagen/Reinhard Kühnl / Johann Baptist Müller, Totalitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972, S. 97–119, hier 97.

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gungen, Staaten und Politik benutzt“.34 Wer, wie in der alten Bundesrepublik, vergleichende Totalitarismus- bzw. Diktaturkritik vernachlässigte und selbst die eigenen „Klassiker“ immer stärker in Vergessenheit geraten ließ35 musste sich darüber ebenso wenig wundern wie Historiker der DDR, die wie Gerhard Lozek oder Hans-Jürgen Mende jegliche Totalitarismuskritik von links negativ glossierten und im Falle Karl Kautskys bei der Beurteilung Lenins verharrten.36 Seit 1990 ist positiv zu vermerken, dass sich gerade Lozek und Mende mit Darstellungen und entsprechenden Werkausgaben Kautskys bemüht haben, das verzerrte ostdeutsche Bild zu korrigieren;37 gleiches gilt übrigens auch für manche frühere Apo-Führer in Westdeutschland, die nun – wie Wolfgang Kraushaar – einer differenzierteren Totalitarismuskritik das Wort reden.38 Vor diesem – knapp geschilderten – historischen Hintergrund gilt es folgenden Fragestellungen nachzugehen: Welche Rolle spielte der Marxismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und seiner leninistisch-stalinistischen Umsetzung in Russland für die Entstehung spezifisch linker Totalitarismuskritik und Totalitarismustheorien? Ab welchem Zeitpunkt kamen vergleichende Untersuchungen zu Bolschewismus und Faschismus auf? Sind bestimmte Spezifika linker Totalitarismuskritik klar erkennbar (z. B. der marxistische Zugang oder die 34 Gerhard Lozek, Totalitarismus – (kein) Thema für Linke? Die Totalitarismus-Auffassung in der europäischen und deutschen Geschichte vor und nach 1945 (Heft 1 der Reihe Pankower Vorträge), Berlin 1995, S. 5. 35 In gewisser Hinsicht typisch war dafür die große internationale Kautsky-Konferenz, die im Oktover 1988 in Bremen stattfand. In den 28 Beiträgen über Kautsky, die 1992 in einem Sammelband veröffentlicht wurden, ist kein einziger zu finden, der sich mit Kautsky als Diktatur- bzw. Bolschewismuskritiker beschäftigt. Demgegenüber verwiesen die drei Herausgeber in ihrem im September 1990 geschriebenen Vorwort auf die „neue Aktualität“ von Kautskys Bolschewismuskritik; die nachgeschobene Thematisierung dieses Aspekts im Zuge der Epochenwende von 1989 zeigt deutlich, das sie sich zumindest ihres Versäumnisses bewusst waren. Vereinzelte Hinweise auf Kautskys Diktatur- bzw. Bolschewismuskritik finden sich nur in drei Aufsätzen: Vgl. Hans-Josef Steinberg, Kautskys Stellung in der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung und seine Bedeutung für die Gegenwart. In: Jürgen Rojahn / Till Schelz / Hans-Josef Steinberg (Hg.), Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 1992, S. 17–28, hier 27; Walter Euchner, Karl Kautskys Beitrag zum Demokratieverständnis der SPD. In: ebd., S. 220–232, hier 222, 231; Till Schelz, Karl Kautskys Faschismus-Analyse. In: ebd., S. 233–247, hier 235 f., 241. Eines der wenigen verdienstvollen Gegenbeispiele lieferte in der Zeit der Entspannungspolitik Peter Lübbe (Hg.), Kautsky gegen Lenin, Berlin (West) 1981, der in diesem Band eine Anzahl bolschewismus- bzw. totalitarismuskritischer Texte Kautskys veröffentlichte. 36 Vgl. Lozek (Hg.), Totalitarismus-Doktrin; Hans-Jürgen Mende, Karl Kautsky – vom Marxisten zum Opportunisten. Studie zur Geschichte des historischen Materialismus, Berlin (Ost) 1985. 37 Vgl. Lozek, Totalitarismus; Mende (Hg.), Demokratie oder Diktatur? Diese Feststellung gilt nicht für den Band des Leipziger Historikers Harald Koth, „Meine Zeit wird wieder kommen ...“ Das Leben des Karl Kautsky, Berlin 1993, der in Bezug auf Kautskys Moskau-Bild auch noch nach 1989 an der Kautsky-kritischen Sicht festhält. 38 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke, Frankfurt a. M. 2001.

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Orientierung an den Rechten der Arbeiterschaft) und lassen sich mit dem Einbruch des Nationalsozialismus diesbezügliche Veränderungen erkennen? Wie wurde nach 1945 die Erfahrung des Holocaust in die linke Totalitarismuskritik integriert? Kam linker Totalitarismuskritik hier vielleicht eine Vorreiterrolle zu? In welcher Weise beeinflusste die politische Entwicklung, vor allem die Sozialfaschismustheorie Stalins, der Spanien-Krieg oder der Hitler-Stalin-Pakt das Denken der verschiedenen linken Protagonisten? Was waren die genauen Gründe für die Abkehr von der Totalitarismuskritik und von Totalitarismustheorien in der alten Bundesrepublik Deutschland? Und schließlich: Wie bedeutsam waren solche Entwürfe für die zeitgenössischen Diskussionen? Bieten sie Anknüpfungspunkte für die heutige Forschung?

IV. Der vorliegende Band geht auf eine Konferenz zurück, die der Herausgeber und das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (Büro Dresden) und der KurtSchumacher-Gesellschaft e. V. vom 9. bis 11. November 2004 unter dem Titel „Linke Totalitarismuskritik. Erklärungsmodelle und Strategien – Eine deutsche Bilanz“ in der Evangelischen Akademie Meißen veranstalteten. Idee und Konzeption basieren auf langjährigen Überlegungen des Herausgebers, die 2003 in ein Forschungsprojekt am Hannah-Arendt-Institut mündeten. Nachdem im Januar 2004 eine erste hausinterne Präsentation erfolgt war, konnten erste Ergebnisse Anfang Oktober 2004 im Rahmen der 28. Jahrestagung der German-Studies-Association (GSA) in Washington einem interessierten Publikum vorgestellt werden. Das Panel „Glaubensgewissheit und Kritik. Totalitarismustheoretiker der deutschen Linken“ behandelte so unterschiedliche Ideengeber wie Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Otto Rühle, womit es einem Testlauf für die Meißner Tagung entsprach. Was für den wesentlich kleineren US-amerikanischen Rahmen von vornherein nicht realisierbar erschien, war auch für die deutsche Konferenz und den dann folgenden Sammelband nicht völlig umzusetzen: Die Schwierigkeit, das Thema annähernd erschöpfend zu behandeln und gegebenenfalls thematische Vollständigkeit zu erreichen. Es konnte vielmehr nur darum gehen, Leitlinien und markante Konzepte herausragender Protagonisten vorzustellen, die in den deutschen Debatten des 20. Jahrhunderts eine wirkungsmächtige oder zumindest relevante Rolle gespielt haben. Das betrifft demokratische und religiöse Sozialisten ebenso wie Rätekommunisten, kommunistische Renegaten und Vertreter der Frankfurter Schule. Die ideen – und politikgeschichtlich angelegten Beiträge folgen dabei nicht dem Entwicklungsgang einer bestimmten politischen Partei oder Organisation, wiewohl die linksdemokratischen Ideengeber einen größeren Raum beanspruchen dürfen. Gerade für die Zeit des Exils (1933–

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1945) finden auch Konzepte und Theorien ihren Niederschlag, die keinerlei Nähe zum Agieren politischer Organisationen aufweisen und gerade dadurch die große Bandbreite dieses politischen Spektrums belegen. Konzeptionell werden die verschiedenen Entwürfe auf einer zeitlichen Längsachse sortiert, die bestimmte Etappen des Denkens widerspiegeln. Die Gliederung ist dreigeteilt und beinhaltet „Frühe Analysen und Klärungsversuche (1918–1933)“, „Konzeptualisierungen im Exil (1933–1945)“ sowie „Theorie und Praxis im Kalten Krieg“. Eine solche Einteilung folgt den bekannten zeitlichen Stationen der Herausbildung von totalitarismustheoretischen Konzeptionen und Modellen. Über eine erste Phase der Analyse des bolschewistischen Einparteisystems folgten nach der Etablierung des italienischen faschistischen Systems Begriffsdebatten, die sich nach der NS-Machtübernahme in Deutschland in vergleichenden Studien verdichteten. Die Zeit des Exils wirkte gerade für diejenigen Ideengeber, die in den angelsächsischen Bereich geflüchtet waren, befruchtend. In der Nachkriegszeit spielten vor allem linksdemokratische Totalitarismusüberlegungen vor dem Hintergrund der geistigen Bewältigung des Nationalsozialismus und eines dritten demokratisch-sozialistischen Weges zwischen Ost und West eine bemerkenswerte Rolle. Remigrierte Exponenten wie Richard Löwenthal und Ernst Reuter hatten hieran ebenso erheblichen Anteil wie die daheim gebliebenen Carlo Schmid und Kurt Schumacher. Dass es – jenseits der Dreiteilung – auch zu zeitlichen Überschneidungen kommen kann, nämlich in solchen Fällen, wo einflussreiche Protagonisten (wie Kautsky und Löwenthal) über einen langen Zeitraum hinweg konzeptionell arbeiteten, versteht sich von selbst. Grundsätzlich finden die Auseinandersetzungen mit allen drei modernen Weltanschauungsdiktaturen ihren Niederschlag: dem russischen Bolschewismus, dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus. Allerdings erhält die Auseinandersetzung mit dem russischen Bolschewismus aufgrund der gemeinsamen weltanschaulichen Verwurzelung im Marxismus, des Leninschen Sonderweges und der größeren Dauer dieser Diktatur einen herausgehobenen Stellenwert. Im ersten Panel stehen frühe Klärungsversuche und definitorische Probleme im Mittelpunkt: Der Rostocker Zeithistoriker Werner Müller untersucht in seinem Beitrag, inwieweit Rosa Luxemburgs Bolschewismuskritik auch als erste grundlegende linke Totalitarismuskritik gelesen werden kann. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die bekannte Revolutionärin und Theoretikerin eher zur Revolutionseuphorie denn zur Bolschewismuskritik neigte. Trotz ihrer scharfen Kritik an Elementen der Leninschen Partei- und Staatsführung stellte sie sich 1918/19 grundsätzlich auf die Seite der Bolschewiki, deren Umsturz sie begrüßte. Nach dem Urteil des Münchner Zeithistorikers Jürgen Zarusky kommt die Rolle des ersten linken Totalitarismuskritikers Karl Kautsky zu, der lange vor dem Ersten Weltkrieg als der anerkannte Theoretiker der II. Internationale galt. Kautskys Kritik am bolschewistischen Diktaturmodell Lenins und Stalins war prinzipieller Natur: Er wandte sich aus marxistischer Sicht gegen eine proletarische bzw.

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parteikommunistische Alleinherrschaft in einem Land, in dem die Arbeiterschaft nur eine kleine Minderheit darstellte. Zudem hielt er an den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit eisern fest – auch in Bezug auf andere sozialistische oder bürgerliche Parteien. Anders als Kautsky, der schnell zu einer Gleichsetzung von Bolschewismus und Faschismus gelangte, versuchte der aus Russland stammende Menschewik Alexander Schifrin einem differenzierteren Vergleich das Wort zu reden; einen Vergleich, der sich nicht nur auf die Herrschaftsmerkmale beider Regime, sondern auf die entgegengesetzte politische Zielsetzung und die sozialen Inhalte kaprizierte. Der Berliner Politikwissenschaftler Uli Schöler zeigt am Beispiel Schifrins, wie marxistisch argumentierende Sozialisten vornehmlich in der Wirtschaftsfrage die Differenz verdeutlichten: Der wesentlich stärkeren sozialen Umwälzung in Russland stehe eine faschistische Diktatur in Italien gegenüber, die vor allem eine Änderung des staatlichen Überbaus betrieben habe. Die enorme Wirtschaftsmacht in den Händen der Kommunisten sei mit der geringen Wirtschaftsmacht in den Händen der Faschisten kaum vergleichbar. Für den sozialdemokratischen Staatsrechtler Hermann Heller, den der Hamburger Politologe Stephan Albrecht vorstellt, spielte die sozial-ökonomische Frage dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Von zentraler Bedeutung sollte sich für ihn die Vernichtung des Rechtsstaates erweisen, die er am Beispiel der italienischen Entwicklung der 1920er Jahre detailliert nachzeichnet. Am Beispiel der „Neuen Blätter für den Sozialismus“, die zwischen 1930 und 1933 erschienen, zeichnet der Leipziger Historiker Michael Rudloff die dort ausgetragenen totalitarismustheoretischen Kontroversen nach, an denen sich so bekannte Sozialisten wie Carlo Mierendorff, Hermann Heller, Eduard Heimann und Hans Muhle beteiligten. Ähnlich wie Kautsky erblickten sie in der Diktatur des Proletariats im Marxschen Sinne die Herrschaft der großen Mehrheit über eine verschwindende Minderheit, womit das demokratische Prinzip gewahrt bleibe. Durch George Sorel habe jedoch das Diktaturprinzip eine Wendung bekommen, die für Lenin wie für Mussolini von größter Bedeutung gewesen sei: Die Diktatur einer Elite im Interesse der Mehrheit, aber nicht auf der Basis der Mehrheit! Der Bochumer Zeithistoriker Bernd Faulenbach widmet sich in seinem Beitrag der Rolle von Totalitarismus- und Sozialfaschismus-„Theorien“, um das Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten bis 1933 näher zu bestimmen. Er gelangt zu der Ansicht, dass verschiedene Vertreter der SPD in dieser Zeit durchaus legitime Vergleiche zwischen den totalitären Herrschaftsformen des Bolschewismus und Faschismus gezogen haben, während die Kommunisten ihre Hauptangriffsrichtung bis 1935 [!] gegen die Sozialdemokraten (sprich: Sozialfaschisten) richteten und nicht gegen die Nationalsozialisten. Das zweite Panel, welches die Zeit des Dritten Reiches und daraus folgend die Zeit des Exils beschreibt, war für die Konzeptualisierungen geflüchteter deutscher Linker besonders produktiv. Vor allem in den angelsächsischen Ländern entstanden in dieser Phase eindrucksvolle (vergleichende) Studien und

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theoretische Erklärungsmodelle. Die Herausbildung aller drei Großtotalitarismen (Sowjetunion, Italien, Deutschland) als Bezugssystem und so zentrale Ereignisse wie der spanische Bürgerkrieg und der Hitler-Stalin-Pakt dürften hier besonders befruchtend gewirkt haben. Der Kölner Zeithistoriker Rainer Behring vermag diese Entwicklung anhand der beiden sozialdemokratischen Publizisten und Theoretiker Rudolf Hilferding und Curt Theodor Geyer jedenfalls eindrucksvoll darzustellen. In der Auseinandersetzung mit dem HitlerFaschismus, vor dem sie geflohen waren, und mit der Stalinschen Herrschaft betonten sie den expansionistischen und zutiefst freiheitsfeindlichen Charakter beider Regime. Ihre „Option für den Westen“ ging schließlich mit der Abkehr vom Marxismus einher; ein Prozess, den der religiöse Sozialist Eduard Heimann und der vormalige KPD-Funktionär Franz Borkenau ebenfalls durchliefen. Die Dresdner Zeithistoriker Gerhard Besier und Clemens Vollnhals betonen auch in den Fällen Heimann und Borkenau deren Option für den Westen und für das hier obwaltende Freiheitsverständnis, wobei sich Heimann mit seinen empirisch angelegten Vergleichsstudien und seiner Kennzeichnung beider Großtotalitarismen (Deutschland und Sowjetunion) als „Pseudo-Religionen“ deutlich gegen den polemisch arbeitenden Borkenau absetzte. Der Potsdamer Historiker und Emigrationsspezialist Mario Keßler, der sich am Beispiel des bekannten Historikers und früheren KPD-Politikers Arthur Rosenberg mit dem Linkszionismus und mit dem Totalitarismus-Problem auseinandersetzt, stellt dessen bemerkenswerte Position von 1941 heraus: Kurz vor dem Hitler-Überfall auf die Sowjetunion rückte der jüdisch herkünftige Marxist Rosenberg das Dritte Reich an Stalins Herrschaft; beide waren für ihn totalitäre Regime, wobei er zwei Unterschiede herausstellte: die nach wie vor vorhandene Existenz des Privatkapitalismus in Hitler-Deutschland und die brutale Judenverfolgung durch die Nazis. Nur einen Tag nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR nahm Rosenberg seine totalitarismustheoretischen Erklärungen wieder zurück; seine Sympathie galt nun der Sowjetunion. Damit bezog er einen diametral anderen Standpunkt als der bekannte Rätekommunist Otto Rühle, der in Mexiko untergekommen war. Rühles totalitarismustheoretische Position veränderte sich auch nach dem 22. Juni 1941 nicht, wie der Dresdner Zeithistoriker Mike Schmeitzner herausstellt. Für Rühle, der für das Aufkommen der totalitären Regime in Deutschland und der Sowjetunion die staatskapitalistische Entwicklung verantwortlich machte, blieb die bolschewistische Herrschaft das „Muster“, an dem sich Hitler und Mussolini ausgerichtet hätten. In seinen späten Exilveröffentlichungen erarbeitete der Trotzki-Freund sogar einen Katalog, der die gemeinsamen Merkmale der bolschewistischen und nationalsozialistischen Diktatur umfasste. Von einer vergleichenden Analyse der totalitären Regimes wollten hingegen die Hauptvertreter der „Frankfurter Schule“ nichts wissen. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Alfons Söllner kann in seiner Untersuchung zeigen, dass sich Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Erich Fromm auf Analysen der natio-

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nalsozialistischen Diktatur konzentrierten, die sie als Form bürgerlicher Herrschaft verstanden. Den Totalitarismusbegriff verwendeten sie nur in Bezug auf das Dritte Reich; das Stalinsche Regime wurde mit Misstrauen beargwöhnt, aber nicht einmal ansatzweise in die Nähe der Hitler-Diktatur gerückt. Gleiches gelte für das Hauptwerk Franz L. Neumanns, der mit seinem „Behemoth“ 1942 eine umfassende Analyse der „Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“ vornahm. Obwohl Neumann die Hitler-Diktatur wie selbstverständlich als totalitär einordnete, fehlten auch hier die Vergleichsbezüge zum Stalin-Regime. Angesichts der von Neumann favorisierten ökonomischen Betrachtungsweise und der Untersuchungen zum NS-Rasseantisemitismus konnte dies wohl auch nicht anders sein. Das dritte Panel, das sich mit der Theorie und Praxis im „Kalten Krieg“ beschäftigt, stellt die Entwicklung nach 1945 in den Mittelpunkt der Betrachtung. Prägend für die ersten Jahre dieser Periode war der von der westdeutschen Linken (hier vor allem von der West-SPD) favorisierte demokratisch-sozialistische Weg zwischen „östlichem Totalitarismus“ (Kurt Schumacher) und liberal-kapitalistischem System. Mike Schmeitzner nimmt in seinem Beitrag über Kurt Schumacher den entscheidenden Protagonisten dieser Strömung in den Blick, wobei er sich vor allem auf dessen Totalitarismusbegriff bezieht. Schmeitzner weist nach, dass der SPD-Vorsitzende bereits in der Weimarer Republik aktiv gegen die „Feinde der Demokratie von links und rechts“ wirkte und nach 1945 aufgrund der in Ostdeutschland betriebenen Zwangseinschmelzung der SPD die Kommunisten recht früh unter dem Diktum des Totalitären einordnete. Mit seiner Formel vom „östlichen Totalitarismus“ wandte er sich zudem ausdrücklich gegen die herrschaftskommunistischen Ansprüche aus dem Osten. Das Erinnern des Holocaust und Schumachers Credo „Nie wieder Diktatur!“ wurde in diesen Totalitarismusbegriff integriert. Dass der westdeutsche SPD-Vorsitzende in dieser Hinsicht kein Einzelgänger war, zeigt die Totalitarismus-Konferenz der SPD vom Juni 1947, auf der Carlo Schmid die geistigen Wurzeln des Totalitarismus erläuterte. Schmid, auch das charakteristisch für viele demokratische Sozialisten, machte zuerst die unterschiedlichen Ziele und Motive von Nationalsozialismus und Bolschewismus deutlich, um dann auf die ähnlichen Mechanismen der Herrschaftsausübung einzugehen. Für ihn war die Verabsolutierung bestimmter Denkansätze (der biologistisch-rassistische beim NS, die Diktatur des Proletariats beim Bolschewismus) die notwendige Voraussetzung für die Entstehung der beiden Totalitarismen. Handelte es sich bei den von Schmeitzner beschriebenen Schumacher und Schmid um in Deutschland verbliebene Sozialdemokraten, darf der bekannte Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter als einer der bemerkenswertesten (Re)migranten gelten. Siegfried Heimann zeigt, mit welchen antinazistischen Hoffnungen der frühere KPD-Generalsekretär in die zerstörte Hauptstadt zurückkehrte, und inwieweit er nach dem Prager Putsch der Kommunisten (Februar 1948) eine ganz konkrete anti-totalitäre Politik betreiben musste, um gerade

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in Berlin den ausgreifenden Herrschaftskommunismus in die Schranken zu weisen. Trotz seiner vielfachen Vergleiche zwischen „rot“ und „braun“ versuchte er bis zu seinem frühen Tod, die Erinnerung an die NS-Diktatur besonders wach zu halten. Den Blick auf Berlin lenkt auch der Dresdner Politikwissenschaftler Uwe Backes, der die geistige Entwicklung der beiden sozialdemokratischen Politologen Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal verfolgt. Beide Protagonisten hatten in der Zeit des „Kalten Krieges“ als renommierte Hochschullehrer an der Freien Universität gewirkt und dort ihre totalitarismuskritischen bzw. totalitarismustheoretischen Werke verfasst. Backes legt dar, wie sich die vormaligen Marxisten (Fraenkel war linkes SPD-Mitglied, Löwenthal KPD-Angehöriger) und frühen Faschismus-Analytiker im angelsächsischen Exil zur westlichen Werteordnung bekannten und über diese Neuorientierung zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den beiden Großtotalitarismen gelangten. Dabei kann er zeigen, dass gerade der frühere Kommunist Löwenthal mit seiner Theorie von der „totalitären Revolution“ insofern neue Wege wies, als er auf die Großtotalitarismen (vor allem der UdSSR) innewohnende Permanenz und Dynamik aufmerksam machte. Zu einem völlig anderen Urteil kommt der Chemnitzer Politologe Eckhard Jesse in seinem Beitrag über die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse. Der geistige Wegbereiter der 1968er „Kulturrevolution“ habe mit seinem undifferenziertem Ansatz die westlichen Gesellschaften als ebenso totalitär (bzw. „repressiv“) wie die sozialistischen und faschistischen bezeichnet und damit die Augen vor den entscheidenden Unterschieden verschlossen. Den Schlusspunkt des Panels bilden Bernd Faulenbachs Betrachtungen über die demokratische Linke und die Umwälzung von 1989/90. Der Bochumer Historiker kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Sozialdemokratie, die noch in der Weimarer Zeit den totalitarismustheoretischen Ansatz antizipiert hatte und nach 1945 zu den entschiedensten Verfechtern der Totalitarismuskritik zählte, im Zuge der Entspannungspolitik und der inneren Wandlungen im Ostblock von den eigenen Erkenntnissen allmählich abrückte. In den 1980er Jahren habe schließlich die „Dominanz sicherheitspolitischen Denkens“ die notwendige weltanschauliche Auseinandersetzung und die Diktaturkritik noch weiter überdeckt. Aus diesem Grund habe die SPD die Legitimitätskrise des SED-Staates zu wenig wahrgenommen und im Herbst 1989 vor einer partiellen Handlungsunfähigkeit gestanden. Der Zerfall der Sozialdemokratie in unterschiedliche Meinungsfraktionen führte schließlich zu dem nur allzu bekannten Erscheinungsbild der Partei im Winter 1989/90. Die Gründung der SDP in der DDR wurde hingegen von Faulenbach und von mehreren Diskutanten (vor allem von Tilman Fichter) als quasi antitotalitärer Akt verstanden.

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V. Wie bei einem solchen Tagungsprojekt allgemein üblich, gilt es einer ganzen Reihe von Personen und Institutionen zu danken: zuallererst dem Leiter des Dresdner Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Christoph Wielepp, für die umfassende und engagierte Unterstützung bei der Realisierung der gemeinsamen Tagung in Meißen, sowie dem Geschäftsführer der Kurt-Schumacher-Gesellschaft e. V., Jürgen Maruhn, für die organisatorische Vorbereitung. Zu Dank verpflichtet bin ich darüber hinaus dem Leiter des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, Prof. Dr. Dieter Dowe, für die unkomplizierte Unterstützung vor Ort, ebenso dem Politikwissenschaftler und Publizisten Dr. Tilman Fichter für vielfältige inhaltliche Anregungen. Ein letzter Dank nach „außen“ geht an den Bonner Historiker Dr. Willy Albrecht, der mir bei meinen Forschungen zum Totalitarismusbegriff Kurt Schumachers hilfreich zur Seite stand. Schließlich bin ich weiteren Kolleginnen und Kollegen des Hannah-ArendtInstituts, die das Vorhaben unterstützt haben, zu Dank verpflichtet: vor allem den beiden stellvertretenden Direktoren, Prof. Dr. Uwe Backes, und Dr. Clemens Vollnhals, für wertvolle Hinweise und inhaltliche Anregungen, meiner damaligen studentischen Hilfskraft, Saskia Langhammer, für die umsichtige Hilfe bei der Vorbereitung und Organisation der Tagung, meinem damaligen Praktikanten, Peter Tietze, für die redaktionelle Betreuung eines Teils der Beiträge, den Mitarbeiterinnen der Bibliothek, Claudia Kegel, und Gabriele Schmidt, für die engagierte Literaturbeschaffung, sowie dem Publikationsteam des Hauses (Dipl.-Ing. Walter Heidenreich und Christine Lehmann) für die Mühen, den Band zur Druckreife zu bringen. Meiner Frau Nicole danke ich herzlich für ihr Engagement und ihre jederzeitige Unterstützung. Dresden, im März 2007

I. Frühe Analysen und Klärungsversuche (1918 bis 1933)

Bolschewismuskritik und Revolutionseuphorie. Das Janusgesicht der Rosa Luxemburg Werner Müller

1.

Einleitung

Rosa Luxemburg wurde in Teilen der Studentenbewegung nach 1968 – freilich im Schatten Mao Zedongs – wieder entdeckt und stieg danach in der politischen Linken zum Symbol eines nichtstalinistischen Kommunismus auf. Genau in dieser Zeit erschienen mehrere ausführliche Biographien über sie.1 Wie weit das – wie auch die Edition einer Werkauswahl2 – die Renaissance ihrer Lehren beförderte, muss dahingestellt bleiben. Die Urteile über sie variieren naturgemäß stark. Predrag Vranicki konstatierte in seiner Gesamtdarstellung des Marxismus, sie habe „in den ersten Reihen des deutschen und polnischen Sozialismus“ gestanden und fuhr fast euphorisch fort: „Aber ihr Name wird immer auf der Tafel der größten und strahlendsten Revolutionäre, deren Denken genauso wie ihr Werk glühte, geschrieben sein.“3 Dagegen verwies Leszek Kolakowski auf die für die Zeitgenossen geringe Wirkung: „Am Ende blieb alles, was an ihren theoretischen und politischen Überlegungen für Rosa Luxemburg spezifisch war, folgenlos, abgesehen von den verbalen Huldigungen polnischer und deutscher Kommunisten, die gelegentlich ihrem Andenken als Märtyrerin der revolutionären Sache gewidmet waren. Ihre Kritik am revolutionären Despotismus begann erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg Interesse zu wecken, als diese Art von Kritik bereits banal geworden war.“4

1

2 3 4

Die inzwischen klassische Studie von Peter Nettl erschien zuerst in englischer Sprache 1965. Zitiert wird im Folgenden nach Peter Nettl, Rosa Luxemburg, Frankfurt a. M. 1968. Kurz zuvor war die erste Biographie, verfasst von ihrem Testaments-Vollstrecker und engem Mitarbeiter Paul Frölich, wiederaufgelegt worden. Paul Frölich, Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat. Mit einem Nachwort von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1967. Ossip K. Flechtheim hatte 1967 eine (zuletzt) dreibändige Werkauswahl ihrer Politischen Schriften sowie ihr Werk „Zur russischen Revolution“ herausgegeben. Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, erweiterte Ausgabe, Band 1, Frankfurt a. M. 1983, S. 325. Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall, Band 2, 2. überarb. Auflage München 1981, S. 115.

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Die Kontroversen um ihr Werk und Wirken, zwischen den extremen Polen als „demokratische Marxistin“ oder sich doch nur in Nuancen von Lenin abhebende Bolschewistin, dauerten auch über das Ende der kommunistischen Staatenwelt in Europa an.5 Nach dem Ende der DDR hatten sich einige ihrer Historiker dieser Thematik ebenfalls mit veränderten Prämissen angenommen; insbesondere Annelies Laschitza legte erneut eine umfangreiche Biographie mit großer Sympathie für die Revolutionärin vor.6 Ein aus der Sicht des demokratischen Verfassungsstaates insgesamt defizitäre Bilanz zog in jüngerer Zeit Eckhard Jesse.7 Die Fronten in der Auseinandersetzung um Rosa Luxemburg sind somit nachvollziehbar; ihr Werk in fast allen Facetten ist gut zugänglich, weitere neue, bislang unerschlossene Akten sind kaum zu erwarten. Insofern muss sich die in der Überschrift enthaltene Fragestellung im Wesentlichen aus den Schriften Rosa Luxemburgs beantworten lassen. Es kann im Folgenden nur darum gehen, zentrale Aussagen auf ihre Reichweite zu prüfen, also ihre Kritik am Bolschewismus leninscher Prägung einerseits und ihr Revolutionsverständnis andererseits. Dabei wird das Augenmerk auf drei Problemkreise gerichtet: Zum ersten sind Luxemburgs Vorstellungen über den Massenstreik (und damit im Weiteren ihre Haltung zur parlamentarischen Demokratie) zu prüfen. Das hat sie ausgehend von den Lehren, die sie aus der russischen Revolution 1905/06 zog, nach 1910 und dann im Ersten Weltkrieg in eine immer tiefere Gegnerschaft zur deutschen Sozialdemokratie gebracht. Zum zweiten ist in den Mittelpunkt zu stellen ihre Kritik an Lenin, selbstverständlich mit dem Fokus auf die im Breslauer Gefängnis 1918 verfasste Broschüre „Zur russischen Revolution“, die ja zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlich wurde. Dabei ist zurückzugreifen auf ihre frühe Kritik an den Leninschen Parteiprinzipien. Zum dritten ist ihr praktisches und publizistisches Wirken in der Revolution 1918/19 zu beleuchten. Mit alledem wird sichtbar, dass sie nach der Jahrhundertwende sich mehr und mehr von den Grundsätzen und der praktischen Politik nicht nur der von Karl Kautsky repräsentierten marxistischen „Orthodoxie“ löste, zur der auch die mit dem Mannheimer Abkommen von 1906 fixierte Gleichberechtigung von Partei und Gewerkschaften gehörte. Sie suchte einen „Dritten Weg“, der sich vom westeuropäischen (deutschen und französischen) Sozialismus abhob und sich gleichermaßen vom eingeschlagenen Kurs Lenins und der Bolschewiki unterscheiden sollte. 5

6 7

Vgl. grundlegend Manfred Scharrer, Rosa Luxemburg – „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark“, sowie Ottokar Luban, Rosa Luxemburg – demokratische Sozialistin oder Bolschewistin?, beides: In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2000/2001, Berlin 2001, S. 391–408 und 409–420. Annelies Laschitza, Im Lebensrausch – trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie, Berlin 1996. Eckhard Jesse, Demokratie oder Diktatur? – Luxemburg und der Luxemburgismus. In: Uwe Backes/Stéphane Courtois (Hg.), „Ein Gespenst geht um in Europa“. Das Erbe kommunistischer Ideologien, Köln 2002, S. 187–212.

Bolschewismuskritik und Revolutionseuphorie

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Indes wird zu prüfen sein, in welchem Maße ihre politischen und theoretischen Gemeinsamkeiten mit der deutschen Sozialdemokratie verloren gingen und wie groß die Differenzen zu den Bolschewiki auch nach ihrer Kritik von 1918 tatsächlich waren. Damit kann auch der Frage nachgegangen werden, wie weit und mit welchem Ziel sie dem bolschewistischen Totalitäts-Anspruch und einer im Sinne Hannah Arendts totalitären Diktatur kritisch oder zumindest distanziert gegenüber gestanden hat. Oder umgekehrt formuliert: Ist Rosa Luxemburg – im Gegensatz zu Lenin – als eine demokratische Kommunistin8 anzusprechen, oder hat sie in diesen Auseinandersetzungen letztlich doch nur eine andere diktatorische Variante vertreten? Es geht im Folgenden selbstverständlich nicht um eine weitere Gesamtwürdigung ihres Denkens und ihres Wirkens. Daher müssen wesentliche Komplexe ausgeblendet bleiben, so etwa ihre Haltung zur nationalen Frage, zum Militarismus und erst recht ihr theoretisches Werk, das sie als Lösung eines Problems verstand, das im „Kapital“ von Marx offen geblieben war.9

2.

Massenbewegung und Massenstreik

Schon in der innersozialdemokratischen Debatte um Eduard Bernsteins Thesen zum Revisionismus hatte Rosa Luxemburg eine traditionelle, auf das revolutionäre Endziel bezogene Position vertreten, das für sie unverzichtbar blieb: „Aber ohne bestimmtes Endziel und ohne ökonomischen Boden in der gegenwärtigen Gesellschaft kann der proletarische Klassenkampf nicht geführt werden“, hielt sie Bernstein entgegen. Er habe „damit angefangen, das Endziel um der Bewegung willen aufzugeben. Da es aber tatsächlich keine sozialdemokratische Bewegung ohne das sozialistische Endziel geben kann, so endet er notwendig damit, dass er auch die Bewegung selbst aufgibt.“10 Ihre Kritik war zugleich radikal und polemisch: „Es ist dies eine Theorie der sozialistischen Versumpfung, vulgärökonomisch begründet durch eine Theorie der kapitalistischen Versumpfung“;11 sowie vor allem prinzipiell: Es handele „sich nicht um diese oder jene Kampfesweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die gesamte Existenz der sozialdemokratischen Bewegung.“12 8

Zur Frage des „demokratischen Kommunismus“ vgl. auch Werner Müller, Gab es in Deutschland einen demokratischen Kommunismus? In: ebd., S. 323–382. 9 Vgl. das Vorwort zu: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 5, Berlin (Ost) 1975, S. 7 – Im Folgenden werden der Einfachheit halber alle ihre Schriften aus dieser vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED besorgten Edition zitiert. Sie erschienen zwischen 1970 und 1975 in Berlin (Ost). Es folgten aus gleicher Herausgeberschaft fünf Bände „Gesammelte Briefe“ zwischen 1982 und 1984. 10 Sozialreform oder Revolution, Band 1/1, S. 436 und 437; Hervorhebungen (wie in den folgenden Passagen ebenfalls) im Original. 11 Ebd., S. 408. 12 Ebd., S. 370.

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Ein Hineinwachsen in den Sozialismus, wie es Bernstein für denkbar hielt, lehnte sie ab. Reform und Revolution besaßen unterschiedliche Qualitäten. „Es ist grundfalsch und ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als in die Breite gezogene Revolution und die Revolution als kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente.“13 In diesem Kontext relativierte sie auch den Stellenwert von Demokratie – Klassengegensätze blieben der bestimmende Faktor: „In den politischen Verhältnissen führt die Entwicklung der Demokratie, insofern sie günstigen Boden hat, zur Beteiligung aller Volksschichten am politischen Leben, also gewissermaßen zum ‚Volksstaat‘. Aber dies in der Form des bürgerlichen Parlamentarismus, wo die Klassengegensätze, die Klassenherrschaft nicht aufgehoben sind, sondern vielmehr entfaltet und bloßgelegt werden. Weil sich die ganze kapitalistische Entwicklung in Widersprüchen bewegt, so muss, um den Kern der sozialistischen Gesellschaft aus der ihm widersprechenden kapitalistischen Hülle herauszuschälen, auch aus diesem Grunde zur Eroberung der politischen Macht und zur gänzlichen Aufhebung des kapitalistischen Systems gegriffen werden.“14 Nicht Mehrheiten, sondern die ganze und ungeteilte politische Macht werden hier zur Voraussetzung der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse gemacht. Demokratie wird so zu einer bloß abhängigen Variablen. Sichtbar wurden hier bereits Rigorosität und Intransigenz in der Auseinandersetzung auch mit denen, die ihr zumindest grundsätzlich nahe standen. Die Überbetonung des Prinzipiellen, eine wenig ausgeprägte Fähigkeit zum Kompromiss blieb zeitlebens ein Charakterzug, der sich im Laufe ihrer politischen Entwicklung noch verstärkte. Das zeigte sich auch bald in ihrer Haltung zum Parlamentarismus. Auf dem Internationalen Sozialisten-Kongress in Amsterdam 1904 hatte sie die Haltung von Jean Jaurès scharf angegriffen, der den Eintritt eines sozialistischen Ministers in ein bürgerliches Kabinett verteidigt hatte. Auch hier führte sie Grundsätzliches an: „Jaurès macht aus dem Klassenkampf, aus der internationalen Solidarität eine Phrase.“15 Ähnlich wie das Prinzip Demokratie sah sie den Parlamentarismus zweitrangig an. „Der Parlamentarismus ist – weit entfernt, ein absolutes Produkt der demokratischen Entwicklung, des Fortschritts im Menschheitsgeschlechte und dergleichen schöner Dinge zu sein – vielmehr die bestimmte historische Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie und die – die andere Seite dieser Herrschaft – ihres Kampfes mit dem Feudalismus.“16 Die Verzahnung von Alltagspolitik und Kampf um die Zukunftsgesellschaft erfordern selbstverständlich die Beteiligung an Wahlen und die Ausnutzung parlamentarischen Chancen und Möglichkeiten, aber nicht eine Beschränkung auf 13 Ebd., S. 428. 14 Ebd., S. 431. 15 Internationaler Sozialistenkongress vom 14. bis 20. August 1904 in Amsterdam. In: ebd., Band 1/2, S. 446. 16 Sozialdemokratie und Parlamentarismus, ebd., S. 449.

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dieses. „Der wirkliche Weg führt vielmehr nicht durch Vertuschung und Preisgabe des proletarischen Klassenkampfes, sondern, gerade umgekehrt, durch die schärfste Betonung und Entfachung dieses Kampfes, und zwar im Parlament wie außerhalb desselben. Dazu gehört sowohl die Kräftigung der außerparlamentarischen Aktion des Proletariats wie eine bestimmte Gestaltung der parlamentarischen Aktion unserer Abgeordneten.“17 Diese haben durch „frische, großzügige Aktion“ nicht nur für das Minimalprogramm der Sozialdemokratie sondern auch für das sozialistische Endziel zu werben. Gelinge es dort, werde der Reichstag immer mehr „in der Achtung der großen Volksmasse steigen.“18 In der Tat: Die außerparlamentarische Aktion steht nicht nur neben, sondern im Grunde vor der parlamentarischen Arbeit. Hier war bereits (im Dezember 1904) ein Grundgedanke angeführt, der mehr und mehr ihr Denken bestimmen sollte – „die direkte Aktion der proletarischen Masse“.19 Die russische Revolution von 1905/06 interpretierte sie als neue Stufe revolutionärer Massenkämpfe.20 „So geht die heutige Revolution in Russland in ihrem Inhalt über die bisherigen Revolutionen weit hinaus, uns sie kann in ihren Methoden weder an die alten bürgerlichen Revolutionen noch an die bisherigen – parlamentarischen – Kämpfe des modernen Proletariats anknüpfen. Sie hat eine neue Kampfmethode geschaffen, die ihrem proletarischen Charakter wie der Verbindung des Kampfes um die Demokratie mit dem Kampfe gegen das Kapital entspricht – den revolutionären Massenstreik“, formulierte sie geradezu euphorisch unter dem Eindruck der russischen Ereignisse.21 Die bisherigen Studien und Erfahrungen zum Massenstreik seien weitgehend antiquiert. Die Revolution „hat zum ersten Male in der Geschichte der Klassenkämpfe eine grandiose Verwirklichung der Idee des Massenstreiks und [...] selbst des Generalstreiks gezeigt und damit eine neue Etappe in der Entwicklung der Arbeiterbewegung eröffnet.“22 Sie bewirkte nach Luxemburgs Einschätzung zugleich eine Revision wie eine Erneuerung des Marxismus. Sie leitete diese Entwicklung aus einer abstrakten historischen Gesetzmäßigkeit ab. „Gleichzeitig trat die Notwendigkeit einer allgemeinen Erhebung zum offenen Straßenkampf auf die Tagesordnung. Obwohl sie von der Sozialdemokratie von Anfang an vorausgesehen und verkündet wurde, kam sie dennoch nicht als eine der Masse aufgezwungene künstliche Erfindung der ‚Aufwiegler‘, sondern als Ergebnis, als logische Konsequenz aus dem bisherigen Verlauf der Revolution. Diese Notwendigkeit ergab sich von selbst aus der Lage, aus der Entwicklung des revolutionären Kampfes, aus der Erschöpfung der Ausflüchte auf Seiten des Zarismus, aus der Erhöhung des Bewusstseins und der Steige17 18 19 20

Ebd., S. 453. Ebd., S. 455. Ebd., S. 454. Lenin hatte diese Ereignisse aus der Ferne zur Kenntnis genommen. Robert Service, Lenin. Eine Biographie, München 2000, S. 245. 21 Die russische Revolution. In: Gesammelte Werke, Band 2, S. 8 f. 22 Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, ebd., S. 95.

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rung der Kraft auf Seiten der Revolution.“23 Nach ihrem Verständnis wirkten „objektive“ und „subjektive“ Faktoren zusammen, traten in Wechselwirkung und beschleunigten die Entwicklung. Das schließe Momente der Stagnation oder der Schwäche ein. Sie unterscheide sich „gerade dadurch von den herrlichen und blendenden bürgerlichen Revolutionen, dass sie voller scheinbarer Schwankungen, scheinbarer Niederlagen und sogar voll scheinbaren Zurückweichens ist.“24 Rosa Luxemburg sah die Anarchisten und die organisationsfixierte deutsche Sozialdemokratie als historische Verlierer dieser Ereignisse. Sie diagnostizierte sogar „eine geschichtliche Liquidation des Anarchismus“, der mit seinen Konzepten einer „direkten Aktion“ und einem auslösenden Fanal für revolutionäre Prozesse völlig gescheitert sei. Ihre Wortführer waren nicht präsent oder fanden kein Gehör, sie „existierten als ernste politische Richtung überhaupt in der russischen Revolution gar nicht.“25 Auf der anderen Seite: „Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen aber heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die [...] durch ein Verbot des ‚Propagierens‘ das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen möchten.“26 Die deutsche Sozialdemokratie, so Luxemburg, sehe den Massenstreik als „einen einmaligen grandiosen Aufstand des Industrieproletariats, der aus einem politischen Anlass von höchster Tragweite unternommen, und zwar auf Grund einer rechtzeitigen gegenseitigen Verständigung der Partei- und gewerkschaftlichen Instanzen unternommen, dann im Geiste der Disziplin in größter Ordnung durchgeführt und in noch schönster Ordnung auf rechtzeitig gegebene Weisung der leitenden Instanzen abgebrochen wird, wobei die Regelung der Unterstützung, der Kosten, der Opfer, mit einem Wort, die ganze materielle Bilanz des Massenstreiks, im Voraus genau bestimmt wird.“27 In der Tat beschrieb sie hier – vermutlich ironisch – die Streikkultur der deutschen Gewerkschaften vor dem Ersten Weltkrieg. Offenkundig war ihr der Geist von Organisation und Disziplin auf dem Boden der Freiwilligkeit trotz ihres jahrelangen Wirkens in Deutschland fremd geblieben. Sie war statt dessen von der Naturwüchsigkeit, Vielfalt und Vielschichtigkeit der russischen Vorgänge fasziniert. „Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, dass er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich birgt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend.“28 Er sei

23 24 25 26 27 28

In revolutionärer Stunde: Was weiter?, ebd., S. 21. Ebd. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, ebd., S. 96. Ebd., S. 98. Ebd., S. 102. Ebd., S. 124.

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insgesamt „die Bewegungsweise der politischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution.“29 Sie sah in diesem neuen Phänomen verschiedene allgemeine Punkte. Zum ersten war der Massenstreik nicht als eine einzelne Aktion zu sehen, sondern ein Sammelbegriff für eine längere, sogar jahre- oder jahrzehntelange Phase der Klassenauseinandersetzungen. Der politische Demonstrationsstreik war nur eine – selten anzutreffende – Unterkategorie. Eine ungleich größere Bedeutung sagte sie indes den Maidemonstrationen voraus. Das zweite Merkmal in ihrer Sicht war die Herausbildung eines Typs von Kampfstreiks, in dem politische und wirtschaftliche Momente kaum noch zu trennen sind. Der Massenstreik in ihrem Sinne dürfe also nicht vom gewerkschaftlichen Generalstreik hergeleitet werden. Zum dritten seien Massenstreik und Revolution „unzertrennlich“.30 „Nur in der Gewitterluft der revolutionären Periode vermag sich nämlich jeder partielle kleine Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu einer allgemeinen Explosion auszuwachsen.“ Eine revolutionäre Situation fehle in Deutschland. Die Fülle der Arbeitskämpfe habe dort eben nicht dazu geführt, den Funken überspringen zu lassen. Viertens stelle sich die Frage der Leitung neu. Wenn es sich um einen länger dauernden Prozess handelt, kann darüber keine Leitung entscheiden; er kann auch nicht organisiert werden. Das Kommando ist „Sache der revolutionären Periode selbst“.31 Die Sozialdemokratie habe die politische Leitung zu übernehmen, „die Taktik des politischen Kampfes so einzurichten, dass in jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten, betätigten Macht des Proletariat realisiert wird und in der Kampfstellung der Partei zum Ausdruck kommt“.32 Die selbständige Aktion des Proletariats, allenfalls von der Partei gebündelt und kanalisiert, ist letztlich eine „natürliche geschichtliche Erscheinung“.33 Ist die revolutionäre Bewegung erst einmal auf dem Weg, könne sie nach Rosa Luxemburgs Verständnis nicht mehr zum Anhalten gebracht werden. Mit dieser neuen Form der Revolution werde eine „Zivilisierung und Milderung“ der Klassenkämpfe erreicht. Das bedeutete keineswegs die Verlagerung in parlamentarische Kämpfe und die Abschaffung der „Straßenrevolution“. Diese werde nicht überflüssig, bedeute in der langen Revolutionsperiode aber ein „enormes Kulturwerk“, weil es die „materielle und geistige Hebung der Arbeiterklasse durch die ‚Zivilisierung‘ der barbarischen Formen der kapitalistischen Ausbeutung“ befördere.34 Mit anderen Worten: das Proletariat ist lernfähig und versteht es immer besser, sich in den Klassenauseinandersetzungen zu wehren. Ein Haupthindernis für derartige Massenaktionen diagnostizierte 29 30 31 32 33 34

Ebd., S. 125. Ebd., S. 129. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd., S. 146. Ebd., S. 148 f.

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sie auch schnell: die organisatorische Trennung der sozialistischen Bewegung in Partei und Gewerkschaften.35 Als Deutschland 1910 eine Welle von Arbeitskämpfen erlebte und das preußische Wahlrecht erneut in die Diskussion geriet,36 wiederholte Luxemburg ihre Positionen in einer Polemik gegen Karl Kautsky: „Die Masse selbst soll eben für alle Eventualitäten reif sein und selbst ihre Aktionen bestimmen“. Man könne ihr nicht verbieten, sich mit dem Massenstreik zu beschäftigen; im Marxschen Geist sei der Massenstreik in Deutschland „ein Mittel zur Klassenaufklärung und Organisation der breitesten Schichten des Proletariats“.37 Ihr Glaube an die „Massen“ hatte sie trotz breiten publizistischen Wirkens in der SPD allmählich in eine Randstellung gedrängt; den realen Kontakt mit Parteimitgliedern und Funktionären hatte sie weitgehend verloren. Aktionen der „Massen“, gegründet auf Bewusstsein und Organisation, waren für sie die entscheidende Triebkraft für eine sozialistische Revolution, die selbst eine historische Notwendigkeit war. Der Zusammenbruch des Kapitalismus war zugleich nicht automatisch vorgegeben, er musste revolutionär überwunden werden. Kautskys Vision des „großen Kladderadatsch“ teilte sie nicht. Den Problemen der Stabilität in der Phase des Imperialismus ging sie in einem umfangreichen theoretischen Werk nach.38 Diese Erkenntnisse und ihr politischer Kampf gegen Imperialismus und Militarismus brachten sie zu der eindeutigen Alternative Sozialismus oder Barbarei. Die Entscheidung von Parteivorstand und Reichstagsfraktion der SPD vom 4. August 1914 wirkten für sie wie ein Schock. Sie und eine kleine Zahl von Mitstreitern beschlossen an diesem Tage, „den Kampf gegen den Krieg und die Kriegspolitik der eigenen Partei aufzunehmen. Das war der Beginn der Rebellion“, formulierte ihr erster Biograph Paul Frölich.39 In der Tat bildete nun die Führung der Sozialdemokratie den Kern ihres Feindbildes – fast gleichrangig mit dem „Imperialismus“. Den „Zusammenbruch“ von Partei und Internationale erschien ihr als „ein in der Geschichte aller Zeiten beispielloser“.40 Ihre Aversion gegen Organisation und Disziplin schien bestätigt: „Gerade die mächtige Organisation, gerade die vielgepriesene Disziplin41 der deutschen Sozialdemokratie bewährten sich darin, dass der vier Millionen starke Körper sich auf Kommando einer Handvoll Parlamentarier in vierundzwanzig Stunden wenden und vor einen Wagen spannen ließ, gegen den Sturm zu laufen sein Lebensziel war.“42 Warum die „Massen“ dem „Kommando“ einer kleinen Gruppe von Parteiführern und Parlamentariern folgten, fragte sie nicht. 35 Ebd., S. 154. Vgl. auch ihre Rede auf dem Parteitag der SPD gegen das „Mannheimer Abkommen“, ebd., S. 171–173. 36 Für vieles: Nettl, Luxemburg, S. 403. 37 Ermattung oder Kampf?, ebd., S. 352. 38 Die Akkumulation des Kapitals, vgl. oben. 39 Frölich, Luxemburg, S. 246. 40 Der Wiederaufbau der Internationale. In: Gesammelte Werke, Band 4, S. 20. 41 Vgl. auch Parteidisziplin, ebd., S. 15. 42 Der Wiederaufbau der Internationale, ebd., S. 23.

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Ihre scharfe Frontstellung gegen die eigene Partei wurde auch international publik, als sie in einer im Berliner Gefängnis 1915 verfassten Schrift die Kriegsschuld der deutschen und österreichischen Führung enthüllte und die Selbstrechtfertigung der Vaterlandsverteidigung als Legende entlarvte.43 Aus der Kritik an der Kriegspolitik erwuchs eine radikale Kapitalismuskritik. „Das eigentliche Problem, das der Weltkrieg vor die sozialistischen Parteien gestellt hat und von dessen Lösung die weiteren Schicksale der Arbeiterbewegung abhängen, ist die Aktionsfähigkeit der proletarischen Massen im Kampfe gegen den Imperialismus. Nicht an Postulaten, Programmen, Losungen fehlt es dem internationalen Proletariat, sondern an Taten, an wirksamem Widerstand, an der Fähigkeit, den Imperialismus im entscheidenden Moment gerade im Kriege anzugreifen und die alte Losung ‚Krieg dem Kriege‘ in die Praxis umzusetzen.“44 Dem ging voraus: „Für das europäische Proletariat im Ganzen sind heute von seinem Klassenstandpunkt Sieg oder Niederlage jedes der kriegführenden Lager gleich verhängnisvoll. Es ist eben der Krieg als solcher und bei jedem militärischen Ausgang, der die denkbar größte Niederlage für das europäische Proletariat bedeutet, es ist die Niederkämpfung des Krieges und die schleunigste Erzwingung des Friedens durch die internationale Kampfaktion des Proletariats, die den einzigen Sieg für die proletarische Sache bringen kann.“45 Rosa Luxemburg blieb ihren früher entwickelten Maximen treu. Der Appell an die Massen, die Erwartung eines sich spontan entwickelnden Flächenbrandes, der in vielfältiger Form den Imperialismus zu stürzen in der Lage ist. Ihre Erwartungen (im Frühjahr des Jahres 1915, als sich in Deutschland die Antikriegs-Opposition zu formieren begann und sich in der SPD langsam ausbreitete)46 kleidete sie in pathetisch klingende Formulierungen: „Trotz Militärdiktatur und Pressezensur, trotz Versagens der Sozialdemokratie, trotz brudermörderischen Kriegs steigt aus dem ‚Burgfrieden‘ mit Elementargewalt der Klassenkampf und aus den Blutdämpfen der Schlachtfelder die internationale Solidarität der Arbeiter empor. Nicht in den schwächlichen Versuchen, die alte Internationale künstlich zu galvanisieren, nicht in den Gelöbnissen, die bald hier, bald dort erneuert werden, nach dem Kriege sofort wieder zusammenzustehen. Nein, jetzt, im Kriege, aus dem Kriege entsteht mit ganz neuer Macht und Wucht die Tatsache, dass die Proletarier aller Länder ein und dieselben Interessen haben. Der Weltkrieg widerlegt selbst die von ihm geschaffene Täuschung.“47

Ihre Maxime des revolutionären Klassenkampfs gegen den Imperialismus führte sie nicht nur in eine Frontstellung gegen die SPD, sondern auch gegen die zunächst heterogene Partei der Kriegsgegner, die sich zu Ostern 1917 als USPD

43 44 45 46

Die Krise der Sozialdemokratie, ebd., S. 51–164. Ebd., S. 159. Ebd., S. 158. Vgl. immer noch grundsätzlich Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974, S. 75 ff. 47 Die Krise der Sozialdemokratie. In: Gesammelte Werke, Band 4, S. 153.

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konstituierte. Allerdings blieb sie mit ihrer kleinen Gruppe des Spartakusbundes bis zum Ende des Jahres 1918 unter dem „schützenden Dach“ dieser Partei.

3.

Lenin und der Bolschewismus

Bereits im Jahre 1903 hatte Rosa Luxemburg an den Organisationsgrundsätzen der Bolschewiki, die maßgeblich von Lenin formuliert worden waren, Kritik geübt.48 Sie spiegelte ihr sich verfestigendes Verständnis des Wechselverhältnisses von Proletariat und Organisation wider. Es ging ihr zunächst um das „Prinzipielle“ unter Ausschaltung des „durch jeden Lokalismus bedingte Borniertheit des Gesichtskreises“. Sie konzedierte also besondere Probleme für die Organisation der russischen Partei, ein Experiment, „eine Sozialdemokratie ohne die unmittelbare politische Herrschaft der Bourgeoisie.“ Organisation – wie auch Agitation – sah sie nicht als synthetisches Konstrukt, sondern als ein „historisches Produkt des Klassenkampfes“.49 Sie war daher der Ansicht, dass der Übergang von vereinzelten und regional verstreuten Gruppen einen gewissen Zentralismus erfordere, um dann ihre Kritik an die „ultrazentralistische“ Richtung Lenins, seinen „rücksichtslosen Zentralismus“ zu richten. Sie verwarf dessen Kernelemente, „einerseits die scharfe Heraushebung und Absonderung der organisierten Trupps der ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden Milieu, andererseits die straffe Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmende Einmischung der Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Lokalorganisationen der Partei.“50 Damit hatte sie alle wesentlichen Elemente des Leninschen Parteikonzepts verworfen: Die Partei einer revolutionären Avantgarde von Berufsrevolutionären, den Zentralismus, die ans Militärische grenzende Disziplin und nicht zuletzt den Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol.51 Suspekt war ihr ebenfalls der Grundsatz des „verschwörerischen Zentralismus“, die „absolute blinde Unterordnung der Einzelorgane der Partei unter ihre Zentralbehörde und die Erweiterung der entscheidenden Machtbefugnisse dieser letzteren bis an die äußere Peripherie der Parteiorganisation.“52 Trotz der schwierigeren Bedingungen politischer Organisation in Russland stieß der dortige Führungsanspruch der intellektuellen Parteielite auf ihren Widerspruch. Es sei „verkehrt, zu denken, dass sich die noch unausführbare Majoritätsherrschaft der aufgeklärten Arbeiterschaft innerhalb ihrer Parteiorganisation ‚vorläufig‘ durch eine ‚übertragene‘ Alleinherrschaft der Zentralgewalt 48 49 50 51

Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, ebd., Band 1/2, S. 422–446. Ebd., S. 422 und 423. Ebd., S. 425. Lenin verteidigte in einer umfangreichen Polemik seine Position auf und nach dem Parteitag von 1903. Dabei griff er seine Widersacher auch persönlich an. Vgl. W. I. Lenin, Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück. In: ders., Werke, Band 7, 6. Auflage Berlin (Ost) 1973, S. 197–430. 52 Organisationsfragen, S. 428.

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ersetzen lasse“.53 Immerhin hatte sie hier das Mehrheitsprinzip angesprochen, wenn auch in einem sehr eingeschränkten und zugespitzten Sinne, nämlich beschränkt auf die „aufgeklärten“ Arbeiter, also diejenigen, die die Grundprinzipien der Bewegung teilten. Ihrer Ablehnung verfiel ferner Lenins Grundsatz, mit dem Parteistatut ein Instrument zur „Einheit und Reinheit“ der Partei zu entwickeln, also den „Opportunismus“ bekämpfen und ausschließen zu können. „Aber der Nachtwächtergeist des von Lenin und seinen Freunden befürworteten Ultrazentralismus ist bei ihm nicht etwa ein zufälliges Produkt von Irrtümern, sondern er steht im Zusammenhang mit einer bis ins kleinste Detail der Organisationsfragen durchgeführten Gegnerschaft zum – Opportunismus.“54 Sie bezeichnete es als „wunderliche Idee, gleich in den Anfängen einer Arbeiterbewegung das Aufkommen opportunistischer Strömungen durch die eine oder andere Fassung des Organisationsstatuts verbieten zu können“.55 Ihre Darlegungen über den Opportunismus schlossen Ausführungen über die Rolle der Intelligenz in der Partei ein. Luxemburg unterstellte einen sichtbaren Zusammenhang zwischen dem „akademischen Element“ in der Bewegung und der Neigung zum Opportunismus. Schlimmer noch: der Parlamentarismus unterstütze „all die bekannten Illusionen des jetzigen Opportunismus [...], die Überschätzung der Reformarbeit, des Zusammenwirkens der Klassen und Parteien, der friedlichen Entwicklung usw., er bildet zugleich den Boden, auf dem sich diese Illusionen praktisch betätigen können, indem er die Akademiker auch in der Sozialdemokratie als Parlamentarier von der proletarischen Masse absondert, gewissermaßen über sie emporhebt.“56 Im „Generalverdacht“ gegen die Akademiker in der Sozialdemokratie waren sich Luxemburg und Lenin in den Grundzügen einig, charakteristisch ist jedoch, wie beide als Akademiker sich über die Arbeiter einerseits und den Opportunismus andererseits äußerten. Beide beanspruchten selbstverständlich, völlig im Recht zu sein. Kompromisse waren nicht ihre Sache. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden über die Organisationsgrundsätze waren beträchtlich; sie einte jedoch die fundamentale Kritik an Parlamentarismus, Pluralismus und Mehrheitsprinzip. Die nächste größere Kritik an Lenin verfasste Luxemburg einige Monate nach der Oktoberrevolution im Gefängnis, weitgehend abgeschnitten von Informationen sowohl durch die Lage im revolutionären Russland selbst wie durch 53 Ebd., S. 431. 54 Ebd., S. 435. – Lenin beschreibt den Opportunismus wie folgt: „seine Unbestimmtheit, Verschwommenheit und Ungreifbarkeit. Seiner ganzen Natur geht der Opportunist stets einer eindeutigen und unwiderruflichen Fragestellung aus dem Wege, er sucht eine Resultante, schlängelt sich zwischen den Standpunkten hindurch, die einander ausschließen, bemüht sich, mit dem einen wie dem andern ‚einverstanden zu sein‘, beschränkt seine Meinungsverschiedenheiten auf kleine Abänderungsvorschläge, auf Zweifel, auf fromme und unschuldige Wünsche usw. usf.“ Lenin, Werke, Band 7, S. 408. 55 Organisationsfragen, S. 443. 56 Ebd., S. 437.

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die Zensur der Militärbehörden in Deutschland. Die so entstandene Schrift, die zudem Paul Levi erst nach seinem Austritt aus der KPD 1922 publizierte,57 konnte folglich in der Revolutionsphase keine Wirkung entfalten. Sie dürfte überdies noch im Schatten von Levis eigener Bolschewismus-Kritik gestanden haben, die früher veröffentlicht worden war und die in die politische Auseinandersetzung unmittelbar einfloss.58 Gerade aber der fehlende Bezug zu den aktuellen Tages-Auseinandersetzungen dürfte Anlass geben, in Luxemburgs Schrift grundsätzliche Aussagen und Überlegungen zu vermuten. Bei aller Kritik verteidigt sie die russische Revolution und weist die Verantwortlichkeit für ihr Schicksal dem internationalen, insbesondere dem deutschen Proletariat zu. Ferner geht sie davon aus, dass es letztlich keine andere Möglichkeit gegeben habe. „Die wirkliche Situation der russischen Revolution erschöpfte sich nach wenigen Monaten in der Alternative: Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats, Kaledin oder Lenin. Das war die objektive Lage, die sich in jeder Revolution sehr bald, nachdem der erste Rausch verflogen ist, ergibt und die sich in Russland aus den konkreten brennenden Fragen nach dem Frieden und der Landfrage ergab“.59 Sie rechtfertigte die Verweigerung der Bolschewiki zu Volksabstimmungen über die Zugehörigkeit zu Sowjetrussland: „Auch ohne die deutsche militärische Okkupation hätte die famose ‚Volksabstimmung‘, wäre es in den Randländern zu einer solchen gekommen, bei der geistigen Verfassung der Bauernmassen und großer Schichten noch indifferenter Proletarier, bei der reaktionären Tendenz des Kleinbürgertums und den tausend Mitteln der Beeinflussung der Abstimmung durch die Bourgeoisie, mit aller Wahrscheinlichkeit allenthalben ein Resultat ergeben, an dem die Bolschewiki wenig Freude erlebt hätten. Kann es doch in Sachen dieser Volksabstimmungen über die nationale Frage als unverbrüchliche Regel gelten, dass [...]60 wir auf dem Wege von Volksabstimmungen keinen Sozialismus einführen können.“61

Ähnlich ambivalent beurteilte sie die Auflösung der Konstituante im Januar 1918: „Da die Konstituierende Versammlung lange vor dem entscheidenden Wendepunkt, dem Oktoberumschwung, gewählt und in ihrer Zusammensetzung das Bild der überholten Vergangenheit, nicht der neuen Sachlage spiegelte, so ergab sich von selbst der Schluss, dass sie eben die verjährte, also totgeborene Konstituierende Versammlung kassierten und ungesäumt Nachwahlen zu einer neuen Konstituante ausschrieben! Sie wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung anvertrauen, die das gestrige, Kerenski57 Angaben zur Erstveröffentlichung enthält Paul Levi, Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie. Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe. Hg. und eingeleitet von Charlotte Beradt, Frankfurt a. M. 1969, S. 97 f. 58 Vgl. Paul Levi, Wider den Putschismus. Mit einem Artikel von Karl Radek als Anhang, 2., mit einem neuen Vorwort versehene Auflage Berlin 1921. 59 Zur russischen Revolution, ebd., Band 4, S. 339. 60 Sie nennt an dieser Stelle eine Vielzahl von Gründen. 61 Zur russischen Revolution, ebd., S. 349.

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sche Russland, die Periode der Schwankungen und der Koalition mit der Bourgeoisie spiegelte.“62 Die Interpretation wäre nicht überdehnt, würde man Luxemburg unterstellen, dass sie das Stimmrecht nur denen zugestehen wollte, die zum „richtigen“ Ergebnis beitragen. Das gilt hier für die Wahlen zur Konstituante, wie für die zurückliegenden Beispiele der Volksabstimmungen und der innerparteilichen Wahlen, die sie der „aufgeklärten“ Arbeiterschaft zubilligen wollte. Ihre Kritikpunkte an Lenin und der Führung der Bolschewiki waren deutlich und sind immer wieder zitiert. „Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presseund Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne [...] Solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschießungen etc. Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag. Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, dass sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. ‚Diktatur oder Demokratie‘ heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky.“

Sie attestiert beiden, entweder für die bürgerliche Diktatur oder für die bürgerliche Demokratie einzutreten. „Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik.“ Ihr Plädoyer zielte auf die „sozialistische Demokratie“, die jedoch „nicht erst im gelobten Lande“ beginne (und auch nicht als „fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk“ zu betrachten sei), sondern „mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats“. Dieses Diktum konkretisiert sie wenig später: „Jawohl: Diktatur! Aber die Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche die sozialistische Umwälzung sich nicht verwirklichen lässt. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse sein und nicht einer kleinen führenden Minderheit im Namen der Klasse“.63 Damit kehrte sie zu einem ihrer Ausgangspunkte zurück: die sozialistische Revolution als letztlich alles legitimierender Zweck.

62 Ebd., S. 353. 63 Ebd., S. 362 f.

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An den Rand des Manuskripts hatte sie zur Wahlproblematik handschriftlich hinzugesetzt: „Sowohl Sowjets als Rückgrat wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht“.64 Eine weitere Randbemerkung wenig später enthielt die Sätze: „Freiheit nur für die Anhänger einer Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie auch noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende; Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“65 In der Tat: Auf den ersten Blick scheinen die beiden Randbemerkungen eindeutig und zweifelsfrei. Doch der geschilderte Kontext nährt Zweifel. Im ersten Fall ist klar, dass Rosa Luxemburg zwei nicht miteinander zu vereinbarende Bereiche benennt. Sowjets als Räteherrschaft (und nicht als Synonym für bolschewistische Parteidiktatur) auf der einen und verfassungsgebende Versammlung sowie allgemeines Wahlrecht auf der anderen Seite schließen einander aus. Wie oben schon genannt, plädierte sie mehrfach gegen ein allgemeines Wahlrecht. Die Einordnung des „Freiheits“-Zitats fällt noch schwerer. Es gibt keine Hinweise darauf, wann die Bemerkung in das Manuskript hineinkam. Es ist unwahrscheinlich, dass sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis am 9. November 1918 ein „altes“ Manuskript erneut zur Hand nahm und die Bemerkung hinzufügte. Die (wiederholt geäußerte) Abneigung gegen das Prinzip allgemeiner Wahlen sowie das vehemente Bekenntnis zum Prinzip der Diktatur legen nahe, dass sie Freiheit letztlich nur den „proletarischen Massen“ und den Anhängern linker Parteien zubilligen wollte. In Kontinuität ihrer Anschauungen seit 1905/06 befürwortete sie Unterdrückung und Entrechtung, die „Eingriffe in die wohlerworbenen Rechte der bürgerlichen Gesellschaft“, zugleich blieben für sie „die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die revolutionäre Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus“ die entscheidenden Maßstäbe.66 In diesem Punkte hielt sie bis zuletzt an ihren Anschauungen fest. Auch das Programm des Spartakusbundes beschwört die Vision eines aktiven Proletariats; vom Volk oder gar von den Rechten von Minderheiten ist nicht die Rede. Insofern bleibt eine gewisse Widersprüchlichkeit erhalten. Die beiden Zusatz -Sätze stehen im eigentümlichen Kontrast zu dem übrigen Text, der in weiten Teilen mehr einer Rechtfertigung der Oktoberrevolution als ihrer Kritik dient. Sie rechtfertigt die Defizite der Bolschewiki in Anschluss an ihrem Appell zur Diktatur des Proletariats: „Genau so würden auch sicher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkrieges, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen.“67 64 65 66 67

Ebd., S. 358. Ebd., S. 359. Ebd., S. 365. Ebd., S. 364.

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Der gleiche Begründungszusammenhang dient ihr auch zur Rechtfertigung des Terrors: „Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors durch die Räteregierung [...] Alles, was in Russland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlusssteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Russlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig genug geleistet, was unter den verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war.“68

Ihre abschließende, außerordentlich emphatische Würdigung der Bolschewiki und der Oktoberrevolution lässt keinen Platz für eine Äquidistanz zu den zuvor genannten zwei Polen, Kautsky und Lenin. Den Bolschewiki attestiert sie „das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen“ zu sein.69 Die Revolutionseuphorie hatte die Bolschewismuskritik fast völlig verdrängt.

4.

November 1918 bis Januar 1919

Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis stand – die auch gesundheitlich angeschlagene – Rosa Luxemburg in der Führung des Spartakusbundes im Schatten von Karl Liebknecht, der die Funktion als Sprecher des Spartakusbundes mit rastloser Energie ausfüllte. Dem Spartakusbund, der in Berlin und erst recht im Reich weitgehend einflusslos war, blieb nur der Weg, agitatorisch und publizistisch zu wirken. Rosa Luxemburg befürwortete mit Macht das Verbleiben des Spartakusbundes in der USPD – die Kräfte zum Aufbau einer eigenen Organisation wurden von ihr als nicht ausreichend betrachtet. Die Übernahme des Berliner Lokal-Anzeigers scheiterte; es konnte dort vorerst nur eine einzige Ausgabe der „Roten Fahne“ gedruckt werden. Rosa Luxemburgs erste publizistische Äußerung fiel auf den 18. November.70 Sie formulierte Zielstellungen und Aufgaben der deutschen Revolution und knüpfte dazu nahtlos an ihre bisherigen Maximen an. „Abschaffung der Kapitalsherrschaft“ und „Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte, Sicherung des Revolutionswerkes vor seinen laufenden Feinden“, formulierte sie dort. Das Weitertreiben der Revolution wurde bis zu ihrem Tode das zentrale Charakteristikum ihres Wirkens. Der 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Der Anfang, ebd., S. 397–400.

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Stand einige Tage nach dem Zusammenbruch der Monarchie war für sie äußerst unbefriedigend; es habe sich kaum etwas geändert. Die Regierung des Rates der Volksbeauftragten aus SPD und USPD betrachtete sie nicht als sozialistisch, nicht ohne Zynismus hielt sie die Regierung Ebert-Scheidemann für „die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium“. Auf der Tagesordnung stehe heute die „Verwirklichung des sozialistischen Endziels“. Sie agitierte in der Folgezeit gegen die Nationalversammlung und für den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte als oberstes Machtorgan, womit sie sich auch gegen ihre eigene Partei, die USPD, stellte.71 Zugleich legte sie eine allgemeine Konzeption zur Sozialisierung vor, die sich vor allem auf eine Vergesellschaftung der Großbetriebe erstrecken sollte. Darüber hinaus plädierte sie für eine allgemeine Arbeitspflicht. Das Problem der Arbeitsmotivation schob sie auf die Ebene der „inneren Wiedergeburt des Proletariers“, der nun zeigen müsse, dass er auch „ohne die Hungerpeitsche, ohne den Kapitalisten [...] fleißig und ordentlich arbeiten, Disziplin halten und sein Bestes leisten kann“.72 Am 14. Dezember veröffentlichte die „Rote Fahne“ das von ihr geschriebene Programm des Spartakusbundes,73 das mit geringen Modifikationen rund zwei Wochen später vom Gründungsparteitag als Parteiprogramm der KPD angenommen wurde. Sie blieb auch hier ihren Grundauffassungen treu, dem Glauben an die Wirkungsmacht der „Massen“ und der Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft. So forderte sie den kompletten Umbau der Staatsmacht, die Beseitigung aller bürgerlichen Institutionen und deren Ersetzung durch Arbeiter- und Soldatenräte auf allen Ebenen. Das, wie auch die Umwälzung in der Wirtschaft erforderte ein beständig aktives bewusstes Proletariat – ein Element, über dessen Realisierungschancen sie nie Genaueres publiziert hatte. Im Programm hieß es: „Nur die Arbeiterschaft kann das Wort durch die eigene Tat zum Fleische machen. In zähem Ringen mit dem Kapital, Brust an Brust in jedem Betriebe, durch unmittelbaren Druck der Massen, durch Streiks, durch Schaffung ihrer ständigen Vertretungsorgane können die Arbeiter die Kontrolle über die Produktion und schließlich die tatsächliche Leitung an sich bringen. Die Proletariermassen [...] müssen das Verantwortungsgefühl wirkender Glieder der Allgemeinheit erwerben, die Alleinbesitzerin gesellschaftlichen Reichtums ist. Sie müssen Fleiß ohne Unternehmerpeitsche, höchste Leistung ohne kapitalistische Antreiber, Disziplin ohne Joch und Ordnung ohne Herrschaft entfalten.“74 Darüber hinaus skizzierte sie eine friedliche und gewaltfreie Entwicklung. „Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft [...]. Sie ist kein verzweifelter 71 72 73 74

Parteitag der Unabhängigen SP, ebd., S. 425–428. Die Sozialisierung der Gesellschaft, ebd., S. 433–436. Was will der Spartakusbund?, ebd., S. 442–451. Ebd., S. 444 f.

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Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmassen des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen.“ Wenig später setzte sie diesem Idyll aber eine weniger friedliche Perspektive entgegen: „Der Kampf um den Sozialismus ist der gewaltigste Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte gesehen, und die proletarische Revolution muss sich für diesen Bürgerkrieg das nötige Rüstzeug bereiten“.75 Solche Sätze erinnerten an ihre Ausführungen zur russischen Revolution, in denen sie den roten Terror als von außen erzwungen erklärt hatte. Aussagen, die auf Demokratisierung zielten, standen auch an anderer Stelle unverbunden neben Kampfansagen an den „Feind im eigenen Lager“. Als Bekenntnis zur Mehrheitsdemokratie könnte der Passus verstanden werden: „Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewussten Zustimmung zu den Aussichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.“ Allerdings ließe es sich auch so interpretieren, dass es kein allgemeines Wahlrecht geben solle, sondern nur das Proletariat abstimmungsberechtigt sein sollte. Dem vorangestellt waren zwei Absätze, die eine deutliche Absage an eine Kooperation mit den Mehrheitssozialdemokraten und den Unabhängigen enthielten. Wenig später wird sie formulieren, dass den Spartakusbund „ein gähnender Abgrund von den feilen Handlangern der Ausbeuter und Unterdrücker, von den blutbefleckten Ebert-Scheidemann-Leuten“ trenne, ein weiterer Abgrund auch von den Unabhängigen, die sich seit der Revolution rückwärts entwickelt hätten.76 In den folgenden Wochen verzehrte sich Rosa Luxemburg geradezu im Kampf gegen ihre früheren Parteigenossen. Sie geißelte das Verhalten der Vertreter beider sozialdemokratischen Parteien im ersten Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte77 und verketzerte den Beschluss dieses Gremiums, Wahlen zu einer Nationalversammlung einzuberufen, als „Plan der Gegenrevolution.“78 Dass der Reichskongress selbst in ihrer Sicht eigentlich demokratisch legitimiert war und dass er weite Teile des von ihr immer wieder beschworenen Proletariats repräsentierte, kam ihr offenbar nicht in den Sinn. Ihre „Massen“ waren offenkundig mit den real vorhandenen nicht identisch. Spätestens mit dem Kampf gegen die Nationalversammlung, die sie als „gegenrevolutionäre Festung“ abtat, zeigte sich ein beachtlicher Realitätsverlust. Die Gründung der KPD an der Jahreswende 1918/19 wurde von Rosa Luxemburg nicht forciert; sie war als Reichskonferenz des Spartakusbundes in dem (inzwischen üblichen) Revolutions-Pathos einberufen worden. Hier trat sie

75 76 77 78

Ebd., S. 445 und 447. Die Reichskonferenz des Spartakusbundes, ebd., S. 479. So Eberts Mameluken, ebd., S. 466–469, und Ein Pyrrhussieg, ebd., S. 470–473. Die Wahlen zur Nationalversammlung, ebd., S. 474–476.

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für den Namen „Sozialistische Partei“ ein, fand aber dafür keine Mehrheit.79 Auf dem Parteitag sprach sie zunächst zum Bericht von Paul Levi zur Nationalversammlung. Ihr Plädoyer für eine Wahlbeteiligung fand erneut keine Mehrheit. Allerdings war es ihre Intention gewesen, an die Massen zu appellieren, „um die Nationalversammlung zunichte zu machen.“80 Ihre programmatische Absage an den Terror wurde unterdessen von einigen Delegierten als Distanzierung von den Bolschewiki interpretiert.81 Wiederum in überschwänglichem Ton kommentierte sie anschließend die Parteigründung im Zentralorgan. Noch erwartete sie, dass „die Kommunistische Partei Deutschlands als Stoßtrupp der proletarischen Revolution zum Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft wird.“82 Als sich im Anschluss an die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) die Revolutionären Obleute zu Demonstrationen und Streikaktionen entschlossen, die später fälschlich Spartakus-Aufstand genannt wurden, war Rosa Luxemburg erneut zögerlich.83 Am 7. Januar rief sie dann in der „Roten Fahne“ zum Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann auf. Im Prozess des Scheiterns der Bewegung bildete sich auf betrieblicher Ebene eine Einigungsbewegung der Arbeiter ohne und gegen die Parteiführer, was Rosa Luxemburg ebenfalls ablehnte. Die Bilanz der Januarkämpfe war ihre letzte publizistische Arbeit.84 Ihre Darlegungen enthalten einen geradezu resignativen Ton, wiederholen die bekannten Anklagen gegen die Regierung (dieses Mal „die Tatsache der frechen Provokation seitens der Ebert-Scheidemann“, weswegen die „revolutionäre Arbeiterschaft gezwungen“ war, „zu den Waffen zu greifen“) und beschwören gleichwohl die bekannte revolutionäre Perspektive. Geradezu trotzig hält sie der Regierung entgegen: „Ihr stumpfen Schergen! Eure ‚Ordnung‘ ist auf Sand gebaut.“ Und sie sind frei von Selbstkritik.

5.

Bilanz

Unter dem Generalthema Revolutionseuphorie und Bolschewismuskritik hinterlässt der Blick auf Rosa Luxemburgs Schriften eine recht ambivalente Bilanz. Ihre Revolutionsvorstellungen sind schon früh getragen, dann entscheidend geprägt, von der Erwartung einer sich spontan entwickelnden, sich immer wieder 79 Hermann Weber (Hg.), Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt a. M. 1969, S. 38. 80 Ebd., S. 103. 81 Ebd., S. 201 ff. 82 Ebd., S. 516. 83 Ottokar Luban, Demokratische Sozialistin oder „blutige Rosa“? Rosa Luxemburg und die KPD-Führung im Berliner Januaraufstand 1919. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 35 (1999) 2, S. 176– 206, hier 186. 84 Ordnung herrscht in Berlin. In: Gesammelte Werke, Band 4, S. 533–538.

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neu formierenden und orientierenden Aktivistenschicht des gesamten Proletariats. Ob diese Perspektive realistisch oder realisierbar war, hat sie offenkundig nie geprüft. Das Proletariat als historisches Agens bleibt immer eine vage, um nicht zu sagen, mythische Größe. Manche ihrer Vorstellungen erinnern zumindest entfernt an Trotzkis Überlegungen einer permanenten Revolution. Mit ihm teilt sie auch die Vorbehalte gegen Organisationen. Das betrifft ein Doppeltes, sowohl die Leninschen Prinzipien als auch die Massenorganisationen der deutschen Sozialdemokratie. Hier widerstrebt ihr auch die „Arbeitsteilung“ in Partei und Gewerkschaften. Wie der Revolutionsbegriff wird auch das Problem der Demokratie in mythische Höhen erhoben. Dem revolutionären Proletariat wird gerade von selbst ein demokratischer Charakter zugebilligt. Wie, auf welchem Wege und mit welchen Regeln Entscheidungen getroffen und ausgeführt werden sollen, bleibt offen. Bekenntnisse zu demokratischen Grundsätzen und Rechten (so in ihrer Kritik der russischen Revolution und im Programm des Spartakusbundes) stehen dann dicht neben Bekenntnissen zumindest zur Unvermeidlichkeit von Gewalt. Insofern ist ihre Kritik der russischen Revolution kaum als Manifest eines demokratischen Kommunismus interpretierbar. Ihre Attacken gegen Lenins Bolschewiki und das von ihnen aufgerichtete Regiment können auch deshalb kaum als eine erste Totalitarismus-Kritik „von links“ betrachtet werden, da sie letztlich – und ungeachtet ihrer nur allzu berechtigten Kritik – diese Frontstellung gegen die Sowjetdiktatur fast vollständig zurücknahm. Darüber hinaus setzte sie Lenins Revolutions-Voluntarismus, dem elitären Anspruch einer kleinen Minderheit von Berufsrevolutionären, die irreale Utopie der „volontée générale“ einer idealisierten Arbeiterklasse entgegen. Ihr Diktum „Sozialismus oder Barbarei“ fixierte Scheinalternativen. Nicht nur Lenins und Stalins Sozialismus, auch ihr eigenes Konzept war von der Gefahr des Abgleitens in die Barbarei nicht gefeit. Für die Nachwelt spielten solche Erwägungen allerdings nur eine ganz untergeordnete Rolle. Denn diejenigen, die sie als demokratische Kommunistin betrachten wollten, lösten ihren berühmten Satz von der Freiheit, die immer auch die Freiheit der Andersdenkenden meine, aus der konkreten historischen Situation. Er erhielt einen Stellenwert, der ihm eigentlich so nicht zukam. Allerdings entwickelte er gerade durch diese Relativierung eine Sprengkraft, der ihn Ende der 80er Jahre sogar für die ostdeutsche Bürgerbewegung interessant werden ließ. Erste öffentliche Demonstrationen von Bürgerrechtlern unter der FreiheitsParole Rosa Luxemburgs forderten das SED-Regime direkt heraus. Luxemburgs Satz wirkte hier als Kampfansage an die leninistische Diktatur des Proletariats, und damit als Kritik an der linken Form des Totalitarismus.

Demokratie oder Diktatur: Karl Kautskys Bolschewismuskritik und der Totalitarismus Jürgen Zarusky Karl Kautsky war der dominierende Interpret des Marxismus der Zweiten Internationale vor dem Ersten Weltkrieg. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution trat er als einer der schärfsten Kritiker des Kommunismus auf und wuchs damit in eine Rolle hinein, die die politische und intellektuelle Arbeit seiner letzten Lebensjahrzehnte wesentlich bestimmte. Vor dem Hintergrund eines kursorischen Überblicks über die Entwicklung von Kautskys Bolschewismuskritik soll versucht werden, Antworten auf die beiden folgenden Fragen zu geben: War diese Kritik nur die Anpassung einer Integrationsideologie an neue Verhältnisse oder hatte sie substantiellen Gehalt? Inwiefern kann Kautsky als Vorläufer totalitarismustheoretischer Ansätze betrachtet werden?

I.

Kautsky als „Integrationsideologe“

„Meine erste Begegnung mit Karl Marx war ein tief greifendes Erlebnis: Ich hatte Karl Kautskys Einführung in die politische Ökonomie gelesen, eine Zusammenfassung von Marx’ Kapital, und war sowohl hingerissen von der Schlüssigkeit seiner Analyse der Waren- und Kapitalwirtschaft wie von der dialektischen Methode des Aufspürens gesellschaftlicher Verhältnisse in der leblosen Warenwelt. [...] Hätte ich das Kapital gleich im Original gelesen – wozu es Jahre später erst einer Gelbsucht und wochenlanger Bettlägrigkeit bedurfte –, wäre mein Enthusiasmus durch die urdeutsche Pedanterie des Textes bestimmt gedämpft worden.“ Dieses Zitat aus den Erinnerungen des deutsch-jüdisch-uruguayischen Sozialisten Ernesto Kroch1 zeigt Karl Kautsky in der Rolle, mit der er sich einen Namen gemacht hat, nämlich als intellektueller Nachlassverwalter, Interpret und Popularisator von Marx und Engels, die er bei einem Aufenthalt in London 1881 noch persönlich kennengelernt hatte, die allerdings seine intellektuellen Fähigkeiten nicht allzu hoch eingeschätzt hatten.2

1 2

Ernesto Kroch, Heimat im Exil – Exil in der Heimat. Autobiografie, Berlin 2004, S. 41. Gary P. Steenson, Karl Kautsky 1854–1938. Marxism in the Classical Years, Pittsburgh, Pa. 1978, S. 47 f.

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Kautsky, der am 16. Oktober 1854 als Sohn eines tschechischen Theatermalers und einer deutschen Schauspielerin in Prag geboren wurde, und über den Umweg des Darwinismus zum Marxismus gekommen war, wählte 1880 die im Aufstieg befindliche deutsche Sozialdemokratie als Arbeitsfeld3, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert das Gravitationszentrum der europäischen Arbeiterbewegung war. Er wurde, gestützt auf die von ihm 1883 gegründete theoretische Zeitschrift „Neue Zeit“, aber auch auf eine Reihe von Buchveröffentlichungen und eine immense, weltweite Korrespondenz, zum Chefinterpreten des Marxismus in Deutschland und in der Zweiten Internationale. Er behauptete diese Position gegen die revisionistische Kritik Eduard Bernsteins und gegen die aktivistischen Propagandisten des politischen Massenstreiks um Rosa Luxemburg.4 Kautskys evolutionäre Interpretation des Marxismus lieferte eine intellektuelle Grundlage für die von Dieter Groh als „revolutionärer Attentismus“ beschriebene Grundhaltung der deutschen Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts.5 Bekannt ist Kautskys Diktum aus dem 1894 in der „Neuen Zeit“ erschienenen „Sozialdemokratischen Katechismus“, die Sozialdemokratie sei eine „revolutionäre, nicht Revolution machende Partei“.6 Den natürlichen Kampfplatz der Sozialdemokratie sah Kautsky vorerst und mehr und mehr auch grundsätzlich in einer parlamentarischen Demokratie.7 Die mechanistischen, deterministischen und attentistischen Elemente in Kautskys sehr geschlossener Lehre sowie sein Mangel an persönlichem Charisma haben ihm das Image eines Schreibtischrevolutionärs8 und doktrinären Ärmelschonersozialisten eingetragen. Erich Matthias hat 1957 in einer fundamentalen Kritik an Kautsky und dem Kautskyanismus diesen für eine politsche Unbeweglichkeit der Sozialdemokratie verantwortlich gemacht, die erheblich zur Niederlage der Republik 1933 beigetragen habe.9 Daran hat Peter Lösche zehn 3 4

5 6 7 8

9

Karl Kautsky, Erinnerungen und Erörterungen. Hg. von Dr. Benedikt Kautsky, ’s-Gravenhage 1960, S. 514. Allgemein zu Kautskys Biographie: Steenson, Kautsky. Daneben, deutlich der kommunistischen Sicht verpflichtet, Harald Koth, „Meine Zeit wird wieder kommen ...“ Das Leben des Karl Kautsky, Berlin 1993; ferner die Erinnerungsschrift mit Beiträgen von Verwandten, Freunden und Genossen Kautskys aus einer Vielzahl von Ländern: Ein Leben für den Sozialismus. Erinnerungen an Karl Kautsky. Stuttgart 1954. Zur theoretischen Entwicklung: Massimo L. Salvadori, Sozialismus und Demokratie. Karl Kautsky 1880–1938, Stuttgart 1982; mit einem Überblick über die deutsche Forschung: Beate Häupel, Karl Kautsky: Seine Auffassungen zur politischen Demokratie, Frankfurt a. M. 1993. Vgl. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1973. Salvadori, Sozialismus, S. 53 f. Ebd., S. 49 ff.; Häupel, Kautsky, S. 62 ff. So zuletzt Peter Guggemos, Karl Kautsky. Schreibtischrevolutionär zwischen materialistischer Sozialismustheorie und Demokratiebegründung. In: Arno Waschkuhn, Alexander Thumfart (Hg.), Politisch-kulturelle Zugänge zur Weimarer Staatsdiskussion, Baden-Baden 2002, S. 197–229. Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkriege. In: Iring Fetscher (Hg.), Mar-

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Jahre später in seiner Dissertation „Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920“ angeknüpft, und die These entwickelt, Kautskys unmittelbar nach der Oktoberrevolution entwickelte Kritik am Bolschewismus, sei im Wesentlichen eine Anpassung des Kautskyanismus – eine, so Lösche, „skurrile Mischung von aufklärerischem Fortschrittsglauben, Sozialdarwinismus und Marxismus“ – an eine neue Situation. Der Antibolschewismus habe die alte Kautsky’sche Integrationsideologie der Sozialdemokratie abgelöst. Lösche beschreibt Kautskys Bolschewismuskritik also ganz von der funktionalen Seite her und zweifelt überdies an ihrem Realitätsgehalt.10

II.

Kautskys Position zur Oktoberrevolution

Gegen diese funktionalistische Sichtweise spricht allerdings die historische Situation, in der diese Kritik einsetzte. Kautsky war nicht mehr der große Integrator. Er hatte die SPD verlassen und war der im April 1917 gegründeten USPD beigetreten, weil er die Burgfriedens- und Kriegspolitik der Mehrheitssozialdemokraten ablehnte. In der Folge hatte er die Redaktion der „Neuen Zeit“ aufgeben müssen.11 Als Kautsky seine ersten kritischen Stellungnahmen zur Politik der Bolschewiki abgab, genossen diese aus unterschiedlichen Gründen in den verschiedenen Flügeln der deutschen Arbeiterbewegung große Sympathie. Sie wurden als die russische Friedenspartei wahrgenommen, drängten sie doch als einzige politische Kraft auf den sofortigen Austritt Russlands aus dem Ersten Weltkrieg. Dass das unter Losung „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg“ geschah, musste die kriegsmüden deutschen Arbeiter zunächst nicht kümmern. Die Haltung der Mehrheitssozialdemokratie zum revolutionären Russland war bis zur Novemberrevolution von einem tiefen Zwiespalt gekennzeichnet: Einerseits riefen antidemokratische Schritte der Bolschewiki, vor allem die gewaltsame Auflösung der verfassunggebenden Versammlung im Januar 1918, helle Empörung hervor, andererseits waren gerade die Bolschewiki die Träger der Friedenshoffnung und vor allem nach dem Abschluss des Vertrages von BrestLitowsk Anfang März 1918 die einzigen Garanten der Waffenruhe im Osten. Die SPD betrachtete die Entwicklung in Russland nunmehr fast ausschließlich xismusstudien, 2. Folge, Tübingen 1957, S. 151–197. Auch Steenson betont die Integrationsfunktion der von Kautsky dominierten Theorie der deutschen Sozialdemokratie im Kaiserreich, die nicht so sehr als objektive Analyse des unausweichlichen Gangs der menschlichen Geschichte, denn als Rationalisierung der sozioökonomischen und politischen Gegebenheiten des Wilhelminischen Staates von Bedeutung gewesen sei. Steenson, Kautsky, S. 248. 10 Peter Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903– 1920, Berlin (West) 1967, Zitate S. 10 und 125. 11 Steenson, Kautsky, S. 195–201.

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unter dem Blickwinkel eigener außenpolitischer Interessen, was sich in einer weitgehenden Kritikabstinenz gegenüber dem bolschewistischen Russland äußerte, die im Übrigen auch von der Reichsregierung gefördert wurde. So wandte sich Außenstaatsekretär Paul von Hintze im September 1918 gegen Proteste gegen den roten Terror und erklärte entsprechende Berichte für übertrieben.12 In der USPD war die Haltung zu Sowjetrussland weniger von derlei opportunistischen Motiven als von einer grundsätzlichen Sympathie für die revolutionären Bolschewiki geprägt. Rosa Luxemburg, deren Kritik an der Politik der Bolschewiki erst 1921 von Paul Levi öffentlich gemacht wurde, hatte in einem damals nicht veröffentlichten Fragment ihrer Schrift zur russischen Revolution den Bolschewiki zugute gehalten, den Weg zur Weltrevolution gebahnt zu haben. Vor diesem historischen Verdienst, so schrieb sie „verschwinden wesenlos alle besonderen Irrtümer und Fehler der Bolschewiki“.13 Entgegen einem verbreiteten Luxemburg-Mythos, wie er etwa auch in der Selbstdarstellung der nach der Revolutionärin benannten PDS-nahen Stiftung verbreitet wird14, hat Rosa Luxemburg faktisch gegenüber den Bolschewiki Kritikabstinenz geübt. Sie hat ihre Arbeit über die russische Revolution aus dem Breslauer Gefängnis – mit dem schönen Satz „Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden“ – unter dem Einfluss von Paul Levi mit Rücksicht auf die kritische Lage der Bolschewiki nicht veröffentlicht.15 Levi, der Ex-Vorsitzende der KPD, wiederum hat die Schrift erst publiziert, als er aus der KPD ausgeschlossen worden war. Die Passage, in der Luxemburg den Bolschewiki wegen ihrer weltrevolutionären Verdienste die Absolution erteilt, war daran nicht enthalten.16 Der Exil-Menschewik Alexander Stein nannte diese Haltung Luxemburgs eine „Verbeugung vor einer Illusion, deren Hohlheit sie selber durch ihre schonungslos ‚menschewistische‘ Kritik in ihrer Broschüre entlarvt hat“ und sprach von einem tragischen Widerspruch in Rosa Luxemburgs Wesen.17 Um diesen Illusionen und Widersprüchen anheim zu fallen, musste man kein Mitglied der Spartakusgruppe sein. In der gesamten USPD waren sie weit verbreitet und wuchsen in dem Maße, wie der Partei junge, politisch wenig erfahrene Neumitglieder zu Hunderttau-

12 Jürgen Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzungen und außenpolitische Konzeptionen 1917–1933, München 1992, S. 38–50. 13 Felix Weil (Hg.), Rosa Luxemburg über die russische Revolution. Einige unveröffentlichte Manuskripte. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Hg. von Carl Grünberg, 8 (1928) (Nachdruck Graz 1966), S. 285–298, hier 289 f. 14 Vgl. (http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=5097). 15 Helmut Hirsch, Rosa Luxemburg, 8. Auflage Reinbek bei Hamburg 1979, S. 113 f. 16 Zur Kontroverse um Levis Veröffentlichung siehe Zarusky, Sozialdemokraten, S. 146 f. 17 Alexander Stein, Sowjetrussland und Europa, Karlsbad o. J. [1936], S. 39 f.; vgl. auch ders., Rosa Luxemburg und der Kommunismus, Typoskript (New York 1948), Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam (IISG), Nachlass Stein, Nr. 128.

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senden zuströmten.18 Integrationspolitik im Rahmen der USPD bestand in dieser Situation nicht zuletzt in Kritikabstinenz gegenüber Sowjetrussland. „Wir haben bisher alles nur rosig gesehen, oder wenigstens so getan, als sähen wir alles rosig und gut“, bemerkte Rudolf Breitscheid hierzu selbstkritisch nach der vollzogenen Spaltung der USPD auf der Versammlung der unterlegenen Gegner des Anschlusses an die Kommunistische Internationale.19 Gerade Kautsky hatte sich aber eine solche Kritikabstinenz nicht auferlegt, weder aus außenpolitisch- noch aus revolutionär-opportunistischen Gründen. Allerdings hegte er erheblich weniger Hoffnungen hinsichtlich der Perspektiven der russischen Revolution als etwa Rosa Luxemburg. Nach der Februarrevolution hatte er erklärt, dass zwar das russische Proletariat die wichtigste revolutionäre Kraft sei, aufgrund seiner Minderheitenstellung und der sozioökonomischen Rückständigkeit Russlands dort aber eine proletarische Revolution noch nicht möglich sei. Die einzig realistische Perspektive für die russischen Sozialisten war nach Kautsky eine bürgerliche Demokratie mit starker sozialer Komponente.20 In seiner ersten Stellungnahme zur Oktoberrevolution in der Leipziger Volkszeitung vom 15. November, also acht Tage nach dem Petrograder Umsturz, führte er diese Überlegungen fort. Der Gedanke der Bolschewiki sei zwar der einfachste und der Klassenlage des Proletariats am meisten entsprechende gewesen, aber auch „derjenige, der den Widerspruch zwischen dem hohen proletarischen Streben und der niedrigen Entwicklungsstufe des Reichs aufs äußerste zu steigern drohte“. Hellsichtig äußerte Kautsky die Befürchtung, die Errichtung einer Diktatur des Proletariats in Russland werde die Einstellung der Produktion, den Zerfall des Staatsapparates und separatistische Tendenzen zur Folge haben.21 18 Zarusky, Sozialdemokraten, S. 86 und 100 f. 19 Protokolle der USPD, Band 3, Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Halle vom 12. bis 17. Oktober 1920, (USPD-Rechte) Berlin o. J. (Nachdruck Glashütten i. Ts. 1976), S. 287. Das deckt sich mit Kautskys Erinnerungen an die Reaktionen auf seine Bolschewismuskritik: „Aber auch viele der unabhängigen Sozialdemokraten wandten sich gegen mich, selbst solche, die zugaben, dass ich recht habe, meinten, in der damaligen Situation sei ein Angriff auf den Bolschewismus gleichbedeutend mit einer Schädigung der russischen Revolution, also zumindest unzeitgemäß. Schon meine erste Publikation erzeugte diese Bedenken gegen mich bei manchen meiner besten Freunde. Das wurde nicht besser seit der Revolution, die im November 1918 ausbrach.“ Karl Kautsky, Mein Lebenswerk [1923]. In: Ein Leben für den Sozialismus. Erinnerungen an Karl Kautsky, Stuttgart 1954, S. 11–34, hier 31. 20 Salvadori, Sozialismus, S. 316–319. Dies entsprach im Wesentlichen der Position der russischen Menschewiki; vgl. dazu allgemein: Claus Thomas Reisser, Menschewismus und Revolution 1917. Probleme einer sozialdemokratischen Standortbestimmung, (Diss.) Tübingen 1981. Zur theoretischen Reaktion der Menschewiki auf die Oktoberrevolution den knappen Überblick bei Uli Schöler, „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs (1917 bis 1929), Münster 1991, S. 77–84. 21 Vgl. Karl Kautsky, Die Erhebung der Bolschewiki. In: Leipziger Volkszeitung Nr. 267 vom 15.11.1917.

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Kautskys Kritik speiste sich aus seinem evolutionistischen Modell des Kampfes für den Sozialismus, das einen bestimmten Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung voraussetzt, insbesondere ein Proletariat, das die bestimmende Klasse der Gesellschaft bildet. Davon war das bäuerliche Russland weit entfernt. Im Zentrum von Kautskys Kritik stand also zunächst der Voluntarismus der Bolschewiki, noch nicht ihre diktatorischen Bestrebungen. Die Frage „Demokratie oder Diktatur?“, die wenig später zum Zentrum von Kautskys Bolschewismuskritik werden sollte, erhob als erster Alexander Stein, ein nach der Revolution von 1905 nach Deutschland emigrierter Menschewik mit Verbindung zu führenden Parteigenossen in Russland am 17. Dezember 1917 in der Leipziger Volkszeitung.22 Seine Antwort war eindeutig: Die so genannte Diktatur des Proletariats und der ärmeren Bauernschaft habe sich schon in den ersten Wochen als die Diktatur einer einzigen Partei entpuppt. Stein verwies auf die von der Eisenbahnergewerkschaft erzwungenen Koalitionsverhandlungen aller sozialistischen Parteien, die von Lenin und Trotzki torpediert worden seien, er führte eine Fülle von Übergriffen gegen politisch Andersdenkende an und zitierte Gerüchte, wonach die Bolschewiki die gewaltsame Auflösung der Konstituante planten.23 Am 3. Januar 1918, also noch bevor die von Stein übermittelten Befürchtungen hinsichtlich der Verfassunggebenden Versammlung Wirklichkeit geworden waren, veröffentlichte Kautsky in der Zeitschrift „Sozialistische Auslandspolitik“, den Aufsatz „Demokratie und Diktatur“, in dem er versuchte, den Widerspruch zwischen beiden Herrschaftsprinzipien in einer Argumentationsfigur aufzulösen, die in seiner weiteren Auseinandersetzung mit dem Kommunismus häufig wiederholt wurde. Kautsky, der sich als orthodoxen Marxisten betrachtete, ging es darum, am marxistischen Begriff der „Diktatur des Proletariats“ festzuhalten, ohne demokratische Prinzipien aufzugeben. Er definierte daher die Diktatur des Proletariats als die Herrschaft des zur Volksmehrheit gewordenen Proletariats, welche sich auf allgemeine und gleiche Wahlen und ein Parlament stütze. Diktatorische Mittel dürften nur zur Verteidigung des Entscheidungsrechts der Mehrheit gegenüber einer sich auflehnenden Minderheit angewandt werden. In Russland, wo das Proletariat eine Minderheit in einer weit überwiegend bäuerlichen Gesellschaft war, fehlte demnach die Grundlage für eine Diktatur des Proletariats.24 22 Hanna Papanek, Alexander Stein (Pseudonym: Viator) 1881–1948, Socialist Activist and Writer in Russia, Germany, and Exile: Biography and Bibliography. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 30 (1994), S. 343–379; zum Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 17.12.1917: S. 351. 23 Alexander Stein, Demokratie oder Diktatur? In: Leipziger Volkszeitung Nr. 293 vom 17.12.1917. 24 Karl Kautsky, Demokratie und Diktatur. In: Sozialistische Auslandspolitik, Nr. 1 vom 3.1.1918. In seinem Spätwerk „Sozialisten und Krieg. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des Sozialismus von den Hussiten bis zum Völkerbund“, Prag 1937, gab Kautsky den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ letztlich zugunsten eines eindeutigen, auch terminologischen Bekenntnisses zur Demokratie auf. Hier heißt es: „Nicht das Mittel der

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In der Broschüre „Die Diktatur des Proletariats“, die im Sommer 1918 erschien, systematisierte Kautsky seine Gedanken, die an seine demokratietheoretischen Überlegungen aus den 1890er Jahren anknüpften.25 Hervorzuheben ist sein klares Bekenntnis zum Eigenwert der Demokratie. Sie sei für Sozialisten keineswegs nur ein Mittel zum Zweck. Demokratie und Sozialismus seien vielmehr Mittel für ein und denselben Zweck, nämlich die Aufhebung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung. Die Demokratie sei der notwendige Rahmen des Klassenkampfes, der auf ein Minimum an Freiheitsrechten angewiesen sei. Nur in der Demokratie – und Kautsky hatte hier ganz klar eine repräsentative, parlamentarische Demokratie mit Minderheitenschutzrechten im Blick – könne das Proletariat die notwendige politische Reife erwerben, die neben den objektiven Bedingungen der industriellen Entwicklung eine unabdingbare Voraussetzung des Sozialismus sei. Eine „kommunistische Wirtschaft“ ohne Demokratie sei zwar möglich, sie müsse jedoch geradezu zu einer Basis des Despotismus werden.26 Den Bolschewiki warf er im Übrigen vor, ihre Erwartung mit der Oktoberrevolution eine allgemeine europäische Revolution auslösen zu können, verkenne die andersartigen sozialen und politischen Bedingungen in den anderen Ländern.27 In dieser Broschüre hatte Kautsky seine Bolschewismuskritik in den Grundzügen festgelegt, die sich in den folgenden zwei Jahrzehnten auch nicht mehr wesentlich ändern sollten. Zugleich hatte Kautsky die zentrale Bedeutung der Demokratie für den Sozialismus in großer Schärfe herausgearbeitet. Die Broschüre „Die Diktatur des Proletariats“ war also gleichermaßen ein antikommunistisches und ein Manifest des demokratischen Sozialismus. „Das Erscheinen von Kautskys Broschüre war eine große Genugtuung für uns und hat uns in den Grundlagen unserer Opposition bestärkt“, schrieb Julius Martow, die Führungsfigur der Menschewiki, in einem Brief an Alexander Stein vom 25. Oktober 1918.28 Lenin hingegen tobte. Es ist bezeichnend für die große Autorität, die Kautsky als Theoretiker trotz seines rapide schwindenden politischen Einflusses immer noch genoss, dass der Führer der Bolschewiki sich mitten im beginnenden Bürgerkrieg die Zeit nahm, eine über hundert Druckseiten starke, wütende Epistel gegen Kautsky zu verfassen, die er am 10. November 1918 in der irrigen Meinung beendete, aufgrund der siegreichen Revolution in Deutschland würden sich weitere Ausführungen erübrigen. Schon der Titel von Lenins Streitschrift ließ an Deutlichkeit nichts vermissen: „Die prole-

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Diktatur, das heißt, der gewaltsamen Unterdrückung einer wehrlosen Mehrheit durch eine bewaffnete Minderheit, auch nicht die Diktatur des Proletariats wird die Masse der Menschen zu höheren Lebensformen emporführen, sondern nur ihre freiwillig anerkannte Führung durch die proletarische Demokratie, das heißt, durch das zum Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Aufgaben gelangte, geschulte und frei organisierte Proletariat“ (S. 674). Häupel, Kautsky, S. 62 ff. Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, S. 4 f. Ebd., S. 28. Z. Galili/A. Nenarokov (Hg.), Men’ševiki v 1918 godu, Moskau 1999, S. 646.

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tarische Revolution und der Renegat Kautsky“ lautet er. Abgesehen von einer Kaskade von Beschimpfungen, die Lenin über Kautsky ergoss – etwa „der süßliche Dummkopf Kautsky“ oder „ein Lump, der sich der Bourgeoisie verkauft“ – warf er ihm vor, Marx in einen „Dutzend-Liberalen“ verwandelt zu haben und den Klassencharakter der bürgerlichen Demokratie zu verschleiern. Lenins Definition der proletarischen Diktatur war eindeutiger als diejenige Kautskys. Hier sprach ein Praktiker: „Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die erobert wurde und aufrechterhalten wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie, eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist.“29 Die Frage, bei wem die Definitionsmacht über die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Klasse liege, stellte Lenin nicht. In der Praxis behielten sie sich die Bolschewiki selbst vor.30 Zugleich stellte er das Sowjetsystem als eine höhere Form der Demokratie dar, als eine wirkliche Demokratie für die gigantische Mehrheit der Bevölkerung.31 Kautsky hingegen beschrieb in seinem Mitte 1919 erschienen Buch „Terrorismus und Kommunismus“ Sowjetrussland als eine Klassengesellschaft, deren unterste Stufe die völlig entrechteten, ehemaligen Bourgeois bildeten. Charakteristisch für den tiefgreifenden Unterschied zwischen dem bolschewistischen Klassenhass und Kautskys emanzipatorischem Ansatz ist seine Bemerkung „Die Hölle dieses Helotentums kann sich mit den scheußlichsten Auswüchsen messen, die der Kapitalismus je erzeugt hat.“32 Diese Publikation rief wiederum eine Replik Trotzkis hervor. In seinem 1920 erschienenen Buch „Terrorismus und Kommunismus“ nannte er Kautskys Buch „eines der lügenhaftesten und gewissenlosesten seiner Art“.33 Mit seinem Kult der Demokratie habe Kautsky sich vom Marxismus losgesagt. Er warf ihm überdies vor, sich auf entstellte Mitteilungen bürgerlicher Nachrichtenagenturen über Sowjetrussland zu stützen.

29 N. Lenin (Vl. Ul’janov), Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky [Moskau, Petrograd 1918]. In: Lenin, Werke, Band 28, S. 225–337; Zitate S. 225 („süßlicher Dummkopf“), S. 264 („Lump“), S. 234 („eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist“). 30 Vgl. Sheila Fitzpatrick, Ascribing class: The construction of social identity in Soviet Russia. In: dies. (Hg.), Stalinism. New Directions, London 2000, S. 20–46, insbes. S. 26 f. Fitzpatrick hebt hervor, dass die Zuschreibung von Klassen-Merkmalen neben den marxistischen auch ältere russische Wurzeln hatte; vgl. ebd., S. 38 f. 31 Ebd., S. 244–247. Ein interessantes Detail am Rande ist, dass ein Vorabdruck schon am 25. Oktober ausgerechnet im „Vorwärts“ erschienen war: Lenin, Die Proletarier Revolution und der Renegat Kautsky. In: Vorwärts, Nr. 294 vom 25.10.1918, 2. Beilage. Die Mehrheitssozialdemokratie sollte sich allerdings schon sehr bald die Standpunkte des „Renegaten“ vollständig zu eigen machen. 32 Kautsky, Terrorismus und Kommunismus, Berlin 1919, S. 133. Zur Lage der „ehemaligen Leute“ siehe Tat’jana Smirnova, „Byvšie ljudi“ Sovetskoj Rossii. Strategii vyživanija i puti integracii 1917–1936 gody, Moskau 2003. 33 Hier zitiert nach der englischsprachigen Internet-Ausgabe: (http://www.marxists.org/ archive/trotsky/works/1920/dictatorvs/ch09.htm).

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Tatsächlich hatte Kautsky einen sehr viel direkteren Draht. Er stand in Verbindung mit dem nach der Oktoberrevolution erneut emigrierten Pavel Axelrod, einem der Gründerväter der russischen Sozialdemokratie, und erhielt über Alexander Stein, der mit Martow in Russland korrespondierte, Nachrichten aus erster Hand.34 Etwa zur gleichen Zeit wie Trotzki publizierte auch Karl Radek unter dem Titel „Proletarische Diktatur und Terrorismus“ eine Attacke auf Kautsky35. Beide Publikationen sind im Kontext des Versuchs der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale zu sehen, die Massenbasis der sog. „zentristischen“ linkssozialdemokratischen Parteien, in Deutschland also der USPD, auf ihre Seite zu bringen. Es würde zu weit führen, diesen Hintergrund der internationalen Bolschewismus-Debatte hier im Einzelnen zu beschreiben, doch ist darauf hinzuweisen, dass Kautsky innerhalb der USPD zunehmend isoliert war, während andererseits die SPD Ende 1919 seine Broschüre „Demokratie und Diktatur“ für den Genfer Kongress der Zweiten Internationale im Sommer 1920 anstelle einer eigenen Denkschrift zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus einreichte.36 Im Unterschied zu Eduard Bernstein, der im Frühjahr 1919 von der USPD, der er eine „Politik des Schwankens zwischen Spartakismus und demokratischem Sozialismus“ vorwarf37 wieder zur SPD wechselte, trat Kautsky zwar aus der USPD nicht aus, spielte in der Partei aber seit Frühjahr / Sommer 1919 praktisch keine Rolle mehr, nicht zuletzt, weil die USPD-Führung durch Vermeidung einer Auseinandersetzung mit den Vorgängen in Sowjetrussland versuchte, die sich ständig radikalisierende Basis zu integrieren. Zu solchen Bemühungen passte Kautskys entschiedenes Auftreten in dieser Frage nicht im Geringsten. Trotz politischer Isolation ließ er sich in seinem Kurs nicht irritieren und setzte seine kritische Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus fort. 1921 antwortete er auf Trotzki in Form des Büchleins „Von der Demokratie zur Staats-Sklaverei“. Kautsky geißelt darin die Doppelmoral Trotzkis, die repressive und terroristische Herrschaftsmittel stets als gerechtfertigt betrachte, wenn sie für die so genannte proletarische Diktatur eingesetzt würden: „Jede Niedertracht verwandelt sich in eine herrliche Großtat, wenn ein Kommunist sie verübt. Jede Bestialität ist erlaubt, wenn man sie im Namen des Proletariats vollbringt. So vollzogen auch die spanischen Conquistadoren ihre Bluttaten in Südamerika im Namen Gottes.“38 Kautsky verwies darauf, dass Engels den be34 Papanek, Stein, S. 352 f. Teile der Korrespondenz sind veröffentlicht in Galili/Nenarokov (Hg.), Men’ševiki v 1918 g. und dem Folgeband dies. (Hg.), Men’ševiki v 1919 g, Moskau 2000; es handelt sich dabei um ausführliche politische Lageberichte, vgl. z. B. Martow an Stein vom 16. 6.1918, S. 548–553, Martow an Stein vom 25.10.1918, S. 644–649. 35 Hamburg 1920; vgl. Jean-François Fayet, Karl Radek (1885–1939). Biographie politique, Bern 2004, S. 288. 36 Zarusky, Sozialdemokraten, S. 128. 37 Eduard Bernstein, Auf Wiedersehen! Ein Abschiedswort an die unabhängige Sozialdemokratie. In: Freiheit, Nr. 137 vom 22. 3.1919. 38 Kautsky, Von der Demokratie zur Staats-Sklaverei, Berlin 1921, S. 125.

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waffneten Aufstand 1895 „ins alte Eisen“ geworfen habe und dass dem Proletariat zumindest in den modernen Staaten auch andere politische Mittel zur Verfügung stünden als gewaltsame.39 Vor dem Hintergrund der teilweisen Restauration kapitalistischer Wirtschaftsformen im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik stand für Kautsky nunmehr endgültig fest, dass der Bolschewismus in Theorie und Praxis ausgesprochen reaktionären Charakter trug. Er werde dahingehen, „ohne etwas anderes zu hinterlassen als Ruinen und Flüche“ prophezeite er.40

III.

Kampf gegen den Bolschewismus

Kautskys Urteil über die bolschewistische Oktoberrevolution war damit endgültig: ein zur Unzeit, aus voluntaristischem Ungeist vom Zaun gebrochener Umsturz der notwendig in eine Despotie münden musste, die reaktionären Charakter trug und aufgrund ihrer deplorablen politischen Resultate früher oder später dem Untergang geweiht war. Ein Gegenbild glaubte Kautsky in Georgien gefunden zu haben, das sich 1918 von Sowjetrussland losgelöst hatte und wo aufgrund eines überwältigenden Wahlerfolgs die Menschewiki regierten, die ihre organisatorischen Bande zu ihrer russischen Bruderpartei ebenfalls getrennt hatten. Im Herbst 1920 luden sie, nicht zuletzt, um internationale Unterstützung zu gewinnen, eine hochrangige Delegation der Zweiten Internationale ein, der auch Kautsky angehören sollte, welcher aber zunächst krankheitshalber verhindert war. Er hielt sich dann von Ende September bis Anfang Januar 1921 in Georgien auf und verfasste einen äußerst wohlwollenden Bericht. Für Kautsky war Georgien das Musterbeispiel eines rückständigen Landes, in dem die Arbeiterklasse politisch herrsche, ohne die durch die bürgerlich-demokratische Entwicklungsphase bedingten objektiven Begrenzungen ihrer Politik zu verkennen. Das Land, so meinte er, habe gute Aussichten, zum revolutionären Vorbild für ganz Osteuropa und den Orient zu werden.41 Wie realistisch Kautskys Vorhersagen waren, konnte sich jedoch nicht mehr zeigen, weil Ende Februar Einheiten der Roten Armee die Grenze Georgiens überschritten und ein kommunistisches Regime im Lande installierten. Während die zur gleichen Zeit in Wien in Gründung befindliche, linkssozialistisch-zentristische Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien äußerst zögerlich reagierte, löste die Invasion bei Vertretern der Zweiten Internationale und insbesondere bei der SPD helle Empörung aus. Die letzte Komponente des negativen Bolschewismusbildes, die des

39 Ebd., S. 124. 40 Ebd., S. 127. 41 Karl Kautsky, Georgien. Eine sozialdemokratische Bauernrepublik, Wien 1921. Zum Einfluss Kautskys auf die georgische Sozialdemokratie vgl. Noë Jordania, Karl Kautsky in Georgien. In: Ein Leben für den Sozialismus, S. 98–102 (Jordania war der erste Präsident der Republik Georgien).

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Sowjetimperialismus, der den Spuren des Zarismus folge, wurde jetzt etabliert.42 Sehr viel weniger Beachtung fand der georgische Aufstand gegen die kommunistische Regierung des Jahres 1924, dessen blutige Niederschlagung Tausende Menschen das Leben kostete. Kautsky veranlasste der georgische Aufstand zu einem Vorstoß, mit dem die Sozialistische Arbeiterinternationale zu einem entschiedeneren Auftreten gegen die sowjetische Diktatur bewegt werden sollte. Die georgischen Menschewiki und die rechte Minderheit der russischen Sozialdemokraten im Exil betrachteten Kautsky als ihren Fürsprecher. Er verfasste Ende 1924 ein umfangreiches Memorandum, das er beim Exekutivkomitee der Sozialistischen Arbeiterinternationale einreichte. 1925 wurde es in überarbeiteter Form im SPD-eigenen Dietz-Verlag unter dem Titel „Die Internationale und Sowjetrussland“ publiziert.43 Kautsky , der das Sowjetregime inzwischen als den gefährlichsten Feind des Proletariats betrachtete – „schlimmer sogar als das infame Regime Horthys in Ungarn oder Mussolinis in Italien, die doch nicht jede oppositionelle Regung des Proletariats so gänzlich unmöglich machen wie das Sowjetregime“44 – erteilte hierin allen Hoffnungen auf eine schrittweise Demokratisierung der UdSSR erteilte er eine Absage. Der Bolschewismus, der die auf ihn gesetzten Hoffnungen zutiefst enttäuscht habe, werde auch künftig auf die Diktatur angewiesen bleiben. „Wie jeder andere Militärdespotismus, wie die Militärmonarchien der Romanoffs, der Habsburger, der Hohenzollern, dürfte auch er nur mit Gewalt zu überwinden sein.“45 Kautsky plädierte allerdings nicht für die systematische Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes, die ihm aussichtslos und schädlich erschien. Ihm ging es um die Position der Internationale im Falle eines spontanen Volksaufstandes. Die Internationale dürfe einen solchen nicht als konterrevolutionär verurteilen, Neutralität hingegen wäre politischer Selbstmord. Die Sozialdemokraten müssten daher versuchen, Einfluss auf einen solchen Aufstand zu gewinnen.46 An seinen Freund Pavel Axelrod hatte Kautsky bereits im Januar 1925 geschrieben: „Es würde keinem Sozialisten einfallen, den Sturz des Fascismus durch einen Volksaufstand zu verurteilen. Der Bolschewismus steht aber um kein Haar höher.“47 Die Sozialdemokraten des Westens wollte Kautsky hingegen dazu verpflichten, die Fortentwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen mit der Sowjetunion, die sich Mitte der 20er

42 Zarusky, Sozialdemokraten, S. 134–139. 43 Ebd., S. 215–217; Andre Libich/Andrej Michajlov/Al’bert Nenarokov/Andrea Panaččone / Natal’ja Permyšlennikova, Krach social-demokratičeskogo podpol’ja v bol’ševistskoj Rossii 1922–1924 gg. In: Z. Galili/A. Nenarokov (Hg.), Men’ševiki v 1922– 1924 gg., Moskau 2004, S. 19–105, hier 80 f. Zur Position des „außerparteilichen“ rechten Flügels der Menschewiki vgl. auch den Briefauszug von Stepan Ivanovič (Potresov), der den Aufstand begrüßte, vom 29.10.1924, ebd., S. 622 f. 44 Karl Kautsky, Die Internationale und Sowjetrussland, Berlin 1925, S. 36. 45 Ebd., S. 39. 46 Ebd., S. 38 und 45 f. 47 Kautsky an Axelrod, 5.1.1925, IISG, Nachlass Axelrod, 24 I/62.

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Jahre schrittweise aus der internationalen Isolation herausbewegte, mit Forderungen nach innerer Liberalisierung zu verknüpfen.48 Seine Stellungnahme brachte Kautsky viel Kritik ein, nicht zuletzt von der Exilführung der russischen Menschewiki, die auf eine Demokratisierung der Sowjetunion von innen heraus setzte und davor warnte, dass ein gewaltsamer Umsturz einen zutiefst reaktionären Charakter haben müsse.49 Otto Bauer, führender Vertreter des Austromarxismus, bestritt die von Kautsky behauptete Unfähigkeit des Bolschewismus zum demokratischen Wandel,50 und Paul Levi, der vom KPD-Vorsitzenden zu einem der führenden Vertreter des linken Flügels der SPD mutiert war, ging soweit, Kautsky vorzuwerfen, er bereite einer militärischen Intervention in der Sowjetunion den Weg,51 ein Vorwurf, den auch Nikolaj Bucharin in einer später als Broschüre veröffentlichten Artikelserie in der „Pravda“ erhob.52 Letztlich blieb die Debatte ohne politische Wirkung. Auf dem Kongress der Sozialistischen Arbeiterinternationale in Marseille im August 1925 spielte die „Memorandumsfrage“ keine Rolle mehr. Über die Sowjetunion wurde dort vor allem in der Kommission „Kriegsgefahren im Osten“ beraten, die auf Initiative der Führung der russischen Menschewiki zustande gekommen war. Sie gruben mit dieser Initiative dem von den polnischen Sozialisten und russischen Sozialrevolutionären verfolgten Plan einer antibolschewistischen Konferenz sozialistischer Parteien der Anrainerstaaten der UdSSR erfolgreich das Wasser ab.53 Kautskys Idee, die Liberalisierung der Sowjetunion zu einem Gegenstand zwischenstaatlicher Verhandlungen zu machen, hätte selbst bei der entschieden antikommunistischen SPD keinen Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn sie überhaupt ernsthaft diskutiert worden wäre. Denn die außenpolitische Haltung der deutschen Sozialdemokratie zur Sowjetunion erwuchs nicht primär aus ihrer ideologischen Ablehnung des Kommunismus als vielmehr aus dem „realpolitischen“ Konzept des Ausgleichs mit den Siegermächten und des Aufbaus eines umfassenden europäischen Sicherheitssystems, in das auch die Sowjetunion integriert werden sollte.54 48 Kautsky, Internationale, S. 35. 49 F[edor] Dan, Kautsky o russkom bol’ševizme. In: Socialističeskij Vestnik, Nr. 11/12 vom 20. 6.1925. Rafael Abramowitsch, der Vertreter der russischen Menschewiki bei der SAI, hatte bereits vor der Veröffentlichung des Memorandums in einem Brief an Kautsky gefordert, Fragen der inneren Strategie in der Sowjetunion ganz der Entscheidung der sozialdemokratischen Exilparteien zu überlassen; Abramowitsch an Kautsky, Berlin 21.11.1924, Nachlass Kautsky, IISG, G 15,90. 50 Die Internationale und Sowjetrussland (Eine Diskussion zwischen Kautsky, Kunfi und Otto Bauer). In: Leipziger Volkszeitung Nr. 193 vom 20. 8.1925. 51 Vgl. Paul Levi, Westlich oder östlich? In: Sozialistische Politik und Wirtschaft Nr. 40 vom 8.10.1924 und Leipziger Volkszeitung vom 10.10.1925. 52 Vgl. N. Bucharin, Karl Kautsky und Sowjetrussland, Leipzig o. J. [1926]. 53 Boris Sapir (Hg.), Theodore Dan: Letters (1899–1946) [in russischer Sprache], Amsterdam 1986, S. 343 f. 54 Zarusky, Sozialdemokraten, S. 218 und 295. Allgemein zu den außenpolitischen Konzeptionen der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik: Rainer Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945, Düsseldorf 1999, S. 31–63.

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Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre wird häufig auf das kommunistische Schlagwort „Sozialfaschismus“ als Ausdruck einer massiven, feindseligen und – was die kommunistische Seite betrifft – extrem irrationalen Konfrontation zurückgeführt. Tatsächlich gab es aber nicht nur bei kommunistischen Rechtsabweichlern, sondern ebenso beim linken Flügel der Sozialdemokratie eine gegenläufige Tendenz, die nicht zum Geringsten durch die Kontrasterfahrung der Weltwirtschaftskrise einerseits und des propagandistisch überhöhten sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion andererseits bedingt war. Die Bilder der rauchenden Schornsteine neu errichteter Fabriken in der Flut kommunistischer Propagandaschriften blieben bei Teilen der Sozialdemokratie nicht ohne Wirkung. Parteipolitisch mündete diese Strömung letztlich in das linkssozialistisch-rechtskommunistische Auffangbecken der Sozialistischen Arbeiterpartei, die sich ungeachtet aller kommunistischen Schmähungen den Schutz der Sowjetunion ins Programm geschrieben hatte.55 Austromarxistische Theoretiker wie Otto Bauer und Max Adler sahen in Stalins „Revolution von oben“, der forcierten Industrialisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, einen Durchbruch zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft. Bauer meinte, mit der endgültigen Überwindung der Klassen für welche die Diktatur notwendig sei, würde schließlich auch die Notwendigkeit der Diktatur entfallen.56 Und Max Adler war nicht nur bereit, das von ihm im Gegensatz zu den Kommunisten nicht bestrittene Elend der russischen Bevölkerung als eine unvermeidliche Begleiterscheinung auf dem Weg zu einer besseren Gesellschaft zu legitimieren,57 er lehnte konsequenterweise auch den Kampf gegen den stalinistischen Terror als konterrevolutionär ab.58 Die russischen demokratischen Sozialisten sahen das anders,59 insbesondere aber der rechte Flügel der Menschewiki, die angesichts von Meldungen über Massenerschießungen in der Sowjetunion nun endlich ein entschiedeneres Auftreten der Sozialistischen Arbeiterinternationale erhofften. In einem von der Führungsgruppe der Menschewiki eingebrachten Resolutionsentwurf der SAI wurde die Stalinsche Politik, trotz einer klaren Situationsbeschreibung einmal wieder vor allem mit dem Hinweis kritisiert, sie bereite der Konterrevolution den Boden.60 Karl Kautsky, der mit dem Vorsitzenden der menschewistischen Auslandsdelegation, Fedor (Theodor) Dan 1929/30 ausführlich über die 55 Zarusky, Sozialdemokraten, S. 274–281. 56 Raimund Löw, Otto Bauer und die russische Revolution, Wien 1980, S. 163–165; Uli Schöler, Otto Bauer und Sowjetrussland, Berlin (West) 1987, S. 31–33. 57 Max Adler, Unsere Stellung zu Sowjetrussland. In: Unsere Stellung zu Sowjetrussland. Lehren und Perspektiven der russischen Revolution, Berlin 1931, S. 157–189. 58 Max Adler, Der Weg zu einer Internationale der Tat. In: Klassenkampf, Nr. 15 vom 1. 8.1931. 59 Vgl. für die Führung der Auslandsmenschewiki Raphael Abramowitsch, Fünfjahresplan und Sozialdemokratie. In: Die Gesellschaft, 8 (1931), 2. Halbband, S. 24–39. 60 Zarusky, Sozialdemokraten, S. 265 f.

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Zukunftsaussichten der UdSSR und die menschewistische Strategie debattiert hatte, ohne dass es zu einer Übereinstimmung gekommen wäre,61 wurde von seinem Freund Peter Garwy einem Exponenten des rechten Flügels der menschewistischen Emigration aufgefordert, öffentlich zur forcierten Industrialisierung, zur Zwangskollektivierung und zur Haltung der Sozialdemokratie hierzu Stellung zu nehmen.62 Kautsky tat dies in dem Büchlein „Der Bolschewismus in der Sackgasse“, das im Herbst 1930 erschien. Kautskys Differenz zum menschewistischen Mainstream war eindeutig: Für ihn bereitete der Bolschewismus der Konterrevolution nicht den Boden, er war die Konterrevolution. Faschismus und Bolschewismus waren ihm eins: „Der Faschismus ist aber nichts als das Gegenstück des Bolschewismus, Mussolini nur der Affe Lenins.“63 Aus diesem Befund mussten strategische Konsequenzen gezogen werden. Kautsky erteilte der Hoffnung auf eine friedliche Modifikation des Bolschewismus eine Absage. Man solle vielmehr ein Bündnis zwischen Arbeitern, demokratisch und sozialistisch gesinnten Intellektuellen und Bauern anstreben, das einem unausweichlichen antibolschewistischen Aufstand eine demokratische Ausrichtung geben müsse.64 Ein Bündnis der entsprechenden politischen Strömungen des russischen Exils solle diese Konstellation gewissermaßen vorwegnehmen.65 Dan und Abramowitsch, die Führungsfiguren des menschewistischen Exils reagierten kritisch auf Kautskys Publikation, Dan in einem Nachwort zu der von ihm besorgten russischen Übersetzung,66 Abramowitsch in einem Artikel für die sozialdemokratische Theoriezeitschrift „Die Gesellschaft“, in dem er hervorhob, ein vollendeter Bonapartismus, wie ihn Kautsky für Russland annahm, sei eine „antidemokratische Liquidierung der Revolution durch aus der Revolution selbst hervorgegangenen Kräfte im Interesse der durch die Revolution neu geschaffenen besitzenden Klassen.“ Solche besitzenden Klassen gebe es aber in Russland nicht, und auch die Funktionärsschicht könne nicht mit einer Klasse von Eigentümern gleichgesetzt werden. „Wirklicher Bonapartismus für Russland würde demnach bedeuten, dass die terroristische Diktatur der Bolschewiki mit kapitalistischem Inhalt erfüllt werde.“67 Solche Einwände hielt Kautsky indes für spitzfindig und fruchtlos. Mit fiktiven Schreckbildern eines bevorstehenden 61 62 63 64 65

Dan, Letters, S. 369–382, 395–398, 405–407, 583–600. Brief Garwys an Kautsky vom 30. 4.1930 (Nachlass Kautsky, G 16, 42–45). Karl Kautsky, Der Bolschewismus in der Sackgasse, Berlin 1930, S. 102. Ebd., S. 117. Ebd., S. 119–132. Tatsächlich waren die Menschewiki zu Schritten in diese Richtung erst nach den Umbrüchen des Zweiten Weltkriegs und in ihrem dritten Exil, den USA, bereit. Vgl. André Liebich, From the Other Shore. Russian Social Democracy after 1921, Cambridge 1997, S. 287–296. 66 Simon Wolin, The Mensheviks under the NEP and in Emigration. In: Leopold H. Haimson (Hg.), The Mensheviks. From the Revolution of 1917 to the Second World War, Chicago 1974, S. 241–348, hier 323. 67 Raphael Abramowitsch, Revolution und Konterrevolution in Russland. Das neue Kautsky-Buch über Russland. In: Die Gesellschaft, 7 (1930), 2. Halbband, S. 532–541, hier 536.

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Bonapartismus werde nur „die Wucht unseres Angriffs gegen die unerbittlichen Schrecknisse der Diktatur“ geschwächt.68 Die Entwicklung dieser Diktatur zur Monopolherrschaft nicht mehr einer Partei, sondern eines Mannes, war für Kautsky keine Überraschung. Die Bezeichnung Stalins als „allmächtiger Diktator“ sei kein Ausdruck eines fragwürdigen Idealismus. Otto Bauer hatte solche Gedankengänge in einer Rezension von Boris Souvarines Biographie Stalins entwickelt und davor gewarnt, den ersten Mann der Sowjetunion als bösartigen „Demiurgen“ zu verstehen. Kautsky hingegen konnte in einer Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen in der UdSSR und der persönlichen Herrschaft des Diktators keinen Widerspruch erkennen. Worauf es ankomme, sei vielmehr eine Verbindung zwischen beiden Betrachtungsweisen.69 In dieser Debatte zwischen Bauer und Kautsky treten Denkfiguren und Wahrnehmungsweisen auf, wie sie später in der Debatten zwischen Revisionisten und Totalitarismustheoretikern vor allem unter Sowjetunion-Historikern in den USA zu beobachten sind. Von Kautskys Analyse führt eindeutig eine gedankliche Linie zu den totalitarismustheoretischen Ansätzen. In das Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der russischen Entwicklung war, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit der Rolle der sozioökonomischen Rückständigkeit inzwischen das Problem demokratischer oder diktatorischer Herrschaft gerückt. Als Wurzel der diktatorischen Entwicklung in Russland sah Kautsky Lenins Parteiorganisationsmodell. Die autoritär geführte Partei der Berufsrevolutionäre war für ihn ein Verstoß gegen die Prinzipien des Marxismus und ein Rückgriff auf blanquistische Methoden.70 Der Kampf für die Demokratie – auch in Russland – war für Kautsky die Schlüsselaufgabe der Arbeiterbewegung. Daher stand er den Volksfrontbestrebungen Mitte der 30er Jahre skeptisch gegenüber. In den Beschlüssen des siebten Kominternkongresses von 1935 , die den offiziellen Abschied von der Sozialfaschismustheorie markierten, sah er nur ein taktisches Zugeständnis der Sowjetunion angesichts einer antidemokratischen Entwicklung in Europa, die begann, ihr selbst gefährlich zu werden. Zwar seien die kommunistischen Bekenntnisse zur Verteidigung der Demokratie zu begrüßen, vertrauen dürfe man ihnen aber nicht, da sie in vollständigem Widerspruch zur inneren Politik der Sowjetunion stünden. Sollte es dazu kommen, dass die sowjetischen Machthaber sich mit Deutschland und Japan verständigten, „dann würden die Kommunisten überall zu einer Hilfstruppe des Faschismus werden“, schrieb Kautsky im Dezember 1937 im „Neuen Vorwärts“. Wahrscheinlich sei eine Verständigung Stalins mit Hitler allerdings nicht, meinte Kautsky. Sie würde auf zu große psychologische Hindernisse auf beiden Seiten stoßen und die Glaubwürdigkeit ihrer bisherigen Agitation in Frage stellen. Immerhin aber seien die wachsenden 68 Karl Kautsky, Sozialdemokratie und Bolschewismus. In: Die Gesellschaft, 8 (1931), 1. Halbband, S. 54–71, hier 56 und 61. 69 Salvadori, Sozialismus, S. 456. 70 Ebd., S. 456 f.

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ökonomischen Schwierigkeiten in beiden Ländern in Betracht zu ziehen, die eine steigende Verunsicherung und innere Gegensätze in den Reihen der Herrschenden zur Folge hätten. „Eine solche Situation vermag in einer schrankenlosen Despotie leicht über Nacht ganz unvorhergesehene Wandlungen der Staatspolitik hervorzurufen.“71 Kautsky irrte sich, als er einen Durchbruch zur Demokratie in Russland für wahrscheinlicher hielt als einen Hitler-Stalin-Pakt. Eine Einigung der diktatorischen Hälfte Europas gegen die demokratische nannte er in seinem Alterswerk „Sozialisten und Krieg“ eine „wahrhaft erschreckend[e]“ Gefahr, meinte aber, das sei zum Glück nicht zu fürchten, weil Diktaturen und absolute Monarchien wegen ihres Hangs zum Misstrauen strukturell nicht sehr einigungsfähig seien.72 Die Versuchung einer imperialistischen Kooperation hatte er offenkundig unterschätzt. Hingegen blieb die erhoffte Einheitsfront auf demokratischer Grundlage mit einem befreiten russischen Proletariat73 aus. Trotz dieser Irrtümer spricht es für Kautskys politischen Weitblick, dass er eine internationale Mächte-Konstellation in Betracht zog, von der, als sie Wirklichkeit wurde, nicht nur die meisten Sozialdemokraten überrascht wurden. Kautsky hat das Entstehen dieser Konstellation nicht mehr erlebt; eine Desillusionierung, wie sie insbesondere für viele Linkssozialisten daraus erwuchs74 hätte sie bei ihm sicher nicht ausgelöst, denn er hatte sich schon seit der Oktoberrevolution keine Illusionen über den Bolschewismus gemacht.

IV.

Kautsky – ein Vorläufer der Totalitarismustheorie?

„Die Kategorien, mit denen er die politisch-gesellschaftlichen Systeme beurteilte,“ so der italienische Politikwissenschaftler Massimo Salvadori über Kautsky, „waren die Kategorien der politischen Freiheit, der bürgerlichen Rechte, der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Bewegungs- und Handlungsfreiheit für alle Parteien und der vollen Organisationsfreiheit für das Proletariat und die arbeitenden Schichten im Allgemeinen. Wenn er diesen Maßstab anlegte, musste er zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass der Bolschewismus und der Faschismus einander glichen, ja in ihren politischen Techniken und Herrschaftspraktiken miteinander identisch waren.“75

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Karl Kautsky, Kommunismus und Demokratie. In: Neuer Vorwärts, Nr. 234, Beilage, Dezember 1937; online abrufbar unter (http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.htm). Ich danke Mike Schmeitzner für den Hinweis auf diese Quelle. 72 Kautsky, Sozialisten und Krieg, S. 671. 73 Vgl. Kautsky, Kommunismus und Demokratie. 74 Hartmut Mehringer, Der Pakt als grundlegende Weichenstellung für den Sozialismus. In: Der Hitler-Stalin-Pakt. Voraussetzungen, Hintergründe, Auswirkungen. Hg. von Gerhard Bisovsky, Hans Schafranek und Robert Streibel, Wien 1990, S. 119–123, hier 122; Behring, Demokratische Außenpolitik, S. 219–230. 75 Salvadori, Sozialismus, S. 421 f.

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Die genannten Kriterien teilt Kautsky zweifelsohne mit den Vertretern Totalitarismuskonzepts. Doch um die Beziehung von Kautskys politischem Denken zu totalitarismustheoretischen Ansätzen genauer zu bestimmen, müssen auch die trennenden Elemente benannt werden. Hier ist an erster Stelle anzuführen, dass Kautsky die vollständige historische Erfahrung des Totalitarismus fehlte. Zwar hatte er 1938 beim so genannten „Anschluss“ aus seiner österreichischen Heimat fliehen müssen, doch er starb schon am 17. Oktober 1938 in seinem Exil in Amsterdam, wo er am 18. März eingetroffen war.76 Den zweiten Weltkrieg und den Holocaust erlebte er nicht mehr. Die Dimension der Verbrechen, die das NS-Regime zu begehen sich anschickte, konnte Kautsky sich nicht vorstellen. So meinte er, die vom NS-Regime propagierte Ostsiedlung müsse daran scheitern, dass es in den betreffenden Gebieten schon eine zahlreiche Bauernbevölkerung gebe. „Will man die ausrotten? Nein, so blutdürstig sind in diesem Falle die braunen Konquistadoren nicht.“77 Die Planungen des Wirtschaftsstabes Ost und der Generalplan Ost sprachen schon bald eine andere Sprache. Erste Ansätze für eine Totalitarismustheorie entstanden zwar bekanntlich schon in den 1920er Jahren in der Auseinandersetzung mit der faschistischen Diktatur Mussolinis, doch hat diese Denkrichtung Relevanz und Tiefe erst als eine Reaktion auf Weltkrieg und Massenmord gefunden. Diese hatten sich weit überwiegend nicht in atavistischen Formen vollzogen, sondern unter Mobilisierung modernster technischer Ressourcen und Sozialtechniken. Totalitarismustheoretischen Ansätzen ist daher jener unverbrüchliche Fortschrittsoptimismus, der Kautskys Denken kennzeichnete, fremd.78 Dieser war bei ihm so stark ausgeprägt, dass er beispielsweise noch 1937 im Völkerbund ein starkes Instrument zur Sicherung des Weltfriedens zu erkennen glaubte.79 Kautsky war in dieser Hinsicht eindeutig ein Kind des 19. Jahrhunderts. Kautskys Argumentation, die sich selbst als materialistisch versteht, ist nichtsdestoweniger gekennzeichnet durch einen steten Rekurs auf einen humanistisch-liberalen Wertekodex. Beate Häupel betont die Stärken dieses Ansatzes: „Eine grundlegende Leistung des Theoretikers ist es, Elemente des politischen Liberalismus mit Ideen des Marxschen Sozialismus zu verbinden. Daraus erwuchs die Möglichkeit, den ökonomischen Determinismus der Marxschen Theorie zu überwinden, und eine Demokratieauffassung zu entwickeln, die zwar mit den ökonomischen Verhältnissen in Zusammenhang steht, jedoch von ihnen relativ unabhängig ist. Gleichzeitig bot sie die Chance, pluralistische Züge geistig vorwegzunehmen.“80 Häu76 Ursula Langkau-Alex, Karl Kautsky in den Niederlanden. In: Hans Würzner (Hg.), Österreichische Exilliteratur in den Niederlanden 1934–1940, Amsterdam 1986, S. 39– 65, hier 39. 77 Ebd., S. 664. 78 Vgl. z. B. die Schlussüberlegungen Hannah Arendts klassischer Totalitarismusstudie: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955, S. 746–752, die um den Begriff der „Verlassenheit“ kreisen. 79 Kautsky, Sozialisten und Krieg, S. 672. 80 Häupel, Kautsky, S. 164.

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pel benennt aber auch die Defizite von Kautskys Demokratieverständnis: eine deterministische Geschichtsauffassung, Institutionenfixiertheit und Etatismus. Seine anthropologische Auffassung, das demokratische Prinzip entspreche der menschlichen Natur habe ihn nicht erkennen lassen, „dass einmal installierte demokratische Systeme auch eine regressive Entwicklung nehmen können“.81 Sein Biograph Steenson erklärt die Schwächen seiner Faschismusanalysen mit Kautskys Rationalismus, dem das Verständnis für die emotionalen Triebkräfte fehlte, die nach dem Ersten Weltkrieg freigesetzt worden waren.82 In der Tat schränkte vor allem sein deterministischer Fortschrittsglaube Kautskys historisch-politisches Sichtfeld zu sehr ein. Leszek Kolakowski hat herausgearbeitet, dass der „naturalistische Determinismus“ in Kautskys Denksystem „bemerkenswerte Inkonsequenzen und Zufälligkeiten“ erzeugte.83 Unter anderem kritisiert Kolakowski, dass in Kautskys Geschichtsphilosophie eine Grundlage für die Verurteilung von Despotismus und Gewalt fehlt, obwohl ihr Urheber diese zweifellos verabscheute. Dies hängt eng zusammen mit der von Kolakowski als „Angelpunkt der Philosophie Kautskys“ bezeichneten „Naturalisierung des menschlichen Bewusstseins“, welche die Wahrnehmung historischer Prozesse beeinträchtige: „Nachdem er den Glauben der Aufklärung an einen stetigen Fortschritt und die Darwinsche Theorie vom Bewusstsein als einem biologischen Organ in den Marxismus eingebracht hatte, war Kautsky nicht mehr für die dramatischen Widersprüche des Fortschritts empfänglich, und er konnte nicht glauben, dass das Bewusstsein selbst in der Geschichte Punkte der Diskontinuität schafft, die aus späterer Sicht stets leicht zu erklären, die aber niemals vorherzusehen sind.“84 Für solche Vorgänge hatte Kautsky in der Tat „kein Organ“, anders etwa als sein Parteifreund Hermann Heller, der in seiner Faschismusanalyse die Erosion liberaler Werte beim deutschen Bürgertum vielschichtig und tiefgehend analysierte,85 oder der in der deutschen Sozialdemokratie aktive Menschewik Alexander Schifrin, der im Nationalsozialismus frühzeitig einen „tobsüchtige[n]“ und den „reaktionärste[n]“ aller Faschismen erkannte, der „die brutalsten Mittel der modernen Gegenrevolution mit einem mittelalterlichen sozialen und politischen Gehalt“ vereinige.86 Ein „waschechter“ Totalitarismustheoretiker war Kautsky aus den genannten Gründen sicherlich nicht, wohl aber ein Vorläufer der Totalitarismustheorie. Auch wenn Kautsky den Vergleich totalitärer Regime nicht intensiv betrieben 81 Ebd., S. 166 f. 82 Steenson, Kautsky, S. 240. 83 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall. 2. Band, München 1978, S. 66. 84 Ebd., S. 71. 85 Hermann Heller, Europa und der Fascismus, 2. veränderte Auflage Berlin 1931, S. 23– 37. 86 Alexander Schifrin, Gedankenschatz des Hakenkreuzes. In: Die Gesellschaft, 8 (1931), 1. Halbband, S. 97–116, Zitat S. 109.

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und sich, nicht zuletzt aus lebensgeschichtlichen Gründen, vor allem mit dem Kommunismus auseinandergesetzt hat, ist es verfehlt, sein Werk auf einen Antibolschewismus zu reduzieren, der sich in einen angeblichen, von den Sozialdemokraten bis zu Adolf Hitler reichenden „antibolschewistischen Konsens“ der deutschen Gesellschaft zur Zeit der Weimarer Republik einordnen lässt, wie Kai-Uwe Merz das im Gefolge Ernst Noltes getan hat.87 Ein Konsens, also eine Übereinstimmung, lässt sich nicht aus der verschiedenen Personen oder Gruppierungen gemeinsamen Ablehnung einer Erscheinung ableiten, da die Motive hierfür grundsätzlich verschieden sein können. „Der Antibolschewismus an sich ist noch kein Programm“, schrieb zu diesem Problem schon 1920 recht klarsichtig der sozialdemokratische „Vorwärts“.88 Kautskys Ablehnung des Bolschewismus speiste sich aus seinem Selbstverständnis als freiheitlicher Sozialist; mit dem paranoiden Antisemitismus des deutschen Rechtsextremismus, der den Bolschewismus als eine Erscheinungsform einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“ begriff, hatte er nichts gemein. Was er von den nationalsozialistischen Rassetheorien und ihrer Umsetzung in den Nürnberger Gesetzen hielt, hat er in der Einleitung zu seinen Memoiren deutlich gemacht: „Es ist vollendete Gedankenlosigkeit, Stammbäume von Haustieren und solche von Menschen auf eine Stufe zu stellen und hier wie dort Unterscheidungen zwischen Edelrassen und gemeinem Vieh zu machen. Die Gedankenlosigkeit erreicht ihren Gipfel dort, wo nicht eine geschlossene, beschränkte Verwandtschaftsorganisation, sondern ein Volk von vielen Millionen zu einer Edelrasse erhoben werden soll, die ihre Stammbäume sorgfältig zu hegen hat. Die Gedankenlosigkeit wird idiotisch, wenn sie, wie es bei Haustierrassen geschieht, nach bestimmten Rassenmerkmalen sucht, die für die Volksrasse bestimmend sein sollen. Da es ganz ausgeschlossen ist, biologische Merkmale dieser Art zu finden, hat man sich im Dritten Reich dazu entschlossen, die Konfession als Rassenmerkmal festzusetzen. Den Charakter des Rassenmäßigen sucht man ihr dadurch zu geben, dass es nicht die Konfession der jetzigen Generation sein soll, die für die Rassenzugehörigkeit bestimmend wird, sondern die ererbte Konfession. Dass ein Nichtchrist seine Rasse nicht wechselt, wenn er sich taufen lässt, muss man zugeben. Aber ganz anders soll die Sache stehen, wenn schon die Großeltern sich taufen liessen.“89 Gegen das Vorhandensein eines irgendwie gearteten „antibolschewistischen Konsenses“ spricht auch die Geschichte der Familie Kautsky. Karl Kautsky hatte guten Grund, vor den Nationalsozialisten zu fliehen. Sein Sohn Benedikt wurde beim „Anschluss“ Österreichs verhaftet und verbrachte die folgenden sieben Jahre in Dachau, Buchenwald, Auschwitz und wiederum in Buchenwald, wo er 87 Kai-Uwe Merz, Das Schreckbild. Deutschland und der Bolschewismus 1917 bis 1921, Berlin 1995, S. 12 (Konsens), S. 118–133 (Kautsky); Ernst Nolte, Der Europäische Bürgerkrieg 1917–1945, Frankfurt a. M. 1987, S. 122. 88 Sammelpolitik in Russland? In: Vorwärts Nr. 79 vom 12. 2.1920. 89 Karl Kautsky, Erinnerungen und Erörterungen, S. 33.

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befreit wurde.90 Benedikts Frau Gerda war zusammen mit ihren beiden Töchtern mit den Schwiegereltern in die Niederlande geflohen, wo sie sich nach der deutschen Besatzung bis Januar 1945 verborgen halten konnte. Zusammen mit einer ihrer Töchter kam sie noch kurz vor Kriegsende ins Lager Westerbork, das beide überlebten, die andere Tochter überlebte mit Hilfe von Quäkern im Untergrund.91 Luise Kautsky hingegen, Karl Kautskys Ehegattin, die jüdischer Herkunft war, war bereits im Mai 1944 den deutschen Judenhäschern in die Hände gefallen. Über Westerbork kam sie nach Auschwitz, wo sie im Dezember 1944 im Krankenbau von Birkenau starb. Josef Mengele, der berüchtigtste der Ärzte von Auschwitz interessierte sich für sie. Er hatte offenbar Kautskys Buch „Sozialisten und Krieg“ in den Händen gehabt.92 Die Wienerin Erna Musik, die als Pflegerin im Krankenbau arbeitete, berichtete, er habe sie mit den Worten angesprochen „Sie sind also des großen Kommunisten Frau.“ Die 80-jährige Luise Kautsky erwiderte: „Sie irren sich, des Sozialisten Frau.“93 Soviel zum „antibolschewistischen Konsens“. Die Maßstäbe für die Würdigung von Kautskys Bolschewismuskritik findet man sicher nicht, indem man ihm mittels einer zweckgerichteten Zitatenkompilation eine irgendwie geartete Geistesverwandtschaft mit Hitler andichtet, um in der Folge dessen Mörderregime als eine angeblich unvermeidliche, wenn auch weit über das Ziel hinausschießende Reaktion auf den Bolschewismus zu verharmlosen.94 Um Kautskys geistige, moralische und politische Leistung in den Blick zu nehmen, muss man ihn in seinem politischen und intellektuellen Umfeld sehen. Anders als viele Intellektuelle in der sozialistischen Arbeiterbewegung oder aus linken kulturellen Milieus – darunter nicht wenige bedeutende Persönlichkeiten – hat er sich vom Mythos der Oktoberrevolution nicht blenden lassen. Die Inkonsistenzen und ein gewisser Schematismus seines politischen Denkens, ebenso wie einzelne Fehleinschätzungen mindern nicht die zentrale Leistung seiner letzten beiden Lebensjahrzehnte: Wohl kaum ein Theoretiker deutscher Sprache ist in der Zwischenkriegszeit so entschieden und aktiv für die Verteidigung der Demokratie gegen die Versuchung der totalitären Utopie von links eingetreten wie Karl Kautsky.

90 Benedikt Kautsky, Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern, Zürich 1946. 91 Langkau-Alex, Kautsky in den Niederlanden, S. 51. 92 Ebd., S. 50 f. 93 Gerald Stourzh, Das Zeugnis Rosa Jochmanns. In: Der Standard vom 25. 2. 2004; online abrufbar unter (http://derstandard.at/?url=/?id=1580273). 94 Merz, Schreckbild, S. 498 und 500.

Totalitarismustheoretische Ansätze bei Alexander Schifrin. Ein Grenzgänger zwischen russischer und deutscher Sozialdemokratie Uli Schöler Es ist schon eine Reihe von Jahren her, dass ich mich erstmalig und intensiv mit Alexander Schifrin beschäftigt habe. Das erste Mal stieß ich auf ihn, als ich mich ab Mitte der achtziger Jahre im Rahmen meiner Dissertation damit zu beschäftigen begann, welchen Einfluss die russische Oktoberrevolution und die ihr folgenden Umwälzungen in Sowjetrussland auf die innersozialdemokratischen Politik- und Theoriedebatten in Deutschland und Österreich gewannen.1 Natürlich standen dabei – neben den Analysen und Einschätzungen des Österreichers Otto Bauer – die prägenden Positionsbestimmungen Karl Kautskys im Mittelpunkt. Aber je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, umso deutlicher wurde mir, dass selbst für diese beiden wichtigsten Köpfe des intellektuellen demokratischen Sozialismus der Zwischenkriegsperiode in der genannten Frage andere Persönlichkeiten die eigentlichen Berater und Ideengeber im Hintergrund waren. Ich stieß auf Namen wie Paul Axelrod, Julius Martow, Theodor Dan, Raphael Abramowitsch und andere, deren Schriften und Biographien mir zuvor nicht geläufig waren. Dies sind nur die Namen der wichtigsten, herausragenden Persönlichkeiten der Führung der russischen Sozialdemokratie, aus bekannten Gründen auch Menschewiki genannt. Ihre ab Anfang der zwanziger Jahre erzwungene Exilierung verbunden mit einer kontinuierlichen Verdrängung aus der Geschichtsschreibung im Osten wie im Westen hatte diese Namen über die Jahrzehnte hinweg verblassen lassen.2 Noch heute stoßen wir noch hin und wieder bei durchaus renommierten Historikerkollegen auf Einschätzungen wie die, es habe sich bei dieser Partei in den zwanziger Jahren um eine „Gruppe verbohr1 2

Vgl. Uli Schöler, „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in Deutschland und Österreich (1917– 1929), Hamburg 1990, 2 Bände. Vgl. u. a. Leopold H. Haimson (Hg.), The Mensheviks. From the Revolution of 1917 to the Second Word War, Chicago 1976; André Liebich, From the Other Shore. Russian Social Democracy after 1921, Cambridge 1997; Uli Schöler, „Demokratische Liquidation der bolschewistischen Diktatur“. Die Auslandsdelegation der russischen Sozialdemokratie im Berliner Exil. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), 34 (1998) 2, S. 157–170.

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ter Sektierer“ gehandelt, um eine „politisch marginalisierte Sekte von Emigranten“, die sich in der „Apologie des sowjetischen Sozialismus“ geübt hätten.3 Ich teile diese Auffassung nicht. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass diese russische Sozialdemokratie einen (aufgrund ihrer verschiedenen politischen Flügel verständlicher Weise) breit gefächerten Fundus von Analysen und Einschätzungen hinterlassen hat, die für ein differenziertes Verständnis der sowjetischen Geschichte und der politischen Prozesse innerhalb der Arbeiterbewegung des zwanzigsten Jahrhunderts unerlässlich sind. Dies gilt – wie schon erwähnt – für ihre eigenen Schriften wie die derjenigen, denen sie mit ihren profunden Kenntnissen und ihrem Rat zur Seite standen. Zurück zu Alexander Schifrin. Mitte der achtziger Jahre war es zwar aufgrund der bereits in den sechziger Jahren erfolgte Herausgabe von Schriften z. B. von Theodor Dan4 und Raphael Abramowitsch5 in deutscher Sprache sowie einer australischen Biographie über Julius Martow6 möglich, wenigstens bezüglich der herausragenden menschewistischen Persönlichkeiten Näheres über deren persönlichen wie politischen Werdegang zu erfahren. Dies galt jedoch nicht für Alexander Schifrin. In einer 1978 herausgegebenen wichtigen Dokumentation sozialdemokratischer Debatten der Weimarer Periode heißt es über ihn recht lapidar: „Geboren in Russland, Anfang der zwanziger Jahre als Menschewik zur SPD gestoßen, Mitarbeiter an Hilferdings Zeitschrift Die Gesellschaft, 1933 Emigration, 1940 USA.“7 Kein Geburtstag, kein Todesdatum. Das „Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933“ gibt wenige Jahre später wenigstens Geburtsort (nämlich Charkow) und -datum (1901) an, ist sich aber unsicher bezüglich des Todesjahres (1950 bzw. 1951).8 Ansonsten werden im Wesentlichen Mitteilungen über seinen Lebensweg in der Emigration nach 1933 gemacht. Erst und insbesondere durch die 1997 erschienene hervorragende Arbeit von André Liebich über die Menschewiki in der Emigration erfahren wir etwas mehr über seine Herkunft: Er wurde 1901 in Charkov, in der heutigen Ukraine gebo3

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Jörg Baberowski, Das dumme Volk. Die Menschewiki in der Emigration [Rezension von Liebich, From the Other Shore]. In: FAZ vom 22.12.1998, S. 14; sehr viel positiver hingegen Henryk Skrzypczak, Menschewiki im Abseits. Ein wichtiges Buch zu einer gewichtigeren Sache. In: IWK, 35 (1999) 3, S. 388–393. Theodor Dan, Der Ursprung des Bolschewismus. Zur Geschichte der demokratischen und sozialistischen Idee in Russland nach der Bauernbefreiung, Hannover 1968; zu seiner Person vgl. jetzt Hartmut Peter, Theodor Dan (1871–1947). In: Otfried Dankelmann (Hg.), Lebensbilder europäischer Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts, Wien 1995, S. 161–174. Raphael Abramowitsch, Die Sowjetrevolution, Hannover 1963. Israel Getzler, Martow. A Political Biograph of a Russian Social Democrat, Cambridge 1967. Wolfgang Luthardt (Hg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927–1933, Band 2, Frankfurt a. M. 1978, S. 420. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Band I: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, 2. Auflage München 1999, S. 646 f.

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ren, erwarb dort den Doktortitel in Sozialwissenschaften und unterrichtete Ökonomie. Er gehörte dem ukrainischen menschewistischen Parteikomitee an und betätigte sich in der illegalen Untergrundarbeit. 1922 wurde er inhaftiert und – wie nahezu alle Mitglieder des Parteivorstands der russischen Menschewiki – zur Ausreise gezwungen. Anders als Letztere übersiedelt er nicht nach Berlin, sondern nach Württemberg. Dort erwirbt er die SPD-Mitgliedschaft, wird Mitarbeiter der „Mannheimer Volksstimme“ und an Hilferdings „Gesellschaft“, schreibt aber auch Artikel im österreichischen Parteiorgan „Der Kampf“. Seine Artikel zeichnet er überwiegend mit dem Namen Max Werner, manchmal mit dem Zusatz Heidelberg.9 Nach 1933 gilt er als prominenter Vertreter des linken Flügels der deutschen sozialistischen Emigration, gehört zum Vorstand der Gruppe „Revolutionäre Sozialisten“ in Paris, unterstützt aber gleichzeitig die Kartellbemühungen der SPD-Gruppe Paris um Siegfried Marck. Er tritt nach 1935 – nach der Wendung der Kommunistischen Internationale – für eine Politik der Einheitsfront ein, unterstützt die jeweiligen Aufrufe des Lutetia-Kreises. Er entwickelt sich nun – bezogen auf seine publizistischen Aktivitäten – zum Militärexperten.10 Jetzt publiziert er auch unter einem zweiten Pseudonym, Herbert Röhn. Seine Beiträge erscheinen in der „Zeitschrift für Sozialismus“, in „Deutsche Freiheit“, „Marxistische Tribüne“, „Die Zukunft“ und „Die Neue Weltbühne“.11 1940 übersiedelt er – wie nahezu alle führenden Menschewiki – von Paris nach New York, wo er regelmäßig Beiträge u. a. für die „New Republic“ schreibt. Er unterstützt Theodor Dan 1940 bei seiner Linksabspaltung in New York mit der Zeitschrift „Neuer Weg“, während die Mehrheitsgruppe weiter den schon in Berlin und Paris publizierten „Sozialistischen Weg“ herausgibt. 1951 stirbt er an Herzversagen.12 So viel als kurzer biographischer Hintergrund. Schifrin galt vielen zeitgenössischen Beobachtern als das intellektuelle „Wunderkind“13 der Exil-Menschewiki. Er ist noch nicht einmal 30 Jahre alt, als er 1928 – an einer Stelle heißt es zum Mitherausgeber,14 an anderer – zum fest angestellten Redakteur15 der „Mannheimer Volksstimme“ berufen wird. Wer 9 Liebich, From the Other Shore, S. 340; vgl. z. B. Max Werner [d. i. Alexander Schifrin], Die Kolonialprobleme der Sowjetunion und die chinesische Revolution. In: Der Kampf, 21 (1928) 8/9, S. 345–359, hier 345. 10 Vgl. z. B. den Aufsatz Alexander Schifrin, Die Wehrmacht der Sowjetunion. In: Der Kampf, 28 (1935) 11, S. 493–500, sowie die Schrift Max Werner [d. i. Alexander Schifrin], Sozialismus, Krieg und Europa, Straßburg 1938. 11 Biographisches Handbuch, S. 646 f.; Jutta von Freyberg, Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Revolutionären Sozialisten Deutschlands vor dem Problem der Aktionseinheit 1934–1937, Köln 1973, S. 24. 12 Liebich, From he Other Shore, S. 340. 13 Ebd., S. 100. 14 Ders., Eine Emigration in der Emigration: Die Menschewiki in Deutschland 1921–1933. In: Karl Schlögel (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995, S. 229–242, hier 235. 15 „Zu den beiden Redakteuren Oskar Geck und Emil Maier kamen 1906 Th. Huth und Emil Hauth [...]. Den 1928 verstorbenen Oskar Geck ersetzte Alexander Schifrin.“ Udo

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heute noch einmal in seinen Aufsätzen liest, wird sich – unabhängig von der Zustimmung oder Ablehnung in der Sache – der präzisen Sprache und geschliffenen Argumentation kaum entziehen können. Sicherlich ist es auch seinem geringen Alter zuzuschreiben, dass er sich anders als viele andere seiner menschewistischen Parteikollegen ausgesprochen schnell sprachlich wie politisch in das deutsche sozialdemokratische Parteileben integrierte, von den Parteigenossen kaum noch als Ausländer wahrgenommen wurde.16 Liebich gibt die schöne Anekdote aus einem Brief von Boris Sapir wieder, dass Rudolf Hilferding in den zwanziger Jahren den Saal eines SPD-Parteitages in Begleitung seiner beiden engsten Mitarbeiter Georg Decker (auch Georg Denicke genannt)17 und Alexander Schifrin betrat, was von Delegierten mit den Worten kommentiert wurde: „Das ist die Gesellschaft.“ Denen sei sicher nicht bewusst gewesen, dass es sich bei den beiden Hilferding begleitenden perfekt bikulturellen jungen Intellektuellen um russische Menschewisten handelte.18 Der Reiz von Schifrins Herangehensweise an die große Themen seiner Zeit zu Beginn der dreißiger Jahre schien mir bereits bei meiner ersten Lektüre (also in den achtziger Jahren) darin zu liegen, dass er sich auf den Vergleich des russischen Bolschewismus mit dem italienischen Faschismus und insbesondere ihrer jeweiligen Herrschaftspraxis einließ, ohne dabei bereits von vorneherein von einer völligen Gleichartigkeit oder gar Gleichsetzung auszugehen bzw. umgekehrt jedwede Vergleichbarkeit abzulehnen. Den Begriff „Totalitarismus“ verwendet Schifrin selbst nicht. Unter anderem deshalb hielt ich es damals auch noch nicht für sinnvoll, seinen Zugriff unter dem Rubrum eines differenzierten totalitarismustheoretischen Ansatzes zu klassifizieren, war doch diese Zeit noch allzu sehr von vereinfachenden Gleichsetzungen geprägt. – „Rot gleich braun“, Stalin gleich Hitler, Nationalsozialismus gleich „DDR-Sozialismus“ – das waren die zeitgenössischen Stichworte einer vereinfachenden und schematisierenden politisch motivierten und weniger wissenschaftlichen Debatte in der weit in die achtziger Jahre hineinragenden Zeit des Kalten Krieges. Dies ließ es auch mir damals noch angesagt erscheinen, den Begriff des Totalitarismus nicht nur nicht positiv konnotiert zu verwenden, sondern zugleich auch einen derartig ausgewiesenen wissenschaftlichen Zugang eher für verfehlt zu halten, die inneren Differenzierungen innerhalb dieses Theorems aber damit zugleich auszublenden. Erläuternd sei angefügt, dass auch die Renaissance etwa der Schriften Hannah Arendts aber auch von anderen differenzierenderen Leuschner, [Mannheimer] Volksstimme (1. Mai 1890 – 9. März 1933), (http://www. udo-leuschner.de/zeitungsgeschichte/spd/vstimme.htm) 8.11. 2004. 16 Liebich, Eine Emigration, S. 235. 17 Vgl. zu seiner Person Georg Denicke, Erinnerungen und Aufsätze eines Menschewisten und Sozialdemokraten, Bonn 1995; Michael Scholing, Georg Decker (1887–1964). Für eine marxistische Realpolitik. In: Peter Lösche / Michael Scholing / Franz Walter (Hg.), Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin (West) 1988, S. 57–80. 18 Liebich, From the Other Shore, S. 241.

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Ansätzen erst relativ spät einsetzte.19 Dass ein Teil der politischen und wissenschaftlichen Linken mit der Absage an jedwede Vergleichbarkeit, die ja gerade nicht zwingend Gleichsetzung bedeutet, eine partielle Immunisierung des „realen Sozialismus“ vor Kritik betrieb (und zum Teil bis heute betreibt), habe ich damals zwar durchaus kritisch gesehen, sah es aber stärker als heute vorrangig der Polarisierung des Kalten Krieges geschuldet. Heute bin ich allerdings – wie bereits in Publikationen der neunziger Jahre20 – der sicheren Überzeugung, dass sich bei Alexander Schifrin (aber auch bei anderen Theoretikern der menschewistischen Emigration wie Theodor Dan) ausgezeichnete Ansätze für die notwendige (und zugleich differenzierte) totalitarismustheoretische Betrachtung der prägenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts finden lassen. Insofern bleibe ich bei dem Beharren auf der Notwendigkeit, bei einer vergleichenden Betrachtung das Verbindende wie das Trennende zu suchen und herauszuarbeiten. Nur in diesem Sinne, nicht in dem einer Gleichsetzung aufgrund von Oberflächenphänomenen, scheint mir ein totalitarismustheoretischer Ansatz fruchtbar gemacht werden zu können. Bevor ich mich dafür Schifrin näher zuwende, ist es jedoch zunächst erforderlich, den Rahmen der zeitgenössischen Debatte abzustecken, innerhalb deren sich auch seine Beiträge bewegen. Denn entgegen mancher Betrachtungen, die die Vergleiche wie die wechselseitigen Faschismusvorwürfe auf den verschiedenen Flügeln der Arbeiterbewegung erst ab Ende der zwanziger Jahre ins Blickfeld nehmen, entwickeln sich diese Aspekte einer sich immer weiter verschärfenden Debatte weit früher. Leonid Luks und Bernd Faulenbach habe ich folgende Hinweise zu verdanken, die den Problemkomplex zunächst in der kommunistischen Sicht beleuchten. Bereits im November 1922 schreibt ein anonymer Autor in der „Internationalen Pressekorrespondenz“ (Inprekorr): „Der Faschismus und der Bolschewismus haben gemeinsame Kampfmethoden. Beiden ist es gleichgültig, ob die eine oder andere Handlung gesetzlich oder ungesetzlich, demokratisch oder nicht demokratisch [...] ist. Sie gehen auf ihr Ziel los, treten Gesetze mit Füßen [...] und unterordnen alles ihrer Aufgabe [...] Zweifellos schweben viele von den Bolschewiki eingeführten Neuerungen wie Bakterien in der Luft und werden willkürlich von den schlimmsten Feinden Russlands nachgeahmt.“21 19 Vgl. die jeweiligen instruktiven Überblicke über die Entwicklung unterschiedlicher Ansätze innerhalb der Totalitarismustheorie und den – durchaus kontroversen – Stand der Forschung bei Eckard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996; Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Hg. von Alfons Söllner, Rolf Walkenhausen und Karin Wieland, Berlin 1997; Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997; Achim Siegel (Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998. 20 Vgl. z. B. Uli Schöler, Frühe totalitarismustheoretische Ansätze der Menschewiki im Exil. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), 38 (1996) 2, S. 32–47. 21 P. O.-I., Der Faschismus. In: Kommunistische Internationale vom 1.11.1922, S. 88. Zit. nach Leonid Luks, Einsichten und Fehleinschätzungen: Faschismusanalysen der Komin-

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Ähnlich argumentierte Nikolai Bucharin: „Es ist charakteristisch für die Kampfmethoden der Faschisten, dass sie sich mehr als irgendeine andere Partei die Erfahrung der Russischen Revolution zunutze gemacht haben. Wenn man sie formal, das heißt vom Standpunkt der Technik ihres politischen Vorgehens, betrachtet, entdeckt man bei ihnen eine genaue Kopie der bolschewistischen Taktik, wie z. B. die schnelle Konzentrierung der Kräfte, die Schaffung einer kraftvollen Militärorganisation, die erbarmungslose Vernichtung des Gegners, sobald es nötig ist und die Umstände es erfordern.“22 Ich habe hier nicht näher zu beurteilen, ob in diesen Worten auch Bewunderung für die Kopierenden mitschwingt. Jedenfalls ist diese Beschreibung frei von Kritik, wie sie sicherlich die meisten zeitgenössischen sozialdemokratischen Stellungnahmen begleitet hätte. Man geht also durchaus noch recht ungezwungen mit einer politischen Bewegung und ihrer politischen Praxis um, deren gegenrevolutionärer Impetus doch bald zum Gemeingut der Betrachtung zeitgenössischer Sozialisten und Kommunisten werden sollte. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass ja auch Benito Mussolini seine politischen Anfänge innerhalb der italienischen sozialistischen Bewegung hatte. Während also hier bei einem Teil der bolschewistischen Intelligenz in dieser frühen Phase durchaus die strukturellen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen russischem Bolschewismus und italienischem Faschismus gesehen und beschrieben werden, wird nahezu zeitgleich eine andere Parallelisierung zum gängigen Vokabular kommunistischer Führungskräfte im politischen Kampf mit der Sozialdemokratie. Hören wir nur stellvertretend den Vorsitzenden der Komintern, Grigorij Sinowjew aus dem November 1923. Für ihn sind die Sozialdemokraten wie auch die anderen bürgerlich-demokratischen Parteien nur Teile des regierenden „faschistischen Blocks“ in Deutschland: „Nicht nur Seeckt, sondern auch Ebert und Noske sind verschiedene Spielarten des Faschismus.“23 Wir wissen, dass aus diesem zunächst nur agitatorischen Ansatz später eine ganze „Theorie“ des Sozialfaschismus geboren wurde.24 Allerdings – und dies gehört zur ganzen Wahrheit dazu: Auch auf sozialdemokratischer Seite ist man mit derartigen agitatorischen Vergleichen recht schnell und auch recht früh bei der Hand. Bereits im Mai 1922, also erst kurz tern 1921–1928. In: Claudia Keller/literaturWERKstatt Berlin (Hg.), Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Antifaschismus. Geschichte und Neubewertung, Berlin 1996, S. 77–92, hier 98. Vgl. auch Bernd Faulenbach, Zur Rolle von Totalitarismus- und Sozialfaschismus-„Theorien“ im Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Berlin 2004, S. 98–110. 22 Zit. nach Luks, Einsichten, S. 83; vgl. auch Anmerkung 14. 23 Grigorij Sinowjew, Der Deutsche Koltschak. In: Inprekorr vom 20. 2.1923, S. 1540. Zit. nach Faulenbach, Zur Rolle, S. 104. 24 Vgl. hierzu Hermann Weber, „Hauptfeind Sozialdemokratie“. Zur Politik der deutschen Kommunisten gegenüber den Sozialdemokraten zwischen 1930 und 1950. In: Rainer Eckert/Bernd Faulenbach, Halbherziger Revisionismus: Zum postkommunistischen Geschichtsbild, München 1996, S. 25–45.

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nach der Machtübernahme der italienischen Faschisten, konstatiert das SPDTheorieorgan „Die Neue Zeit“ bereits reichlich lapidar in seiner außenpolitischen Rundschau, beim Faschismus handele es sich um lateinischen Bolschewismus. Bei seiner Machtübernahme in Italien sei er ganz nach bolschewistischen Rezepten vorgegangen. Auch er sei ein Verächter der Demokratie und ein Anhänger der Diktatur, habe gleich dem Bolschewismus imperialistischen Charakter. Im Bolschewismus sah der ungenannt bleibende Autor den geistigen Urheber des Faschismus.25 Die analytische Tiefenschärfe ist hier verständlicherweise noch gering, unklar auch, was mit imperialistischem Charakter gemeint war. Offen bleibt ferner, ob mit der „geistigen Urheberschaft“ schon eine weitergehende Gleichstellung oder doch nur eine bloße Verursacherrolle gemeint war. Es gab auf dem rechten Flügel der deutschen Sozialdemokraten sogar Stimmen, die dem italienischen Faschismus zunächst Positives abgewinnen konnten, gerade auch in Abgrenzung zum Bolschewismus. Zu dessen schärfsten Kritikern gehörte Wally Zepler, die im Bolschewismus den furchtbarsten Feind der Menschlichkeit sah, mit dem es keinerlei Gemeinsamkeit geben könne,26 zugleich aber ihrer Bewunderung für die – wie sie es nannte – „Faktizität der faschistischen Macht“ Ausdruck verlieh. Mussolini – so meinte sie noch im September 1923 – habe durchaus achtbare Leistungen aufzuweisen. Zwar seien die Gewaltmaßnahmen des Faschismus zu verurteilen, aber es mache einen gewaltigen Unterschied, ob sie zu guten oder schlechten Zwecken angewandt würden. Darüber sei bezogen auf den italienischen Faschismus noch nicht das letzte Wort gesprochen.27 Ähnlich argumentierten – mit Blick auf ihre eigenen Maßnahmen der Machterhaltung – natürlich auch die Bolschewiki, ohne dafür von Zepler Vertrauensvorschuss gewährt zu bekommen, ein Widerspruch, den sie selbst nicht zu sehen schien. Gewissermaßen „höhere Weihen“ erhielt die Gleichsetzung von Bolschewismus und Faschismus schon bald durch Karl Kautsky, die immer noch unbestrittene intellektuelle Autorität der internationalen Sozialdemokratie. Erstmalig am 1. Mai 1923 verwendet er diesen Vergleich im Sinne einer Gleichsetzung, wobei allerdings noch offen bleibt, auf welchen jeweils strukturellen Identitäten dies beruht (derartige differenzierte Betrachtungen holte er erst später in mehreren Publikationen nach28). Er schreibt nun: „Noch sind in Italien, Ungarn, Russland die arbeitenden Massen geknebelt durch eine unerhört brutale und willkürliche Diktatur einer Partei, durch weißen oder roten Facsismus.“29 Für 25 Außenpolitische Rundschau. In: Die Neue Zeit, 29 (1922) 6, S. 141. 26 Vgl. z. B. neben zahlreichen Aufsätzen insbesondere in den „Sozialistischen Monatsheften“ ihre kleine Schrift Wally Zepler, Der Weg zum Sozialismus, Berlin o.J. [ca. 1919]. 27 Dies., Fascismus und Sozialismus. In: Sozialistische Monatshefte vom 18. 9.1923, S. 560. 28 Vgl. aus der Vielzahl seiner einschlägigen Arbeiten nur Karl Kautsky, Die Internationale und Sowjetrussland, Berlin 1925; ders., Der Bolschewismus in der Sackgasse, Berlin 1930. Eine genauere Auseinandersetzung mit dem Wandlungsprozess seiner Einschätzungen findet sich bei Schöler, „Despotischer Sozialismus“. 29 Karl Kautsky, Maifeier und Internationale. In: Vorwärts 201/202 vom 1. 5.1923.

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ihn hatten die Bolschewiki angesichts der überall in Europa bemerkbaren Zurückdrängung der Revolution aus Gründen der Machterhaltung selbst die Funktion der Gegenrevolution, der Niederwerfung der Demokratie übernommen.30 Bereits 1925 sah er – ähnlich wie bereits Wally Zepler zwei Jahre zuvor – den Bolschewismus als den im Vergleich zum Faschismus schlimmeren Feind des Proletariats an: „die Sowjetregierung [...] ist augenblicklich das stärkste Hindernis seines [des Proletariats, U.S.] Aufstiegs in der Welt – schlimmer sogar als das infame Regime Horthys in Ungarn oder Mussolinis in Italien, die doch nicht jede oppositionelle Regung des Proletariats so gänzlich unmöglich machen wie das Sowjetregime. Dieses Regime ist heute [...] zum gefährlichsten Feind des Proletariats selbst geworden.“31 Kautskys intellektuelle Autorität in der deutschen und internationalen Sozialdemokratie legte es nahe, dass seine Einschätzungen im politischen Tagesgeschäft schnell Verwendung fanden. Artur Crispien etwa, wie Kautsky aus der USPD kommend und nun Kovorsitzender in der wiedervereinigten Partei neben Otto Wels, führte 1924 in einer Parteitagsrede aus: „Der Bolschewismus endet im Faschismus. Das sehen wir in Ungarn, in Bayern, in Italien und auch in Russland, wo im Grunde nichts anderes als der Faschismus wütet.“32 Hört man Otto Wels auf dem Parteitag 1931, zeigt sich, dass diese Sprachregelung geblieben war: Bolschewismus und Faschismus seien Brüder. Sie basierten beide auf der Gewalt, auf der Diktatur, egal wie sozialistisch und radikal sie sich auch gebärden würden.33 Genau diesen Zugang aber, der – aufgrund der vielfältigen unbestreitbaren Vergleichbarkeiten in der diktatorischen Praxis beider Systeme – zu ihrer Gleichsetzung gelangte, lehnte Alexander Schifrin ab. Hören wir ihn zunächst selbst: „Aber für den demokratischen Sozialismus besteht eben deshalb, weil er diese zum Teil böswilligen, zum Teil faden Analogien ablehnt, die theoretische Möglichkeit und auch ein politischer Zwang, diese beiden Diktaturen in seinem Gesichtskreis gleichzeitig zu behalten und sie auf das ihnen Gemeinsame, auf ihre Widerstandskraft zu prüfen [...] Trotz völlig entgegengesetzten politischen Zielsetzungen und sozialem Inhalte [sic!] weisen die bolschewistische und die faschistische Staatsmacht erstaunliche Ähnlichkeit im Aufbau, in der Struktur und in der Technik der Diktaturen auf.“34 Den Nichtgebrauch des Genitivs können wir dem jungen Exilukrainer schon durchgehen lassen, weniger die Tatsache, dass er für seine Sichtweise den gesamten demokratischen Sozialismus reklamierte. Die zuvor zitierten Personen 30 Ders., Wandlungen der Internationale. Zum 28. September. In: Der Kampf, 17 (1924) 9, S. 345. 31 Ders., Die Internationale, S. 175. 32 Artur Crispien, Parteitagsrede. In: Sozialdemokratischer Parteitag 1924 [Berlin]. Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1924, S. 49. 33 Otto Wels, Parteitagsrede zur Konstituierung. In: Sozialdemokratischer Parteitag in Leipzig 1931 vom 31. Mai bis 5. Juni im Volkshaus. Protokoll, Leipzig 1931, S. 19. 34 Alexander Schifrin, Die Widerstandskraft der Diktaturen. In: Der Kampf, 24 (1931) 11, S. 494–501, hier 496.

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waren ja nicht irgendwer, sondern die Vorsitzenden der Partei, der er angehörte, und mit Kautsky sprach – wie bereits erwähnt – die intellektuelle Autorität des internationalen demokratischen Sozialismus. Aber Schifrin konnte sich schon darauf berufen, dass seine Auffassung in diesem wesentlichen Punkt zumindest von der Mehrheit der russischen Sozialdemokraten unter der Führung Theodor Dans geteilt wurde, mit der Folge, dass die Positionen Kautskys aufgrund der starken Stellung der Menschewiki innerhalb der SAI auch in den Resolutionen der Sozialistischen Arbeiter-Internationale nicht mehrheitsfähig waren.35 Anders als Kautsky waren die Menschewiki nämlich der Auffassung, dass der Bolschewismus durch seine terroristische Machtausübung der faschistischen Konterrevolution erst den Boden bereite, also noch nicht selbst diese Konterrevolution darstelle.36 An Kautskys Broschüre „Die Internationale und Sowjetrussland“ aus dem Jahre 1925 kritisierte Theodor Dan: „Leider hat uns aber Kautsky bei Bearbeitung seines Hauptthemas nicht das gegeben, was wir gerade vom theoretischen Führer des Marxismus zu erwarten berechtigt waren: Er gab uns keine Analyse der mannigfachen Probleme der äußeren und inneren Politik des Bolschewismus, die [sic!] Wandlungen seiner Ideen und seiner praktischen Organisationstätigkeit in ihren Beziehungen zu den internationalen Problemen des Sozialismus.“37 Während also Theodor Dan die inhaltlichen Differenzen mit seinem Freund Kautsky – wenigstens noch zu diesem Zeitpunkt – angemessen vorsichtig austrug (später wurde der Ton auch zwischen ihnen phasenweise schärfer), kritisierte der junge Schifrin einige Jahre später durchaus heftiger, wobei mangels Namensnennung offen bleibt, wen er genau meint, bestimmte Ansätze innerhalb oder außerhalb der Sozialdemokratie: „Die vulgär demokratische Kritik an der bolschewistischen Diktatur, welche in ihr nur die Reaktion schlechthin, nur die Vernichtung der Demokratie sieht, übersieht vollständig die historische Stellung und die Funktion dieser Diktatur. Die Spannkraft der siegreichen Revolution, die die alte Ordnung stürzt, ist eine unvergleichlich größere, als die der kapitalistischen Gegenrevolution, die die bestehende Ordnung schützt. Die Widerstandskraft einer Diktatur wird nicht allein durch ihre Technik, sondern auch durch ihre historische Sendung bestimmt. Die bolschewistische Diktatur hat die alte politische und soziale Ordnung vernichtet, die bürgerlich-demokratische Revolution bis in die letzten Konsequen35 Vgl. dazu näher Schöler, „Despotischer Sozialismus“, S. 766 ff. 36 Aktionsprogramm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. In: Der Kampf, 18 (1925) 3, S. 103. 37 Theodor Dan, Kautsky über den russischen Bolschewismus. In: Der Kampf, 18 (1925) 7, S. 241. Im Angesicht des stalinistischen Terrors Ende der dreißiger Jahre ging auch Dan zu direkteren Vergleichen über: „Stalin himself incarnates the Bonapartist-Nazi tendencies long carried by his autocracy“. Theodor Dan, Pad grom pushek. In: Sotsialisticheskii Vestnik 445 vom 29. 9.1939. Zit. nach André Liebich, The Mensheviks in the Face of Stalinism. In: Ripensare il 1956. Socialismo Storia. Annali della Fondazione Giacomo Brodolini, Rom 1987, S. 185–200, hier 99.

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zen getrieben, um sie später in die sozialistische Revolution zu überführen. Die faschistische Diktatur war dagegen nur eine Form des politischen Überbaus des Kapitalismus, wenn auch mit einer besonderen Eigengesetzlichkeit. Daraus resultiert aber die für die Frage nach der Stabilität der beiden Diktaturen außerordentlich wichtige Unterscheidung ihrer Funktion in Wirtschaft und Gesellschaft.“38 Durch die Fokussierung auf die Untersuchung der potentiellen Widerstandskraft der jeweiligen Diktaturen zeigt Schifrin, dass es durchaus um mehr geht als eine akademische Frage abstrakter Unterschiede. Denn natürlich war es für die Sozialdemokratie alles andere als ohne Belang, auf welche jeweilige Dauer diktatorischer Herrschaft sie sich – bezogen auf Bolschewismus bzw. Faschismus – einzustellen hatte. Sicherlich dürfte sich auch Schifrin nicht unbedingt vorgestellt haben, dass sich diese Frage auch in Deutschland bereits innerhalb von zwei Jahren nicht nur abstrakt, sondern ganz konkret und nicht minder brutal stellen würde. Dieser Hinweis auf den zeitlichen Horizont seines Aufsatzes macht es zugleich erforderlich, daran zu erinnern, dass er nur über den italienischen Faschismus bzw. den russischen Bolschewismus an der Macht schrieb, d. h. den Nationalsozialismus bislang nur als Bewegung wahrnehmen konnte. Zudem schrieb und argumentierte er noch auf einem Kenntnisstand über die Begleiterscheinungen und Folgen von forcierter Industrialisierung und Zwangskollektivierung in der Sowjetunion, bei dem noch nicht unbedingt unsere heutige Kenntnis vorausgesetzt werden darf. Aber natürlich hatte sich Schifrin auch schon in den Jahren zuvor publizistisch mit den jeweiligen politischen Entwicklungen in der Sowjetunion bzw. dem aufkommenden Faschismus bzw. Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Bezüglich der Sowjetunion kann ich hier nur darauf hinweisen, dass er 1928 eine kenntnisreiche Untersuchung über die Kolonialprobleme der Sowjetunion und ihre Beziehungen zur chinesischen Revolution vorlegt. Die besondere Pointe dieses Textes liegt darin, dass Schifrin darin die Sowjetunion selbst als großes Kolonialreich in der Nachfolge des Zarismus vorstellt, dem er aber zugleich konzediert, nach einigen Kurswechseln zu einem bedeutenden antiimperialistischen Faktor in der Weltpolitik geworden zu sein.39 In einem weiteren Grundsatzartikel, auf den ich noch zurückkommen werde, hatte er sich ein Jahr zuvor so kritisch wie kenntnisreich mit dem theoretischen Gebäude des „Sowjetmarxismus“ auseinander gesetzt.40 Wenn bezüglich des Faschismus bei ihm davon die Rede ist, dass er – wenn auch mit einer besonderen Eigengesetzlichkeit – nur eine besondere Form des kapitalistischen Überbaus darstelle, dann darf das nicht dahingehend missverstanden werden, als habe Schifrin zu den Anhängern ökonomistischer Ableitungen dieser Bewegung und Herrschaftsform gehört. Es war ja in zeitgenössischen 38 Schifrin, Die Widerstandskraft, S. 496. 39 Ders., Die Kolonialprobleme, S. 345. 40 Ders., Der Sowjetmarxismus. In: Die Gesellschaft, 5 (1928) Band II, S. 42–67.

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kommunistischen Kreisen und auch bei Teilen der sozialdemokratischen Linken ein gängiger Topos, den Faschismus bzw. Nationalsozialismus durch seine finanzielle Abhängigkeit vom Groß- und Finanzkapital zu charakterisieren.41 Dagegen wandte sich Schifrin scharf. Es sei falsch, den Faschismus als einen mechanischen Reflex irgendeines ökonomischen Tatbestandes zu betrachten.42 Ein Jahr zuvor hatte er dies so begründet: „Man muss dieses Merkmal des Faschismus, sein Eigenleben besonders betonen. Wie wichtig die Verbindung des Faschismus mit dem auch ist, nicht der Auftrag des Großkapitals an sich, sondern das Eigenwesen des Faschismus macht ihn zu einem besonders gefährlichen Gegner des Proletariats.“43 Ich kann hier ebenfalls nur darauf hinweisen, dass Alexander Schifrin bei seiner Kategorisierung des Verhältnisses von kapitalistischer Produktionsweise und faschistischer bzw. nationalsozialistischer Bewegung nicht durchgehend stringent argumentiert, seine Argumentationslinien verändert, im Laufe der Jahre selbst eine Reihe immanenter Widersprüche produziert. Benno Fischer hat dies in seiner detaillierten Untersuchung über die Theoriediskussion in der Weimarer SPD präzise nachgezeichnet.44 Für unseren Zusammenhang reicht die Betrachtung, wie Schifrin – auch im Bereich der Ökonomie – die jeweiligen Unterschiede und Vergleichbarkeiten zwischen Bolschewismus und Faschismus an der Macht charakterisiert. Hier sieht er mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten: In der bolschewistischen Diktatur werde die Macht des Staates durch seine Wirtschaftsmacht potenziert. Dem Staat gehöre die ökonomische Verfügungsgewalt, Staatswirtschaft und Volkswirtschaft seien in weitem Maße Synonyme. Aber diese Verbindung zwischen Staat und Wirtschaft berge in sich auch die Gefahr, dass sich die Erschütterung der Wirtschaft unmittelbar in die Staatskrise umsetzen und die Diktatur sprengen könnte. Als Wirtschaftsmacht sei dagegen die faschistische Diktatur – natürlich nur im Vergleich dazu – völlig einflusslos. In der Frage staatlicher Wirtschaftsbetätigung sei der Faschismus extrem liberalistisch. Er verzichte grundsätzlich auf 41

Vgl. hierzu näher Andreas Heinemann-Grüder, Untersuchung des Faschismusbildes von SPD und KPD anhand von Parteizeitschriften und Parteitagsprotokollen 1921–1929/30 unter theoriegeschichtlichen Aspekten, Berlin (West) 1982 [Staatsexamensarbeit]; Wolfgang Saggau, Faschismustheorien und antifaschistische Strategien in der SPD, Köln 1982; Reinhard Sturm, Faschismusauffassungen der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. In: Richard Saage (Hg.), Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Politische Konzeptionen der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a. M. 1986, S. 302–330; Wolfgang Wippermann, Zur Analyse des Faschismus. Die sozialistischen und kommunistischen Faschismustheorien 1921 bis 1945, Frankfurt a. M. 1981. 42 Alexander Schifrin, Gegenrevolution in Europa. In: Die Gesellschaft, 8 (1931) Band I, S. 1–21, hier 5. 43 Ders., Parteiprobleme nach den Wahlen. In: Die Gesellschaft, 7 (1930) Band II, S. 395– 412, hier 399. 44 Vgl. Benno Fischer, Theoriediskussion der SPD in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987, S. 217 ff. mit weiteren Nachweisen.

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die Wirtschaft der öffentlichen Hand und treibe konsequent eine Politik der Entstaatlichung und Entkommunalisierung. Seine Intervention beschränke sich auf gewöhnlichen Protektionismus und politische Kontrolle der Wirtschaft. Diese größere Unabhängigkeit sichere dem faschistischen Staat damit eine größere Stabilität als dem bolschewistischen. Ich kann hier nur den Zwischenkommentar einschieben, dass sich diese Beobachtung für die spätere nationalsozialistische Diktatur nicht so eindeutig aufrechterhalten ließe. Die größere Widerstandskraft der bolschewistischen Diktatur resultiert deshalb aus seiner Sicht aus einem anderen Zusammenhang: Sie habe die soziale Pyramide des Landes gewaltig umgeformt und umgeschichtet. Ganze gesellschaftliche Klassen, und zwar dem Regime feindliche Klassen, seien sozial vernichtet, aufgelöst, durch die neue soziale Struktur des Landes absorbiert worden. Der Großgrundbesitz, das Großkapital seien nicht allein als soziale Verhältnisse, sondern auch als soziale Schichten verschwunden. Auf diese Weise sei die Gefahr der sozialen Restauration beseitigt worden, da ihre Träger, soweit die sie bildenden Menschen nicht physisch zugrunde gegangen oder emigriert seien, sozial deformiert und durch die neue Gesellschaft aufgesaugt wurden. Die Diktatur habe sich auf diese Weise klassenbildende Macht angemaßt. Ihre Widerstandskraft – so resümiert er diesen Gedankengang – sei auf diese Weise riesig gesteigert worden.45 Anders also als viele andere zeitgenössische linke sozialdemokratische Theoretiker belässt es Schifrin nicht bei einer abstrakten Unterscheidung der beiden Diktaturen hinsichtlich ihrer ideologischen Zielsetzungen bzw. ihrer jeweiligen sozialen Verankerung. Diese Unterschiede sieht er auch, unterlegt sie aber mit einer genaueren Betrachtung ihrer unterschiedlichen ökonomischen Stabilitäten. Ich glaube, es lässt sich nicht bestreiten, dass Schifrin auf diese Weise gewichtige Gründe dafür liefern kann (die allerdings einiger weiterer Ergänzungen bedürften), warum sich die bolschewistische Diktatur immerhin über den Zeitraum von sieben Jahrzehnten hinweg als extrem widerstandsfähig erwiesen hat. Ich füge hinzu: zugleich aber auch als extrem unflexibel und damit veränderungsresistent, was zu einer Bedingung ihres Scheiterns im Wege nicht der Revolution, sondern der Implosion wurde. Schifrin betont jedoch zugleich (und hier wiederum ohne Namensnennung gegen die Schönfärber der Sowjetunion), dass es ausgesprochen kurzsichtig sei, hinter den beschriebenen Unterschieden zugleich die Ähnlichkeit ihrer Machtstruktur und -technik nicht zu bemerken. Erstes Charakteristikum für beide und das, was er den „modernen Diktaturstaat“ nennt – wir würden heute sagen: diese Form totalitärer Herrschaft –, sei vor allem die ungeheure Anhäufung und Konzentration der Gewaltmittel. Schifrin arbeitet dabei den Unterschied zu früheren absolutistischen und halbabsolutistischen Staaten heraus, nämlich, dass deren Machtorgane noch nicht derart politisiert waren und zudem in keiner Be45 Schifrin, Die Widerstandskraft, S. 496 f.

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ziehung zu irgendeiner massenhaften politischen Herrschaftsorganisation standen. Ein neues, wichtiges Element „totalitärer Herrschaft“ ist hiermit benannt. Hören wir ihn dazu nochmals selbst: „Die faschistische und die bolschewistische Diktatur politisieren ihre Wehrmacht und militarisieren die Diktaturparteien. Die faschistische Miliz ist eine den Staat beherrschende und das Regime sichernde Parteigarde. Die kommunistische Partei der Sowjetunion organisiert ihre militärischen ‚Formationen für besondere Bestimmungen‘, gibt der Roten Armee kommunistische Parteikaders und besorgt, dass in den Mannschaften der Bestand der Kommunisten nicht unter einem sehr bedeutenden Prozentsatz (35 bis 40 Prozent) steht. Ein mächtiger weitverzweigter Repressalienapparat, ein politischer Überwachungsdienst durchdringt, belauscht und belauert den ganzen Staat.“46 Ich glaube, diese zutreffenden Beobachtungen bedürfen keiner weiteren Erläuterungen und Illustration, sie sind durch die lange Geschichte beider Diktaturen vielfältig belegt. Das zweite Charakteristikum, das er beschreibt, ist die moderne Diktatur als Parteistaat, und zwar als Einparteistaat. Sie vernichte ihre Gegner, löse sie auf. Umgekehrt werde in diesem Prozess auch die Diktaturpartei verstaatlicht – ein Hinweis, der die schon damals erkennbare langsame Umformung insbesondere der bolschewistischen Partei der Berufsrevolutionäre zutreffend charakterisiert, allerdings in ihren dramatisch lähmenden Auswirkungen sicherlich erst in der Spätphase vollends zutage trat. Beiden Diktaturen – so Schifrin weiter – sei die zentralistische und autoritäre Leitung von Staat und Partei gemeinsam. Die zentralistische Parteistruktur werde auf den Staat übertragen. Die weiter in diesen Zusammenhang gehörenden Gesichtspunkte können hier nur stichpunktartig genannt werden: der Grundsatz der Elite, der Hierarchie, des Korporativismus mit gegängelten sozialen Massenorganisationen, der nichts mit einer freien sozialen Organisation des Volkes zu tun habe, sondern der Verhinderung des Austragens sozialer und politischer Konflikte diene. Als drittes Charakteristikum nennt Schifrin die Herstellung eines Monopols auf Kultur. Die Kultur wird verstaatlicht. Alle Apparate, die Presse, das Verlagswesen, die Schule usw. werden in den Dienst der regierenden Partei und des Parteistaates gestellt. Die Diktatur bestimmt selbst den materiellen Inhalt der Ideologie. Sie verwendet alle geistigen und psychologischen Beeinflussungsmittel, einschließlich der Massenpsychologie, um die Seele der Masse wie nie eine andere Diktatur zuvor in der Geschichte zu bearbeiten.47 Alle drei genannten Charakteristika lassen sich problemlos durch verschiedenste Herrschaftspraktiken beider Diktaturen illustrieren und unterstreichen. Schifrin hat allerdings – wie bereits erwähnt – gerade letzteren Gesichtspunkt mit besonderem Blick auf den sog. „Sowjetmarxismus“ in einem früheren Aufsatz erhellend etwas genauer untersucht. Darauf soll hier nochmals kurz eingegangen werden. Zunächst skizziert er den Prozess einer Umformung des zeit46 Ebd., S. 498. 47 Ebd., S. 498 ff.

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genössischen Marxismus48 hin zu einem falsifizierten und mystifizierenden Sowjetmarxismus, d. h. die Indienststellung als partei- und staatsoffizielle Ideologie. Diesem neuen Konstrukt misst er drei charakteristische Merkmale bei, die – sicherlich mit Modifikationen – auch für die faschistische bzw. nationalsozialistische Ideologie Aussagekraft besitzen. Er nennt als Merkmale, dass es sich um eine universale, eine geschlossene und eine verbindliche Ideologie handele. Der Universalismus werde daraus ersichtlich, dass der Sowjetmarxismus enzyklopädisch-weltanschauliche Ansprüche erhebe, er wolle ein einheitliches Weltbild geben. Seine Geschlossenheit bestehe darin, dass man eine innere unmittelbare Verbundenheit zwischen den aktuellsten Teilen der Ideologie (der politischen Theorie und Taktik) und ihren philosophischen und soziologischen Voraussetzungen postuliere. Damit verwandelten sich derartige Kategorien in sakrale Formeln, die zur Stützung und theoretischen Heiligung jeder politischen Aktion in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwendet werden können. Sie würden damit zu reinen Zwecksymbolen. Besonders wichtig sei aber das dritte Merkmal, nämlich dass der Sowjetmarxismus eine verstaatlichte und verbindliche Ideologie sei. Der Staat bestimme, welche ideologischen Elemente notwendig und erwünscht, welche nur duldbar und bestenfalls zulässig und welche schädlich und unzulässig seien. Der Sowjetmarxismus sei damit eine Zwangsideologie. Sie gehöre in die Reihe der psychischen Zwangsmittel, über die der Sowjetstaat verfüge.49 An dieser Stelle fehlt der Raum, diese Betrachtungen Schifrins nochmals einer genaueren Würdigung und kritischen Prüfung zu unterziehen. Deshalb summarisch einige letzte Bemerkungen: Der besondere Wert der Untersuchungen Schifrins scheint mir in der Differenziertheit seiner Herangehensweise zu liegen. Seine Betonung der Unterschiede in den Entstehungsbedingen, sozialen Verwurzelungen und ideologischen Zielsetzungen beider Diktaturen und ihrer Träger verleiten ihn nicht dazu, die spezifischen Vergleichbarkeiten bzw. Gemeinsamkeiten in der Machtstruktur, -technik und -ausübung aus dem Blick zu verlieren. Er entgeht bei seinem Zugriff zudem der Gefahr ökonomistischer Vereinfachungen, was wiederum das Auge für die massenpsychologischen Aspekte dieser Herrschaftsformen schärft. Schifrins Analysen sind es deshalb wert, bei künftigen Debatten über die frühe Entstehung differenzierter Formen totalitarismustheoretischer Erklärungsansätze stärkere Beachtung zu finden.

48 Vgl. – kritisch zum Begriff aus heutiger Sicht – Uli Schöler, Ein Gespenst verschwand in Europa. Über Marx und die sozialistische Idee nach dem Scheitern des sowjetischen Staatssozialismus, Bonn 1999, S. 81 ff. 49 Schifrin, Der Sowjetmarxismus, S. 45 ff.

Rechtsstaat, autoritäre Demokratie und der europäische Faschismus. Hermann Hellers Grundlegungen einer starken Demokratie Stephan Albrecht

I.

Biographische Kontexte

Hermann Heller (geb. 1891) ist wie viele seiner Zeitgenossen durch die ungeheure Erschütterung und letztlich das Zerbrechen Europas in dem großen Schlachten des 1. Weltkrieges zutiefst und radikal politisiert worden. Die wenigen Jahre, die seinem Leben noch bestimmt waren, waren angefüllt von intensiver wissenschaftlicher, politischer und pädagogischer Tätigkeit.1 Man kann dabei grob drei Phasen unterscheiden. Die erste bis etwa 1923 war der volksbildnerischen Tätigkeit gewidmet. Heller erkannte in den Trümmern der Monarchie die Chance einer demokratischen Entwicklung. Dies allerdings nur dann, wenn die große Menge der Bevölkerung eine wirkliche Möglichkeit der Beteiligung und Mitwirkung an und in den demokratischen Institutionen und Prozessen haben würde. Daher war für Heller die Bildungsfrage für die Arbeiterklasse eine der Zentralfragen der Möglichkeit von demokratischen Verhältnissen. Heller verstand die Bildungsfrage ebenso politisch wie demokratiebildend. Bei vielen Gelegenheiten wurde er nicht müde zu betonen, dass es keine abstrakte, i.e. gesellschaftlich-politisch voraussetzungslose Bildung geben kann. Umgekehrt war ihm wichtig, nicht die Erkenntnis untergehen zu lassen, dass der allergrößte Teil der Arbeiterklasse, bis dahin systematisch ausgeschlossen von weiterführenden Bildungseinrichtungen, nicht via Kopfsprung befähigt werden könnte, maßgeblich an der Gestaltung einer demokratischen Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens teilzunehmen. Deshalb hat Heller die politische Bildung immer als eine aktiv-kritische Auseinandersetzung mit Praxis und Theorie wie Ideologie aller politischen Strömungen verstanden, von den Monarchisten und Faschisten bis zu den Anarchisten. Nur durch ein Hindurcharbeiten (im buchstäblichen Sinne) durch die reale politische Landschaft kann Urteilsfähigkeit und Urteilskraft entstehen. Deshalb verwarf er mit aller Schärfe die auch damals schon vorherrschende parteipolitische Praxis, dass statt politischer 1

Vgl. zu Hellers Leben und Werk Stephan Albrecht, Hermann Hellers Staats- und Demokratieauffassung, Frankfurt a. M. 1983, passim u.m.w.N.

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Bildung parteiliche Indoktrination und Agitation gegenüber der Gefolgschaft geübt wurde. Ein solches Verhalten machte er insbesondere den Parteien der Arbeiterbewegung zum Vorwurf, die eben in besonderer Weise für eine politische Erziehung zur Demokratie Verantwortung trügen. Die nächste, zweite Phase bis etwa 1927 führte Heller in die akademischen Gefilde und, was für sein Leben insgesamt charakteristisch war, zugleich in intensive innersozialdemokratische Debatten um Demokratie, Staat und Nation. Die ökonomischen und politischen Geburtsanomalien der Weimarer Republik lasteten auch in diesen wenigen Jahren, die ex post bisweilen als gute Jahre, Jahre der Stabilisierung beschrieben werden, wie ein Bleimantel auf der schwachen Demokratie. Die für weite Teile der Bevölkerung verheerende Inflation, die wirtschaftlich deprimierenden Lasten aus dem Versailler Vertrag und das Fehlen eines breiteren grundsätzlichen Einverständnisses mit der Verfassung ließen der projektierten rechtsstaatlichen und parlamentarischen Demokratie lediglich eine verkümmerte und verzerrte Gestalt. Heller hat energisch in seinen wissenschaftlichen wie tagespolitischen Schriften und Debattenbeiträgen für die Weimarer Reichsverfassung gestritten und dafür argumentiert, diese als Plattform der politischen Auseinandersetzung zu akzeptieren und zu nutzen. Die mangelnde historische Erfahrung der Möglichkeit von Demokratie in Deutschland trug mit dazu bei, dass von monarchistischer, bolschewistischer und faschistischer Warte aus die geschriebene Verfassung eher als ein Fetzen Papier denn als normativer und institutioneller Gestaltungsraum von Politik betrachtet und behandelt wurde. Die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit dieser drei Strömungen und politischen Organisationen waren indessen je sehr unterschiedlich. Während die monarchischen Kreise die Demokratie als Bedrohung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Privilegien werteten und ihre vorhandenen, keineswegs geringen Machtmittel und -stellungen für eine reaktionäre Besitzstandswahrungspolitik nutzten, die Kommunisten mit andauernden Spaltungen und den Volten der sowjetischen Machtpolitik zu kämpfen hatten und diese Schwächen guten teils durch immer neue programmatische Verbalradikalismen zu überdecken suchten, hatten die deutschen Faschisten mit ihrer Blaupause „Mein Kampf“ seit 1923 zwar kein tagespolitisches, aber dafür ein strategisches Konzept, das Hitler und seine Kombattanten und Mitläufer konsequent verwirklicht haben. Tragischerweise kennzeichnend für die zeitgenössische politische Debatte war allerdings, dass die faschistische Blaupause weit weniger ernstgenommen wurde als das kommunistische Wortgeklingel. Dieser tödlichen Unterschätzung hat Heller unermüdlich entgegenzuwirken gesucht. Die letzten sechs Jahre seines Lebens, dies die dritte hier unterschiedene Phase, hat Heller der Auseinandersetzung mit und dem Kampf gegen die faschistische Inhumanität gewidmet. Was letztlich konkret zu der ausgedehnten Reise in das seit fünf Jahren faschistisch beherrschte Italien Anlass war, ist nicht exakt zu klären, vielleicht auch nicht besonders bedeutsam. Dass Heller in seinen ideengeschichtlichen, zeithistorischen und staatswissenschaftlichen Arbeiten sich

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immer wieder mit historischen, soziologischen und ideologischen Aspekten des faschistischen Phänomens befasst hatte, prädestinierte ihn jedenfalls zu einer systematischen Untersuchung des Faschismus; wobei die eigene Anschauung der Dialektik oder auch der Differenz von Propaganda und Machtpraxis für Heller in besonderer Weise reizvoll gewesen sein dürfte. Was an Hand der italienischen Geschichte für die europäische Demokratie erkenn- und lernbar war, fand einen Weg in die deutschen nicht-faschistischen politischen Organisationen indessen nahezu nicht. Insbesondere in zwei elementaren Aspekten, nämlich dem der wehrlosen Verfassung und dem der Marginalisierung des Parlamentes als Legislative ging die deutsche Geschichte einen Weg, der von Heller am italienischen Exempel als Voraussetzung der faschistischen Machtergreifung mit aller Deutlichkeit analysiert und dokumentiert worden war. Nicht einmal zwei Jahre nach dem Erscheinen von Hellers „Europa und der Fascismus“ war die NSDAP bei den Reichstagswahlen zur zweitstärksten Kraft aufgerückt und nun konnte, wenn auch mit Krisen und Umwegen, das zerstörerische Werk vollends in Szene gesetzt werden, dessen Grundsätze und Ziele seit 1923 unmissverständlich formuliert vorlagen. Heller hat in dieser Zeit der republikanischen Agonie auf mehreren Ebenen versucht, politisch-konzeptionell, -wissenschaftlich und -praktisch dazu beizutragen, dem Vordringen des faschistischen Unwesens Einhalt zu gebieten. Ob in der Ausarbeitung einer originären demokratischen Staatslehre, in der Kooperation mit dem Kreis um die „Neuen Blätter für den Sozialismus“ oder vor Gericht in dem Prozess um den offen verfassungswidrigen PapenPutsch gegen die preußische Regierung: Immer ging es um die Abwehr der Aushöhlung und Dysfunktionalisierung der Republik und Wege zu einer Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Und dies nicht trotz, sondern wegen der neuen Weltwirtschaftskrise. Dass Hermann Heller 1933, wenige Tage nach Hitlers Inthronisation, seiner Frankfurter Professur beraubt und auf die Proskriptionsliste gesetzt wurde, ist wenig verwunderlich. Dass dieser programmatische Willkürakt zur weiteren Verschlechterung seines Gesundheitszustandes beigetragen haben dürfte, ist zumindest naheliegend. So starb Hermann Heller Ende 1933 im spanischen Exil zu einer Zeit, als diejenigen antihumanitären gesellschaftlichen und politischen Kräfte ihre Siege bejubeln ließen, gegen die er so lange ideell und politisch gekämpft hatte.

II.

Rechtsstaat, Volksherrschaft und sozialistische Wirtschaftsordnung

„Nun gibt es heute wohl kaum einen Deutschen, der seinem Volke nicht dessen politische Unreife bestätigen würde. Politisch reif kann es aber nur werden durch eine möglichst unparteiische und leidenschaftslose, d. h. wissenschaftliche Betrachtung des Staates und seiner Einrichtungen. Um zu erkennen, was notwendig ist, muss man zuerst erkennen, was ist: nur auf diesem Wege werden

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wir uns von Bierbankruhe und Ideologie befreien.“2 Als Hermann Heller diese Sätze 1919 schrieb, war ihm, dem Theoretiker, durch eigene volksbildnerische Arbeit und Erfahrung zum Bewusstsein gekommen, dass „den durch die Revolution zur Staatslenkung neu berufenen Volksteilen“3 in einem umfassenden Sinne die Bildungsmöglichkeiten und Bildungsinhalte zur Verfügung gestellt werden müssten, um die Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten der demokratischen Teilhabe überhaupt und angemessen wahrnehmen zu können. Man kann die Beurteilung der politischen Grundkonstellation durch Heller in dieser Zeit knapp so zusammenfassen: Demokratie ist die angemessene Form eines Gemeinwesens; eine sozialistische Ordnung der Wirtschaft ist unabdingbar; rechtsstaatliche Strukturen sind die nicht verzichtbaren und notwendigen Barrieren gegen diktatorische Bestrebungen. Heller hat sich intensiv mit der deutschen philosophischen und staatstheoretischen Debatte, überhaupt mit rechtsphilosophischen Traditionen und Positionen beschäftigt; und er hat sich, angesichts seiner wissenschaftlichen Ambitionen nicht zufällig und auch nicht überraschend, in den staats- und verfassungsrechtlichen Disput eingemischt. Dabei vertrat er eine Position, die von den beiden einflussreichsten juristischen Auffassungen der Zeit sich fernhielt, vom Positivismus wie vom liberalen Naturrecht. Der Übergang vom im Krieg zerbrochenen Zweiten Reich zur Republik war allerdings in keinem der Lehrbücher der deutschen Staatswissenschaften vorgesehen; überhaupt waren Revolutionen, auch partikulare, eo ipso ein Problem. Denn sie sind ja gerade dadurch charakterisiert, dass durch sie neue grundlegende Quellen und Strukturen von Legitimitäten und Legalitäten geschaffen, zumeist erkämpft werden. Der deutschen Staatswissenschaft waren allerdings die Grundstrukturen einer parlamentarischen Republik bis zur Niederlage im Krieg weder wissenschaftliches Programm noch normativer Bezugspunkt.4 So ordneten sich die Gruppierungen nach 1918 weniger entlang tradierter rechtsphilosophischer Linien, sondern mehr an Hand gesellschaftspolitischer Grundannahmen, wie wir bei Heller auch sehen können. Und diese lagen überwiegend in dem Spektrum von Ablehnung der Republik bis zu den so genannten „Vernunftrepublikanern“. Eine offene und um politische wie theoretische Festigung bemühte Parteinahme für die junge Republik, wie Heller sie verfocht, war und blieb eine Minoritätenposition.5 „Das Zentralproblem, das die europäisch-amerikanische Menschheit seit dem 16. Jahrhundert bis heute beschäftigt, ist: die Erkennbarkeit und Verwirklichung eines gesellschaftsimmanenten ordre naturel.“ Die „allen allein zumutbare, weil unaufhebbare Herrschaft blieb rational nur die des ordre naturel, die 2 3 4 5

Hermann Heller, Arbeiter und wissenschaftliche Politik [1919], hier zitiert, wie im Folgenden, nach den Gesammelten Schriften (GS). Hg. von Martin Draht, Otto Stammer, Gerhart Niemeyer und Fritz Borinski, 3 Bände, Leiden 1971, hier Band 1, S. 581. Ebd. Vgl. hierzu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3: 1914–1945, München 1999, S. 74 ff. Ebd., S. 183 ff.

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Herrschaft der der Natur und der Gesellschaft immanenten Gesetze, der Zwang, der sich aus den Dingen, aus der Natur der Sache ergibt. Dieses Gesetz können alle befolgen, weil es alle befolgen müssen, wobei das ‚Müssen‘ bald mehr als naturgesetzliche Kausalnotwendigkeit, bald mehr als sozialgesetzlicher oder ethischer, jedenfalls unpersönlicher Zwang verstanden wird.“6 Aus diesem Grundgedanken der Kontrastierung von mittelalterlicher Transzendenzlehre zu neuzeitlicher Immanenzlehre entwickelt Heller in seiner Beschäftigung mit den Ideenkreisen der Gegenwart seine analytische Darstellung von demokratischem, liberalem, nationalem und sozialistischem Ideenkreis. Dass Heller eben diese vier Ideenkomplexe sich vornimmt, begründet er mit deren politischer Relevanz, wobei er sich allerdings über reale Machtkonstellationen keinerlei Illusionen hingibt. Gleichwohl charakterisiert er den monarchischen Ideenkreis als Reaktion auf die oben genannten drei anderen. Diese Sichtweise wird uns bei der Faschismusanalyse wieder begegnen. Den Kern des demokratischen Gedankens sieht Heller nicht darin, dass er „das zu allen Zeiten lebendige verhältnismäßige Gleichheitsprinzip verkündete“, sondern dass er „als ein säkularisiertes Christentum die traditionalen gesellschaftlichen Ungleichheiten materiell bekämpfte, also einen inhaltlichen Gleichheitsmaßstab bedeutete.“7 Und diesen Maßstab sieht Heller als grundsätzlich normativ dominant. „Die Demokratie als solche, die unser Denken beherrschende Vorstellung, dass alle politische und gesellschaftliche Macht nur gerechtfertigt werden kann durch den Willen der Machtunterworfenen, ist so wenig in ihrer Herrschaft erschüttert, dass unbedenklich behauptet werden kann, es gibt heute überhaupt keine andere Herrschaftslegitimation, als die demokratische.“8 Die Krisenphänomene der Demokratien im Jahr 1926 ordnet Heller „der parlamentarischen Technik der Demokratie“9 zu, nicht ihren Normen. Ein solches Urteil mag zunächst etwas verwundern, wird von Heller aber im weiteren Gang seiner Untersuchungen immer wieder mit Beispielen aus allen anderen Ideenkreisen unterlegt. Liberalismus ist in Hellers Sicht vornehmlich eine „Idee der Freiheit vom Staate, nicht so sehr [...] Idee der bürgerlichen Herrschaft über den Staat.“10 Bei allen historischen Verdiensten des Liberalismus in der Überwindung feudaler Willkür resümiert Heller schließlich doch, dass der „liberale Ideenkreis als solcher [...] politisch unzeitgemäß geworden“11 ist. Das ändert jedoch wenig an der grundlegenden Bedeutung seines Anliegens. „Der liberale Ideenkreis hat durch seinen Schutzanspruch des selbsttätigen Individuums eine große Zahl von staatlich-rechtlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen bewirkt, die zweifellos so 6 Hermann Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart [1926]. In: ders., GS, Band 1, S. 281. 7 Ebd., S. 325. 8 Ebd., S. 330. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 333. 11 Ebd., S. 349.

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fest in unserer Gesamtkultur wurzeln, dass sie nur mit ihr zugleich verschwinden können. Auch ein sozialistisches Gemeinwesen wird auf diesen Grundlagen bauen und Menschenrechte des Individuums anerkennen müssen.“12 Die Ideenentwicklung zum nationalen Ideenkreis hat für Heller zwei Ausgangspunkte: Die französische Revolution 178913 und Fichtes Nationalidee. „Auch J. G. Fichtes Deutschheit ist nie etwas anderes gewesen als die stolze Hoffnung, die deutsche Nation werde reiner als andere im Dienste höchster Menschheitsrechte stehen. Der ganzen naturrechtlichen Einstellung nach ist Fichte das Anthäische des Volkshaften immer fremd geblieben; sein geistiges Zentrum ist nie die nationale Besonderung, sondern die universale Vergemeinschaftung gewesen.“14 Diese in einem „europäischen Universalismus“ eingebettete Nationalidee ging insbesondere in der Reaktion nach 1848 und unter Bismarck in ein „unterirdisches Dasein“15 über. Hegel war derjenige, der die weltbürgerliche nationale Idee zurückstutzte auf das nationale Machtstaatspostulat: Der Staat ist Macht, sein Ziel ist die Selbsterhaltung. Damit war der, wie wir heute die entsprechende Schule der internationalen Beziehungen immer noch nennen, realistische ideologische Grund gelegt für die Bismarck’sche Einigung Deutschlands von oben. Heller diagnostiziert „eine tiefgehende Veränderung im Nationaldenken [...], die durch den Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts veranlasst war. Im Kampfe um die weltwirtschaftlichen Absatzmärkte und Anlagesphären für das nationale Kapital ist das Nationalstaatsideal ein Volk, ein Staat zurückgedrängt und ersetzt durch den Gedanken der Herrschaft über andere Völker und deren wirtschaftliche Ausbeutung. National heißt fast nur noch die militärisch-wirtschaftliche Machtgeltung nach außen; der nationale Idealismus der Vergangenheit ist nur noch die phraseologische Verbrämung dieses Weltmacht- und Weltmarktstrebens.“16 Heller zeigt neben dem kulturell orientierten und dem machtstaatsorientierten noch einen rassenorientierten Teil des nationalen Ideenkreises auf, der sich von Gobineau bis zu Richard Wagner erstreckt17 und der einer „anthropologischen Immanenzmetaphysik der Nation willkommene Handhaben“18 liefert. Indessen kommen auch sozialistische Staatsvorstellungen, und dies ist der vierte Ideenkreis, nicht ohne das nationalstaatliche Ordnungselement aus, wie Heller mit Engels und Otto Bauer illustriert. Die Zukunft wird aber nach Hellers Resümee die nationalen Gebietskörperschaften in einen größeren europäi12 Ebd., S. 348. 13 Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie wenig in Europa die menschenrechtliche und verfassungshistorische Bedeutung der Revolution in den nordamerikanischen Kolonien gegen die britische Herrschaft in den Jahren seit 1776 rezipiert worden ist. So auch hier bei Hermann Heller. Ob es ein 1789 ohne 1776 je gegeben hätte, kann durchaus infrage gestellt werden. 14 Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, S. 353. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 369. 17 Hitlers Antisemitismus erwähnt Heller in diesem Zusammenhang nicht. 18 Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, S. 372.

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schen Kontext stellen. Denn es „erscheint [...] nach dem Weltkrieg allgemein als höchst fragwürdig, ob bei der überaus engen gesellschaftlichen Verflechtung der europäischen Staaten der Nationalgedanke allein noch fähig ist, die Besonderung und den Kampf dieser Staaten zu legitimieren, ob nicht vielmehr die Nationalidee ergänzt werden muss durch ein umfassenderes Substrat Europa, in dessen Namen allein noch die gegenwärtige Staatskrise überwunden werden könnte.“19 Dass Hellers Engagement und innere Zuneigung dem sozialistischen Ideenkreis gilt, geht nicht nur aus dem Maß hervor, in dem er sich mit sozialistischen Ideen und sozialistischer Praxis befasst, sondern auch aus der analytischen und bisweilen polemischen Schärfe, mit der er arbeitet. Ein bedeutsamer Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Marx’sche Hypothese, von Engels ausgeführt, allerdings schon von Fichte vorgedacht, dass der Staat für die gerecht geordnete Zukunft eine entbehrliche Institution, ein Residuum klassengespaltener gesellschaftlicher Machtstrukturen wäre. Die Auflösung von Herrschaftsstrukturen in die „Verwaltung von Sachen“, eine Hoffnung, die Engels ausgedrückt hat, ist für Heller eine wirklichkeitsabgewandte rationalistische Konstruktion. Deshalb „ergibt sich, dass der Marxismus eine selbständige politische Idee nicht kennt.“20 Heller sieht in den Marx’schen Vorstellungen vom Absterben des Staates einen Anarchismus, der in der „Tradition des sich selbst vollziehenden ordre naturel“ steht. Allerdings unterscheidet sich die „marxistische Eschatologie der Herrschaftslosigkeit [...] von allen liberalen Anarchismen dadurch, dass sie nicht gesellschaftliche Bindungslosigkeit des Individuums bedeutet, sondern im Gegenteil radikalste Gebundenheit des einzelnen durch die bewusst gewordenen, entpersönlichten Zwangsgesetze der Gesellschaft“.21 In der Staatslosigkeit von Marx und Engels liegt für Heller der Grund, warum Menschen und Organisationen aus dem sozialistischen Ideenkreis, die mit praktischen staatpolitischen Fragen konfrontiert waren, unweigerlich den Boden des Marxismus verlassen haben – und verlassen mussten. Die Sozialdemokraten einerseits und die Kommunisten andererseits haben mit Lassalle und Lenin zwei Grundüberzeugungen zum Verhältnis Arbeiterbewegung und Staat verfolgt, die beide weit von Marx und Engels entfernt liegen. Während Lassalle und später in seiner Nachfolge viele sozialdemokratische Politiker in Europa ein stetiges Hineinwachsen der Arbeiterbewegung und ihrer Angehörigen in einen sich selbst zivilisierenden Staat als Aufgabe wie Ziel ansahen und praktisch zu verfolgen suchten, gingen Trotzki und Lenin einen prinzipiell anderen gedanklichen und politischen Weg. 19 Ebd. S. 374 (Hervorhebung im Original). 20 Ebd., S. 382. Vgl. hierzu Stephan Albrecht, Zwischen Bewunderung und schroffer Ablehnung. Hermann Hellers Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus. In: Christoph Müller/Ilse Staff (Hg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891–1933, Baden-Baden 1984, S. 503–520. 21 Ebd., S. 387 f. Das große politische Vorbild von Marx und Engels, nämlich die Pariser Kommune, ordnet Heller ein als ein System des kommunalen Föderalismus, der gerade die nationale, staatliche Frage nicht zu beantworten in der Lage ist.

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„Der Kommunismus, welcher der ursprünglichen Staatsauffassung des Marxismus relativ noch am nächsten steht, ist sich seiner Abweichung von ihr nicht nur bewusst, sondern hat auch den Mut, sie durch seine Umbenennung in Leninismus öffentlich zu dokumentieren. Sein bedeutungsschwerer, von dem Syndikalisten Sorel offenbar beeinflusster Gegensatz zum Marxismus liegt in Lenins Lehre vom ‚Vortrupp des Proletariats‘. Die gewaltsame Herrschaft dieses Vortrupps in einem agrarischen Land war ein Protest des irrationalen Gewaltglaubens gegen den rationalistischen Gesetzesglauben von Marx.“22 In beiden Abweichungen ist der sozialistische Ideenkreis allerdings wirklichkeitsmächtig, in der Sowjetunion haben die „Bajonette [...] dem Staat eine gewaltige Dignität gegenüber der Wirtschaft verschafft.“23 Auch in industrialisierten westeuropäischen Ländern sind die „Tendenzen des sozialistischen Ideenkreises in gewissem Umfange bereits Wirklichkeit geworden [...] Wir leben selbstverständlich noch in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, in der sich aber in erstaunlich raschem Tempo sozialistische Einrichtungen entwickeln. Eine genaue Grenze, wo der kapitalistische Staat aufhört und der sozialistische beginnt, lässt sich selbstverständlich nicht ziehen. Diese Grenze wird aber sicher so lange nicht überschritten werden, solange nicht die Grenzen der europäischen Nationalstaaten überschritten sind und eine feste internationale politische Organisation erreicht ist.“24

III.

Europa im Angesicht des Faschismus

Die Inaugenscheinnahme und Analyse des europäischen Faschismus an Hand der Zustände in Italien im Jahre 1928 führte Heller zu einer auch heute noch bemerkenswert scharfsichtigen Aufdeckung des gewalttätigen und inhumanen Kerns des Faschismus in Ideologie und Praxis. Heller schlägt zunächst einen politisch-geistesgeschichtlichen Bogen zur Darlegung und Erklärung dessen, was er „die politische Krise Europas“ nennt.25 Diese resultiert aus dem zunächst ökonomischen Zerfall, durch den 1. Weltkrieg definitiv auch politischen Ende der alten ständischen Gesellschaftsordnung. Die durch den Kapitalismus samt Imperialismus seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bewirkte soziale Neuordnung, die Hervorbringung immer größerer Massen von Proletariern in immer größeren Ballungsräumen einerseits und die Bildung immer stärkerer internationaler Konzerne mit ihren weltweiten Aktivitäten haben nicht nur die Vorherrschaft des Adels gegenüber der Bourgeoisie tatsächlich zum Ende gebracht, sondern zugleich unausweichlich die Notwendigkeit der Gestaltung der Massen22 23 24 25

Ebd., S. 388 f. Ebd., S. 389. Ebd., S. 407. Hermann Heller, Europa und der Fascismus [1929]. In: ders., GS, Band 2, S. 467 ff. Heller schreibt gemäß dem italienischen Gebrauch Fascismus und fascistisch ohne das im Deutschen übliche „h“.

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demokratie auf die politische Tagesordnung gesetzt. In der Ungelöstheit dieser elementaren Frage sieht Heller den Kern der politischen Krise Europas. Die Gestaltung einer Demokratie war nach dem aufklärerischen Rationalismus zunächst eine menschenrechtliche und humanitär-gleichheitlich orientierte Überwindung ungerechtfertigter sozialer Exklusionen und individueller Entfaltungsbehinderungen. Die soziale Umschichtung des industriellen Kapitalismus indessen produzierte keine neue soziale Homogenität, sondern eher eine größere Fraktionierung, auch innerhalb der arbeitenden Klassen. Für die früher bevorzugten Schichten erschien das massenhafte Dasein der proletarischen Gesellschaftsschichten als bedrohlich, die Vorstellung, dass jeder plötzlich mitbestimmen können soll, als abschreckend. Das demokratische Prinzip der Gleichheit aller Bürger von 1776/178926 war vielen, die sich als Teil einer Elite verstanden, ein Weg zu absehbarer Bedeutungslosigkeit und Mittelmaß, wenn nicht zum Untergang. Vor diesem Hintergrund erschienen ideengeschichtliche Strömungen, die Heller als „politische Pseudorenaissancen“27 charakterisiert. Die Vorstellung eines „korporativen“ Staates als Alternative zur Massendemokratie? „Der organisierte Hochkapitalismus der Gegenwart hat [...] die ökonomisch-politischen Atome in gewaltigen Gesamtheiten organisiert, die vornehmlich als Gewerkschaften und Unternehmerverbände vielen als die ersehnten organischen Träger auch des politischen Lebens erscheinen. Den in der Praxis des alltäglichen Lebens erprobten ‚Ständevertretern‘ billigt man den Sachverstand, die Lebensnähe, die Vertrautheit mit den die Menschen in Wahrheit bewegenden Lebensinteressen zu, welche man an den politischen Parteivertretern vermisst.“ Solche und ähnliche Ideen propagieren aber heute nicht nur feudale und Unternehmerkreise, nicht nur die Action française und die englischen und deutschen Konservativen, sondern auch die revolutionären Syndikalisten Frankreichs, der Kreis um die Berliner „Sozialistischen Monatshefte“, die deutschen Nationalsozialisten, die englischen Gildensozialisten und die Katholiken aller Länder.“28 Dem tiefen Misstrauen, aus den mechanistischen Prozeduren der repräsentativen Demokratie könnten lebensverbundene und berufene Leitfiguren entspringen, korrespondiert eine Ablehnung gesetzesfixierter, rationalistischer Erklärungen von Natur, Gesellschaft und Geschichte. „Auf allen Gebieten bringt die Forschung das Individuelle und nicht Rationalisierbare zu logischer und praktischer Anerkennung. Die Entdeckungen von Lorenz29 und Einstein haben 26 Die Wurzeln dieser Idee reichen sehr viel weiter zurück. Heller verweist, wie andere Historiker auch, an verschiedenen Stellen auf das Christentum als ideengeschichtliche Quelle eines materialen Gleichheits- und Gerechtigkeitsdenkens. 27 Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, S. 481. 28 Ebd., S. 481 f. 29 Heller meint hier vermutlich den Ethnologen Konrad Lorenz (geb. 1903, gest. 1989), der dem Zusammenspiel von angeborenen und angelernten Verhaltensweisen nachgeforscht hat. Welche Arbeiten Lorenz’ Heller gekannt hat, ist nicht bekannt.

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grundlegende Gesetze der Mechanik zerstört; in der Physik hat die Quantenlehre, in der Biologie die Mutationslehre dem Dogma von der gesetzmäßigen Stetigkeit der Natur ein Ende gemacht. In der Atomtheorie müssen heute auch die Atome als nicht restlos quantifizierbare Individualitäten hingenommen werden. Schließlich stellt Nernst30 fest, dass die Naturwissenschaften bisher kein einziges streng allgemeingültiges Naturgesetz gefunden hätten.“31 Das Unbehagen an einer egalitaristischen Demokratie und das Erodieren eines monistisch-naturgesetzlichen Weltbildes sind nun allerdings keineswegs Aspekte, die primär bei den radikalen politischen Kreisen vorkommen. „Ein verhängnisvoller Irrtum wäre die Meinung, die extreme Rechte und Linke stimmten ausschließlich überein in einer formalen Gewaltideologie, die sich daraus ergibt, dass beide politische Situationen vorfinden, die sie auf gesetzlichem Wege nicht ändern können. Es ist vielmehr so, dass die gesamte geistig lebendige Nachkriegsgeneration nicht mehr daran glauben will, dass das politische Geschehen durch Vernunft restlos erklärbare und durch Vernunft zu verwirklichende Gesetze beherrschen. Sie findet die Vernunft weder politisch wirksam, noch ästhetisch schön, noch auch [...] sittlich gut. Sie appelliert an die irrationale Gewalt, die alle rationalen Gesetze urwüchsig durchbrechend, von uns den schönen und guten Heroismus der Tat fordert.“32 Die alternativen Ordnungsprinzipien Parlieren oder Diktieren sind ideengeschichtlich zwar nicht einfach in das Gegensatzpaar Aufklärung versus Lebensphilosophie zu transponieren, aber die europäisch-nordatlantische Welt der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, über die Heller schreibt, hat von der Aufklärung ökonomisch einen krisenhaften Konzernkapitalismus, politisch von Krise zu Krise schlitternde parlamentarische Systeme, die, wie im Falle Italien, sich selbst tatkräftig beiseite schaffen. Dies sind die offenen Wunden, in die das scheinbare Heilmittel einer auf die Lebensphilosophie aufsetzenden Politik geträufelt wird. „Überblicken wir die Ergebnisse dieser Lebensphilosophie, so müssen wir ihr zunächst das gewaltige Verdienst zusprechen, im Zeitalter einer ertötenden Rationalistik und Mechanistik das lebendige Leben neu gewertet zu haben. Unzweifelhaft hat sie damit dem philosophischen Denken selbst, das bis dahin nur noch eine, von beamteten Universitätsphilosophen mehr schlecht als recht verwaltete Angelegenheit war, zu neuem Ansehen verholfen. Jahrzehntelang hatte die klassische deutsche Philosophie nur noch im historischen Materialismus von Marx und Engels gestaltende Bedeutung gehabt. Wir verdanken es der Lebensphilosophie, dass wir die individuelle Gestaltfülle alles Wirklichen wieder sehen, 30 Vermutlich ist Walther Hermann Nernst (geb. 1864, gest. 1941) gemeint, ein Physiker und Physikochemiker. Heller verweist auf eine Rektoratsrede (GS, Band 2, S. 484: aus dem Jahr 1921) „Zum Gültigkeitsbereich der Naturgesetze“. In den GS wird der erste Vorname Nernsts ohne „h“ zitiert. In der 2. Auflage der „ politischen Ideenkreise der Gegenwart“ (1931) steht das Zitat mit der Klammernotiz: „(Berliner Rektoratsrede 1922)“. 31 Ebd., S. 484. 32 Ebd., S. 484 f.

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dass wir uns gelöst fühlen von abstrakter Ver-Wertung und Vergesetzlichung des Lebens durch einen gestaltlosen Rationalismus. Darüber hinaus aber, über die Betonung der Lebendigkeit alles Lebens, ist die Lebensphilosophie grundsätzlich nicht gelangt. Leben und richtiges Leben bleibt aber für uns Menschen, ganz besonders aber für uns durch das Christentum hindurchgegangene Europäer, der Unterschied, auf den so gut wie alles ankommt.“33 Wie in der geisteshistorischen Fundierung macht Heller in Bezug auf die politischen Gehalte, die Legitimationsgrundlagen des Faschismus, ein in sich widersprüchliches und letztlich zufälliges, den jeweiligen Machtbestrebungen subordiniertes Gemenge aus. Den Ausgangspunkt bildet dabei zunächst ein Idealismus, „der von der grundsätzlichen Ideenverachtung und Gewaltreligion eines Pareto und Sorel abstammt.“34 Mussolinis Weg von einem hyper-syndikalistischen Sozialisten zu dem Faschisten, der den (natürlich von ihm selbst beherrschten) Staat in einer Apotheose zu verklären sucht, ist vor allem mit den Erfordernissen der Machteroberung zu erklären. Das Gründungsprogramm der Fasci di Combattimento von 1919 war mit seinen Forderungen z. B. nach Abschaffung der Monarchie, der Bürokratie, des Adels, der Geheimdiplomatie, der Wehrpflicht, der politischen Polizei, von Banken, Börsen und Aktiengesellschaften sowie der Forderung nach Autonomie der Provinzen und Kommunen, einer Landverteilung an die Arbeiter, Übertragung der Großbetriebe an die Organisationen der Arbeiterschaft noch ganz anti-staatlich, sozialistisch und syndikalistisch orientiert. Schon wenige Jahre später und mit Mussolini an der Macht ist von alledem nichts übrig. „Soweit heute ein fascistisches Programm existiert, lässt es sich am kürzesten und genauesten als das gerade Gegenteil des Programms von 1919 kennzeichnen; nämlich als das nicht eben neue und nicht eben spezifisch fascistische, bereits von der französischen Konterrevolution und der deutschen Romantik entwickelte Programm des dem Kapitalismus angepassten Nationalismus, in das vom Sorelismus so viel Eingang gefunden hat, als sich mit dem extremsten Etatismus verträgt.“35 Eine ethische Fundierung des faschistischen Staates findet sich nur in der Gewaltethik; aus der Legitimierung von Gewalt zur innerstaatlichen Machtgewinnung resultiert, sobald die Staatsmacht faschistisch geworden ist, die Legitimierung von Gewalt nach außen in den internationalen Beziehungen. Hier erscheint der faschistische Staat auch ohne originäres Fundament, denn die nationalistische Legitimierung ist ein ideologisches Kind des 19. Jahrhunderts. „Die nationalistische Ethik war die Gewaltmoral im Zeitalter des Hochkapitalismus, die brutale, raffgierige Ethik einer so genannten Realpolitik.“36 Der Überhöhung der Nation im Zusammenleben der Völker korrespondiert die Beseitigung der Volkssouveränität zugunsten einer Staats33 34 35 36

Ebd., S. 491. Ebd., S. 500. Ebd., S. 504. Ebd., S. 514.

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souveränität gegenüber dem Volk. Die individuellen Interessen werden nur noch insoweit als legitim behauptet, wie sie dem Staatsinteresse konform gehen; letzteres wird natürlich vom duce inkorporiert und definiert. Eine ähnliche Kehrtwende wie im ideologischen Verhältnis zum Staat hat der italienische Faschismus auch im Verhältnis zur katholischen Kirche unternommen. Antiklerikaler Wortradikalismus der Frühzeit mutierte zu dem ideell unlösbar kontradiktatorischen Unterfangen, Katholizismus und Faschismus zu amalgamieren, den Papst und den duce koexistieren zu lassen. „Alles, was der Fascismus der Kirche bietet, nimmt sie an, hat sie genommen, und wird sie auch in Zukunft annehmen – und sein Ende abwarten. Dass der naiv drollige Machiavellismus der Fascisten sie düpieren könnte, hat sie gewiss nicht zu fürchten.“37 Die tatsächliche Politik des italienischen Faschismus orientierte sich eben primär an Machtgewinnung und -erhalt, nicht an ideellen Gehalten. „Einem nomokratischen Denken gegenüber, das zeitlich, örtlich und persönlich keinerlei Individualität kennt, ist die fascistische Negation stark. Weil sie aber der inhaltsund willenlosen Norm grundsätzlich nichts anderes entgegenzustellen vermag als den normlosen Willen, kann sie über die Negation eigenständig nicht hinauskommen und nie zu jener positiven Normativität gelangen, ohne welche Staat und Recht nicht existieren können.“38 Im Sinne eines demokratischen und rechtsstaatlichen Gefüges haben der italienische Faschismus und nach ihm seine deutsche Radikalisierung allerdings Staat und Recht um die Existenz gebracht. Die zielstrebige Vernichtung aller Elemente einer rechtsstaatlichen Demokratie und die Etablierung einer Diktatur, in der der duce alle Gewalten in seiner Person konzentriert, war zwar weder widerspruchs- noch widerstandslos, aber im Ergebnis, wie Heller ausführlich belegt, durchschlagend erfolgreich. Angefangen mit der Ausschaltung des Parlamentes als Legislative, die einen solchen Namen verdient, fortgeführt mit der Unterwerfung jeglicher exekutiver Ämter unter die Prärogative des Diktators, erweitert um die Abschaffung der Unabhängigkeit der Gerichte und der Einführung von Sondergerichten zur Aburteilung politischer Kontrahenten, vertieft durch die Beseitigung jeglicher kommunaler Selbständigkeit und Selbstverwaltung hat die Diktatur ihrem Wesen gemäß eine groteske Reprise des Absolutismus, nunmehr mit dem Adel der faschistischen Gewaltgruppen, hervorgebracht. Nicht nur alle institutionellen Vorkehrungen einer Demokratie, sondern ebenso die materiellen Grund- und Freiheitsrechte werden zu Staub zermahlen. Der faschistische Terror gegen Andersdenkende ist umfassend: willkürliche Verhaftungen, Morde, Justizmorde in Form von Todesurteilen, Verlust der Staatsbürgerschaft, Raub von Vermögen, Plünderungen, Beseitigung von Presse- und Versammlungsfreiheit, desgleichen „Säuberungen“ der Universitäten von unliebsamen Wissenschaftlern. „Alle Rechtsgarantien, welche die letzten Jahrhun37 Ebd., S. 521. In diesem Punkt hat Hitler ungut von Mussolini gelernt. Allerdings war Deutschland auch kein katholisches Land. 38 Ebd., S. 522.

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derte politischer Geschichte Europas in Gestalt der Gewaltenteilung und der Freiheitsrechte entwickelt haben, gelten in der fascistischen Staatsauffassung als überwunden.“39 Nun gibt die Zerstörung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen der faschistischen Diktatur weder eine legitime Herrschaftsgrundlage noch auch wirksame Herrschaftsmittel an die Hand. Auf erstere kann eine Diktatur verzichten, auf letztere nicht. Im Falle des italienischen Faschismus untersucht Heller drei wesentlich bedeutsame Herrschaftsstrukturen, nämlich die Partei, die Korporationen und die Staatsverwaltungen. Die faschistische Ideologie behauptet neben der exponierten Stellung und Rolle des duce, dass die Partei, die Korporationen und die staatlichen Verwaltungen zur Stärke des faschistischen Staates beitrügen. Die faschistische Partei als einzig zugelassene Partei ist in sich ein gewaltsames Konstrukt; auch nachdem die früheren Konkurrenten mit „Grausamkeit und Unritterlichkeit“40 beseitigt sind, muss die vorgebliche Einheit, die gegen jede Lebenswirklichkeit behauptet wird, immer erneut mit mehr oder minder großem Zwang hergestellt werden. Zu diesem Behufe wird die Partei dem diktatorischen Kommando des duce unterworfen. Zugleich wird sie quasi verstaatlicht. „Ein Staatsinstrument ist die faschistische Partei vor allem deshalb, weil sie das Werkzeug des Diktators zur Herstellung der von ihm gewollten Willenseinheit ist. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss die Diktatur zugleich diktierte Partei sein. In fascistischer Verhüllung stellt sich das folgendermaßen dar: es sind nun nicht mehr die Parteien, welche ‚von außen‘ dem Staate die Regierung geben, sondern es ist ‚der Staat selbst‘, der aus seinem innersten Gewissen und entsprechend seinen grundlegenden politisch-sozialen Einrichtungen auch seine Regierung schafft, worauf dann sogleich der Organismusbegriff herhalten muss, damit der mythische ‚Staat selbst‘ nicht als das erscheine, was er in Wirklichkeit ist, – als der Diktator.“41 Auch in Kontext des italienischen Faschismus wurde der korporative Staat, wie wir schon sehen konnten, als zukunftsorientierte Alternative nicht nur zum Parteien-, sondern auch zum Klassenstaat reklamiert. Heller tritt diesem Aspekt zunächst sehr offen gegenüber. „In der Tat, – das Klassenproblem ist der springende Punkt. Hier muss die Frage nach der konkreten politischen Autorität, Hierarchie, Elite usw. ihre konkrete Antwort bekommen. Ist der korporative Staat die neue politische Gestalt, welche die Krise des Klassenstaates befriedigend löst, dann hat auch die Diktatur als Mittel zu diesem Zweck ihre sinnvolle Rechtfertigung. Sonst nicht!“42 Hellers Untersuchung der Situation der Arbeiterklasse, der gewaltsamen Zerschlagung der freien Gewerkschaften und ihrer Ersetzung durch faschistische Zwangsverbände, der ungebrochenen sozialökonomischen Dominanz der Unternehmensverbände und der marginalen gestal39 40 41 42

Ebd., S. 554. Ebd., S. 556. Ebd., S. 561 f. Ebd., S. 563.

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tenden Rolle der Korporation in dem als korporativ behaupteten Staatsaufbau lassen ihn zu der Schlussfolgerung gelangen: „Gewiss sind die italienischen Syndikate nicht nur sinnlose Dekorationen zur Ornamentierung des fascistischen Staates; sie haben sogar eine hervorragende, in keiner modernen Diktatur entbehrliche Bedeutung. Denn erst dadurch, dass der Fascismus neben der militärischen Macht der Miliz und der politischen Herrschaftsorganisation der Partei auch noch über die ökonomischen Interessenverbände der Massen verfügt, gelingt es ihm, sich an der Macht zu halten und vor allem die städtischen proletarischen Massen zu beherrschen. Alles in allem kann der Fascismus durchaus nicht als eine neue Staatsform gelten, sondern als die der kapitalistischen Gesellschaft entsprechende Form der Diktatur.“43 Schließlich prüft Heller auch das vom Faschismus propagierte Selbstbild, er habe aus dem nahezu dem Bolschewismus verfallenen italienischen Patienten einen starken Staat geformt. An Hand der wirtschaftlichen Entwicklung, der Staatsfinanzen, des behaupteten Abbaus von Bürokratie sowie der außenpolitischen Stellung des Landes, insbesondere komparativ zu Frankreich, stellt er fest, dass viele der faschistischen Regierungskunst unterstellten günstigen Entwicklungen, wie z. B. ein zeitweiliger Budgetüberschuss, entweder von den vorfaschistischen Regierungen grundgelegt waren oder durch kameralistisches Frisieren zustande gekommen sind. Für Heller kann ein Staat, dem die Zustimmung der Regierten fehlt, kein starker Staat sein. Der faschistischen wie jeder Diktatur inhärent ist zudem ein gigantisches Ausmaß von Korruption auf allen staatlichen Ebenen, ebenfalls ein wichtiges Indiz für einen schwachen Staat. „Dass der Fascismus trotz allem die Geschichte des italienischen Staates befruchten kann, dass sein Zentralismus vielleicht national vereinheitlichend wirken wird, dass Mussolini die Italiener, vor allem aber die Kommunisten unter ihnen, vielleicht politische Organisation lehrt und das italienische Selbstbewusstsein in der Innen- und Außenpolitik steigert, ist möglich. Was die List der Vernunft mit dem Fascismus vorhat, ist ihr Geheimnis, das wir ihr weder ablisten können noch wollen.“44 In den knappen Schlussfolgerungen, die Heller am Ende von „Europa und der Fascismus“ zieht, scheinen zwei Punkte ganz besonders hervor. Der erste ist die Feststellung, dass der Faschismus zwar einen brutalen Diktatwillen, aber keine normative Grundlage für das Diktieren besitzt. Der zweite ist die Erkenntnis, dass das zentrale Problem aller politischen Gestaltung der soziale Klassengegensatz ist, der mittels einer Diktatur nicht gelöst werden kann. „Als abschreckendes Beispiel aber hat die fascistische Diktatur für die europäischen Demokratien die allergrößte Bedeutung. Angesichts der Geschichte der italienischen Nachkriegszeit müssen sie bei Strafe ihres unweigerlichen Untergangs zu der Einsicht kommen, dass bei dem gegebenen Gleichgewicht der antagonistischen Klassengegensätze nur dann eine Regierung die Demokratie und sich zu 43 Ebd., S. 585. 44 Ebd., S. 602 f.

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halten und durchzusetzen vermag, wenn sie gegenüber Parteien, Parlament und Interessengruppen verselbständigt wird.“45 Schließlich verweist Heller auf die Vorbildfunktion des italienischen Faschismus für die deutschen Nationalsozialisten. „Auch der deutsche Nationalsozialismus, in seiner Programmatik ein zusammenhangloses Gemisch von Houston Stewart Chamberlain, Silvio Gsell, Moeller van den Bruck, Damaschke, Rathenau und Mussolini, wird realsoziologisch von den gleichen ideologischen und kleinbürgerlich-kapitalistischen Kräften getragen wie der italienische Fascismus der ersten Stunde. Unwidersprochen erklärte die deutsche Bewegung durch den Mund ihres Führers Hitler im Juli 1930: ‚Wir haben [...] ja ein Vorbild, das wir ohne Weiteres annehmen können, den Faschismus.‘ Seinem Namen nach behauptet auch der Nationalsozialismus, eine Synthese von Nationalismus und Sozialismus zu sein. Je näher aber die Möglichkeit der Macht rückt, desto stärker wandelt er sich in der gleichen kapitalistischen Richtung wie der Fascismus [...]. Auch diese angebliche Synthese bleibt also in der Antithese Kapitalismus gegen Sozialismus stecken und unterscheidet sich vom italienischen Fascismus, der einen Antisemitismus nicht kennt, nur dadurch, dass im ‚Nationalsozialismus‘ der internationale Klassenkampf durch einen mindestens ebenso internationalen Rassenkampf ersetzt werden soll.“46

IV.

Autoritäre Demokratie

Eine auf den sozialen Gegensätzen aufsetzende politische Kooperationsunfähigkeit und die Verweigerung der Anerkennung von Entscheidungen des parlamentarischen Willensbildungsprozesses hatte nicht nur die italienische, sondern ebenso die deutsche Demokratie von innen ausgehöhlt und im einen Falle eine faschistische Diktatur, im anderen in eine subparlamentarische Präsidialautokratie umgewandelt: So war die Situation zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Nicht, dass die Krise der Demokratie auf diese beiden Länder beschränkt gewesen wäre. Aber in Staaten wie Frankreich oder dem britischen Königreich gab es tieferreichende und widerstandsfähigere Kräfte eines demokratischen Beharrens als in den zwei „späten“ Nationen Deutschland und Italien. Die Krisensymptome und -ursachen klarsichtig und zutreffend zu beschreiben indessen und zielführende wie gangbare Wege zu ihrer Überwindung resp. Lösung aufzuweisen sind zwei recht verschiedene Aufgaben und politikwissenschaftliche Probleme. Diesem letzteren Problem hat Heller in seinen letzten Jahren in Deutschland eine ganze Reihe von Arbeiten und Konzepten gewidmet, denen die tiefe Ahnung und Befürchtung zu entnehmen ist, dass die faschistische Diktatur in der einen oder anderen Variante in Europa den Sieg über den Rechtsstaat davon45 Ebd., S. 609. 46 Ebd., S. 605 f.

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tragen könnte. Als grundlegenden Ausgangspunkt definiert Heller immer erneut, dass der Rechtsstaat mit seinen Kernelementen Volkssouveränität, demokratische Legitimierung des Gesetzgebers, Grund- und Freiheitsrechte, Gesetzesunterworfenheit der Exekutive und Judikative als eine historische Errungenschaft der europäischen Aufklärung nicht zur Disposition steht. Und dass die modischen Diktaturen und Autokratien samt und sonders nicht etwa eine zeitgemäße Weiterentwicklung, sondern eine reaktionäre Vernichtung des Rechtsstaates bedeuten. „Indem das Bürgertum [...] Rechtsstaat, Demokratie und Parlamentarismus konventionelle Lügen nennt, straft es sich selbst Lügen. Durch seinen neofeudalen Gesetzeshass gerät es nicht nur in einen Selbstwiderspruch mit seinem eigensten geistigen Sein, sondern verneint auch die Existenzbedingungen seines gesellschaftlichen Lebens. Ohne die Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit der Meinungsäußerung, der Freiheit des Religionsbekenntnisses, der Wissenschaft, Kunst und Presse, ohne die rechtsstaatlichen Sicherungen gegen willkürliche Verhaftungen und gegen willkürliche Verurteilungen durch diktatorisch abhängige Richter, ohne das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung kann das Bürgertum weder geistig noch ökonomisch leben. Ein Bürgertum, das durch die Renaissance hindurchgegangen ist, kann nicht, ohne Selbstmord zu begehen, sich vom Diktator sein Fühlen, Denken und Wollen vorschreiben und sich etwa die Lektüre von Dostojewski und Tolstoi verbieten lassen [...]. Soll die heutige, vornehmlich vom Bürgertum geschaffene Kultur und Zivilisation erhalten, geschweige denn erneuert werden, so muss unter allen Umständen der erreichte Grad der Berechenbarkeit der gesellschaftlichen Beziehungen nicht nur bewahrt, sondern sogar noch erhöht werden.“47 In einer grundsatzprogrammatischen Äußerung in den Neuen Blättern für den Sozialismus Ende 1931 hat Heller „drei undiskutierbare Richtpunkte“ einer Verfassungsveränderung bestimmt: „die autoritäre Überordnung des Staates über die Gesellschaft, namentlich über die Wirtschaft, [...] die demokratische Quelle der politischen Autorität und [...] die bestimmten Grenzen der Autorität des Staates.“48 Die in Deutschland eingetretene Situation, dass seit 1930 eine nach der anderen Reichsregierung ohne parlamentarische Mehrheit, nur mit der Rückendeckung des Reichspräsidenten und – allerdings – wichtiger Wirtschaftskreise mit dem Mittel inflationierender Notverordnungen von Krise zu Krise amtierte, ließ nun den wohl entscheidenden Richtpunkt des Heller’schen Programms gerade nicht zu, nämlich, „auch die Arbeits- und Güterordnung der materiellen Rechtsstaatsorganisation zu unterwerfen, den liberalen in einen sozia47 Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? [1929]. In: ders., GS, Band 2, S. 460. Was die Parallelisierung von Faschismus in Europa und Bolschewismus in der Sowjetunion angeht, so stellt sich für Heller die Situation so dar: „[Die] bolschewistische Diktatur, im Ganzen doch nur eine Reprise der Regierungsform Peters des Großen, hat die Alternative Rechtsstaat oder Diktatur nie gekannt und kann aus unserer Betrachtung ausgeschlossen bleiben.“ Ebd., S. 445. 48 Hermann Heller, Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform [1931]. In: ders., GS, Band 2, S. 413 (Hervorhebung im Original).

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listischen Rechtsstaat umzubauen“.49 So überzeugend, nachgerade zwingend angesichts der sozial blindwütigen Raserei der Weltwirtschaftskrise dieser Gedanke auch war, so wenig gab es tatsächlich politische Repräsentanten und Organisationen, die den Willen zur Herstellung einer solchen veränderten Handlungsgrundlage einer demokratisch legitimierten Regierung gehabt hätten. Die SPD war schon 1918/19 vor einer Umsetzung ihrer eigenen langjährigen Programmatik zurückgeschreckt, die KPD war vor allem mit dem Kampf gegen die SPD und immer neue Dissidenten in den eigenen Reihen beschäftigt; die bürgerlichen Parteien wiederum wollten von Maßnahmen wie „Außenhandelsmonopol, Sozialisierung der großen Unternehmungen in Landwirtschaft, Bergbau, Industrie und Bankwesen“50 nichts wissen. Ein gravierendes praktisches Problem der deutschen Republik war die Stellung der Regierung, die zwar leicht zu stürzen, hingegen sehr viel schwieriger zu bilden war. In Bezug auf diese Schwachstelle schwebte Heller nicht allein eine Erschwerung von Misstrauensvoten, sondern weitergehend die Möglichkeit der Regierung zur Initiierung von Volksentscheiden gegen Entscheidungen des Parlamentes sowie eine zweite Kammer vor, die nicht parteipolitisch zusammengesetzt sein sollte. Vorstellungen, die aus heutiger Sicht regelrecht modern anmuten. Noch in einem anderen Gebiet skizzierte Heller eine selbstbewusste und starke Demokratie gegen die „zuchtlosen Exzesse der Freiheit [...], welche die demoliberale Theorie und Praxis der Nachkriegszeit ermöglicht und sogar verteidigt hat.“51 Die „Hemmungslosigkeiten, wie die Schimpffreiheit der Presse, die Schmutzfreiheit des Kinos, die Schundfreiheit des Verlagsgeschäfts und ähnliche Freiheiten wollen wir rechtssatzmäßig unterdrückt sehen.“52 Derartige Überlegungen sind natürlicherweise in ihrer Realisierung hoch komplex. Bis heute laborieren alle Demokratien mit diesen Problemen, haben unterschiedliche Rechtssätze und -praxen entwickelt, sind aber durchweg der Probleme des Austarierens von Freiheiten und deren Grenzen durch die Verletzung der Freiheit der Anderen keineswegs ledig geworden. Der Kern, um den es Heller ging, war die Verhinderung einer Aushöhlung der demokratischen Verfassung und ihren Institutionen mit den Mitteln eben dieser Verfassung. Karl Mannheim,53 auch er von den Nazis 1933 aus Deutschland vertrieben, resümierte später in seinen „Wartime Essays“ dieses Element des Untergangs der Weimarer Republik. „This attitude of neutrality in our modern democracy went so far that we ceased to believe, out of mere fairness, in our own objectives; we no longer thought that peaceful adjustment is desirable, that freedom has to be saved and 49 50 51 52 53

Ebd., S. 416 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 416 f. Ebd., S. 416. Ebd., S. 417. Den Hinweis auf Mannheims „militant democracy“ verdanke ich Uwe Backes, der mich bei der Tagung des HAIT im November 2004 auf die frappierenden Ähnlichkeiten der Überlegungen hinwies.

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democratic control has to be maintained. Our democracy has to become militant if it is to survive.“54 Wenn man bedenkt, dass Mannheim seine Überlegungen 1942/43 geschrieben hat, mehr als zehn Jahre später als Heller und zu einer Zeit des Weltkrieges, als die schlimmsten Befürchtungen Hellers zur faschistischen Diktatur von der Wirklichkeit längst überholt worden waren, so kann man das als ein Indiz für Hellers langfristige und klare Sicht der Dinge nehmen. Karl Mannheim, Nazi-Deutschland aus dem schwer kämpfenden und leidenden England beobachtend, grenzt eine kämpferische Demokratie prinzipiell gegenüber einer Diktatur ab. „Of course, there is a fundamental difference between the fighting spirit of the dictators on the one hand, who aim at imposing a total system of values and a strait-jacket social organizations upon their citizens, and a militant democracy on the other, which becomes militant only in the defence of the agreed right procedure of social change and those basic virtues and values – such as brotherly love, mutual help, decency, social justice, freedom, respect for the person, etc. – which are the basis of the peaceful functioning of a social order.“55 Ein anderer Europäer, auch er von den Nazis aus seiner Heimat Europa vertrieben, setzte sich mit diesem Fragenkreis in seinem Zufluchtsland USA auseinander. Hermann Broch entwickelte aus seiner Auseinandersetzung mit dem und seinem Leiden am europäischen Faschismus ein weit ausgreifendes intellektuelles und politisches Projekt: „Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer totalen Demokratie“.56 Auch Broch markiert 1939 einen ganz ähnlichen Ausgangspunkt wie Heller 1930 und Mannheim 1943. „An und für sich wäre gegen eine diktatorische Staatsführung nichts einzuwenden, wenn sie die ewigen Prinzipien der Humanität, der Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit respektierte. Dazu ist sie aber wesensgemäß nicht imstande; die Diktaturen in ihrer heutigen Form sind dem radikal Bösen zugekehrt. Ihre Folgen sind Krieg, Mord und eine bisher unerahnte, ja auch fernerhin unerahnbare Steigerung menschlichen Leidens. Die Demokratie darf also nicht einfach abdanken; sie trägt Verantwortung für die Menschheit und für die Menschlichkeit, und es ist ihr die Pflicht auferlegt, ihre Grundprinzipien aufrecht zu halten und für die zu kämpfen. Doch sie kann dies bloß dann tun, wenn sie ihr liberalistisches laisser-aller aufgibt und versucht, in ihrem eigenen Rahmen den von den Massen benötigten Halt zu errichten.“57

54 Karl Mannheim, Diagnosis of our Time. Wartime Essays of a Sociologist, London 1943, S. 7. 55 Ebd. 56 Broch nahm sehr wach die faschistischen Kräfte innerhalb der USA wahr und fürchtete deren schleichende wachsende Einflussnahme. Vgl. Hermann Broch, Politische Schriften, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1986 (Band 11 der Kommentierten Werkausgabe [KW]. Hg. von Paul Michael Lützeler), insbes. S. 24–277. 57 Hermann Broch, Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer totalen Demokratie. In: ders., KW, Band 11, S. 25.

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Für Broch unterscheiden sich historisch und aktuell Demokratien und Diktaturen auch in der Verbindlichkeit ihrer zentralen Werte. „Unter einem Totalstaat darf ein solcher verstanden werden, dessen regulative Grundprinzipien in die geschriebene oder ungeschriebene Verfassung eingegangen und für jeden Bürger unter Strafsanktion verbindlich geworden sind [...]. Die Demokratien waren bisher das strikte Gegenteil von Staatstotalitäten. Ihre Grundprinzipien, die sie mit ihrer Staatsform verwirklichen wollen, stehen im Großen und Ganzen außerhalb ihrer Konstitution.“58 Um die Bürgerrechte in einer Demokratie nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber den Mitbürgern zu schützen und zu gewährleisten, schlägt Broch nun eine Gruppe von Gesetzen vor. „Humanität ist ein soziales Gut und muss in einer kategorischen, allgemeingültigen Sozialmoral verwurzelt werden.“59 Kern eines solchen Gesetzescorpus’ wäre eine Gesetz zum Schutz der Menschenwürde, das Broch so formuliert: „Wer durch Worte oder Taten danach trachtet, die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Humanität aufzuheben, wer durch Worte oder Taten trachtet, einen Menschen, der sich nicht gegen eine gesetzliche Bestimmung vergangen hat, oder eine Gruppe solcher Menschen aus der ihnen vom Schöpfer verliehenen allgemeinen Menschengleichheit auszuschließen, wer danach trachtet, ihnen ihre unveräußerlichen Rechte auf Leben und Freiheit und Glückstreben abzustreiten oder zu schmälern, ferner, wer durch Worte oder Taten danach trachtet, einzelne Personen oder Gruppen von solchen, welche sich nicht gegen die Gesetze des Staates vergangen haben, aus den allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten auszuschließen und insbesondere derart zu diskriminieren, dass ihnen nicht der gerechte Mitgenuss an den bürgerlichen Rechten und Ehren, nicht die gleiche Anwartschaft an den öffentlichen Einrichtungen, nicht die gleiche Freiheit ihres persönlichen Lebens, m.a.W., nicht die gleiche physische und psychische Integrität wie den übrigen Bürgern zustehe, schließlich, wer danach trachtet, Völker oder irgendeine andere Menschengruppe oder einzelne Personen derart zu diffamieren, dass sie zum Gegenstand des Hasses werden, wer nach solchem trachtet, verstößt gegen die Grundlage des Staates und soll straffällig gemacht werden. Gegen die Straffolgen schützt keine vom Staates sonst wie gewährleistete Rechtsimmunität.“60

58 Ebd., S. 26. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 27.

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V.

Stephan Albrecht

Schlussbemerkung

Es ist hier nicht Ort und Gelegenheit, die historische und aktuelle61 Bedeutung solcher demokratiepolitischer Überlegungen und Strategien näher zu erörtern. Für uns Heutige bleibt allerdings erstaunlich, wie weitgehend gleichgerichtete Einsichten Menschen mit divergierenden Biographien, politischen und parteilichen Präferenzen und wissenschaftlichen Arbeitsgebieten an disparaten Orten, ge- und vertrieben von der deutschen Nazidiktatur, entwickelt haben. Heinrich Manns jüngst publiziertes Kriegs-Journal 1939–40 im französischen Zwischenexil wäre ein weiteres Exempel.62 Für Hermann Heller bleibt festzuhalten, dass seine Vorstellungen einer parlamentarischen und rechtsstaatlichen Demokratie, die jedenfalls institutionell gehindert ist, sich selbst ihren Todfeinden auszuliefern, anhaltend modern erscheint. Inwieweit das demokratische Nachkriegsdeutschland aus diesen Einsichten des Scheitern angemessene Lehren gezogen hat, ist eine spannende und guten teils noch zu erforschende Fragestellung; Selbstgerechtigkeit, öffentlich gerne und im Übermaß ausgeteilt,63 scheint mir keinesfalls angebracht. Die alte Spruchweisheit, dass eine Demokratie ohne Demokraten nicht gut existieren kann, hat im Ende der Weimarer Republik eine welthistorisch folgenreiche, bittere Bestätigung erfahren. Geschichte wiederholt sich allerdings nicht abbildartig. Das Panoptikum der Deformierungen und Defizienzen der europäisch-nordatlantischen rechtsstaatlichen Demokratien am Beginn des 21. Jahrhunderts und ihre inneren Bedrohungen zeigen immer erneut, dass in jeder geschichtlichen Situation neu zu denken und zu handeln ist.64

61

Man denke bspw. an die teilweise skurrilen Debatten in Deutschland um den Neofaschismus und die bisweilige Hilflosigkeit der Jurisprudenz wie anderer staatlicher Stellen, in praxi eine wehrhafte Demokratie zu sein. 62 Vgl. Heinrich Mann, Zur Zeit von Winston Churchill, Frankfurt a. M. 2004. Ein wichtiges Forschungsdesiderat zur Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre eine umfassendere Geschichte des demokratischen Gedankenguts der Exilierten. 63 So bspw. zum 50-jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland 1989. 64 Selbstverständlich ändern sich auch Problemlagen und -konstellationen. Krasses Beispiel hierfür sind die äußeren und inneren Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA, aber auch in Großbritannien. Vgl. zu einer neuartigen Herausforderung für die Demokratie im Bereich moderner Technologien Stephan Albrecht, Freiheit, Kontrolle und Verantwortlichkeit in der Gesellschaft, Hamburg 2005, passim.

„Diktatur als Ausnahmezustand“ versus „Diktatur als System“? Totalitarismustheoretische Kontroversen in den „Neuen Blättern für den Sozialismus“ Michael Rudloff

1.

Die „Neuen Blätter für den Sozialismus“ als Fokus verschiedener Erneuerungsbestrebungen am Rand der Sozialdemokratie

Im Rückblick auf das Scheitern der Weimarer Republik und mit Kenntnis dessen, was folgte, wird immer wieder die Frage nach möglichen Alternativen diskutiert. Dabei setzt die Debatte hauptsächlich bei der Sozialdemokratie als der „stärksten und konsequentesten Kraft der parlamentarischen Demokratie“ in Deutschland an. Gab es zum „sozialdemokratischen Legalismus“ Erfolg versprechende Alternativen? Hätte eine Einheitsfront anstelle der Tolerierungspolitik die nationalsozialistische Diktatur abwenden können?1 Dass die Sozialdemokratie in der Endphase der Weimarer Republik durchaus auch andere Optionen besaß, als die Entscheidung zwischen Legalismus und Attentismus, zeigen Wortmeldungen am Rande der Sozialdemokratie. 1930 trat eine politische Zeitschrift an die Öffentlichkeit, deren Herausgeber und Autoren als recht bunte Ansammlung von Intellektuellen, Jugendbewegten, Gewerkschaftlern und Theologen für Aufsehen sorgten. Sie vereinte die Mitgliedschaft oder auch nur Sympathie für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, ohne sich mit dem dort herrschenden geistigen „mainstream“ identifizieren zu können. Das galt für den Philosophen und Theologen Paul Tillich, den Nationalökonomen Eduard Heimann, dem ehemals radikal-marxistischen Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung Hendrik de Man, den Staatsrechtler Hermann Heller. Stärker in der SPD und den Gewerkschaften verwurzelt waren 1

Vgl. u. a. Klaus Schönhoven, Strategie des Nichtstuns? Sozialdemokratischer Legalismus und kommunistischer Attentismus in der Ära der Präsidialkabinette. In: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 59 ff.; Hans Mommsen, Sozialdemokratie in der Defensive. Der Immobilismus der SPD und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: ders., Arbeiterbewegung und Nationale Frage, Göttingen 1979, S. 345 ff.; Wolfram Pyta, Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989; Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin (West) 1987.

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der ehemalige Innenminister Wilhelm Sollmann, der Jurist Gustav Radbruch und Hugo Sinzheimer. Eine wichtige Scharnierfunktion nahm der Arbeitersekretär August Rathmann ein. Als ehemaligem Holzarbeiter und Absolvent des Zweiten Bildungsweges haftete ihm nicht das Odium des Intellektuellen an. Er besaß das – wenn auch zurückhaltende – Wohlwollen des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und konnte schließlich die notwendigen Mittel für die Gründung einer Zeitschrift auftreiben.2 Er war zweifellos der Motor des Projektes und übernahm die Schriftleitung. 1931 wurde er Mitherausgeber. Als Initiator des Hofgeismarkreises der Jungsozialisten3 hatte August Rathmann 1923 bis 1926 eher polarisiert, war aber nun wie kein anderer geeignet, unterschiedliche Strömungen zusammenzuführen. Obwohl er wichtige programmatische Aufsätze und Denkschriften verfasst hatte, fehlte ihm der Ehrgeiz, ein eigenes weltanschaulich-politisches System, eine „neue Bewegungslehre des Sozialismus“ zu entwickeln. Ohne mit seinen etablierten Autoren in eine Konkurrenz einzutreten, gelang es ihm, eine Vielzahl unterschiedlicher geistiger Strömungen und Reformideen zusammenzuführen und für eine Debatte über das Verhältnis der Sozialdemokratie zu Demokratie und Diktatur, zum Staat, zu den Mittelschichten fruchtbar zu machen. Der „Vorwärts“ bezeichnete das neue Blatt etwas vorschnell als „eigentlich überflüssig“ und die „Gesellschaft“ überging die heranwachsende Konkurrenz zunächst mit Stillschweigen.4 Im Rückblick können die „Neuen Blätter“ mit den Worten Hans Mommsens zum „Sprühendsten und Anregendsten von dem, was die republikanisch-sozialistische Intelligenz der späten Weimarer Jahre hervorgebracht hat“5 gerechnet werden. Tatsächlich erzielte keine andere sozialdemokratische Zeitschrift dieser Zeit eine ähnliche öffentliche Resonanz. Vergleichbare Publikationen wie die offizielle „Gesellschaft“, oder am linken Rand der Sozialdemokratie, „Der Klassenkampf“ blieben im Wesentlichen auf den innerparteilichen Diskurs beschränkt.

2

3

4 5

Vgl. Martin Martiny, Die Entstehung und politische Bedeutung der „Neuen Blätter für den Sozialismus“ und ihres Freundeskreises. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25 (1977) 3, S. 373 ff., sowie Mitteilungen August Rathmanns im Gespräch mit dem Autor (Tonbandmitschnitt, August 1994). Vgl. u. a. Franz Osterroth, Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten. In: Archiv für Sozialgeschichte, 4 (1964), S. 525 ff.; Franz Walter, Jungsozialisten in der Weimarer Republik. Zwischen sozialistischer Lebensform und revolutionärer Kaderpolitik, Kassel 1983; ders., Nationale Romantik und revolutionärer Mythos. Politik und Lebensweisen im frühen Weimarer Jungsozialismus, Berlin (West) 1986; Michael Rudloff (Hg.), Sozialdemokratie und Nation. Der Hofgeismarkreis in der Weimarer Republik und seine Nachwirkungen. Eine Dokumentation, Leipzig 1995 (hier auch weitere Literaturangaben). Zit. nach Martiny, Neue Blätter, S. 384 f. Hans Mommsen, Vorwort zu August Rathmann: Ein Arbeiterleben. Erinnerungen an Weimar und danach, Wuppertal 1983, S. VIII.

„Diktatur als Ausnahmezustand“

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Folgende Themen beherrschten die Debatte in den „Neuen Blättern“: – Wo liegen die Ursachen für die sich immer stärker abzeichnende Gefährdung der Demokratie und die Schwäche der Weimarer Republik? – Welchen Platz nimmt die sozialistische Arbeiterbewegung in der Gesellschaft ein? Welche Position hat sie zur parlamentarischen Demokratie und zu den anderen Schichten und Klassen der Gesellschaft? – Wo liegen die Ursachen für den Immobilismus und die Überalterung der SPD? Welche Reformen der Partei und ihrer Werbemethoden sind notwendig, um die Partei aus ihrer Defensive herauszuführen? – Welche Bedeutung besitzt die theoretische Grundlage der Partei für das praktische Handeln? Wie soll sie sich zum parteioffiziellen Marxismus verhalten? – Konkreter: Welche Rolle spielen Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus? Wo liegen deren sozialen und geistigen Wurzeln? Können die in Bewegung geratenen antikapitalistischen Kräfte in KPD und NSDAP für die sozialistische Arbeiterbewegung gewonnen werden? Ist der Kommunismus mit dem Faschismus, speziell in seiner nationalsozialistischen Form, vergleichbar? – Wie lässt sich die Entwicklung in Russland bzw. in der Sowjetunion bewerten? – Schließlich: Welche Chancen existieren, damit das offensichtliche Scheitern des liberal-kapitalistischen Systems nicht in eine neokonservative bzw. nationalsozialistische Diktatur, sondern eine sozialistische Demokratie mündet? Der Erfolg der Nationalsozialisten im September 1930 beendete die erste, eher „schöngeistige“ Phase der Geschichte der Zeitschrift. Die Aussprache wurde intensiver, Alternativkonzepte zur gesellschaftlichen Entwicklung wurden diskutiert. Da hatte die Zeitschrift noch reichlich zweieinhalb Jahre ihrer Existenz vor sich. Zu einer Reform der Sozialdemokratie, ihrer geistigen Grundlage und der Weimarer Demokratie konnten in dieser Zeit bestenfalls Anstöße gegeben werden. Die Autoren der „Neuen Blätter“ wurden in der Vergangenheit unter dem Begriff der „Jungen Rechten“ zusammengefasst und zuletzt in einem im Jahr 2000 erschienenen Aufsatz der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft in den Kontext der Konservativen Revolution gestellt.6 Der Verfasser, Stefan Vogt, nimmt darin nichts weniger in Anspruch, als die durch Wolfram Pyta, Heinrich August Winkler und Hans Mommsen vertretene Position, dass die Vorstellun-

6

Vgl. Dorothea Beck, Theodor Haubach, Julius Leber, Carlo Mierendorff, Kurt Schumacher. Zum Selbstverständnis der „militanten Sozialisten“ in der Weimarer Republik. In: Archiv für Sozialgeschichte, 26 (1986), S. 87 ff.; Stefan Voigt, Der Antifaschismus der sozialdemokratischen Jungen Rechten. Faschismusanalysen und antifaschistische Strategien im Kreis um die „Neuen Blätter für den Sozialismus“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 48 (2000) 11, S. 990–1011.

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gen der „Neuen Blätter“ eine viel versprechende Alternative zur tatsächlichen Politik der SPD gewesen sind, einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Liest man die Beiträge der „Neuen Blätter“ unvoreingenommen, wird offensichtlich, dass sich der Autorenkreis einer Zuordnung in ein „Rechts-Links-Schema“ entzieht. Ebenso wenig findet das Postulat Bestätigung, spezifisch revisionistische Strömungen hätten sich in ihrer Verbindung praktisch potenziert. So wäre zum einen der Materialismus zugunsten eines ethisch-idealistisch begründeten Sozialismus verworfen worden und zum anderen die Klasse als politischer und theoretischer Bezugspunkt durch Volk und Staat ersetzt worden. Einmal abgesehen davon, dass die Intentionen der religiösen Sozialisten um Paul Tillich und Carl Mennicke verkannt werden – die Gründung der „Neuen Blätter“ war u. a. das Ergebnis eines Klärungsprozesses, in dem sie einen spezifisch „religiösen Sozialismus“ verworfen hatten7 – lässt sich die Rezeption des parteioffiziellen Marxismus in der SPD wesentlich zutreffender mit einem funktionalen Religionsbegriff beschreiben.8 Es war ja gerade die aus dieser sozialdemokratischen Zukunftsfrömmigkeit resultierende Unbeweglichkeit und Selbstzufriedenheit, gegen die die Autoren der „Neuen Blätter“ ankämpften. Einheitliche Lösungen konnte und wollte eine Zeitschrift, die als ein Ausspracheorgan heterogener Reformkräfte im Umfeld von SPD, Gewerkschaften und Arbeiterkulturorganisationen gegründet wurde, nicht vermitteln. Mit der Aussprache über unterschiedliche Standpunkte und Lösungsansatze für die eskalierenden gesellschaftlichen Konflikte wollten die Herausgeber vielmehr Bewegung in die erstarrten politischen Fronten bringen und Brückenschläge zwischen den verfeindeten Lagern ermöglichen. Die Verortung der „Neuen Blätter“ auf dem rechten Flügel der SPD durch Zeitgenossen und Historiker hat weniger mit dem Spektrum der Autoren und veröffentlichten Beiträge, sondern eher damit zu tun, dass sie als Gegenentwurf zum orthodox- man kann auch sagen vulgär-marxistischen „Klassenkampf“ um Max Seydewitz empfunden wurde. Es ist tatsächlich nicht zu übersehen, dass sowohl die „linke“ Klassenkampfgruppe als auch der „rechte“ Freundeskreis der „Neuen Blätter“ eine Radikalisierung der Sozialdemokratie anstrebten und beide letztlich auf autoritäre Konzepte setzten. Angesichts der Lähmung der demokratischen Institutionen und der Selbstzerstörung der Weimarer Republik, die ihren Todfeinden den Freiraum einräumte, den diese zur Zerstörung der Demokratie nutzten, erschien dies für eine Rettung der Demokratie unverzichtbar.

7 8

Vgl. M. [d.i. Carl Mennicke], Rückblick und Ausblick. In: Blätter für Religiösen Sozialismus, Nr. 5/6, 1927, S. 34–36. Vgl. Gerhard Steger, Rote Fahne. Schwarzes Kreuz. Die Haltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs zu Religion, Christentum und Kirchen. Von Hainfeld bis 1934; Thomas Adam/Michael Rudloff, Mythen sächsischer Geschichtsschreibung. Eine Erwiderung auf Ewald Frie. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), 38 (2002) 3, S. 302–319.

„Diktatur als Ausnahmezustand“

2.

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Die Sozialistische Bewegung zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus

Im Unterschied zum Kaiserreich konnte die Sozialdemokratie der Weimarer Republik nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die einzige politische Interessenvertretung der Arbeiterbewegung zu sein. Mit Sowjetrussland war ein Staat entstanden, der sich als Verwirklichung sozialistischer Ideale präsentierte. Die in Krisensituationen anwachsende nationalsozialistische Bewegung machte ihr den Begriff des Sozialismus streitig. Eine neue Positionsbestimmung der Sozialdemokratie war notwendig. Eine Fortschreibung des sich auf den Marxismus berufenden Weltbildes in der Tradition der Vorkriegszeit konnte die SPD der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre in ein Ghetto führen. Den Hauptimpetus, der sich durch die Beiträge für die „Neuen Blätter“ wie einer roter Faden hindurch zieht, bildete eine Erneuerung des Sozialismus und die Verbreiterung der Massenbasis der SPD durch die Gewinnung der in Bewegung geratenen außerproletarischen Schichten. „Der Sozialismus sollte hier zu einem irrationale Anziehungskraft besitzenden Bild werden, das im Dreifrontenkrieg gegen Kommunismus, bürgerlichen Liberalismus und Faschismus eingesetzt werden kann.“9

2.1

Faschismus und Nationalsozialismus in der Deutung durch die Autoren der „Neuen Blätter“

Spätestens seit den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten in den Septemberwahlen 1930 bildete die Auseinandersetzung mit der NSDAP und ihre Einordnung in die deutsche Geschichte wie auch der Vergleich mit faschistischen Bewegungen und Diktaturen das beherrschende Thema der „Neuen Blätter“. Gefragt wurde nach dem Charakter der Bewegung, nach den sie tragenden sozialen Schichten und ihrer Zielrichtung. Bis Ende 1932 war die Interpretation des Nationalsozialismus als Antimodernismus vorherrschend. Diese Sicht wandelt sich – wie noch zu zeigen sein wird – 1933. Der Nationalsozialismus wird als Erbe des alten Konservatismus begriffen, der spätestens seit dem Scheitern des Kapp-Putsches seine Anziehungskraft verloren habe. Er habe „es niemals fertig bringen können, ein positives, aufbauendes, ‚aktionäres‘ Programm aufzustellen und danach zu handeln“10. Als Nationalsozialismus könne sich der neue Konservatismus auf zahlenmäßig bedeutende Schichten stützen: Handwerker, Kleinhändler, Bauern, die akademische Jugend, ehemalige Berufsoffiziere. Ein verschwommener, gestutzter Antikapitalismus, der sich gegen „hochkapitalistische Entartungen“ 9 Detlef Döring, Christentum und Faschismus. Die Faschismusdeutung der religiösen Sozialisten, Stuttgart 1982, S. 20. 10 Vgl. Walter Mannzen, Die sozialen Grundlagen des Nationalsozialismus. In: Neue Blätter für den Sozialismus (im Folgenden: NBlS), 1 (1930) 8, S. 370 f.

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richte, sei kein Kampf der proletarisierten Schichten gegen das wirtschaftliche System, sondern ein verzweifeltes Zurückstreben in die Welt des überschaubaren Frühkapitalismus. Der Handwerker werde zum Maschinenstürmer und zum Feind des kapitalistischen Staate: zum Nationalsozialisten, anstatt die Notwendigkeit der Entwicklung zu begreifen und Befreiung durch den Sozialismus zu erkämpfen. Wie in der Vergangenheit wirtschaftliche Kämpfe als Religionskriege ausgefochten wurden, werde der Kern unter der Hülle des Rassenkampfes verborgen. Der ökonomische Konkurrenzkampf erhalte den ideologischen Mantel des Antisemitismus. Nachdem der Staat mit der Schonung des Landes bei der Steuer- und Zollgesetzgebung Schluss gemacht habe, sähen sich die Bauern mit ihren Gläubigern, den Banken (die mit Juden gleichgesetzt werden) konfrontiert. Unter Bombenwürfen schwenke auch der Bauer ins neokonservative Lager ab. Zu den Wortführern gehörten schließlich die jeunesse d’orée der Hochschulen und ehemalige Berufsoffiziere, hinter denen als Leiter und „Drahtzieher“ diejenigen stehen, die am meisten an einer feudalen Gesellschaftsordnung interessiert seien: die Großgrundbesitzer. Walter Mannzen erblickte in Nationalsozialismus und Liberalismus zwei feindliche Brüder, die einen gemeinsamen Feind haben: Das sozialistische Proletariat, gegen das beide „sofort wieder eins seien“. Für beide sei das Privateigentum das „heiligste Gut der Nation“, auch wenn der nationalsozialistische Faschismus das spezifisch kapitalistische Eigentum der Theorie nach zum Nutzen des Staates bändigen wolle. Die „anonyme Wirtschaft“ brauche den Nationalsozialismus, da er die Armee stellen solle, mit der das Proletariat niedergeschlagen werden könne. Daher kämpfe der Nationalsozialismus gegen die einzige Ideologie, die der Bourgeoisie gefährlich werden könne: den Marxismus. Die sozialistische Terminologie diene lediglich der Verschleierung. Gerade die Proletarisierung des Mittelstandes sei ein wesentliches Motiv für den Antimarxismus des Nationalsozialismus. Der alte Mittelstand (Handwerker, Bauern, Beamte) entwickle seine antikapitalistische, antiproletarische und antidemokratische Haltung aus der ökonomischen und geistigen Verbundenheit mit dem alten Regime. Der Kampf des „neuen Mittelstandes“, der Angestellten in den Reihen der Nationalsozialisten war mit den Worten Carl Mierendorffs „nichts anderes als ein Kampf gegen die Zurechnung zum Proletariat, zu dem er de facto gehört, während man subjektiv ‚der neue Mittelstand‘ sein will“. Die andere Seite sei der Kampfeswille gegen den „proletarischen Emporkömmling“. Das Ziel sei nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten zur politischen Führung prädestinierten Klasse, sondern das Aufgehen in einer zur Herrschaft berufenen „Rasse“ oder „Nation“.11 Die wirklichkeitsfremde reaktionär-antimodernistische auf der einen und der revolutionär-antikapitalistische Charakter der nationalsozialistischen Bewegung auf der anderen Seite bedingten einander: „Der Antikapitalismus politisiere den 11

Carl Mierendorff, Was ist der Nationalsozialismus. Zur Topographie des Faschismus in Deutschland, in: NBlS 2 (1931) 4, S. 149–154.

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Mittelstand und mache ihn zugleich antimodernistischen Parolen zugänglich.“12 Der Antisemitismus sei demzufolge nichts anderes, als ein verdeckter, primitiver Antikapitalismus, der sich an dem für den Kleinbürger klar sichtbaren Symbol der eigenen Misere ausrichte. Da sich der Klassenkampf nicht einfach wegdekretieren lasse, wäre es eine Frage der Zeit, dass die Widersprüche innerhalb der NSDAP aufbrechen. Der Nationalsozialismus sei eine Übergangserscheinung, da er sich entweder an das bestehende kapitalistische System anpassen müsse und in diesem Fall von den enttäuschten revolutionären Kräften überrollt würde oder selbst zwangsläufig einen sozialistischen Kurs einschlagen müsse. Da die Proletarisierung des Kleinbürgertums voranschreite, sei es denkbar, dass die nationalsozialistische Partei in absehbarer Zeit tatsächlich eine Arbeiterpartei werde. Daran müsse die sozialistische Arbeiterbewegung anknüpfen: Der Antikapitalismus des Nationalsozialismus sollte dem Missbrauch durch das Kapital und durch seine eigenen Führer entrissen und seiner sozialistischen Bestimmung zugeführt werden. Die SPD müsse in der Lage sein, die in Bewegung geratenen Mittelschichten aufzufangen und in eine sozialistische Kampffront einzugliedern. Mit ihrer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Versammlungskultur, und einer defensiven Verteidigung der inzwischen bereits ausgehöhlten Errungenschaften der Revolution sei sie dazu nicht in der Lage. Schließlich könne die aus dem parteiamtlichen Marxismus abgeleitete rationale Begründung einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft als zwangsläufigem Ergebnis des Entwicklungsganges der Gesellschaft nur eine begrenzte Anziehungskraft entfalten.13 Zudem habe sich der linear interpretierte historische Materialismus nach Weltkrieg und Revolution ad absurdum geführt. Die Entscheidung für den Sozialismus ergebe sich nicht zwangsläufig aus der materiellen Lage, sondern setze einen bewussten Willen voraus, der völlig unterschiedlich motiviert sein könne. Die Umdeutung einer auf der Agenda stehenden proletarischen in eine Volksrevolution (übrigens ein Begriff, den auch die KPD verwendete) bedeutete keinesfalls eine Anleihe der „Blut- und Boden-Ideologie“. Eduard Heimann begründete dies völlig rational. So habe sich in Deutschland die Gesellschaft angesichts des Entwicklungstandes des Kapitalismus stark differenziert. Dem organisierten Proletariat stehe ein zahlenmäßig ebenso starker ländlicher und städtischer Mittelstand gegenüber. Obwohl durch Kapitalherrschaft und Krise in größtes Elend geraten, sei er nicht Proletariat geworden. Während das Proletariat in seiner Eigentumslosigkeit zum Gemeineigentum strebe, sei die Selbstständigkeit

12 Döring, Christentum und Faschismus, S. 30. 13 Gegen dieses in der Marxismusrezeption verbreitete teleologische Geschichtsverständnis hatte noch Friedrich Engels in den so genannten „Altersbriefen“ polemisiert, unter anderem 1890 in seinem Brief an Joseph Bloch. Vgl. MEW, Band 37, S. 463 ff.; sowie Friedrich Engels, Briefe über den historischen Materialismus (1890–1895), Berlin (Ost) 1979.

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der individuellen Leistung der Wille des Mittelstandes. Die Prinzipien der einen können nicht der anderen Hälfte auferlegt werden. Sozialismus sei nur möglich, wenn er als Befreier komme, den großbetrieblich-kapitalistischen Bereich sozialisiere und dem bäuerlichen und handwerklichen Mittelstand die ihm gemäße Existenzform zugestehe.14

2.2

Radikaler Zweig der Arbeiterbewegung oder Zwillingsbruder des Faschismus? Die Haltung der „Neuen Blätter“ zum Kommunismus

Die Beurteilung des Charakters der kommunistischen Bewegung spaltete die Autoren der „Neuen Blätter“. Angesichts der Krise des parlamentarischen Systems und der Erfolge der Nationalsozialisten gewann die Frage an Bedeutung, ob die KPD als Teil der Arbeiterbewegung und als potentieller – wenn auch unsicherer – Partner anzusehen sei. In der Bewertung des Übertritts des Leutnants Scheringer von der NSDAP zur KPD15 zeigte sich schlaglichtartig der Dissens innerhalb des Autorenkreises der „Neuen Blätter“. Für Alfred Meusel bildete die „Entwicklung konsequenter Nationalisten zum konsequenten Sozialismus“ das Ergebnis eines folgerichtigen Entwicklungsprozesses.16 Die Auffassung, wonach Scheringers anfänglich nationalistisch verbogener Patriotismus durch seine Entscheidung für den Kommunismus die richtigen Qualitäten bekommen habe, stieß auf den leidenschaftlich formulierten Widerspruch Theodor Haubachs. Selbst wenn eine Partei viele Arbeiter umfasse, eine proletarische Sprache spreche und proletarische Ziele verkünde, könne sie ihrer geschichtlichen Wirkung und Stellung nach einen antiproletarischen, gegenrevolutionären Charakter entwickeln. Die Erfahrungen aus der Geschichte der Kommunistischen Internationale würden belegen, dass der Kommunismus in Italien, Ungarn, dem Balkan und in Bayern die Rolle des „Agent provocateurs“ für den Faschismus übernommen habe.17 KPD und NSDAP wollten den latent revolutionären Zustand zum offenen Konflikt mit der Staatsgewalt treiben, führte ein Leitartikel diese Interpretation Ende 1932 weiter. Die deutsche Staatsführung werde sich in dem Augenblick, 14

Vgl. Eduard Heimann, Sozialismus, Kommunismus und Demokratie. In: NBlS, 3 (1932) 12, S. 622–625. 15 Vgl. hierzu u. a. Louis Dupeaux, Nationalbolschewismus in Deutschland 1919–1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985, S. 437 ff.; Werner Bramke, Die nationale Frage in der Politik der KPD (1929–1933). In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), 24 (1982) 4, S. 499–513; Richard Scheringer, Das große Los. Unter Bauern, Soldaten und Rebellen, Hamburg 1959. 16 Vgl. Alfred Meusel, Faschismus, Sozialismus, Nationalismus. Betrachtungen zum Fall Scheringer. In: NBlS, 2 (1931) 6, S. 277–287, hier 286. 17 Vgl. Theodor Haubach, Leutnant Scheringer – unser Mann? In: NBlS, 2 (1931) 7, S. 352 f.

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in dem sie sich einem nicht mehr beherrschbaren Ansturm der Opposition von links und rechts ausgesetzt sehe, lieber dem „Faschismus in die Arme werfen, als selbst zugrunde zu gehen“.18 In der eindimensionalen Sicht, seinem Voluntarismus und einer Verwechslung von Ritual und Rhetorik mit der Wirklichkeit und seiner Unfähigkeit zur Gestaltung bestehe kein Unterschied zwischen rechtem und linkem Radikalismus. Belege dafür lieferte die punktuelle Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten. Scheringer sei in Wirklichkeit keinen schwer passierbaren Weg gegangen. Sein Schritt habe vielmehr die innere Verwandtschaft des abstrakten Radikalismus erhellt. Für Haubach bildeten Nationalsozialismus und Kommunismus zwei Flügel des Radikalismus, die sich trotz unterschiedlicher Motive und Ziele in der Haltung zur Diktatur als System einig seien. Diese „Diktatur als System“ habe, wo sie auch auftrete, die gleichen ökonomischen und moralischen Wirkungen. Sie stelle die gesellschaftliche Organisation von unten her, die allein die Stabilität eines Gemeinwesens gewährleiste, in Frage. Von der „Diktatur als System“ unterschied Haubach die Diktatur als Ausnahmezustand, die grundsätzlich in jeder Demokratie möglich sein müsse.19 Die – wenn auch unbewusste – Schrittmacherrolle der KPD-Politik für eine „weiße Diktatur“ bestätigte der ehemalige KPD-Funktionär Eberhard Wiskow20 (unter dem Pseudonym Walter Rist) in einer 1931/32 in den „Neuen Blättern“ veröffentlichen Beitragsfolge.21 Er stellt die Partei jedoch in die Tradition radikaler Abspaltungen von der Arbeiterbewegung, die deren gesamte Geschichte begleite. Als einer der ersten lieferte er statistische Daten, welche die KPD als Durchgangspunkt aller Elemente beschrieben, die im Strudel der Krise des Kapitalismus und Verelendung an die Peripherie der Arbeiterbewegung geschleudert werden. Die Existenz von KPD und SPD resultiere aus der sozialen Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft. Auf der Suche nach Alternativen zur Tolerierungspolitik der SPD unter der Kanzlerschaft Brüning geriet die KPD in das Blickfeld zahlreicher Leitartikel in den „Neuen Blättern“, die unter Autorennamen Thomas Eck, Florian Geyer, Wendel Hipler, Heinrich Pfeiffer und Georg Metzler erschienen, allerdings von ein und derselben Person verfasst worden waren: dem preußischen Regierungsrat Hans Muhle, der Anfang 1931 aus der Deutschen Staatspartei zur SPD

18 Das Wagnis des Staatsstreichs. In: NBlS, 3 (1932) 12, S. 617–622, hier 621. 19 Vgl. Haubach, Scheringer. 20 Zur Bedeutung der Brüder Eberhard und Wolfgang Wiskow in der Gruppe Leninistische Organisation/Neu Beginnen siehe Jan Foitzik, Zwischen den Fronten. Zur Politik, Organisation und Funktion linker politischer Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40 unter besonderer Berücksichtigung des Exils, Bonn 1986, Biogramme auf S. 334. Siehe auch Walter Loewenheim, Geschichte der Org (Neu Beginnen): 1929– 1935. Eine zeitgenössische Analyse. Hg. von Jan Foitzik, Berlin 1995. 21 Walter Rist [d.i. Eberhard Wiskow], Der Weg der KPD. In: NBlS, 3 (1932) 2, S. 79 ff.; ders., Die innere Krise der KPD. In: NBlS, 3 (1932) 3, S. 134 ff.; ders., Die Splittergruppen der KPD. In: NBlS, 3 (1932) 4, S. 207 ff.

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gekommen war.22 „Als dialektische Marxisten sind wir Gegner des pseudo-revolutionären Idealismus der KPD“23 stellte er klar, machte allerdings auch deutlich, dass es weniger die die prinzipielle Haltung zu Demokratie oder Diktatur war, die einen Teil des Kreises vom Kommunismus trennte, sondern dessen verhängnisvolle politische Taktik. Am russischen Aufbau bewundere man vieles, auch wenn man auch den politischen Imperialismus der Komintern ablehne. Dennoch sei man kein grundsätzlicher Gegner einer Koalition mit der KPD, wenn diese Partei eine praktische Verständigung mit der SPD anstreben würde. Die zwingend notwendige Einheitsfront könne nur im Kampf gegen die Führung der KPD erzwungen werden. Insbesondere die Haltung der KPD, der NSDAP gewissermaßen die Rolle eines „Eisbrechers der Revolution“ zuzuschreiben, stehe einer Zusammenarbeit im Wege. Sollten die Anhänger der KPD die Gefahr der grotesken Politik ihrer Führung erkennen, könne die Politik der Sozialdemokratie gegenüber dem Kommunismus „eine Wendung von ungeheurer Bedeutung erfahren. Der westeuropäische Sozialismus würde mit dem osteuropäischen in einen Kontakt kommen, der für beide geistig wie politisch äußerst fruchtbar sein müsste. Der Kampf der Arbeiterbewegung würde in beiden Ländern einen gewaltigen Aufschwung erfahren.“24 Zwei Monate später konkretisierte Muhle seine Ausführungen zur KPD mit deutlich kritischeren Tönen. Die KPD sei keineswegs eine Art radikaler Sozialdemokratie, nicht einmal eine Partei im europäischen Sinne. Antiparlamentarisch sei sie nicht nur der Theorie nach, sondern nach ihrem Wesen und innerem Aufbau. Dennoch müsse zwischen Kommunismus und den Anhängern unterschieden werden, die verärgerte oder verhinderte Sozialdemokraten seien. Nur auf dem Wege, dass man auf Verhandlungen von Organisation zu Organisation verweist, wäre eine wirkungsvolle Klarstellung der Position möglich.25 Weitere Erfahrungen mit den taktischen Schwenks der Komintern und ihrer deutschen Sektion bewirkten schließlich in der Dezemberausgabe eine eindringliche Warnung vor „jedem Liebäugeln mit den pseudorevolutionären Phrasen von KPD und NSDAP“.26 Das Verhältnis zu Sozialismus, Kommunismus und Demokratie fasste Eduard Heimann Ende 1932 in einem Thesenpapier zusammen.27 Die Diktatur 22 Zur Biographie von Hans Muhle (George M. Merten) siehe Jugend im politischen Protest. Der Leuchtenburgkreis 1923–1933–1977. Hg. von Fritz Borinski, Horst Grimm, Edgar Winkler und Erich Wolf, Frankfurt a. M. 1977, Biogramm auf S. 221; sowie Döring, Christentum und Faschismus, S. 136. 23 Florian Geyer [d.i. Hans Muhle], Kampf um Preußen. In: NBlS, 3 (1932) 5, S. 225– 232, hier 227 f. 24 Ebd., S. 228. 25 Ewald Ordnung [d.i. Hans Muhle?], Antifaschistische Opposition. In: NBlS, 3 (1932) 7, S. 343–347, hier 344 f. 26 Das Wagnis des Staatsstreichs [ohne Autorennennung]. In: NBlS, 3 (1932) 12, S. 617– 622, hier 621. 27 Vgl. Eduard Heimann, Sozialismus, Kommunismus und Demokratie. In: NBlS, 3 (1932) 12, S. 622–625.

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des Proletariats im Marxschen Sinne als Herrschaft der ungeheuren Mehrheit über eine kleine Minderheit sei der bleibende Sinn des demokratischen Prinzips im Sozialismus. Dieser Gedanke habe durch Georges Sorel eine Wendung erhalten, die sowohl durch Lenin als auch durch Mussolini übernommen wurde, weil sie dem Entwicklungsstand des Kapitalismus in ihren Ländern entsprach: Die Diktatur einer Elite im Interesse der Mehrheit, aber nicht auf Grund der Mehrheit. Lenin habe die Marxsche Diktaturlehre umgedreht: „nicht am Ende, sondern am Beginn der kapitalistischen Entwicklung steht die sozialistische Revolution“28. In ihrer Zielsetzung und Ideologie unterscheide sich die proletarische Herrschaft von jeder anderen sozialen Herrschaft. Der Kommunismus solle nicht den Abstand zwischen den Herrschenden und Unterworfenen wahren, sondern diese grundsätzlich zu sich emporheben, in seine Reihen eingliedern und an der Herrschaft beteiligen. Darin bestehe das quasi-demokratische Programm des Kommunismus. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft der Unterworfenen die ihnen angewiesene fremde Lebensform zu übernehmen. Mussolini habe auf nationalpolitischen Gebiet adäquat gehandelt: Wenn die nationale Minderheit sich in das Staatsvolk assimiliere, entginge es der Knechtung, wie das Beispiel Südtirol zeige. Der Kommunismus komme daher nicht als Befreier, sondern als „aufgeklärte Despotie“,29 der einerseits Industrialisierung und Rationalisierung mit sich bringe, andererseits bei den zu Befreienden – denen er als Tyrann erscheint – Gegendruck erzeugt. Dieses paradoxe Ergebnis, welches Konsequenz des paradoxen Ansatzes sei, widerlege nun seinen sozialistischen Anspruch: „Ihn tragen Spitzeltum und Terror statt des Freiheitswillens in den breiten Volksmassen, den die Marxsche Theorie zur Grundlage des Sozialismus machen will.“30 Im Schicksalsjahr 1933 konnten die „Neuen Blätter“ bis Juni erscheinen. Tillich und Heimann, die existentiell bedroht waren, meldeten sich nicht mehr zu Wort, dafür „Vertreter der jungen Generation“, die in die Blätter einen Ton hineintrugen, der als Anpassung an die neuen Gegebenheiten bewertet werden kann. Im Gegensatz zu der bis dahin konsensfähigen Interpretation der NS-Bewegung als antimodernistische Bewegung wurden unterschiedliche Diktaturen, wie der italienische Faschismus, autokratische Regimes auf dem Balkan, die kemalistische Türkei und das bolschewistische Russland als Entwicklungsdiktaturen gedeutet, deren Mission im Forcieren des modernen Industrialismus bestehe. „Als Bahnbrecher und Wegbereiter des kapitalistischen Geistes, des industriellen Geistes“31 habe der Faschismus seine historische Berechtigung und Aufgabe. Das wichtigste Mittel dafür seien „Disziplin und Erziehung“, nach Georges Sorel die Kennzeichen sowohl des Bolschewismus als auch des Faschismus. 28 29 30 31

Ebd., S. 623. Ebd. Ebd., S. 624. Martin Helmbrecht, Faschismus und Nationalsozialismus – Ihre historische Aufgabe. In: NBlS, 4 (1933) 6, S. 292–303.

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Zwischen Faschismus und Bolschewismus konstatierte Martin Helmbrecht in der letzten Ausgabe der „Neuen Blätter“ mannigfaltige Sympathien, für die „im letzten Grunde gleiche Regierungsform“, die auf der Gemeinsamkeit der historischen Aufgabe basierten. Unabhängig von Einwänden gegen die Ideologie habe der Faschismus in Italien die „moderne, industrielle, arbeitsame, angespannte Nation begründet“. Schließlich steigert sich der Autor in einen Lobpreis der Tugenden, zu denen der Faschismus die italienischen Mandolinenspieler, Gondolieri und Antiquitätenhändler erzogen habe: „zu einen ihnen bis dahin unbekannten Sinn für Ordnung, Disziplin, Sauberkeit und Pünktlichkeit.“32 Darin – sowie in der Tatsache, dass der italienische Faschismus keinesfalls so schroff gegen den Marxismus gerichtet sei wie der Nationalsozialismus – zeigten sich mehr Übereinstimmungen des Faschismus mit dem Bolschewismus als mit dem Nationalsozialismus. An einer Herausarbeitung des wesenhaften Unterschiedes, der den Nationalsozialismus vom Faschismus trenne, habe es in der Weimarer Republik gefehlt. Mit dem Jahr 1933 sei der Faschismus in der Form des Nationalsozialismus aus dem vorkapitalistischen Gürtel herausgetreten. In Italien und Deutschland hätten beide Bewegungen die innere Einheit vollendet und eine starke Zentralgewalt begründet, die Marx zufolge eine Voraussetzung für den Sozialismus bilde. Nach dem 30. Januar 1933 konnten August Rathmann und die verbliebenen Mitarbeiter der „Neuen Blätter“ kaum noch auf ein Abschwenken des linken Flügels der NSDAP zur SPD setzen. Anders, als sie es erwartet hatten, erodierte nicht die NSDAP sondern die SPD, die in den zurückliegenden 70 Jahren mehrere Verfolgungswellen überstanden hatte. Ihre letzten Hoffnungen setzten sie daher auf ein Wirksamwerden der sozialistischen Ideen innerhalb der NSDAP. Im Rückblick muss dies als ein utopischer, wenn nicht naiver Gedanke erscheinen. Für die in der historischen Situation handelnden Akteure existierte jedoch kaum eine Alternative.

3.

Autoritäre Demokratie kontra totaler Staat

Die Autoren der „Neuen Blätter“ gingen davon aus, dass in Deutschland seit 1930 die Entscheidung zwischen Demokratie und Diktatur bevorstand. Die Wahlen zu den Reichstagen könnten aufgrund der Abnutzung dieses Mittels ihre Ventilfunktion nicht mehr erfüllen. Seit der Ablösung Brünings durch Papen war die entscheidende Frage nicht mehr, wann die Rechtsbasis überhaupt, sondern wann sie völlig verlassen werde. Die liberal-parlamentarische Politik der Vergangenheit biete keinen Ausweg aus der Krise. Angesichts der Entwertung des Worts „Demokratie“ sei eine Frage, wie lange das Vertrauen des größeren 32 Ebd., S. 294.

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Teils der Arbeiterschaft noch bei der bewusst demokratischen Arbeiterbewegung liege. Das Szenario, das die Leitartikler bis 1933 entwarfen, bestand weniger darin, dass man eine Diktatur der Nationalsozialisten erwartete, als vielmehr darin, dass die konservativen Eliten die politisch instabile Situation ausnutzen und auf die Gefährdung ihrer Herrschaft durch die antikapitalistische Volksbewegung mit einer offenen Diktatur reagieren. Diese Diktatur würden sie zum einen durch den Reichspräsidenten und die Reichswehr absichern und zum anderen auf die nationalsozialistische Massenbewegung stützen. Die Einbindung in eine offene Diktatur im Interesse der Großgrundbesitzer und zur Rettung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung werde aber zu einer Polarisierung der nationalsozialistischen Basis führen und entweder mit deren Spaltung oder eine antikapitalistische Volksrevolution unter der Führung der Arbeiterklasse münden. Das Ringen zwischen „der immer mehr erstarrenden Staatsgewalt und der immer höher emporwallenden Bewegung des Volkes“ zwinge das Regiment zur Anwendung nackter Gewalt. Die einzige Alternative dazu könne eine aktionsfähige Minderheitsregierung bilden, die sich auf die „sozialistisch, demokratisch und gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft“ stütze. Bei einer solchen „in den Massen des Volkes verwurzelten Minderheitsregierung“ könne die Form der Diktatur akzeptiert werden, weil nur eine solche „sozialistische Diktatur [...] imstande sein [würde], konstruktiv die ökonomisch-sozialen Voraussetzungen zu schaffen, die allein ein zuverlässiges Funktionieren der Demokratie für die Zukunft“ gewährleiste.33 Nach Ansicht Theodor Haubachs war es ein Fehler der Republikaner, den Begriff der politischen Freiheit, den Begriff der Meinungsfreiheit nicht klar zu umgrenzen. Damit seien Missbräuche geradezu sanktioniert worden.34 Die Republik habe mit der Duldung zur Diskreditierung der Demokratie bei großen Teilen des deutschen Volkes beigetragen. Ihre Pflicht sei es jedoch, praktischen Vorbereitungen zum Angriff auf den Staat, egal wie ernst man sie nehme, „mit aller Kraft und Rücksichtslosigkeit in den Weg zu treten“.35 Carl Mierendorff plädierte für eine Wahlrechtsreform, da das Listensystem zu einer Trennung von Wählern und Gewählten und zu einer Überalterung der Volksvertretungen führe. Abgeordnete brauchten sich lediglich um einen sicheren Listenplatz zu bemühen und seien damit praktisch nicht abwählbar.36 Dies führe zwangsläufig zum Absolutismus der Parteibürokratie und zu der propagandistisch ausgeschlachteten „Verbonzung“. Das Verhältniswahlrecht führe zur

33 Das Wagnis des Staatsstreichs [ohne Autorennennung]. In: NBlS, 3 (1932) 12, S. 620. 34 Vgl. Theodor Haubach, Begriff und Sinn der Opposition. In: NBlS, 1 (1930) 2, S. 81– 86. 35 Ebd., S. 85. 36 Carl Mierendorff, Wahlreform. Die Losung der jungen Generation. In: NBlS, 1 (1930) 8, S. 342–349.

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„tödlichen Erstarrung“ und ruiniere die Demokratie, da es die Bildung einer Mehrheit außerordentlich erschwert und ihre Verschiebung verlangsamt habe. Vom Verhältniswahlrecht habe bei den Reichstagswahlen 1928 vor allem die NSDAP profitiert. Mit einem Mehrheitswahlrecht wäre an dieser Stelle frühzeitig ein Damm errichtet worden.37 1932 schalteten sich Hermann Heller und Hans Simons in die Diskussion zur Verfassungsreform ein. Simons, war Sohn des deutschen Außenministers und Regierungspräsident in Preußen. Nach der erzwungenen Emigration in die USA gehörte er zu den Vätern des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Heller und Simons sahen es als Fehler an, die Verfassung zur Diskussion zu stellen. Die Grundlagen der Weimarer Verfassung seien für die Sozialdemokratie lebenswichtig. Republik, Demokratie, Grundrechte bildeten die unverzichtbaren Grundrechte der Revolution und ihrer Überführung in den Rechtszustand. Eine Verfassungsrevision sollte nach Ansicht des Staatsrechtlers Hermann Heller durch drei Richtpunkte bestimmt sein: 1. der autoritären Überordnung des Staates über die Gesellschaft, namentlich über die Wirtschaft, die als „sozialistische Planwirtschaft“ zu gestalten sei. Der bolschewistische Staat habe eindrucksvoll demonstriert, dass die Wirtschaft der Kontrolle des Staates unterworfen werden könne. Aus nationalwirtschaftlichen Gründen dürfe sich Deutschland nicht dem Außenhandelsmonopol sowie der Sozialisierung der großen Unternehmungen in Landwirtschaft, Bergbau, Industrie und Bankwesen entziehen. 2. die demokratische Quelle der politischen Autorität. Die Reichsregierungen dürften nicht länger zum Spielball der Fraktionen des Reichstags und des Reichspräsidenten werden. Das könne dadurch erreicht werden, dass Misstrauensvoten des Parlaments erschwert, Volksentscheide hingegen erleichtert würden und eine zweite, nicht parteipolitisch zusammengesetzte Kammer einen Ausgleich schaffe. Diese könne berufsständisch aufgebaut sein, etwa als eine Wirtschaftsvertretung. Die Gewerkschaften sollten dort dem Parteienstreit Grenzen setzen. Der Einfluss des Reichspräsidenten, der durch die beiden Kammern und nicht mehr direkt durch das Volk gewählt werden solle, müsse beschnitten werden. Den Vorstoß Hellers ergänzend plädierte Hans Simons für die Abschaffung des Paragraphen 48 und für zivile Verantwortung für die Reichswehr, die auf diese Weise stärker in die verfassungsmäßige Ordnung einzubinden sei. 3. die Grenzen der Autorität des Staates. Eine „totale Mobilmachung der Gesellschaft für den Staat“ stehe im Gegensatz zur europäischen Entwicklung seit der Renaissance, durch welche die religiöse, geistige und politische Werthaftigkeit des Individuums die unentbehrliche Grundlage europäischer Kulturentwicklung geworden sei. Sie 37 Carl Mierendorff, Wahlreform oder Faschismus. In: NBlS, 1 (1930) 9, S. 410–412, hier 412.

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stehe nicht im Gegensatz zum autoritären, wohl aber zum totalen Staat, dessen Autorität weder Rechtsschranken, noch Gewaltenteilung, noch Grundrechte kenne. „Wir wünschen den autoritären Staat, wir bekämpfen aber den totalen Staat“38 Anstelle einer Beseitigung des Rechtsstaates sollte eine Verfassungsreform im Sinne Hellers den Umbau des liberalen in einen sozialistischen Rechtsstaat bewirken, in dem auch die Arbeits- und Güterordnung der materiellen Rechtsstaatsorganisation unterworfen werden müsse. Die Autoren der „Neuen Blätter“ waren sich bewusst, dass ein Staat mit derart weitgehenden Vollmachten ohne eine Kontrollinstanz zum Missbrauch der Macht führen werde. Eine Kontrolle der Herrschenden könne nur durch zwei Instanzen geübt werden: entweder von einer sich mit dem Staat identifizierenden Diktaturpartei wie in Russland oder Italien oder von gesetzlich gebundenen Gerichten. Die diktatorische Parteikontrolle bedeute keine wirkliche Kontrolle: Wo es keinerlei Freiheit der Presse, der Meinung, der Vereinigung usw. gebe, bedürfe es zur Bekämpfung von Willkür und Korruption einer vom Menschen nicht zu erwartenden moralischen Kraft. Hans Simons mahnte die Sozialdemokratie, bei allen Erörterungen der Verfassungsfragen nicht zu übersehen, dass es in der Demokratie keine Verfassung gebe, die auf eine bestimmten Gruppe oder Partei zugeschnitten sei. Dadurch unterscheide sich die Volksherrschaft vom Faschismus, Bolschewismus und allen anderen Spielarten der Diktatur. Ziel der Arbeiterbewegung (Simons verwendet den Begriff Arbeiterklasse) müsse es sein, die Mehrheit zu erlangen, um zur Herrschaft zu kommen; sie müsse aber auch für ihre mögliche Stellung als Minderheit vorsorgen. Von diesem Kräftespiel erhoffte sich Simons eine Garantie, dass auch die Herrschaft einer einheitlichen Mehrheit nicht missbraucht werden könne.39 Ungeklärt blieb die Frage, wie sich der den Vorstellungen Hellers von einem sozialistischen Rechtsstaat zugrunde liegende Eingriff in die Eigentumsverhältnisse und zumindest in die Verfügung über Produktionsmittel und Kapital mit einem freien Spiel der politischen Kräfte zu vereinbaren gewesen wäre. Wie man diese Vorschläge und deren Realisierungschance auch bewerten mag, Mierendorff, Haubach, Heller und Simons machten Schwachstellen des Weimarer Staates kenntlich, die zum Einfallstor der Nationalsozialisten wurden und dessen Untergang besiegelten. Dies in die geistige Verwandtschaft der Konservativen Revolution und als Modifikation des Parlamentarismus nach dem Vorbild autoritärer politischer Bewegungen im Sinne des Führerprinzips zu deuten, kann nur als abwegig bezeichnet werden.

38 Vgl. Hermann Heller, Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform. In: NBlS, 3 (1932) 11, S. 576–580; Hans Simons, Verfassungsreform! Wie soll sie aussehen? In: ebd., S. 580–588. 39 Vgl. ebd., S. 587.

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4.

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Zusammenfassung

In seinem 2004 veröffentlichten Aufsatz über die „Neuen Blätter“ zieht Stefan Vogt eine vernichtende Bilanz des „Antifaschismus der Jungen Rechten“. Er sei weit davon entfernt gewesen, der Sozialdemokratie Anstöße für die Abwehr des Faschismus zu geben: „Er hatte keine Erkenntnisse zu bieten, die die SPD nicht auch sonst schon besessen hätte und er sparte keine der Fehleinschätzungen aus, an denen der sozialdemokratische Antifaschismus litt. Im Gegenteil, er fügte diesen Fehleinschätzungen noch eine weitere, noch gravierendere hinzu, die ihn im Nationalsozialismus einen positiven Kern finden ließ und untergrub so seine eigenen Grundlagen.“40 Freilich unterlässt es der Autor, mögliche Alternativen zu den Positionen des Kreises um die „Neuen Blätter“ aufzuzeigen. Ein Antifaschismus, der sich im Sinne des zustimmend zitierten Alexander Schifrin, seiner Todfeindschaft zum Faschismus bewusst ist,41 wird diesen nicht überwinden können, solange er kein Konzept dafür besitzt, wie er ihn bekämpfen kann. Die Autoren der „Neuen Blätter für den Sozialismus“ sahen sich herausgefordert, innerhalb kürzester Zeit einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zu entwickeln, der es ermöglichte, den Zulauf zu totalitären Ideologien unterbinden und deren Anhänger für ein demokratisches Gemeinwesen zurück zu gewinnen. Sie waren sich bewusst, dass Postulate dabei wenig halfen. Die Debatten verwiesen auf offene Fragen und Defizite, die es den Gegnern der Demokratie ermöglichten, eine Massenbewegung gegen die Republik und die sie tragenden Kräfte zu mobilisieren: 1. Wie reagieren die Gegner totalitärer Diktaturen auf die Erfahrungswelt und die Verunsicherungen, die nach vermeintlich einfachen Lösungen drängen? Nehmen sie die Bedrohungsängste ernst und können sie den zu gewinnenden sozialen Schichten eine Perspektive aufzeigen? 2. Die Sozialdemokratie muss zur Führung einer Volks- oder (nennen wir es) Klassenbewegung in der Lage sein. Sie kann diese Aufgabe nur übernehmen, wenn sie als dynamische und nicht nur beharrende Kraft sichtbar wird. Eine sozialdemokratische Bewegung, die sich darauf beschränkt, das in die Krise geratene Wirtschaftssystem sozial abzufedern, wird zwischen linkem und rechtem Radikalismus zermahlen. 3. Der demokratische Staat muss so verfasst sein, dass er sich gegen den Missbrauch der durch ihn garantierten Freiheiten schützen kann. Diese Fragen haben die Autoren der „Neuen Blätter“ angesprochen und sie haben Lösungsansätze aufgezeigt, die dem Verlauf der Geschichte möglicherweise eine andere Bahn gewiesen hätten.

40 Voigt, Antifaschismus. 41 Vgl. ebd., S. 1010.

Zur Rolle von Totalitarismus- und Sozialfaschismus„Theorien“ im Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren* Bernd Faulenbach Totalitarismus-Theorie und Sozialfaschismus-These sind aus heutiger Sicht alles andere als gleichgewichtig. Seit der Epochenwende 1989–1991 spielt die Totalitarismus-Theorie erneut eine erhebliche Rolle in der internationalen wissenschaftlichen Diskussion. Seit den 50er Jahren war sie als Theorie, die bestimmte Erscheinungsformen von Herrschaftssystemen im 20. Jahrhundert unter einem Grundtypus zusammenzufassen suchte, einflussreich, auch wenn seit den 60er Jahren im wissenschaftlichen Raum sich Stimmen erhoben, die mit guten Argumenten die Grenzen und Unzulänglichkeiten dieser Theorie betonten.1 Demgegenüber ist die Sozialfaschismus-These2, die von kommunistischer Seite in den 20er Jahren entwickelt und eine Zeitlang agitatorisch vertreten wurde, nur noch historisch interessant. Es geht hier um die wechselseitigen Wahrnehmungen von deutschen Sozialdemokraten und sowjetorientierten Kommunisten, wobei auch die Rolle der Menschewiki anzusprechen ist.

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Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die korrigierte und aktualisierte Fassung des Aufsatzes von Bernd Faulenbach, Zur Rolle von Totalitarismus- und Sozialfaschismus-„Theorien“ im Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Weimarer Republik. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004, Berlin 2004, S. 98–110. Zur Geschichte der Totalitarismus-Theorie und zur öffentlichen Diskussion vgl. Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997; Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996; Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Hg. von Alfons Söllner, Rolf Walkenhaus und Karin Wieland, Berlin 1997; Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gestalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1989. Zur Sozialfaschismusthese siehe Hermann Weber, „Hauptfeind Sozialdemokratie“: Zur Politik der deutschen Kommunisten gegenüber den Sozialdemokraten zwischen 1930 und 1950. In: Rainer Eckert / Bernd Faulenbach, Halbherziger Revisionismus: Zum postkommunistischen Geschichtsbild, München 1986, S. 25–46.

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Bernd Faulenbach

Die Begriffe Totalitarismus- und Sozialfaschismus-„Theorie“ sollen dabei recht weit gefasst werden. Unter Totalitarismus-„Theorien“ werden hier bezogen auf die zwanziger und frühen dreißiger Jahre Einschätzungen verstanden – die die kommunistisch-bolschewistischen und die faschistischen Politik-Konzepte oder auch die politische Praxis eng aneinander rücken oder – die von einer Zusammenarbeit oder auch einem Zusammenwirken von kommunistisch-bolschewistischer und faschistischer bzw. nationalsozialistischer Politik ausgehen. „Theorien“ dieser Art sind von Sozialdemokraten ansatzweise entwickelt worden, d. h. es sind Gedanken formuliert worden, die man als Frühformen der Totalitarismus-Theorien betrachten kann. Unter Sozialfaschismus-„Theorie“ werden hier Vorstellungen von kommunistischer Seite gefasst, die auf dem Hintergrund der Krise des Kapitalismus die Sozialdemokratie dem Faschismus, der aus kommunistischer Sicht die offene Diktatur des Kapitals zum Ziel hat, zuordneten. Die Sozialdemokratie wird dabei als die eigentliche Stütze des bürgerlich-kapitalistischen Systems bezeichnet, gegen die der Hauptstoß des kommunistischen Proletariats zu richten war. Keine Frage, dass die Sozialfaschismus-„Theorie“ aus heutiger Sicht auch in der damaligen Zeit ganz abwegig war und selbst von kommunistischer Seite vor 1989 als ein Fehler anerkannt worden ist.3 Ungeachtet dieser Einschätzung ist hier die historische Bedeutung dieser Theorie zu erörtern. Generell geht es eben auch um den Realismus sozialdemokratischer und kommunistischer Konzepte und Strategien angesichts des Aufstiegs faschistischer Bewegungen und der Etablierung faschistischer Systeme. Die hier angesprochene Auseinandersetzung verlief auf verschiedenen interdependenten Ebenen und wurde von diversen Faktoren beeinflusst. Zunächst einmal handelte es sich um eine Auseinandersetzung zwischen SPD und KPD, dann um eine zwischen SAI und Komintern, angesichts des besonderen Verhältnisses von KPD und Moskau auch um eine zwischen Sozialdemokratie und Bolschewismus. Dabei wurde die Auseinandersetzung der großen Richtungen der Arbeiterbewegung beeinflusst durch außenpolitische Erwägungen, die die Auseinandersetzung gleichsam überlagerten.4 Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die Sozialdemokratie sich gleichzeitig mit anderen politischen Kräften, insbesondere der bürgerlichen Rechten und der nationalsozialistischen Bewegung auseinanderzusetzen hatte, und für die russische bolschewistische 3

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Vgl. Klaus Kinner, Imperialismustheorie und Faschismusanalyse in KPD und Komintern. In: Helga Grebing / Klaus Kinner (Hg.), Arbeiterbewegung und Faschismus – Faschismusinterpretationen in der europäischen Arbeiterbewegung, Essen 1990, S. 59– 77, insbes. S. 63 f. Vgl. Stefan Feucht, Die Haltung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zur Außenpolitik während der Weimarer Republik (1918–1933), Frankfurt a. M., 1998; Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985; Jürgen Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeption 1917–1933, München 1922, insbes. S. 13 (graphische Darstellung des Beziehungsgeflechts).

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Partei die Fraktionsauseinandersetzungen in der Nach-Lenin Zeit eine Rolle spielten und im Übrigen für Moskau auch das Exil eine Rolle spielte. Bedeutsam ist in diesem Kontext, dass in den 20er Jahren die Menschewiki sich am Sitz der stärksten Partei der zweiten Internationale, bei der deutschen Sozialdemokratie, vorrangig in Berlin, niederließen.5 Eine Reihe führender Menschewiki sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Julius Martow, Eva Brodjo, David Dalin, Raphael Abramowitsch, Fjodor Dan und Boris Nikolaesky. Sie bildeten für die Zeit bis 1933 eine Art „braintrust“ für die entschieden antibolschewistische Russlandpolitik der deutschen Sozialdemokratie. Sie gaben eigene Zeitungen wie die „Mitteilungen der russischen Sozialdemokratie“ heraus. Menschewistische Autoren wie Georg Decker oder Alexander Schifrin spielten im Übrigen eine erhebliche Rolle in den innersozialdemokratischen Diskursen, etwa über den Nationalsozialismus und über die Frage, wie man diesen bekämpfen sollte.6 Die Menschewiki waren dabei politisch keineswegs homogen, ihnen war jedoch ein spezifisches Interesse für die russische Entwicklung gemeinsam. Das Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten ist kompliziert und wurde zudem durch ereignisgeschichtliche Prozesse mitbestimmt. Selbstverständlich können hier nicht alle Ebenen angesprochen werden. Unser Hauptinteresse gilt dem Verhältnis von deutscher Sozialdemokratie und der in enger Beziehung zur bolschewistischen Führung in Moskau stehenden KPD.

Sozialdemokratische Einschätzungen der Entwicklung des Bolschewismus Hier ist nicht die von Uli Schöler u. a. untersuchte Beurteilung der Oktoberrevolution und der Entwicklung in Russland durch die Mehrheitssozialdemokraten und durch die Unabhängigen Sozialdemokraten in Deutschland nachzuzeichnen.7 Dass die führenden Mehrheitssozialdemokraten die Entwicklung schon sehr bald kritisch sahen, und manche Unabhängige Hoffnungen in das russische Experiment – trotz bald unübersehbarer Schattenseiten – setzten, ist nicht näher zu erläutern. Je unbefriedigender die deutsche Entwicklung um so attraktiver erschien für manche der russische Weg. Keine Frage, dass die russi5 6

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Vgl. Karl Schlögel, Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998, S. 80 ff., insbes. S. 89 f.; Leopold Haimson (Hg.), The Mensheviks from the Revolution of 1917 to the Second World War, Chicago 1974. Siehe Georg Decker, Das unbekannte Volk. In: Die Gesellschaft, 7 (1930) 10, S. 288– 303; Alexander Schifrin, Parteiprobleme nach den Wahlen. In: Die Gesellschaft, 7 (1930) 11, S. 395–412. Beide Texte wieder abgedruckt bei Wolfgang Luthardt (Hg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927–1933, Frankfurt a. M. 1978, Band 4, S. 289–292, und 294–309. Uli Schöler, „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? 2 Teilbände, Münster 1990; Peter Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920, Berlin (West) 1967; Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten.

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sche Entwicklung zu einem der Katalysatoren für den Gegensatz von Sozialdemokraten und Kommunisten wurde. Bedeutsam für die Herausbildung einer sehr ablehnenden Haltung, die Bolschewismus und Faschismus aneinanderrückte, war die Eroberung Georgiens durch bolschewistische Truppen. Der Überfall eines kommunistisch regierten Landes auf ein Land mit einer sozialdemokratischen Regierung, die auf der Basis einer parlamentarischen Demokratie gebildet worden war, musste die Sozialdemokratie (wie auch links-sozialdemokratische Richtungen) tangieren. Der Görlitzer Parteitag (18.–24. Sept. 1921) verurteilte „auf das allerschärfste den brutalen Überfall Sowjetrusslands auf die demokratische Republik Georgiens und ihre Vergewaltigung“.8 Seit dem Einmarsch in Georgien wurde – wie Zarusky feststellt9 – der Vorwurf des Imperialismus, der bereits mit dem polnisch-sowjetischen Krieg aufgetaucht war, zu einem Topos der sozialdemokratischen Bolschewismus-Kritik. Karl Kautsky etwa sah einen neuen Imperialismus entstehen und bemühte die Bonapartismus-Theorie zur Erklärung der russischen Entwicklung und Strukturen.10 Was die deutschen Verhältnisse angeht, so kritisierte die Sozialdemokratie früh, dass die KPD mit ihrer Politik dem Rechtsradikalismus nütze, ihm in die Hände arbeite, ja mit ihm Hand in Hand vorgehe. So attackierte etwa der SPDParteivorsitzende Otto Wels 1924 auf dem Parteitag in Berlin das Zusammenspiel von KPD und Rechtsradikalismus. Die Kommunisten trieben das kleine und mittlere Bürgertum und die politisch ungeschulten Arbeiter in die Hände der Reaktion; umgekehrt fördere die Reaktion den Kommunismus: „Das sind die ineinandergreifenden Glieder einer Kette, an denen sich Deutschland wund reibt, und die es schließlich erdrosseln müssen.“11 Gemeinsames Ziel sei die Zerstörung der Republik. Diese Denkfigur, bei der die Begriffe Reaktion, Faschismus und NSDAP ausgetauscht wurden, findet sich vielfach bei Sozialdemokraten. Dabei wurde die Gefahr durch den Faschismus in der deutschen Sozialdemokratie schon in der Zeit von 1922 bis 1924 durchaus ernst genommen. Ein Beispiel dafür ist Paul Kampffmeyer, der bereits 1923 ein kleines Buch über den Faschismus in Deutschland publiziert hat, in dem er vor der faschistischen Gefahr in Deutschland sprach.12 Er führte aus, dass die Nationalsozialisten als deut8

Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Görlitz vom 18. bis 24. September 1921, Berlin 1921, S. 391. 9 Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten, S. 139. 10 Vgl. Karl Kautsky, Georgien: Eine sozialdemokratische Bauernrepublik, Wien 1921, S. 68. 11 Sozialdemokratischer Parteitag 1924. Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1924. 12 Paul Kampffmeyer, Der Faschismus in Deutschland. Berlin 1923. Zur Haltung der Sozialdemokratie gegenüber Faschismus und Nationalsozialismus vgl. außerdem Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Band 3: Der Weg in die Katastrophe 1930–1933, Berlin 1987; Helga Grebing, Auseinanderset-

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sche Faschisten zu betrachten seien, dass es besondere regionale Schwerpunkte des Faschismus gäbe, der die demokratische Freiheit ausschalten und eine diktatorische Herrschaft in Deutschland errichten wolle, die bewusst von bestimmten Kapitalgruppen benutzt werde, um die Arbeiterschaft auszuschalten. Zu erwähnen ist, dass Kampffmeyer entschieden die Taktik der KPD kritisierte, den Antifaschismus lediglich als Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes zu sehen. Kampffmeyer forderte demgegenüber einen verfassungstreuen Republikanismus, der ein Voranschreiten in Richtung auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung ermöglichen sollte. Die Tendenz, angesichts der Gegnerschaft gegen Bolschewismus und Faschismus, die wahrlich beide als Feinde der Republik gelten konnten, diese aneinanderzurücken, ist in der Sozialdemokratie schon in den 20er Jahren erkennbar, wobei die Menschewiki, wie Stellungnahmen von Abramowitsch, Dalin und Dan zeigen, wenn auch nicht uneingeschränkt, diese Einschätzung teilten.13 Prominente Vertreter dieser Position in der deutschen Sozialdemokratie waren Karl Kautsky, Artur Crispien und Otto Wels. Die hier erkennbare Tendenz verschärfte sich nach 1929, woran die Strategie Stalins, der Komintern und der KPD in Deutschland sowie die Entwicklung in Russland erheblichen Anteil hatte. Bevor wir die sozialdemokratische Linie weiterverfolgen, sei die Strategie der KPD näher in den Blick genommen.

Erste Ausformungen der kommunistischen Sozialfaschismus-„Theorie“ Leonid Luks hat in seiner Untersuchung der Faschismusanalysen der Komintern gezeigt, dass paradoxerweise zu Beginn der 20er Jahre auch von einigen Kominterntheoretikern eine Totalitarismustheorie vertreten wurde.14 So schrieb ein kommunistischer Autor, der sich des Kürzels „P. O.-i“ bediente, im November 1922: „Der Faschismus und der Bolschewismus haben gemeinsame Kampfmethoden. Beiden ist es gleichgültig, ob die eine oder andere Handlung gesetzlich oder ungesetzlich, demokratisch oder nicht demokratisch [...] ist. Sie gehen

zung mit dem Nationalsozialismus. In: Luthardt (Hg.): Sozialdemokratische Arbeiterbewegung, Band II, S. 259–379; Wolfgang Pyta, Gegen Hitler und für die Republik, Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989; Bernd Faulenbach, Die Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit dem Nationalsozialismus. In: Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Antifaschismus. Geschichte und Nachbewertung. Hg. von Claudia Keller und der literaturWERKstatt Berlin, Berlin 1996, S. 92–103. 13 Vgl. Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten, S. 50 ff. 14 Vgl. Leonid Luks, Kommunistische Faschismusanalyse in KPD und Komintern. In: Grebing/ Kinner (Hg.), Arbeiterbewegung und Faschismus, S. 78–93; ders., Einsichten und Fehleinschätzungen: Faschismusanalyse der Komintern 1921–1928. In: Die Nacht hat zwölf Stunden, S. 77–92.

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auf ihr Ziel los, treten Gesetze mit Füßen [...] und unterordnen alles ihrer Aufgabe. [...] Zweifellos schweben viele von den russischen Bolschewiki eingeführten Neuerungen wie Bakterien in der Luft und werden willkürlich von den schlimmsten Feinden Russlands nachgeahmt.“15 Die gemeinsame Verachtung der Rechtsstaatlichkeit ist sicherlich zutreffend gesehen. In ähnlicher Weise wie der genannte Autor äußert sich auch Nikoloj Bucharin: „Es ist charakteristisch für die Kampfmethoden der Faschisten, dass sie sich mehr als irgendeine andere Partei die Erfahrung der Russischen Revolution zunutze gemacht haben. Wenn man sie formal, das heißt vom Standpunkt der Technik ihres politischen Vorgehens, betrachtet, entdeckt man darin bei ihnen eine genaue Kopie der bolschewistischen Taktik, wie z. B. die schnelle Konzentrierung der Kräfte, die Schaffung einer kraftvollen Militärorganisation, die erbarmungslose Vernichtung des Gegners, sobald es nötig ist und die Umstände es erfordern.“16 Diese Einschätzung, die man aus heutiger Sicht als nur teilweise zutreffend bezeichnen wird (zwar lehnten Faschisten und Nationalsozialisten die bisherige Ordnung radikal ab, warben aber doch auch um die Träger der alten Staatsgewalt bzw. die alten Eliten), so ist diese Annahme von gleichen Methoden doch aufschlussreich für den Politik-Begriff mancher Kommunisten. Gab es in der Komintern anfangs teilweise durchaus ein Bewusstsein von der Gefahr durch eine rechtsextreme antimarxistische „faschistische“ Massenbewegung, so wurde der Begriff „Faschismus“ seit 1923 immer häufiger auf beliebige Gegner der Kommunisten übertragen. Am 3. November 1923, nach der Oktoberniederlage der deutschen Kommunisten, erklärte die KPD-Führung unter Brandler und Thalheimer, dass der „faschistische“ General von Seeckt im Auftrag der „faschistischen“ Großbourgeoisie die bürgerliche Demokratie in Deutschland besiegt habe.17 Grigorij Sinowjew, der Vorsitzende der Komintern, wollte gar im November 1923 in den demokratischen deutschen Parteien, vor allem auch der SPD, nur Teile des regierenden „faschistischen Blocks“ in Deutschland sehen: „Nicht nur Seeckt, sondern auch Ebert und Noske sind verschiedene Spielarten des Faschismus.“18 Auf der 13. Parteikonferenz der Bolschewiki im Januar 1924 attackierte Sinowjew die Sozialdemokraten gar mit den Worten: „Wenn die Sozialdemokratie zu einem Flügel des Faschismus geworden ist, dann muss man sie an der Kehle packen, dann muss man auf jede Verhandlung mit Ihren Spitzen verzichten [...] Worin besteht das Neue in der internationalen Arbeiterbewegung? Darin, dass die Sozialdemokratie zu einem Flügel des Faschismus geworden ist.“19 Auch der V. Kongress der Komintern im Juni 1924 bezeichnete die Sozialdemo15 P. O.-I, Der Faschismus. In: Kommunistische Internationale vom 1.11.1922, S. 98. Zit. nach Luks, Einsichten und Fehleinschätzungen, S. 83 und 91. 16 Zit. nach Luks, S. 83. 17 Die Stellung der Kommunistischen Partei Deutschlands zur gegenwärtigen Lage in Deutschland. In: Internationale Pressekorrespondenz vom 7.11.1923, S. 1457 f. 18 Grigorij Sinowjew, Der Deutsche Koltschak. In: ebd. vom 20.12.1923, S. 1540. 19 In: ebd. vom 4. 2.1924, S. 170.

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kratie als „linken Flügel des Faschismus“ – eine Einschätzung, die für die Sozialdemokratie ebenso unsinnig war wie für den Faschismus.20 Auch Stalin kennzeichnete 1924 die Sozialdemokratie als „gemäßigten Flügel des Faschismus“; Sozialdemokraten waren aus seiner Sicht „Zwillingsbrüder der Faschisten“.21 Selbst wenn es noch Unklarheiten über das Wesen des Faschismus gegeben haben mag, so ist die diffamierende Tendenz gegenüber der Sozialdemokratie offensichtlich. In den folgenden Jahren trat diese These in der Komintern zurück, während wieder stärker über die Frage rechtsextremer Massenbewegungen gesprochen wurde.22 1928/29 jedoch veränderte sich die Situation erneut. Jetzt entwickelte die Komintern die Sozialfaschismus-These. Nun avancierte die Sozialdemokratie zum Hauptfeind, verbunden damit war der Kampf gegen die parlamentarische Republik und für die Diktatur des Proletariats, Ziel war die Schaffung Sowjetdeutschlands. Das ZK der KPD erklärte 1929 die Sozialdemokraten zu sozialfaschistischen Agenten, die Sozialdemokratie war – so formulierte die „Rote Fahne“ das Zentralorgan der KPD, am 13. April 1929 – „der breite Sturmbock des Faschismus und des Imperialismus“.23 Weitere Beispiele lassen sich nennen. Die Hauptstoßkraft sollte gegen den Faschismus, sowohl gegen den National- als auch den Sozialfaschismus gerichtet werden, hieß es 1930 und dieser Linie blieb die KPD, abgesehen von einer kurzen Phase im Frühjahr 1932, als eine taktische Variante vorgezogen wurde, bis in das Jahr 1933 in völliger Verkennung der Konstellation treu. Die XII. Tagung des Exekutivkomitees der kommunistischen Internationale ging im August 1932 von einer raschen Zuspitzung der revolutionären Krise aus und – so formulierte der DDR-Historiker Klaus Kinner 1989 – „orientierte auf die Brechung des Einflusses der sozialdemokratischen Führung als vordringliche Aufgabe.“24 Im Oktober 1932 bekräftigte die Parteikonferenz, der Hauptschlag sei gegen die Sozialdemokratie, „diese Hauptstütze der Bourgeoisie“ zu führen.25 Zwei Tage vor der NS-Machtübernahme, d. h. am 28. Januar 1933, hat ein Rundschreiben an die Funktionäre noch einmal diese Linie akzentuiert. Dieser Einschätzung entsprach auch die konkrete Politik der KPD. Erinnert sei an die Gewerkschaftspolitik, an die – unmittelbar von Stalin veranlasste – Unterstützung des von der Rechten angestrengten Volksentscheides in Preußen im August 1931, an den Berliner Verkehrsarbeiterstreik im November 1932. Selbst im Mai 1933 blieb das ZK der KPD bei der Behauptung, die SPD sei die „soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur“, und noch Ende 1933 schrieb 20 21 22 23

Zit. nach Luks, Einsichten und Fehleinschätzungen, S. 88. Josef W. Stalin, Werke. Band 6, Berlin (Ost) 1952, S. 253. Vgl. Luks, Einsichten und Fehleinschätzungen, S. 88 f. Zit. nach Hermann Weber, Der deutsche Kommunismus, Köln 1963, S. 183; vgl. ders., „Hauptfeind Sozialdemokratie“, S. 26 ff. 24 Kinner, Imperialismustheorie und Faschismusanalyse, S. 68. 25 Zit. nach Weber, „Hauptfeind Sozialdemokratie“, S. 33.

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der KPD-Führer Fritz Heckert, der Kampf müsse gegen die SPD geführt werden; sie sei „auch heute noch die Hauptstütze, bis wir sie isoliert und die Partei zertrümmert haben.“26 Diese Strategie, die die historische Konstellation völlig verkannte, ist nur schwer zu erklären. Sicherlich wurde die KPD, die mit ihrem Putschismus den Rechtsstaat schon in den frühen 20er Jahren herausgefordert hatte, vom Weimarer Staat bekämpft. Doch wird man Hermann Weber wohl zustimmen müssen, wenn er darin nicht die eigentliche Ursache für die verhängnisvolle Gleichsetzung von Demokratie und Faschismus sieht, obgleich er einräumt, dass das Verhalten der staatlichen Organge die Durchsetzung dieser Linie erleichtert habe.27 Wesentliche Ursachen wird man vielmehr mit Weber in Moskau sehen müssen, wo die Durchsetzung der Politik Stalins, seine rücksichtslose Politik gegen andere Traditionen, auch die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung, Erwägungen zu Gunsten der kommunistischen Arbeiterbewegung in Deutschland den Vorrang gab. Im Übrigen hat für die kommunistische Strategie eine durch eine dichotomische Weltsicht verzerrte Wahrnehmung der Realität eine Rolle gespielt, die durch ideologische Argumentationen zusätzlich begründet wurde.

Sozialdemokratische Gleichsetzungen von Bolschewismus und Faschismus Die Entwicklung in der Sowjetunion wurde von der Sozialdemokratie und der sozialistischen Arbeiterinternationale – unter nicht unwesentlicher Beteiligung der Menschewiki, „die bis 1933 als eine Art ‚Brain trust‘ für die entschieden antibolschewistische Russlandpolitik der deutschen Sozialdemokratie“ bildete28 – mehr oder weniger aufmerksam verfolgt und teilweise zum politischen Argument gegen die Kommunisten, nicht zuletzt gegen die KPD gemacht. Entsetzt waren die Sozialdemokraten über die Brutalität, mit der Stalin den neuen Kurs durchsetzte. Die massenhaften Hinrichtungen erreichten ein seit dem Bürgerkrieg nicht mehr festgestelltes Ausmaß. Sehr kritisch gesehen wurde auch die Absetzung des Gewerkschaftsvorsitzenden Tomsky. Die Sozialdemokratische Parteikorrespondenz kommentierte am 7. Juli 1929: „Die Entartung der Parteidiktatur in die persönliche Diktatur des russischen Duce [womit auf die zunehmende Führerrolle und den beginnenden Stalin-Kult und seine phänomenologische Ähnlichkeit mit dem faschistischen Führertum angespielt 26 Fritz Heckert, Ist die Sozialdemokratie noch die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie?, Basel 1933, S. 15. Vgl. auch Weber, „Hauptfeind Sozialdemokratie“, S. 27. 27 Vgl. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1969; ders., „Hauptfeind Sozialdemokratie“, S. 34. 28 Schlögel, Berlin Ostbahnhof Europas, S. 89; vgl. auch Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten, S. 126 ff.

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wurde, B. F.] führte unvermeidlich zum Verlust des letzten Schattens von Gewerkschaftsautonomie.“29 Der rechte Flügel der Menschewiki schlug in dieser Phase der SAI eine planmäßige Kampagne gegen Terror, religiöse Verfolgungen, die Unterdrückung der Arbeiter, gegen das gesamte System der bolschewistischen Diktatur und ihrer Politik der utopischen Experimente vor. Doch wollte die Mehrheit der Menschewiki mehr von Fall zu Fall Kritik üben. Auch ist nicht zu verkennen, dass mancherorts das russische Experiment auch in Teilen der Sozialdemokratie und der SAI noch mit gewissem Wohlwollen gesehen wurde, so dass eine derartige Kampagne nicht zustande kam.30 In der deutschen Sozialdemokratie erhoben sich in dieser Phase freilich Stimmen, die entschieden das bolschewistische System kritisierten und Affinitäten zwischen dem Bolschewismus und dem Faschismus glaubten feststellen zu können. Ein wichtiger Repräsentant dieser Kritik war nach wie vor Karl Kautsky, der 1930 das Buch publizierte „Der Bolschewismus in der Sackgasse“.31 Seine Maßstäbe bei der Beurteilung politisch-gesellschaftlicher Systeme waren politische Freiheit, bürgerliche Rechte, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für alle, Mehrparteiensystem und Organisationsfreiheit für das Proletariat und die arbeitenden Schichten. Kautsky ging in seiner Kritik über die Warnung vor einer bonapartistischen Diktatur als Deformation der kommunistischen Diktatur hinaus, indem er kommunistische und faschistische Diktatur gleichsetzte. „Der Faschismus“ – so schrieb er – „ist aber nichts als das Gegenstück des Bolschewismus, Mussolini nur der Affe Lenins.“32 Auf diesem Hintergrund plädierte er für eine Strategie, die ähnlich der des rechten Flügels der Menschewiki war. Er forderte ein Bündnis zwischen Arbeitern, demokratisch und sozialistisch gesinnten Intellektuellen und Bauern, das aus seiner Sicht unbedingt nötig war, um den von ihm erwarteten Aufstand in die richtige Richtung zu lenken. Insgesamt gesehen war die Betonung der Verwandtschaft von Bolschewismus und Faschismus durch Kautsky bedeutsam für die Einschätzung beider Phänomene in der deutschen Sozialdemokratie der frühen Dreißiger Jahre. Zweifellos wurde die negative Einschätzung der Entwicklung in Russland verstärkt durch bestimmte Ereignisse wie der sogenannte Menschewisten-Prozess in Moskau im November/Dezember 1930, in dem laut Anklageschrift als eigentliche Angeklagte nicht die vor Gericht stehenden Ingenieure, sondern Otto Wels, Fritz Adler, Rudolf Hilferding zu betrachten waren. Die Sozialdemokratie wehrte sich verständlicherweise gegen die nur auf dem Hintergrund der Sta29 Die Stalinisierung der russischen Gewerkschaften. In: Sozialdemokratische Parteikorrespondenz Nr. 7 von Juli 1929. 30 Vgl. Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten, S. 262 ff. 31 Karl Kautsky, Der Bolschewismus in der Sackgasse, Berlin 1930. Eine Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus findet sich auch in: ders., Demokratie oder Diktatur, Berlin 1920. 32 Ebd., S. 102.

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linschen Strategie gegen die Sozialdemokratie erklärbaren Attacke. U. a. veranstaltete sie Anfang März 1931 eine Großkundgebung im Sportpalast unter dem Motto „Gegen Gewalt und Justizmord“, die sich gegen Bolschewismus und Faschismus gleichermaßen richtete.33 Auf der von mehr als 20 000 Menschen besuchten Kundgebung sprachen Pietro Nenni und Raphael Abramovitsch, wobei letzter den Menschewiki-Prozess thematisierte. Otto Wels, der SPD-Parteivorsitzende, hob in seiner Eröffnungsrede hervor, dass faschistische und bolschewistische Diktatur, die viele Berührungspunkte aufwiesen, gemeinsam auf der Anklagebank des internationalen Proletariats säßen. Und Abramovitsch formulierte: „In dem Augenblick, wo die internationale Arbeiterklasse im Entscheidungskampf gegen den Faschismus steht und mehr denn je ihre ganze Energie, ihre ganze Konzentrationsfähigkeit braucht, springt der Bolschewismus diesem seinem Verbündeten bei und spaltet die Arbeiterklasse durch diesen unglückseligen verhängnisvollen Prozess.“34 Keine Frage, dass der Menschewiki-Prozess – wie Zarusky feststellt35 – der „vorläufige Höhepunkt der 1928 begonnenen verschärften Kampagne gegen die Sozialdemokratie“ war, auf die die Sozialdemokratie ihrerseits mit Gegenangriffen antwortete, bei denen die bolschewistische und faschistische Diktatur eng aneinander rückte. Auf dem Leipziger Parteitag der SPD 1931 war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine der zentralen Fragen. Der Wahlerfolg der Nationalsozialisten im September 1930 zwang die Sozialdemokraten, dieses Thema aufzugreifen. Bei der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten, die für die SPD – anders als für die KPD – klar Vorrang hatte, tauchte irgendwo stets auch die Frage des Verhältnisses zur KPD auf und sie wurde durchweg ebenfalls im Sinne einer Gegnerschaft beantwortet. So machte Otto Wels in seiner Eröffnungsrede zwischen Bolschewismus und Faschismus keinen großen Unterschied; sie waren für ihn „Brüder“.36 Und auch in der großen Rede des SPDFraktionsvorsitzenden Rudolf Breitscheid zur Frage der Überwindung des Faschismus, in der er die Ursachen des Nationalsozialismus zu ergründen und eine Strategie zu seiner Bekämpfung zu entwickeln versuchte, wurden bolschewistische und faschistische Diktatur in einer wichtigen Passage miteinander verglichen.37 Breitscheid verstand unter Faschismus eine Staatsform oder die Bewegung zu einer Staatsform, die im Gegensatz zur Demokratie die oberste Gewalt im Staate und das Recht zu politischer Willensbildung nicht der Gesamtheit der gleichberechtigten Staatsbürger, sondern einem Einzelnen oder einer bevorzug33 34 35 36

Vgl. Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten, S. 268 ff. Zit. nach ebd., S. 273. Ebd. Sozialdemokratischer Parteitag in Leipzig 1931 vom 31. Mai bis 5. Juni im Volkshaus. Protokoll 1931, S. 19. 37 Rudolf Breitscheids Rede „Die Überwindung des Faschismus“ vom 2. Juni 1931 auf dem Parteitag der SPD in Leipzig. Wieder abgedruckt in Luthardt, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik, S. 326–354.

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ten Minderheit zuerkennt. Auch in der Diktatur des Proletariats in Russland war aus Breitscheids Sicht eine freie politische Willensbildung der Gesamtheit der Staatsbürger nicht gegeben, ja nicht einmal die der Gesamtheit des Proletariats oder des zu einer Parteiorganisation zusammengefassten Teils des Proletariats; tatsächlich herrsche eine privilegierte Minderheit. Breitscheid konstatierte deshalb: „Von der staatsrechtlichen Wirkung aus gesehen gibt es [...] keinen Unterschied zwischen Moskau und Rom.“ In diesem Kontext bezeichnete es der Sozialdemokrat als keineswegs zufällig, „dass die Regierungen Stalins und Mussolinis in verhältnismäßiger Freundschaft miteinander leben“, eine Freundschaft, die zum Teil darauf zurückzuführen sei, „dass hier Regierungsformen bestehen, die im Grunde von derselben Idee, wenn auch mit anderen Vorzeichen getragen sind“: Die Differenz liege nur in den Klassen, die auf der einen oder anderen Seite die Herrschenden stützen, und in ihrer Zielsetzung: Während in Russland die Demokratie im Namen der Arbeiterklasse bekämpft werde, wende sich der Faschismus „gegen die Demokratie – ausgesprochen oder nicht – im Interesse der Erhaltung des Kapitalismus.“38 Da für die Sozialdemokratie die Demokratie unbedingt zu verteidigen war, erschienen ihnen Faschismus und Bolschewismus gleichermaßen als Feinde. Erwähnt werden sollte an dieser Stelle, dass menschewistische Emigranten, insbesondere der unter dem Pseudonym Georg Decker schreibende Georg Jury Denicke und Alexander Schifrin wesentliche Beiträge zur sozialdemokratischen Diskussion über die Ursachen des Erfolgs der Nationalsozialisten beisteuerten, in denen der hier angesprochene Zusammenhang jedoch meist nur am Rande vorkam.39 Schifrin, der dem Kampf gegen den Nationalsozialismus absolute Priorität einräumte und darauf die SPD zu orientieren suchte, sprach 1930 von einem Sperrfeuer, dass NSDAP, KPD und Zentrum um die Sozialdemokratie gelegt hätten und die Sozialdemokratie auf sich selbst verweise.40 Im Übrigen konstatierte er, dass die NSDAP von der Verhetzung der Wählerschaft durch die KPD profitiere, so dass die Gefahr bestünde, dass das Dritte Reich und Sowjetdeutschland als massenpsychologische Koordinaten fungierten. Keine Frage, dass in der Ablehnung von Weimar die Angriffe von NSDAP und KPD kumulierten und den Abwehrkampf der Sozialdemokratie erschwerten. Zugleich aber wollte Schifrin bei Ähnlichkeit von Struktur und Technik von bolschewistischer und faschistischer Diktatur doch eine unterschiedliche Stellung und Funktion der beiden Diktaturen annehmen: Realisierte sie in dem einen Fall die sozialistische Revolution, so war die andere „nur eine Form des politischen Überbaus des Kapitalismus“. Selbstverständlich hat die Sozialdemokratie gemeinsame Aktionen bzw. die partielle Zusammenarbeit bei ansonsten vorherrschender scharfer Gegensätz38 Ebd., S. 327 f. 39 Vgl. die Beiträge von Decker, „Das unbekannte Volk“, und Schifrin, Parteiprobleme nach den Wahlen. 40 Alexander Schifrin, Parteiprobleme nach den Wahlen. In: Luthardt (Hg.), S. 294–309, insbes. 303 ff.

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Bernd Faulenbach

lichkeit von KPD und NSDAP heftig kritisiert. Otto Wels etwa geißelte die Beteiligung der Kommunisten am Volksentscheid der sogenannten „Nationalen Opposition“ über die Auflösung des preußischen Landtages, bei der kommunistische Arbeiter neben „Hakenkreuzbanditen“ vor den Wahllokalen gestanden hätten.41 Nach der Reichspräsidentenwahl 1932 beschuldigte Wels die Kommunisten, im zweiten Wahlgang in erheblicher Zahl für Hitler gestimmt zu haben. Die hier erkennbare scharfe Frontstellung gegen Nationalsozialisten und Kommunisten zeichnete auch die Kundgebungen des Reichsbanners und der Eisernen Front aus. Den Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten angesichts des Vordringens der NS-Bewegung zu überwinden, gelang nicht. Sowohl Versuche von Breitscheid und Stampfer, Ende 1931 zu einem Defensivbündnis zu kommen, als auch Kontakte der SPD über die sowjetische Botschaft im Herbst 1932 blieben ergebnislos.42 Erst seit 1935 trat diese Strategie der Komintern in den Hintergrund. Der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wurde aber selbst in Widerstand und Exil nur sehr bedingt überwunden und brach in der Nachkriegszeit – im Zeichen des Ost-West-Konfliktes – erneut aus.

Zusammenfassung Resümierend lässt sich zur Rolle der Frühformen der Totalitarismustheorie auf der einen Seite und der Sozialfaschismusthese auf der anderen Seite im Kontext der Weimarer Zeit dreierlei feststellen: 1) Die Scheidelinie zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in Deutschland war aus sozialdemokratischer Sicht in den 20er und 30er Jahren in erster Linie die Frage der Bejahung oder Verneinung der Demokratie mit parlamentarischem System, Parteienpluralismus, Grundrechten usw. Jenseits der Scheidelinie befanden sich dabei nicht nur die Kommunisten, sondern auch die Faschisten/Nationalsozialisten, die tatsächlich beide die Weimarer Republik mit allen Mitteln – punktuell auch in Zusammenarbeit – bekämpften. Dies war der Hintergrund für die Entstehung von Interpretationen, die faschistisches und bolschewistisches System eng aneinander rückten, ohne dass freilich Affinitäten und Beziehungen genauer gefasst wurden. Allerdings war diese Totalitarismus-„Theorie“ noch nicht sehr ausgearbeitet; in elaborierter Form entstand sie erst ab Mitte der 30er Jahre und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg.43 Trotz mancher Grenzen dieser Theorie, die seit den 41

Vgl. Hans A. J. Adolph, Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894–1939, Berlin (West) 1971, S. 226 ff. 42 Vgl. Winkler, Der Weg in die Katastrophe. 43 Vgl. etwa Alfons Söllner, Sigmund Neumanns „Permanent Revolution“. Ein vergessener Klassiker der vergleichenden Diktaturforschung. In: Totalitarismus, S. 53–73; Clemens Vollnhals, Der Totalitarismusbegriff im Wandel. In: APuZ, 39/2006, S. 21– 27, hier 23.

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60er Jahren betont worden sind, wird man insbesondere hinsichtlich des Herrschaftssystems und der Herrschaftstechnik, auch der gemeinsamen Feindschaft gegen Demokratie und offene Gesellschaft Affinitäten zwischen kommunistisch-stalinistischen und faschistischen Systemen annehmen, die einen Vergleich sinnvoll und die Totalitarismus-„Theorie“ heuristisch bedeutsam erscheinen lassen, auch wenn daneben beträchtliche ideologische und gesellschaftliche Gegensätze nicht zu übersehen sind und selbst die Herrschaftssysteme signifikante Unterschiede aufweisen. 2) Die Verteidigung der parlamentarischen Demokratie wurde den Sozialdemokraten von den Kommunisten umgekehrt negativ angelastet, was die sozialdemokratische Sicht indirekt bestätigt. Die Sozialdemokraten zugleich jedoch als Sozialfaschisten zu bezeichnen, war auch aus der Sicht der Zeitgenossen kaum nachvollziehbar. Gemeint war, dass Sozialdemokraten wie Faschisten die Funktion ausübten, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft mit Gewaltmitteln zu verteidigen, was im Hinblick auf beide in Programm und Zielsetzung sehr gegensätzlichen Parteien abwegig war. 3) Auf jeden Fall war die Strategie Stalins und der Komintern, den Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie zu führen, politisch unsinnig. Sie hatte ungeachtet der Totalitarismus-„Theorie“ der Sozialdemokratie in deren Strategie keine Entsprechung: für die Sozialdemokraten hatte der Kampf gegen die Nazis eindeutig Vorrang. Die kommunistische Strategie in Deutschland resultierte aus einem ausgesprochenen Voluntarismus und war stark geprägt durch Kalküle und Interessen Stalins und der Führung in Moskau. Sie nützte Hitler und seiner nationalsozialistischen Bewegung. Sie war allerdings nicht nur Ausdruck einer grotesken Fehleinschätzung der Lage in Deutschland durch Stalin, die Komintern und die KPD-Führung. Hinter der SozialfaschismusThese stand keineswegs nur eine falsche Strategie; sie war vielmehr zugleich Ausdruck der Ablehnung von Demokratie. Die Beschäftigung mit der Geschichte von Totalitarismus – und Faschismus„Theorien“ lässt erkennen, dass Ansätze zu derartigen Theoriebildungen in konkreten historisch-politischen Kontexten zu betrachten sind. Gerade dies aber ermöglicht Aussagen über ihren Realitätsgehalt und ihre konkrete Funktion. Die hier skizzierten beiden Varianten lassen dabei die Spannbreite des Möglichen erkennen. Zugleich sind sie aufschlussreich für Politikbegriffe und Wertorientierungen.

II. Konzeptualisierungen im Exil (1933 bis 1945)

Option für den Westen. Rudolf Hilferding, Curt Geyer und der antitotalitäre Konsens Rainer Behring Die historische und politikwissenschaftliche Erforschung des Totalitarismus wie überhaupt der diktatorischen Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts befasst sich, soweit sie vergleichend oder mit dem Anspruch auf Typenbildung vorgeht, weithin primär mit den inneren Strukturen von Diktaturen: Die Entstehung von Herrschaftssystemen, ihr Ausbau und ihre Sicherung gegen oppositionelle Strömungen, die Funktion von Einheitsparteien und Massenorganisationen, Ideologien und Propaganda sowie allgemein die Methoden zur Formierung und Mobilisierung von Gesellschaften, kurzum die Techniken der Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Herrschaft stehen im Zentrum des Interesses der Totalitarismusforschung. Diesen Sachverhalt kennzeichnen exemplarisch die klassischen sechs Merkmale totalitärer Diktaturen, die Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski in den fünfziger Jahren formuliert haben – eine ausgearbeitete Ideologie, eine einzige Massenpartei, ein Terrorsystem, ein Monopol über die Kontrolle der gesamten Massenkommunikation, desgleichen über die Verwendung sämtlicher Kampfwaffen, schließlich eine zentral gelenkte und kontrollierte Wirtschaft. Immerhin verwiesen Friedrich und Brzezinski nachrangig auch auf „das Problem der Expansionspolitik“, die „als charakteristische Eigenschaft des Totalitarismus bezeichnet“ worden sei.1 Sie widmeten den Erscheinungsformen und Charakteristika totalitärer Außenpolitik sogar ein eigenes Kapitel ihrer wegweisenden Untersuchung, in dem sie sowohl das ideologisch fixierte Streben nach der Eroberung potentiell der ganzen Welt und die Bereitschaft zum Kampf um die Weltherrschaft als geradezu „natürliche Tendenz“ totalitärer Herrschaft herausstellten als auch das Postulat erhoben, das friedliche Zusammenleben der Völker erfordere gleichsam sachlogisch das Verschwinden totalitärer Diktaturen: Weil diese Systeme explizit auf ihre weltweite Ausdeh-

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Carl J. Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy. Second edition, revised by Carl J. Friedrich, Cambridge, Mass. 1965 [Erstauflage 1956], S. 22 f. Auszug in deutscher Übersetzung: Carl Joachim Friedrich/Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur. In: Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 225–236, hier 230 f.

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nung abzielten, bleibe denjenigen, die sie ablehnten, letztlich keine Alternative, als ihrerseits nach deren Vernichtung zu streben.2 Solche Einsichten fanden in der Totalitarismusforschung wenig Resonanz. Das dürfte nicht zuletzt mit der schlichten Tatsache zusammenhängen, dass Friedrich und Brzezinski sich trotz ihrer Beobachtungen und ohne weitere Begründung nicht dazu entschließen konnten, die Expansionspolitik in ihren Merkmalkatalog aufzunehmen und so mit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Bei Juan Linz, einem anderen einflussreichen Analytiker totalitärer und autoritärer Herrschaft, treten die expansiven Tendenzen totalitärer Außenpolitik vollends in den Hintergrund und werden nicht zu den zentralen Kennzeichen totalitärer Systeme gezählt.3 Dementsprechend findet sich in Definitionsversuchen zum Begriff des Totalitarismus in der Regel bis heute kein Hinweis auf eine spezifische, expansive Außenpolitik,4 und in einschlägigen Sammelbänden zum Stand der Totalitarismusforschung bleibt die Suche nach Beiträgen zum Verhalten totalitärer Diktaturen auf dem Felde der internationalen Beziehungen vergeblich.5 Kennzeichnend für das einschlägige Desinteresse der vergleichenden Diktaturforschung ist der jüngste deutschsprachige Forschungsbericht von Detlef Schmiechen-Ackermann über „Diktaturen im Vergleich“, in dem von der Außenpolitik oder dem Grad von Kriegsbereitschaft diktatorischer Herrschaftsformen als Untersuchungsgegenstand gar nicht erst eigens die Rede ist.6 Dies ist um so erstaunlicher, als sowohl Zeitgenossen als auch Historikern die besondere expansive und auch im Bereich der internationalen Politik aggressive Qualität der beiden wirkmächtigsten totalitären Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts nicht entgangen ist. Die Ausbreitung des Sowjetkommunismus mit grundsätzlich weltrevolutionärem Anspruch stellte für die bolschewistische Diktatur ein ebenso wesentliches Ziel dar wie die Eroberung von Raum für die nationalsozialistische.7 Daran ändert die charakteristische Doppelgesichtigkeit der sowjetischen Außenpolitik, ihr Oszillieren zwischen friedlicher Koexistenz

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Friedrich/Brzezinski, Totalitarian Dictatorship, ch. 27: The Foreign Policy of Expansion, S. 353–366, hier 360 f., 365. Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes. In: Handbook of Political Science. Vol. 3: Macropolitical Theory. Ed. by Fred I. Greenstein/Nelson W. Polsby, Reading, Mass. 1975, S. 175–411, hier 191 f., 194 f. Nur ein beliebiges Beispiel: Günter Rieger, Totalitarismus. In: Dieter Nohlen (Hg.), Kleines Lexikon der Politik, 2. Auflage München 2002, S. 518 f. Vgl. etwa Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968; Ian Kershaw/Moshe Lewin (Hg.), Stalinism and Nazism: Dictatorships in Comparison, Cambridge 1997; Jesse (Hg.), Totalitarismus. Detlef Schmiechen-Ackermann, Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2002. Zur nationalsozialistischen, mit rassistisch motivierten Vernichtungsabsichten und -verbrechen unauflöslich verbundenen Außenpolitik vgl. nur den Forschungs- und Literaturüberblick bei Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, 6. neubearbeitete Auflage München 2003, S. 253–290 und 383–417.

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und brutaler Expansion,8 ebenso wenig etwas wie die Tatsache, dass die Sowjetherrscher auf der internationalen Bühne in der Regel weitaus rationaler und vorsichtiger agierten als Adolf Hitler, dass sie vor dem „großen Krieg“ zumal mit den Vereinigten Staaten zurückschreckten und nicht auf militärische Expansion um jeden Preis ausgingen. Bereits „Lenins revolutionäres Sowjetregime war ein Kriegsregime [...], war auf die Weltrevolution, auf den Kampf gegen innere und äußere Feinde angelegt“,9 und unter der Herrschaft Stalins verband sich die ideologisch motivierte Expansionsbereitschaft mit einer territorialen Ausdehnungspolitik in der Tradition des zaristischen Imperialismus.10 Das nationalsozialistische Deutsche Reich und die bolschewistische Sowjetunion verfolgten ihre außenpolitischen Ziele zumindest zeitweilig mit erheblichem Erfolg, und in beiden Fällen war die territoriale Expansion mit systematisch begangenen Verbrechen an Leib und Leben der betroffenen Bevölkerungen verbunden, darüber hinaus mit Kriegen und politischen Verbrechen. Dieser Wesenszug totaler Herrschaft, der zeitlich im Zweiten Weltkrieg und räumlich in Ostmittel- und Osteuropa kulminierte,11 erforderte in den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von demokratischen Politikern und totalitarismuskritischen Analytikern ebensoviel, ja tatsächlich mehr Aufmerksamkeit als das Problem der inneren Strukturen von Diktaturstaaten. Denn der außenpolitischen Herausforderung musste gedanklich und handelnd begegnet werden, wenn die Freiheit als Grundvoraussetzung politischer Tätigkeit überhaupt Bestand haben sollte. Niemand unter den linken Kritikern des Totalitarismus dürfte den durch die Umstände gebotenen Vorrang von Außenpolitik und Kriegführung gegenüber Fragen der inneren Ordnung von Gesellschaften, aber auch den unaufhebbaren Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik eines Staates im Rahmen eines weltweiten Kampfes um die Bewahrung freiheitlicher Lebensformen hellsichtiger und präziser zum Ausdruck gebracht haben als die sozialdemokratischen deutschen Exilpolitiker Rudolf Hilferding und Curt Geyer. Nach recht unterschiedlichen politischen Lebenswegen – hier der aus Österreich stammende 8 Adam B. Ulam, Expansion and Coexistence. The History of Soviet Foreign Policy, 1917– 67, New York 1968. Zahlreiche Beiträge zu Struktur und Zielsetzung sowjetischer Außenpolitik bis zum Einmarsch in Afghanistan bietet der Sammelband von Erik P. Hoffmann/Frederic J. Fleron, Jr. (Hg.), The Conduct of Soviet Foreign Policy, New York 1980. 9 Gerhard Simon / Nadja Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, München 1993, S. 19. Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, passim, verweist auf den Zusammenhang von Krieg, Expansionspolitik und Terror in der Geschichte der Sowjetunion und bemerkt: „Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Tod Stalins im März 1953 befand sich das Vielvölkerreich im permanenten Kriegszustand“ (S. 15 f.). 10 Zusammenfassend Georges-Henri Soutou, La guerre de Cinquante Ans. Le conflit EstOuest 1943–1990, Paris 2001, S. 33–47. 11 Vgl. dazu den Überblick von Dietrich Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000.

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Arzt, Finanztheoretiker und zeitweilige Reichsminister, der auch als USPD-Mitglied aus seiner Ablehnung der Sowjetherrschaft keinen Hehl gemacht hatte, dort der um 14 Jahre jüngere Staatswissenschaftler und Historiker, der vorübergehend der „revolutionären Illusion“ angehangen hatte und über den linken Flügel der USPD bis in den Vorstand der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands vorgedrungen war, ehe er wieder in die SPD zurückkehrte und dort als Parteiredakteur diente – fanden sie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zusammen, um im Neuen Vorwärts, dem Exilorgan der SPD, und in verschiedenen anderen Publikationen und Aufzeichnungen ihre Analysen der Entwicklungen von nationalsozialistischer und sowjetkommunistischer Herrschaft unter besonderer Berücksichtigung ihrer außenpolitischen Zielstrebigkeit und kriegerischen Gewalttätigkeit darzulegen. Gleichzeitig erarbeiteten sie Antworten auf die expansive Herausforderung durch die totalitären Diktaturen und zeigten Wege einer künftigen deutschen Außenpolitik nach Hitler im Rahmen eines Verbandes westlich geprägter Demokratien auf.12

I. Die Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass aus ihrer Sicht die Sowjetunion eine Diktatur darstellte, die nichts mit den Idealen einer sozialen Demokratie gemein hatte. Ebenso wenig hatte die Weimarer SPD die potentiell weltrevolutionäre Zielsetzung der bolschewistischen Außenpolitik verkannt.13 Und doch suchte sie als Regierungs- und mitregierende Oppositionspartei der Weimarer Republik einen außenpolitischen modus vivendi mit der UdSSR im internationalen System auf der Basis gegenseitiger diplomatischer Anerkennung, Neutralität und Nichteinmi12 Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Dissertation der Verfassers: Rainer Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945, Düsseldorf 1999, mit zahlreichen Literaturhinweisen. Deshalb beschränken sich die Nachweise im Folgenden weitgehend auf Zitate. An neueren Arbeiten zum Themenkomplex sind erwähnenswert: Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003, und Boris Schilmar, Der Europadiskurs im deutschen Exil 1933– 1945, München 2004. Zu Hilferding vgl. die jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Biographie von William Smaldone, Rudolf Hilferding. Tragödie eines deutschen Sozialdemokraten, Bonn 2000, sowie David E. Barclay, Rethinking Social Democracy, the State, and Europe. Rudolf Hilferding in Exile, 1933 to 1941. In: ders./Eric D. Weitz (Hg.), Between Reform and Revolution. German Socialism and Communism from 1840 to 1990, New York 1998, S. 373–395, zu Geyer die Arbeit von Jörg Später, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902–1945, Göttingen 2003, bes. S. 298– 313. Der Titel des vorliegenden Beitrags verdankt sich Ludolf Herbst, Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989. 13 Vgl. zur sozialdemokratischen Sicht auf die Sowjetunion während der Weimarer Republik umfassend Jürgen Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzungen und außenpolitische Konzeptionen 1917– 1933, München 1992.

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schung zu finden.14 Das daraus resultierende Dilemma skizzierte der führende sozialdemokratische Außenpolitiker und ehemalige Reichskanzler Hermann Müller noch im Februar 1931 in einem Artikel für die US-amerikanische HearstPresse unter dem Titel „Erobert der Kommunismus Europa?“15 : Die deutsche Regierung wolle mit der russischen im Sinne der Verträge von Rapallo und Berlin in Frieden leben, und auch die russischen Außenkommissare feierten in Trinksprüchen die guten Beziehungen zu Deutschland. Gleichzeitig aber bekämpften die deutschen Kommunisten die Außenpolitik des Reiches als imperialistisch und seien auf den Sturz der deutschen Demokratie bedacht; die russischen Arbeiter würden von ihrer Regierung gar in den Glauben versetzt, „dass mit Hilfe der deutschen Arbeiter [...] demnächst die Weltrevolution ausbricht und der Sowjetstern dann von Deutschland aus seinen Siegeszug über ganz Europa antreten wird“. Der russische Rubel rolle mehr denn je ins Ausland, um mit seiner Hilfe die europäischen Demokratien zu unterwandern. Hinter beiden Strategien stecke Stalin, dem Müller eine unangefochtene, geradezu allumfassende und bis auf Weiteres gesicherte Herrschaft in einem Regierungssystem attestierte, das „immer mehr bonapartistischen Charakter erhält“: „Nirgends hat ein Cäsar bisher eine größere Gewalt in seinen Händen vereinigt.“ In der Sowjetunion regierten keineswegs die Volkskommissare, denn diese würden durch das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ernannt. „Das Zentralkomitee aber, das ist Stalin.“ Und Stalin selbst kommandiere „gleichzeitig die russische Regierung und die III. Internationale“. Die friedlichkooperative Linie der sowjetischen Außenpolitik war demnach ebenso auf Stalin zurückzuführen wie die aggressiv-revolutionäre Variante, deren mittelfristig bedrohliche Qualität Müller offensichtlich sehr ernst nahm. Allerdings sei der Diktator bei der Etablierung seiner Herrschaft „jenseits der russischen Grenzen“ – gemeint waren die Grenzen der Sowjetunion – bisher „weniger erfolgreich“ gewesen als bei der Festigung seiner persönlichen Diktatur im Innern. „Alle Bemühungen, das russische System auf andere Länder zu übertragen, sind gescheitert.“ Besonders die junge deutsche Demokratie habe sich in den vergangenen zwölf Jahren „als ein fester Deich gegen die kommunistische Flut bewährt“. Solange in Deutschland die demokratische Staatsgewalt stark bleibe, werde der Kommunismus dort ein bescheidenes Dasein fristen. Und „wenn er in Deutschland keine größere Bedeutung erhält, wird er niemals die Welt erobern können“. Der Expansionsdrang als wesentliches Charakteristikum der bolschewistischen Politik war von Müller also deutlich benannt, das Mittel der kommunisti14

Den Hintergrund beleuchtet die Problemskizze von Klaus Hildebrand, Das Deutsche Reich und die Sowjetunion im internationalen System 1918–1932. Legitimität oder Revolution? In: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/Taunus 1980, S. 38–61. 15 Hermann Müller, Erobert der Kommunismus Europa? Manuskript o. D. [Februar 1931] (BA Berlin, N 2200: Nachlass Hermann Müller, Nr. 151, Bl. 42–48). Daraus die folgenden Zitate.

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schen Unterwanderung demokratisch-kapitalistischer Staaten zu revolutionären Zwecken unter Anleitung der Komintern klar erkannt worden. In den Niederungen des internationalen Systems aber agierte die UdSSR in der Zwischenkriegszeit als ein Staat unter anderen und betrieb eine defensive und faktisch stabilisierende Außenpolitik. Den ideologisch motivierten, derzeit eher latenten Expansionismus der Sowjetunion, so meinte man in der SPD-Führung, könnten Deutschland und die westlichen Demokratien unter Kontrolle halten und gegebenenfalls erfolgreich abwehren, solange ihre innenpolitische und wirtschaftliche Stabilität gewährleistet blieb. Allerdings war 1931 längst eine andere, aktuell bedrohlichere Gefahr für die erste deutsche Demokratie massiv in Erscheinung getreten, deren Anwachsen und schließlicher Durchbruch die Stabilität ganz Europas in Frage zu stellen geeignet schien: Bereits 1925 hatte Hermann Müller prophezeit, eine „völkische Diktatur“ in Deutschland wäre „gleichbedeutend mit der Vorbereitung eines neuen Weltkriegs“,16 und im Dezember 1930, drei Monate nach dem ersten großen Wahlerfolg der NSDAP auf Reichsebene, warnte der ehemalige Reichskanzler, „die Bildung einer von den Nationalsozialisten abhängigen Reichsregierung“ bringe „die Gefahr eines völligen Bruchs mit der seit 1923 geführten Außenpolitik mit sich“, eines Bruchs „mit der Politik der Völkerverständigung“.17 An solche grundsätzlich richtigen, wenngleich rudimentären Einschätzungen einer nationalsozialistisch bestimmten deutschen Außenpolitik, die in den letzten Wahlkämpfen der Weimarer Republik in die Parole „Hitler ist der Krieg!“ einmündeten, konnte Curt Geyer anknüpfen, als er, noch im Untergrund auf Reichsgebiet tätig, im Frühsommer 1933 die erste ernsthafte Analyse der spezifischen Motive und Erscheinungsformen nationalsozialistischer Außenpolitik aus sozialdemokratischer Feder erstellte und in einer im tschechischen Karlsbad anonym erschienenen Broschüre veröffentlichte.18 Einleitend stellte Geyer klar, dass es für die Sozialdemokratie „nichts Gemeinsames mit diesem Regime“ gebe, „weder in der Idee noch im Willen, noch im Handeln! [...] Mit unseren Feinden gemeinsam erklären wir nicht einmal, dass der Himmel blau ist; denn es gibt keine gemeinsame Basis, auf der wir uns mit ihnen begegnen könnten!“ In der Erkenntnis, „dass der Faschismus national zum Untergang Deutschlands führen muss, dass er Volk und Land in die Katastrophe stürzt“, könne das Ziel der demokratischen Opposition nur der Sturz der „nationalsozialistischen Despotie“ sein. Der unversöhnliche Gegensatz von Demokratie und Diktatur durchzieht schon diese Schrift Geyers wie ein Leitmotiv.

16 Hermann Müller, Internationale Politik. In: Das Heidelberger Programm. Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Redaktion Paul Kampffmeyer, Berlin o. J. [1925], S. 65–70, hier 66. 17 Hermann Müller, Kurswechsel in Deutschland 1931? Manuskript o. D. [Dezember 1930], S. 4 und 8 (BA Berlin, N 2200, Nr. 151, Bl. 6–13, hier Bl. 9 und 13). 18 [Curt Geyer,] Revolution gegen Hitler. Die historische Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie, Karlsbad o. J. [1933]. Die folgenden Zitate ebd., S. 3–6.

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Für Curt Geyer stand wenige Monate nach Hitlers Regierungsantritt außer Zweifel, dass die Ausrichtung der deutschen Gesellschaft auf den Krieg ein maßgebliches, ideologisch geprägtes Ziel des neuen Reichskanzlers und seiner Partei darstellte: „Die Ideologie des Nationalsozialismus ist die geistige Vorbereitung zum Kriege. [...] Für den Nationalsozialismus ist der Krieg eine normale Lebensform der Völker, die höchste und erhabenste Kraftäußerung eines Volkes, die innere Bereitschaft zum Kriege, der so genannte Wehrwille darum die höchste Eigenschaft und das höchste Gut der Nation. Den Wehrwillen zu wecken und zu stählen, das ist für ihn die Aufgabe des Staates.“ Diese „kriegerische Grundauffassung“ verbinde sich „mit der faschistischen Ideologie vom totalen Staat. Der Sinn des absoluten totalen Staates ist die Macht nur um der Macht willen.“ Und die inneren Strukturen dieses totalen Staates seien ohne Umschweife zielstrebig auf die Ermöglichung und Herbeiführung eines Krieges ausgerichtet worden. Die nationalsozialistische Propaganda und ihre Methoden dienten der Erzeugung einer Kriegspsychose, die Jugend werde „durch den Geist des übelsten und gefährlichsten Militarismus“ korrumpiert, besonders aber auf staatsrechtlichem Gebiet habe die Bereitstellung für den Krieg erstaunliche Fortschritte gemacht: Die Vernichtung der Demokratie in Deutschland und die Unterdrückung der Presse- und Versammlungsfreiheit hätten „jede öffentliche Kontrolle der Außenpolitik des Regimes ausgeschaltet, ebenso jede Kontrolle der Etatsgebarung und der Verwendung der öffentlichen Mittel“. Die „Lenkung der außenpolitischen Geschicke des Reiches wie die Verwendung der Steuermittel“ lägen daher nach dem Ermächtigungsgesetz und „nach der völligen Entmachtung des Reichspräsidenten und der deutschnationalen Regierungspartner“ schon jetzt, im Frühsommer 1933, „allein in der Hand des Diktators Hitler und seiner Ratgeber! In seiner Hand liegt auch einzig und allein die Entscheidung über Krieg und Frieden!“ Damit sei „das äußerst mögliche Maß von staatsrechtlicher Bereitstellung für den Kriegsfall getroffen! Das Regime kann durch nichts mehr am Verbrechen gehindert werden, wenn es den Krieg herbeiführen will!“ Der von Hermann Müller Ende 1930 prophezeite Bruch mit der Politik der Völkerverständigung als Resultat einer nationalsozialistischen Regierungsübernahme war Geyers Einschätzung zufolge tatsächlich zu beobachten. Der „Schatten des kriegerischen Faschismus“ falle „über den Frieden Europas, die geistige Grundhaltung Europas hat sich seit dem Sturz der Demokratie in Deutschland entscheidend verändert. Der Geist der Verträge, der ehrliche Wille zur Verständigung ist tot, die moralische Wiedereingliederung Deutschlands in das europäische System ist jäh unterbrochen worden“. Gegen den Geist des Friedens und seine politischen Methoden hätten die Nationalsozialisten den „aktivistischen Nationalismus“ gepredigt, und Hitlers öffentliche Friedensbeteuerungen etwa in seiner Reichstagsrede vom 17. Mai 1933 sagten „nichts über das Wesen der nationalsozialistischen Außenpolitik“: „Für den Chef der nationalsozialistischen Despotie ist die Anrufung des Geistes des Friedens nur eine takti-

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sche Aushilfe im Spiel um die militärische Wiedererstarkung Deutschlands!“ Derartige diplomatische Manöver würden „an den organisatorischen und propagandistischen Maßnahmen [...] zur Kriegsertüchtigung des Volkes nicht das mindeste ändern“. Geyer erkannte eine prinzipielle Unwahrhaftigkeit und Verlogenheit als konstitutives Merkmal nationalsozialistischer Außenpolitik. Während in demokratischer Kontrolle ein Zwang zur Ehrlichkeit in der Außenpolitik begründet liege, könne „die bonapartistische Despotie, unkontrolliert und selbstherrlich“, ein Volk sogar „gegen seinen Willen in den Krieg stürzen“. Sobald etwa die Despotie Hitlers „aus Verzweiflung über ihre inneren Schwierigkeiten nach außenpolitischer Ablenkung“ suche, rücke die Kriegsgefahr in nächste Nähe. „Dann wird die geistige Vorbereitung auf den künftigen Krieg zu einer ungeheuren unmittelbaren Gefahr für den Frieden. Dann wird die Lüge vom pazifistischen Nationalismus zerflattern – aber dann wird es zu spät sein.“ Als Resultat seiner ebenso stringenten wie realistischen Analyse deutete Geyer schon damals an, dass eine Eindämmung des „kriegerischen Faschismus“ – zunächst verwendete er diese Begrifflichkeit noch als Synonym für den Nationalsozialismus, später sprach er bevorzugt vom „Hitlersystem“ – nur „im Rüstungsgleichgewicht“ zu suchen sein würde. Angesichts der ernsthaften Bedrohung, die von der nationalsozialistischen Kriegspolitik ausgehe, seien eine friedliche Grundhaltung der Völker oder die feierliche Verdammung des Krieges in einer diplomatischen Vereinbarung wenig wert; entscheidend würden fortan vielmehr „die Zahl und die Art der Waffen“ sein. Um diesen Gedankenkomplex kreisten in den folgenden Jahren die Überlegungen im Umkreis des sozialdemokratischen Parteivorstands im Exil. Zum einen verfeinerte man die Analyse der Methoden und Ziele der nationalsozialistischen Außenpolitik, wobei bereits in den Jahren 1933 bis 1935/36, das heißt vor dem Beginn der territorialen Expansion des Deutschen Reiches, weitestgehende Klarheit über die außenpolitischen Zielsetzungen und die unbedingte und unbeirrbare Kriegsvorbereitung des NS-Regimes sowie über die potentielle Grenzenlosigkeit des nationalsozialistischen Expansionsstrebens herrschte: „Im Wesen der reinen Machtpolitik liegt eine Unendlichkeit des Machtanspruchs und der Ziele.“19 Zum anderen kritisierte man beharrlich die Ausgleichsbemühungen und das Entgegenkommen der Westmächte gegenüber den Ansprüchen der Reichsregierung und forderte eine unnachgiebige Haltung sowie eine intensive Aufrüstung Großbritanniens und Frankreichs, da der Wille zum Krieg ein Wesensbestandteil der nationalsozialistischen Herrschaft sei und eine bewaffnete Auseinandersetzung sich als unausweichlich erweisen werde. Die Erwartung, Hitlers Expansionsplänen könne durch die Erarbeitung eines gesamteuropäischen „general 19 [Curt Geyer,] Die außenpolitische Entwicklung. In: Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934–1940. ND Salzhausen / Frankfurt a. M. 1980. Erster Jahrgang 1934, Bericht Nr. 2 vom 26. 6.1934, S. 149–164, Zitat S. 154. Vgl. zum Zusammenhang Behring, Demokratische Außenpolitik, Drittes Kapitel: Wahrnehmung und Interpretation der nationalsozialistischen Außenpolitik und ihrer Ziele, S. 88–110.

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settlement“ und durch Appeasement gesteuert werden, sei ebenso zum Scheitern verurteilt wie die Abrüstungs- und Verständigungsbemühungen gegenüber der NS-Diktatur, die etwa der sozialistische Ministerpräsident Frankreichs Léon Blum unternehme, weil sie „mit dem Ziel der Hitlerpolitik grundsätzlich unvereinbar“ seien.20 Die Regime in Deutschland, Italien und Japan strebten gemeinsam nach einer Neuverteilung der Welt, und demgegenüber biete die Aufrüstung der Westmächte die einzige Friedensgarantie. Rudolf Hilferding betonte seit 1935 offen und mit großer Konsequenz, die einzige Möglichkeit, gegen „die permanente Kriegsdrohung Hitlers“ vorzugehen, biete „die Herstellung einer militärisch überlegenen Konstellation, die den Krieg für Hitler und die deutsche Generalität aussichtslos macht. Das und sonst nichts fürchtet Hitler“.21 Die Grundlagen der internationalen Politik hätten sich mit der „Wiederherstellung absolutistischer Militärstaaten – Deutschlands, Japans, Italiens –“ verändert: Während nach dem Ersten Weltkrieg „eine neue Außenpolitik des auf Sicherheit durch Abrüstung und Schiedsgericht beruhenden, organisierten Friedens in einer demokratisierten Welt in den Bereich der Möglichkeit zu rücken“ schien, sei die Außenpolitik jetzt wieder „zurückgeworfen auf die alten Mittel der militärischen Machtbehauptung mit ihrem Wettrüsten und ihren Allianzen“.22 Wolle man nicht vor dem Expansionismus der „militaristisch-nationalistischen“ Staaten und insbesondere des nationalsozialistischen Deutschen Reiches kapitulieren, dann bleibe „nur die Abwehr möglich, die Abwehr in der einzigen noch möglichen Form, der der militärischen Überlegenheit“.23 Gemeinsam mit Friedrich Stampfer propagierten Rudolf Hilferding und Curt Geyer als Vordenker des sozialdemokratischen Parteivorstands im Exil in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre die Schaffung eines politisch-militärischen Bündnisses der westlichen Demokratien – neben Großbritannien und Frankreich wurde frühzeitig auf das potentiell ausschlaggebende Gewicht der Vereinigten Staaten von Amerika in einer solchen Koalition hingewiesen – zur Eindämmung des von Deutschland und den übrigen aggressiven Diktaturstaaten ausgehenden Expansionsstrebens, eines Bündnisses, das wachsam, kampfbereit und schließlich auch zum Verteidigungskrieg entschlossen sein sollte. Bei diesen in der sozialdemokratischen Exilpresse angestellten Überlegungen, den kapitalistischen Westmächten die Verteidigung Europas und der Welt gegen den Ansturm der expansionistischen Mächte anzuvertrauen, spielten spezifisch sozialistische, kapitalismuskritische Gedanken und Ressentiments bemerkenswerterweise kaum eine Rolle. Äußerstenfalls ereiferte sich Geyer anlässlich der 20 Der Preis für den Locarno-Ersatz. Hinausdrängung Sowjetrusslands aus der europäischen Politik. In: Neuer Vorwärts vom 13. 9.1936. 21 Richard Kern [d. i. Rudolf Hilferding], Macht ohne Diplomatie – Diplomatie ohne Macht. In: Zeitschrift für Sozialismus, 2 (1935), S. 593–604, hier 599. 22 Richard Kern, Das Londoner Abkommen. In: Zeitschrift für Sozialismus, 2 (1935), S. 561–568, hier 568. 23 Kern, Macht ohne Diplomatie, S. 604. Vgl. zum Zusammenhang Behring, Demokratische Außenpolitik, S. 172–189.

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Münchener Konferenz im Herbst 1938 über die verfehlte Nachgiebigkeit und die Kompromissbereitschaft der Regierung Chamberlains, der sich als Reaktionär, Imperialist und Feind der Freiheit und der Demokratie in Europa erwiesen habe;24 doch das war nur ein vorübergehender verzweifelter Ausfall eines deutschen Demokraten, der längst von der Notwendigkeit einer festen Haltung hart am Rande eines Krieges oder sogar von der Unvermeidbarkeit dieses Krieges gegen die nationalsozialistische Diktatur überzeugt war. Bezeichnend und zukunftweisend sollten vielmehr die Ausführungen sein, die Hilferding im Juli 1937 nach dem Rücktritt Blums zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik angesichts der Bedrohung des Friedens und der Freiheit durch den Nationalsozialismus veröffentlichte:25 Hitlers Sieg in Deutschland habe „einen völligen Umsturz der internationalen Politik“ bedeutet, „den Beginn des Angriffs auf die europäische Friedensordnung“ sowie „die Stärkung der beiden anderen aggressiven Mächte, Japans und Italiens. Damit erhielt die auswärtige Politik, die jetzt wieder zur elementaren Frage Krieg oder Frieden wurde, das absolute Primat, die unbedingte Vorherrschaft, über die innere Politik und alle ihre Probleme.“ Das bringe für den Sozialismus „eine tragische Situation“ mit sich. „Denn das Erscheinen und das Erstarken der aggressiven Mächte zersprengt nicht nur die bisherige Außenpolitik des Sozialismus – Abrüstung, Schiedsverfahren, kollektive Sicherheit –, sondern erfordert für die Abwehr des drohenden Angriffs, dessen Gelingen zugleich der Untergang der Freiheit wäre, die Konzentration aller Abwehrkräfte in der Hand des Staates, seine Erfüllung mit einem entschlossenen Abwehrwillen, hinter dem aber auch alle moralischen und vor allem alle materiellen Machtmittel stehen müssen.“ Dadurch erfahre die Stellung der Arbeiterparteien in der inneren Politik zwangsweise eine Änderung. Ihre Bewegungsfreiheit müsse notwendig eingeschränkt sein, denn „in der Zeit der Bedrohung durch die Diktaturen können sich die Demokratien schwere innere Erschütterungen, stürmische soziale Auseinandersetzungen oder gar Bürgerkriege nicht erlauben; sie werden sonst zur Beute des auswärtigen Angreifers.“ Im Zeichen eines globalen Ringens zwischen Demokratie und Diktatur müssten sich die Arbeiter und ihre Interessenvertreter einreihen in eine möglichst geschlossene demokratische Abwehrfront gegen die Aggressoren; im Kampf um die Bewahrung der Freiheit hatten die außen- und innenpolitischen Fronten einheitlich zu sein. Im gleichen Sinne betonte Curt Geyer 1939 im Angesicht des nahenden Krieges in seiner Schrift „Die Partei der Freiheit“, der „totale Staat“ in Deutschland sei „nicht einfach ein Mittel zur Auseinandersetzung zwischen Kapitalisten und Arbeitern“. Die NS-Herrschaft habe eine „viel umfassendere historische Bedeutung“, sie stehe für „einen Generalangriff auf die Grundlagen der europäischen 24 C[urt]. G[eyer]., Was Deutschland gebührt. Mr. Chamberlain und der Kampf der deutschen Opposition. In: Neuer Vorwärts vom 13.11.1938. 25 Richard Kern, Frankreich unter der Hitlerdrohung. Zum Rücktritt Léon Blums. In: Neuer Vorwärts vom 11. 7.1937. Daraus die folgenden Zitate.

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Zivilisation“, die zugleich die Grundlagen der sozialistischen Idee seien. Die notwendige Konfrontation „mit dem totalen System“ lasse sich nicht „auf die Formel proletarisch gegen bürgerlich oder sozialistisch gegen kapitalistisch“ bringen. Es handele sich um „eine viel allgemeinere Auseinandersetzung von epochaler Bedeutung“ – die übrigens „in der bisherigen Geschichtskonstruktion des Marxismus nicht vorgesehen war und auch nicht dort hineinpasst“ –, um „eine große geistige, politische, soziale Krise der Menschheit“. Es gehe „nicht nur um die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, sondern es geht um den Sinn des menschlichen Daseins“. Demgemäß müsse der Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur „die gemeinsame Sache der gesamten freiheitlichen Opposition“ sein, die „Anhänger aus allen Parteien und aus allen Klassen zählt“, gerade auch die deutsche Sozialdemokratie: „Wir fühlen uns als ein Teil der großen, durch die Jahrhunderte gehenden geistigen Strömung, zu der sowohl der Liberalismus als auch der Sozialismus als lebendige Ideen gehören, weil sie beide auf den Grundideen der Freiheit und der Humanität ruhen.“ Der Wille zur Freiheit habe an der Wiege der deutschen Sozialdemokratie gestanden, und in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem System der nationalsozialistischen Sklaverei, „im Sturm der geschichtlichen Ereignisse, die die europäische Konstellation wandeln, Länder und Grenzen vernichten“, sei „die große Idee der Freiheit unser Leitstern. [...] Wir wissen nicht, was sein wird, aber wir wissen, dass wir frei sein wollen.“ Die Befreiung vom Alpdruck der NSHerrschaft dürfe jedenfalls nicht dem Hegemonieanspruch einer diktatorischen, orthodox-marxistischen proletarischen Klassenpartei Vorschub leisten, den deutsche und österreichische Linkssozialisten im Exil erhoben. Stattdessen forderte Geyer, „dass das System der Totalität von einem Mehrparteiensystem abgelöst wird, nicht die Monopolpartei von heute durch eine Monopolpartei von morgen“. Demokratische Parteien jeglicher Couleur müssten, so Geyer 1939, in engem Schulterschluss weltweit die Freiheit verteidigen, solange das noch möglich sei, und sie müssten gemeinsam für die Wiederherstellung der Freiheit in Deutschland kämpfen. Reine Arbeiterinteressen hätten gegenüber diesem Ziel zurückzustehen, die bisherigen klassengebundenen Arbeiterparteien hätten sich zu ausgesprochen politischen Parteien weiterzuentwickeln und sich in ein pluralistisches Parteiensystem einzuordnen.26 Der Primat der Außenpolitik, den die Bedrohung des Weltfriedens durch die Aggressorstaaten und speziell den nationalsozialistischen totalen Staat erzwang, zeitigte bereits Auswirkungen auf die einschlägigen Überlegungen Geyers auch zur innergesellschaftlichen Orientierung der deutschen Sozialdemokratie in einem Deutschland nach Hitler.

26 Alle Zitate aus Curt Geyer, Die Partei der Freiheit [1939]. ND in: Kurt Klotzbach (Hg.), Drei Schriften aus dem Exil, Berlin (West) 1974, S. 299–356, hier 354–356. Vgl. auch C[urt]. G[eyer]., Im Sturm der Geschichte. Zwischen zwei Krisen – Die Lage der Demokratie in Europa. In: Neuer Vorwärts vom 1.1.1939, speziell auch zum Primat der Außenpolitik.

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II. Freiheit als gemeinsame Basis des internationalen Kampfes gegen die aggressivexpansionistischen Mächte, solidarisches Zusammenrücken aller Demokraten zur Abwehr der totalitären Bedrohung unter einstweiligem Verzicht auf antikapitalistischen Klassenkampf, Pluralismus als Heilmittel zur Überwindung des totalen Staates, ein schlagkräftiges politisch-militärisches Bündnis der westlichen Demokratien gegen die nationalistischen Kriegstreiber: So lauteten schlagwortartig die ideellen Grundlagen und die politischen Rezepte, die Rudolf Hilferding und Curt Geyer in Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer auf kriegerische Expansion ausgerichteten Außenpolitik entwickelt hatten und die sie als Leitmotive im Kampf gegen die totalitäre Herausforderung propagierten. Welche Rolle konnte in diesem Konzept die Sowjetunion einnehmen? Die Heraufkunft der NS-Herrschaft hatte an der Einschätzung der bolschewistischen Diktatur durch Rudolf Hilferding und Curt Geyer nichts geändert. Hilferding schrieb 1936 in Anlehnung an Positionen, die Karl Kautsky in Auseinandersetzung mit der Realität der sozialistischen Revolution in Russland entwickelt hatte,27 und wiederum unter Überwindung einstiger Feindbilder der Sozialdemokratie, für ihn sei heute „der große Gegensatz [...] nicht Sozialismus und Kapitalismus, sondern Freiheit oder Staatssklaverei“. Der Bolschewismus habe den „früher selbstverständliche[n] Zusammenhang zwischen Freiheit und Sozialismus zerrissen“ und „einen Sozialismus produziert“, der „auf Zwang und Unterdrückung und Terror beruht“. Russland sei kein Proletarierstaat, vielmehr stelle es „eine Schande, eine Erniedrigung der Menschheit“ dar.28 Geyer hatte bereits 1933 die bolschewistische und die nationalsozialistische Herrschaft in einen deutlichen Bezug zueinander gesetzt, indem er klarstellte, es könne nicht das Ziel des Freiheitskampfes gegen das NS-Regime sein, „dass an Stelle des faschistischen das bolschewistische Arbeiterzuchthaus gesetzt wird“; es gehe nicht darum, bloß „die Vorzeichen der Sklaverei zu wechseln“, wie es die Kommunisten im Widerstand gegen Hitler erstrebten, sondern darum, „die Fesseln der Sklaverei abzuwerfen und die Freiheit wieder zu erobern“.29 Auch im Neuen Vorwärts erschienen mit einiger Regelmäßigkeit Artikel, in denen zumindest implizit auf die strukturellen Ähnlichkeiten hingewiesen wurde, die das bolschewistische Regime mit dem nationalsozialistischen verbanden. So war etwa mit Blick auf Moskau von einem System der Parteidespotie und von der Despotie in der Monopolpartei die Rede, und über die Schlüsselrolle des Führers im Kreml bestanden keine Zweifel: „Sowjetrussland wird beherrscht von Stalin: Er ist der allmächtige Diktator.“ Ganz ähnlich hatte schon Hermann Müller das 27 Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Zarusky im vorliegenden Band. 28 Rudolf Hilferding an Paul Hertz vom 29.1.1935 [recte: 1936] und 5. 3.1936 (AdsD, NL Paul Hertz, Film XLII). 29 [Geyer,] Revolution gegen Hitler, S. 15.

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Herrschaftssystem der Sowjetunion beschrieben, ganz ähnlich hatte sich aber auch Curt Geyer 1933 über das NS-Regime geäußert. Die Geschichte Sowjetrusslands sei jedenfalls „ein beispielloser Lehrgang über das Wesen der Diktatur und über die Entartung, der sie notwendig verfallen muss, wenn sie andauert.“30 Trotz der vielfach vorgetragenen expliziten Abgrenzung vom Bolschewismus, trotz zahlreicher Warnungen vor der kommunistischen Gefahr und im Widerspruch zu der Erkenntnis vom Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik einer Regierungsform setzte man in den Publikationen des sozialdemokratischen Exils zumindest verbal lange auf eine Zusammenarbeit der Westmächte mit der UdSSR zur Eindämmung des vom Deutschen Reich ausgehenden Expansionsstrebens. Bereits 1934 hatte Curt Geyer die Annäherung der Sowjetunion an Frankreich und den Völkerbund lebhaft begrüßt: Sowjetrussland habe sich „in den Block der antirevisionistischen Mächte eingereiht“, und „von unserem Standpunkt aus“ sei es „nach dieser Schwenkung durchaus in der richtigen Front“.31 Und noch im Frühjahr 1939, als sich nach der deutschen Besetzung Prags zur Erleichterung der sozialdemokratischen Parteiführer im Exil endlich abzeichnete, dass die britische Regierung weiteren gewaltsamen Expansionsakten des Deutschen Reiches nicht mehr tatenlos zusehen würde, propagierte Geyer „eine Mächtekonstellation, die England, Frankreich, Sowjetrussland und Polen umfasst“, als probates Mittel, einen Sieg Hitlers im sich abzeichnenden Krieg zu verhindern.32 Allerdings war sich Geyer der Tatsache bewusst, dass die mögliche Bereitschaft der UdSSR zur Zusammenarbeit mit dem europäischen Westen gegen die deutsche Expansionsdrohung, eine Konstellation, die sich seit 1934/35 angedeutet hatte und die nun wieder zu einer akuten Frage wurde, „nicht herausgewachsen“ war „aus der Verwandtschaft der Geisteshaltung des Sowjetregimes mit den demokratischen Ideen des Westens“ oder gar „aus der Liebe zur deutschen Demokratie“. Sie entspringe vielmehr den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion und ihrer Furcht vor politischer Isolierung. Man dürfe im Übrigen wegen einer wünschenswerten internationalen Zusammenarbeit nicht die berechtigte Kritik gegenüber dem Sowjetsystem preisgeben.33 Die tiefe Kluft zwischen dem pragmatisch bedingten Bestreben, das Bündnis der Gegner der nationalsozialistischen Expansions- und Kriegspolitik möglichst umfassend und schlagkräftig zu gestalten, und dem eingewurzelten Misstrauen, mit dem man der Innen- und Außenpolitik des Sowjet30 Zum Verständnis der Moskauer Prozesse. In: Neuer Vorwärts vom 7. 2.1937; Der Moskauer Terrorprozess. Der blutige Machtkampf um die Nachfolge Lenins. In: Neuer Vorwärts vom 30. 8.1936. Vgl. auch Die neue Schreckensherrschaft. Blutige Machtkämpfe in Sowjetrussland. In: Neuer Vorwärts vom 20. 6.1937. 31 [Geyer,] Die außenpolitische Entwicklung, S. 159 f. 32 C[urt]. G[eyer]., Hitler in der Sackgasse. Geschichtliche Wendung der englischen Politik – Hitlers Scherbenhaufen. In: Neuer Vorwärts vom 9. 4.1939. 33 C[urt]. G[eyer]., Der Kurs der deutschen Opposition. Das kommende Deutschland und das Bündnis mit Sowjetrussland. In: Neuer Vorwärts vom 21. 5.1939.

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regimes begegnete, war bereits an der Jahreswende 1936/37 im Neuen Vorwärts zum Ausdruck gebracht worden: „Wie gerne möchten wir im Kampf gegen das Dritte Reich ein sozialistisches Russland sehen, das auf den Bahnen des Rechts und der Menschlichkeit triumphierend vorwärtsschreitet!“ Doch stattdessen zeige sich in den Moskauer Prozessen erneut „nur die Fratze einer Diktatur, die nicht besser ist als die anderen“34 – ein weiterer Hinweis auf die strukturelle Verwandtschaft mit dem NS-System. Und im Hinblick auf die Unwägbarkeiten der sowjetischen Außenpolitik stellte auch Hilferding frühzeitig klar, es handele sich bei ihr schlicht um „russische Machtpolitik“, die anderen Motiven als den Interessen der Arbeiterbewegung entspringe und folglich „andere eigene Gesetze“ habe.35 Entsprechend ihrer skeptischen Grundhaltung zweifelten nicht wenige sozialdemokratische Beobachter an dem aufrechten Verhandlungswillen Stalins in der Krise der britisch-französisch-sowjetischen Bündnisgespräche des Sommers 1939. Hilferding mahnte im Juli, für das Ergebnis und für ein mögliches Scheitern der Verhandlungen falle „in vollem Maße Stalin die Verantwortung zu“.36 Ohnehin hatte man im Umkreis des sozialdemokratischen Parteivorstands im Exil, trotz der nach außen hin aufrechterhaltenen Hoffnung auf ein Zusammengehen der Sowjetunion mit den Westmächten im Abwehrkampf gegen den nationalsozialistischen Expansionismus, eine taktisch bedingte Annäherung der Sowjetführung an das Deutsche Reich nie ausgeschlossen.37 So waren Hilferding und Geyer vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag und von der gemeinsamen militärischen Eroberung Polens durch die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee in seinem Gefolge nicht wirklich überrascht. Vielmehr rückten diese Geschehnisse in der Sicht der sozialdemokratischen Totalitarismuskritiker die Fronten wieder zurecht. Nun war die Lage geklärt, Demokratie stand gegen Diktatur, Freiheit gegen Sklaverei: „Dass Stalin jetzt an die Seite Hitlers tritt, wirkt doch als eine moralische Befreiung. In der großen Auseinandersetzung, um die es wirklich geht, in dem Kampf der Erhaltung der Kultur, der geistigen Freiheit und des menschlichen Selbstbestimmungsrechts gegen die Barbarei und Knechtung gehört Stalin und der Stalinismus nicht auf die Seite der Freiheit. Wir kämpfen in reinerer Luft, wenn sie abseits bleiben.“38 Darüber hinaus hatte sich 34 Kranke Diktatur! Zum Prozess gegen das „Parallele Zentrum“. In: Neuer Vorwärts vom 24.1.1937. 35 Richard Kern, Die Politik der Sowjetunion. Kommunistische Ideologie und machtpolitische Realität. In: Neuer Vorwärts vom 6.12.1936. 36 Richard Kern, Die Abwehrfront. Das französisch-türkische Bündnis – Moskauer Verhandlungen – Die Spannung im Fernen Osten. In: Neuer Vorwärts vom 2. 7.1939; ders., Stalins Verantwortung. Der Gang der englisch-russischen Verhandlungen. In: Neuer Vorwärts vom 16. 7.1939. 37 Vgl. zur sozialdemokratischen Einschätzung der sowjetischen Außenpolitik in den dreißiger Jahren ausführlicher Behring, Demokratische Außenpolitik, S. 125–127 und 202– 204. 38 Richard Kern, Der Kurs der russischen Außenpolitik. Pg. Stalin und Towaritsch Hitler. In: Neuer Vorwärts vom 2. 9.1939.

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die Kongruenz von Innen- und Außenpolitik eines Regimes nun auch am Beispiel der Sowjetunion erwiesen: Die auswärtige Politik Sowjetrusslands, so Hilferding Anfang September 1939 im Neuen Vorwärts, „diente von jeher, genau wie die innere Politik, einzig und allein der Machterhaltung der herrschenden Bande. Sie hatte stets nur ein Ziel: den Krieg der anderen.“39 Und diesen Krieg der anderen galt es im Sinne der russischen Machtpolitik für die eigene kriegerische Expansion zu nutzen, wie Geyer angesichts des sowjetischen Vorgehens gegen polnisches Territorium und dessen Bewohner, aber auch schon im Hinblick auf die nun näherrückende Gefahr eines künftigen Ausgreifens des Bolschewismus auf Deutschland konstatierte: „Es ist gekommen die Expansion der russischen Machtpolitik nach Westen und die Ausbreitung des russischen despotischen Systems nach Westen.“ Hitler selbst habe durch das Abkommen mit Stalin diese Westexpansion des Sowjetsystems erst ermöglicht und in die Wege geleitet.40 Während es im sozialdemokratischen Exil schon lange klar war, dass Hitler und seine Herrschaft geradezu die Personifikation des Bösen darstellten – „die Macht der Zerstörung, das Böse, das im Wesen der Macht liegt, hat eine unheilvolle Konzentration auf die Person eines einzelnen erfahren“, schrieb Geyer im Juni 1939 über den deutschen Diktator41 –, konnten ihm jetzt Stalin und das bolschewistische System ohne Einschränkung zugesellt werden, nachdem man zuvor noch von der vollständigen und ausdrücklichen Gleichsetzung von nationalsozialistischer und sowjetkommunistischer Diktatur abgesehen hatte: „Es ist kein Unterschied in Gesinnung und Moral zwischen den Diktatoren, und sie alle enden in derselben Verdammnis, ganz gleich ob sie im Namen einer proletarischen Diktatur oder im Namen des Nationalsozialismus diktieren. Die Diktatur ist das Verderben, und wer immer ihr das Wort redet, ist der Feind und muss als solcher behandelt werden.“42 Die Verteidigung von Freiheit und Menschenwürde als der eigentliche Sinn des gegenwärtigen Krieges sei „noch offenbarer geworden, seit Stalin an der Seite Hitlers aufgetaucht ist“. Hilferding hielt es für eine „bare Unmöglichkeit, Stalins Bundesgenossenschaft anders als aus der Wesensgleichheit der totalitären Staatssysteme zu begreifen“.43 Mitte der dreißiger Jahre hatte Hilferding die Wesensmerkmale der „totalitären Staatsapparate“ noch ausschließlich am Beispiel Deutschlands und Italiens zu analysieren begonnen, wobei er bereits besonders deren zwingend zum Eroberungskrieg hinführende Außenpolitik ins Zentrum der Betrachtung gerückt

39 Ebd. 40 C[urt]. G[eyer]., Die russische Machtpolitik. Die Bedeutung der russischen Intervention für das kommende Deutschland. In: Neuer Vorwärts vom 1.10.1939. 41 C[urt]. G[eyer]., In seiner Hand. Die Konzentration des Bösen. In: Neuer Vorwärts vom 11. 6.1939. 42 Kern, Der Kurs der russischen Außenpolitik. 43 Richard Kern, Der Sinn des Krieges. Verteidigung von Freiheit und Menschenwürde. In: Neuer Vorwärts vom 31.12.1939.

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hatte.44 Jetzt, nach dem faktischen Kriegseintritt der UdSSR an der Seite des Deutschen Reiches und in anbetracht der sowjetischen Angriffskriege gegen Polen und Finnland, mutierte das Sowjetsystem in Hilferdings Artikeln geradezu zum Modell eines totalitären Staatswesens, gleichsam als habe es der erwiesenen kriegerischen Aggressivität zur Erfüllung einer hinreichenden Bedingung bedurft, um die „Wesensgleichheit“ von bolschewistischer und nationalsozialistischer Diktatur nachweisen zu können. Nun war vollends deutlich geworden, dass die Führer der Bolschewiki „den ersten totalitären Staat“ geschaffen hatten, noch „bevor diese Bezeichnung erfunden worden war“. Die „Wesensgleichheit“ erkannte Hilferding in sämtlichen Punkten, die ihm relevant erschienen, so in der „totalitären Staatswirtschaft“, die alle Faktoren der Wirtschaft ihren Zielen unterwerfe; ungeachtet des großen Unterschieds in den Ausgangspunkten näherten sich die Wirtschaftssysteme der totalitären Staaten einander an.45 Und „ebensowenig wie Hitler vertritt Stalin ein besonderes Wirtschafts- oder Klasseninteresse, am wenigsten sicherlich das der russischen Arbeiter und Bauern. Ebenso wie Hitler verfolgt er die Erhaltung und Ausdehnung seiner Macht, der Staatsmacht, die sich in dem Diktator personifiziert und der er die Gesellschaft und alle gesellschaftlichen Kräfte unterworfen hat, die sich mit ihrem Herrschaftsapparat verselbständigt hat und ihren eigenen Gesetzen folgt.“ Stalins kriegerische Machtpolitik schließlich, die zuletzt im Angriff auf Finnland zum Ausdruck gekommen war, enthülle „den Charakter jeden totalitären Systems, jeder Diktatur, sie habe welches Vorzeichen immer“.46 Hilferdings Analyse gelangte zu einem klaren Ergebnis: Beide Systeme, das bolschewistische und das nationalsozialistische, waren auf dem Wege, von verschiedenen Ausgangspunkten her ihre völlige Gleichheit zu erreichen, gipfelnd in der „unbegrenzte[n] persönliche[n] Diktatur“ eines einzelnen. Staatliche „Herrschaft über Menschen“, die sich bedenkenlos terroristischer Mittel bediente, hatte sich verselbständigt und sich Wirtschaft und Gesellschaft unterworfen. Die Politik beider Staaten werde „von einem kleinen Kreise von Trägern der 44 Richard Kern, Grundlagen der auswärtigen Politik. In: Neuer Vorwärts vom 15.11.1936. Vgl. allerdings in diesem Zusammenhang auch den ungezeichneten Artikel Sowjetrussland auf dem Wege zur Demokratie? Die Bedeutung des neuen Verfassungsvorschlages. In: Neuer Vorwärts vom 21. 6.1936, in dem anlässlich der Vorbereitung einer pseudodemokratischen Verfassung für die Sowjetunion klargestellt wurde, es handele sich lediglich um „die Verbindung einer totalitären Diktatur mit den äußeren Formen der Demokratie“ , zumal „wirkliche Demokratie und die Doktrin des Stalinismus-Leninismus miteinander nicht vereinbar“ seien. Getrennt voneinander behandelte man also im sozialdemokratischen Exil schon 1936 die bolschewistische wie auch die nationalsozialistischen bzw. faschistischen Diktaturen als „totalitäre“ Herrschaften. 45 Rudolf Hilferding, Staatskapitalismus oder totalitäre Staatswirtschaft? [1940] In: Cora Stephan (Hg.), Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Berlin (West) 1982, S. 290–296, hier 293 f. 46 Kern, Der Sinn des Krieges. Genau dies habe Karl Kautsky „vom Anbeginn vorausgesagt [...], dessen Schriften gegen den Bolschewismus gewisse ‚Linkssozialisten‘ mit Respekt und Reue heute wieder lesen könnten“ .

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Macht“ bestimmt, deren Interessen und Vorstellungen primär „den Bedürfnissen der Erhaltung, der Nutzung und der Stärkung der eigenen Macht“ folgten. Daher rühre auch „die Bedeutung, die in der Politik der subjektive Faktor gewonnen hat, ‚das Unvorhersehbare‘, ‚das Irrationale‘ der politischen Entwicklung“.47 – Hilferding vernachlässigte in diesem Zusammenhang zweifellos die Rolle ideologisch geprägter Motive für das Handeln der totalitären Herrscher; er scheint sie unterschätzt zu haben. Andererseits bietet seine Betonung des „subjektiven Faktors“, sein Verweis auf Unvorhersehbares und Irrationales, Ansatzpunkte für eine Beantwortung der Frage, unter welchen Umständen ein Diktator seine Politik ändern könnte, wie gar ein System totaler Herrschaft von innen heraus zu überwinden sei: Hier ließe sich anknüpfen an die für Hannah Arendts politisches Denken zentrale Fähigkeit des Menschen, etwas Neues zu beginnen, einen neuen Anfang zu setzen.48

III. Die Überwindung der totalitären Herausforderung schien für die im Pariser Exil wirkenden deutschen Sozialdemokraten seit Beginn des deutsch-französischen Krieges im September 1939 allerdings weit entfernt. Hitlers Herrschaft hatte sie vor mehr als sechs Jahren aus ihrer Heimat vertrieben, und die kriegerische Expansionspolitik des deutschen Diktators und seiner Verbündeten in Staat und Partei, Bürokratie und Wirtschaft, Gesellschaft und Militär, sekundiert von der nunmehr gleichermaßen aggressiven Außenpolitik Stalins, bedrohte ihr Leben fortan auch in der Verbannung. Wo aber sollten die deutschen Demokraten im Exil politisch bleiben, wo ihre geistige Heimat finden, nachdem sich angesichts des zum Weltkrieg drängenden Ansturms der Diktaturstaaten der Sozialismus als eine nachrangige Angelegenheit entpuppt hatte? Bei Marx und Engels jedenfalls und in überkommenen sozialistischen Rezepturen konnten Rudolf Hilferding und Curt Geyer schon lange keine Antworten mehr auf die akuten Probleme des 20. Jahrhunderts finden. Der weltumspannende Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur war in ein neues Stadium getreten. Die außenpolitische Herausforderung durch die totalitären Staaten erforderte vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eine klare Bestimmung seines außenpolitischen Standorts: „Wir 47 Hilferding, Staatskapitalismus oder totalitäre Staatswirtschaft, S. 294 f. 48 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 5. Auflage München 1987, S. 15 f., 166 f.; dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 730. Gerade in Hilferdings Betonung des Unvorhersehbaren und Irrationalen als einem Wesenszug totaler Herrschaft und der ihr eigentümlichen Politik liegt ein Gewinn für jegliche Totalitarismustheorie. Anders, als es Smaldone, Hilferding, S. 251 f., sieht, der Hilferding Defizite hinsichtlich seiner den Primat der Politik gegenüber der Ökonomie betonenden Analysen anlastet, dürfte exakt in diesem „subjektiven Faktor“ auch das wesentliche Moment für die rasche Auflösung der Sowjetunion nach der Übernahme der Herrschaft durch Michail Gorbatschow zu suchen sein.

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fühlen uns als die Verbündeten aller Gegner Hitlers, die für die Freiheit und die Kultur Europas kämpfen, als die Feinde der Despoten und der Kriegstreiber und aller jener, die, wie Stalin, die Kriegstreiber begünstigen.“49 Diese maßgeblich von Geyer und Hilferding geprägte politische Leitlinie implizierte ein Bündnis mit den demokratischen Westmächten im Krieg gegen das Deutsche Reich. „Denn England und Frankreich sind jetzt zu den Vorkämpfern des Menschenrechts und der Kulturentwicklung geworden, und ihre rückhaltlose Unterstützung wird zur Pflicht aller, die behaupten wollen, was das Leben allein lebenswert macht.“ Zusätzlich zu den westeuropäischen Demokratien müssten angesichts der bedrohlichen Kooperation Hitlers und Stalins „aber vor allem in dem Größten und Mächtigsten aller Neutralen, in den Vereinigten Staaten“, die Kräfte aufgerufen werden, „die in diesem Ringen zwischen Freiheit und Despotie gewillt sind, für Kultur und Freiheit den Kampf aufzunehmen“. Die in den Jahren zuvor schon mehrfach in den Publikationen des sozialdemokratischen Exils geäußerte Erwartung, die Vereinigten Staaten würden die europäischen Demokratien in einem Krieg gegen das Deutsche Reich nicht allein lassen und diesen Krieg letztlich zugunsten der Freiheit entscheiden, wurde erneut beschworen: „Die Bildung der Verteidigungsfront ist noch nicht zu Ende.“50 Zum Postulat gemeinsamen Handelns von Demokraten aller Schattierungen im Innern der noch freiheitlich regierten Staaten gesellte sich die durch den Krieg endgültig unter Beweis gestellte Notwendigkeit, diese Staaten auch außenpolitisch zu organisieren, sie im Kampf gegen die totalitären Diktaturen zusammenzuschweißen. Und im Denken Hilferdings und Geyers konnte kein Zweifel darüber bestehen, wo der Platz der deutschen Sozialdemokraten in diesem Konflikt zu sein hatte, zumal ein Erfolg der Westmächte im Entscheidungskampf gegen die Diktaturen schon frühzeitig große Perspektiven zu eröffnen schien: „Englands und Frankreichs Sieg über Hitler wird zum Sieg der Demokratien über die totalitären Staaten überhaupt.“ Von diesem Sieg werde „eine gewaltige Wirkung auf das gesamte europäische Staatensystem ausgehen“; mit der Niederlage der Diktaturen schwinde zugleich die ideologische Anziehungskraft ihrer Systeme – gemeint waren gleichermaßen die nationalsozialistische wie die bolschewistische Herrschaft. „Die Bedrohung all dessen, was Freiheit und Menschenwürde ist, wird schwinden, der Westen, seine Kultur und seine Ideen werden wieder zum Führer“. Darin liege schließlich der Sinn des Krieges, „und deshalb“, so betonte Hilferding zum Jahresende 1939 im Exilorgan der SPD erneut, „bejahen wir rückhaltlos und ohne Vorbehalte den Sieg Frankreichs und Englands“.51

49 An der Schwelle des Krieges. Im Kampfe für Freiheit und Demokratie. In: Neuer Vorwärts vom 2. 9.1939. 50 Richard Kern, Die Krönung des Verrats. Stalin als militärischer Bundesgenosse Hitlers. In: Neuer Vorwärts vom 24. 9.1939. 51 Kern, Der Sinn des Krieges.

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Es erleichterte den deutschen Sozialdemokraten im Umkreis ihres Parteivorstandes im Exil diese Option für den Westen, dass gerade Rudolf Hilferding schon Mitte der zwanziger Jahre in der theoretischen Zeitschrift Die Gesellschaft unter der Parole des „realistischen Pazifismus“ die grundsätzliche Friedensfähigkeit und -willigkeit der bedeutendsten Demokratien USA und Großbritannien konstatiert und analysiert und damit einen wichtigen Beitrag zur Überwindung überkommener antikapitalistischer Ressentiments in der SPD geleistet hatte,52 so wie ja auch die maßgeblich von Hermann Müller konzipierte und mitgeprägte Weimarer Außenpolitik faktisch auf die friedliche Kooperation des Reiches mit den demokratischen Westmächten ausgerichtet gewesen war. An diese Konzeptionen konnte man gedanklich anknüpfen, zumal im Neuen Vorwärts seit Mitte der dreißiger Jahre auch die innergesellschaftliche Entwicklung speziell Großbritanniens als vorbildlich für ein künftiges Deutschland nach Hitler dargestellt worden war. „Wenn man uns fragt nach drei Jahren Hitlerdespotie: ‚Was soll nach Hitler kommen?‘ – so antworten wir: ‚Seht nach England! Blickt auf die lebendige Demokratie in England, das ist das Vorbild. Das soll nach Hitler kommen!‘“53 Unter den führenden Sozialdemokraten im Exil war es unumstritten, dass eine westlich geprägte, pluralistische und freiheitliche, eine militante Demokratie die Deutschland nach Hitler gemäße Staatsform sein werde. Vor allem sei es notwendig, so Friedrich Stampfer in einem Artikel, der nach Kriegsbeginn noch einmal die Vorbildfunktion eines parlamentarisch-demokratischen Systems nach englischem Muster für ein künftiges Deutschland betonte, „der ganzen Arbeiterklasse die Erkenntnis beizubringen, dass die parlamentarische Demokratie keine ‚bürgerliche‘ Staatsform ist, und dass sie der ‚Erhaltung des Kapitalismus‘ mitnichten dient. Vielmehr ist sie dasjenige System, das den Interessen des ganzen arbeitenden Volkes am besten entspricht und ohne dessen Anwendung und Erhaltung der Aufbau eines freiheitlichen Sozialismus undenkbar ist.“54 Sämtliche Schlagworte, die den Sturz des Kapitalismus als vordringliche Aufgabe sozialdemokratischer Politik propagiert hatten, waren aufgegeben worden; die Westmächte galten nicht mehr primär als kapitalistisch, sondern als freiheitlich und demokratisch, ihr Regierungs- und Gesellschaftssystem als Modell für Deutschland. Ganz anders die Sowjetmacht: „Dort in Russland gibt es weder für die deutsche Arbeiterbewegung noch für die gesamte deutsche freiheitliche Opposition etwas zu begrüßen oder zu bejahen, geschweige denn etwas zu sehen, wovon sie lernen könnte.“ Im Gegenteil, forderte Geyer Anfang Oktober 52 Vgl. dazu Smaldone, Hilferding, S. 142–144; Behring, Demokratische Außenpolitik, S. 53 f. 53 Die große Lehre der Demokratie. Europa am Ende des Jahres 1935. In: Neuer Vorwärts vom 29.12.1935. Vgl. auch F[riedrich]. St[ampfer]., Eine Bußpredigt Germaniens. In: Neuer Vorwärts vom 5. 9.1937, und ders., Der Weg der Labour Party von Ramsay Macdonald zu Attlee. In: Neuer Vorwärts vom 28.11.1937. 54 F[riedrich]. St[ampfer]., Lernen wir von England! Das parlamentarische System bewährt sich. In: Neuer Vorwärts vom 29.10.1939.

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1939, das künftige Deutschland müsse antikommunistisch werden, die Sowjetunion dürfe weder eine Schutzmacht noch ein Bündnispartner der deutschen Demokratie werden; ein Übergreifen des Bolschewismus auf Deutschland gar nach dem Sturz Hitlers und damit die weitere Westexpansion Russlands müssten verhindert werden: „Wir wollen jedenfalls in einem neuen, anderen, besseren, freieren Deutschland nicht russisch reden!“55 „Eine kommende deutsche demokratische Republik“ müsse „nicht nur gegen eine Wiederkehr des Hitlersystems, sondern auch gegen die kommunistischen Agenten der russischen Regierung und gegen die Einmischung der russischen Politik in innerdeutsche Verhältnisse gesichert werden“.56 Dieser konsequente, gleichermaßen gegen Nationalsozialismus wie Kommunismus gerichtete antitotalitäre Denkansatz führte Geyer zu der Forderung, „in einem von Hitler befreiten Deutschland“ dürfe es „keine kommunistische Partei mehr geben – so wenig wie es noch eine nationalistische Partei geben darf. Die Vernichtung dieser Parteien ist eine der wesentlichsten Aufgaben der inneren deutschen Politik nach dem Sturze Hitlers“, denn „diese Vernichtung ist notwendig, um den Frieden zu sichern“.57 Es waren nicht zuletzt außenpolitische Motive, die es unter dem Gesichtspunkt der Friedenswahrung dringend geboten erscheinen ließen, extremistische, in Innern wie nach außen aggressive Bewegungen aus der deutschen Politik auszuschalten – der unauflösliche Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik galt auch für eine deutsche Republik nach Hitler. Zur künftigen deutschen Außenpolitik hatte sich Curt Geyer bereits 1937 in einem grundlegenden Beitrag geäußert, der „die demokratische Alternative der deutschen Außenpolitik“ in Auseinandersetzung mit der traditionellen Großmachtpolitik des Deutschen Reiches entwickelte, die in der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung gerade wieder ein für ganz Europa gefährliches Stadium zu erreichen drohte.58 Die expansiven Ziele und die Großmachtambitionen des Dritten Reiches, die nationalsozialistische Machtmetaphysik hätten „nichts mit dem wahren Interesse des Volkes, dem wahren nationalen Interesse zu tun“. Vielmehr müssten ihre „überwältigende[n] Lebens-, Versorgungs-, Entwicklungs- und Kulturinteressen“ die Deutschen „vom Militärstaat, von der Machtmetaphysik der Großmacht und ihren Expansionstendenzen wegführen“. Die demokratische Alternative der deutschen Politik bedeute deshalb „Absage an den Großmachtwahn. Absage an die damit verbundenen weltpolitischen Ambitionen. Absage an die auf Herrschaft und Ausbeutung zielenden Expansionstendenzen.“ Auch ein so großes Volk wie das deutsche müsse „nicht notwendig Weltmacht sein, um wirtschaftlich und kulturell blühen und gedeihen und sich zu einem hervorragenden Rang unter 55 G[eyer]., Die russische Machtpolitik. 56 C[urt]. G[eyer]., Soll Deutschland bolschewistisch werden? In: Neuer Vorwärts vom 5.11.1939. 57 C[urt]. G[eyer]., Die Bundesgenossen Hitlers. Die deutschen Kommunisten auf Befehl Stalins für den Hitlerfrieden. In: Neuer Vorwärts vom 14. 4.1940. 58 Max Klinger [d. i. Curt Geyer], Deutschland und Europa. Grundfragen der deutschen Politik. In: Neuer Vorwärts vom 29. 8.1937. Daraus auch die folgenden Zitate.

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den Völkern entwickeln zu können“. Ein Deutschland nach Hitler, das „nach demokratisch-rationalen Prinzipien geführt wird“, werde sich gemäß dem „Prinzip des freien Weltverkehrs und des Freihandels“ und „im Einklang mit den Ideen, die der Gleichgewichtsordnung Europas auf der Basis des Völkerbundes zugrundelagen“, in eine Friedensordnung einfügen, die insbesondere auch den Interessen der kleineren Nationen Rechnung tragen müsse. Insgesamt werde die künftige deutsche Republik innen- und außenpolitisch weitgehend an die Weimarer Republik anknüpfen können, bei allen notwendigen Modifikationen und Verbesserungen im Einzelnen, an eine Staatsform, die – im sozialdemokratischen Verständnis – „systematisch auf den Abbau von ausbeuterischen Herrschaftsverhältnissen im Innern hinarbeiten wollte“ und die gerade deshalb „im Ideellen mit expansiver Großmachtpolitik unvereinbar“ gewesen sei, denn „solange Deutschland demokratisch war mit sozialer Tendenz, solange konnte und durfte es niemals Großmacht im klassischen Sinne des Wortes sein“. Der Rückgriff auf die innen- und außenpolitischen Grundlagen der Weimarer Republik bei kontinuierlicher weiterer Annäherung an das Vorbild der westlichen parlamentarischen Demokratien bildete auch 1939/40 die Basis für weitergehende Überlegungen sozialdemokratischer Exilpolitiker zur Zukunft des deutschen Staatswesens im europäischen und weltweiten Kontext.59 Hilferding und Geyer skizzierten in den ersten beiden Kriegsjahren den Ort, den die künftige deutsche Republik im Geflecht der internationalen Beziehungen einnehmen sollte. Ein Platz an der Seite der Sowjetunion galt dabei von vornherein als ausgeschlossen. In seinen „Bemerkungen über die Frage der Kriegsziele und über das Problem der Vereinigten Staaten von Europa“, die Rudolf Hilferding Ende Januar 1940 dem Pariser Rumpf-Parteivorstand der SPD vorlegte,60 bekräftigte er, „das allererste und wichtigste Kriegsziel“ sei „der Sieg der Westmächte“. Dieses Ziel sei noch wichtiger geworden, seit „auch die andere barbarische Großmacht, Russland, auf die Gegenseite getreten ist“. Ein bolschewistisches Russland könne jedenfalls ebenso wenig wie ein faschistisches Italien als Mitglied in eine europäische Föderation aufgenommen werden, die unter der Voraussetzung einer deutschen Niederlage vorerst nur unter der Führung Großbritanniens und Frankreichs denkbar schien. Größeres Augenmerk als seinen noch recht vagen Überlegungen zur Einigung Europas widmete Hilferding der Neugestaltung eines über den alten Kontinent hinausweisenden Völkerbundes, und das hatte seinen guten Grund: Es müsse „das Ziel jeder auswärtigen Politik bleiben [...], die Vereinigten Staaten von Nordamerika zur Mitarbeit heranzuziehen“. Das Modell organisierter zwischenstaatlicher Zusammenarbeit 59 Vgl. etwa C[urt]. G[eyer]., Die Republik von Weimar. Die deutsche Demokratie und die französische Sicherheit. In: Neuer Vorwärts vom 6. 8.1939, und ders., Kein Hitlerfrieden. Der Krieg für Frieden und Freiheit in Europa. In: Neuer Vorwärts vom 15.10.1939. 60 Rudolf Hilferding, Bemerkungen über die Frage der Kriegsziele und über das Problem der Vereinigten Staaten von Europa, 29.1.1940. In: Klaus Voigt (Hg.), Friedenssicherung und europäische Einigung. Ideen des deutschen Exils 1939–1945, Frankfurt a. M. 1988, Dok. Nr. 4, S. 50–55. Daraus die folgenden Zitate.

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im Rahmen eines Völkerbundes hielt Hilferding trotz aller offensichtlichen Mängel seiner tatsächlichen Arbeit während der Zwischenkriegszeit keineswegs für verfehlt oder überholt.61 Allerdings müssten einige Modifikationen vorgenommen, etwa ein wirksameres Statut nach dem Muster des 1924 gescheiterten Genfer Protokolls geschaffen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf der Basis des Freihandels gefördert werden, vor allem aber müssten die Regierungen der Mitgliedstaaten eine wirksamere Politik gegenüber Friedensbrechern verfolgen. Und dabei würden die Gewaltmittel herkömmlicher Machtpolitik zur Sicherung des Friedens einstweilen unverzichtbar sein: „Von einer allgemeinen Abrüstung der Westmächte nach dem Kriege“ könne man „nichts erwarten“. Vielmehr werde „die Stärke der Westmächte [...] notwendig sein gegenüber den Drohungen, die auch nach dem Krieg in Europa bestehenbleiben und gegenüber der Entwicklung in dem Fernen Osten“. Solange die Bedrohung der Freiheit durch aggressiv-expansionistische Mächte anhielt, lautete die Konsequenz aus Hilferdings Überlegungen, solange müsse die militärische Stärke und möglichst die Überlegenheit der westlichen Demokratien, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, aufrechterhalten werden. „Wie lange dieser Zustand notwendig sein wird, ist vor allen Dingen eine Frage der demokratischen Entwicklung.“ Nur die Ausbreitung freiheitlich-demokratischer Lebens- und Verfassungsformen über den Erdball bot Hilferding die Gewähr für einen dauerhaft gesicherten Frieden, weil ihm nur Demokratien als strukturell friedensfähig galten. – Es verstand sich von selbst, dass ein geläutertes, vom Nationalsozialismus befreites und gesäubertes Deutschland ein Mitglied sowohl eines neuen transatlantischen Völkerbundes als auch einer noch ferner scheinenden europäischen Föderation unter britischfranzösischer Führung sein würde. Ja, Friedrich Stampfer sprach bereits offen aus, was sich als logische Konsequenz unabweisbar aus dieser Vision ergab: „Vielleicht wird es in ein paar Jahren der lebhafte Wunsch Englands und Frankreichs sein, dass eine neue deutsche Republik gerüstet bleibt“, und „vielleicht werden die deutschen Sozialdemokraten geneigt sein, sich im Interesse des eigenen Landes und ganz Europas diesem Wunsche anzuschließen“. Denn „ein Antimilitarismus, der den zuletzt übrig gebliebenen Militarismus“ – offensichtlich dachte Stampfer an die Sowjetherrschaft – „zum Herrn der Welt macht, ist Selbstmörder aus Unverstand“.62 Die bei Hilferding bereits angedeutete transatlantische Zusammenarbeit der Demokratien auf der Basis des Freihandels als Grundstein einer Neuordnung der internationalen Beziehungen nach dem Krieg griff Curt Geyer im April 1941 in einer brillanten Synthese nochmals auf, die den Höhepunkt des in der ExilSPD erzielten freiheitlich-demokratischen und antitotalitären Konsenses mar61

Vgl. auch Richard Kern, Zwischenakt in Genf. Die Ächtung des Angreifers. In: Neuer Vorwärts vom 24.12.1939; Für den Völkerbund. Ein Telegramm des sozialdemokratischen Parteivorstands. In: Neuer Vorwärts vom 17.12.1939. 62 F[riedrich]. St[ampfer]., Die Internationale und der Krieg. Einigkeit und Verwirrung. In: Neuer Vorwärts vom 15.10.1939.

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kierte.63 In einem Hotelzimmer in Lissabon entwarf Geyer eine „Skizze über den kommenden Frieden“, in der er die „großen Linien für einen kommenden dauernden Friedenszustand“ nach dem Siege der Alliierten darlegte.64 Dazu sei zunächst einmal die Wiederherstellung der europäischen Nationalstaaten auf der Basis „der Freiheit und Rechtsgleichheit der Völker“ nötig, im Wesentlichen gemäß den territorialen Regelungen der Zwischenkriegszeit. Die Nationalstaaten müssten mit gleichen Rechten in einen neuen Völkerbund eintreten, der im Zentrum von Geyers Überlegungen stand. Der Völkerbund würde die Souveränität der Mitgliedstaaten in dreierlei Hinsicht zu beschränken haben: zur Unterbindung von wirtschaftlicher Absperrung und Autarkie, zur Unterbindung von totalitären Diktaturen und zur Unterbindung von kriegerischem Nationalismus. „Die Bildung eines solchen Völkerbundes“ setze, darin liegt das entscheidende Kriterium und der wesentliche Unterschied von Geyers Vorschlag zum Völkerbund der Zwischenkriegszeit wie auch zu den Vereinten Nationen begründet, „in allen beteiligten Ländern eine demokratisch-liberal-rechtsstaatliche Verfassung voraus“. Denn „totalitären Systemen gegenüber sind alle Rechtsforderungen oder Souveränitätsbeschränkungen illusorisch“. Der Völkerbund müsse „mit dem Recht der Intervention in die inneren Angelegenheiten der Nationalstaaten ausgestattet werden“, um eben „der Wiedererstehung eines totalitären Systems, der Wendung zur Autarkie oder der Wendung zu kriegerischer Eroberungspolitik“ rechtzeitig begegnen zu können. Mit diesem Interventionsrecht sei „die Pflicht aller Völkerbundsmitglieder zur Durchführung seiner Beschlüsse und zur Erzwingung der Durchführung gegen den Rechtsbrecher“ zu verbinden. Geyer wollte seine Überlegungen ausdrücklich nicht auf Europa beschränkt sehen – die Zielrichtung war auch hier deutlich: „Das Versagen des alten Völkerbundes war nicht nur in seiner Verfassung begründet, sondern auch vor allem in dem Umstand, dass die Vereinigten Staaten von Nordamerika dem Völkerbund nicht angehörten.“ Ein wirklich umfassender Bund von „demokratischliberal-rechtsstaatlich“ verfassten Staaten konnte auf die aktive Mitarbeit und Gestaltungskraft der größten und mächtigsten Nation, die diesem Kriterium ent63 Curt Geyer, [Skizze über den kommenden Frieden], Anlage zu Curt Geyer an Erich Ollenhauer vom 21. 4.1941 (AdsD, Bestand PV-Emigration Sopade, Mappe 44). Daraus die folgenden Zitate. Vgl. zum Zusammenhang Behring, Demokratische Außenpolitik, S. 406–410. 64 Wie sehr Geyers Skizze als direkte Antwort auf die totalitäre Herausforderung zu verstehen ist, ergibt sich aus seiner ebenso düsteren wie realistischen Charakterisierung der Politik einer dauerhaft siegreichen NS-Diktatur (ebd.): „Es versteht sich von selbst, dass ein solches System nach Ausdehnung seiner Herrschaft über die Welt streben wird. Bereits heute kämpft Deutschland nicht nur um die Herrschaft über Europa, sondern um die Weltherrschaft. Es zielt auf Afrika, Vorderasien, auf die fruchtbaren und an Erdöl und Mineralien reichen Gebiete Russlands, es richtet seine Blicke auf Südamerika. Die Errichtung der ‚deutschen‘ Ordnung über Europa würde zu einem Jahrhundert fortgesetzter Kriege zwischen den Kontinenten [...] führen, in dem die freiheitliche und kulturelle Entwicklung der Völker durch den unaufhörlichen Machtkampf ausgelöscht werden würde.“

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sprach, keinesfalls verzichten. Es ging Geyer im Kern um ein europäisch-atlantisches Bündnis freiheitlicher Demokratien, als dessen gleichberechtigtes Mitglied auch ein neues Deutschland seinen Platz in der internationalen Gemeinschaft finden würde. Diese Vision ergab sich konsequent aus einem dichotomischen Weltbild, das die Gegenwart durch eine globale Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur geprägt sah und in dem es kein Unentschieden geben konnte und durfte, weil kein dauerhafter Frieden in Freiheit möglich schien, solange noch mächtige Staaten existierten, die von einer totalitären oder aggressiv-nationalistischen Diktatur beherrscht wurden. Allein der weltweite Triumph der Demokratie – gleichbedeutend mit dem Moment, in dem der neue Völkerbund wirklich alle Staaten der Erde umfassen würde – konnte diesen säkularen Konflikt beenden. In diesem Augenblick würde schließlich „die Macht der britischen und amerikanischen Demokratie zum beherrschenden Faktor der politischen Neugestaltung der Welt“ geworden sein.65 Die Option für den Westen bildete die unausweichliche Konsequenz des bedingungslosen sozialdemokratischen Kampfes gegen die totalitäre Herausforderung.

IV. Diese radikale antitotalitäre Vision fand im Londoner Rumpfvorstand der ExilSPD kein dauerhaftes Echo mehr. Ihre Vordenker Hilferding und Geyer fielen aus – der eine starb bereits im Februar 1941 unter ungeklärten Umständen in Pariser Gestapohaft, der andere entfremdete sich 1942 nach einem weiteren der für ihn so charakteristischen abrupten politischen Kurswechsel vom Parteivorstand und der deutschen Sozialdemokratie66 – und blieben im englischen Exil ohne direkte Nachfolger – allein Friedrich Stampfer vom alten Parteivorstand dachte in New York in ihren Bahnen weiter.67 Die aktuellen SPD-Vorsitzenden im Exil, Hans Vogel und Erich Ollenhauer, waren intellektuell wenig bewegliche Parteifunktionäre und den geistigen Höhenflügen Geyers letztlich nicht gewachsen – Ollenhauer noch weniger als Vogel. Zudem entwickelte sich die weltpolitische Lage im Laufe des Spätjahres 1941 in einer Weise, welche die Klärung der Fronten, die sich 1939 ergeben hatte, wieder in Frage zu stellen schien: Der sich abzeichnende militärische Erfolg der Sowjetunion im ihr vom Deutschen Reich aufgezwungenen Krieg und die Möglichkeit, dass sich die UdSSR am Ende unter den für die Neuordnung maßgeblichen Siegermächten befinden würde, machten es in den Augen Vogels und Ollenhauers – unter dem Einfluss der linkssozialistischen Politiker, mit denen sie seit 1941 im Rahmen der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien zusammenarbeiteten –, 65 Schuld und Sühne. In: Sozialistische Mitteilungen, Nr. 27 von Ende Juni 1941. 66 Vgl. dazu ausführlich Später, Vansittart, S. 285–418. 67 Vgl. zu ihm und ähnlich argumentierenden Sozialdemokraten wie Albert Grzesinski, Gerhart Seger und Max Brauer im amerikanischen Exil Behring, Demokratische Außenpolitik, S. 492–544.

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notwendig, für ein künftiges Deutschland Wege zur friedlichen Kooperation mit der Sowjetmacht offen zu halten, zumal wenn die Einheit des Reiches auf dem Spiel stehen sollte. Dafür waren sie bereit, die enge und einseitige Anlehnung an die Westmächte preiszugeben, die im Zentrum der Konzeptionen Hilferdings und Geyers gestanden hatte.68 Den Konflikt zwischen der nationalen Frage und der Option für den Westen, der sich seit 1945 für alle politischen Kräfte in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands und seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland auftat, vermochte die SPD-Führung lange nicht erfolgreich zu bewältigen. Folglich blieb die Entscheidung für die außenpolitische Westbindung des jungen Staatswesens und ihre Verwirklichung der christdemokratisch-liberalen Regierung unter Konrad Adenauer vorbehalten: „Der Welt aber bietet sich das Schauspiel, dass die Katholiken unser außenpolitisches Programm verwirklichen, während wir schimpfend hinterherlaufen“, kennzeichnete Friedrich Stampfer 1951 in einem Schreiben an Ollenhauer verbittert die Situation.69 Kurt Schumacher jedenfalls war mental nicht dazu in der Lage, an die Überlegungen Hilferdings und Geyers anzuknüpfen – wenn er sie denn kannte –, weil sein ausgeprägter Sinn für den Vorrang der Gleichberechtigung Deutschlands nach Hitler gegenüber den Westmächten Züge einer inkommensurablen nationalistischen Haltung annahm. Inwieweit Schumacher bei allem kompromisslosen Antikommunismus und trotz seiner Neigungen zu einer innergesellschaftlichen Orientierung an westlichen Vorbildern überhaupt dazu bereit war, außenpolitisch in Form eines politischmilitärischen Bündnisses mit den Westmächten zusammenzuarbeiten, blieb angesichts der in sich widersprüchlichen und schwankenden Politik der Sozialdemokratie unklar.70 Unter Ollenhauers Vorsitz begab sich die SPD dann bis Mitte der fünfziger Jahre sogar noch einmal auf einen von Wunschdenken und Pazifismus dominierten Kurs des Primats der nationalen Frage, der um der Wiedervereinigung Deutschlands willen dessen außenpolitische Neutralität hinzunehmen bereit war.71 Die Realität der internationalen Beziehungen im Zeichen des fortdauernden Ost-West-Konflikts, die unverändert bestehende Problematik der Konfrontation von Demokratie und Diktatur über das Kriegsende 1945 hinaus ließen allerdings die Überlegungen Geyers und Hilferdings keineswegs als überholt erscheinen: Die Option für den Westen, die Integration in die Nordatlantische Bündnisorganisation, sollte die bundesdeutsche Politik nachhaltig bestimmen, und sie tut das bis in die Gegenwart. Diesem nicht zuletzt antitotalitären Konsens konnte sich auch die deutsche Sozialdemokratie nicht dauerhaft entziehen. Willy Brandt, der in der Zeit seines Exils politisch noch in einer ganz anderen 68 Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 473–491. 69 Friedrich Stampfer an Erich Ollenhauer vom 22. 9.1951. Zit. nach ebd., S. 642. 70 Vgl. dazu Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945–1965, ND Bonn 1996, S. 194– 228. 71 Ebd., S. 326–355.

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Ecke verharrt hatte, agierte als Bundesaußenminister und als Bundeskanzler zumindest partiell im Sinne Hilferdings und Geyers, Helmut Schmidts „Strategie für den Westen“72 entsprach in vielerlei Hinsicht ihren Vorstellungen. Noch die Außenpolitik Gerhard Schröders ließ trotz manchen Dissenses mit den US-amerikanischen und britischen Bündnispartnern keinen Zweifel daran, dass sie auch unter veränderten deutschland- und weltpolitischen Rahmenbedingungen und angesichts neuartiger Bedrohungen für die Freiheit im Grundsätzlichen auf einen stabilen und fortdauernden Konsens mit den unverändert wichtigsten westlichen Demokratien gegründet war. – Einer der Sozialdemokratie eigentümlichen Geschichtsvergessenheit im Hinblick auf die Verfechter einer parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung in ihren Reihen, gewiss auch einem verbreiteten latenten Antiamerikanismus ihrer Intellektuellen, ist es geschuldet, wenn Vordenker einer demokratischen und westorientierten deutschen Außenpolitik wie Rudolf Hilferding, Curt Geyer, aber auch Hermann Müller73 in der gegenwärtigen Diskussion um Deutschlands Rolle in der Welt keine Rolle spielen. Man hat sie vergessen.

72 Vgl. Helmut Schmidt, Eine Strategie für den Westen, Taschenbuchausgabe München 1988. 73 Siehe zu Müller vorläufig Rainer Behring, Wegbereiter sozialdemokratischer Außenpolitik: Hermann Müller. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 4. 2006, S. 8.

No longer a „German patriot“? Eduard Heimann an der New School for Social Research Gerhard Besier Eduard Heimann gehört zu den vergessenen Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts.1 Zu Unrecht, denn er galt seinen Zeitgenossen als Sozialökonom und Religionsphilosoph von hohem Rang und meisterlicher Vielfalt. Wie kein anderer verknüpfte er soziologisches, wirtschaftstheoretisches und religiöses Gedankengut miteinander. Und er war einer der „gescheitesten Vordenker eines freiheitlich-demokratischen Sozialismus“2. Trotz intensiver Suche konnte der Nachlass Heimanns bisher nicht aufgefunden werden. Archivalische Spuren seines Lebens und Wirkens gibt es in Hamburg, Darmstadt, Harvard, Oxford und New York. Ich beginne mit einer kurzen Lebensbeschreibung, skizziere seine Gedanken vor der Emigration 1933 und gehe dann ausführlicher auf seine englischsprachigen Schriften während der Nazizeit ein. Letztere sind bisher so gut wie unbeachtet geblieben, was erstaunlich ist, denn Heimann beschäftigte sich während dieser Zeit mit den historischen Bedingungen des Kapitalismus, den sozialen, ökonomischen und weltanschaulichen Grundlagen der Diktaturen, dem Geist des Sozialismus und den Merkmalen einer freiheitlichen Demokratie. Eduard Heimann wurde am 11. Juli 1889 in Berlin geboren.3 Er entstammte einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Konitz in Westpreußen. 1 2 3

Bei William David Jones, The Lost Debate. German Socialist Intellectuals and Totalitarianism, Urbana-Chicago 1999, findet er nicht einmal Erwähnung. So Heinz Rieter, Art. Eduard Heimann. In: Harald Hagemann / Claus-Dieter Krohn (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Band 1, München 1999, S. 242–251, hier 248. Vgl. hierzu und zum Folgenden Heinz Gollnick, Eduard Heimann – in memoriam. In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 13 (1968), S. 247–249; Heinz-Dieter Ortlieb, Eduard Heimann. Sozialökonom, Sozialist und Christ. In: ebd., S. 250–266; Adolph Lowe, Nachruf für Eduard Heimann. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 124 (1968), S. 209–211; Klaus-M. Kodalle, Politische Solidarität und ökonomisches Interesse. Der Begriff des Sozialismus nach Eduard Heimann. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 26/ 1975, S. 3–32; August Rathmann, Eduard Heimann (1889–1967). Von Marx und seiner „überwältigend großartigen“ Lehre zum religiös-freiheitlichen Sozialismus. In: Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten. Hg. von Peter Lösche, Michael Scholing und Franz Walter, Berlin (West) 1988, S. 121–144; Rieter, Heimann, S. 242–251.

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Sein 1951 verstorbener Vater war Verleger und ein bekannter sozialdemokratischer Politiker. Als Reichstagsabgeordneter führte er – mit einer kurzen Unterbrechung – von 1919 bis 1932 den Vorsitz im wichtigen Haupthaushaltsausschuss. 1926 verlieh man ihm die Ehrenbürgerschaft Berlins. In seinem Haus verkehrten August Bebel, Karl Kautsky, Clara Zetkin und andere sozialistische Politiker. Sein Sohn Eduard Heimann legte nach dem Besuch des Französischen Gymnasiums das Abitur ab und studierte anschließend Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Heidelberg, Wien und Berlin. Zu seinen Lehrern gehörten Franz Oppenheimer, Emil Lederer und Alfred Weber (Heidelberg). Bei Letzterem promovierte er zum Dr. phil. mit einer Arbeit „Zur Kritik der Sozial-Methode“. Danach ging er für mehrere Jahre in die Wirtschaft. Warum er nicht am Krieg teilnahm, ist ungewiss;4 vermutlich war eine schwere Krankheit der Grund. Zwischen 1919 und 1922 arbeitete er als Generalsekretär bzw. Sekretär der beiden Sozialisierungskommissionen und hatte während dieser Zeit engen Kontakt mit Walther Rathenau.5 Aus dieser Tätigkeit ging 1922 ein Buch über „Mehrwert und Gemeinwirtschaft“ hervor, nach Adolf Löwe (später: Adolph Lowe) das erste „Modell [...] für eine sozialistische Marktwirtschaft“6. Mit dem ersten Teil des Buches habilitierte sich Heimann Anfang 1922 an der Universität zu Köln, habilitierte sich dann sogleich nach Freiburg um und las dort als Privatdozent Finanzwissenschaft und Sozialpolitik. Ostern 1923 machte er auf einer Tagung der Jungsozialisten in Hofgeismar in einem Referat über „Staat und Wirtschaft“ deutlich, dass er sich dem Berliner Kairos-Kreis der religiösen Sozialisten um Paul Tillich zugehörig fühlte. Über den Zirkel von zehn bis zwölf Personen konnte er freilich auch selbstkritisch sagen, es handele sich um „naive, optimistische, esoterische, exzentrische Akademiker“.7 Die intellektuelle Abhängigkeit Heimanns von Tillich jedenfalls sollte ein Leben lang andauern.8 Er hat sich „nie ganz der geistigen Vormundschaft Paul Tillichs entziehen können oder wollen“.9 Tillich, den seine Freunde „Paulus“ nannten, hatte Heimann die Rolle des „Petrus“ zugedacht.10 Unter dem Einfluss des bekannten Theologen verlor seine wirtschaftswissenschaftliche Arbeit „mehr und mehr den 4

Vgl. Interview mit Heinz-Dietrich Ortlieb über Heimann. In: Birgit Ladwig, Eduard Heimann: Nationalökonom und religiöser Sozialist (1912–1933), Diplomarbeit im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Uni Hamburg (1991), S. 123. 5 Diese Tatsache allerdings wird auch in der kürzlich erschienenen Rathenau-Biographie nicht erwähnt, vgl. Christian Schölzel, Walther Rathenau. Eine Biographie, Paderborn 2006. 6 Lowe, Nachruf Heimann, S. 209. 7 Zit. nach Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Stuttgart 1978, S. 81. 8 Siehe z. B. Eduard Heimann, Communism, Fascism, or Democracy?, New York 1938, S. 225, Anm. 8. Hier heißt es, bezogen auf ein Kapitel dieses Buches: „The following section bears witness to the deep influence that the teachings of Paul Tillich – both literary and personal – have had upon the author for many years.“ 9 So Rieter, Heimann, S. 249. 10 Vgl. August Rathmann, Ein Arbeiterleben. Erinnerungen an Weimar und danach, Wuppertal 1983, S. 168. Siehe auch den Briefwechsel Heimann-Tillich, Harvard Universi-

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konkreten Realitätsbezug, so dass er [später in den USA] für die Studenten immer weniger verständlich wurde“.11 Heimann publizierte auch im Organ des Kairos-Kreises, den „Blättern für religiösen Sozialismus“. Unter Kairos verstanden sie die existentielle Krisensituation nach dem Ersten Weltkrieg; Tillich sah in dieser Zäsur „ein epochemachendes Zeitmoment“.12 1925 erhielt Heimann einen Ruf auf den Lehrstuhl für Theoretische und Praktische Sozialökonomie an die erst 1919 gegründete Hamburgische Universität. Im Jahr darauf schloss er seine Schrift „Die sittliche Idee des Klassenkampfes“ ab. Darin verteidigte er den Klassenkampf „als die leidenschaftliche Aufwallung gegen das Unrecht der Ausstoßung aus der Gemeinschaft“. Es handele sich um einen „emotionalen, ein[en] menschlichen Vorgang“ – nämlich das „Ringen mit einer großen Not, das Ringen um Gestaltung aus dem tiefsten Chaos, in das Menschen gestürzt sein können“.13 Als Jude und Sozialdemokrat – er war 1926 der SPD beigetreten14 – durfte er schon im Sommersemester 1933 nicht mehr lesen und emigrierte Ende des Jahres mit seiner Familie über die Niederlande in die Vereinigten Staaten. Dort fand er sofort eine Anstellung an der neu gegründeten ExilUniversität, der New School for Social Research in New York.15 Dort lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1958 Wirtschaftswissenschaft. Daneben studierte er bei Paul Tillich am Union Theological Seminary evangelische Theologie und ließ sich von diesem 1955 auch taufen. Seit 1948 kam er mehrfach zu Gastvorlesungen nach Europa, 1951 beschloss die Freie und Hansestadt Hamburg, Heimann als Wiedergutmachung die Rechtsstellung eines emeritierten Ordinarius einzuräumen. 1963 kehrte Heimann endgültig nach Hamburg zurück, wo er bis zu seinem Tod am 31. Mai 1967 lebte. Heimanns Denken ruhte auf zwei Säulen. Als überzeugter religiöser Sozialist, der er zeitlebens war, sah er den freiheitlich-demokratischen Sozialismus als „den einzig legitime[n] Erbe[n] und Fortsetzer der christlich-abendländischen Geistestradition“.16 Die lutherischen Kirchentümer und mehr noch der Römische Katholizismus werden als willfährige Instrumente der Ausbeutung und

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ty, Cambridge MA, Tillich Papers, Box VII. Hier redet Tillich den Freund immer mit „Peter“ an. So Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt a. M. 1987, S. 204 f. Paul Tillich, Kairos. In: Die Tat, 14 (1922). Sonderheft über religiösen Sozialismus, S. 330–350, hier 342. Eduard Heimann, Die sittliche Idee des Klassenkampfes und die Entartung des Kapitalismus, Berlin 1926, S. 44, 46. Vgl. Eduard Heimann, Warum SPD? In: Neue Blätter für den Sozialismus, 2 (1931), S. 590–603. Vgl. Peter M. Rutkoff / William B. Scott, New School: a history of the New School for Social Research, New York 1986 und http://cepa.newschool.edu / het / schools / newsch.htm. Eduard Heimann, Sozialismus, Kommunismus und Demokratie. In: Neue Blätter für den Sozialismus, 3 (1932), S. 622–625, Zitat 624 f.

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Herrschaftsausübung scharf kritisiert.17 In der konservativ-romantischen Ideologie des Mittelalters wie in der rationalen Eigengesetzlichkeit der Welt Luthers konnte das Glaubensbedürfnis des Proletariats keine Erfüllung finden. Dagegen erscheint der Sozialismus „als religiöse und sittliche Kraft unserer Zeit“, als „Kampf um die Lebenserneuerung, um die Wiederherstellung des Lebenssinns, um die Befreiung der großen Masse der Menschen aus der Erniedrigung im Kapitalismus“18. Wie Leonard Ragaz und andere religiöse Sozialisten gehörte Heimann damit von vornherein zu den Gegnern des orthodoxen Marxismus – jenen, die es ablehnten, den Klassenkampf ethisch oder gar religiös zu begründen. Auch den „Kapitalismus“ in Gestalt einer „rein rational durchgeformten ökonomischen Gesellschaftsordnung“ lehnte Heimann als „dämonische“ Ordnung ab. Denn ungezähmt führe dieses System aufgrund eigennütziger Interessenkämpfe zum „Ende der Gesellschaft“ als einer Gemeinschaft.19 Dies erkannt zu haben, sei das bleibende Verdienst von Karl Marx. Allerdings argumentierte Heimann, dass die durch den entfalteten Kapitalismus verursachte Vereinzelung die Proletarier ihres christlichen Lebenssinns beraube. „Dies ist der tiefste Grund unserer Gegnerschaft gegen den Kapitalismus, dass er die Menschen verhindert, sich ihrer Gemeinschaft bewusst zu werden und in dieser Gemeinschaft zu erstarken.“20 Die dämonische kapitalistische Gesellschaft sollte durch eine theonome (gottesgesetzliche) abgelöst werden, in der die Liebe zum Mitmenschen und die rechtssetzende Gemeinschaft die bestimmenden Grundkategorien der Gesellschaftsgestaltung sein sollten.21 Aus dem wiederbelebten, religiös grundierten Gemeinschaftsgeist sollte – auf dem Reformweg und über Erziehungsmaßnahmen – die neue Gesellschaft erwachsen. Die auf dem religiösen Sozialismusbegriff basierende Vision einer „neuartigen Weltgestaltung“22 füllte Heimann auf der handlungstheoretischen Ebene mit nationalökonomischen Erkenntnissen, wobei er sich pragmatisch aus dem ökonomischen Fundus der Theorien und Methoden seiner Zeit bediente und geschichtliche, soziale und ökonomische Elemente zu einem holistischen Modell mit ständestaatlichen Zügen23 zu verknüpfen suchte. Mit Hilfe einer Sozialpolitik im Sinne einer umfassenden sozialen Reformpolitik wollte Heimann ein 17 18

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Vgl. u. a. Eduard Heimann, Freedom and Order. Lessons from the War, New York 1947, S. 41 ff. Zit. nach Rathmann, Heimann (1988), S. 125. Vgl. Eduard Heimann, Marktwirtschaft, Klassengesellschaft und Sozialpolitik. Über die wissenschaftlichen Grundlagen der Sozialpolitik und ihr Schrifttum. In: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift, 3 (1924), S. 45–71, hier 54 ff. Vgl. Heimann, ebd., S. 54 ff. Siehe auch Heimann, Die sittliche Idee des Klassenkampfes, S. 88 ff. Eduard Heimann, Stimmen von der Hannoverschen Tagung. [Heimanns] Rede am 13. 9.1921. In: Blätter für religiösen Sozialismus, 2 (1921), S. 41–48, hier 43. Vgl. Paul Tillich, Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf. In: Blätter für den religiösen Sozialismus, 4 (1923), S. 1–24, hier 16 f. Eduard Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik, Tübingen 1929, S. 140. Vgl. Heimann, Marktwirtschaft, S. 54 ff.

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funktionsfähiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Wirklichkeit werden lassen, das sozialistische wie kapitalistische Elemente so miteinander verband, dass deren inhumane Züge eliminiert wurden und das Modell einer „sozialistischen Marktwirtschaft“24 entstand. Dabei verstand er auf dieser Ebene das schillernde Begriffspaar „Sozialismus versus Kapitalismus“ mehr als Sozialtechniken denn als weltanschauliche Konzepte. Wie viele seiner Zeitgenossen diskutierte er die bei der Konzeptualisierung anfallenden Probleme in ordnungstheoretischen Paradigmen. Da aufgrund seiner religiös-sozialistischen Gesinnung normative Elemente in den wissenschaftlichen Aussagezusammenhang seiner Theorie der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme mit einflossen, erfüllte Heimann den selbst an seine Arbeit gestellten Anspruch, vorurteilsfreie Sozialwissenschaft im Sinne Max Webers zu betreiben, meist nicht.25 Während dieser 1904 forderte, strikt zwischen sozialwissenschaftlicher Tatsachenerkenntnis und sozialpolitischen Werturteilen zu unterscheiden, unternahm Heimann 1929 den Versuch, der Sozialpolitik eine wissenschaftliche Basis zu geben. Er verstand Sozialpolitik nicht als störendes Element in einer freien Marktwirtschaft, sondern als konsequente Weiterentwicklung des ökonomischen Liberalismus aus dessen eigenem Freiheitsimpetus heraus.26 August Rathmann, mit Heimann, Fritz Klatt und Paul Tillich Herausgeber der „Neuen Blätter für den Sozialismus“, vertrat die Auffassung, dass Heimanns zwischen 1933 und 1945 gewonnenen Erfahrungen ihn vielleicht zu vertieften Einsichten geführt hätten, „aber die Kontinuität in der Grundlinie und im Stil des Denkens bleibt gewahrt“.27 Demgegenüber ist sein Schüler und Nachfolger auf dem Hamburger Lehrstuhl, Heinz-Dietrich Ortlieb, der Meinung, in den USA hätten sich seine Auffassungen „sehr geändert“. Er sei zu der Überzeugung gelangt, „dass der Schwerpunkt der Ordnungspolitik nicht in dem Gegensatz Privateigentum-Gemeineigentum, Planwirtschaft-Marktwirtschaft“ liege, „sondern dass vielmehr die Frage der Demokratie entscheidend“ sei.28 Tatsächlich behandelt Heimann das Verhältnis von „Sozialismus und Demokratie“ in dieser dualen Begrifflichkeit erstmals 1934 in einem so betitelten Aufsatz.29 Darin versucht er zu zeigen, dass das „essentielle Ziel des Sozialismus“ 24 Vgl. Eduard Heimann, Mehrwert und Gemeinwirtschaft. Kritische und positive Beiträge zur Theorie des Sozialismus, Berlin 1922; ders., Sozialistische Wirtschafts- und Arbeitsordnung, Potsdam 1932 (Neuauflage Offenbach/M. 1948); ders., Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen 1963, bes. Kap. VI. 25 Siehe zur späteren Auseinandersetzung mit Max Weber Heimann, Freedom and Order, S. 254 f., 270. Darin wirft er Weber und den „Logischen Positivisten“ vor, mit ihrer Sicht der Dinge zu einem religiösen Vakuum beigetragen zu haben. 26 Vgl. Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik, Tübingen (1929), 2. Auflage Frankfurt a. M. 1980, S. 36 ff. 27 Rathmann, Heimann (1988), S. 133. 28 Interview B. Ladwig mit Ortlieb. In: dies., Eduard Heimann, S. 121. 29 Vgl. aber Heimann, Sozialismus, Kommunismus und Demokratie. In: Neue Blätter für den Sozialismus, 3 (1932), S. 622–625.

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nichts anderes sei als das einer „wirklichen Demokratie“.30 Die Überzeugung, dass es eine scharfe Antithese zwischen Sozialismus und Demokratie gebe, beruhe auf der russischen Spielart des Sozialismus, die nicht nur keinen wirklichen Sozialismus darstelle, sondern auch zu ernsthaften Rückschlägen der sozialistischen Bewegung führe. Nicht nur ein richtig verstandener Sozialismus, sondern auch die erste Phase der russischen Revolution und Karl Marx werden der Demokratie zugeordnet. Erst in der zweiten Phase der Revolution, die er durch die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Proletarisierung der Bauern kennzeichnet, sei die Allianz der russischen Revolution mit der Demokratie aufgegeben worden. Zuvor sei es um die Herstellung einer wirklichen Demokratie gegangen – nämlich um die Abschaffung von Privilegien und um die gegenseitige Anerkennung verschiedener sozialer Gruppen auf derselben Basis. Letzteres bedeute auch gegenseitige Hilfestellung zur Befriedigung der Bedürfnisse.31 Die Frage, wie die Errichtung einer kommunistischen Diktatur in Russland möglich gewesen sei, beantwortet Heimann nicht nur mit dem häufigen zeitgenössischen Hinweis auf den Fanatismus der kommunistischen Kämpfer. Die Bauern hätten auch nur wenige Erfahrungen mit persönlicher Freiheit besessen und seien an den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gewöhnt gewesen. Überdies habe es sich um ein industriell völlig rückständiges Land gehandelt. Der vorindustrielle und vorkapitalistische bzw. semifeudale Zustand Russlands habe die kommunistische Diktatur erst ermöglicht. Die schmale, marxistisch gebildete Elite habe auf die überwältigende Masse der ungebildeten, unorganisierten Bauern keine Rücksicht nehmen, sondern sich lediglich mit der kleinen städtischen Industriepopulation ins Benehmen setzen müssen. In älteren Industriegesellschaften wie Deutschland, meint Heimann, sei eine Entwicklung wie in Russland nicht möglich.32 Mit seiner Agrarpolitik habe Sowjetrussland nicht nur einen Keil zwischen Bauern und Arbeiter getrieben, sondern auch dafür gesorgt, dass die Farmer in aller Welt nicht mehr für den Kommunismus zu gewinnen seien. „After the success of communism in Russia and partly because of this success there can be no hope for or danger of communism in western Europe. In spite of some millions of communist votes there was never a real chance of communism in Germany, and there is none in the other countries.“33 Marx’ Philosophie, sein Denkstil, nicht seine ökonomischen Theorien, enthalten nach Heimanns Überzeugung einen tieferen demokratischen Sinn. „In approaching the problem of the democratic factor in the philosophy of Marx we must look to the spirit, not to any particular forms that may have been traditio30 Eduard Heimann, Socialism and Democracy. In: Social Research. An International Quarterly of Political and Social Science, 3 (1934), S. 301–318, hier 301. 31 Vgl. ebd., S. 302. 32 Diese Position entsprach ganz den Ansichten der Mehrheitssozialdemokraten seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Vgl. dazu Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 380 f. 33 Heimann, Socialism and Democracy, S. 308.

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nally associated with the term democracy [...]. We are using the term democracy in the sense of a fundamental human attitude and goal. In this sense it is not exhausted with the consent of the majority.“34 Selbst wenn eine Mehrheit der Diktatur zustimme, werde daraus noch keine Demokratie. In ihrer wahren humanistischen Tradition meine Demokratie eine Lebensweise für Individuen wie Gruppen, die ihrer Natur entspräche. Unterdrückung und Ausbeutung gehörten nicht zu den demokratisch anzuerkennenden Rechten. Die eigene Freiheit und das Recht, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten, finde in der Demokratie nur an der Freiheit und dem ihr korrespondierenden Recht der anderen eine Schranke. Die Demokratie müsse – mit Liebe für die menschlichen Unterschiede – den jeweiligen gesellschaftspolitischen Verhältnissen angepasst werden. Der Sozialismus sei jene moralische Organisation, die dem Arbeiter in der modernen Industriegesellschaft die Möglichkeit schaffe, er selbst zu werden. „Through socialism industrial workers as well as industrial organization may secure the possibility of being themselves, of being what they are apparently predestined to be.“35 Der realistische Sozialismus respektiere und schütze die Einheit von Besitz und Arbeit; er setze sich aber auch für einen angemessenen Grad an ökonomischer Sicherheit ein, um dem Menschen Unabhängigkeit bei seiner Arbeit zu geben. Heimann spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „limited socialism“.36 Eine uniforme sozialistische Organisation richte dagegen eine imperialistische Ideologie auf und zwinge Bauern wie Handwerker ins Proletariat. Vielfach würden diktatorische Methoden mit der Notwendigkeit von Großproduktionsstätten begründet, um dem Konsumenten günstige Preise anbieten zu können. Es müssten aber auch die Interessen der Kleinproduzenten Berücksichtigung finden; ebenfalls müsse ein Kompromiss zwischen den Interessen des Konsumenten und jenen des Arbeiters gefunden werden. Insgesamt plädiert Heimann für eine plurale Gesellschaftsstruktur, die der existierenden Vielfalt Rechnung trüge. Der reale Sozialismus sei ein „Instrument für den demokratischen Geist“; er sorge für eine intentionale „spirituelle Einheit“ im Rahmen der existierenden Vielfalt der Lebens- und Produktionsweisen. 1938, also vier Jahre später, legte Heimann sein Buch „Communism, Fascism or Democracy?“ vor, das er im Oktober 1937 abgeschlossen hatte. Es ist, wie er im Vorwort sagt, das Ergebnis seiner Forschungen seit 1930. Ausgehend von Kapitalismus und Demokratie, die von ihrem Ursprung her persönliche und zivile Freiheit gemeinsam hätten, beschreibt und analysiert er eine Reihe von Transformationsprozessen, die er als Antwort auf die gesellschaftlichen Strukturveränderungen aufgrund wirtschafts- und sozialpolitischer Umbrüche im industriellen Zeitalter versteht. Die erste Transformation ist der von ihm so bezeichnete „klassische Sozialismus“. Dieser sucht die ursprünglich liberalen und 34 Ebd., S. 311. 35 Ebd., S. 312. 36 Ebd., S. 314.

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kapitalistischen Freiheitsmaximen wieder in Kraft zu setzen, indem er durch eine Revolution dem Proletariat seine Freiheit, Teilhabe am Besitz und damit Gleichheit und Unabhängigkeit zurückgeben will. Gemeinschaftlicher Besitz und gemeinschaftliche Arbeit gehören zur Natur des Menschen, damit er seiner Selbstbestimmung entsprechen kann. „Socialism is historically necessary because the inner urge of the historically determined man aims at this form of free communal work. [...] Given universal large-scale production, the nature of man finds its adequate expression in a planned economy based on common property. The overwhelming power of necessity implicit in this development strips the state of its artificially integrating function and establishes at one stroke liberty and integration, and with them, peace. This is the classical doctrine of socialism.“37 Ausgehend von einer normativen Bestimmung des Menschen als einem freien, unabhängigen Gemeinschaftswesen sieht Heimann im „klassischen Sozialismus“ lediglich ein Korrektiv zur Wiederherstellung dieser für ihn demokratischen Ideale. Diese Grundsätze humanen Lebens waren durch die historische Entwicklung hin zu einem „Laissez-faire“-Liberalismus und -Kapitalismus außer Kraft gesetzt worden. Den „Kommunismus“ bezeichnet Heimann als „zweite Transformation“. Einer seiner Fehler bestehe darin, dass er die „large scale production“ des Kapitalismus noch intensiviert und ausweitet. Ein anderer, dass er, ausgehend vom Syndikalismus, eine elitäre Führung propagiert habe. „Democratic liberty and equality must not stifle true leadership because a vital society is never an amorphous mass but an articulated entity, and leadership and intiative will assert themselves in abusive ways if not properly provided for by the official constitution. [...] in orthodox democratic-progressive doctrine, whether individualistic or socialistic, there is no place for the authority of leadership.“38 Der Kommunismus, nach Heimann die lehrmäßige Veränderung des Marxismus durch Lenin, konnte sich die unterentwickelte Situation in Russland zunutze machen und sein System auf einer Kombination von Zwang und Versprechungen aufbauen. „In this respect the function of Russian totalitarianism is very similar to that of Western absolutism in the early industrial period and to fascist totalitarianism in undeveloped Italy.“39 Lenin habe ganz auf Rationalität, auf die tech37 Heimann, Communism, Fascism, or Democracy?, S. 100. 38 Ebd., S. 106. 39 Ebd., S. 122. Der Totalitarismus-Begriff wird übrigens ohne alle Definition wie selbstverständlich eingeführt. Vgl. zu den frühen Theoretikern der Totalitarismusparadigmas Gerhard Besier, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, S. 682 ff. (mit zahlreichen Literaturangaben). Erst 1947 – und dann allein bezogen auf die UdSSR – nennt Heimann, unter der Überschrift „Totalitarianism and Its Implements“, einige Merkmale des Stalinschen Totalitarismus: „The purges, the silent disappeareances, the deportations, and the concentration camps are the tests of this constitutional lawlessness [in the USSR].“ Heimann, Freedom and Order, S. 169. Daneben bezieht er sich noch auf den Funktionärsapparat und das Monopol der Kommunistischen Partei. Aus dem Text ist nicht ersichtlich, ob Heimann die Totalitarismuskonzepte seiner Zeit kennt.

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nische und organisatorische Revolution gesetzt, spirituelle Fragen innerhalb wie außerhalb des Kommunismus dagegen abgewehrt. Bei der Propagierung des Atheismus sei ihm zustatten gekommen, dass die russisch-orthodoxe Kirche reaktionär, korrupt und ohne moralische Dignität gewesen sei. „No wonder that the people were fascinated not only by the deeds but by the sobriety and devotion of the new leaders who obviously practiced what they preached.“40 Die einfachen Bauern hätten die rationale materialistische Lehre Lenins freilich nicht rational interpretieren können, sondern sie entsprechend ihren intellektuellen Möglichkeiten religiös re-interpretiert und als Offenbarung des Christentums verstanden. Darum habe sich der Kommunismus in Russland etablieren können. Im Unterschied zum Sozialismus, der der wirtschaftlichen und sozialen Zukunft offen gegenüberstehe, kenne der Kommunismus den Willen der Geschichte schon und verstehe sich, wie im Falle des unterentwickelten Russland, gar als rechtmäßiger Exekutor dieser Geschichte, indem er sich die Freiheit genommen hat, sie zu antizipieren. „They [scil. the Communists] know for certain that history would prefer large-scale production, and they therefore need no justification for bringing it into existence by force and political means. On the contrary, they take pride in hastening the course of history, and thereby shortening the pains of transition that backward people have to undergo in any case.“41 Damit zerstörten sie den spirituellen Geist des Sozialismus. „The Communists, by using force to anticipate the desired technical development, destroy the possibility of examining the result in the light of the human claims of the socialist doctrine itself.“42 Auch das klassische Freiheitsverständnis werde im Kommunismus aufgegeben. „Liberty is now interpreted as not immanent in man himself, but as conceived by an elite and imposed from above.“43 Die kommunistische Diktatur werde in Russland von einer kleinen Minorität ausgeübt, nicht von der überwältigenden Mehrheit, wie die marxistische Lehre intendierte. „The communist anticipation of the revolution not only implies that its material foundations and its social and intellectual prerequisites are absent, but substitutes a practically permanent minority dictatorship for the transitory dictatorship of democratic socialism.“44 Schon in seiner Einleitung hatte Heimann die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Bewegungen mit denen rivalisierender Religionen verglichen.45 Im Blick auf den russischen Kommunismus vergleicht er diesen nun mit dem frühen Puritanismus. „Just as the Puritans insisted that they had to transform the world for the glorification of God without earthly reward (and the extreme modesty and sobriety of their living bore witness to this), so the Russians claim the same unselfishness with the same hypocritical reasoning. And not only are the Russian rulers directly endowed with this power 40 41 42 43 44 45

Heimann, Communism, Fascism, or Democracy?, S. 124. Ebd., S. 127. Ebd., S. 137 f. Ebd., S. 139. Ebd., S. 142. Vgl. ebd., S. 16.

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– they are consecrated in it by an elaborate theory which states that this power is no ordinary power, that it is the realization of highest intelligence and morality, the vanguard of enlightenment and solidarity. Religious honors are bestowed upon the tomb where the remains of Lenin rest, and Stalin’s picture in colossal size is displayed everywhere to inspire the faithful and warn the skeptical [sic!].“46 Mit diesen Wendungen beschreibt Heimann den russischen Kommunismus als „politische Religion“, ohne diesen Begriff zu gebrauchen.47 Später spricht er von „Pseudo-Religionen“, zu denen er auch die „Nazi-Religion“ und die „kommunistische Religion“ zählt.48 Er vergleicht die Situation der revolutionären Elite auch mit der des Übergangs vom absoluten Staat zur Bürgergesellschaft. Wie jener nicht freiwillig die Macht an ein bürgerliches Regime übergab, sondern durch die englische, amerikanische und französische Revolution dazu gezwungen worden sei, werde auch die kommunistische Elite nicht freiwillig die Macht an das reif gewordene Proletariat abgeben, sondern von der Bevölkerung dazu gezwungen werden. „This is the only realistic forecast if we can assume that the will to democracy cannot be choked by the spirit of totalitarianism and will assert itself eventually.“49 Aus den genannten Gründen könne der Kommunismus in hoch entwickelten, kapitalistischen Gesellschaften auch nicht reüssieren – selbst dann nicht, wenn die Bevölkerung unter den kapitalistischen Verhältnissen leide. Durch die Weltwirtschaftskrise sei das „russische Experiment“50 attraktiver geworden, aber der hohe Preis für die ökonomische Sicherheit – der Verlust der Freiheit und die Inkaufnahme von Unterdrückung – habe die Frage nach einer weniger schmerzhaften Alternative aufgeworfen. Als solcher erschien der Rechtsradikalismus. Er führte zur dritten Transformation, dem Faschismus. Die gewaltsame Integration der Gesellschaft sollte nicht an der proletarischen Norm ausgerichtet werden, sondern an dem üblichen Mittelklassentyp. „This was the alternative to communism that fascism offered.“51 Allerdings sei der Faschismus antidemokratischer als der Kommunismus, der sich immerhin aus ursprünglich demokratischen Prinzipien herleite. „The scheme of middle-class rule, on the other hand, is openly anti-equalitarian and anti-democratic, since it demands a stratified society.“52 Gleichwohl hinterlasse der Faschismus freiheitliche Spuren bei seiner Abkehr von der Demokratie, die ihn stark machten. Statt der proletarischen Freiheit für alle fordere der Faschismus die Freiheit allein für die untere Mittelschicht. Außerdem folge der Faschismus den historischen Zielen der Demokratie, indem er alle alten autoritären Einrichtungen wie die Monarchie, den Adel oder die Kirchen ablehne – 46 Ebd., S. 143 f. 47 Vgl. Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, 3 Bände, Paderborn 1996, 1997, 2003; Besier, Das Europa der Diktaturen, S. 673 ff. 48 Vgl. Heimann, Freedom and Order, S. 270 f., 271 ff., 277 ff. 49 Heimann, Communism, Fascism, or Democracy?, S. 146. 50 Ebd., S. 177. 51 Ebd., S. 178. 52 Ebd., S. 179.

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auch wenn er mit ihnen Kompromisse schließe, wie in Italien. Aber alles in allem handle es sich beim Faschismus wie beim Kommunismus um autoritäre Systeme, die historisch als Nutznießer der Demokratie zu verstehen seien, ohne selbst demokratisch zu sein. Der Faschismus dürfe auch nicht mit dem Kapitalismus identifiziert werden, denn er nutze zwar die Großindustrie zur Niederhaltung des Proletariats, zur Finanzierung einer modernen Armee und als Spender großer Summen für verschiedene soziale Zwecke, zeige aber kein Interesse daran, Großindustrielle politisch an der Macht zu beteiligen. Diese erfüllten, sorgfältig kontrolliert von der Partei, nur eine Funktion. „They should be granted the freedom necessary for doing their tasks but should not be recognized as national representatives or standards of morality.“53 Dass sich die Großindustrie mit dieser Position abgefunden habe, liege daran, dass die Geschäftsaristokratie in Deutschland – bedingt auch durch das Luthertum – im Gegensatz zum Adel nie eine besonders angesehene Stellung eingenommen habe. Deshalb sei es in Deutschland bekanntlich auch nie zu einer bürgerlichen Revolution gekommen. Darum auch habe der Faschismus die Hierarchie der Macht zugunsten der unteren Mittelschichten entscheiden können – unabhängig von der Besitzfrage. Über die Gewerkschaften könne der Faschismus überdies Druck auf die Großindustrie ausüben. Unterstützung erfuhren die Faschisten von der Großindustrie nicht zuletzt auch deshalb, weil sie den Anspruch erhoben und man ihnen zutraute, die krisengeschüttelte, auseinanderbrechende Gesellschaft wieder zu re-integrieren. „The political idea of reintegrating society by a middle-class dictatorship over both capital and labor has been proved to be practicable, at least in the short-term view.“54 Der Einfluss des Kommunismus auf das faschistische Programm könne gar nicht überschätzt werden, meint Heimann, und steht damit in der langen Reihe jener, die einen Kausalzusammenhang zwischen beiden Diktaturtypen sehen.55 „Fascism is deliberately conceived as a counter-blow to communism – it claims to be the only alternative – and is in consequence largely determined by communism, partly positive and partly negative.“56 So gehört etwa das Autarkiestreben zu jenen Zielen, die Kommunismus und Faschismus verbinden. Aber: „Not in the economic technique of autarchy, but in the contemptuous indifference to an organizing principle of peace, lies the true danger of fascism.“57 Heimann betont, dass es in der deutschen Entwicklung hin zum Nationalsozialismus ein Phänomen gebe, das nicht mit den sozio-politischen Bedingungen des Landes erklärt werden könne: den Umfang des neuen revolutionären Radikalismus. „Any narrow interpretation of historical materialism fails in the presence of the question why and how the political dictatorship was extended to 53 Ebd., S. 183. 54 Ebd., S. 188. 55 Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann, Diktaturen im Vergleich, 2. Auflage Darmstadt 2006, S. 4, 6, 40, 44, 68, 75, 119. 56 Heimann, Communism, Fascism, or Democracy?, S. 188. 57 Ebd., S. 203 f.

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include even a religious dictatorship.“58 Ein Symptom des religiösen Aspekts dieser Diktatur komme darin zum Ausdruck, dass der Nationalsozialismus sich unnötigerweise mit den beiden Kirchen überworfen habe. Konservative und Revolutionäre, orthodoxe Gläubige und Atheisten hätten sich bisher gleichermaßen in ihren verschiedenen Programmen von den gemeinsamen humanistischen Werten der abendländischen Zivilisation bestimmen lassen. Diese geistigen Werte, vor allem Wahrheit und Gerechtigkeit, hätten in der Weimarer Republik keine besondere Bedeutung mehr besessen, seien ausgehöhlt und schwach gewesen. Darum habe der antihumanitäre Naturalismus des Nationalsozialismus erfolgreich sein, hätten Geheimpolizei und Konzentrationslager entstehen können. Neben den geistigen Werten des Abendlandes verabschiedete sich der Nationalsozialismus auch von der rationalen Vernunft. „In its social composition German fascism is anti-intellectual. Of all the revolutions recorded in history, this is the first without an intellectual aristocracy since it relies on the sacred spontaneity of nature and on the unitary current of life and blood through individuals and generations rather than on the spiritual side of life. In this very strict and consistent sense fascism is identical with anti-humanism.“59 Daher gibt es – bezogen auf die humanen Prinzipien – nach Heimanns Überzeugung einen scharfen Kontrast zwischen dem Faschismus und der sozialistischen Tradition. Der Faschismus habe das ungelöste Klassenproblem zu einer technischen Frage der Staatsorganisation gemacht, während dieses Problem in einer humanistischen Gesellschaft die fundamentale geistige Frage von Freiheit und Gerechtigkeit sei. Nicht die Wiederherstellung menschlicher Unabhängigkeit und Freiheit sei das Ziel der faschistischen Ideologie, sondern im Gegenteil die Absorption des Menschen durch den Staat und die Perfektion dieses Staates. „Communist totalitarianism, prepared to renounce its Western humanistic heritage for two or three generations as a consequence of its own despotism, is surely closer to fascist socialism than the latter is to the humanistic self-realization of man taught by classical socialism.“60 Wenig später heißt es: „Fascism is the penalty paid by the Marxists, both socialist and communist, for their betrayal of liberty.“61 Heimann plädiert für ein demokratisches Programm, das die bisherigen Fehler der Demokratie korrigieren soll. Er denkt an eine Kombination aus Liberalismus und Sozialismus, an ein Amalgam aus Adam Smith und Karl Marx. „The simple logical solution of the problem put by history is a diversified property system for a diversified structure of work; each group of workers is granted a communal or individual organization of liberty, depending upon the nature and requirements of its work. Each is to confine its particular program to its particular field without encroaching upon the others. This is the liberty that gives each individual the possibility of self-expression; this is the equality and the peace 58 59 60 61

Ebd., S. 226. Ebd., S. 239 f. Ebd., S. 244. Ebd., S. 259.

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that come through justice.“62 Heimann tritt also für ein plurales System ein, das auf jegliche soziale Uniformität verzichtet und doch demokratische Gleichheit garantiert. „The full development of our principles leads to the conclusion, that the way to integrate a pluralistic democratic economy is to combine centralized planned control in the dynamic fields with a decentralized free market in the non-dynamic fields. [...] Thus the pluralistic democratic society can be planned which gives every worker what he needs – the workers in the fields of individual work their individual liberty and property, the workers in the fields of communal work their communal liberty and property, and all the people the security of a stable system based on the planned management of communally owned fields.“63 Diese ökonomische Integration bedarf der Ergänzung durch eine soziale und spirituelle Integration. Schließlich muss das Ganze einen konstitutionellen Rahmen erhalten. „If the democratic goal is to be achieved, pluralism has to be made secure by being put into the constitution.“64 Man könne eine Demokratie durchaus effizienter und effektiver gestalten, ohne dass daraus gleich eine Diktatur werde.65 Die ökonomische Basis müsse im Interesse aller verbessert werden, ohne das Wirtschaftssystem zu untergraben, wie das die französische Volksfrontregierung getan habe. Schwedens Volksfrontregierung habe sich mit ihrem weitsichtigen Programm der Budget-Kontrolle und öffentlichen Investitionen dagegen richtig verhalten und damit gezeigt, dass Demokratie und humanitäre Ökonomie miteinander vereinbar seien. In solchen Analysen schwang auch Kritik an den amerikanischen Wirtschaftsverhältnissen mit.66 Diese verstärkte sich während des Krieges noch und zielte – 1943, im Rahmen des Programms der „Union For Democratic Action“ – besonders auf diverse politische Konzepte des rechten Flügels der Republikanischen Partei. Dieser wolle ohne Rücksicht auf die Alliierten derart aufrüsten, dass die USA die ganze Welt erobern könnten. „American imperialism is not a coordinated program, but it exists.“67 Auch das Plädoyer aus diesen Kreisen zugunsten einer kompletten Wirtschaftsfreiheit trage imperialistische Züge. In Großbritannien sei mit jedem militärischen Erfolg ebenfalls ein Rückfall in imperialistisches Denken zu beobachten. „British imperialism is often misunderstood as primarily or exclusively meaning economic exploitation. But British imperialism today is more racial, expressed in an ostentatious arrogance, than in economic exploitation.“68 Der westliche Imperialismus weise hybride Strukturen auf und gründe im Liberalismus. Dieser proklamiere die Zivilisierung der 62 63 64 65

Ebd., S. 256. Ebd., S. 264. Ebd., S. 279. Vgl. Eduard Heimann, Building Our Democracy. In: Social Research, Vol. 6, 4 (1939), S. 445–454. 66 Vgl. dazu Gerhard Besier/Gerhard Lindemann, Im Namen der Freiheit. Die amerikanische Mission, Göttingen 2006, S. 153 ff. 67 Eduard Heimann, Liberty Through Power. A Study of the United Nations. With a Foreword by Reinhold Niebuhr, New York 1943, S. 5. 68 Ebd., S. 8.

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Eingeborenen; über eine westliche Erziehung sollten sie auf ihre Selbstregierung vorbereitet werden. „But greed and racial arrogance muddy the picture. Not until the United Nations issue a clear-cut and binding declaration of their responsibility to backward people, not only in terms of military protection but also in terms of educational, political, and economic development, and especially in terms of ultimate autonomy, can they hope to win the hundreds of millions who distrust them.“69 Auch die UdSSR verfolge imperialistische Pläne, indem sie, unter dem Vorwand ihres Sicherheitsbedürfnisses, die Vorherrschaft über Länder beanspruche, die nicht einmal zum zarischen Imperium gehört hätten, analysiert er scharfsichtig.70 „The difficulty in arguing with Communists about such claims is that they always switch from the question of strategy, which can be discussed, to the revolutionary program which cannot. They defend any expansion of Soviet territory as a step forward in the socialist world revolution. This line of reasoning obviously is incompatible with any program for collective security or stability.“71 Außerdem beschwor Heimann die Gefahr, dass die UdSSR ihr Bündnis mit einem Nazi-Deutschland ohne Hitler erneuern könnte, falls sie sich von den Westalliierten bedroht fühle.72 Innerhalb der deutschen Armeeführung gebe es starke Kräfte, die eine solche Allianz befürworteten. Darum dürfe die UdSSR keinesfalls isoliert werden. Heimann gab in seinen Analysen der sozialistischen Bewegung eine erhebliche Mitschuld am Sieg des Faschismus. Gegenüber Adolf Löwe fühlte er sich schon 1935 bemüßigt zu unterstreichen, dass sein „gegenwärtiger Mangel an Gefühl für die sozialistische Bewegung“ nicht auf seine „amerikanische Umgebung zurückgeführt“ werden dürfe.73 Tatsächlich wurden Heimanns Elogen auf die „Idee Amerika“, weniger deren Realität, immer emphatischer,74 seine Haltung gegenüber Deutschland dagegen immer ablehnender. 1939 plädierte er für eine „Entgermanisierung“ des Denkens zugunsten eines tieferen Verständnisses der westlichen Werte.75 Im März 1943 sprach er sich dafür aus, die deutsche Militärmacht zu zerstören, die politische Einheit Deutschlands aufzulösen und nach einem etwaigen Sturz Hitlers keinesfalls mit einem seiner Anhänger – etwa Hermann Göring – ein Arrangement zu treffen.76 Als Paul Tillich im Frühjahr 1944 für den „Council for a Democratic Germany“77 eine Deklaration verfasste, die sich für die Befreiung und Demokratisierung Deutschlands aus69 70 71 72 73 74 75

Ebd. Vgl. Besier, Das Europa der Diktaturen, S. 51, 72 ff., 329. Heimann, Liberty Through Power, S. 11. Ebd., S. 12, 27 ff. Zit. nach Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 148. Ebd., S. 205. Vgl. Eduard Heimann, The Refugee Speaks. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 203 (1939), S. 106–113. 76 Vgl. Heimann, Liberty Through Power, S. 21, 24 f. 77 Vgl. Ursula Langkau-Alex/Thomas M. Ruprecht (Hg.), Was soll aus Deutschland werden? Der Council for a Democratic Germany in New York 1944–1945, Frankfurt a. M. 1995, bes. S. 29–31.

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sprach, versagte ihm Heimann die Gefolgschaft.78 Er fand den Ton des Manifestes zu milde. Am 22. März 1944 schrieb er an Paul Tillich: „Three million Jews have been slaughtered, not by the Nazis but by German soldiers. Maybe it was done by special troops, and as furtively as they could do it. But more recent information leaves no doubt about ten million Russian civilians have been massacred by the German army, and more are being massacred every day. [...] We know that Vichy soldiers and Italian soldiers have refused to execute orders for the deportation of Jews. We have not heard that German soldiers have disobeyed their orders. What, then, shall we regard as a just peace? [...] The grave objection to your document is that you, too, have adopted the position of German nationalism, in the sense of naively assuming a coincidence of the interests of Germany with those of peace and justice. [...] Please do not believe that I am antiGerman. How could I be it, with Carlo Mierendorf in mind, and with many loved friends in mind. I would not at all say that, a call to Germany, for a special job and a limited period of time would find me inaccesible, in principle. But I would never go as a German patriot, as a patriot of German democracy. I am in agreement with your practical conclusions, but not as a patriot of German democracy. I can work parallel to you but not with you.“79

Es gehört zur Tragik Heimanns, dass die Deutschen ihn nach dem Krieg nie riefen, um ihn am Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Republik zu beteiligen. Vielleicht mochten sie seine erhebliche Skepsis nicht, die er 1947 gegenüber der politischen Zukunft Deutschlands hegte. „It is obvious that there is no guaranteed way to ‚reeducate‘ the Germans“, meinte er.80 Es mag sein, dass Heimanns ökonomische Entwürfe von Mischordnungen wirtschaftswissenschaftlich als überholt gelten. Die mit seinen Konzepten verbundenen ethischen Fragen aber sind heute aktueller denn je. Das gilt besonders für seinen Versuch einer Verhältnisbestimmung von „Freiheit und Ordnung“. In Auseinandersetzung mit Friedrich A. Hayek81 und seiner Schule bestand Heimann nicht nur auf dem Sachverhalt, dass der Sozialismus ein unverzichtbarer Bestandteil der demokratischen Bewegung sei,82 sondern auch auf einer „Equality of Freedom“, die sich mit dem negativen Freiheitsbegriff nicht begnügte. Gleiche Freiheit für alle, führte er aus, setze eine gerechte Ordnung voraus, die einer unbeschränkten Freiheit der Starken Grenzen setze.83 „Equality of Freedom“ meine nicht Gleichmacherei, aber die Garantie von bestimmten Gleichheitsrechten wie dem „Recht auf Arbeit“. Insofern gehört Heimann zu den Vorläufern einer Sozialstaatstheorie mit vertragstheoretischer Begründung, wie sie etwa John Rawls in elaborierter Form 25 Jahre später vorlegen sollte.84 78 79 80 81

Vgl. Pauck, Tillich, S. 208–211. Harvard University, Cambridge, MA, Tillich Papers H5. Heimann, Freedom and Order, S. 55. Vgl. Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (1945), München 2003; ders., Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik, Tübingen 2004. 82 Vgl. Heimann, Freedom and Order, S. 96 f.; Besier/Lindemann, Im Namen der Freiheit, S. 280. 83 Vgl. Heimann, Freedom and Order, S. 230 f. 84 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Frankfurt a. M. 1979.

Ein Renegat schreibt Theoriegeschichte: Franz Borkenau (1900–1957) Clemens Vollnhals Franz Borkenau, am 15. Dezember 1900 in Wien geboren, entstammte einem gutbürgerlichen Elternhaus, wobei die Familiengeschichte den Aufstieg des assimilierten osteuropäischen Judentums in Österreich widerspiegelt. Sein Vater, Dr. Rudolf Pollack, war jüdischer Abstammung, jedoch bereits katholisch getauft, und lehrte als Professor Zivil- und Handelsrecht an der Wiener Universität. War diese Karriere in der antisemitisch grundierten Atmosphäre der Österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie schon beachtlich, so dokumentierte seine Berufung zum Rat am Obersten Gerichtshof endgültig den gesellschaftlichen Aufstieg. Trotz aller erreichten Anerkennung betrieb der Vater jedoch die Adoption des jungen Franz Pollack durch eine Großtante, damit er ihren Namen annehmen konnte. Über die familiären Hintergründe und Auswirkungen dieses ungewöhnlichen Schrittes lässt sich nur spekulieren, jedenfalls scheint das Verhältnis zwischen Sohn und Vater sehr angespannt gewesen zu sein. So berichtet ein späterer Freund, Richard Löwenthal, Franz Borkenau sei in Rebellion gegen Elternhaus und Schule aufgewachsen, weshalb er sich der oppositionellen Jugendbewegung „Jugendkultur“ um Siegfried Bernfeld angeschlossen habe, aus der auch zahlreiche andere kommunistische Intellektuelle hervorgingen.1 Borkenau selbst bemerkte, Jahrzehnte später, in seinem Nachwort zur der bekannten Aufsatzsammlung „Der Gott, der keiner war“: Seine Hinwendung zum Kommunismus habe weniger auf der Anziehungskraft hoher Ideale beruht, vielmehr sei „der Konflikt mit meiner höchst ‚bürgerlichen‘ Familie und ein aus diesem entspringendes blutdürstiges Ressentiment der entscheidende Faktor“ gewesen. Es sei gerade „diese Verknüpfung der grausamsten Triebe mit den gesteigerten Idealen“, die den „psychologischen Typ des Kommunisten“ forme.2 Wenngleich man dies für allzu sehr zugespitzt halten mag, so wird man Borkenau jedenfalls nicht, wie dies gelegentlich geschieht, dem jüdischen Milieu 1 2

Biographische Angaben, sofern nicht anders angegeben, nach Birgit Lange-Enzmann, Franz Borkenau als politischer Denker, Berlin 1996, S. 10 ff. Franz Borkenau, Nachwort zur deutschen Ausgabe von Richard Crossman (Hg.), Ein Gott, der keiner war. Arthur Koestler, André Gide, Ignazio Silone, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr, Zürich 1950, S. 289–297, hier 294 f.

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zurechnen können. Denn er entstammte einem katholischen Elternhaus, besuchte in Wien ein katholisches Ordensgymnasium und trat 1933, anlässlich seiner ersten Ehe, zum Protestantismus über. Auch aus späteren Lebensabschnitten ist keine religiöse Hinwendung zum Judentum überliefert; nur den Nationalsozialisten galt Borkenau als „Halbjude“. Nach dem Studium der Geschichte, politischen Ökonomie und Philosophie in Wien und Leipzig promovierte Borkenau 1924 mit einer primär philologischen Untersuchung zur Autorenschaft einer im 18. Jahrhundert in London erschienenen Universalgeschichte.3 Noch während des Studiums trat er 1921, dem Jahr des gescheiterten kommunistischen Umsturzversuchs in Mitteldeutschland, der KPD bei und übernahm später (vermutlich ab 1925) unter dem Decknamen „Wegner“ die Leitung des „Roten Studentenbundes“. Neben dieser Funktionärstätigkeit in der bereits stalinisierten KPD arbeitete Borkenau von 1925 bis 1929 zugleich für die Komintern. Zunächst als Mitarbeiter der von Eugen (Jenö) Varga, einem ungarischen Ökonomen, geleiteten „Forschungsstelle für internationale Politik“, die im Gebäude der sowjetischen Botschaft in Berlin untergebracht war. In diesem Stab, der mit der Ausarbeitung politischer und wirtschaftlicher Analysen beauftragt war, sollen auch Georg Lukacs, Friedrich Pollock und Richard Sorge mitgearbeitet haben.4 Das Aufgabenfeld Borkenaus umfasste nach Auskunft Löwenthals die Beobachtung der internationalen Arbeiterbewegung, speziell der sozialdemokratischen Parteien Europas.5 Ob diese Tätigkeit ausschließlich wissenschaftlichen Charakter trug, wird man freilich bezweifeln dürfen, denn zuletzt arbeitete Borkenau für das „Westeuropäische Büro“ der Komintern, eines konspirativen Apparates unter der Leitung Dimitrij Manuil’skijs zur Anleitung und Kontrolle der kommunistischen Parteien, und reiste in dessen Auftrag nach England, Belgien, Spanien und Norwegen. Man wird also wohl annehmen können, dass Borkenau, wofür auch sein Deckname als Reichsleiter des kommunistischen Studentenbundes spricht, mit der konspirativen Arbeitsweise der Komintern gut vertraut war. Zum Bruch kam es, als die Komintern auf ihrem VI. Weltkongress eine erneute scharfe Linkswendung vollzog und den Kampf gegen die Sozialdemokra3 4

5

Franz Borkenau-Pollack, A universial history of the world from the earliest account of times etc. 1738 ff. Dissertation zur Erwerbung des phil. Doktorats, masch. Leipzig 1925. Bernd Rabehl, Kommunismus und Terror. Franz Borkenau’s Bestimmung des „mechanistischen Weltbildes“ und Schlussfolgerungen für die „Systemauffassung“ im Marxismus-Leninismus. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 10 (2001), S. 57– 67, hier 58. Vgl. auch Gerhard Duda, Jenö Varga und die Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik in Moskau 1921–1970, Berlin 1994. Dort firmiert die „Forschungsstelle für internationale Politik“ als „Statistisches Informationsbüro der Komintern“, jedoch enthält diese Darstellung keine Hinweise auf die Mitarbeit Borkenaus und der anderen genannten Personen. Richard Löwenthal, In memoriam Franz Borkenau. In: Der Monat, 9 (1957) 106, S. 57– 60, hier 58. Die Angabe bei Rabehl, Borkenau sei mit der Ausarbeitung seiner späteren Studie zum mechanistischen Weltbild beauftragt gewesen, dürfte definitiv falsch sein.

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tie, gegen die „Sozialfaschisten“, zur vordringlichsten Aufgabe erhob. Hierauf setzte in der KPD ein abermaliger Fraktionskampf ein, der 1929 mit dem Ausschluss der sogenannten Rechtsopposition um Heinrich Brandler endete. Im Zuge dieser Säuberungswelle wurden auch Borkenau und sein Freund Löwenthal, die beide eine weitere Spaltung der Arbeiterbewegung als verhängnisvoll ansahen, ausgeschlossen. Im selben Jahr erhielt Borkenau einen Forschungsauftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, dessen innerem Kreis er jedoch nie angehören sollte.6 Politisch stand Borkenau nunmehr der KPD-Opposition um Brandler und August Thalheimer nahe. In den letzten Jahren der Weimarer Republik und während der ersten Exiljahre schloss er sich der „Gruppe Leninistische Organisation“ unter der Führung von Walter Löwenheim an, in der auch Löwenthal aktiv mitarbeitete. Aus diesem elitären, streng konspirativ aufgebauten Zirkel, der die Einheit der Arbeiterklasse mittels verdeckter Einflussnahme auf den SPDwie KPD-Parteiapparat erreichen wollte, ging die „Miles“-Gruppe, bald besser bekannt als „Neu Beginnen“, hervor.7 Vor diesem Kontext ist die Auseinandersetzung des Theoretikers mit dem Faschismus zu sehen. Der wichtigste von mehreren Aufsätzen, die Borkenau in den frühen dreißiger Jahren publizierte, ist sein im „Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik“ erschienener Beitrag „Zur Soziologie des Faschismus“. Er entstand Mitte 1932 und versuchte vor dem Hintergrund des rasanten Aufstiegs der NSDAP, die Borkenau als eine „dem Faschismus ähnliche Bewegung“ charakterisiert, das Wesen faschistischer Bewegungen und Regime auf den Begriff zu bringen. Seine zentrale Frage lautet dabei: „Ist der Faschismus eine spezifische Erscheinung kapitalistisch zurückgebliebener Länder oder eine weltumfassende Entwicklungstendenz der gegenwärtigen Periode?“8 Bereits die Fragestellung signalisiert den Bruch mit dem orthodoxen Parteikommunismus, dessen Faschismusinterpretation bekanntlich in der sterilen Dimitroff-Formel gerinnen sollte, der Faschismus sei die „offene terroristische Dik6

7 8

Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934; Nachdruck: Stuttgart 1971. Die Studie ist jedoch weniger einer stringenten marxistisch-materialistischen Geschichtsauffassung verpflichtet, als dies den Anschein hat, sondern trägt in weiten Teilen eher spekulativen Charakter. Vgl. Lange-Enzmann, Borkenau, S. 22–54. Zu Borkenaus randständiger Position im Frankfurter Institut vgl. Rolf Wiggerhaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1988, S. 144 f., 182, 288. Vgl. Jan Foitzik, Zwischen den Fronten. Zur Politik, Organisation und Funktion linker politischer Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40, Bonn 1986, S. 26 ff., 70–85, 130–140, 346. Franz Borkenau, Zur Soziologie des Faschismus. In: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 68 (1933), S. 513–547, hier 513. An weiteren Aufsätzen sind zu nennen: Fascisme et syndicalisme. In: Annales d’historie économique et sociale, 6 (1934), S. 338–350; Georg Haschek (i. e. Franz Borkenau), Partis, traditions et structure sociale en Autriche, ebd., 7 (1935), S. 1–12; Un essai d’analyse historique. La crise des partis socialistes dans l’Europe contemporaine, ebd., 7 (1935), S. 337–352.

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tatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“.9 Ebenso distanziert sich Borkenau von der austromarxistischen Interpretation, wonach die Bourgeoisie als Reaktion auf die unvermeidliche Verschärfung der Klassenkämpfe und des herannahenden Wahlsieges des Proletariats im Rahmen der parlamentarischen Demokratie nunmehr die demokratische Staatsform preisgebe und ihre Rettung im Faschismus suche. Auch die Interpretation Thalheimers, der mit Rückgriff auf die Marx’sche Bonapartismusanalyse den Faschismus als die aus dem Kräftegleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat resultierende Verselbständigung der Staatsmacht zu erklären versuchte, wird verworfen. Der Faschismus – wobei sich Borkenau in erster Linie auf Italien bezieht und die Entwicklung in einigen osteuropäischen Ländern nur am Rande streift – sei vielmehr eine spezifische Gegenbewegung auf den gescheiterten Versuch der sozialistischen Weltrevolution. Die besondere Volte seiner Analyse liegt nun darin, dass Borkenau dem italienischen Faschismus eine progressive Rolle zuspricht, da er die Macht einer sehr starken, aber in ihrer sozialen Funktion reaktionären Arbeiterbewegung gebrochen habe. Die italienische Arbeiterbewegung, die aufgrund der „vorzeitigen Verwirklichung der Demokratie“ besonders günstige Entwicklungsmöglichkeiten vorgefunden habe, habe nämlich mit ihrem Widerstand gegen eine verschärfte Ausbeutung die nachholende Industrialisierung des Landes und damit die Durchsetzung eines voll entfalteten Kapitalismus behindert. Die Ungleichzeitigkeit von politischer und wirtschaftlicher Entwicklung ist das zentrale Argument, das Borkenau zur Erklärung des Faschismus heranzieht: Die verfrühte Demokratisierung des Landes habe die Entfaltung des Kapitalismus behindert; einer schwachen Bourgeoisie sei in Italien ein starkes und gut organisiertes Proletariat gegenübergestanden, das jedoch nach dem Ersten Weltkrieg trotz heftigster Kämpfe nicht zur sozialistischen Revolution in der Lage gewesen sei. „Da die sozialistische Revolution gescheitert war“, so die Schlussfolgerung Borkenaus, „blieb als alternative Lösung nur die Entwicklung eines den neuesten Anforderungen voll angepassten nationalen Kapitalismus, wenn das Land nicht auf dem Wege über das soziale Chaos auf eine frühere Entwicklungsstufe, auf ein spanisches Niveau heruntergestoßen werden sollte. Diese alternative Lösung hat der Faschismus durchgesetzt.“10 Es sei jedoch nicht die Kapitalistenklasse, die im Faschismus die Macht ergreife, vielmehr müsse der Faschismus – nicht nur in Italien, sondern auch in anderen wirtschaftlich zurückgebliebenen Ländern – als eine politische Bewegung verstanden werden, die erst die Voraussetzungen dafür schaffe. „Der italienische Faschismus ist exklusive Diktatur ei9

So erstmals Ende 1933 auf dem 13. Plenum des Exekutivkomitees der Komintern formuliert und später vom 7. Kongress der Komintern 1934 als kanonische Formel übernommen. Vgl. Leonid Luks, Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921– 1935, Stuttgart 1984, S. 177. 10 Ebd., S. 524 f.

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ner totalitären Partei. Er kann nichts anderes sein, denn er verdankt seine Existenz ja gerade dem Umstand, dass die Klasse, deren Machtergreifung sich durch ihn vollzieht, erst in Ansätzen vorhanden ist. Es ist richtig, dass der italienische Faschismus sich als unabhängige Staatsmacht über die Klassen stellt. Denn in diesem System tritt die totalitäre Partei an Stelle der Klasse.“11 Im Unterschied zur kommunistischen Agententheorie hebt Borkenau die politische Autonomie der faschistischen Diktatur nachdrücklich hervor, wobei die selbständige Rolle der faschistischen Partei und des Kleinbürgertums gerade aus dem Fehlen einer politisch und ökonomisch zureichenden industriellen Bourgeoisie resultiere. Auch wenn Borkenau den Begriff der Modernisierungsdiktatur nicht benutzt, so schreibt er dem Faschismus, den er als eine Entwicklungstendenz der modernen Welt begriff, unverkennbar diese Aufgabe zu. „Der echte Faschismus“ sei „ein Übergangszustand wie jede Diktatur zur Schaffung des industriellen Kapitalismus.“12 Im Kontext der zeitgenössischen marxistischen Faschismusanalyse legte Borkenau damit eine ebenso originelle wie unorthodoxe Interpretation vor, die sich jedoch noch im Rahmen der marxistischen Klassenanalyse und des teleologischen Geschichtsverständnisses des historischen Materialismus bewegte. An dem hegelianisch geprägten Erbe eines zielgerichteten, sich stufenförmig vollziehenden Geschichtsprozesses sollte Borkenau sein Leben lang festhalten, wie die Fragmente seiner aus dem Nachlass überlieferten Kulturzyklentheorie belegen.13 Wie Borkenau selbst erkannte, ließ sich mit diesem Interpretationsansatz die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland, in einem der industriell entwickeltsten Länder Europas, nicht erklären. Hier verließ Borkenau nun die eingefahrenen Gleise eines ökonomistisch determinierten Erklärungsansatzes. „Den Faschismus als Staatsform des Monopolkapitals zu definieren“ sei eine „bequeme Erklärung“.14 Tatsächlich zeige eine unvoreingenommene Betrachtung, „dass die faschistische Bewegung vor Staaten alter bürgerlicher Demokratie Halt macht“. Also in Staaten, „wo eine traditionell verankerte demokratische Verfassung mit einer hohen Reife der modernen Verhältnisse zusammenfällt“, wie beispielsweise in den USA, England, Frankreich oder den skandinavischen Ländern. Der Faschismus werde nur dort zu einem Problem, „wo die demokratischen Formen vor der Entwicklung des modernen Kapitalismus da sind oder herannahen, andererseits wo sie – und hier ist Deutschland der Schulfall – lange Zeit hinter der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse zurückgeblieben sind“.15 In Deutschland habe der Kompromiss zwischen Junkertum und Bourgeoisie nicht nur die demokratische Entwicklung, sondern auch den Ausbau einer star11 Ebd., S. 544. Hervorhebung im Original. 12 Ebd., S. 544. 13 Franz Borkenau, Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes. Hg. von Richard Löwenthal, Stuttgart 1984. 14 Borkenau, Soziologie des Faschismus, S. 534. 15 Ebd., S. 535.

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ken zentralisierten Staatsmacht verhindert. Zusätzlich hätten der Kulturkampf und das Sozialistengesetz große Teile des Volkes dem Staat entfremdet. Mit explizitem Rückgriff auf Carl Schmitt kritisierte Borkenau, dass in der Weimarer Republik der „Staat zum Spielball und zum Kompromissobjekt totalitärer, die von ihnen vertretenen Schichten vom Gesangsverein bis zur Parteiarmee, von der Geburtsfeier bis zur Beerdigung zusammenfassender Gruppenorganisationen“ geworden sei.16 Es sei das Spezifische an den deutschen Verhältnissen, dass den in einem erbittertem Kampf sich gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräften keine starke Staatsgewalt entspreche. Man verkenne noch immer, „dass Demokratie bei dem schroffen Antagonismus der Klassen heute nicht weniger, sondern mehr Herrschaft sein muss als andere konservativere Staatsformen“.17 Die mangelnde Herrschaftsgewalt des Staatsapparates behindere die Lebensnotwendigkeiten der kapitalistischen Entwicklung, weshalb das Parteiensystem gebrochen werden müsse. Aus der Unterscheidung zwischen dem „echten Faschismus“ im Sinne einer geschichtsnotwendigen Modernisierungsdiktatur und den deutschen Verhältnissen eines hochentwickelten Kapitalismus ergab sich für Borkenau allerdings auch, dass die deutsche Bourgeoisie sich nicht von einer faschistischen Partei stellvertreten lassen könne. „Es wäre Wahnsinn, wollte sie versuchen, die freie und christliche Arbeiterbewegung zu vernichten. Sie kann die Herrschaft der einen totalitären Partei nicht gebrauchen.“18 Sie werde deshalb vielmehr eine autoritäre Lösung, eine noch schroffere Trennung von Exekutive und Legislative sowie die Konzentrierung der gesamten Exekutive in der Hand des Reichspräsidenten anstreben – also jene Entwicklung, die sich in den Präsidialkabinetten seit Brüning abzeichnete. Wie scharf auch immer der Angriff auf die sozialpolitischen Errungenschaften ausfallen möge, so könne die Bourgeoisie doch nicht die demokratischen Freiheiten und parlamentarischen Rechte gänzlich abschaffen, „schon um sich nicht auf Gedeih und Verderb der unsicheren Chance des Nationalsozialismus ausliefern“. An dieser Stelle setzte Borkenau freilich die wichtige Einschränkung: „Wenn die bürgerliche Herrschaft in Deutschland funktionieren soll, dann muss es so sein. Dahin tendiert die Bourgeoisie.“19 Tatsächlich war es ja vor allem die ostelbische Junkerkamarilla um Hindenburg, die Hitler den Weg zur Kanzlerschaft ebnete. Dass Borkenau 1932 mit einer autoritären Krisenlösung sympathisierte, ja sie geradezu für unumgänglich hielt, schwingt in dem ganzen Text subkutan mit. Sie stellte nicht nur das kleinere Übel gegenüber der drohenden Machtübernahme der Nationalsozialisten dar, sondern entsprang auch seiner Überzeugung, dass nur eine starke, zentralisierte Staatsgewalt in der Lage sei, die unvermeidlich krisenhaften Entwicklungstendenzen des modernen Kapitalismus zu bändi16 17 18 19

Ebd., S. 538. Ebd., S. 541. Ebd., S. 545. Ebd., S. 546. Hervorhebung im Original.

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gen. Die Weltwirtschaftskrise war insofern nicht der Ausgangspunkt, sondern nur die Bestätigung der Marx’schen Prognose und entsprach zudem der etatistischen Fixierung des Kommunismus, mit dem Borkenau zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebrochen hatte. Von daher wird auch der explizite, zustimmende Bezug auf die Demokratie- und Parteienkritik Carl Schmitts verständlich, ein Verweis, der umso schwerer wiegt, als Borkenau in seinen Werken zumeist seine Quellen und intellektuellen Gewährsleute verschwieg. Borkenau konstatierte nicht nur die offenkundige Staatskrise der Weimarer Demokratie, sondern bezweifelte, wie sich einem Aufsatz vom März 1933 entnehmen lässt, grundsätzlich die Legitimation und Funktionsfähigkeit der freiheitlichen Demokratie als Herrschaftsform. Die Beschränkung der Staatsgewalt durch die Festschreibung unantastbarer, naturrechtlich begründeter Menschen- und Freiheitsrechte widerspreche dem Prinzip der Souveränität. „Denn Souveränität bedeutet das Recht des Souveräns, nach seinem Belieben die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ordnen, und Volkssouveränität vollends die Abänderbarkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse nach dem willkürlichen Beschluss des Staatsträgers.“20 Es war daher kein Widerspruch, dass sich Borkenau nach dem Ausschluss aus der KPD weiterhin in einer streng nach leninistischen Prinzipien geführten Kaderorganisation betätigte. Interessant sind in diesem Kontext die Artikel, die er 1934 unter dem Pseudonym Ludwig Neureither in der „Zeitschrift für Sozialismus“ veröffentlichte, um die Kritik Karl Kautskys abzuwehren, die Miles-Gruppe bzw. Neu Beginnen wolle lediglich eine zentralistische Diktatur durch eine andere ersetzen.21 In ihnen verteidigte Borkenau die entscheidende Rolle der revolutionären Avantgarde und damit die leninistischen Organisationsprinzipien, da die verbürgerlichte Arbeiterklasse im bürgerlichen Bewusstsein gefangen sei, was im sozialdemokratischen Reformismus seinen Ausdruck finde. Nach dem Sturz des Faschismus sei es deshalb die Aufgabe der Avantgarde, ein diktatorisches Übergangsregime zu errichten, da die Massen erst zum Sozialismus erzogen werden müssten. „Ohne eiserne Führung einer revolutionären Partei gibt es keine siegreich behauptete Herrschaft des Proletariats.“22 Diese Konzeption, die intern höchst umstritten war und 1934 zur Spaltung von Neu Beginnen führte, versuchte Borkenau, der damals wieder in Wien lebte, auch im Aufbau einer Untergrundorganisation der österreichischer Sozialisten umzusetzen.23 20 Franz Borkenau, Zur Geschichte der demokratischen Ideologie. In: Zeitschrift für öffentliches Recht, 13 (1933) 3, S. 336–355, hier 347. Die Zeitschrift erschien in Wien. 21 Karl Kautsky, Eine Diskussionsgrundlage. In: Zeitschrift für Sozialismus, 1 (1933/34) 2, S. 50–58. 22 Ludwig Neureither (i. e. Franz Borkenau), Staat und Revolution. In: Zeitschrift für Sozialismus, 1 (1933/34) 6, S. 180–185, hier 183. Vgl. auch die Artikel: Klassenbewusstsein, ebd., H. 5, S. 152–159; Noch einmal „Klassenbewusstsein“, ebd., H. 10, S. 325–329. 23 Vgl. Lange-Enzmann, Borkenau, S. 93 f.; Anson Rabinbach, The Crisis of Austrian Socialism, 1927–1934, Chicago 1983, S. 115 f.

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Im Dezember 1933 heiratete er Lucie Varga, eine österreichische Mediävistin, die das Neuartige der nationalsozialistischen Revolution frühzeitig erkannte und noch vor Eric Voegelin die NS-Weltanschauung als eine „totalitäre politische Religion“ interpretierte.24 Man wird allerdings nicht sagen können, dass dieser Ansatz Borkenau, obwohl er später den Begriff gelegentlich benutzte, wirklich beeinflusst hätte. Anfang 1934 ging das Ehepaar in die Emigration und übersiedelte nach Paris, wo seine Frau nach dem Ende der Beziehung verblieb, während sich Borkenau noch im selben Jahr in London niederließ, um dort als freier Journalist tätig zu werden. Im Hochschuljahr 1935/36 übernahm er einen Lehrauftrag für Geschichte an der staatlichen Universität in Panama. In dieser Zeit entstand die Abhandlung über den italienischen Soziologen Vilfredo Pareto. Wie die akademische Kritik wohl zutreffend bemerkt, ignorierte Borkenau in seiner schmalen Studie weitgehend den damaligen Forschungsstand und bemühte sich auch nicht um eine ausgewogene Darstellung der Soziologie Paretos, einer der theoretischen Wegbereiter des Faschismus. Sein Interesse galt vor allem der Elitentheorie Paretos und ihren politischen Konsequenzen, wozu auch seine Vertrautheit mit der leninistische Avantgardekonzeption beigetragen haben dürfte. In unserem Kontext sind vor allem die beiden Kapitel über Faschismus und Bolschewismus von Interesse, die im Argumentationsgang teils auf frühere Publikationen zurückgreifen, zugleich aber auch eine deutliche Verlagerung des politischen Blickwinkels signalisieren. In diesem Werk, das 1936 in London und New York erschien, zog Borkenau erstmals einen Vergleich zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus, die zwar unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen entsprungen seien und auch unterschiedliche politische Ziele verfolgten. Gleichwohl gebe es signifikante Ähnlichkeiten: Jede der drei streng hierarchisch gegliederten Bewegungen strebe die Bildung einer neuen Elite an – sei sie nationalistisch bzw. rassistisch definiert oder im Falle des Bolschewismus als die Herrschaft einer Klasse und ihrer politischen Vorhut. In jeder Bewegung gebe es einen Führer, der die Partei eisern beherrsche und Ideologie und Politik verbindlich bestimme. Mussolini und Hitler hätten diese Rolle innerhalb ihrer Parteien schon frühzeitig eingenommen, während der Aufstieg Stalins die Bürokratisierung der russischen Revolution widerspiegele, die von einem heftigen Machtkampf innerhalb der Parteielite begleitet sei. Die Ideologie spiele entgegen allen Beteuerungen in der politischen Praxis dieser Parteidiktaturen keine große Rolle, ihre hauptsächliche Aufgabe sei es, die jeweilige Parteielite zusammenzuhalten. „At every important moment of the Russian revolution Marxism had be abandoned. [...] In reality, Lenin acted by 24 Lucie Varga, Die Entstehung des Nationalsozialismus (1937). In: Peter Schöttler (Hg.), Lucie Varga. Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1939, Frankfurt a. M. 1991, S. 115–137, hier 133. Vgl. auch Peter Schöttler, Das Konzept der politischen Religionen bei Lucie Varga und Franz Borkenau. In: Michael Ley (Hg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997, S. 186–205.

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ingenious intuitions, based on close knowledge of facts, as all great political leaders of all times have done. And the main function of Marxism was to hold the elite together.“25 Die Bolschewisten seien, wie Borkenau ausführte, nicht die Vorhut einer klassenlosen Gesellschaft, sondern vielmehr die Gründer einer neuen repressiven Hierarchie. Die Staatspartei monopolisiere alle wirtschaftlichen und politischen Ressourcen und herrsche mit institutionalisiertem Terror. Allen Bewegungen sei die Verachtung der rationalen Vernunft, der emotionale Appell und die Berufung auf einige metaphysische Prinzipien gemein. „In Fascism as well as in Bolshevism, rationalism is banned from the most important spheres of human life und relegated to matters of pure technique. One may doubt whether, in the long run, a rationalistic technique can coexist with thoroughly anti-rationalist habits of live.“26 Die Entstehung der neuen Diktaturen in Italien, Deutschland und Russland, die jeweils die Herrschaft einer klassenunabhängigen Elite seien, führte Borkenau auf die tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen des Ersten Weltkrieges, letztendlich jedoch auf die unabweisbare Notwendigkeit massiver staatlicher Eingriffe zur Bändigung der zerstörerischen Kräfte des kapitalistischen Wettbewerbs zurück. Deshalb sei in diesen Ländern auch innerhalb kurzer Zeit eine staatliche Planwirtschaft eingeführt und die liberale Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt worden. Aus dieser Entwicklungstendenz, die Borkenau als eine Art Gesetzmäßigkeit betrachtete, zog er den später noch vielfach vorgetragenen Schluss, dass auch in freien Gesellschaften ein wesentlich stärkeres Maß an staatlicher Intervention notwendig sei. Auch wenn Borkenaus Ausführungen in vielem mehr spekulativ angelegt sind und ihnen die empirische Untermauerung weitgehend fehlte, so formulierte er frühzeitig eine Theorie der totalitären Konvergenz: „It has often been observed that in Fascism and Bolshevism along with an evident antagonism in social policy, there goes a surprising similarity in political institutions. From the point of view of the theory of domination and elites, Bolshevism and Fascism can only really be treated as slightly different specimens of the same species of dictatorship.“27 Der Focus lag eindeutig auf der Herrschaftstypologie, die das Neuartige dieser Diktaturen im Unterschied zu früheren Autokratien oder zeitgenössischen Militärdiktaturen auf den Begriff bringen sollte. Borkenau formulierte damit Einsichten, die nach 1945 im Kalten Krieg bald zum Gemeingut werden sollten, die jedoch 1936 im Milieu engagierter Linksintellektueller nicht nur unorthodox, sondern geradezu ketzerisch waren und als Verrat an der gemeinsamen Sache des Antifaschismus galten. Den übergreifenden Begriff der „totalitären Diktatur“ bzw. des „totalitären Regimes“ zur Charakterisierung von Na25 Franz Borkenau, Pareto, London 1936, S. 182. Amerikanische Ausgabe: New York 1936. 26 Ebd., S. 211. 27 Ebd., S. 196. Vgl. auch William David Jones, Toward a Theory of Totalitarianism: Frank Borkenau’s Pareto. In: The Journal of the History of Ideas, 53 (1992), S. 455–466.

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tionalsozialismus und Bolschewismus benutzte Borkenau jedoch, soweit ich sehe, erst 1938.28 Was Borkenau bei der Abfassung der Pareto-Studie, die lediglich zwei Jahre nach seinen Neureither-Artikeln erschien, zu dieser radikalen Kehrtwendung bewogen hat, ist biographisch nicht im Einzelnen bekannt. Man wird jedoch annehmen dürfen, dass er als ehemaliger Mitarbeiter der Komintern die Moskauer Schauprozesse und die Liquidierung der alten Parteigarde durch Stalin aufmerksam verfolgte. Jedenfalls muss die Desillusionierung, der dann die Erkenntnis der totalitären Diktatur als einem übergreifendem Phänomen folgte, äußerst heftig gewesen sein. Borkenaus Ausführungen bewegen sich im zeitgenössischen Kontext der internationalen Diskussion. Im Mittelpunkt der Analysen, wie sie insbesondere auf der ersten wissenschaftlichen Konferenz 1935 in Minneapolis vorgetragen wurden, standen der totale Herrschaftsanspruch und die Herrschaftstechniken der modernen, sprich: totalitären Diktaturen, während ideologischen Differenzen weniger Gewicht zugemessen wurde.29 Nach dem kurzen Intermezzo als akademischer Lehrer in Panama kehrte Borkenau nach London zurück, wo er weiterhin als Emigrant in ungesicherten Verhältnissen lebte und sich als freier politischer Publizist durchschlagen musste. Ab 1938 war er zudem als Lehrer für internationale Politik an den Volkshochschulen der Universitäten Cambridge und London tätig. In Verbindung mit dem Londoner Verlagshaus Faber & Faber publizierte Borkenau nun jedes Jahr ein politisches Sachbuch: „The Spanish Cockpit“ (1937), „The Communist International“ (1938), „Austria and After“ (1938), „The New German Empire“ (1939)30 und „The Totalitarian Enemy“ (1940). Am bekanntesten von den eben zitierten Schriften ist wohl das Tagebuch über den spanischen Bürgerkrieg, das auf zwei längeren Aufenthalten im republikanischen Spanien beruhte.31 Es ist ein ungewöhnlich kritischer Bericht, der genaue Beobachtungsgabe mit analytischer Tiefe verbindet und einen Vergleich mit den Werken George Orwells, Arthur Koestlers oder Augustin Souchys nicht zu scheuen braucht.32 Borkenau verschweigt bei aller Sympathie und Bewunderung für den heroischen Abwehrkampf der Republik weder die Massaker der anarchistischen Frühphase noch die zwiespältige Rolle der Internationalen Brigaden und der politischen Kommissare, die einerseits die Republik militärisch 28 Vgl. Franz Borkenau, Austria and After, London 1938, S. 317. 29 Vgl. den Tagungsband von Guy Stanton Ford (Hg.), Dictatorship in the Modern World, Minneapolis 1935. 30 Dieses Werk erschien im Verlag Penguin Books, Harmondsworth. 31 Franz Borkenau, The Spanish Cockpit. An Eye Witness Accont of the Political and Social Conflict of the Spanish Civil War, London 1937. Deutsche Ausgabe: Kampfplatz Spanien. Politische und soziale Konflikte im Spanischen Bürgerkrieg. Ein Augenzeugenbericht, Stuttgart 1986. 32 George Orwell, Homage to Catalonia, London 1937. Deutsche Ausgabe: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, Zürich 1975; Arthur Koestler, Darkness at noon, London 1940; Augustin Souchy, Nacht über Spanien. Bürgerkrieg und Revolution in Spanien, Darmstadt 1954.

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retteten, zugleich aber auf Geheiß Moskaus die Sozialrevolution beendeten und einen erbitterten Kampf gegen die POUM und andere Linksgruppen führten. „Weil das Scheitern der spanischen Linken mit der faschistischen Intervention zusammenfiel, kam alles, wie es kommen musste, und das republikanische Spanien wurde der Gnade einer Macht ausgeliefert, die Hilfe gewährte. Die Kommunisten konnten gebieten und geboten [...]. Denn den Spaniern war eine Macht zu Hilfe gekommen, die eine revolutionäre Vergangenheit, aber keine revolutionäre Gegenwart hat. [...] Als allererstes darf man nie vergessen, dass die kommunistischen Politik in Spanien weniger von den Notwendigkeiten des spanischen Kampfes als vielmehr von den Interessen der Sowjetunion bestimmt war.“33 Borkenau registrierte die Herausbildung „totalitärer Tendenzen“ und beschrieb die Atmosphäre der Verdächtigung und Denunziation. Die Repression sei zu einem „Instrument der herrschenden Gruppe gegenüber allen Andersdenkenden“ geworden, die Polizei verhalte sich bereits wie die GPU, die ihre Hauptaufgabe in der Dissidentenjagd sehe. Anschließend heißt es resümierend: „Absicht der totalitären Staaten ist es, [...] die totale Einheit von Leben und Denken in allen den Staat betreffenden Angelegenheiten zu erzwingen und jede Angelegenheit zu einer des Staates zu machen. [...] Wo immer die totalitäre Polizei in Erscheinung tritt, wird jede Art von Individualität, jede intellektuelle, künstlerische oder überhaupt jede kreative Kraft mit Sicherheit erstickt.“ Die Zivilisation sei zum Untergang verurteilt, „wenn die totale Unterwerfung des Denkens unter die Befehle einer Parteizentrale praktiziert wird“.34 Ein Jahr später publizierte Borkenau eine der ersten Darstellungen zur Geschichte der Kommunistischen Internationale, die zweifellos zu seinen besten Werken zählt. Es ist eine fundierte historisch-soziologische Studie, die die Entstehung und Entwicklung der Kommunistischen Internationale als die Geschichte einer revolutionären Illusion analysiert. Die Kommunistische Internationale sei in falscher Lagebeurteilung dem Phantom einer proletarischen Revolution in Westeuropa nachgejagt, woraus auch die grundsätzliche Feindschaft gegenüber der Sozialdemokratie und dem Konzept eines freiheitlichen Sozialismus resultiere. Mit den 21 Bedingungen habe Lenin den kommunistischen Parteien Westeuropas ein sektiererisches Maximalprogramm aufgezwungen und damit die Arbeiterbewegung gespalten. Die mehrfachen abrupten Kurswechsel der Kommunistischen Internationale seien zunächst Ausfluss der innersowjetischen Machtkämpfe gewesen, bis sie unter Stalin schließlich zu einem puren Werkzeug der sowjetischen Außenpolitik geworden sei. Im Unterschied zu Trotzky beließ es Borkenau nicht bei einer Kritik des Stalinismus, sondern führte den diktatorischen Charakter direkt auf Lenin zurück: „The state he created was neither democratic nor Sovjet, but simply a state of a totalitarian bureaucracy.“35 33 Borkenau, Kampfplatz Spanien, S. 350. 34 Ebd., S. 313 f. 35 Franz Borkenau, The Communist International, London 1938. Amerikanische Ausgabe unter mit dem Titel: World Communism. A History of the Communist International,

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Der Kommunismus stehe deshalb in einem tiefen Gegensatz zu den Traditionen der westeuropäischen Arbeiterbewegung, die in der freiheitlichen Demokratie verwurzelt sei. Entsprechend kritisch beurteilte Borkenau auch die erneute Wendung zur Volksfrontpolitik, die lediglich ein taktisches Manöver darstelle. „Whether Stalin wants an alliance with the democratic countries or not is immaterial, however. The effect of communist ideals is to menace liberty and democracy; and in the end, in all likelihood, the effect of communist propaganda will have been to strengthen Fascism.“36 Obgleich sich Borkenau weder über die Person Stalins noch über die sowjetische Außenpolitik Illusionen hingab – Stalin „is the last man to believe in the possibility of sincere collaboration in the international field. A man such as Stalin cannot be brought to reason by argument“37 –, so hoffte er doch auf eine engere Kooperation zwischen den demokratischen Staaten und der Sowjetunion, um den Frieden in Europa zu sichern. Der Hitler-Stalin-Pakt, der den deutschen Angriff auf Polen und die gemeinsame Teilung der polnischen Beute flankierte, versetzte nicht nur der liberalen Öffentlichkeit einen Schock. Er war gleichsam ein Fanal, das die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen schien. In dieser Situation erschien im Frühjahr 1940 „The Totalitarian Enemy“, Borkenaus letzte Schrift, bevor er als deutscher Emigrant interniert und auf eigenen Wunsch nach Australien deportiert wurde, da er einen Sieg der NS-Regimes befürchtete.38 Die zwischen September und Dezember 1939 entstandene Publikation ist eine engagierte Kriegsschrift, die das angelsächsische Publikum wachrütteln will. Sie beginnt mit den Sätzen: „This European war is an ‚ideological war‘. It is a figth of the liberal powers of Europe against the biggest ‚totalitarian‘ power, Germany. And Germany, in this war, is co-operating, though in an ambiguous manner, with Russia, the other big totalitarian power of the world.“ Und endet mit dem pathetischen Aufruf, es sei die Aufgabe Großbritanniens, „to save the world from Nazi barbarism“.39 In diesem Krieg der Weltanschauungen stünden die liberalen Demokratien auf der einen Seite, auf der anderen die totalitären Mächte; eine andere Wahl gebe es nicht. Es sei deshalb auch keine Häresie mehr, das Nazi-Regime als „braunen Bolschewismus“ und Stalins Regime als „roten Faschismus“ zu bezeichnen.40 Mit diesem Vokabular nimmt Borkenau die Sprache des Kalten Krieges vorweg. Was aus späterer Perspektive als hellsichtige

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New York 1938. Hier zit. nach der Neuausgabe: World Communism. A History of the Communist International. New Introduction by Raymond Aron, Ann Arbor 1962, S. 56. Ebd., S. 427. Ebd., S. 429. Vgl. Lange-Enzmann, Borkenau, S. 138 f. Franz Borkenau, The Totalitarian Enemy, London 1940. Hier zit. nach der Neuausgabe New York 1982, S. 7 und 254. Ebd., S. 13. Ähnliche Gleichsetzungen finden sich jedoch bereits in der publizistischen Auseinandersetzung der dreißiger Jahre. Vgl. Clemens Vollnhals, Der Totalitarismusbegriff im Wandel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 39/2006, S. 21–27, hier 22.

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Prognose der prinzipiellen Konfrontation von Demokratie und Totalitarismus als der Signatur des 20. Jahrhunderts erscheinen mag, wurde jedoch aus zeitgenössischer Sicht umgehend dementiert: Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion verkehrte die Fronten und schuf die Basis für die Anti-Hitler-Koalition, eines antagonistischen Zweckbündnisses. Aber auch als publizistischer Schnellschuss besitzt dieses Werk große Mängel: Es ist schlecht komponiert, strotzt vor Wiederholungen, die sich aus unverbundenen Versatzstücken früherer Publikationen ergeben, und leidet unter dem ungebremsten Hang des Autors zu großen geschichtsphilosophischen Spekulationen und gewagten Analogieschlüssen. Oder, wie William David Jones treffend urteilt: „The Totaliarian Enemy [...] sometimes displayed Borkenau at his worst – speculations and polemics outran his often brilliant analysis.“41 Gleichwohl benennt es, wenngleich unsystematisch entfaltet und im Text verstreut, die wesentlichen Merkmale totalitärer Diktaturen: das Einparteiensystem mit einer geschlossenen revolutionären Elite, die Beseitigung der Gewaltenteilung durch administrative und politische Zentralisierung, die Verschmelzung von Staat und Partei, die parteistaatliche Gleichschaltung aller Lebensbereiche, die staatlich gelenkte Wirtschaft, die permanente Mobilisierung der Gesellschaft durch Propaganda, die Ersetzung von Realität durch Ideologie, die zentrale Rolle von Geheimpolizei und institutionalisiertem Terror etc.42 „The Totalitarian Enemy“ enthält im Grunde alle Wesensmerkmale, die Carl J. Friedrich später in seiner bekannten Schematisierung zusammengefasst hat.43 Man kann diese Schrift deshalb zu Recht als ein Pionierwerk der Totalitarismustheorie bezeichnen,44 wenngleich sie m. E. in erster Linie als eine engagierte Kriegsschrift zu lesen ist. Denn bei genauerer Betrachtung liegt diesem Werk keine historisch-empirisch zutreffende Darstellung der beiden totalitären Diktaturen zugrunde. Dieses Manko ist schon zeitgenössischen Rezensenten aufgefallen. So bemerkte beispielsweise George Orwell, der Borkenaus Spanienbuch noch überschwenglich gelobt hatte, am Ende seiner Besprechung: „I hope that Dr. Borkenau will write a longer and better book on approximately the same subject. The present one, in spite of some brilliant passages, seems to have been hastely written and has faults of arrangement.“45 Borkenaus Ausführungen haben oft mehr den Charakter eines spekulativen Leitartikels, so dass seine mit Verve vorgetragene Darstellung und Deutung des Nationalsozialismus weitgehend im Allgemeinen verbleibt. Eine empirisch fundierte Darstellung des Aufstiegs der NS-Bewegung, ihrer sozialen Zusammensetzung und politischen Ziele, des Herrschaftsaufbaus der NS-Diktatur, der 41 42 43 44

Jones, Toward a Theory of Totalitarism, S. 463. Vgl. auch die Auflistung bei Lange-Enzmann, Borkenau, S. 191. Vgl. Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957. Vgl. Martin Jänicke, Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffes, Berlin (West) 1971, S. 66 ff. 45 George Orwell, Red, white and brown. The Totalitarian Enemy: Franz Borkenau. In: Time and Tide vom 4. 5.1940, S. 484. Zit. nach Lange-Enzmann, Borkenau, S. 168.

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wichtigsten Maßnahmen der Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik – all dies fehlt nahezu gänzlich, so dass der Leser über die tatsächliche Entwicklung des NS-Regimes wenig Konkretes erfährt. Borkenau belässt es stattdessen bei allgemeinen Behauptungen: So dass die Nationalsozialisten eine staatliche Planwirtschaft nach kommunistischem Muster eingeführt und den Mittelstand systematisch in den Ruin getrieben hätten, dass die Arbeiterschaft bis zur Erschöpfung ausgebeutet werde und an Unterernährung leide, dass es einen tiefen Riss zwischen der kleinen Nazi-Clique und der breiten Mehrheit der deutschen Bevölkerung gebe, weshalb auch die Kampfmoral der deutschen Truppen schlechter als 1914 sei. Für einen Soziologen geradezu hilflos sind die Ausführungen zum Führungspersonal der Diktatur. Hier beschränkte sich Borkenau im Grunde auf die Feststellung: „The leading Nazi group consists almost exclusively of psychopaths of the worst kind. [...] Germany to-day is a country led by a group of crazy adventurers, ruling over a people dazed with hysterical fear.“46 Mit der Realität hatte all das wenig zu tun. Schwerwiegender ist allerdings, dass Borkenau die ideologischen Triebkräfte des Nationalsozialismus weitgehend verkannte bzw. negierte. Die NS-Ideologie bzw. der Hitlerismus beruhe lediglich auf zwei Glaubenssätzen: „First, that the Germans are God’s Chosen People, by nature superior to all other people, predestined to rule the world and to bring salvation to it; and secondly, that Hitler is the chosen prophet of the chosen people.“47 Dieser Glaube habe seine Wurzeln im Alten Testament und stelle nichts anderes als eine Umkehrung des jüdischen Messianismus dar. Der Rassentheorie hingegen maß Borkenau keine besondere Bedeutung zu. Sie sei für die NS-Weltanschauung nicht konstitutiv, da die meisten Deutschen gar nicht der „nordischen Rasse“ angehörten, von Hitler selbst ganz zu schweigen. „In itself, that pseudo-scientific theory of race never mattered, even to Hitler himself.“48 Sie sei lediglich ein pseudowissenschaftlicher Überbau zur Rationalisierung des Glaubens der eigenen Auserwähltheit bzw. ein Vorwand, „a pretext for the Nazi claims for world domination“.49 Ebenso sei der Antisemitismus, wie Borkenau – ungeachtet des Novemberpogroms von 1938 (das wie die antijüdische Gesetzgebung und Ausgrenzungspolitik seit 1933 in dem Buch überhaupt keine Erwähnung findet) – mutmaßte, nicht viel mehr als ein „first-rate propaganda trick“ zur Mobilisierung der breiten Massen, denen der „Jude“ als Sündenbock und Ersatzteufel präsentiert werde. Borkenau deutete den NS-Rassismus und Antisemitismus rein instrumentell als Mittel der Propaganda, da er, wie schon in der Pareto-Schrift dargelegt, der Auffassung war, dass die totalitären Eliten selbst nicht an ihre Ideologien und Pseudoreligionen glaubten.. Die Nazis besäßen weder ideologische noch politi46 47 48 49

Borkenau, Totalitarian Enemy, S. 168 f. Ebd., S. 130. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135.

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sche Prinzipien, weil sich ihre Psychologie in konzentriertem Hass erschöpfe: „The Nazis hate everything and everyone. [...] They hate liberty as such, justice as such, love as such, most of all, pity as such, and the only occasions on which they are really and profoundly overjoyed are those when they can exert their sadistic vengeance against helpless enemies, German Liberals and Socialists, Jews, Czechs, and Poles.“50 Ja, ihre Grausamkeit sei die Grausamkeit des Antichristen.51 Der Nationalsozialismus besitze keine positiven Ziele, er sei reiner Nihilismus und Zerstörung. Diese Überzeugung teilte Borkenau mit Hermann Rauschning, dem er auch im Vorwort neben Paul Sering (i. e. Richard Löwenthal) und dem britischen Journalisten Frederick A. Voigt52 intellektuellen Dank abstattete. Die Deutung des Nationalsozialismus als einer „Revolution des Nihilismus“53 war damals durchaus populär, stellte aber eine völlige Verkennung des zutiefst ideologisch geprägten Charakters der NS-Diktatur und ihrer rassenideologischen Ziele im entfesselten Weltanschauungskrieg dar. Andere Beobachter waren in diesem Punkt wesentlich hellsichtiger; so etwa Martha Dodd, die Tochter des amerikanischen Botschafters in Berlin, die in ihrem, bereits im Frühjahr 1939 publizierten politischen Reportagebericht den eliminatorischen Antisemitismus des NS-Regimes klar diagnostizierte.54 „The Totalitarian Enemy“ bleibt also ein widersprüchliches Buch, dessen analytische Schwächen unübersehbar sind, von den gewagten geschichtsphilosophischen Spekulationen einmal ganz abgesehen. „Viele interessante Gedanken gehen daher“, wie es Peter Schöttler einmal formulierte, „ins Leere, verpuffen, bleiben folgenlos – jedenfalls für empirisch orientierte Historiker oder Soziologen.“55 Wissenschaftliche Resonanz war Borkenau trotz seines umfangreichen Œuvres kaum beschieden, er blieb als Grenzgänger immer auch ein Einzelgänger. Auch nach der Rückkehr aus der Emigration führte Borkenau ein „einsames und ruheloses Leben“, das, wie sein Freund Löwenthal posthum dezent andeutete, von massiven psychischen Belastungen geprägt war.56 Zunächst bemühte

50 Ebd., S. 137. 51 Ebd., S. 138. 52 Zu Voigts früher Deutung des Totalitarismus als säkularer Religion vgl. Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999, S. 99–142, 221–264. 53 Vgl. Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, Zürich 1938. 54 Martha Dodd, My years in Germany, London 1939; amerikanische Ausgabe: Through Embassy Eyes, New York 1939. Deutsche Übersetzung: Meine Jahre in Deutschland 1933 bis 1937. Nice to meet you, Mr. Hitler!, Frankfurt a. M. 2005. Sie resümierte (S. 338): „Hitlers ultimatives Ziel ist es also, die jüdische Rasse von der Landkarte der germanischen Welt zu tilgen (die gemäß Hitlers größenwahnsinnigen Plänen ganz Europa umfasst, von Russland und den Kolonien ganz zu schweigen).“ 55 Schöttler, Konzept der politischen Religion, S. 195. 56 So Richard Löwenthal in seiner Einführung zu Borkenau, Ende und Anfang, S. 20.

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er sich vergeblich um einen historischen Lehrstuhl in Marburg,57 wo er bis 1948 als apl. Professor lehrte und eine Studentin in dritter Ehe heiratete. Anschließend gab er im Auftrag der Information Service Division der amerikanischen Militärregierung die Fachzeitschrift „Ostprobleme“ heraus und engagierte sich als leidenschaftlicher Antikommunist in dem „Kongress für kulturelle Freiheit“,58 der bedeutendsten westlichen Frontorganisation, die während des Kaltes Krieges verdeckt von der CIA finanziert wurde. Seit den frühen fünfziger Jahren lebte Borkenau als freier Schriftsteller mit wechselnden Wohnsitzen in verschiedenen Ländern und profilierte sich als ein gefragter Kommunismusexperte, dessen Spezialgebiet die „Kreml-Astrologie“ war. Erfüllt von einem tiefen Pessimismus über das weitere Schicksal der freien Welt,59 galt sein eigentliches Interesse in diesen Jahren freilich dem Entwurf einer umfassenden, an Oswald Spengler und Arnold J. Toynbee anknüpfenden Darstellung über die Theorie und Geschichte der Zivilisationen. Dieses Werk blieb ein Fragment, als Franz Borkenau am 18. Mai 1957 im Alter von 56 Jahren in einem Zürcher Hotel, seinem letzten Wohnsitz, einem Herzschlag erlag.

57 Zur Marburger Bewerbung vgl. Janko Prunk, Der Beitrag von Franz Borkenau zur Erforschung des Totalitarismus 1932–1940. In: Dietrich Papenfuß/Wolfgang Schieder (Hg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 297–307, hier 304 f. 58 Vgl. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, passim. 59 Vgl. beispielsweise Frank Borkenau, Nach der Atombombe. In: Der Monat, 1 (1948) H. 1, S. 9–16. Nachdruck: Borkenau, Ende und Anfang, S. 511–524.

Arthur Rosenberg, der Linkszionismus und das Totalitarismus-Problem. Betrachtungen im New Yorker Exil Mario Keßler Diese Studie möchte eine Lücke in der Biographie des Historikers und zeitweilig aktiven KPD-Politikers Arthur Rosenberg (1889–1943) schließen. Noch kürzlich wurde beklagt, dass Rosenbergs Aktivitäten im New Yorker Exil fast unbekannt seien.1 Zwar wurde eine Hinwendung Rosenbergs zum Zionismus vermutet, jedoch bislang nicht belegt. Auch Rosenbergs Bemerkungen zum Totalitarismus-Problem blieben bislang außerhalb der Aufmerksamkeit der Historiker. Sogar ein 2001 erschienenes, insgesamt sehr gründliches italienisches Werk musste hier Lücken einräumen.2 Die folgenden Bemerkungen konzentrieren sich daher auf Rosenbergs Engagement in der linkszionistischen Organisation Avukah (Fackel), und hier besonders, dem Thema der Tagung entsprechend, auf seine dort geäußerten Überlegungen zur Totalitarismus-Problematik. Unter materiell äußerst schwierigen Bedingungen, die hier ebenfalls behandelt werden, suchte Rosenberg im nordamerikanischen Exil eine neue geistige Verankerung als demokratischer Sozialist wie als sozialistischer Zionist. Diese Hinwendung zu einem nicht religiös bestimmten Nationaljudentum teilte Rosenberg mit zahlreichen anderen aus Deutschland und Europa Geflüchteten, die sich im Exil der Fragwürdigkeit einer „deutsch-jüdischen Symbiose“ zunehmend bewusst wurden. Doch nur wenige suchten Anschluss an linkszionistische Organisationen. Arthur Rosenberg (1889–1943) wurde in Berlin im scheinbar „assimilierten“ jüdischen Mittelstand geboren. Er studierte Alte Geschichte und Altphilologie, unter anderem bei Eduard Meyer, Otto Hirschfeld und Ulrich von WilamowitzMöllendorff, und wurde bereits im Alter von 24 Jahren Privatdozent. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte er sich von seinem Herkunftsmilieu ab und trat der USPD bei. Mit ihrem linken Flügel gelangte er 1920 in die KPD, in der er bald wichtige Funktionen innehatte; so in der KPD-Zentrale, als Mitglied des Exeku1 2

Gert Schäfer, Arthur Rosenberg – Verfechter revolutionärer Realpolitik. In: Theodor Bergmann/Mario Keßler (Hg.), Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays, 3. Auflage Hamburg 2003, S. 101–122, hier 104. Lorenzo Riberi, Arthur Rosenberg. Democrazia e socialismo tra storia e politica, Mailand 2001, S. 200.

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tivkomitees der Komintern und als Reichstagsabgeordneter. In der KPD gehörte er zum „ultralinken Flügel“, gelangte jedoch Mitte der zwanziger Jahre zu realistischeren politischen Positionen. 1927 verließ er die Partei und gab die aktive politische Tätigkeit auf. In den folgenden Jahren profilierte er sich als Zeithistoriker und unabhängiger Marxist. Er wurde, in kritischer Revision bisheriger Positionen, zum demokratischen und sozialistischen Verteidiger der Weimarer Republik. In seiner Forschung suchte er Demokratie und Sozialismus in einem historischen Interpretationsrahmen zusammen zu führen. Er wollte im Sinne einer „revolutionären Realpolitik“ (dieser Terminus taucht oft in seinen Schriften auf) durchgängig Lehren ziehen und diese auch einer Leserschaft außerhalb des linken Milieus vermitteln. Dies gelang ihm, wenngleich vor allem posthum: Rosenbergs Bücher über „Die Entstehung der deutschen Republik“ (1928), die „Geschichte des Bolschewismus“ (1932), die „Geschichte der deutschen Republik“ (1935) sowie „Demokratie und Sozialismus“ (1938) übten und üben noch immer einen bemerkenswerten Einfluss auf die intellektuellen Debatten zu diesen Themen aus.3 Rosenberg gehörte mit seiner Familie zu den sofort nach Hitlers Machtantritt Vertriebenen. Als Jude und Marxist, als Demokrat und Intellektueller war er den Nazis mehrfach verhasst. Über Zürich, London und Liverpool gelangte er am 26. Oktober 1937 nach New York. An der Universität Liverpool hatte er ein Gastlektorat inne gehabt, das jedoch im Sommer 1937 nicht verlängert wurde. Rosenbergs Mitemigrant Hajo Holborn (Yale-Universität) und die am Brooklyn College lehrenden Historiker Jesse Clarkson und Madeleine Robinton erwirkten zunächst eine befristete Anstellung des gelernten Althistorikers an der New Yorker Hochschule.4 Diese war zwar schlecht bezahlt, doch erhielt Rosenberg finanzielle Unterstützung sowohl vom Emergency Committee in Aid of Displaced German (ab 1938: Foreign) Scholars als auch von der Carl Schurz Foundation des Oberlander Trust, zwei Hilfsorganisationen.5 Die Familie mietete 3

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Zur Biographie und Bibliographie vgl. jetzt Mario Keßler, Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889–1943), Köln 2003. An früheren Darstellungen vgl. Giuseppe Motta, Gli eretici del Bolscevismo, Siracusa 1946, S. 19–29; Helmut Schachenmeyer, Arthur Rosenberg als Vertreter des Historischen Materialismus, Wiesbaden 1964; Luciano Canfora, Il comunista senza partito. Seguito da „Democrazia e lotta di classe nell’antichità“ di Arthur Rosenberg, Palermo 1984; ders., Politische Philologie. Altertumswissenschaften und moderne Staatsideologien, Stuttgart 1995, S. 179–195; Rudolf Wolfgang Müller/Gert Schäfer (Hg.), Arthur Rosenberg zwischen Alter Geschichte und Zeitgeschichte, Politik und politischer Bildung, Göttingen 1986. Zur Geschichte der Hochschule vgl. Murray M. Horowitz, Brooklyn College. The First Half-Century, New York 1981. Die Unterlagen des Emergency Committee befinden sich in der New York Public Library, Manuscript and Archives Division (Box No. 30: Arthur Rosenberg), und werden als NYPL, MAD, Emergency Committee zitiert. Zur Geschichte des Committee vgl. Stephen Duggan/Betty Drury, The Rescue of Science and Learning. The Story of the Emergency Committee in Aid of Displaced Scholars, New York 1948. Die Papiere der Carl Schurz Foundation sind im YIVO Institute for Jewish Research, New York, deponiert und werden fortan als YIVO, OT abgekürzt.

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ihre erste New Yorker Wohnung in Manhattan. Im Oktober 1938 zog sie innerhalb Manhattans um. Ein knappes Jahr später bezogen die Rosenbergs ein kleines Haus in Brooklyn, 1316 East 26th Street. Das Brooklyn College wurde zum Rettungshafen für eine Reihe aus Deutschland und Mitteleuropa vertriebener Wissenschaftler. Hierzu gehörten der Historiker Hans Rosenberg,6 der Politikwissenschaftler Hans Morgenthau und der Soziologe Feliks Gross. Arthur Rosenberg nahm Anfang 1938 seine Lehrtätigkeit auf. In einem Kurs über „Große Historiker von der Antike bis zur Gegenwart“ schlug er den Bogen von Thukydides bis zu den Klassikern der neuzeitlichen Historiographie sowie zu Kautsky und Mathiez. Ein anderer Kurs behandelte „Schulen historischen Denkens“, Geschichtsphilosophen von Platon und Aristoteles bis hin zu Marx. Außerdem las er zur Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung von der industriellen Revolution bis zur Gegenwart.7 Sein sich verschlechternder Gesundheitszustand verhinderte eine größere Buchpublikation in den USA, doch konnte Rosenberg das noch in England fertig gestellte Manuskript seines Buches „Demokratie und Sozialismus“ 1939 auch in einer amerikanischen Ausgabe herausbringen.

I. Die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten bewog Rosenberg, der in Deutschland protestantisch getauft, 1919 aus der Kirche ausgetreten war und seinem Judentum kaum Bedeutung zugemessen hatte, jede Indifferenz gegenüber jüdischen Angelegenheiten aufzugeben. In diesem Sinn schrieb er eine Reihe von Aufsätzen für die linkszionistische New Yorker Monatszeitschrift „Jewish Frontier“. So publizierte er nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges einen Aufsatz über „The Soviet-German Pact and the Jews“. Er betonte, dass „der deutsch-sowjetische Vertrag allen arbeitenden Menschen und Demokraten ebenso einen außerordentlichen Dienst erwiesen [hat] wie den Juden, da er die Einheitsfront ihrer Feinde zerbrochen hat.“ Rosenberg subsumierte unter diesen Feinden den Nazismus, aber auch den britischen Imperialismus als Förderer der arabischen Führung in Palästina. „Das ist eine Konsequenz aus dem Vertrag, die Hitler gewiss nicht gewollt hat.“ Die Münchner Konferenz „wurde zum natürlichen Ausdruck einer Einheitsfront zwischen dem reaktionären Kapitalismus und dem Faschismus“, zwischen Hitler und „den konservativen Lords sowie den Bankiers der Londoner City.“ Chamberlain und Daladier würden Hitler nun-

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Er war nicht mit Arthur Rosenberg verwandt, doch entstand zwischen beiden in Brooklyn eine Freundschaft. Diese Angaben sind den Ausgaben des Brooklyn College Bulletin, Bände VIII (1938) bis XII (1942) entnommen, die in der Brooklyn College Library, Archives & Special Collections (Brooklyn, NY), vorhanden sind.

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mehr „als Verräter an ihrer Klasse und als Komplizen Stalins ansehen.“8 Im Oktober 1939 verglich Rosenberg die Zustimmung der Komintern zum Hitler-Stalin Pakt mit der Unterstützung der Zweiten Internationale für die jeweiligen Kriegsanstrengungen im August 1914. Wie diese sei auch die Komintern damit tot. Was von ihr übrig bleibe, sei ein Instrument des russischen Nationalismus.9 Rosenbergs Interesse am Zionismus war bereits in England erwacht, doch erst in New York wurde er aktiver Zionist.10 Dabei suchte Rosenberg nach einer Verbindung von Zionismus und Sozialismus. Er schloss sich der Gruppe Avukah an. Diese kleine Organisation, mit vollem Namen Avukah Zionist Students’ Federation of America, wandte sich an „Juden, die am Überleben des jüdischen Volkes interessiert sind, an Zionisten, an Juden, die nicht an der Existenz jüdischer Gruppen interessiert sind sowie an Sozialisten“ – kurzum: an beinahe jeden politisch interessierten Juden. Speziell Studenten wurden angesprochen.11 Rosenbergs Kontakt zur Avukah-Gruppe war Ausdruck seines Bemühens, die politische Isolation, in der sich der Neuankömmling in den USA zunächst befand, aufzuheben. Die Avukah-Gruppe zählte nur wenige Hundert Mitglieder, die meist im Raum New York ansässig waren. Zu ihrer studentischen Anhängerschaft gehörten später bekannt gewordene Wissenschaftler, so die Politologen Seymour Melman (Columbia-Universität) und Nathan Glazer (Harvard-Universität). Die Organisation glaubte, dass die bestehenden Organisationen und Netzwerke, Bildungseinrichtungen und jüdischen Medien nicht ausreichten, zumal in der amerikanischen Gesellschaft ein latenter Antisemitismus existiere. In Palästina würden die britische Mandatsverwaltung in Zusammenarbeit mit arabischen feudalen Führern und sogar mit dem italienischen Faschismus die Interessen der Juden opfern. Insbesondere seien die arabischen Massen gegenüber den Juden ausgespielt worden. Sie würden nicht erkennen, welche Vorteile auch für sie selbst der Zionismus gebracht habe. Der marxistische Zionismus sei ein wichtiger Bundesgenosse der arabischen Fellachen und Arbeiter für ihre eigene soziale Befreiung. Damit wiederholte Avukah die „klassische“ linkszionistische Position, die in den zwanziger Jahren von der Komintern scharf bekämpft worden war. Die Avukah-Gruppe veranstaltete jedes Jahr ein Sommerlager in Liberty, in den Catskill Mountains im Staate New York. Zumindest seit 1939 hielt Rosenberg dort Vorträge, von denen sich Transkripte der Jahre 1940 und 1941 erhalten haben. Am 15. Juni 1940 sprach er über den „Krieg und die Lage der Juden“. 8 Arthur Rosenberg, The Soviet-German Pact and the Jews. In: Jewish Frontier, 6 (1939) 9, S. 13–16, hier 14. 9 Arthur Rosenberg, Program for Peace. In: Jewish Frontier, 6 (1939) 10, S. 13–14, hier 13. 10 In Liverpool nahm er Kontakt zu jüdischen Organisationen auf. Vgl. Keßler, Arthur Rosenberg, S. 201 f. 11 Zit. nach Robert F. Barsky, Noam Chomsky. A Life of Dissent, Cambridge, MA 1997, S. 61. Der junge Chomsky wurde durch Rosenbergs Bücher politisch beeinflusst.

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„Das jüdische Volk wird nun gezwungen, für die enormen Fehler zu bezahlen, die der offizielle Zionismus über eine so lange Zeit hinweg begangen hat“, sagte Rosenberg. Es war ihm unmöglich, den Juden in Palästina Sicherheit zu geben – und das trotz eindrucksvoller Erfolge beim Aufbau wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Einrichtungen. Die zionistischen Politiker hätten sich allzu lange auf den britischen Imperialismus verlassen. Dieser werde jedoch schwächer und sehe sich daher nach wichtigeren Bundesgenossen um, als es die Zionisten je sein könnten. So sei die Allianz zwischen der britischen Mandatsmacht und den reaktionären arabischen Führern entstanden. Die Zionisten hätten dies nicht sehen wollen und alle Chancen der Verständigung mit den arabischen Arbeitern ausgeschlagen. Daran hätten besonders die rechtsgerichteten Revisionisten unter Ze’ev Jabotinsky einen Anteil; sie seien „vor allem in Zeiten der Spannung eine Gefahr.“ Nach dem Zusammenbruch Frankreichs könne eine Situation entstehen, in der die englischen Truppen aus Palästina abgezogen würden, da sie zur Verteidigung der britischen Inseln gebraucht würden. Eine italienische Invasion Palästinas sei nicht mehr ausgeschlossen. Zwar würde Mussolini keine Pogrome veranstalten lassen, aber eine sozialistische Bewegung würde unterdrückt werden. Möglicherweise könnten die Revisionisten eine Übereinkunft mit ihm finden. „Jabotinsky hat Italien oft gelobt und sich mit Mussolini getroffen.“ Der offizielle Zionismus könnte dennoch so schnell zusammen brechen wie die Sozialdemokratie in Deutschland. „Dann werden kleine Gruppen wie Avukah oder Hashomer Hatzair, die jetzt verachtet werden, sehr wichtig, um nach dem Zusammenbruch einen Faden an Kontinuität zu knüpfen, wenn der offizielle Zionismus in der Krise steckt.“ Außerhalb Palästinas sei die jüdische Bourgeoisie in einem Land nach dem anderen zerstört wurden, zuerst in Russland, Deutschland und Österreich, dann in Italien, Frankreich und Holland. Es gebe jetzt viel mehr Proletarier unter den Juden als zuvor. Nach dem seien die jüdischen Geldleute eine Erscheinung der Vergangenheit. Dennoch: „Die grauenvolle Verfolgung der polnischen Juden durch die SS und die Gestapo (nicht die Armee) hat das jüdische Leben nicht beendet. Das wirkliche Zentrum jüdischen Lebens ist heute in Wilna. Litauen ist ein russischer Vasallenstaat, aber Wilna ist dennoch das Zentrum möglicher jüdischer Aktivitäten. Im russischen Teil von Polen ist die zionistische Arbeit illegal, die jiddische Kultur wird gefördert und Hebräisch wird unterdrückt. Der Zionismus ist offiziell nicht erlaubt, aber wird im russischen Teil Polens nicht immer verfolgt. Sogar im nazistisch besetzten Polen sind jüdische Unternehmungen und Aktivitäten nicht völlig ausgelöscht.“ Die Juden würden auch diese dunklen Jahre in Europa wie in Palästina überstehen.12 12 Arthur Rosenberg, The War and the Jewish Situation. Unpubliziertes Manuskript, Liberty, NY, vom 15. 6.1940, 4 S., unpaginiert. Professor Seymour Melman, New York, überließ mir dieses und das im Folgenden zitierte Manuskript.

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Am nächsten Tag sprach Rosenberg zur allgemeinen Kriegslage. England und Frankreich seien mit ihren privatkapitalistisch organisierten Volkswirtschaften den Staatswirtschaften Deutschlands und Italiens potentiell unterlegen. Die faschismusfreundliche Politik Chamberlains und seines Berliner Botschafters Neville Henderson sowie die antidemokratische Innenpolitik Daladiers in Frankreich habe die Lage für die Alliierten zusätzlich kompliziert.13 Ein Jahr später, am 22. Juni 1941, hielt Rosenberg in Liberty erneut eine Vorlesung, die sein geändertes Verhältnis zur Sowjetunion zeigt. Er sagte: „Das totalitäre System ist im Kern dasselbe wie das heutige Sowjetsystem, und ob Diktaturen einander mögen oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Die totalitäre Idee ist die Idee einer Staatswirtschaft ohne persönliche Freiheit.“ Das bedeutete keinen Verzicht Rosenbergs auf eine Klassenanalyse. „Die Position der Kapitalisten innerhalb des Staates unterscheidet sich von Staat zu Staat. In Russland wurde der individuelle Kapitalismus ausgemerzt, während in Deutschland und Italien die meisten Kapitalisten eine bedeutende Position innerhalb der Staatsmaschine innehaben. An der Spitze einer totalitären Staatswirtschaft steht ein Diktator.“ Die Aufgabe der Juden sei es heute, so Rosenberg, „sich politisch zu engagieren. Erstens, nationale Politik in Palästina, zweitens, Weltpolitik, um den Faschismus zu bekämpfen – denn Faschismus und Totalitarismus sind die schlimmsten Feinde menschlicher und insbesondere jüdischer Prinzipien.“ In Palästina werde die „demokratische Front“ durch die Arbeiter-, Histadruth- und Kibbuzbewegung vertreten. „Andererseits haben wir einen Kern von Faschisten, die Revisionisten [...]. Die Revisionisten bilden unter uns den Feind, der die demokratischen Kräfte unter den Juden unterminiert und das Tor für die Feinde öffnet, wann immer dies möglich ist.“ Doch auch der Bolschewismus sei „eine enorm gefährliche Sache.“ Rosenberg ließ offen, ob er auch die kleine, zudem faktisch gespaltene kommunistische Partei Palästinas meinte, die als bisher einzige politische Kraft jüdische und arabische Mitglieder Seite an Seite organisiert hatte. Jedenfalls zeige „das jüngste Ereignis (der russisch-deutsche Krieg)“, dass eine „Freundschaft zwischen Despoten über Nacht zu Ende sein kann.“14 Nie zuvor und nie danach rückte Rosenberg die stalinistische Sowjetunion derart nahe an Hitlerdeutschland heran, niemals sonst verglich er den „Bolschewismus“ mit der Bewegung Jabotinskys, die er schon 1934 als das „tollste Beispiel eines nachgemachten Faschismus“ gebrandmarkt hatte.15 Nur einen Tag später hielt Rosenberg wiederum eine Vorlesung – in einem ganz anderen Ton. 13 Arthur Rosenberg, The Nature of the War. Unpubliziertes Manuskript, Liberty, NY, vom 16. 6.1940, 7 S., unpaginiert. 14 Arthur Rosenberg, Why Should Jews Have a Political Program? Unpubliziertes Manuskript, Liberty, NY, vom 22. 6.1941. In: The New York Public Library, Dorot Jewish Division, Zellig S. Harris Papers, 3 S., unpaginiert. 15 Arthur Rosenberg, Der Faschismus als Massenbewegung [1934]. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Arthur Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf. Ausgewählte Studien, Frankfurt a. M. 1974, S. 221–303, hier 293.

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Über Nacht musste ihm die Konsequenz des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion bewusst geworden sein. Hitler könne nicht das „Symbol der Arbeitermacht“ angreifen und gleichzeitig den deutschen Arbeitern grandiose Versprechungen machen, sagte er. „Russland ist als Staat, nicht als Verkörperung einer Weltanschauung angegriffen worden. In seiner Kriegserklärung hat Hitler demnach nicht den Bolschewismus angegriffen. Hätte er dies getan, würde er Schwierigkeiten mit der Armee bekommen.“16 Rosenberg war sich nicht über die Kriegsziele im Klaren, die Hitler und die deutschen Generäle aneinander banden. Er vermied offenkundig jeden Anklang an seine Bemerkungen zum Totalitarismus vom Vortag, die, so darf man sagen, tagespolitischer Natur waren. Eine systematische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem des Totalitarismus findet sich bei Rosenberg nicht. Doch sind viele der frühen Stellungnahmen, zumal von Exilanten, zunächst als politische Stellungnahmen zu verstehen, die später auf ihren wissenschaftlichen Gehalt geprüft wurden. Wie jedem politisch Denkenden wurde Rosenberg rasch klar, dass der Krieg für die Sowjetunion ein Kampf auf Leben und Tod wurde, dass ihre Niederlage noch den entschiedensten sozialistischen Gegner Stalins bis ins Innerste treffen musste. Dies bewog ihn in der kurzen Zeit, die ihm noch vergönnt blieb, im Rahmen überparteilicher Aktivitäten auch zu exilierten deutschen Kommunisten wieder in Kontakt zu treten.

II. Bereits Ende 1939 hatten Arthur Rosenberg, der mit ihm befreundete Mediziner Felix Boenheim, Mitglied der KPD, und Alice Rosenfeld, die Frau des sozialdemokratischen Politikers, der einst die linkssozialistische SAP mitbegründet hatte, eine überparteiliche Organisation ins Leben gerufen: die Unabhängige Gruppe deutscher Emigranten. Die Gruppe arbeitete eng mit anderen Organisationen des politischen und literarischen Exils zusammen, vor allem dem Schutzverband deutscher Schriftsteller. Es war Boenheim, der Rosenberg wieder mit kommunistischen Kreisen zusammenbrachte, die ihn auch im Exil bislang gemieden hatten.17 Am 1. März 1942 waren Rosenberg und Boenheim an der Eröffnungskonferenz der German American Emergency Conference in der New Yorker Webster Hall beteiligt.18 Zu den Rednern der Tagung gehörten Franz Boas, Ernst Bloch, 16 Arthur Rosenberg, The War Situation. Unpubliziertes Manuskript, Liberty, NY, vom 23. 6.1941. In: The New York Public Library, Dorot Jewish Division, Zellig S. Harris Papers, 2 S., unpaginiert. 17 Vgl. Thomas M. Ruprecht, Felix Boenheim. Arzt, Politiker, Historiker. Eine Biographie, Hildesheim 1992, S. 242 f. 18 Vgl. zu deren Vorgeschichte im Rahmen der politischen und literarischen Aktivitäten des deutschen Exils Joachim Radkau, Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluss auf die amerikanische Europapolitik 1933–1945, Düsseldorf 1971; Alfred Kanto-

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Alfred Kantorowicz und der Schriftsteller Berthold Viertel. Auf dem Podium saß auch Arthur Rosenberg. In der Diskussion sagte er: „Im heutigen Europa – unter der Herrschaft des Faschismus – wird die Wissenschaft missbraucht. Nicht nur jüdische Wissenschaftler, sondern fast alle deutschen Gelehrten wurden gezwungen, Europa zu verlassen, denn der Faschismus ist der Feind jeder Zivilisation; er ist die Barbarei. Aber es muss gesagt werden, dass ein Teil der Verantwortung für Hitlers Aufstieg auch bei den Wissenschaftlern liegt, denn sie hatten sich von den Problemen des Volkes abgewandt und betrieben nur noch ‚reine Wissenschaft‘. In einem neuen Europa kann es keinen Platz für solche Wissenschaftler geben, denn eine wahre Kultur kann nicht vom Leben des Volkes getrennt sein.“19 Rosenberg suchte beruflichen Anschluss an das von Max Horkheimer geleitete Institut für Sozialforschung, das unter seinem englischen Namen Institute for Social Resarch der Columbia University angegliedert war. Er plante eine Beteiligung am Forschungsprojekt des Instituts über „German Economy, Politics and Culture 1900–1933“. Dazu reichte er am 15. September 1940 gemeinsam mit Theodor W. Adorno, Henryk Grossmann, Herbert Marcuse, Franz Neumann und Kurt Pinthus ein Projekt zum Thema „The Collapse of German Democracy and the Expansion of National Socialism“ ein. Rosenberg war für den Bereich der politischen Geschichte federführend.20 Das Projekt fand jedoch keine Geldgeber. So blieb es bei einigen Vorträgen Rosenbergs am Institut.21 Die anstrengende Suche nach Existenzmitteln überschattete Rosenbergs Alltag. Dieser Alltag darf, wenn von politischer und wissenschaftlicher Selbstbehauptung der Flüchtlinge die Rede ist, nicht ausgeblendet werden. Die Familie Rosenberg musste sich, nach der Schweiz und England, zum dritten Mal in einer neuen Zufluchtsstätte einleben. Im Frühjahr 1938 nahm Rosenberg seine Lehrtätigkeit am Brooklyn College auf, die ihn und seine Familie jedoch keineswegs finanziell sicherstellte. Rosenberg unterrichtete am Graduiertenkolleg (Graduate Division) für zuerst 900 $ im Jahr. „Da diese Summe“, so Institutsdirektor Jesse Clarkson, „absolut ungenügend für den Lebensunterhalt von Dr. Rosenberg und seiner Familie ist, kann ich nur hoffen, dass das Komitee die nötigen Mittel bereitstellen wird, um ihm

rowicz, Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus, Hamburg 1978, Taschenbuchausgabe München 1983. 19 The German Americans and the War. Report of the German American Emergency Conference Held in New York on March 1, 1942, New York 1942, S. 12 f. Diese Materialien befinden sich in der Franz Boas Collection in der American Philosophical Society Library (Philadelphia). 20 Das Projektpapier befindet sich in: NYPL, Dorot Jewish Division; eine Kopie besitzt auch das Institut für Zeitgeschichte (München). 21 Vgl. Max Horkheimers Briefe an Arthur Rosenberg vom 11.12.1939 und vom 18. 3.1941. In: Stadt- und Universitätsbibliothek, Archivzentrum (Frankfurt a. M.), Nachlass Max Horkheimer.

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die Anstellung zu ermöglichen.“22 Mit dem Komitee war das Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars gemeint. Zunächst blieb die Unterstützung durch das Hilfskomitee aus. Dafür erhielt Rosenberg von einer anderen Organisation, der Carl Schurz Foundation, die dringend nötige Hilfe, nämlich 2 000 $ für das akademische Jahr 1938/39.23 Am ersten Januar 1941 wurde er durch das Brooklyn College vom Tutor in den Rang eines fest angestellten Instructors erhoben.24 Sein Jahresgehalt betrug 2 000 $. Präsident Harry D. Gideonse bat deshalb am 28. Mai das Emergency Committee um eine weitere Unterstützung für Rosenberg.25 Am 19. Juni erhielt dieser die Mitteilung, dass er für das akademische Jahr 1941/42 500 $ aus dem Fonds des Committee erhalte.26 Er verneinte die Nachfrage des Committee, ob er amerikanischer Staatsbürger sei; er habe erst die „First Papers“ erhalten.27 Am 10. Februar 1942 wandte sich Rosenberg mit der Bitte an Betty Drury, die Sekretärin des Emergency Committee, dieses möge ihm eine einmalige zusätzliche Beihilfe von 500 $ zahlen. Im Jahre 1941 habe er außer den Geldern vom College keine Einnahmen gehabt. „Meine Tochter ist im Hauptstudium im Fach Government am Brooklyn College, mein ältester Sohn studiert Statistik an der City School of Business Administration. Beide sind hervorragende Studenten und werden im nächsten Jahr ihr Studium beenden. Ich denke, es wäre schlimm, sie jetzt vom College nehmen zu müssen. Ohne Abschluss könnten sie keine entsprechende Arbeit finden. Außerdem sollte mein Sohn Wolfgang, der dieses Jahr zwanzig wird, sein Studium beenden, bevor er zur Armee muss.“28 Doch am 13. März erhielt Arthur Rosenberg die Mitteilung, dass sich das Emergency Committee außerstande sehe, Rosenberg weitere finanzielle Hilfe zu leisten.29 Zehn Wochen später, am 26. Mai, erteilte auch die Carl Schurz Foudation Rosenbergs Bitte um Unterstützung eine Absage.30 Im Herbst 1942 war Rosenbergs körperliche Substanz verbraucht. In einem bewegenden Brief schrieb er am 4. November an Betty Drury: „Inzwischen hat sich meine Situation weiter verschlechtert. Während der letzten Monate bekam ich Schmerzen in der Hüfte und begann mit dem rechten Fuß zu hinken. Als die Schmerzen immer stärker wurden, habe ich einen Spezialisten aufgesucht. Dieser sagte, mir, eines meiner Beine sei ernsthaft geschädigt und würde die umliegenden Organe des Körpers angreifen. Ich muss mich einer langwierigen 22 YIVO, OT: Jesse D. Clarkson an das Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars vom 18. 4.1938. 23 Ebd., Roxanne Oberlin (Assistant) an Rosenberg vom 6. 7.1938. 24 Ebd., Rosenberg an Thomas vom 28. 4.1941. 25 NYPL, MAD, Emergency Committee: Gideonse an Stephen Duggan, Committee Chairman vom 28. 5.1941. 26 Ebd., Duggan an Gideonse vom 19. 6.1941. 27 Ebd., Rosenberg an Duggan vom 4.12.1941. 28 Ebd., Rosenberg an Betty Drury vom 10. 2.1942. 29 Ebd., Duggan an Gideonse vom 13. 3.1942. 30 YIVO, OT, Rosenberg an Thomas vom 21. 4.1942; Thomas an Rosenberg vom 26. 5. 1942.

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Röntgenbehandlung unterziehen. Trotz meiner Krankheit werde ich versuchen, soweit dies irgend möglich ist, meinen akademischen Verpflichtungen nachzukommen. Sie wissen, wie teuer eine solche Röntgenbehandlung ist, und ich weiß zur Zeit nicht, wie ich mir das leisten kann. Ohne die Behandlung muss ich in naher Zukunft meine akademische Tätigkeit aufgeben. Bitte informieren sie das Komitee über diese neue Lage. Ein Stipendium ist deshalb dringender denn je zuvor.“31 Auch Präsident Gideonse erbat im Namen des Brooklyn College schnellstmögliche Hilfe. Diese kam erst Ende November, als Rosenberg eine einmalige Beihilfe von 500 $ vom Emergency Committee bekam.32 Selbst um seine Existenz kämpfend, kümmerte sich Rosenberg um die Nöte anderer. Bereits schwerkrank, schrieb er ein Gutachten an das Emergency Committee, in dem er Ruth Fischers Antrag auf ein Stipendium unterstützte. Bewegt dankte sie ihm am 7. Februar 1943 und schrieb: „Zunächst mein herzlichstes Beileid zum Rückfall und die Hoffnung, dass Sie bald wieder im buchstäblichsten Sinn des Wortes auf den Beinen sind. Mir geht es jetzt soweit gesundheitlich gut, dass ich Sie eventuell besuchen kann, wenn Sie zu Hause sind und sich besuchsreif fühlen.“33 Doch der Brief erreichte Arthur Rosenberg nicht mehr. Am 7. Februar 1943, fünf Tage nach dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad, starb er im Long Island College Hospital in Brooklyn an Krebs. Der Nachruf des Brooklyn College hob hervor, die Studenten liebten ihren Lehrer Arthur Rosenberg „und strömten geradezu in seine Seminare und Vorlesungen. Er war gleichermaßen Freund und Gelehrter. Er brachte die Geschichte zum Leben.“34 Die New York Times schrieb, er habe zuletzt „viele demokratische Entwicklungen in den USA und England gewürdigt, die er einst bekämpfte.“35 Auch für die konservative New Yorker Staats-Zeitung und Herald war Rosenbergs Tod „eine schmerzliche Überraschung.“ Das Blatt schrieb, er habe sich nach seinem Bruch mit dem Kommunismus der Sozialdemokratie angenähert.36 Die Avukah Student Action würdigte ihn als sozialistischen Zionisten. „Die meiste Zeit seines Lebens hatte er kein Interesse an jüdischen Angelegenheiten“, hieß es in einem sehr ausführlichen Artikel. „Kurz vor Hitlers Machtantritt erhielt er Informationen über die schlimme Lage der jüdischen Arbeiterklasse in Deutschland [...]. Somit brachten ihn ganz praktische Gründe da31 NYPL, MAD, Emergency Committee: Rosenberg an Betty Drury vom 4.11.1942. 32 Ebd., Duggan an Gideonse vom 12.11.1942; Emergency Committe, Schatzmeister Fred M. Stein an Rosenberg vom 27.11.1942. 33 Ruth Fischer an Rosenberg vom 7. 2.1943. In: Ruth Fischer/Arkadi Maslow, Abtrünnig wider Willen. Aus Büchern und Manuskripten des Exils. Hg. von Peter Lübbe, München 1990, S. 155. 34 Brooklyn College Vanguard, 22 (1943) 1, S. 1 und 8. 35 Dr. A. Rosenberg, Teacher in Exile. In: The New York Times vom 9. 2.1943. 36 Weimar-Historiker stirbt im Exil. In: New Yorker Staats-Zeitung und Herald vom 10. 2.1943.

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zu, die jüdische Einwanderung nach Palästina zu unterstützen. Er fühlte auch, dass die Juden außerhalb Palästinas in einer Welt nach dem Krieg ihre Interessen selbständig wahrnehmen sollten, und daher war er am Charakter und der Entwicklung der zionistischen Organisationen interessiert.“ Die Avukah Student Action setzte sich kritisch mit dem Nachruf der New York Times auseinander, in dem es hieß, Rosenberg habe nach seinem Bruch mit dem Kommunismus die Demokratie schätzen gelernt. „Das ist von der Wirklichkeit weit entfernt. Rosenberg war nicht weniger demokratisch gesinnt, bevor er die Partei verließ. Er trat stets für Freiheit und Gleichheit, Sicherheit und Demokratie für jeden ein. Sein Standpunkt war Rosa Luxemburgs grundsätzlich demokratischem Impuls und ihrer marxistischen Analyse sehr nahe.“37 Ein solches Urteil kann jedoch nur für die letzte Phase der KPD-Mitgliedschaft Rosenbergs gelten, als er den so genannten Parteirechten nahestand.38 Diese erkannten in der Tat den Wert der Weimarer Demokratie für die Arbeiterbewegung und hofften, Demokratie und Sozialismus lasse sich in geschichtlich kurzer Zeit in einem künftigen deutschen Staatswesen miteinander verbinden. „In diesem Glauben, der sich in der Emigration nur noch verstärkt hat, ist Arthur Rosenberg gestorben“, schrieb auch Hans Rosenberg, der Freund und Kollege.39 Im Jahre 1940 fragte Rosenberg „Was bleibt von Karl Marx?“. In diesem Aufsatz legte Rosenberg gewissermaßen Rechenschaft über sich selbst ab. „Marx war niemals ein ‚radikaler‘ Prinzipienreiter“, schrieb er. „In großen revolutionären Krisen forderte er ein rücksichtslos entschlossenes Auftreten des Proletariats, aber in anderen Perioden war Marx auch mit friedlichen Reformen innerhalb des Kapitalismus einverstanden, wenn sie die Lage der Arbeiterschaft real verbesserten.“ Rosenberg warnte vor Illusionen: „Die heutige Generation kann aus den Schriften von Marx keine Wunderrezepte und wunderbaren Prophezeiungen entnehmen, sondern nur das Vorbild, wie man die stets sich wandelnden Tatsachen kritisch zu erfassen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen hat.“40

37 Prof. Rosenberg’s Works Analyze the Great Changes of Our Times. In: Avukah Student Action von Mai 1943, S. 1–4, hier 3. 38 Die meisten von ihnen wurden 1928/29 aus der KPD ausgeschlossen und begründeten mit Heinrich Brandler und August Thalheimer die KP-Opposition. Vgl. hierzu Theodor Bergmann, „Gegen den Strom“. Die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition, 2. erweiterte Auflage Hamburg 2001. 39 Hans Rosenberg, Ein Historiker der deutschen Republik. In: Aufbau vom 19. 2.1943. 40 Arthur Rosenberg, Was bleibt von Karl Marx? [1940]. In: Wehler (Hg.), Arthur Rosenberg, S. 131–138, hier 136 f.

Brauner und roter Faschismus? Otto Rühles rätekommunistische Totalitarismustheorie Mike Schmeitzner

Der vergessene Totalitarismustheoretiker Der Anteil emigrierter deutscher Geisteswissenschaftler an der Herausbildung verschiedener totalitarismustheoretischer Ansätze ist weithin anerkannt. Einzelpersonen wie Hannah Arendt, Franz L. Neumann, Ernst Fraenkel, Sigmund Neumann oder Richard Löwenthal haben nach 1933 im westlichen Exil bemerkenswerte Beiträge zur historischen Einordnung und vergleichenden Analyse der neu entstandenen „modernen“ Einparteidiktaturen geliefert, von denen sie zumindest im Falle des Dritten Reiches auch persönlich existentiell betroffen waren. Ein Teil von ihnen hat nach dem militärischen Ende Hitler-Deutschlands eine außerordentlich fruchtbare wissenschaftliche Tätigkeit in der Bundesrepublik entfalten können und auf diesem Wege dazu beigetragen, das westliche Demokratiemodell verankern zu helfen. Im Falle Otto Rühles, des bis 1933 bekannten Pädagogen, Publizisten und Historikers, kann dagegen weder von einer größeren publizistischen Resonanz in der Nachkriegszeit oder gar von einer nachhaltigen Bedeutung für die Wissenschaft noch von einer stärkeren demokratietheoretischen Wirkung die Rede sein. Vielen Historikern und Politikwissenschaftlern ist der Rätekommunist schlicht unbekannt; allenfalls Pädagogen kennen seine frühen Schriften über das „proletarische Kind“, dessen Umwelt, Seele und Sexualität.1 Rühles historische Werke sind längst in Vergessenheit geraten, und die in der Emigration geschriebenen Analysen der modernen Einparteidiktaturen in der Sowjetunion, in Deutschland und in Italien fanden bereits zum damaligen Zeitpunkt keinen Verleger. Das hatte wohl in erster Linie etwas mit seinem spezifischen politischen Standort zu tun, zum anderen aber auch mit einer zu starken Vermengung von wissenschaftlicher Analyse und politischem Urteil. Rühle selbst starb – fast völlig isoliert von den großen politischen Strömungen und persönlich stark verein1

Vgl. Otto Rühle, Das proletarische Kind. Eine Monographie, München 1911; ders., Die sexuelle Erziehung des Kindes, Nürnberg 1914; ders., Kind und Umwelt. Eine sozialpädagogische Studie, Berlin-Fichtenau 1920; ders., Die Seele des proletarischen Kindes, Dresden 1925; ders., Das verwahrloste Kind, Dresden 1926.

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samt – noch im Jahre 1943 im mexikanischen Exil. Sein früher Tod mag dazu beigetragen haben, dass zentrale Thesen seines totalitarismustheoretischen Werkes lange unbeachtet geblieben sind. Dabei hatte er in seinen 1934 bis 1941 entstandenen Schriften die historisch-genetische Analyse mit einer eigenwilligen Interpretation und vergleichenden Aspekten zu einem beinahe singulären Ansatz der Totalitarismusforschung verbunden, womit er in bestimmten Punkten Ergebnisse der späteren Forschung vorwegnahm. Erst im Zuge der westdeutschen Studentenbewegung erlebte Rühle eine Wiederentdeckung als „Vater“ des „unautoritären Menschen“. In der Bundesrepublik gelang es im Gefolge dieser Entwicklung politisch Gleichgesinnten wie Gottfried Mergner und Henry Jacoby, einige seiner nachgelassenen Schriften im renommierten Rowohlt-Verlag zu veröffentlichen.2 Eine stärkere Thematisierung seines totalitarismustheoretischen Ansatzes folgte allerdings nicht, da der Fokus der Herausgeber mehr auf seinen rätekommunistischen Auslassungen lag.3 Doch war es gerade der herrschende linke Zeitgeist, der eine ganzheitliche Rezeption des Werkes verhinderte: Gegenüber den immer mehr an Gewicht gewinnenden Faschismustheorien befanden sich die Totalitarismustheorien Hannah Arendts oder Carl Joachim Friedrichs auf dem wissenschaftlichen Rückzug. Dabei hätten es auch Rühles konzeptionelle Ansätze verdient gehabt, im Kontext einer pluralistischer geführten Totalitarismusdiskussion breiter beleuchtet zu werden, auch wenn der Verfasser nicht den antitotalitären Konsens des liberalen Verfassungsstaates teilte. Rühles Perspektive war von einer völlig anderen – nämlich radikal linken – Weltsicht geprägt: Der idealistisch gesinnte, 1874 im sächsischen Großvoigtsberg (bei Freiberg) geborene Volksschullehrer4 war schon frühzeitig mit der sächsischen Arbeiterbewegung in Berührung gekommen; er wurde Mitglied der SPD und bald auch ein populärer sozialdemokratischer Wanderredner. 1912 zog der bekannte Pädagoge für den Wahlkreis Pirna in den Deutschen Reichstag ein, wo er sich mit Beginn des Ersten Weltkrieges politisch zu emanzipieren begann und gemeinsam mit Karl Liebknecht die Burgfriedenspolitik der eigenen 2

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Vgl. Otto Rühle Schriften. Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Ländern. Hg. von Gottfried Mergner, Reinbek bei Hamburg 1971 (darin enthalten sind die Schriften „Brauner und roter Faschismus“ von 1939, „Weltkrieg – Weltfaschismus – Weltrevolution“ von 1940 und Briefe von 1937 und 1939); Otto Rühle, Baupläne für eine neue Gesellschaft. Mit einem Vorwort und einem Essay ‚Utopie als Gegenbild‘ erstmals aus dem Nachlass hg. von Henry Jacoby, Reinbek bei Hamburg 1971. Eine Ausnahme bildete Friedrich Georg Herrmann, der im zweiten Teil seiner politischen Biographie Rühles auch ansatzweise auf den Diktaturenvergleich Rühles einging. Vgl. Friedrich Georg Herrmann, Otto Rühle als politischer Theoretiker, Teil 2. In: IWK, (1973) 18, S. 23–50, hier 45 ff. Zur Biographie Rühles vgl. Friedrich Georg Herrmann, Otto Rühle als politischer Theoretiker, Teil 1. In: IWK, (1972) 17, S. 16–60; Teil 2. In: ebd.; Henry Jacoby / Ingrid Herbst, Otto Rühle zur Einführung, Hamburg 1985; Erhard Frommhold, Ein vergessener Revolutionär. Otto Rühle. In: Sächsische Heimatblätter, 43 (1997) 6, S. 404–412; Gerd Stecklina/Joachim Schille (Hg.), Otto Rühle. Leben und Werk (1874–1943), Weinheim 2003.

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Partei bekämpfte. In der Folgezeit machte er eine politische Radikalisierung durch, die im Herbst 1918 mit der Gründung der Gruppe „Internationale Kommunisten Deutschlands“ (IKD) einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Sichtbarer Ausdruck dieser Entwicklung war seine Reichstagsrede vom 25. Oktober 1918, in der er zur bewaffneten Revolution aufrief. In Sachsen avancierte er nur wenige Tage später zu einem der bekanntesten Räterevolutionäre5 und in Berlin gehörte er Anfang 1919 zu den Mitbegründern der KPD, auf deren Gründungskongress er gegen Rosa Luxemburgs Widerstand die Teilnahme der Partei an den Wahlen zur Nationalversammlung vereitelte.6 Rühles vollständige Identifikation mit dem Rätegedanken und sein dadurch bedingter Antiparlamentarismus sowie seine zunehmende Skepsis gegenüber Parteien und Staat führten ihn bald aus der KPD und in die gerade erst gegründete Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), die er ebenfalls nach nur kurzer Zeit zu Gunsten der Allgemeinen Arbeiter-Union (AAU) verließ. Ab Mitte der 20er Jahre agierte er mit seinen radikal rätekommunistischen und anti-etatistischen Ansichten nur noch als Einzelkämpfer, wobei er individual-psychologische Interpretationen seiner Ehefrau Alice Gerstel-Rühle mit marxistischen Vorstellungen zu verknüpfen suchte. Als Ausfluss dieser Synthese kann die von orthodox-marxistischen Kräften heftig attackierte Karl-Marx-Biographie,7 aber auch seine Geschichte der europäischen Revolutionen und seine große Kulturgeschichte des Proletariats gelten.8 Im mexikanischen Exil, wohin er über Prag 1933 fliehen musste, wurde er schließlich Opfer der von Stalin diri5

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Im vereinigten revolutionären Arbeiter- und Soldatenrat von Groß-Dresden amtierte Rühle vom 10. bis 16. November 1918 als paritätischer Vorsitzender. Er verließ den Rat mit der Begründung, dass MSPD und USPD das „großangelegte Täuschungsmanöver“ der gegenrevolutionären Kräfte zur Rettung der „vom Untergang bedrohten kapitalistischen Gesellschaft“ unterstützen würden. Zit. nach Mike Schmeitzner, Dresden in der Novemberrevolution. In: Geschichte der Stadt Dresden. Band 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart. Im Auftrag der Landeshauptstadt Dresden hg. von Holger Starke unter Mitwirkung von Uwe John, Stuttgart 2006, S. 252–259, hier 256. Rühles Antrag, eine Beteiligung der KPD bzw. des Spartakusbundes an den Wahlen zur Nationalversammlung „mit Entschiedenheit“ abzulehnen, ihre Anhänger „im Reiche zur Wahlenthaltung“ aufzurufen und diese darüber hinaus aufzufordern, „das Zustandekommen und die gegenrevolutionäre Tätigkeit dieses Parlaments mit allen Mitteln zu verhindern“, erhielt mit 62 gegen 23 Stimmen eine klare Mehrheit. Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien. Hg. und eingeleitet von Hermann Weber, Frankfurt a. M. 1969, S. 109 und 135. Rühles und Luxemburgs Redebeiträge vgl. S. 96 ff. und 99 ff. In seiner Biographie zeichnete Rühle ein äußerst kritisches, individualpsychologisch inspiriertes Persönlichkeitsbild von Marx, ohne aber dessen Verdienste zu schmälern. Der KPD-Historiker Hermann Duncker charakterisierte daraufhin das Werk mit den Worten: „Genug – keine faschistische Sudelküche hat jemals ein giftigeres Anti-Marx-Gericht zubereitet, als es hier Rühles findigen Händen gelungen ist.“ Zit. nach Herrmann, Otto Rühle II, S. 25. Otto Rühle, Karl Marx. Leben und Werk, Hellerau bei Dresden 1928; ders., Die Revolutionen Europas, 3 Bände, Dresden 1927; ders., Illustrierte Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats, Band 1, Berlin 1930 (Die Veröffentlichung des 2. Bandes erfolgte 1977 posthum).

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gierten Parteikommunisten, die den streitbaren Freund Leo Trotzkis 1938 ins berufliche und bald schon existentielle Abseits drängten. Als sich ein Jahr später Hitler und Stalin politisch näherten, sah sich Rühle verstärkt zu vergleichenden Analysen von Nationalsozialismus und Bolschewismus herausgefordert. Dabei spielte seine ausgeprägt antibolschewistische Haltung, die aus frühen Auseinandersetzungen mit Lenin resultierte, eine entscheidende Rolle.

Der Bolschewismus als Ausgangspunkt Rühles Weg zu einem Totalitarismuskritiker- und Theoretiker folgte demselben Ausgangspunkt wie seine Wandlung zum überzeugten Rätekommunisten – dem Bolschewismus. Die Machtübernahme der Bolschewiki in Russland hatte Rühle zuerst mit Wohlwollen und Faszination verfolgt; seine Begeisterung für das Rätemodell resultierte offenkundig aus der hier entstandenen Sowjetbewegung. Im Rätesystem, das auf dem Prinzip der Gewalteneinheit fußte, erblickte er den überzeugenderen Gegenentwurf zum parteipolitisch beherrschten Parlamentarismus, in dem er nur noch eine Kulisse bürgerlicher Herrschaft sah. Den Räten billigte er daher nicht nur die politische Führung des Landes zu, sondern ebenso eine Vergesellschaftung der Wirtschaft auf der Basis der Betriebe, in denen Räte künftig die entscheidende Rolle spielen sollten. Auf dem KPD-Gründungsparteitag forderte er dann den Verzicht auf die Nationalversammlung: Dieses „Organ der Bourgeoisie“ – eine „lächerliche, armselige Parlamentstribüne“ – habe dem „Rätesytem“ als dem „geradlinigen Weg einer ganz konsequenten Politik“ Platz zu machen.9 Rühles (illusionäre) Vorstellungen eines basisorientierten und parteipolitisch unbeeinflussten Rätesystems10 kollidierten jedoch binnen Kurzem sowohl mit der innerparteilichen Entwicklung der KPD als auch mit der sowjetrussischen Praxis der dortigen Kommunisten. Hatte er noch Anfang 1919 mit seinen Sympathisanten eine Teilnahme der KPD an Parlamentswahlen verhindern können, erhielten im Laufe des Jahres 1919 diejenigen innerparteilichen Kräfte Auftrieb, die, wie Paul Levi, die sozialdemokratische Dominanz in Parlament und Gesellschaft nicht noch durch eine selbst gewählte parlamentarische Abstinenz und eine unzeitgemäße Offensivstrategie verstärken wollten. Als sich der Oktoberparteitag der KPD (1919) für diese Option mehrheitlich aussprach, war die Sollbruchstelle erreicht. Die unentschlossene Haltung der KPD-Zentrale zum Janu9 Rede Rühles auf dem Gründungsparteitag der KPD, S. 98 f. 10 Wie illusorisch sich solche Vorstellungen ausnehmen mussten, wird deutlich, wenn man z. B. die Wahlen zum Groß-Dresdner ASR vom 24. November 1918 betrachtet. Die in Rühles unmittelbarem Blickfeld abgehaltenen Wahlen brachten für die – natürlich – teilnehmenden Kandidaten der MSPD ein Ergebnis von 117 566 Stimmen und 47 Mandate, für die USPD-Vertreter dagegen nur 8 440 Stimmen und 3 Mandate. Mit diesem – keineswegs singulären – Ergebnis war der Weg Richtung Nationalversammlung vorgezeichnet. Vgl. Schmeitzner, Dresden in der Novemberrevolution, S. 256.

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ar-Blutbad vor dem Reichstag und zum Kapp-Putsch (1920) vertieften den bestehenden Riss ebenso wie der Beschluss der Levi-Zentrale, an den bevorstehenden Reichstagswahlen teilzunehmen.11 Für Rühle und weitere Gegner Levis war das im April 1920 der Anlass, eine neue – natürlich „revolutionäre“ – kommunistische Partei, die KAPD, zu gründen.12 Seiner bisherigen Partei, der KPD, bescheinigte der zunehmend parteienskeptische Rühle, mit ihrer Parlamentsteilnahme eine normale „politische“ Partei zu werden, die ihren Frieden mit den Herrschenden mache und sich auf den „Boden der realen Machtverhältnisse“ stelle. Sie opponiere, statt zu revolutionieren, sie verhandle, statt zu handeln und sie „schwätze“, statt zu kämpfen. Sie habe somit aufgehört, die kommunistische Bewegung in Deutschland zu verkörpern und bilde vielmehr das „letzte Glied in der Einheitsfront der Gegenrevolution“. Rühles maßlose Kritik steigerte sich schließlich zu der Behauptung, dass der Verzicht der KPD auf einen „revolutionären Vernichtungskampf gegenüber Ebert und Kautsky [...] bereits ein stillschweigendes Bündnis“ der „EbertKautsky-Levi“ darstelle.13 Wenige Tage nach dem niedergeschlagenen KappPutsch erklärte Rühle in einer eigenen Flugschrift: „Solange die Revolution eine Parteiangelegenheit ist, solange die Parteiführer auf die Etablierung einer Parteidiktatur hinstreben, solange sie dazu an dem parlamentarisch-demokratischen Rüstzeug der veralteten Partei-Organisationsform festhalten und sich des konterrevolutionären Mittels der Gewerkschaften bedienen – solange wird die Revolution für das deutsche Proletariat verloren bleiben.“14 Mit seinem neuen Credo: „Klassendiktatur anstelle der durch Führer vollstreckten Parteidiktatur. Alle Macht den Räten! Ohne Räte kein Sozialismus!“ wandte er sich in erster Linie gegen den Weg der „Unzulänglichkeiten und Rückständigkeiten“, mit denen man im „revolutionären Kampfe vielleicht bis zum Staatskapitalismus und zur Führerdiktatur kommen“ könne, niemals aber zum Sozialismus und zur Diktatur der gesamten proletarischen Klasse.15 Seine Abwendung von jeglichen Parteistrukturen erhielt mit seiner Reise nach Sowjetrussland im Sommer 1920 schließlich eine unumkehrbare Dimension. Hatte er noch ein Jahr zuvor die „einzige Rettung“ für die deutsche Arbeiterschaft beim

11 Otto Rühle, Weil die Parole fehlte ... In: Die Aktion, 10 (1920) 15/16, S. 222 f. 12 Zur Gründung der KAPD Anfang April 1920 und zur Rolle Rühles vgl. Bernhard Reichenbach, Zur Geschichte der K(ommunistischen) A(rbeiter)-P(artei) D(eutschlands). In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Hg. von Carl Gründberg, Leipzig 1928, S. 117–140, hier 121 ff.; Herrmann, Otto Rühle I, S. 33 f. 13 Otto Rühle, Eine neue kommunistische Partei? In: Die Aktion, 10 (1920) 17/18, S. 244–248. 14 Otto Rühle, Die Einheitsfront der Gegenrevolution. In: Der Kommunist. Flugzeitung der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands (Ostsachsen), Nr. 19 von April 1920. Den Hinweis auf die Zeitung verdanke ich meinem Kollegen Dr. Gerd Stecklina von der TU Dresden. 15 Ebd.

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„Bolschewismus“ gesehen,16 und damit Rätesystem und bolschewistische Herrschaft synonym gedeutet,17 wurde ihm jetzt aus eigener Anschauung klar, dass Lenins frühes Motto „Alle Macht den Räten!“ längst in die Tatsache einer real existierenden bolschewistischen Parteidiktatur verwandelt worden war. Nach seinen ergebnislos verlaufenen Gesprächen mit Radek und Lenin über einen Beitritt der KAPD zur Kommunistischen Internationale kam er zu dem Schluss, dass das Moskauer Experiment ein „terroristischer Versuch“ sei, mit dem man weder zum Sozialismus noch zum Kommunismus komme.18 In Franz Pfemferts Zeitschrift „Die Aktion“ artikulierte er seine „furchtbare Enttäuschung“19 über die sowjetische Entwicklung in einer ersten Analyse des „Systems Ludendorff [...] in der Uniform des Bolschewismus“. Das von ihm kritisierte „revolutionäre Normalschema (Patent Lenin)“ sehe in der Praxis folgendermaßen aus: „Revolution ist Parteisache. Staat ist Parteisache. Diktatur ist Parteisache. Sozialismus ist Parteisache. Und weiter: Partei ist Disziplin. Partei ist eiserne Disziplin. Partei ist Führerherrschaft. Partei ist straffster Zentralismus. Partei ist Militarismus. Partei ist straffster, eiserner, absoluter Militarismus. Ins Konkrete übertragen heißt dieses Schema: Oben die Führer, unten die Masse. Oben: Autorität, Bürokratismus, Personenkult, Führerdiktatur, Kommandogewalt. Unten: Kadavergehorsam, Subordination, Strammstehen.“20 Unter dem Blickwinkel seiner russischen Erfahrung erschien ihm die „Partei“ immer mehr als eine Organisation, die ein modernes Sprungbrett für die unbeschränkte Diktatur von Führern biete. In seiner Schrift „Grundfragen der Organisation“, die 1921 im „Verlag der Allgemeinen Arbeiter-Union“ erschien, fasste Rühle seine bisherige Kritik am Parteiensystem und der Herrschaft der Bolschewiki radikal zusammen: Für ihn

16 Otto Rühle, Der U.S.P.-Frieden! Hg. vom Bezirkssekretariat Ostsachsen der KPD, o. D. [vermutlich Sommer 1919], S. 8. 17 Auf dem Oktober-Parteitag der KPD 1919 hatte Rühle offenkundig erstmals eine (rhetorische, weil gegen Levi gerichtete?) Kritik an der „Parteidiktatur [...] in Russland“ geübt. Bericht über den 2. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) vom 20. bis 24. Oktober 1919. Hg. von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), Berlin 1919, S. 37. Bis auf den Vorsitzenden Levi waren die Namen der Redner anonymisiert bzw. abgekürzt worden. Rühle erschien so im Protokoll als „R. (Wanderredner)“. 18 Otto Rühle, Bericht über Moskau. In: Die Aktion, 10 (1920) 39/40, S. 554–559, hier 556. Mit dieser Feststellung, die auf einem mehrwöchigen Aufenthalt in Moskau und weiteren sowjetrussischen Städten beruhte, vertrat Rühle in der KAPD allerdings eine Minderheitenposition. Während Rühle und Merges als Delegierte der KAPD den II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale ohne organisatorische Bindungen verließen, beschloss die Mehrheit des darauf tagenden KAPD-Parteitages, ihren Beitritt zur KI als „sympathisierende“ Partei; nach erneuten Verhandlungen erhielt die KAPD ab Herbst 1920 sogar einen Sitz im Exekutivkomitee der KI, den sie jedoch im Sommer 1921 aufgrund der jetzt an sie herangetragenen 21 Bedingungen wieder aufgab. Reichenbach, Zur Geschichte der KAPD, S. 131 ff. 19 Otto Rühle, Moskau und wir. In: Die Aktion, 10 (1920) 37/38, S. 505–507, hier 506. 20 Ebd., S. 507.

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war jetzt jede Partei „bürgerlicher Herkunft“, die das „Prinzip des Zentralismus“ verkörpere. Er verglich sie mit dem Aufbau einer Pyramide, die stufenweise aufsteigt. Unten befinde sich die kompetenzlose „Masse“, dann von Stufe zu Stufe ein Kreis von Führern „in gestaffelter Rangordnung“, „mit immer höheren Gehältern, größeren Kompetenzen und stärkerer Befehlsgewalt“ und an der Spitze stehe eine Zentrale aus mehreren Personen oder einem einzigen Menschen, der die „höchste Autorität und letzte Entscheidung“ besäße. Während „alle Initiative, alle Disposition, aller Einfluss, alle Verfügungsgewalt“ bei den Führern liege, da sie über den Verwaltungsapparat, die Rednerliste, die Mandate, die Presse und die Kasse verfügten, werde die „Masse“ gegängelt, umschmeichelt, unterjocht und als Stimmvieh bei Wahlen missbraucht. Eine „Revolutionierung“ der „verrotteten und verwahrlosten Gebilde“ sei unmöglich. Im Falle der Übernahme der Regierungsmacht führten die „autoritär-zentralistischen“ Organisationen mit „innerer Notwendigkeit“ zum „Bürokratismus“.21 Parteibonzen würden zu Regierungsbonzen, was in Russland besonders offensichtlich sei: „Die in öffentlichen Wahlen, nach Parteilisten und unter unerhörtem Regierungsterror zustande gekommenen Sowjets sind keine Räte im revolutionären Sinne. Sie sind Rätekulissen. Sie sind eine Täuschung. Ein Weltbetrug. Alle Herrschaft in Russland liegt bei der Bürokratie – der Todfeindin des Rätesystems. [...] Die Partei verhindert Russland, zum Rätesystem zu kommen. Ohne Räte aber kein sozialistischer Aufbau, kein Kommunismus. Parteidiktatur ist Bürokratenherrschaft, ist Despotie der Kommissare, ist Staatskapitalismus, ist schlimmere Ausbeutung und Knechtung. Die Diktatur des Zarismus war die Herrschaft einer Klasse über Klassen. Die Diktatur der Bolschewiki ist die Herrschaft von 5 Prozent einer Klasse über andere Klassen und 95 Prozent der eigenen Klasse. Es gibt keinen größeren Feind der Klassendiktatur als die Parteidiktatur. Das heißt: es gibt kein größeres Hindernis zum Sozialismus, keine größere Erschwerung der Revolution, keine größeren Gegner des Rätesystems als – die Partei. Die Überwindung der Partei ist elementare Voraussetzung der Revolution, des Rätesystems, des Sozialismus.“22

Rühles rigorose Partei- und Bolschewismuskritik bildete demnach den entscheidenden Ausgangspunkt für seine spätere Totalitarismuskritik, da Parteiherrschaft, zumal eine derart übersteigerte, zentralistische und alleingültige wie in Russland, das glatte Gegenstück zur basisorientierten Rätebewegung bilden musste. Und doch wäre es falsch, in Rühles Schriften seit 1921 einen durchgängigen „roten Faden“ der Bolschewismuskritik ausmachen zu wollen. In mehreren späteren Darstellungen lassen sich Inkonsequenzen beobachten, die angesichts seiner frühen Kritik am bolschewistischen Staatskapitalismus merkwürdig anmuten. So zeigte sich Rühle zu Beginn der 30er Jahre von dem von Stalin aufgelegten Fünfjahr-Plan keineswegs unbeeindruckt.23 21 Otto Rühle, Grundfragen der Organisation, Frankfurt a. M. 1921, S. 4, 6, 13. 22 Ebd., S. 20. 23 Vgl. Carl Steuermann [Pseudonym für Otto Rühle], Der Mensch auf der Flucht, Berlin 1932, S. 58–63; Rühle, Baupläne, S. 163–171.

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In seiner eigenen politischen Arbeit hatte er hingegen schon ab 1920/21 ein hohes Maß an Konsequenz bewiesen: Im Zusammenhang mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber der KI war Rühle einschließlich seiner „ostsächsischen Richtung“ noch Ende Oktober 1920 aus der KAPD ausgeschlossen worden.24 Daraufhin hatte eine KAPD-Bezirkskonferenz Ostsachsen ihrerseits festgelegt, die „Zugehörigkeit zur KAPD für aufgelöst“ zu erklären und die „Partei als politische Kampforganisation in der Epoche der Revolution grundsätzlich“ zu verwerfen. Darüber hinaus beschloss die Bezirksorganisation, sich als Parteigliederung selbst aufzulösen und in die bereits als kommunistische Betriebsorganisationen (BO) bestehende AAU einzugliedern. In der „Überwindung der Partei“25 und der damit verbundenen „Rückkehr“ an die revolutionäre Basis der Betriebe erblickte Rühle aber nur die eine Voraussetzung des revolutionären Erfolgs. Eine zweite, immer bedeutsamer werdende Voraussetzung lag für ihn schon bald in der „anti-autoritären Orientierung“ des immer noch autoritär geprägten Menschen, der ihm als der künftige „siegreiche Vollstrecker der sozialen Revolution“ erschien.26

Der Bolschewismus als Vorbild Unter dem Einfluss der Planwirtschaftseuphorie, in die Rühle während der Weltwirtschaftskrise geraten war, stellte sich für ihn zumindest zeitweise das sowjetische Herrschaftssystem positiver dar als in den 20er Jahren. Der nicht mehr näher definierte „Absolutismus der proletarischen Diktatur“ schien Sowjetrussland nun sogar den nötigen „Spielraum zu schrankenloser Entfaltung seiner Wirtschaftsenergien“ zu geben.27 Der mit „diktatorischen Vollmachten“ ausgestattete Planwirtschaftsstaat im Osten wurde den westlichen Ländern gar als einziger Ausweg aus der Krise und als „Übergang“ zum Sozialismus empfohlen.28 Die z. T. kritiklose Bewunderung der Stalinschen Planwirtschaft29 trübte ihm allerdings nicht den Blick für ökonomische Tendenzen, die er für bestimmte politische Folgen verantwortlich machte. So stellte er ebenfalls noch zu Beginn der 24 Vgl. Herrmann, Otto Rühle I, S. 43. 25 Otto Rühle, Die Überwindung der Partei. In: Die Aktion, 11 (1921) 7/8, S. 108–111, hier 110 f. Die Bezirkskonferenz hatte am 5.12.1920 getagt. 26 Otto Rühle, Der autoritäre Mensch und die Revolution. In: Die Aktion, 15 (1925) 19/20, S. 556–559, hier 559. 27 Steuermann, Mensch auf der Flucht, S. 57. 28 Ebd., S. 59. 29 In Mensch auf der Flucht, S. 58, geht Rühle sogar soweit, die entstehende sowjetische Zentralplanwirtschaft als „buchstäblich eine neue Welt“, als „Wunder“ mit der „Faszination einer Erlösungsbotschaft“ zu beschreiben. Dem steht in dem ein Jahr vorher veröffentlichten Werk von Carl Steuermann [Pseudonym für Otto Rühle], Weltkrise – Weltwende. Kurs auf Staatskapitalismus, Berlin 1931, S. 230, der kritische Hinweis gegenüber, das die sowjetische „Leitung in Staat und Wirtschaft [...] autoritär, bürokratisch-diktatorisch“ sei, und es dort „keine wirklichen Räte als Organe des Kollektivwillens der Massen“ gebe.

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30er Jahre dem realen – und von ihm bereits früher thematisierten – sowjetischen Staatskapitalismus die Entwicklung in den Industrieländern des Westens gegenüber, in denen Konzentration und staatliche Subvention einen solchen Grad erreicht hätten, das auch hier von einem Übergang vom Privat- zum Staatskapitalismus gesprochen werden könne.30 Als ihn Hitlers „Machtergreifung“ 1933 endgültig ins Exil zwang, kehrte er – unter Zugrundelegung seiner Erkenntnisse zum Staatskapitalismus – binnen eines Jahres zu einer kritischeren Analyse der sowjetrussischen Diktatur zurück. Den Hintergrund für seinen Meinungswandel bildete die Überzeugung, dass sich Hitlers politisches System nach dem Vorbild des sowjetischen auszuformen beginne und der deutsche Diktator ganz offensichtlich Anleihen beim sowjetischen genommen habe. Beide Diktaturen betrachtete er als Ausfluss einer stetig wachsenden staatskapitalistischen Entwicklung, die eine extrem übersteigerte Parteiherrschaft zwangsläufig hervorbringe. Für Rühle war es evident, dass sowohl die bolschewistische als auch die faschistische Diktatur die Staatsform darstellt, ohne die die „Konzentration, die einheitliche Erfassung und Funktion aller Kräfte nach Maßgabe der staatskapitalistischen Erfordernisse und Ziele nicht denkbar“ sei.31 Diese Tendenzen hätten in der Sowjetunion die Stalinsche Parteidiktatur hervorgebracht, in Hitlers Drittem Reich einen „deutschen Bolschewismus“, der sich nach sowjetischem Vorbild aller noch vorhandenen pluralistischen Strukturen entledige. 1934 notierte er im Prager Exil: „Prüfen wir allen Ernstes: ist das, was sich in Deutschland durchsetzt, einrichtet, herausbildet und formt, nicht in der Tat ein Stück, eine Art Bolschewismus? Wer genauer hinschaut, muss erkennen, wie in zahllosen Maßnahmen, Direktiven, Einrichtungen und Neuformen die politische Methode wiederkehrt, die zuerst in Russland entwickelt wurde. Mussolini war der erste Schüler Lenins und Stalins, Hitler ist der zweite. Russland und Italien sind seine Vorbilder. Die Demokratie hat aufgehört. Es herrscht die Diktatur. Das Parlament ist als Gesetzgebungskörper ausgeschaltet. Recht ist durch Gewalt ersetzt. Ihren Gebrauch regelt die Willkür der Dekrete. Die einzige praktisch existierende Partei ist in den Staatsapparat eingebaut.“32

Die im Prager Exil zu Papier gebrachten Überlegungen kennen noch nicht den Begriff des „Totalitarismus“, obwohl der Verfasser die Bezeichnung „totalitär“ schon Jahre vorher in einem anderen Kontext gebrauchte.33 Rühle greift daher auf die Formel vom „Deutschen Sozialismus“ zurück, um die Übereinstimmungen zwischen beiden Großtotalitarismen auf einen einfachen Nenner zu brin30 Vgl. ebd., S. 231 ff. 31 Otto Rühle, Deutscher Bolschewismus, Manuskript 1934, S. 4 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 16). 32 Ebd., S. 6. 33 In seiner Marx-Biographie von 1928 definierte er ausgerechnet die materialistische Geschichtsauffassung als „totalitär“ – und zwar in ihrer, von ihm weit gefassten Interpretation: „Die materialistische Geschichtsauffassung hat nie den Einfluss des Geistes geleugnet [...] Für sie steht weder die Idee, noch die Materie am Anfang; ihr ist alles Leben unauflösliches und ewig bewegtes Verflochtensein und wechselseitiges Bedingtsein von Kraft und Stoff, totalitäre Einheit.“ Rühle, Karl Marx, S. 373 f.

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gen. Überdies sieht er bereits zu dieser Zeit einen elementaren Zusammenhang zwischen den drei modernen Diktaturen Sowjetunion, Italien und Deutschland, die er als denselben neuartigen und singulären Typus begreift.34 Seine Fixierung auf Sowjetrussland als Modell erwies sich dabei als bestimmend für die Beschreibung der zeitlich nachfolgenden Diktaturen. Während Sowjetrussland durch seine Verstaatlichungspolitik schon früh und „von selbst zum Staatskapitalismus“35 gekommen sei, darüber hinaus die dortige Staatspartei mit dem Fünfjahrplan das Prinzip der zentral gelenkten Planwirtschaft geschaffen habe, hätten im privatkapitalistisch geprägten Deutschland zwei „weniger radikale Methoden“36 zum Staatskapitalismus führen können: Die eine Methode habe darin bestanden, dass sich die „Privatwirtschaft vom Staat usurpieren“ lasse, die andere in der Usurpation des Staates durch das Privatkapital. Anzeichen für beide Methoden meinte Rühle im Zeitraum zwischen 1930 und 1933 erkannt zu haben;37 mit Hitlers „Machtergreifung“ sei nun jedoch der Weg der Usurpation der Privatwirtschaft durch den Staat beschritten worden. Dieser Weg zum Staatskapitalismus werde „natürlich zum Nutzen des Kapitals verlaufen“, dem der Nationalsozialismus „dienstbar“ sei, doch gewinne der neue Staat und die neue Staatspartei mit ihren diktatorischen Möglichkeiten einen bislang nicht vorhandenen Einfluss „auf ganze Industrien und Erwerbsgebiete“ und schließlich auch auf das Arbeitsverhältnis, in dem sie die Gewerkschaften ausschalte und das Verhältnis von Arbeitergebern und Arbeitnehmern nach italienischem Vorbild in einer Art Korporativsystem regeln.38 In Hitlers „Machtergreifung“ erblickte Rühle übrigens – wie so viele andere Marxisten auch – den Gegenschlag des „bürgerlichen Lagers“ gegen den Bolschewismus – dem „Schreckgespenst der Expropriation und Konfiskation“. Unter der Losung „Lieber Faschismus als Bolschewismus!“ habe es den „Faschismus propagiert, aufgefüttert, in die Macht gesetzt“. Jetzt sei es entsetzt über die artverwandte diktatorisch-staatskapitalistische Entwicklung, die selbstverständlich nicht vor der „Heiligkeit des Besitzes“ und den „Rechten des historisch Gewordenen“ halt mache.39 Rühles Motivation, weitere vergleichende Untersuchungen zur bolschewistischen und nationalsozialistischen Diktatur anzustellen, entsprangen Ende der 30er Jahre einer persönlichen und einer politischen Herausforderung. Als er 1936 als Berater im mexikanischen Unterrichtsministerium zu arbeiten begann, kam er bald schon in Kontakt zu Leo Trotzki, der sich gleichfalls Mexiko als 34 Bisher war angenommen worden, dass Rühle erst im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes mit seinen vergleichenden Untersuchungen begonnen hatte. Vgl. William David Jones, The Lost Debate. German Socialist Intellectuals and Totalitarianism, Chicago 1999, S. 111. 35 Steuermann, Weltkrise, S. 229. 36 Ebd., S. 231. 37 Ebd., S. 232. 38 Rühle, Deutscher Bolschewismus, S. 4. 39 Otto Rühle, Formenwandel im Klassenkampf. Ein Brief aus Mexiko vom Frühjahr 1939. In: Otto Rühle Schriften, S. 184.

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Exilort auserkoren hatte. Rühles Teilnahme am „Trotzki Defense Comitee“, das den früheren sowjetischen Revolutionsführer gegen Stalins öffentliche Beschuldigungen in Schutz nehmen sollte, führte nicht nur zu einer streitbaren Freundschaft zwischen den Marx-Interpreten. Sein öffentliches Bekenntnis zu Trotzki machte ihn auch vor Ort zum „Objekt der stalinistischen Hetze“, die darauf abzielte, ihn als „Trotzkisten“ beruflich zu erledigen.40 Im Januar 1938 wurde er tatsächlich entlassen, womit sich seine großen beruflichen Pläne zerschlugen.41 Diese persönliche Betroffenheit42 und der Hitler-Stalin-Pakt (August 1939) gaben letztlich den Ausschlag für eine intensivere Beschäftigung mit den neuen diktatorischen Bündnispartnern. Es war wohl vor allem der eigenen Herausforderung geschuldet, dass Rühles Schriften jetzt weitaus schärfer und polemischer ausfielen, als alle Veröffentlichungen zur Sowjetunion in den zehn Jahren zuvor. Seine Bewunderung für die Stalinsche Planwirtschaft trat völlig in den Hintergrund; dagegen dominierte nun erneut das rätekommunistische Argument, das der einst verschmähte Dresdner Revolutionär seiner Analyse von Bolschewismus und Faschismus zugrunde legte. In ihren inhaltlichen Grundzügen lehnten sich die drei größeren Studien, die Rühle ab Sommer 1939 verfasste, an das Manuskript des „Deutschen Bolschewismus“ an, wobei er nun eine Änderung der zentralen Begrifflichkeit vornahm. Hatte Rühle noch 1934 die Analogien zwischen Bolschewismus und Faschismus mit dem Begriff des „Deutschen Sozialismus“ zu umreißen versucht, verwendete er jetzt durchweg die Bezeichnungen „totalitär“ und „Totalitarismus“, womit er die im Westen immer populärer werdenden Formeln vorbehaltlos akzeptierte. Bereits die erste der drei Schriften, die sich mit vergleichenden Aspekten von Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus beschäftigte, trug den programmatischen Titel „Der Kampf gegen den Faschismus beginnt mit dem Kampfe gegen den Bolschewismus“. In dem im Spätsommer 1939, d. h. zum Zeitpunkt des Hitler-Stalin-Paktes, fertig gestellten Manuskriptes, hieß es bereits eingangs: „Unter den totalitären Staaten, die heute das neue Prinzip der Staatsorganisation verkörpern, steht Russland an erster Stelle. Nicht nur der Zeit, sondern auch der sachlichen Entwicklung nach.“ Indem die Bolschewiki unter Lenins Führung einen völlig neuen Typ von Diktatur entwickelten, nämlich ein 40 Otto Rühle an Erich Fromm vom 28. 4.1937 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 94). In seinem Brief berichtete Rühle, dass das Unterrichtsministerium „stalinistisch“ gefärbt sei, jedoch nicht aus „Überzeugung, sondern weil die leitenden Männer nach der Sitte des Landes eine revolutionäre Tradition brauchten und diese – in Ermangelung eigener mexikanischer Lorbeeren – in Moskau ausborgten und sie jetzt nicht so Hals über Kopf von sich schmeißen können.“ 41 Vgl. Jacoby/Herbst, Otto Rühle, S. 83. 42 Hier hinein fällt auch die Ermordung Trotzkis durch Agenten Stalins, die Rühle durch die Nähe der beiden Wohnorte und die häufige Kommunikation unmittelbar miterlebte. Vgl. Otto Rühle an Paul Mattick vom 22.11.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 88). Den Hinweis auf den Brief verdanke ich meinem Kollegen Dr. Gerd Stecklina von der TU Dresden.

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„politisch und administratives Terrorsystem zur ausschließlichen Parteiherrschaft“ sowie als Methode die „mechanistisch-bürokratische Gleichschaltung“, hätten sie auf diese Weise „Russland zum Lehrmeister des Faschismus“ gemacht.43 Sowohl in dieser Schrift von 1939 als auch in den Werken „Brauner und roter Faschismus“ (ebenfalls 1939) und „Weltkrieg – Weltfaschismus – Weltrevolution“ (1940), die beide Anfang der 70er Jahre veröffentlicht wurden, rekurrierte Rühle auf die historischen Gründe der besonderen russischen Entwicklung und die „prinzipiellen, strukturellen und funktionellen Elemente“ des Sowjetstaates. Dabei kam er – ähnlich wie schon Karl Kautsky und Rosa Luxemburg vor ihm – zu dem Schluss, dass die Etablierung einer totalitären Parteidiktatur in Russland auf die besondere Struktur und Entwicklung der bolschewistischen Partei seit 1903 zurückzuführen sei. Im Zuge der von Lenin vorgenommenen Spaltung der Sozialdemokratie habe sich der bolschewistische Flügel der Partei in eine „Kriegsakademie der revolutionären Schulung und Vorbereitung“ verwandelt, wo „unbedingte Führerautorität, strengste Zentralisation, eiserne Disziplin, Drill zu Gesinnungstüchtigkeit, Kampfeifer, Selbstaufopferung, völliges Aufgehen der Persönlichkeit im Parteiinteresse“ als „wichtigste Erziehungsmittel“ gegolten hätten. Lenins „Avantegarde“ sei selbst „straff organisiert, revolutionär einexerziert, ständig kontrolliert, immer in militanter Bereitschaft und durch fortgesetzte Purifikation konform gehalten“ gewesen.44 Was sich nach 1917 in Russland vollzogen habe, sei nichts anderes als die Übertragung der innerparteilichen Struktur der Bolschewiki auf Staat und Gesellschaft gewesen. Die von Lenin verkündete Arbeiterherrschaft müsse als eine Fiktion betrachtet werden, da die Klassengesellschaft nicht wirklich überwunden, sondern durch die Schaffung einer neuen herrschenden Klasse aus Parteiund Staatsfunktionären und der ihr unterworfenen sozialen Schichten nur verändert worden sei. Die Etablierung eines Staatskapitalismus habe Russland höchstens „einen Schritt näher zum Sozialismus“ gebracht, aber das bürgerliche ökonomische System nicht völlig zerbrochen. Denn bedeutsam für den Charakter einer sozialistischen Gesellschaft sei über die Beseitigung des Privateigentums hinaus die Verfügungsgewalt der Werktätigen über den Arbeitsertrag und die Beseitigung des Lohnsystems. Beides hätten wieder Lenin noch Stalin verwirklicht. Anders als in bürgerlichen Gesellschaften sei dort das Proletariat sogar noch recht- und schutzloser.45

43 Otto Rühle, Der Kampf gegen den Faschismus beginnt mit dem Kampfe gegen den Bolschewismus, S. 1 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 24). Eine Veröffentlichung des Textes erfolgte zeitnah nur in englischer Sprache, und zwar in der Chicagoer Zeitung „Living Marxism“ im Herbst 1939, was Rühles Briefpartner Paul Mattick vermittelt haben dürfte. 44 Ebd., S. 4 und 7. Vgl. auch Rühle, Weltkrieg, S. 97 ff.; ders., Brauner und roter Faschismus, S. 49 ff. 45 Rühle, Der Kampf gegen den Faschismus, S. 2.

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Ohne basisdemokratisches Rätesystem und der dadurch möglich werdenden „inneren Revolution des Menschen durch Überwindung der menschlichen Selbstentfremdung“ bleibe dem Bolschewismus die „Erfüllung der wesentlichsten aller sozialistischen Forderungen versagt“. Er sei deshalb kein „Zugang, keine Brücke oder Etappe zum Sozialismus“. Im Gegenteil, und hier griff Rühle direkt auf die eigene frühe Kritik von 1921 zurück: Mit seinen Grundzügen „Nationalismus, autoritäres Prinzip, Zentralismus, Führerdiktatur, Machtpolitik, Gewalt- und Terrorsystem, mechanische Dynamik, bürgerliche Orientierung und Unfähigkeit zum Sozialismus“ weise er eine „enge, ja engste Verwandtschaft mit dem Faschismus“ auf. In ihm sei der Faschismus „schon vorgedacht und vorgemacht“. Dadurch aber, dass der „Sowjetstaat“ als „Modell für den Faschismus“ diente, und kein sozialistischer Staat sei, beginne „für das Proletariat der Kampf gegen den Faschismus mit dem Kampf gegen den Bolschewismus“.46

Vergleichende Aspekte von Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus Für Rühle lag die Tatsache, dass die Etablierung einer italienischen und deutschen totalitären Diktatur nach „russischem Muster“ erfolgte, schon seit 1934 auf der Hand. Es bedürfe, so betonte Rühle in seinem Werk „Weltkrieg – Weltfaschismus – Weltrevolution“, „keines ausdrücklichen Nachweises“, dass sowohl Mussolini wie Hitler am „wohlerprobten und bestakkreditierten Werkzeuge der Machteroberung“, nämlich der Partei, und dem „so verlockenden Beispiel ihrer Anwendung im Machtkampf nicht mit blinden Augen vorbeigegangen sind“. Obwohl er also in dieser Hinsicht über keinerlei Belege verfügte, erklärte er die „Identität zwischen bolschewistischer und faschistischer Partei“ von dem Zeitpunkt ihrer Entstehung an. Bei beiden Parteien sei zuerst ein Stab von Führern aufgetreten, habe dann das Programm und die Strategie entwickelt, Propaganda entfaltet, Mitglieder geworben, eine Organisation und Bürokratie geformt, die Massen ideologisch bearbeitet – und das alles „mit freischwebender Führerschaft über den Massen“.47 Den zweiten Analogieschluss unternahm Rühle mit seiner Analyse der Diktaturetablierung: Hier kam er zu dem Ergebnis, dass sich wie in Russland ab 1917 auch in Deutschland nach 1933 sofort die Parteibürokratie zur Staatsbürokratie verwandelt habe. Die Parteifunktionäre avancierten zu hohen Repräsentanten des Staates, was in Russland am Beispiel Lenins, in Italien am Beispiel Mussolinis und in Deutschland am Beispiel Hitlers zu beobachten sei. Darüber hinaus wurden alle Schlüsselstellungen des Staates durch „sichere Parteileute“ besetzt, ja die Partei als Ganzes bilde jetzt den „Grundstock der neuen Macht“, 46 Ebd., S. 2 f., 20. 47 Rühle, Weltkrieg, S. 98.

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was dadurch zum Ausdruck komme, dass Mitglieder und Funktionäre auch in sogenannten „Massenorganisationen“ wie Genossenschaften und Gewerkschaften, im Versicherungswesen, in Schulen und Universitäten und schließlich auch im Heer das Kommando übernähmen. Dieser ganze „totalitäre Bau“ werde schließlich durch die Geheime Staatspolizei „gekrönt“, die – so Rühle – „nach russischem Muster den Schrecken als oberste Machtinstanz etablierte“.48 Schon 1939 hatte er verkündet, dass „Staatsordnung und Staatsführung“ in Russland, Deutschland und Italien heute „einander zum Verwechseln ähnlich“ seien. Wer „Gefallen an Paradoxien habe, könne von einem roten, schwarzen und braunen ‚Sowjetstaat‘ oder einem schwarzen, braunen und roten Faschismus“ sprechen.49 Ein Jahr später spitzte er noch einmal zu: „Der deutsche Faschismus hätte seine Entwicklung zu einem totalitären, diktatorischen und terroristisch-bürokratischen Einparteisystem nicht so rasch, so reibungslos und so erfolgreich durchlaufen und seinen Staat nicht zu einem Machtapparat von solcher Geschlossenheit, Präzision und Unwiderstehlichkeit ausbauen können, hätte er nicht den russischen Bolschewismus vorgefunden und als Modell benutzt. [...] Hitler wurde Lenins und Stalins bester Schüler. Nach dem Vorbilde des bolschewistischen Staates formte und konstruierte er den faschistischen Staat als sein Ebenbild. [...] Ob Diktatur des Proletariats oder Diktatur der Bourgeoisie – ihre Unterschiede sind sekundär, ihre Wirkungen sind gleich. Beide sind Wesenelemente des Faschismus, sei er rot, schwarz oder braun von Couleur. In beiden findet die Form des alten Gewalt- und Machtsystems ihre höchste Vollendung, findet das autoritäre, zentralistische und bürokratische Prinzip seine Zuspitzung und Gipfelung bis zur Absurdität.“50

In derselben Schrift von 1940 nannte Rühle zugleich einen Katalog grundlegender und übereinstimmender Merkmale beider großen totalitären Diktaturen. Dabei nahm er vornehmlich strukturelle und phänomenologische Analogien in den Blick, womit er fast zeitgleich wie Carlton J. H. Hayes einen gemeinsamen Nenner und eine gemeinsame Definition für beide neuen Diktaturen zu finden suchte.51 Diese Leistung wiegt auch deshalb schwer, weil sich Rühle – anders 48 49 50 51

Ebd., S. 99. Rühle, Der Kampf gegen den Faschismus, S. 1. Rühle, Weltkrieg, S. 84 f. und 99. Hayes Überlegungen zum Totalitarismus wurden erstmals auf einem am 17. November 1939 stattfindenden Symposium über den totalitären Staat vorgestellt. In der Gesamteinschätzung bezeichnete er den „diktatorischen Totalitarismus“ als eine „Reaktion – nein, vielmehr eine Revolte – gegen die gesamte historische Kultur des Westens“. In seinem Vortrag, der 1940 als Aufsatz veröffentlicht wurde, nannte er eine Reihe von übereinstimmenden Merkmalen von Bolschewismus und Nationalsozialismus: 1. Einparteisystem und Gewalteneinheit, 2. Massenbewegung, 3. Informations- und Meinungsmonopol, 4. politische Religion, 5. vollständige Durchdringung der Gesellschaft durch die Staatspartei, 6. „Aufwertung von Gewalt und Terrorismus“. Carlton J. H. Hayes, Der Totalitarismus als etwas neues in der Geschichte der westlichen Welt. In: Bruno Seidel /Siegfried Jenkner (Hg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1974 (3. Auflage), S. 86–100, hier 94 ff. Vier Jahre vor Hayes Vortrag hatte der emigrierte italienische Priester Luigi Sturzo erstmals auf Gemeinsamkeiten wie dem Einparteisystem, der nationalspezifischen pseudoreligiösen Ideologien und des Terrors hingewiesen. Vgl. Luigi Sturzo, El Estado Totalitario, Madrid 1935, S. 28 ff.

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als Hayes – nicht in den Kreisen der amerikanischen „scientific community“ bewegte und bis auf einige Briefkontakte zu politisch Gleichgesinnten wie Karl Korsch oder Paul Mattick völlig isoliert war. Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass erst nach dem Auseinanderbrechen der Anti-Hitlerkoalition und dem Aufkommen des Kalten Krieges ein neuer vergleichender Anlauf unternommen werden konnte, den dann Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski dominierten.52 Zentrale Punkte des Vergleichs hatte Rühle da schon 15 Jahre vorher formuliert: – „Da wie dort die autoritäre Macht in ihrer extremsten Zuspitzung als persönliche Diktatur. – Da wie dort auf der Basis des Einparteisystems eine Bürokratie, die automatisch zur herrschenden Staatsbürokratie wird. – Da wie dort die administrative Funktion als mechanische Reaktion des Gehorsams auf die dekretorische Aktion des Befehls. – Da wie dort die restlose Vernichtung der subjektiven und individuellen Initiative als schöpferischen Elements. – Da wie dort die militante, auf Überlegenheit einerseits und Unterwerfung andererseits ausgehende Machtpolitik. – Da wie dort die Vertrustung und Monopolisierung der Wirtschaftsmacht in wenigen Händen, die Disposition über den Arbeitsertrag durch den Staat und die schrankenlose Ausbeutung der versklavten Arbeitermassen. – Da wie dort die totalitäre Gleichschaltung auf allen Gebieten des sozialen, kulturellen, ideologischen und persönlichen Lebens. – Da wie dort die technisch erzielte Konformität und gewaltsam erzwungene Uniformität der menschlichen Haltung, der ödeste Schablonismus als Erscheinungsform des totalisierten menschlichen Wesens.“53

Unterschiede in der Ideologie und im Wirtschaftssystem bezeichnete Rühle schlicht als „Bluff“ bzw. „Mystifikation“. Weder Hitler noch Stalin seien zum Sozialismus gekommen, den sie verkündet hätten. Statt als Gegner und Feinde des Kapitalismus aufzutreten, hätten sich Bolschewismus und Nationalsozialismus als dessen „Nothelfer“ und „Neubegründer“ erwiesen. Unter Anspielung auf den deutsch-sowjetischen Pakt kam Rühle gar zu dem Schluss, dass sich Stalin und Hitler „in der Einheit dieses Zieles“, nämlich des Staatskapitalismus, in 52 Friedrich und Brzezinski nannten 1954 bzw. 1965 fünf bzw. sechs übereinstimmende Merkmale, die denjenigen von Hayes und Rühle stark ähnelten: 1. eine chiliastische Ideologie, 2. eine „einzige Massenpartei“, 3. ein Kampfmittelmonopol, 4. ein Monopol über alle „entscheidenden Massenkommunikationsmittel“, 5. ein „System terroristischer [...] Polizeikontrolle“ (1954); 1. eine „ausgearbeitete Ideologie“, 2. eine „einzige Massenpartei“, 3. ein „Terrorsystem“, 4. ein „nahezu vollständiges Monopol der Kontrolle aller Massenkommunikationsmittel“, 5. ein „nahezu vollständiges Monopol der wirksamen Anwendung aller Kampfwaffen“, 6. eine „zentrale Überwachung und Lenkung der gesamten Wirtschaft“ (1965). Carl Joachim Friedrich, Der einzigartige Charakter der totalitären Gesellschaft. In: ebd., S. 179–196, hier 185 f.; Carl Joachim Friedrich/Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur. In: ebd., S. 600–617, hier 610 f. 53 Rühle, Weltkrieg, S. 85.

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die „Arme gefallen“ seien.54 Überhaupt komme der Ideologie nur eine „untergeordnete Bedeutung“ zu, da sie doch den jeweiligen totalitären Staat begleite und rechtfertige. Sie sei „niemals das Primäre, sondern stets das Sekundäre der Erscheinung“. Außerdem habe die Entwicklung in Italien und Deutschland gezeigt, welche enormen Wandlungen die jeweilige Ideologie durchgemacht habe, „ohne an dem Charakter und den Funktionen des Staatsapparates etwas zu ändern“.55 Ähnlich beurteilte Rühle die Wirtschaftsordnung beider Diktaturen, wobei er sich hier jedoch zu einer größeren Differenzierung bereit fand. Anders als in Russland, wo das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und eine zentralistisch gesteuerte Planwirtschaft errichtet wurde, sei in Deutschland der Aufbau einer „wirklichen“ Planwirtschaft dadurch gehandicapt, dass hier das Privateigentum noch existiere und bislang „nur eine Steigerung der staatlichen Regulierungstendenzen“ im Interesse des Monopolkapitalismus stattgefunden habe.56 Nichtsdestotrotz warnte Rühle ausdrücklich davor, die Unterschiede zwischen Sowjetstaat und NS-Staat in den Vordergrund zu rücken, da sie die „grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Ursachen, Voraussetzungen und Umständen, die in Russland wie in Deutschland und Italien zu dem verteufelt gleichen Staats- und Regierungssystem geführt haben“, verhindere und eine „Täuschung“ darstellten.57 Dieser Einschätzung blieb Rühle auch nach der Ausweitung des Zweiten Weltkrieges ab Juni 1941 treu. Während andere prominente Sozialisten wie z. B. Arthur Rosenberg unter dem Eindruck des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ihre totalitarismuskritische Haltung gegenüber Moskau revidierten und erneut ein grundsätzliches Bekenntnis zum Sowjetstaat ablegten,58 verharrte Rühle unbeeindruckt auf seinen totalitarismustheoretischen Positionen. Das war insofern nicht verwunderlich, als er in seinem Bulletin „Information“59 schon vor dem Juni 1941 eine eindeutige Lesart des Krieges verkündet hatte. In der im Januar 1940 veröffentlichten „Information“ (Titel: „Zweiter Weltkrieg III. Der totalitäre Krieg“) analysierte er den „totalen Krieg“ des „gesamten Wirtschafts-, Finanz-, Rüstungs- und Menschenpotential“ auch als einen „totalitären Krieg“, der von den totalitären Staaten ausgehe. Gemeint waren damit „in erster Linie Deutschland und Russland“,60 was angesichts des deutschen Überfalls 54 55 56 57 58 59

Ebd. Rühle, Der Kampf gegen den Faschismus, S. 1. Rühle, Weltkrieg, S. 116 f. Rühle, Der Kampf gegen den Faschismus, S. 1. Vgl. dazu den Aufsatz von Mario Kessler über Arthur Rosenberg in diesem Band. Seit Februar 1938 verschickte Rühle monatlich maschinenschriftliche Briefe an Gesinnungsgenossen, die er „Information“ nannte (u. a. auch an Mattick und Korsch). Vgl. den Hinweis in: Karl Korsch Briefe 1940–1958. Hg. von Michael Buckmiller und Michel Prat, Band 9 der Karl Korsch Gesamtausgabe. Hg. von Michael Buckmiller, Amsterdam 2001, S. 852. 60 Otto Rühle, 13. Information von Januar 1940, S. 1 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 70 III).

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auf Polen (September 1939) und des sowjetischen Überfalls auf Finnland (Dezember 1939) auf der Hand lag. In seiner „Information“ „Krieg gegen Russland“ unterschied dann Rühle im Herbst 1941 den bisherigen Verlauf des Zweiten Weltkrieges nach drei Phasen, die ihn als einen singulären rätekommunistischen Totalitarismustheoretiker auswiesen: In einer ersten Phase habe sich der Krieg als „Vernichtungskrieg gegen den demokratischen Privatkapitalismus alten Stils entwickelt“, in einer zweiten Phase zum „Vernichtungskrieg gegen den imperialistischen Kolonialkapitalismus“, der zum „Requisit des demokratischen Privatkapitalismus gehörte“, und in seiner dritten Phase zum „Vernichtungskriege gegen den Staatssozialismus neuen Stils“, der sich in seiner „russischen Spezialform der Drapierung durch eine scheinsozialistische Ideologie bediente“. So absurd es klingen mag: Rühle setzte seine Hoffnungen in diesem „Vernichtungskrieg“ auf den deutschen totalitären Staatskapitalismus, der bereits in einem „tödlichen Streich“ dem „kolonialen Imperialismus“ Westeuropas das Rückgrat gebrochen habe und nun seine „historische Legitimation“ darin finde, den „russischen Staatskapitalismus“ vollständig zu vernichten.61 Selbstverständlich hatte der Rätekommunist Rühle nicht daran gedacht, Hitler-Deutschland einen „Endsieg“ oder gar die „Weltsuprematie“ zuzubilligen. Für ihn schien lediglich festzustehen, dass sich der modernere, erfolgreichere und mörderischere Staatskapitalismus gegen den vermeintlich schwächeren und durch eigene Säuberungen angeschlagenen russischen Staatskapitalismus durchsetzen würde. Allerdings spielten bei ihm auch politisch-moralische Erwägungen eine Rolle, wenn er den siegreichen Vormarsch der deutschen Truppen in Russland mit einer gewissen Häme kommentierte. Den „Verrätern an der russischen Revolution“, die „statt zum Sozialismus zum Staatskapitalismus“ gekommen seien, und ein „trostloses“ Land und „verzweifelte“ Massen hinterlassen hätten, die „selbst einen Hitler als ihren Retter begrüßen würden“, wünschte er den schnellstmöglichen Tod. Er ging sogar soweit, dass er für das „revolutionäre Proletariat“ das heutige Russland als „die ungeheure Gefahr einer Verewigung des Kapitalismus in Form des Staatskapitalismus“ bezeichnete.62 Dass sich Hitler nach dem von Rühle erwarteten Sieg in Russland dort nicht würde behaupten können, lag für ihn jedoch ebenfalls auf der Hand: Deutschland, so seine Prognose, werde sich an Russland „verbluten“; vielleicht müsse dann ein weiterer Krieg die „endgültige Lösung“ bringen – das „Ende des Kapitalismus“.63

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Otto Rühle, 28. Information von August 1941, S. 1 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 70 IV). 62 Ebd., S. 1–3. 63 Ebd., S. 8.

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Rühles Totalitarismusmodell auf dem Prüfstand Die Totalitarismustheorie, die Rühle entwickelte, weist sowohl Ähnlichkeiten mit zeitgleich und später entworfenen Modellen als auch Unterschiede in der Wertgebundenheit und in der gesellschaftlichen Analyse auf. Der rätekommunistische Impetus seines Modells dürfte dabei sicher originär gewesen sein. In Bezug auf Rühles Theorie lassen sich im Wesentlichen drei Elemente näher klassifizieren: der rätekommunistische Antrieb einschließlich des Konzepts des totalitären Staatssozialismus in Russland und Deutschland, der historisch-genetische Aspekt und der phänomenologische Vergleich der totalitären Herrschaftssysteme, der in einem Merkmalskatalog gipfelte. Bereits Friedrich Georg Herrmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Dresdner Räterevolutionär „seinen gleichsetzungstheoretischen Ansatz von der phänomenologischen Seite her“ entwickelt habe: Die „offensichtliche Übereinstimmung der Herrschaftsapparate der stalinistischen und der faschistischen Diktatur bis ins Detail – die jeweiligen Begriffe der Unterdrückungsinstitutionen sind dabei austauschbar – habe ihren Grund darin, dass beide Systeme nach denselben ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten funktionierten“.64 Die Tatsachen schienen eine eindeutige Sprache zu sprechen: In Deutschland hatte sich die Entwicklung zum Staatskapitalismus schon in der Weltwirtschaftskrise vollzogen, als sich der Staat veranlasst sah, immer stärker in das erschütterte privatkapitalistische System regulierend einzugreifen. Mit dem Machtantritt der NSDAP sei – so Rühle – die Entwicklung zum Staatskapitalismus erheblich vorangekommen, da die Aufrichtung des Einparteistaates und die Beseitigung nahezu aller pluralistischen Institutionen hierfür konstituierend gewirkt hätten. Und in der Tat lässt sich eine Zurückdrängung des „freien“ privatkapitalistischen Einflusses in der deutschen Wirtschaft seit 1933 nachweisen: Der totalitäre Staat trat verstärkt als Regulierungsinstanz und Wirtschaftseigner in Escheinung. Allerdings kam es hier nicht zu einer analogen staatskapitalistische Entfaltung wie in Sowjetrussland, wo die herrschende kommunistische Partei schon nach ihrer Machtübername 1917 die Verstaatlichung der wirtschaftlichen Basis und später auch die Installierung einer zentral geleiteten Planwirtschaft in die Wege leitete. Die von Rühle behauptete Identität von deutschen und sowjetischen Staatskapitalismus blieb somit Wunschtraum. Die angebliche Identität zwischen Staatskapitalismus und Totalitarismus auf der einen und den jeweiligen totalitären Systemen in Deutschland und Russland auf der anderen Seite fand bei Rühle mit dem historisch-genetischen Aspekt seine folgerichtige Ergänzung: Die staatskapitalistisch-totalitäre Herrschaft in Russland war zeitlich gesehen der italienischen und deutschen Entwicklung vorgelagert und für den Rätekommunisten daher sowohl der Ausgangspunkt als auch das Modell für Mussolinis und Hitlers Bestrebungen. Dass ausgerechnet Rühle als Marxist derart konsequent und scharf auf der Vorbild- und „Lehrmeister“64 Herrmann, Otto Rühle II, S. 45.

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Rolle des Bolschewismus beharrte, dürfte auf seinen spezifischen politischen Standort zurückzuführen sein: Als Rätekommunist teilte er Lenins Interpretation der Marxschen Lehre nicht, wonach eine kleine, gebildete Avantegarde von Berufsrevolutionären den Kampf für eine proletarische Revolution, für eine „Diktatur des Proletariats“ aufnehmen müsse, die, wie Rühle richtig erkannte, nur eine Diktatur der Partei und ihrer Führer war. Für ihn beinhaltete jegliche künstliche Absonderung vom Proletariat, jegliche organisatorische Sonderentwicklung und Vorrangstellung einzelner Gruppen die Gefahr der Bürokratisierung und Zentralisierung, letztlich die Gefahr einer zentralistischen Diktatur. Schon 1921 hatte er die wesentlichen Merkmale des bolschewistischen Herrschaftssystems herausgearbeitet, die er nach 1933 auch für die nationalsozialistische Herrschaft konstatierte. Seine Behauptung, dass Mussolini und Hitler, und hier vor allem letzterer, das bolschewistische Modell doch nur kopiert hätten, kann sicherlich als Übertreibung gelten, zumal er sich zu keinem Zeitpunkt um eine empirische Absicherung bemühte. Jedoch ist einzuräumen, dass es gerade für scharfsinnige und zugleich kritische Intellektuelle und Russland-Kenner wie Rühle eine Art Deja-vu-Erlebnis gewesen sein muss, als sie im eigenen Land den Aufbau eines ganz ähnlichen Herrschaftssystems erlebten. In diesem Kontext ist die Feststellung gewiss nicht übertrieben, dass bei Rühle eine noch stärkere Verabsolutierung exogener Faktoren zu beobachten ist als beispielsweise bei Ernst Nolte.65 Gewiss hat Rühle keinen „kausalen Nexus“ zwischen Auschwitz und dem Archipel GULag herzustellen versucht (was nebenbei gesagt für ihn schon zeitlich gesehen nicht möglich war), doch ist er mit seiner These von der nationalsozialistischen Kopie des Bolschewismus noch weiter gegangen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass bei ihm endogene Faktoren des Dritten Reiches eine völlig untergeordnete Rolle spielen.66 Die behauptete Identität zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus, die Rühle zur wenig überzeugenden und auch inkonsequent gehandhabten These vom „braunen und roten Faschismus“ führte,67 ebnete ihm immerhin 65 Vgl. etwa Francois Furet/Ernst Nolte, „Feindliche Nähe“. Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel, München 1998. 66 In seiner ersten größeren Schrift vom Sommer 1939 meinte er z. B., dass der „Sieg des Faschismus“ deswegen „so leicht“ gefallen sei, „weil ihm die Arbeiterführer in Gewerkschaften und Parteien das Menschenmaterial schon so gedrillt, so korrumpiert und so entmannt hatten, dass es eine willige Beute der Unterjochung wurde, durch deren Schule es jahrelang gegangen war“ (Rühle, der Kampf, S. 13). Diese für Rühle typische Kritik an der alten Arbeiterbewegung korrespondierte mit Hinweisen auf die Folgen des Versailler Friedensvertrages, den er für den Erfolg Hitlers maßgeblich verantwortlich machte. Vgl. Rühle, Weltkrieg, S. 81 ff. Andere wichtige endogene Faktoren wie der obrigkeitsstaatliche Weg Preußen-Deutschlands, die spezifische Eigenentwicklung der NSPartei und ihres Programms und vor allem die Komponente des Rasseantisemitismus fanden in Rühles Schriften keine nennenswerte Beachtung. 67 Während er z. B. an einer Stelle vom „russischen Faschismus in Gestalt der Diktatur Stalins“ spricht (Rühle, Brauner und roter Faschismus, S. 38), erklärt er an einer anderen Stelle desselben Buches, dass der Bolschewismus ein „Staatskapitalismus und eine Bürokratendiktatur wie der Faschismus“ sei (ebd., S. 70).

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schon 1939/40 den gedanklichen Weg zu einem Merkmalskatalog, der, abseits jeglichen wissenschaftlichen „Mainstreams“ entstanden, Respekt abnötigt – zumal erst 15 Jahre später Hochschullehrer wie Carl Joachim Friedrich ähnliche Überlegungen entwickelten und schließlich popularisierten. Doch blieb er – wie später auch Friedrich – bei den strukturellen Übereinstimmungen stehen; die spezifische Dynamik der totalitären Systeme in Russland und Deutschland, ihre unterschiedliche Genese und Programmatik und letztlich auch ihre weiter bestehenden Unterschiede im Wirtschaftssystem konnten mit solch einem statischen Katalog nicht wirklich erfasst werden. Das betrifft im Besonderen auch die Frage der Judenverfolgung und des Holocaust in Deutschland, die für Rühle (selbst bei Betrachtung der Zeit bis 1941) nur ganz vage eine Rolle spielten. Lediglich im Manuskript des „Deutschen Bolschewismus“ findet sich eine Stelle, an der er – Judenboykott und erste Übergriffe im Auge – von der „Schmach des Judenterrors“ und den „dunkelsten Schrecken des Mittelalters“ spricht.68 Im Vergleich zu den westlich-demokratischen Totalitarismustheoretikern hatte Rühles Modell aufgrund ihres Spezifikums allerdings einen Vorzug – ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit. Während manch anderer emigrierter deutscher und amerikanischer Wissenschaftler nach dem Juni 1941 aus Opportunitätserwägungen schwieg oder künftig Totalitarismus nur mit Blick auf das Dritte Reich abhandelte (z. B. Franz L. Neumann),69 hielt Rühle an seiner Linie fest: Ohne Rücksicht auf politische Konjunkturen bezog er auch nach dem Wechsel Stalins in die Anti-Hitler-Koalition des Westens die Sowjetunion als totalitäre Macht weiterhin in seine Darstellungen ein; ja mehr noch, seine Kritik am totalitären Staatskapitalismus des Ostens erfuhr sogar noch einmal eine Steigerung! Ihm ist jedenfalls nicht vorzuwerfen, was Kritiker der Totalitarismustheorien nicht ganz zu Unrecht als Problem betrachten – dass nämlich diese Theorien stark mit den politischen Konjunkturen korrespondierten und erst ab 1947/48 und 1989 neue Impulse erhielten.70 Die größere Glaubwürdigkeit, die Rühles Arbeit auszeichnet, steht jedoch in einem merkwürdigen Verhältnis zur geringen öffentlichen Resonanz des Werkes und zu den darin enthaltenen Alternativen zum Totalitarismus. Sieht man einmal davon ab, dass die erste der drei totalitarismustheoretischen Schriften nur in einem abgelegenen marxistischen Forum erschien („Living Marxism“), und die beiden größeren Arbeiten bis 1971 überhaupt keinen Verleger fanden, stellt sich die Frage, ob der Misserfolg nur den bekannten politischen Konjunkturen geschuldet war, oder doch ganz entscheidend auf der politischen Radikalität der Aussagen beruhte. Von daher ist zu prüfen, ob dieser Radikalismus nicht auch selbst Anflüge totalitären Denkens in sich barg. 68 Rühle, Deutscher Bolschewismus, S. 5. 69 Vgl. Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933– 1944, Frankfurt a. M. 1977 [engl. Erstausgabe: 1942], S. 68–89. 70 Vgl. etwa Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997, S. 111.

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Nimmt man den Briefwechsel zur Hand, den Rühle zwischen 1939 und 1941 mit verschiedenen US-amerikanischen Verlegern führte, wird klar, dass der Autor tatsächlich ein großes Interesse an der Veröffentlichung seiner Schriften hatte und selbst die Werkentstehung davon abhängig machte. Die Absagen, die er trotz aller Bemühungen erhielt, waren zumeist formal und politisch begründet: Die deutsch verfassten Manuskripte, so wurde ihm bedeutet, könne kein Verlag auf eigene Kosten übersetzen, bevor er „endgültig beschlossen hat, das Buch zu verlegen“. Wie aber konnte man ein Verlagshaus für ein Manuskript interessieren, dessen Mitarbeiter es nicht lesen konnten?71 Dieses Hindernis sollte sich gerade in einer Zeit als schwierig erweisen, in der – nach Rühles Einsicht – die „Ereignisse ungleich schneller laufen als die Maschine, die sie registriert und kommentiert“.72 Sein Versuch, nach Ablehnungen von „Brauner und roter Faschismus“ dasselbe Manuskript zu „aktualisieren“ und mit neuem Namen zu versehen,73 lief gleichwohl ins Leere: Auch das im Sommer 1940 umgearbeitete Manuskript „Weltkrieg – Weltfaschismus – Weltrevolution“ fand keinen Verleger. Dass Rühles Versuche alle scheiterten, hatte letzten Endes aber weniger mit den Übersetzungsproblemen und den Zeitumständen zu tun, sondern mit handfesten politischen Gründen. Da war zum einen die Rede davon, dass Rühles Schriften „zu theoretisch“ geschrieben seien,74 zum anderen wurde ihm offen bedeutet: Ein Buch „mit ihrem politischen Standpunkt [ist] hier nicht sehr opportun“.75 Rühle selbst vermutete hinter alle diesen Absagen „stalinistischen Einfluss“ und verlegerische „Angst vor dem Publikum, dass solche Sprache und Voraussage nicht zu ertragen meint“.76 In der Tat wären Sprache und Voraussagen Rühles für amerikanische Leser nur schwer „zu ertragen“ gewesen, sah er doch selbst Roosevelts Amerika auf der „Bahn zum Faschismus“.77 Aber auch bei demokratischen Sozialisten konnte er nicht ohne Weiteres auf Verständnis hoffen: Zu schrill, zu bizarr und zu dogmatisch nahmen sich seine Überlegungen zu einem Alternativprojekt zum Totalitarismus aus. Das, was Rühle politisch für erstrebenswert hielt, war bis zu seinem Tode 1943 zwar nicht die Diktatur einer bestimmten Staatspartei, aber doch die Diktatur des Proletariats, so wie sie Marx als Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Kommunismus bezeichnet hatte. Für Rühle sollte die71 72 73 74 75 76 77

So etwa der Brief des Verlages The Living Age an Otto Rühle vom 21. 6.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 81). Otto Rühle an Stephen Naft vom 26. 6.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 81). Otto Rühle an Alliance Book Corporation New York vom 6. 9.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 82). So gab Stephen Naft in einem Brief an Rühle vom 16. 8.1941 die Meinung eines Verlagsagenten wieder (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 81). Henry Koppel (Alliance Book) an Otto Rühle vom 12. 8.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 82). Otto Rühle an Paul Mattick vom 22.11.1940 und an Genosse Kahn vom 28. 2.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 85 und 88). Rühle, Weltkrieg, S. 112.

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se Form der Diktatur auf einer Räteordnung beruhen – ohne jeglichen Einfluss von Parteien. Den braunen und roten Faschismus hielt er auf den Weg dahin für „notwendig“, da dieser aus seiner Sicht für „einen bestimmten Fortschritt der Geschichte“ stehe: nämlich für die Enteignungen der Produktionsmittel und für die Abschaffung der Parteien, des Parlamentarismus, der Gewerkschaften und der „ganzen kleinbürgerlichen Politik“. Der Faschismus, so Rühle, nehme der proletarischen Klasse die „gröbste, härteste und undankbarste Arbeit der ersten Epoche sozialistischer Entwicklung ab. Er muss heute ohne alle Erfahrung und marxistische Schulung die Tätigkeit der Übergangsphase auf sich nehmen, die auch bei uns ohne Zwang, Rücksichtslosigkeit, Gewalt und Diktatur nicht abgegangen wäre.“78 Trug diese Vision nicht auch totalitäre Züge? Gehörten nicht die Gedanken, die er bereits 1920 über Ebert und Kautsky und 20 Jahre später über einen Dritten Weltkrieg formulierte, in die Kategorie Vernichtungsphantasie? Ausgerechnet Hitler billigte er die Rolle eines sozialistischen Wegbereiters zu! Darauf deutet jedenfalls seine Aussage hin: „Auch ein Sozialist [müsse] eingestehen, dass Hitler für die Weltgeschichte nicht umsonst gelebt hat“, wenn er erst die westeuropäischen Staaten und dann den östlichen Staatskapitalismus vernichtet habe und danach scheitere.79 Solchen Auslassungen stehen jedoch auch Überlegungen gegenüber, die auf Rühles libertären Anspruch fußen. So z. B., wenn er in seinem Buch „Weltkrieg – Weltfaschismus – Weltrevolution“ den „faschisierten Menschen“ als „Roboter“, als „Hände und Arme einer von oben befohlenen und gesteuerten Wirtschaft, Ohren und Nerven einer von oben ersonnenen und dirigierten Politik, Beine und Schultern eines von oben kommandierenden und bramarbasierenden Militarismus, gekrümmte Rücken und schlotternde Knie einer gewalttätigen, unmenschlichen und allmächtigen Diktatur“ bezeichnete, der nach der Überwindung des Faschismus/Totalitarismus eine „Menschwerdung“ in einem „neuen Sinne“ durchlaufen müsse.80 Auch dem früheren kommunistischen Reichstagsabgeordneten Wendelin Thomas gegenüber bekräftigte er im Frühjahr 1940, es bestehe kein Zweifel daran, „dass das totalitäre Regime den größeren, bösartigeren und gefährlicheren Feind des Proletariats verkörpere“ als das westliche. Anders als in den USA, in die Thomas emigriert war, hätten die Proletarier im Totalitarismus „keinerlei eigene Freiheiten, Rechte und klassenkämpferische Aktionsmöglichkeiten“.81 Für die Wandlung zum demokratischen Sozialismus, die der RooseveltAnhänger Thomas vollzogen hatte, brachte er jedoch keinerlei Verständnis auf. Während der New Yorker Ex-Kommunist nichts für „verfehlter“ hielt, „als da-

78 Rühle, Formenwandel im Klassenkampf, S. 181 und 183. 79 Otto Rühle, 28. Information von August 1941, S. 2 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 70 IV). 80 Rühle, Weltkrieg, S. 131 und 135. 81 Otto Rühle an Wendelin Thomas vom 30. 4.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 91).

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von zu reden, dass mit dem Kapitalismus die Demokratie zugrunde ginge“,82 war Rühle gerade davon überzeugt: Für die Demokratie wie für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung habe die „Totenglocke geschlagen“.83 Und in seiner dritten totalitarismustheoretischen Darstellung vom Sommer 1940 schrieb er ungerührt: „Eine der größten Gefahren für die kommende Revolution, wenn nicht ihre größte überhaupt, ist die Hoffnung auf die Wiederkehr der Demokratie nach Beendigung des Krieges.“84 Dieser Sichtweise lag eine zutiefst deterministische Teleologie zugrunde, in der die antiwestlichen Züge seines Totalitarismusmodells von vornherein angelegt waren. Ein Brief an Thomas endet nicht von ungefähr mit dem bezeichnenden politischen Bekenntnis: „Das Gestern sind die absterbenden Demokratien, das Heute die in der Faschisierung begriffene neue Welt. Ich war niemals für das Gestern, sondern immer für das Heute – auch wenn ich das Heute, in grundsätzlicher Gegnerschaft zu seiner Erscheinung, zu überwinden suchte im Interesse des Morgen: des Sozialismus.“85

82 Wendelin Thomas an Otto Rühle vom 9. 5.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 91). Wendelin Thomas, der in New York der „Proletarian Group“ angehörte und dort den Wahlkampf Franklin D. Roosevelts unterstützt hatte, äußerte in einem Brief an Rühle weiter: „Wir alten Sozialisten [!] waren immer der Meinung, dass Demokratie unerlässlich ist, wenn die Gesellschaft, auf Planwirtschaft ruhend, sozialistisch sein sollte.“ 83 Otto Rühle an Wendelin Thomas vom 30. 4.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 91). 84 Rühle, Weltkrieg, S. 164. 85 Otto Rühle an Wendelin Thomas vom 30. 5.1940 (IISG Amsterdam, NL Otto Rühle, Nr. 91).

Totalitarismustheorie und frühe Frankfurter Schule Alfons Söllner Die sog. Kritische Theorie der Frankfurter Schule hat ihren Namen auf historischen und semantischen Umwegen erhalten: Während der Begriff zurecht für eine der wirkungsmächtigsten Schulen der Gesellschaftstheorie im 20. Jahrhundert steht, macht er doch nur für die paradigmatische Phase der 30er Jahre Sinn und ist eigentlich eine Rückprojektion aus der Zeit der Remigration Horkheimers und Adornos, als der legendäre Ausgangspunkt des Instituts für Sozialforschung längst verlassen war.1 Die beinahe umgekehrte Konstellation kann man an der Geschichte der sog. Totalitarismustheorie studieren: Wenn dieses Denkmodell überhaupt jemals so etwas erlangt hat wie eine paradigmatische Ausprägung, dann in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und auch hier wird man Zweifel anmelden müssen, ob diese Fokussierung nicht mehr politischen Opportunitäten als theoretischer Verbindlichkeit entsprungen ist. In jedem Fall aber, wie immer man das Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und Totalitarismustheorie konstruieren möchte, wird man mit erheblichen Spannungen und Ungleichzeitigkeiten, vielleicht sogar mit Widersprüchen zu rechnen haben. Der folgende Beitrag steht unter der Leitfrage, ob die Frankfurter Schule in ihrer formativen Phase wenn nicht selber eine eigenständige Totalitarismustheorie formuliert, so doch totalitarismustheoretische Elemente ausgeprägt hat, die für ihre Theoriegestalt signifikant waren oder aus heutiger Sicht sind. Die Fragestellung, skeptisch wie sie ist, versucht eine größere theoriegeschichtliche Perspektive aufzumachen und geht dabei von der Vermutung einer gewissen Asymmetrie aus: Während die Geschichte des Totalitarismuskonzepts offensichtlich vieldeutig verlief, sodass der Begriff eigentlich nur im Plural Sinn macht,2 zeigt der Horkheimer-Kreis zumindest in der Frühphase eine hohe und vor allem eine relativ einheitliche Theorieorientierung. Diese widersprüchliche Konstellation kehrt mit überraschender Unmittelbarkeit wieder, wenn man die einschlägigen Texte aus den 30er und 40er Jahren auf unsere Fragestellung hin durchsieht. Wenn die Termini „Totalitarismus, totalitär, totale Herrschaft“ usf. überhaupt Verwendung finden, was nicht allzu häufig geschieht, dann weder einheitlich 1 2

Vgl. dazu Clemens Albrecht/Günter C. Behrmann/Michael Bock/Harald Homann/ Friedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999. Dies ist die Quintessenz meiner Rekonstruktion des Totalitarismuskonzepts. Vgl. die Einleitung zu Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997.

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noch in der Absicht, eine eigene Theorieebene zu fixieren. Auf der andern Seite ist bemerkenswert, dass es keine explizite Auseinandersetzung mit dem Begriff, also auch keine pauschale Ablehnung gibt. Angesichts dieser Lage sind zwei alternative Vorgehensweisen denkbar: Man kann die verstreuten Stellen, an denen das Totalitarismuskonzept auftaucht, sammeln, auswerten und systematisieren – oder man geht gleichsam umgekehrt heran, orientiert sich an den deutlich erkennbaren, weil theoretisch markierten und empirisch elaborierten Forschungsfeldern, die in der Prägephase des Instituts beackert wurden, und fragt dann danach, ob totalitarismustheoretische Überlegungen in ihnen in eine Rolle spielten und welche dies war. Ich werde den zweiten Weg einschlagen. Um aber die Fragestellung nicht von vorne herein auf eine abschüssige Ebene zu lenken, muss auf die Anschlussfähigkeit der Totalitarismustheorie geachtet und ein gemeinsames Terrain wenigstens angestrebt werden. Dies wird am ehesten erreichbar sein, wenn man sich in deren wechselvoller Geschichte an dem Stadium orientiert, in dem sie ihre prägnanteste Gestalt erreicht oder wenigstens eine idealtypische Ausprägung erfahren hat. Das führt ohne Zweifel in das erste Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem die „Klassiker der Totalitarismustheorie“3 geschrieben wurden. An ihnen wiederum lassen sich ohne allzu große Vereinfachung drei konstitutive Elemente festmachen, die eine idealtypische Verallgemeinerung erlauben und sich gleichzeitig sinnfällig in die ideenpolitische Konstellation des Kalten Krieges einfügen.4 Danach ist die entwickelte Totalitarismustheorie definiert durch: 1. die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus als den ausgeprägtesten Formen totalitärer Herrschaft; 2. die methodische Konzentration auf das politische System und die Herrschaftsmethoden der totalitären Diktaturen; 3. die normative Spiegelung des Totalitarismus im Idealtypus des demokratischen Verfassungsstaates westlicher Prägung. Es ist ziemlich klar, dass sich unter diesen Prämissen die Beziehungen zwischen Totalitarismustheorie und Frankfurter Schule weder einfach noch allzu harmonisch darstellen werden. Zu erwarten ist wenn nicht ein Verhältnis der gegenseitigen Missachtung oder gar Blockierung, so doch eine gewisse Querstellung, die mit den anders gearteten theoretischen Orientierungen, aber auch mit expliziten oder impliziten politischen Differenzen zu tun hatte. Das aber schließt theoretische und empirische Anschlussmöglichkeiten nicht aus, vielmehr zeigt die interessierte Lektüre bisweilen implizite Annäherungen oder sogar gleitende Übergänge, die wissenschaftsgeschichtlich erstaunlich und für die 3

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Zu den Klassikern zähle ich in erster Linie die bekannten Bücher von Hannah Arendt und Friedrich/Brzezinski, aber auch das zehn Jahre vorher publizierte und zu Unrecht vergessene Buch von Sigmund Neumann, Permanent Revolution. The Total State in a World at War, New York 1942. Vgl. dazu Abbot Gleason, Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York 1995.

Totalitarismustheorie und frühe Frankfurter Schule

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heutige Debatte anregend sind. Dies gilt für alle drei der großen Arbeitsgebiete der frühen Frankfurter Schule, die im Folgenden unterschieden werden, wenngleich in verschiedenem Ausmaß. Was aber den eigentlichen Grund der zu erwartenden Querstellung betrifft, so ist man vor allem auf die eigentümliche, auf die „starke“ theoretische Klammer selber verwiesen, auch wenn sie durchaus verschiedene Konsequenzen und Ausdrucksformen annahm, je nachdem um welches fachliche Forschungsgebiet es sich handelte. Die Darstellung muss daher mit den gesellschaftstheoretischen Prämissen der frühen Kritischen Theorie beginnen.

I.

Die gesellschaftstheoretische Klammer der Kritischen Theorie und die politische Tabuisierung des „linken Totalitarismus“

Es ist kein Geheimnis, sondern eines der manifesten Probleme, z. B. wenn man die Texte der Frankfurter Schule heutigen Studierenden vermitteln will, dass es eine hohe und anspruchsvolle theoretische Konditionierung der Argumentation gerade in der Frühphase gab. Es ist vielfach dargestellt worden, dass zu den Ausgangsbedingen des Kreises um Max Horkheimer die absichtsvolle, aber keineswegs einfache Synthese so weit auseinander liegender Denktraditionen gehörte wie es der Hegel-Marxismus einerseits und die Freudsche Psychoanalyse andererseits waren. Hinzu kam der nicht geringere Anspruch, aus dieser Neukonstruktion nicht nur theoretische Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern diese noch einmal mit den Methoden und Verfahren der modernen empirischen Sozialforschung zu „verifizieren“. Im Zentrum stand die von Max Horkheimer propagierte Idee, die Grundannahmen der marxistischen Geschichtsauffassung in eine interdisziplinäre Forschungsstrategie zu transformieren, also die ökonomische Gesellschaftslehre einzelwissenschaftlich auszudifferenzieren und die neuen Ergebnisse in eine multifaktorielle „Theorie des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche“ einfließen zu lassen.5 Das Verständnis der frühen Frankfurter Schule wird zusätzlich kompliziert dadurch, dass die Ausgangsprämissen schon bald modifiziert wurden, entsprach es doch dem Selbstverständnis der um Horkheimer versammelten Intellektuellen, auf die dramatische zeitgeschichtliche Entwicklung nicht nur zu reagieren, sondern sie reflexiv in die eigene Arbeit aufzunehmen. So ergaben sich zwischen dem Aufstieg Hitlers und dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhebliche Neuakzentuierungen der theoretischen Perspektive, für die hier nur die Stichworte genannt werden könne: Lassen sich in der Anfangsphase noch Elemente eines kru5

Von den zahlreichen Darstellungen der Entstehungsgeschichte der Frankfurter Schule nenne ich nur die beiden älteren, die den „interdisziplinären Marxismus“ stark gemacht haben: Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 1978, sowie meine Geschichte und Herrschaft. Studien zur materialistischen Sozialwissenschaft 1929–1945, Frankfurt a. M. 1979.

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den marxistischen Ökonomismus auffinden, die mittels sozialpsychologischer und ideologiekritischer Überlegungen dann schrittweise verfeinert werden, so wird die programmatische Fixierung der „Kritischen Theorie der Gesellschaft“ – so die fortan gepflegte Selbstetikettierung – vor allem in den Texten aus dem Jahr 1937 vorgenommen, während sich im Übergang zu den 40er Jahren schließlich jene Abstraktifizierung der Grundbegriffe bemerkbar macht, die ihre wirkungsmächtigste Fassung in der „Dialektik der Aufklärung“ erhalten. Neben diese bereits stark von Adorno mitgeprägte philosophische Universalgeschichte der Herrschaft treten, teilweise in schroffer Konkurrenz zu den Auffassungen des engeren Horkheimer-Zirkels, die konkreteren Arbeiten Neumanns und Kirchheimers. Sie bringen die Theorie des totalitären Monopolkapitalismus gezielt auf die rechts- und politikwissenschaftlichen Gebiete zur Anwendung und sind daher für uns von besonderem Interesse.6 Blickt man von hier auf die drei oben genannten Kriterien der entfalteten Totalitarismustheorie, so sticht zunächst vor allem ein Charakterzug hervor, der dem Vergleich bzw. der Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus beinahe diametral entgegengesetzt ist: Die Frankfurter Schule bleibt in ihrer Frühphase weitgehend – und wenn man so will – monomanisch auf den Nationalsozialismus oder besser: auf den deutschen Faschismus fixiert. Diese Fixierung ist keine einfache, sondern besteht in einer verallgemeinernden Reflexionsfigur, die sich in den Texten der 30er und frühen 40er Jahre durchgehend bemerkbar macht: Wie der Nationalsozialismus als Extremform des „europäischen Faschismus“ verstanden wird, so erscheint er aus der Perspektive der marxistischen Theorie als die adäquate, die „funktionale“ politische Form des entwickelten Monopolkapitalismus. Diese doppelte Verklammerung ist umso stärker, als die negative Fixierung auf den Faschismus nicht nur theoretische, sondern auch politische Gründe für sich geltend macht. Und das wiederum hat zur Folge, dass die für die entfaltete Totalitarismustheorie so zentrale Einbeziehung der kommunistischen Bewegung und vor allem der Sowjetunion als der markantesten Institutionalisierung dieser Bewegung außerhalb des Horizontes bleibt. So allgemein die Theoriebildung der Frankfurter Schule auch angelegt war – ihr Hauptfokus war nicht auf die sozialistischen Regime, sondern auf den europäischen Faschismus gerichtet. Dies schloss nicht aus, dass die Entwicklung unter Stalin im Horkheimer-Kreis mit wachsendem Misstrauen kommentiert wurde, und auch in den publizierten Texten finden immer wieder einzelne, wenngleich vorsichtig formulierte Negativurteile über die sowjetrussischen Verhältnisse.7

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Die ausführlichsten Darstellungen der Geschichte der Frankfurter Schule sind nach wie vor: Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt a. M. 1976; sowie Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, 4. Auflage München 1993. Es ist ein bleibendes Verdienst der Arbeit von Dubiel, Wissenschaftsorganisation, diese Urteile über die Sowjetunion im Zeitverlauf aufgelistet zu haben.

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Wie sich die Situation 1939, also zu Beginn der faschistischen Expansion über Europa im deutschen Intellektuellenzirkel an der Columbia University darstellte, wird an einem Horkheimer-Zitat aus dem Bekenntnistext „Die Juden und Europa“ demonstrierbar, von dem aber nicht nur der berühmte letzte Satz zitiert werden sollte: „jetzt preisen die literarischen Gegner der totalitären Gesellschaft den Zustand, dem sie ihr Dasein verdanken, und verleugnen die Theorie, die sein Geheimnis aussprach, als es noch Zeit war. Dass die Emigranten der Welt, die den Faschismus aus sich erzeugt, gerade dort den Spiegel vorhalten, wo sie ihnen Asyl gewährt, kann niemand verlangen. Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“.8 Deutlich wird hier zum einen, dass die Camouflage der marxistischen Begründung des Antifaschismus theoretisch eigentlich nicht legitim, sondern nur politisch und strategisch zu rechtfertigen ist. Zum andern aber bleibt die Kritik an der Sowjetunion nach wie vor unter einem politischen Tabu, auch wenn die wenig später am Institute of Social Research einsetzenden Theoriedebatten um den „Staatskapitalismus“ neben der deutschen Kriegswirtschaft auch die sowjetische Planwirtschaft als Beispiel heranziehen mussten.

II.

Von der Selbstdestruktion des bürgerlichen Bewusstseins zum autoritären Charakter – Ideologiekritische und sozialpsychologische Studien

Die Arbeiten, mit denen das emigrierte Institut für Sozialforschung bekanntlich Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat, bestehen in der Frühphase vor allem aus Aufsätzen von Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Erich Fromm. Sie sind in der Regel zuerst in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ publiziert worden, haben oft programmatischen Charakter und tragen fast durchgängig die Handschrift des beinahe allmächtigen Institutsdirektors. Exemplarisch sind Horkheimers Abhandlung „Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie“ oder sein großer Essay „Egoismus und Freiheitsbewegung“.9 Was auf den ersten Blick als Produkt konventioneller Geistesgeschichte erscheinen könnte, ist alles andere als dies: Horkheimer zieht die großen ideengeschichtlichen Linien keineswegs freihändig, sondern orientiert sich an einer ökonomisch untermauerten Epochengeschichte, die vom Rationalismus des 18. über den Liberalismus des 19. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart führt. Diese wiederum wird nicht nur breit ausgeleuchtet, sondern auch tief ausgelotet, und 8 9

Max Horkheimer, Die Juden und Europa [1939]. In: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hg.), Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939–1942, Frankfurt a. M. 1981, S. 33–53, hier 33. Max Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie [1934] und ders., Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters [1936]. Beide in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Band 3, S. 163–220, und Band 4, S. 9–88, Frankfurt a. M. 1988.

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zwar unter dem intensiven Verdacht, dass sich im bildungsbürgerlichen Bewusstsein irrationalistische Tendenzen durchgesetzt haben. Es geht um eine in der unmittelbaren Gegenwart kulminierende „Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters“, wie der Untertitel von „Egoismus und Freiheitsbewegung“ lautet. Ich greife aus den oft beinahe buchlangen Abhandlungen eine kürzere von Herbert Marcuse heraus, die den Totalitarismusbegriff im Titel trägt und daher für uns von besonderem Interesse ist: „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“ ist 1934 erschienen und kann als symptomatisch dafür gelten, welchen Stellenwert das Totalitarismuskonzept in der Anfangsphase des Instituts für Sozialforschung hatte.10 Marcuse konzentriert sich auf die ideologischen Tendenzen, die mit den „Ideen von 1914“ in Deutschland aufgekommen sind, und spießt vor allem die autoritären Staats- und Gesellschaftsbilder auf, wie sie von prominenten Staatsrechtlern wie Schmitt, Forsthoff und Koellreutter in der oder besser: gegen die Weimarer Republik formuliert worden sind. Er identifiziert drei Denkstrategien – die pseudo-universalistische, die naturalistische und die existentialistische bzw. dezisionistische –, mit denen die liberalen Rechts- und Staatstheorien gleichsam zersetzt werden und verweist auf das Ergebnis: die Legitimation des rechtlich entgrenzten und in diesem Sinne „totalitären“ Staates. Wenn Marcuse jedoch resümiert: „Der total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Theorie und Organisation der Gesellschaft“11, so sind zwei Schlussfolgerungen unvermeidlich: einmal dass der Begriff des Totalitären fließend in andere Begriffe übergeht; zum andern – und das ist wichtiger – dass die kapitalismustheoretische Klammer unübersehbar präsent ist und die Argumentation präformiert. Ein zweites Element ist in den ideengeschichtlichen und ideologiekritischen Arbeiten eher hintergründig wirksam, steht aber von Anfang und programmatisch im Zentrum der Institutsarbeit und wird sich als eine der folgenreichsten Innovationen in den Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit erweisen: die Ausarbeitung einer psychologischen oder besser: sozialpsychologischen Theorie, in deren Zentrum alsbald das Problem der Autorität tritt. Auch hier müssen wenige Stichworte genügen: Es war Erich Fromm als Institutsfachmann für Psychoanalyse, den Horkheimer zu seinem Adjutanten machte, um aus der Theorie von Sigmund Freud und seiner Schule die Schlussfolgerungen zu ziehen, die aus einer individuellen Therapiemethode eine Sozialpsychologie, d. h. ein Instrument der Gesellschaftsforschung zu entwickeln erlaubten. Der Weg, auf dem dies möglich wird, ist eine psychoanalytische Charakterlehre, als deren Grundtypen der sadistische und masochistische, vor allem aber der (zusammengesetzte) sadomasochistische und der rebellische Charakter genannt werden. Sie alle stellen Ausprägungen von psychischen Einstellungen oder zumindest von Dis10 Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung [1934]. In: ders., Kultur und Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1965, Band 1, S. 17–55. 11 Ebd., S. 32.

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positionen dar, die an der kollektiven Formierung von Sozialbeziehungen mitwirken, die durch autoritäre Befehlsgewalt auf der einen Seite und die ihr entsprechende blinde Unterwerfung auf der andern Seite bestimmt sind.12 Wichtig für uns ist ein begriffsstrategischer Tatbestand: Im Zentrum all dieser Überlegungen steht nicht der Begriff des „totalitären“, sondern der des „autoritären“ Charakters, auch wenn die beiden Termini zu der Zeit offenbar gar nicht als Alternative empfunden werden. Das zeigt sich auch an den empirischen Anwendungsversuchen, die dieses Konzept erfahren hat, auch wenn sie nur rudimentär entwickelt oder gar den widrigen Umständen des Exils zum Opfer gefallen sind.13 Zwei von ihnen sind später dennoch prominent geworden: Einmal das Kompendium „Autorität und Familie“, das 1936 in Paris publiziert wurde und das aus zwei Teilen besteht: Während das große und breite empirische Untersuchungsmaterial Torso geblieben ist, konnte die theoretische Einleitung im Detail ausgearbeitet werden: Hier diskutiert Horkheimer das Verhältnis von Kultur und Psyche im Allgemeinen und den Begriff der Autorität im Besonderen unter methodologischen Gesichtspunkten, und Herbert Marcuse ergänzt dies mit einem großen ideengeschichtlichen Überblick zu den Begriffen Autorität und Freiheit seit Luther, während Erich Fromm die sozialpsychologischen Leitbegriffe der Theorie des sadomasochistischen Charakters resümiert.14 Nimmt man die erst 1979 unter dem Namen von Erich Fromm publizierte Studie: „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Faschismus“ hinzu,15 so muss man vorwegschicken, dass ihr empirischer Stoff aus den Krisenjahren der Weimarer Republik stammt, also aus einer Zeit, da der theoretische Durchbruch des Frankfurter Instituts noch gar nicht erfolgt war. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen zeigt die Anlage der gesamten Studie eine gewisse Affinität zu der komparativen Perspektive, die für die spätere Totalitarismustheorie so typisch wurde. Die empirische Befragung zielte auf die politischen Einstellungen der Arbeiter und Angestellten und ging zunächst von der Prämisse aus, dass zwischen dem rechten und dem linken Lager auch eine deutliche Einstellungsdifferenz festzustellen sein müsse: revolutionär-progressive Haltungen sollten, grob gesagt, von autoritär-faschistischen unterscheidbar sein. In dem Maße jedoch, wie die Mentalitäten empirisch erfasst und vor allem psychologisch gedeutet wurden, wurden fließende Grenzen manifest, zeigte sich nicht nur, dass „linke“ 12 Als Schlüsseltexte sind anzusehen: Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie [1932]. In: ders., Gesammelte Schriften, Band 3, S. 48–69; sowie Erich Fromm, Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie [1932] und ders., Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie [1932]. Beide in: ders., Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1970, S. 9–40, 41–70. 13 Die gründlichste Rekonstruktion der empirischen Arbeiten der Frankfurter Schule stammt von Wolfgang Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a. M. 1982. 14 Studien über Autorität und Familie, Paris 1936, Theoretischer Teil. 15 Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs: eine soziopsychologische Untersuchung, bearb. und hg. von Wolfgang Bonß, München 1983.

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Einstellungen einen „rechten“ psychischen Unterbau haben konnten, sondern auch dass es eine zwar kleine, aber doch kritische Gruppe von „revolutionären“ Arbeitern mit einer „faschistischen“ Psyche gab. Was sich hier andeutete, war der später so genannte „rebellische Charakter“, der revolutionäre und autoritäre Elemente in sich vereinigte und im Krisenfall „nach der andern Seite“ zu gehen drohte. Man hätte ihn vielleicht auch „totalitär“ nennen können, insofern dieser Doppelcharakter bekanntlich für die rechten wie die linken Bewegungen gleichermaßen nützlich war, aber dieser Sprachgebrauch war, wie gezeigt, nicht der des frühen Horkheimer-Kreises.

III.

Von der Zerstörung der Rechtrationalität zum polykratischen „Non-State“ – Studien zum Nationalsozialismus

Mit den rechts- und staatstheoretischen Studien der frühen Frankfurter Schule betreten wir ein Arbeitsgebiet, das seit 1934 von Otto Kirchheimer aufgebaut und seit dem Jahr 1937 von Franz L. Neumann mit großer Energie bewirtschaftet wurde. Beide waren von Haus aus Juristen und entstammten dem linken Flügel der Weimarer SPD. Im New Yorker Institutskontext standen sie zunächst eher an der Peripherie, es war jedoch nicht zuletzt die Etablierung des Nationalsozialismus in Deutschland selber, der ihrem eher konkret ansetzenden Zugriff gegenüber den theoretischen Subtilitäten des Horkheimer-Zirkels immer mehr Platz verschaffte. Der Blick auf die entwickelte Totalitarismustheorie lässt jedoch eine größere Affinität auch deswegen erkennen, weil sowohl Kompetenz wie Interesse von Neumann und Kirchheimer von vorne herein auf die rechtlich-politische Sphäre gerichtet waren, also auf jene Gebiete, an denen der Übergang von der Weimarer Republik zum Hitler-Regime seine sichtbarsten und dramatischsten Spuren hinterließ. Dennoch werden sich ebenso viele Differenzen zeigen; denn während es in der späteren Totalitarismusforschung, am deutlichsten bei Friedrich und Brzezinski, so etwas wie eine „instrumentalistische“ Neigung, d. h. eine Konzentration auf die totalitären Herrschaftsmethoden gibt, bleibt dieser „politologische“ Ansatz bei Kirchheimer und Neumann zurückgebunden an eine Gesellschaftstheorie, die wiederum das Markenzeichen der Frankfurter Schule war. Die Arbeiten von Kirchheimer und Neumann aus den 30er und 40er Jahren sind ein weites Feld, das hier nur in der Absicht ausgeleuchtet werden kann, die generelle Erkenntnisperspektive und ihre Leitbegriffe kenntlich zu machen.16 So sehr die Aufmerksamkeit auf die Durchsetzung der Naziherrschaft und die Etablierung eines Terrorregimes in Deutschland gerichtet ist – die größere Perspektive geht auf die Transformation des liberalen Rechtssystems und den da16 Neuere Darstellungen sind: Mattias Iser/David Strecker (Hg.), Kritische Theorie der Politik. Franz L. Neumann – eine Bilanz, Baden-Baden 2002; Frank Schale, Zwischen Engagement und Skepsis. Eine Studie zu den Schriften von Otto Kirchheimer, BadenBaden 2006.

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mit verbundenen ökonomischen und politischen Funktionswandel des Rechts.17 Die Leitbegriffe, die Kirchheimer dafür in seinen zahlreichen Analysen sowohl des Zivil- wie des öffentlichen Rechts18 verwendet, lautet: Abschaffung der liberalen Rechtsgarantien und Perversion des Rechts zu einem Instrument „technischer Rationalität“. Konnte das Individuum im liberalen Rechtssystem die durch Grundrechte gesicherten Freiheiten beanspruchen und steckten in den Ideen von der Allgemeinheit des Gesetzes und der Unabhängigkeit der Justiz gewisse Garantien, um sich gegen die Übergriffe des Staates zur Wehr zu setzen, so wurden diese Sicherungen schon in der Weimarer Periode brüchig, mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten werden sie vollends zerstört. Die ideologischen Vehikel für diesen Auflösungsprozess sind die Formeln von der „völkischen Justiz“, vom „Schutz der arischen Rasse“ und allgemein von der „deutschen Volksgemeinschaft“, sie verschleiern den Prozess, in dem Staatsbürokratie und nationalsozialistische Parteiclique institutionell zusammengebunden werden. Besondere Aufmerksamkeit widmete Kirchheimer den strafrechtlichen Veränderungen der 30er Jahre, und hier noch einmal der raschen Verschärfung des politischen Strafrechts.19 Die Einführung von Straftatbeständen wie dem der „Rassenschändung“ oder dem Verstoß gegen das „gesunde Volksempfinden“, die Aufhebung des Rückwirkungsverbots wie in der Lex van der Lubbe, die Schwächung der Position des Strafverteidigers und die Zersetzung eines einheitlichen Strafrechts zugunsten von Sondergerichten bei SS, Arbeitsdienst und Wehrmacht, schließlich die Wiedereinführung der Todesstrafe – all dies waren unzweideutige Indizien für die verschärften Repressionsbedürfnisse des Regimes und die Umwandlung des Rechts in ein rein technisches Mittel der Massenbeherrschung. Beinahe noch signifikanter als die Veränderungen im formellen und materiellen Rechtskodex erschien Kirchheimer jedoch der institutionelle Umbau der Justizverwaltung, sowohl intern wie gegenüber Staat und Gesellschaft. Hier erreichte die These von der „technischen Rationalität“ ihre soziologische Konkretisierung: so bedeutete die Stärkung der oberen Justizbehörden gegenüber den Richtern ebenso wie Aufhebung der Grenze zwischen Justiz und Exekutive nicht weniger als die Auslieferung der Justiz an das Führerprinzip und die Einrichtung von Sonderabteilungen, die vor allem in der Strafjustiz vorangetrieben wurde, lief auf die Verlagerung ehemals öffentlicher Rechtskompetenzen auf „private“ Körperschaften der Partei hinaus. In solchen institutionellen „Kurzschlüssen“ des Justizapparates mit den Partei- und anderen Macht17

Der klassische Topos dafür ist Neumanns Aufsatz, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft [1937]. In: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt a. M. 1967, S. 31–81. 18 Otto Kirchheimer, Staatsgefüge und Recht des Dritten Reiches [1935]. In: ders., Von der Weimarer Republik zum Faschismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 152–185; sowie ders., Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus [1941]. In: ders., Funktionen des Staats und der Verfassung, Frankfurt a. M. 1972, S. 115–142. 19 Otto Kirchheimer, Das Strafrecht im nationalsozialistischen Deutschland [1939]. In: ders., Von der Weimarer Republik zum Faschismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 186–212.

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eliten wurde greifbar, wie die Befehle aus den neuen und alten Machtzentren reibungslos und gleichsam auf dem kürzesten Weg „durchgestellt“ werden konnten auf das atomisierte und schutzlose Individuum. Die höchst anspruchsvolle Perspektive auf den Nationalsozialismus, die am Institut erreicht wurde, soll hier – der Kürze halber – gleichsam an dem literarischen Endprodukt verdeutlicht werden, das im zeitgenössischen Amerika das prominenteste Buch des Instituts insgesamt geworden und gleichzeitig Franz Neumanns opus magnum geblieben ist: an seinem „Behemoth“, zuerst 1942 und in zweiter Auflage noch einmal 1944 publiziert.20 Drei einzelne, gleichermaßen theoretisch begründete wie empirisch durchgeführte Analyseschritte lassen sich unterscheiden und schlagen sich direkt in den großen Kapiteln des Buches nieder. Tatsächlich beanspruchte Neumann nicht weniger, als die „Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“ – so der prätentiöse Untertitel – insgesamt zur Darstellung zu bringen. Die Analyse des politischen System des Nationalsozialismus setzt auf eine These, die bereits die Exposition von Neumanns Gesamtinterpretation ist: Zwar sei bei der Etablierung des Nationalsozialismus der ideologische Kampf gegenüber Liberalismus und Demokratie dominant gewesen und in die Rhetorik des „totalen Staates“ gehüllt worden, doch bedeute das nicht, dass der Anspruch der NS-Bewegung auf die Subordination der staatlichen Gewalt umstandslos verwirklicht worden sei. Vielmehr gingen Staat und Partei eine schwer definierbare Symbiose ein, die heftig umkämpfter Kompromisse bedurfte und erst auf dieser Basis zur Gleichschaltung des politischen wie des sozialen Lebens führte.21 Noch am ehesten wird für Neumann dieses neuartige Gebilde aus alltäglicher Gewalt und bürokratischer Rationalität beschreibbar, wenn man sich an den Weber’schen Begriff der charismatischen Führerherrschaft hält und diesen durch eine ausführliche Bestandsaufnahme der ideologischen Formierung und der praktischen Anwendung der NS-Weltanschauung anreichert. In diesem Sinne rekonstruiert Neumann die Ursprünge der Begriffe Volk und Rasse im deutschen 19. Jahrhundert sowie ihre „Modernisierung“ zum politischen Antisemitismus. An diesem wiederum interessiert ihn vor allem seine ideologische Nutzung für die rechtliche und soziale Diskriminierung der Juden. Der Feinderklärung nach innen entsprechen nach außen die Theorien vom „deutschen Lebensraum“ und von der Überlegenheit der germanischen Rasse, die zur Zerstörung des Völkerrechts taugten und im Zweiten Weltkrieg schreckliche Wirklichkeit wurden. Die Analyse des Wirtschaftssystems ist Neumann ein besonderes Anliegen. Das scharfe Plädoyer für den Primat der Ökonomie und dementsprechend für den fortgesetzt kapitalistischen Charakter des Wirtschaftens unterm National-

20 Zitiert wird hier die deutsche Übersetzung von Gert Schäfer: Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt a. M. 1977. 21 Vgl. Neumann, Behemoth, S. 68–113.

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sozialismus22 führt indes nicht dazu, die großen Umbrüche der 30er und 40er Jahre zu verkennen. Detailliert wird ausgeführt und an der Reorganisation der Wirtschaft im Kraftfeld zwischen Staat und Großindustrie demonstriert, dass sich die machtvoll erstarkende Konjunktur im Nebeneinander und Ineinander von zwei großen Kreisen bewegt: Während der privatkapitalistische Sektor vor allem durch Konzentrationsprozesse und rapide Monopolisierung charakterisiert ist, die exakt dadurch eine ungeahnte Dynamik entfalten konnte, dass die dirigistischen Eingriffe des Staates (vor allem Zwangskartelle, Preiskontrollen und nicht zuletzt die Regulierung des Arbeitsmarktes) für die Steigerung des Profitstrebens eingesetzt wurden, funktionierte der staatliche Sektor zwar direkt als „Befehlswirtschaft“, jedoch ohne dass die gesamte Ökonomie planwirtschaftlich transformiert worden wäre. Im Gegenteil, die eigentliche Pointe von Neumanns Argumentation, die durch ihre Empirienähe besticht, lautet, dass der aus der Logik der Rassenideologie folgende staatliche Eigentumsraub, d. h. die „Arisierung“ der jüdischen Vermögen und die „Germanisierung“ der fremdländischen Industrien, vor allem den privaten Wirtschaftsgiganten zugute kam. In der zweiten Auflage des Buches von 1944, angesichts der fortgeschrittenen Kriegswirtschaft wird dann nicht so sehr die Umkehrung dieses Gedankens erwogen, sondern die Verschmelzung von Politik und Wirtschaft im kollektiven Verbrechen konstatiert: „Die Praktiker der Gewalt werden mehr und mehr Unternehmer und die Unternehmer Praktiker der Gewalt.“23 Der dritte Teil des „Behemoth“ buchstabiert aus, was das soziologisch bedeutet, und entfaltet zu diesem Zweck eine kombinierte Klassen- und Elitentheorie, die später als „Polykratie-Theorie“ bekannt wurde: Neumann sieht in Deutschland eine neue und scharfgeschnittene Herrschaftsstruktur entstanden, die mit direkter Gewalt durchgesetzt wurde und nur mit den aggressivsten Mitteln, mithilfe von Terror und Propaganda aufrechterhalten werden kann. Trotzdem erscheint die herrschende Klasse nicht so sehr als eine einheitliche Formation, sondern als ein wüstes Konglomerat von politischen, sozialen und ökonomischen „Machtklumpen“, deren Interessenkonkurrenz nur mühsam durch die in sich selber gestaltlose Volkstumsideologie überdeckt wird – einig sind sich die Machthaber lediglich in der rücksichtslosen Gewaltanwendung nach innen und außen.24 Den vier organisatorischen Säulen des NS-Regimes – Neumann unterscheidet Partei, Ministerialbürokratie, Wehrmacht und Wirtschaftsverbände – steht die Masse der Bevölkerung macht- und hilflos gegenüber: Wie die Zerschlagung der demokratischen Institutionen zur Zerstörung der autonomen sozialen Milieus in Deutschland geführt hat, so ist jetzt die Arbeiterklasse, die noch in der Weimarer Zeit die stärkste politische Kraft war, dem direkten Diktat des Kapitals und der autoritären Staatsbürokratie ausgeliefert – vom Nationalsozialismus neu geschaffene Zwangsorganisationen wie die „Deutsche Arbeitsfront“ 22 Vgl. ebd., bes. S. 271–286 und 307–313. 23 Ebd., S. 660. 24 Vgl. ebd., S. 423–463.

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sind nur gleißende Fassade, hinter der Lohndumping und Sklavenarbeit stattfinden. Neumanns großangelegte Strukturanalyse der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung mündet in die These, dass die raison d’être des NS-Regimes vor allem in der Zerstörung der rechtlich garantierten Freiheiten greifbar und dass das dadurch entstandene Vakuum des Schreckens gefüllt wird durch Propaganda und Terror – hinter ihr steht der dunkel geahnte Massenmord an den europäischen Juden: Neumann bezeichnete den Nationalsozialismus daher zusammenfassend als „None-state“ und hob damit die chaotischen, die rationellen und zugleich atavistischen Elemente hervor, die dem Regime seine unerhörte Destruktivität verliehen. Der alttestamentarische Mythos des „Behemoth“, den Neumann am Anfang des Buches beschwört und an seinem Ende noch einmal aufgreift, meinte genau dies.25 Unsere knappe Rekonstruktion des „Behemoth“ ist rein immanent geblieben und hat ein komplexes Werk auf wenige Grundgedanken reduziert – mit voller Absicht; denn mir scheint, dass auf diese Weise am besten greifbar wird, was man als einen bemerkenswerten und durchaus widersprüchlichen Doppelbefund festhalten kann und besonders im Verhältnis zur Totalitarismustheorie herausstellen muss. Liest man Neumanns Buch – und parallel dazu die große Zahl der rechts- und politikanalytischen Aufsätze aus dem Institute of Social Research – auf den Totalitarismusbegriff hin, so zeigt sich das folgende Bild: Auf der einen Seite ist der Begriff durchaus geläufig und wird für die Charakterisierung von Politik wie Wirtschaft unterm Nationalsozialismus immer wieder herangezogen, auf der anderen Seite ist er nicht so dominant und sozusagen theoriestiftend, dass er zum „Namensgeber“ des Gesamtsystems aufrücken würde. Anders gesagt: Hat man an vielen Stellen den Eindruck, dass zentrale Denkmuster der späteren Totalitarismustheorie – bis hin zur Merkmalstypologie bei Friedrich und Brzezinski – im reichen Material gleichsam durchschimmern, so gibt es doch starke gegenläufige Tendenzen. Dazu gehört vor allem die Schlusspointe selber, die der synthetischen Absicht dieser ersten Gesamtdarstellung des NS vielleicht am meisten entspricht: sie macht den Gedanken eines perversen, d. h. extrem gewalttätigen Pluralismus stark, der noch das – eben nur scheinbar monolithische – Ideologie- und Terrorsystem selber durchwirkt.26

25 Vgl. ebd., S. 531–550. 26 Dieser für Neumann entscheidende Aspekt wurde detailliert ausgearbeitet von Jürgen Bast, Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analysen der politischen und rechtlichen Struktur der NS-Herrschaft, Tübingen 1999.

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IV.

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Von der Empirie des autoritären Charakters zum methodologischen Liberalismus – Die Studien zur „Authoritarian Personality“

Der dritte große Komplex, in dem sich die Arbeit der frühen Frankfurter Schule manifestiert hat, nimmt erst gegen Ende der 40er Jahre Gestalt an. Zwar gibt es gewisse Kontinuitäten gegenüber der Sozialpsychologie der 30er Jahren, doch interessanter für uns sind die erheblichen Veränderungen, die sowohl mit der institutsinternen Theorieentwicklung als auch mit den unverkennbaren, unter den Kriegsbedingungen sogar noch gesteigerten Anpassungszwängen der Emigranten zu tun hatten. Dieses „amerikanische Jahrzehnt“ stellt sich insgesamt als ein höchst widersprüchliche, aber auch eine produktive Zeit dar: Während Horkheimer zusammen mit Adorno an dem esoterischen Entwurf der „Dialektik der Aufklärung“ schrieb und sich andere Institutsmitglieder um Franz Neumann scharten, um im amerikanischen Geheimdienst einer ziemlich exoterischen Praxis der Politikberatung nachzugehen,27 engagierte sich das Institut gleichzeitig in mehreren Forschungsprojekten, die extern finanziert und nicht zuletzt deswegen bemerkenswert waren, weil die interdisziplinäre Orientierung jetzt nach außen gerichtet und mit den modernsten Forschungsmethoden der empirischen Sozialwissenschaft konfrontiert wurde. Publiziert wurden die Ergebnisse ab 1950 in den fünf Bänden der „Studies in Prejudices“, von denen am folgenreichsten, aber auch am umstrittensten der weitgehend von Adorno verfasste Band über die „Authoritarian Personality“ war. Auf ihn werde ich mich im Folgenden konzentrieren.28 Es ist hier weder nötig noch möglich, die komplizierten methodologischen Probleme zu erörtern, die in den empirischen Verfahren der Studie zu lösen waren. Sie lagen in den Interviewtechniken, im Verhältnis von quantitativer und qualitativer Auswertung und in der Konstruktion der verschiedenen Skalensätze, von denen die wichtigsten die Antisemitismus-, Ethnozentrismus- und schließlich die beide integrierende Faschismus-Skala waren.29 Aussagekräftiger für die hier interessierende Frage nach dem Verhältnis zur Totalitarismustheorie sind zunächst zwei krude Tatsachen, die auf den ersten Blick die vorne genannte Querstellung nur zu bestätigen scheinen: Zum einen war Gegenstand der Untersuchung nicht, wie noch in den 30er Jahren, ein wie immer gearteter Ausschnitt aus einer autoritären oder totalitären Gesellschaft europäischer Prägung, sondern interviewt wurden Angehörige der amerikanischen Mittelschicht. 27 Vgl. dazu meine Dokumentation: Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Staatsdienst, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1976. 28 Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung: Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1973. 29 Die lange Wirkungsgeschichte der Autoritarismusstudien war allerdings in der Tat primär methodologischer Natur und begann mit Richard Christie/Marie Jahoda (Hg.), The Authoritarian Personality: Continuites in Social Research, Glencoe 1954.

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Zum andern war die Untersuchung ausschließlich auf den psychischen und sozialpsychologischen Aspekt gerichtet, und hier noch einmal auf die Latenz bzw. die Potentialität der vorurteilsgesteuerten Charakterdisposition. Es ging also um die gezielte Erfassung der seelischen Eigenschaften und ideologischen Reaktionen der Individuen selber: „Im Mittelpunkt des Interesses stand das potentiell faschistische Individuum, ein Individuum, dessen Struktur es besonders empfänglich macht für antidemokratische Propaganda. Wir sagen ‚potentiell‘, denn wir haben uns nicht mit Personen befasst, die erklärtermaßen Faschisten waren oder bekannten faschistischen Organisationen angehörten.“30 Solch gebrochene Formulierungen sind insgesamt typisch für die vorsichtige Haltung einer Untersuchung, die ihre Fragestellungen an einen engen methodologischen Zaum legt und mehr Sachaussagen testen als Theorien bestätigen will. In der Tat zeigt der Vergleich mit den Texten der 30er Jahre, dass die gesellschaftstheoretische Bindung schrittweise abgebaut und damit auch die strikte Verklammerung mit der marxistischen Kapitalismuskritik zurückgenommen wird. Es ist am ehesten dieser Verzicht auf den großen Theorierahmen, vor dem die eigentliche und originäre Leistung Adornos hervortritt, nämlich die überaus einfühlsame und plastische Interpretation des reichen Interviewmaterials und dessen intensive Aufschlüsselung vor allem durch qualitative Interpretationen. Daraus ging dann nicht nur ein höchst instruktive Beschreibung der Eigenschaften des autoritären Charakters hervor – die wichtigsten waren Aggression und Unterwürfigkeit, Stereotypie und Machtdenken, Destruktivität und Projektivität31 –, sondern schließlich als synthetisches Glanzstück die Ausarbeitung einer breiten und differenzierten Charaktertypologie, die vom extrem vorurteilsbeladenen Faschisten über den manipulativen Typus, den Rebellen und den Spinner bis zum vorurteilsfreien Charakter reichte.32 Wenn es in den 40er Jahren im Theoriedesign der Frankfurter Schule so etwas gibt wie die Rückbildung der gesellschaftstheoretischen Klammer – steckten darin nicht auch Möglichkeiten, in ein anderes, vielleicht sogar ein positives Verhältnis zur Totalitarismustheorie zu kommen? Aufschlussreich für diese Frage ist z. B. eine Formulierung, mit der Adorno den zentralen Seelenmechanismus des vorteilsvollen Charaktertyps herausarbeitet: „Das extrem vorurteilsvolle Individuum neigt zu ‚psychischem Totalitarismus‘, der fast ein mikroskopisches Bild des totalitären Staates ist, den es anstrebt. Nichts kann unberührt bleiben, alles muss dem Ich-Ideal einer starren und hypostasierten Eigengruppe ‚gleichgemacht‘ werden. Die Fremdgruppe, der auserwählte Feind, stellt eine ewige Herausforderung dar. Solange irgendetwas von ihm selbst Verschiedenes übrigbleibt, fühlt sich der faschistische Charakter bedroht, ganz gleich, wie schwach der andere auch sein mag. Es ist, als könne der Antisemit nicht ruhig schlafen, ehe er nicht die ganze Welt zu eben dem paranoiden System umge30 Adorno, Studien zum autoritären Charakter, S. 1. 31 Vgl. ebd., S. 45 ff. 32 Vgl. ebd., S. 303 ff.

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formt hat, von dem er besessen ist; die Nationalsozialisten gingen weit über ihr offizielles antisemitisches Programm hinaus.“33 Interessant an dieser Passage, die durch andere ergänzt werden könnte, ist zunächst das offensichtliche Ineinanderfließen der Begriffe, wenn von den Eigenschaften des faschistischen, totalitären, antisemitischen – und wie die Termini sonst lauten – Charakters gesprochen wird. Sie alle bezeichnen Aspekte, verschiedene Abwandlungs- und Steigerungsformen des einen, des autoritären Charakters, der aber eben als durchaus dynamisch und plastisch verstanden wird. Dass hier vom „totalitären Charakter“ gesprochen wird, ist freilich nicht so zu interpretieren, als wäre die Dominanz des Autoritarismusproblems im Denken der Frankfurter passé und würde durch die Übernahme des Totalitarismusparadigmas ersetzt werden – das ist weder terminologisch noch sachlich der Fall. Was aber die „Authoritarian Personality“ für unseren Kontext besonders interessant macht, ist die beinahe unmerkliche Öffnung eines Tores, durch welches das Totalitarismuskonzept gleichsam einzuwandern beginnt. Dies ist, so hat man den Eindruck, sowohl von innen wie von außen her disponiert: Einmal scheint es eine Anpassung an die zeitgenössische Sprech- und Denkweise im Amerika der späten 40er Jahre zu geben, in der sich das Totalitarismusparadigma gleichsam einbürgert, aber ebenso stark scheint sich eine Bereitschaft von innen, aus der Logik der behandelten Sache heraus zu entwickeln, die hier nichts anderes ist als die Dynamik der Sozialpsychologie, d. h. die „Psycho-Logik“ des Vorurteils selber. Dieser Eindruck kann noch in einer anderen Richtung Bestätigung finden, und zwar mit Blick auf das dritte der oben unterschiedenen Definitionskriterien der klassischen Totalitarismustheorie, nämlich die normative Spiegelung des Konzept in den Grundannahmen der westlich-liberalen Demokratie. Es geht hier um die sensible Frage, welcher Bilder und Begriffe sich Adorno bedient, um sich des normativen Gegenbildes zum autoritären Charakter zu versichern.34 Nicht nur dass die normative Orientierung als solche einigermaßen deutlich herausgestellt wird, widerspricht dem stark antiutopischen, auf resignative Rücknahme der sozialistischen Utopie gerichteten Denkgestus, wie er in der „Dialektik der Aufklärung“ bekanntlich seinen Höhepunkt erreicht. Vielmehr ist ganz offensichtlich, dass es für Adorno – aus methodologischen wie aus politischen Gründen – ein positives Gegenbild geben muss, das in nichts anderem besteht als in den Grundidealen des amerikanischen Liberalismus. Adornos Formulierungen sind in dieser Hinsicht ganz explizit: Wird schon die Ausgangsfrage der Untersuchung ganz klar dahin umformuliert, dass der autoritäre Charakter im Kern über seine antidemokratischen Neigungen definierbar ist, so werden später daraus explizit politikpädagogische Überlegungen abgeleitet, für die Demo33 Ebd., S. 143. 34 Vgl. ausführlicher dazu und generell zu Adornos „amerikanischem Jahrzehnt“ meinen Aufsatz: Adornos Amerika. In: Michael Dreyer / Markus Kaim / Markus Lang (Hg.), Amerikaforschung in Deutschland. Themen und Institutionen der Politikwissenschaft nach 1945, München 2004, S. 201–220.

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kratie nicht nur Mittel, sondern selber ein zentrales Ziel darstellt: „Die Autoren dieser Studie sind der Überzeugung, dass es Sache des Volkes ist zu entscheiden, ob dieses Land zum Faschismus übergeht oder nicht. Mit der Erkenntnis von Wesen und Ausmaß des antidemokratischen Potentials werden, wie anzunehmen ist, Programme für demokratische Aktionen entstehen; sie sollten sich nicht auf Instrumente zur Manipulation der Menschen beschränken, sondern sie zu demokratischerem Verhalten erziehen; sie sollten sich die Stärkung jenes Selbstbewusstseins und jener Selbstbestimmung zum Ziel setzen, die Manipulationen keine Chancen lässt.“35 In solchen Formulierungen war offenbar nicht nur der Wunsch wirksam, aus subtilen wissenschaftlichen Exerzitien politische Nutzanwendungen zu ziehen, sondern sicherlich auch die – aus heutiger Perspektive übersteigerte – Furcht, dass das apokalyptische Szenario von Teilen der Emigrantengemeinde Wirklichkeit werden, d. h. auch die amerikanische Demokratie von einem globalen Faschismus überrannt werden könnte. Doch signifikanter für Adornos Ideenentwicklung ist in diesem Zusammenhang die gegenläufige Regung, gerade weil er noch vor kurzem, in der „Dialektik der Aufklärung“ die schwärzeste Untergangsvision mitinszeniert hatte: Sie wird am deutlichsten in der Schlussnuance seiner Charaktertypologie, dort nämlich, wo als der eigentliche Gegenspieler des autoritären und vorurteilsgetriebenen Charakters nicht der vorurteilsfreie Typus im Allgemeinen, sondern der „genuine Liberale“ auftritt: „Die Befragten dieses Typs besitzen einen starken Sinn für Autonomie und Unabhängigkeit. Einmischungen von außen in ihre persönlichen Überzeugungen vertragen sie nicht, und sie selbst wollen sich auch nicht in die der anderen mischen. Ihr Ich ist gut entwickelt, aber nicht libidinös besetzt. [...] Ein hervorstechendes Merkmal ist Zivilcourage, die oft alle rationalen Bedenken hinter sich lässt. Sie können nicht ‚schweigen‘, wenn Unrecht geschieht, auch wenn sie das ernsthaft in Gefahr bringt. So wie sie selbst ausgeprägte Individualisten sind, sehen sie auch die andern als Individuen und nicht als die Vertreter einer Gattung.“36 So übertrieben es wäre, aus solchen Sätzen die psychoanalytische Beschreibung der amerikanischen Verfassungsideale herauszuhören, d. h. die methodologische Vorsicht in ein politisches Bekenntnis zur westlichen Demokratie umschlagen zu sehen – doch offenbar beginnt sich Ende der 1940er Jahre der extreme Apokalyptiker einer Wertschätzung der politischen Demokratie anzunähern, die in dieser Form ein bemerkenswertes Novum in einer vieldeutigen und, wie sich bald erweisen sollte, einer vielversprechenden Intellektuellenbiografie war.37 Diesen Eindruck jedenfalls erhält man, wenn man den Kulturkritiker der 1930er Jahre vergleicht mit dem Sozialpsychologen zu Ende der 1940er 35 Adorno, Studien zum autoritären Charakter, S. 14. 36 Ebd., S. 353 f. 37 Zu Adornos Anfängen in der Bundesrepublik vgl. meinen Aufsatz: Politischer Kulturalismus? Adornos „Einsatzstelle“ im kulturellen Konzert der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. In: Wolfram Ette/Günter Figal/Richard Klein/Günter Peters (Hg.), Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg 2004, S. 496–518.

Totalitarismustheorie und frühe Frankfurter Schule

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Jahre, der durch die Schule der empirischen Forschung gegangen ist. Während der Erstere in den Synkopen des Jazz die Marschtritte der SS zu hören glaubte und in der Demokratie nur eine Veranstaltung zum kulturellen Massenbetrug sehen konnte, erscheinen dem Zweiten die Ideen des amerikanischen Liberalismus nicht nur als methodisches Apriori der Vorurteilsforschung, sondern als politischer Horizont, der praktische Verbindlichkeit auszustrahlen beginnt. Was jedoch das hier interessierende Verhältnis zur Totalitarismustheorie betrifft, so entwickelt sich daraus keine positive Perspektive: Auch nachdem Adorno in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt war und zu einer Leitfigur des intellektuellen Lebens zu werden begann, kam es zu keiner positiven Rezeption, obschon die Bücher von Hannah Arendt und Friedrich/Brzezinski bald in aller Munde waren.

V.

Zusammenfassung: Von der historischen „Querstellung“ zur hermeneutischen „Öffnung“

Die hier vorgelegte Rekonstruktion des Verhältnisses von Frankfurter Schule und Totalitarismustheorie ist sicherlich in mehrfacher Hinsicht als begrenzt anzusehen: Sie ist wissenschaftsgeschichtlich angelegt, geht sie vom Selbstverständnis des Horkheimer-Kreises in den 30er Jahren aus und blickt von hier aus auf die Totalitarismuskonzeption, die ihrerseits nur in der idealtypischen Form der 50er Jahre referiert wird. Die systematische Frage, die aus heutiger Sicht interessant sein könnte, nämlich ob es konstruktive Beziehungen zwischen beiden Versionen einer kritischen Analyse moderner Diktaturen geben kann und welche dies sein könnten, bleibt im Hintergrund. Man wird sie aber auch nur „gegen den Strich“ der tatsächlichen Entwicklung beantworten können; denn dies ist der ziemlich eindeutige Befund, den unsere historische Auswertung ergibt: Die Frankfurter Schule hat in ihrer formativen Phase eine Totalitarismustheorie nicht entwickelt. Wenn der Begriff verwendet wird, was nur gelegentlich geschieht, so zielt dies nicht auf die Ausbildung einer eigenständigen Theorieebene. Es gibt auch keine einheitliche Semantik des Begriffs, was besonders auffällt, wenn man die außerordentliche Sorgfalt bemerkt, mit der der eigentliche Zentralbegriff der frühen Frankfurter Schule theoretisch ausgearbeitet und empirisch erprobt wird. Dies ist der Begriff des Autoritarismus bzw. die ihn fundierende Sozialpsychologie des autoritären Charakters. Da es aber auch keine negative Rezeption des immerhin schon verfügbaren Totalitarismusbegriffs, jedenfalls keine explizite Ablehnung des Konzepts gibt, wird man die Beziehung zwischen Frankfurter Schule und Totalitarismustheorie am ehesten durch die weitgehende gegenseitige Nichtbeachtung charakterisieren können. Vielleicht sollte man von einer „Querstellung“ sprechen, die sich am Anfang vergleichsweise schroff darstellt, sich im Zeitverlauf jedoch verändert und am Ende gewisse sachliche Überschneidungen, vielleicht sogar systematische Übergänge erkennen lässt.

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Sucht man nach Gründen für diesen Befund, so ist man in erster Linie auf theoriestrategische Zusammenhänge verwiesen, während die politischen eher verdeckt bleiben, jedenfalls von den Protagonisten nicht in den Vordergrund geschoben werden. Der wichtigste Grund lag sicherlich in der gesellschaftstheoretischen Ausprägung und hier noch einmal in der marxistischen, d. h. ökonomistischen Fundierung der Gesellschaftskritik. Der Vergleich oder gar die Gleichsetzung von Faschismus und Bolschewismus – erstes Kriterium der entfalteten Totalitarismustheorie – stand daher zu keiner Zeit im Zentrum, vielmehr dominierte die immanente Analyse des Faschismus, der als Form bürgerlicher Herrschaft begriffen wurde und dessen ideologische Vorbereitung und psychische Erscheinungsformen mit besonderer Sorgfalt erforscht wurden. Diese Konstellation veränderte sich zwar merklich, als mit Neumann und Kirchheimer rechts- und politikanalytische Fragestellungen lanciert wurden – zweites der vorne genannten Definitionskriterien –, jedoch zeigt gerade deren Nationalsozialismusdeutung eine verstärkte Rückbindung der Gesellschaftstheorie an den Marxismus. Auf der andern Seite tauchen jetzt nicht wenige der Stichworte bereits auf, die für die spätere „Politologie“ der totalitären Herrschaft so typisch wurden, z. B. Ideologie und Terror. Was für die Juristen eher als Reminiszenz aus ihrer Weimarer Praxis präsent war: die normative Rückbindung an die Ideen von Rechtsstaat und Demokratie – drittes Definitionskriterium der Totalitarismustheorie –, nimmt eine aufschlussreiche Wende in Adornos Texten aus den späten 40er Jahren: sie werden vom Idol des amerikanischen Liberalismus gleichsam unterwandert! Gerade das letzte Beispiel zeigt das volle Ausmaß an Ambivalenzen und unrealisierten Möglichkeiten, die in der Geschichte der Wissenschaften stecken, zumal wenn man auf ihren politischen und sozialen Kontext achtet. Besonders die Geschichte des politischen Denkens ist keine Einbahnstraße, sondern nach beiden Seiten hin offen. Es ist daher aus heutiger Sicht sehr wohl möglich, nach der gegenseitigen Integrierbarkeit der Konzepte und Theorien zu suchen, für die Frankfurter Schule und Totalitarismustheorie zum Markennamen geworden sind. Selbst die Extrempositionen einer exklusiven Theorie der bürgerlichen Gesellschaft einerseits und einer identifizierenden Version der Totalitarismusanalyse andererseits, die das Verhältnis historisch belastet haben, dürften sich relativieren, wenn man das Offensichtliche zugesteht: einmal dass jede Gleichsetzung den Vergleich voraussetzt und dass zum andern die extremen Diktaturen des 20. Jahrhunderts nur vor dem Hintergrund einer allgemeinen Theorie der Moderne verständlich werden können; und nicht zuletzt hat die neuere Entwicklung der Sozial- und Politikwissenschaften gezeigt, dass gerade für ein Thema von solcher Spannweite der Vergleich selber der beste Weg zu einer soliden Verallgemeinerung ist. In diesem Sinne steht die Beziehung zwischen Kritischer Theorie und Totalitarismusforschung für ein unausgeschöpftes Potential.

III. Theorie und Praxis im Kalten Krieg (1945 bis 1989/90)

Der Totalitarismusbegriff Kurt Schumachers. Politische Intention und praktische Wirksamkeit Mike Schmeitzner Für Schumachers Bild in der Geschichte gilt Friedrich Schillers Diktum über Wallenstein: es schwankt. Sieht man einmal von eher glorifizierenden Darstellungen ab, die politische Weggefährten über den ersten Nachkriegsvorsitzenden der West-SPD abgaben,1 so erscheint das Urteil der Historiker mindestens dreigeteilt: War er für Peter Merseburger ein „großer Moralist, ein Mann von Prinzipien“ und ein „Deutscher von wahrhaft aufrechtem Gang“,2 kam Willy Albrecht schon zu einem differenzierterem Ergebnis: Als „dauerhafte positive Folgen“ seines politischen Wirkens erkannte er Schumachers hervorragenden Anteil an der Bewahrung der Eigenständigkeit der SPD in Berlin und den Westzonen sowie an der Herausbildung der Bundesrepublik Deutschland als eines neuen demokratischen Staates an. Dessen ablehnende Haltung in Bezug auf die wirtschaftliche und militärische Westintegration der Bundesrepublik und manche „Fehldeutungen der Wünsche und Anschauungen“ eines Großteils der Bevölkerung (z. B. in der Frage der Europabegeisterung) wollte Albrecht allerdings nicht ohne Weiteres durchgehen lassen.3 Der jüngeren westdeutschen Historikergeneration (wie Kurt Klotzbach) blieb vor allem Schumachers „maßlos übersteigerte nationale Anspruchshaltung“, seine „fanatisch-unerbittliche Diktion“ und „frontale antikommunistische Agitation“ in Erinnerung.4 Zu einem geradezu vernichtenden Urteil gelangten schließlich Franz Walter und Peter Lösche. In ihren Augen verfehlte die „aggressive Klassenkampfrhetorik des Parteivorsitzenden, seine starre deutschland- und europapolitische Haltung, seine kompromisslose Prinzipienreiterei und die büro1

2 3 4

Vgl. z. B. Arno Scholz, Leben und Leistung. In: Walther G. Oschilewski/Arno Scholz (Hg.), Turmwächter der Demokratie, 3 Bände, Berlin (West) 1952–1954, Band 1, S. 7– 464; Fritz Heine, Kurt Schumacher. Ein demokratischer Sozialist europäischer Prägung, Göttingen 1969; Heinrich G. Ritzel, Kurt Schumacher in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1972. Peter Merseburger, Der schwierige Deutscher. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995, S. 7 f. Willy Albrecht, Kurt Schumacher. Ein Leben für den demokratischen Sozialismus, Bonn 1985, S. 92. Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945–1965, Bonn 1982 (Neuausgabe 1996), S. 69 und 597.

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kratischen Planungs- und Sozialisierungsforderungen seiner Partei [...] gänzlich die Stimmungslage und das Gefühlsleben der ruhebedürftigen und ausgleichsorientierten Bevölkerungsmehrheit der späten vierziger und fünfziger Jahre“.5 Ähnlich vernichtend nimmt sich auch das Urteil Ulla Pleners aus, die sich als DDR-Historikerin bereits vor 1989 mit der Politik des SPD-Vorsitzenden beschäftigt hatte.6 Auch wenn sie in ihren neuesten Veröffentlichungen vor allem Schumachers Frühzeit differenzierter bewertet, kommt sie doch für die Jahre nach 1945 zu dem Schluss, dass der „Antibolschewismus“ und die „Russenfeindlichkeit“ des „Kalten Kriegers“ wesentlich zur Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung und auch Deutschlands beigetragen habe.7 Pleners Verdikt über Schumachers „antikommunistische“ Haltung nach 1945 deckt sich in manchen Punkten mit weiteren Veröffentlichungen der letzten Jahre, die sich auch hier an der Intransigenz des Westzonen-Vorsitzenden stören.8 Andererseits ist es jedoch genau diese energische Haltung, die Biographen wie Merseburger und Albrecht, aber auch Historiker wie Heinrich Potthoff und Hans-Peter Schwarz als bleibende Leistung des SPD-Vorsitzenden anerkennen.9 Im Grunde dreht sich die Debatte um Schumachers antitotalitären Kurs, dem er selbst mit den Formeln von den „rotlackierten Nazis“ (über die KPD/SED) 5 6

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Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 109. Vgl. Ulla Plener, Kurt Schumachers Konzeption der demokratischen Republik – die Grundlage seiner antikommunistischen Politik 1945/46. In: BzG, 8 (1966), Heft 5, S. 802–821; dies., Kurt Schumacher. In: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon, Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1970, S. 415–417. Dies., Der feindliche Bruder: Kurt Schumacher. Intentionen – Politik – Ergebnisse 1921 bis 1952. Zum Verhältnis von Sozialdemokraten und anderen Linken aus historischer und aktueller Sicht, Berlin 2003, S. 81 und 85. Vgl. dazu Harald Lange, Verständnis für den Feind? Kurt Schumacher – eine neue Studie. In: Neues Deutschland vom 24.10. 2003; Kurt Schumacher in der „Schwäbischen Tagwacht“ über Demokratie und Kommunisten. Aufsätze und Redeberichte (1926–1933). Ausgewählt und kommentiert von Ulla Plener zu seinem 100. Geburtstag am 13. Oktober 1995, Berlin 1995. Zur These der Spaltung der Sozialdemokratie durch Vernachlässigung und Abwehr des Berliner SPD-Zentralausschusses 1945/46 vgl. insbesondere Matthias Loeding, Otto Grotewohl kontra Kurt Schumacher: Die Wennigser Konferenz im Oktober 1945, Hamburg 2004; ders., Politische Weichenstellung im Vorfeld der SED-Gründung. Der Zentralausschuss der SPD, Kurt Schumacher und die sozialdemokratischen Konferenzen in Wennigsen und Hannover am 5./6. Oktober 1945. In: DA, 5 (2006), S. 841–850. Vgl. Merseburger, Der schwierige Deutsche, S. 316 f.; Albrecht, Kurt Schumacher, S. 45 (mit Einschränkungen) und 92; Heinrich Potthoff, Kurt Schumacher. Sozialdemokraten und Kommunisten. In: Dieter Dowe (Hg.), Kurt Schumacher und der „Neubau“ der deutschen Sozialdemokratie nach 1945. Referate und Podiumsdiskussion eines Kolloquiums des Gesprächskreises Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 12./13. Oktober 1996 (Gesprächskreis Geschichte Heft 13), S. 133–148; Wortmeldung Hans-Peter Schwarz. In: ebd. (Podiumsdiskussion), S. 156–160. In ihrer Studie über die SPD erwähnen übrigens Walter/Lösche Schumachers Verhältnis zum Kommunismus und zur sowjetischen Politik mit keinem Wort; beide (durchaus wesentliche) Aspekte der Nachkriegszeit kommen bei ihnen nicht vor.

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und dem „östlichen Totalitarismus“ (über die Sowjetunion) besondere Schärfe verliehen hat. Im Folgenden soll deshalb das Augenmerk auf Schumachers Auffassungen von Demokratie und Diktatur sowie sein daraus abgeleiteter, aus der Konfrontation mit extremistischen Parteien resultierender Totalitarismusbegriff gelegt werden. Es wird zu hinterfragen sein, wann genau und auf welchem konkreten historischen Hintergrund sich eine solche Denkfigur entwickelte. Dabei sollen konsequenterweise Schumachers Weimarer Grunddispositionen, die geistige Verarbeitung der kommunistischen Parteieinheitskampagnen und der sowjetischen Bedrohung in den Blick genommen werden.

1.

Die „Feinde der Demokratie von links und rechts“: Schumachers Grunddispositionen in der Weimarer Republik

Schumachers Weg an die Spitze der (west)deutschen Sozialdemokratie folgte nicht den tradierten Mustern des sozialdemokratischen Arbeiter- oder Gewerkschaftsführers, den seine soziale Lage zur politischen „Einsicht“ brachte. Der Akademiker aus bürgerlich-liberalem Elternhaus, der sich in den August-Tagen des Ersten Weltkrieges 19-jährig zu den Waffen meldete, fand erst nach einer schweren Frontverletzung und während seines Studiums der Staatswissenschaften zur Sozialdemokratie. Dass er diesen Schritt Anfang 1918 – also noch vor der Novemberrevolution – unternahm und zielgerichtet Mitglied der MehrheitsSPD (MSPD) wurde, hatte mit zwei Faktoren zu tun: Er wollte Mitglied einer Partei werden, die sich bei Kriegsausbruch zu den „Ideen von 1914“, zum Staat an sich und von da an auch zur Burgfriedenspolitik der kaiserlichen Führung bekannte. Schumachers damaliges Bekenntnis zum Staatssozialismus basierte zu einem nicht geringen Teil auf den Einfluss seines akademischen Lehrers Johann Plenge, der die MSPD im „neu-marxistischen“ (sprich: staatssozialistischen) Geist zu profilieren versuchte. Bei Plenge promovierte Schumacher schließlich 1920 mit dem nahe liegenden Thema „Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie“, in der er der individualistischstaatsverneinenden Linie (von Marx bis Luxemburg) die staatsbejahende (von Lassalle bis Cunow) gegenüberstellte und sich selbst zur letzteren bekannte.10 Auf die Tatsache, dass dem jungen „Neo-Lassalleaner“ in der ersten Zeit der Staat weit wichtiger erschien als die (parlamentarische) Demokratie (im Gegensatz zu Lassalle), haben Ulla Plener wie auch Volker Schober, der Biograph des jungen Schumacher, jüngst aufmerksam gemacht.11 Erst Ende 1920, nach seinem Umzug nach Stuttgart und der dortigen Anstellung als politischer Redakteur der mehrheitssozialistischen „Schwäbischen Tagwacht“, entwickelte sich der Jungpolitiker zum überzeugten Demokraten. Die Themen, die ihn dorthin 10 Vgl. Volker Schober, Der junge Kurt Schumacher 1895–1933, Bonn 2000, S. 73–136. 11 Vgl. Plener, Der feindliche Bruder, S. 17 ff.; Schober, Der junge Schumacher, S. 126 ff. und 135.

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führten, waren zum einen die damals scharf geführte sozialdemokratische Auseinandersetzung mit den russischen Bolschewiki über den „richtigen“ Weg zum Sozialismus – Einparteidiktatur oder demokratischer Sozialismus – und zum anderen die innerparteiliche Debatte um das neue mehrheitssozialistische Grundsatzprogramm, das 1921 in Görlitz angenommen wurde. Schumacher gehörte nach Kritik am ersten Entwurf zu den Befürwortern einer Endfassung, in der sich die MSPD unzweideutig zum demokratischen Staat von Weimar bekannte. Diese Fassung verteidigte er bald ebenso hartnäckig im eigenen Kreis wie das grundsätzliche Bekenntnis zur Koalition mit bürgerlich-demokratischen Parteien, was selbst in der MSPD heftig umstritten war.12 Vor diesem Hintergrund und weiteren konkreten Erfahrungen auf der regionalen und zentralen Ebene schälte sich bei ihm bis 1933 eine anti-extremistische Haltung heraus, die bereits 1923 deutliche Züge erhielt. Maßgebend dafür war die konkrete Zusammenarbeit von Kommunisten und Nationalsozialisten in Stuttgart, dem Arbeitsfeld des jungen Schumacher. Zwar hatte sich der Sozialdemokrat schon des Öfteren mit der Politik und Ideologie der beiden extremistischen Partei in teils offen polemischen Artikeln auseinandergesetzt,13 doch sah er sich im Sommer 1923 mit einer bislang nicht für möglich gehaltenen Konstellation konfrontiert: Im Krisenjahr der Republik, in dem sowohl die KPD als auch die NSDAP einen für sie günstigen Zeitpunkt erblickten, die deutsche Demokratie aus den Angeln zu heben, versuchte die KPD mit ihrem „Schlageter-Kurs“14 auch an bislang nicht erreichte nationalistische und völkische Schichten der Bevölkerung heranzukommen. Nach Otto Wenzel, dem Chronisten der „gescheiterten deutschen Oktoberrevolution“ von 1923, gelang es den Kommunisten „nur in einigen Versammlungen in Thüringen und in Württemberg“, Kontakt „mit Teilen der NSDAP“ zu bekommen. Am „bemerkenswertesten“, so Wenzel, waren dabei die „Vorgänge in Stuttgart, wo die Kommunisten am 2. August in einer von der NSDAP einberufenen öffentlichen Versammlung [...] einen 40-minütigen Diskussionsbeitrag ihres Reichstagsabgeordneten Remmele durchsetzen konnten“. Hermann Remmele drückte den Völkischen seine Hochachtung aus, betonte aber gleichzeitig, dass die „Zerreißung des Versailler Vertrages nur über der Bahre des deutschen Kapitalismus erfolgen könne“. Als eine 12 Vgl. ebd., S. 135, 163 ff., 189 ff.; Albrecht, Kurt Schumacher, S. 14. 13 Vgl. Schober, Der junge Schumacher, S. 163 ff. und 171 ff. Im ersten Jahr seiner Redaktionstätigkeit gebrauchte Schumacher in Artikeln über die Bolschewiki eine Sprache, die häufig Sachlichkeit vermissen ließ; so etwa, wenn er im März 1921 über die russische KP schrieb, dort habe sich der „ganze Schmutz der Welt zusammengeschwemmt“. In den folgenden Jahren vermied er solche Töne. Zit. nach ebd., S. 165. 14 Die im Frühsommer 1923 gehaltene Rede des Komintern-Emissärs Karl Radek, in dem er den von Franzosen erschossenen Freikorps-Kämpfer Albert-Leo Schlageter glorifizierte, leitete den so genannten „Schlageter-Kurs“ der KPD ein. Von diesem Kurs erhoffte sich die Partei eine Unterstützung ihrer revolutionären Linie in den Mittelschichten. Dies ging soweit, dass bekannte Vertreter der Deutsch-Völkischen sogar im KPDZentralorgan „Rote Fahne“ veröffentlichen konnten. Vgl. Louis Dupeux, Nationalbolschewismus in Deutschland 1919–1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985, S. 178–205.

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Woche später Kommunisten und Nationalsozialisten noch einmal das Podium teilten, erklärte ein weiterer KPD-Funktionär sogar, dass ein Bündnis mit den Völkischen „nicht so abwegig sei wie mit den Sozialdemokraten“.15 Es war diese konkrete Situation, die Schumacher zutiefst empörte und prägte, wie sein Biograph Schober eindrücklich nachweisen kann. Der sozialdemokratische Politiker erlebte den rhetorischen Brückenschlag von Nationalsozialisten und Kommunisten aber auch direkt als Versammlungsredner der SPD, für die er gerade 1923 so häufig im Einsatz war. In einer dieser Versammlungen traten Kommunisten im Sinne des „Schlageter-Kurses“ für ein „Bündnis mit den Faschisten zu Gunsten Sowjetrusslands ein“. In seiner Antwort geißelte Schumacher „die Unzuverlässigkeit der Kommunisten im Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten und wies auf den Zusammenhang zwischen der Herrschaft des Faschismus und dem kommunistischen Terrorismus hin“.16 In seiner „grundsätzlichen Beurteilung der Rolle der KPD und der NSDAP [...] zur Weimarer Demokratie“ war sich Schumacher seit diesen Erfahrungen sicher, und er sah auch künftig keinen Grund, seine antiextremistische Auffassung bis 1933 in irgend einer Weise zu revidieren.17 Es war demnach kein Zufall, dass der 28-jährige Politiker noch 1923 zu den Initiatoren der sozialdemokratischen Wehrorganisation „Schwabenland“ zählte, die ein Jahr später im neu gegründeten Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, dem Wehrverband der deutschen Demokraten, aufging. Die Formel vom Kampf gegen die „Feinde der Demokratie von links“ und die „Feinde der Demokratie von rechts“ gehörte bald zu den stehenden Wendungen, die der württembergische Reichsbannerführer auf öffentlichen Versammlungen gebrauchte.18 Mehr noch als in seiner Tätigkeit als Reichsbannerführer und Parlamentarier19 setzte sich Schumacher allerdings als Redakteur der „Schwäbischen Tagwacht“ mit den Feinden der Demokratie auseinander. Im Mittelpunkt seiner Erörterungen standen vor allem die UdSSR und die KPD, wobei er letztere nie als eigenständige Kraft wahrnahm, sondern als einen von Moskau organisatorisch und ideologisch abhängigen Faktor. Typisch für Schumachers Betrachtungsweise war sein Hinweis, wonach die KPD ein „Pfahl im Fleisch der Arbeiterbewegung“ sei; typisch auch seine (voreilige) Schlussfolgerung, dass der jetzt vorwaltende „geistlose Mechanismus“ der Stalinschen Diktatur zu einem baldigen Ende dieses Regimes und damit auch zum Ende der KPD führen müsse: „Erst wenn in Russland selbst die Macht der Verhältnisse die Beseitigung der Diktatur, die Schaffung eines demokratischen Regimes erzwungen hat, wird auch in Deutsch15 Otto Wenzel, 1923. Die gescheiterte deutsche Oktoberrevolution. Mit einer Einführung von Manfred Wilke, Münster 2003, S. 120. 16 Schober, Der junge Kurt Schumacher, S. 196. 17 Ebd. 18 Bericht von der Reichsbannerweihe in Feuerbach (Gau Württemberg). In: Reichsbanner, Nr. 14 vom 15. 7.1929, S. 4. 19 Schumacher war 1924–1931 Landtagsabgeordneter und 1930–1933 Reichstagsabgeordneter der SPD.

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land der letzte Rest des naiven militaristisch-utopischen Denkens aus der kommunistischen Zeit verschwunden sein.“20 Überzeugt davon, dass die „Leitung eines modernen Staates“ diktatorisch zu begründen ein „Widersinn“ sei und „mit keiner ‚Idee‘ gerechtfertigt“ werden könne,21 versuchte er frühzeitig, einen Zusammenhang zwischen rechts- und linksextremistischen Diktaturen zu erkennen. So konstatierte er bereits Ende der 1920er Jahre „soziologisch, seelisch, methodologisch und staatsrechtlich die stärksten Ähnlichkeiten zwischen Faschismus und Bolschewismus“,22 während er andererseits die Abhängigkeit der Extremismen untereinander betonte: „Fast überall“, so Schumacher, „wo moskowitischer Putschismus den Boden dafür aufgelockert“ habe, stehe „seit Jahren der Terror bourgeoiser Klassenkampfdiktaturen in üppigster Blüte: auf dem Balkan, in Ungarn und vor allem in Italien“.23 Faschistische Parteien, so sein Fazit, profitierten am stärksten von kommunistischen Umsturzversuchen, schwächten diese doch die demokratische Arbeiterschaft und jene Teile des Bürgertums, die sich dem demokratischen Gedanken verpflichtet fühlten. Im indirekten Zusammenspiel beider extremistischer Faktoren erblickte er also lange vor der Krise der deutschen Republik die entscheidende Bedrohung für die Demokratie. Solche Gedankengänge gehörten in der Weimarer Sozialdemokratie zwar nicht zum Allgemeingut der Funktionsträger, nur markierte der Stuttgarter SPD-Vorsitzende in dieser Frage auch keine Sonderposition: Zweifellos stand er in der geistigen Tradition des frühesten sozialdemokratischen Bolschewismuskritikers Karl Kautsky, was in manchen Aussagen mehr als deutlich wird.24 Als sich mit Beginn der Weltwirtschaftskrise auch in Deutschland der Vormarsch der beiden extremistischen Parteien abzeichnete, durfte sich Schumacher bestätigt fühlen. Der sturmflutartig anwachsenden NS-Bewegung galt von 20 Kurt Schumacher, Die Krise der KPD. In: Schwäbische Tagwacht vom 28. 8.1926 (nicht gezeichneter Leitartikel). Zit. nach Plener, Kurt Schumacher in der „Schwäbischen Tagwacht“, S. 19. 21 Kurt Schumacher, Zu neuen Kämpfen im neuen Jahr. In: ebd. vom 31.12.1926 (nicht gezeichneter Leitartikel). Zit. nach ebd., S. 24. 22 Kurt Schumacher, Ein Jahr internationale Politik. In: ebd. vom 31.12.1929 (Artikel, gez. sch.). Zit. nach ebd., S. 112. Als eines der wesentlichen übereinstimmenden Merkmale nannte Schumacher die „absolute Parteiherrschaft“. 23 Kurt Schumacher, Weltpolitik 1927. In: ebd. vom 30.12.1927 (Leitartikel, gez. sch.). Zit. nach ebd., S. 35. 24 Das trifft insbesondere für Aussagen und Analysen zu, die Kautsky in seinen in den zwanziger Jahren erschienenen Schriften nannte. Er hatte dort u. a. vom „weißen oder roten Faschismus“ gesprochen und erklärt, dass das sowjetische Regime „schlimmer sogar als das infame Regime Horthys in Ungarn oder Mussolinis in Italien“ sei. Karl Kautsky, Maifeier und Internationale. In: Vorwärts vom 1. 5.1923; ders., Die Internationale und Sowjetrussland, Berlin 1925, S. 175. Dass Schumacher auch die allermeisten der zuvor erschienenen Werke Kautskys kannte, wird durch einen Blick auf den Anmerkungsapparat und die Bibliographie seiner Doktorarbeit deutlich. Vgl. Kurt Schumacher, Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie. Hg. von Friedrich Holtmeier, mit einem Geleitwort von Herbert Wehner, Stuttgart 1973, S. 137–142.

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nun an seine größte Aufmerksamkeit: Schon früh hatte er den antisemitischen Kern der NSDAP beschrieben25 und die Errichtung einer „rohen Diktatur“ als den „einzigen Wesenszug des Faschismus“ erkannt.26 In seiner berühmten und viel zitierten Anti-Goebbels-Rede im Reichstag erklärte er Anfang 1932 voller Verachtung: „Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist.“27 Von der KPD erwartete er in diesem Ringen keine wirksame Bündnishilfe: Erwies sich doch die Partei durch ihre vollständige Stalinisierung als ein „willenloses Werkzeug in der Hand der Moskauer Machthaber“28 und mit der Umsetzung der von Moskau vorgegebenen Sozialfaschismus-Kampagne gegen die SPD als der andere – linke – Totengräber der Republik.29 Vor diesem Hintergrund ist jene bekannte Rede zu sehen, die Schumacher 1930 auf der Gaukonferenz des württembergischen Reichsbanners in Esslingen hielt. In seinem Referat „Kommunismus, Faschismus, Reichsbanner“ bezeichnete er erstmals die Kommunisten als „rotlackierte Doppelausgaben der Nationalsozialisten“.30 Beiden gemeinsam sei „der Hass gegen die Demokratie und die Vorliebe für die Gewalt“.31 Die zur Gleichsetzung neigende Formel von den „rotlackierten Doppelausgaben“, die inhaltlich und rhetorisch den Begriff der roten und braunen „Zwillingsbrüder“ vorwegnahm, den ein Jahr später Otto Wels und Rudolf Breitscheid in die Öffentlichkeit lancierten,32 bezog sich zum einen auf die Diktaturparteien KPD und NSDAP, zum anderen berührte sie jenes Zusammenspiel der Extremismen, von dem Schumacher schon einmal Jah25 26 27 28

Vgl. Schober, Der junge Schumacher, S. 174 f. Schumacher, Zu neuen Kämpfen im neuen Jahr, S. 24. Zit. nach Albrecht, Kurt Schumacher, S. 28. Kurt Schumacher, Zehn Jahre KPD. In: Schwäbische Tagwacht vom 3.1.1929 (Leitartikel, nicht gez.). Zit. nach Plener, Kurt Schumacher in der „Schwäbischen Tagwacht“, S. 63. 29 Zum Thema grundlegend: Hermann Weber, Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929–1933, Düsseldorf 1982; Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1930–1933, Bonn 1990. 30 Verstreute Hinweise Ulla Pleners lassen erkennen, dass diese Formel wohl auf Vorformen beruhte: So hatte Schumacher in einem Leitartikel von 1921 die russischen Bolschewiki schon einmal als „rotübermalte Panslawisten“ und 1929 die sowjetische Rüstung als „rotlackierten Militarismus“ bezeichnet. Plener, Der feindliche Bruder, S. 61; dies., Kurt Schumacher in der „Schwäbischen Tagwacht“, S. 198. 31 Zit. nach Albrecht, Kurt Schumacher, S. 25. 32 Auf dem letzten SPD-Reichsparteitag in Leipzig 1931 hatte der Vorsitzende Wels erklärt: „Bolschewismus und Faschismus sind Brüder. Sie basieren auf der Gewalt, auf der Diktatur, mögen sie sich noch so sozialistisch und radikal gebärden. Ohne Freiheit des politischen Willens, ohne Freiheit der Meinung, der Presse und der Organisation sind sie und müssen sie bleiben Zerrbilder des Sozialismus.“ Der Fraktionsvorsitzende Breitscheid kam zu dem Schluss: „Während das Sowjetsystem die Demokratie im Namen der Arbeiterklasse bekämpft, wendet sich der Faschismus gegen die Demokratie – ausgesprochenermaßen oder nicht – im Interesse der Erhaltung des Kapitalismus.“ Protokoll über die Verhandlungen des SPD-Parteitages Leipzig 1931, Leipzig 1931, S. 19 und 88.

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re zuvor gesprochen hatte: Der „Weg der leider ziemlich zahlreichen proletarischen Hakenkreuzler“ gehe „über die Kommunisten“,33 womit er die KPD als den radikalisierenden Faktor bezeichnete, was sicherlich nur teilweise der Realität entsprochen haben dürfte. Dieser Ansicht und der „neuen Phase der Anti-Nazi-Propaganda“34 entsprach im Übrigen ein Wahlplakat, das die württembergische SPD 1932 in Umlauf brachte und Kommunisten und Nationalsozialisten als „Kommu-Nazi“ bezeichnete. Beide, so der Schumacher-Tenor, „kämpfen gemeinsam“: der „gleiche Terror, die gleichen Lügen, die gleiche Hetze, der gleiche Hass eint sie, [...] beide unterwühlten Republik und Demokratie. [...] Die Kommunisten haben dem Faschismus den Weg bereitet“.35 Auch wenn für Schumacher die NSDAP der Hauptgegner blieb, gegen den er noch kurz vor Hitlers „Machtergreifung“ deutschlandweit zu Felde zog,36 war ihm doch klar, dass KPD und NSDAP „im Hinblick auf die Stellung zu Demokratie und politischer Gewalt“37 deutliche Gemeinsamkeiten aufwiesen, und es sich bei der KPD zudem um eine von der Moskauer Komintern abhängige Partei handele, die keine eigene deutsche Politik gestalten könne. An dieser Überzeugung hielt Schumacher auch im Dritten Reich, ja selbst während seiner zehnjährigen Haft in mehreren Konzentrationslagern, fest. Die Solidarität mit den kommunistischen Häftlingen war für ihn nur die eine Seite der Medaille, die Ablehnung des Parteikommunismus die andere. Und in diesem Punkt fühlte er sich nach Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes 1939 einmal mehr bestätigt.38

33 Zit. nach Albrecht, Kurt Schumacher, S. 25. 34 Vgl. Walter Gyßling, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 und Der Anti-Nazi: Handbuch im Kampf gegen die NSDAP, Hg. und eingeleitet von Leonidas E. Hill. Mit einem Vorwort von Arnold Paucker, Bremen 2003, S. 128 ff. 35 Die Kommu-Nazi. Wahlplakat der württembergischen SPD von 1932 (?). In: Anschläge. Politische Plakate in Deutschland 1900–1970. 166 Blätter in den Druck- und Papierfarben der Originale, Hg. und kommentiert von Friedrich Arnold, Ebenhausen 1972. Schumachers geistige Handschrift wird u. a. auch in der Passage über den Zusammenhang von kommunistischen Putsch(versuchen) und faschistischer Machteroberung deutlich. Da hieß es: „Die Kommunisten haben dem Faschismus den Weg bereitet. So war es in Ungarn, wo der blutige Horthyfaschismus auf die Komödie proletarischer Diktatur folgte, so in Italien, wo Mussolinis Aufstieg erst nach der kommunistischen Besetzung der Betriebe erfolgte, so in Bayern, wo die Hitlerbewegung nur durch die Rätebewegung möglich wurde.“ 36 So z. B. am 22. Januar 1933 auf einer Massenkundgebung der Eisernen Front in Chemnitz. Vgl. Chemnitzer Volksstimme vom 23.1.1933. 37 Schober, Der junge Schumacher, S. 471. 38 Vgl. Albrecht, Kurt Schumacher, S. 35 f.; Merseburger, Der schwierige Deutsche, S. 166–194; Plener, Der feindliche Bruder, S. 65–80. Durch Plener, die ausführlich Beweise der Solidarität nennt und auch über „Freunde unter Kommunisten“ berichtet, ist eine Stellungnahme Schumachers überliefert, die er unmittelbar nach Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Paktes in einer Lagerdiskussion zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten abgegeben haben soll: „Dies ist die Verschmelzung zwischen Rot und Braun“ (ebd. S. 71).

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2.

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Sozialdemokraten und Kommunisten nach 1945 oder: die Herausbildung von Schumachers Totalitarismusbegriff

Wenn man von Konstanten im Denken Schumachers sprechen kann, dann wohl in erster Linie mit Blick auf die KPD und die UdSSR, die seit Mai 1945 erstmals auf einen Teil Deutschlands Zugriff hatten. Für Schumacher – und nicht nur für ihn allein – war seit 1918 die „Scheidung“ zwischen SPD und KPD „endgültig“ – trotz einer zunächst auch in den Westzonen verbreiteten „Stimmung nach antifaschistischem Konsens und Einheit der Arbeiterklasse“.39 Zu groß schienen die Differenzen zwischen seiner Partei, der SPD, die vor 1933 und 1945 erneut das Prinzip der innerparteilichen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und persönlichen Freiheit hochhielt, und der KPD, die sich auch nach Kriegsende als Partei des Marxismus-Leninismus einschließlich des „demokratischen Zentralismus“ rekonstituierte. Die erneute Bindung der KPD an die Sowjetunion wurde dabei nicht nur durch ihre Moskau-Kader offenkundig, die die Führung der neuen Partei wie selbstverständlich übernahmen, sondern ebenso durch die Scharnierfunktion, die die deutschen Kommunisten für die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) spielten.40 Schon in seiner erster Rede, die er in seiner neuen Wahlheimat Hannover hielt, lehnte Schumacher am 6. Mai 1945 die Bildung einer Einheitspartei mit seinem bekannten Argument von den „machtpolitischen Gegebenheiten und [...] außenpolitischen Bindungen“ ab: Die „Trennungslinie“ sei „dadurch gezogen, dass die Kommunisten fest an eine einzige der großen Siegermächte und damit an Russland als Staat und an seine außenpolitischen Ziele gebunden“ seien.41 Von ebenso großer, wenn nicht entscheidender Bedeutung erwies sich für ihn mit Blick auf die KPD das Prinzip der Demokratie. Bereits in seinem AugustAufruf und stärker noch in seinen „Politischen Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren“ (August 1945) machte er die Konturen seines Demokratieverständnisses deutlich. Noch im Aufruf erklärte er selbstbewusst, dass die SPD die einzige Partei in Deutschland sei, deren Politik „der Demokratie und des Friedens die Probe vor dem Richterstuhl der Ge39 Potthoff, Kurt Schumacher, S. 133. 40 Vgl. Mike Schmeitzner/Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945–1952, Köln 2002; Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hg.), „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994; Mike Schmeitzner, „Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei sein, sondern sie will Staatspartei sein.“ Die KPD/SED und das politische System der SBZ/DDR (1944–1950). In: Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Clemens Vollnhals (Hg.), Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955, Göttingen 2006, S. 271–311. 41 Rede Schumachers vor sozialdemokratischen Funktionären Hannovers am 6. 5.1945. In: Willy Albrecht (Hg.), Kurt Schumacher. Reden – Schriften – Korrespondenzen 1945–1952, Bonn 1985, S. 229.

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schichte“ bestanden habe. Daraus folgte für ihn das Bekenntnis, das die Demokratie für demokratische Sozialisten ein „unverrückbares und unverzichtbares Prinzip“ darstelle. Allerdings dürfe sich im Gegensatz zur Weimarer Zeit Demokratie nicht nur auf den politischen Raum beschränken; sie müsse das „ganze gesellschaftliche und kulturelle Leben durchdringen“.42 Der Aufbau einer neuen „modernen Demokratie“ könne nur über einen Parteienstaat und freie demokratische Wahlen erfolgen.43 Eine Entmachtung und Sozialisierung des Großkapitals sei dabei für die Sicherung der neuen Demokratie unverzichtbar, habe doch das „große Geld“ bei der Errichtung und Etablierung des Dritten Reiches entscheidende Hilfe geleistet. Für die SPD beanspruchte Schumacher in der Folge einen Führungsanspruch, der vielleicht aus historisch-moralischer Perspektive verständlich erschien, aber vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Neuordnung des Parteiensystems keine Rechtfertigung finden konnte. Auch wenn die SPD bis 1933 die einzige ernsthafte Sachwalterin der demokratischen Republik gewesen war und die Konservativen (DNVP) die NSDAP mit an die Macht gebracht und die KPD ihr in die Hände gespielt hatten, durften CDU/ CSU und Liberale (LDP/FDP) als neue demokratische Kräfte angesehen werden. Doch es war nicht dieser Punkt, der für Schumachers Analysen so wichtig erschien, es war das Verhältnis der KPD zur Demokratie, das der bald führende Mann der Westzonen-SPD in den Mittelpunkt seines strategischen Denkens stellte. Natürlich erinnerte Schumacher eindringlich an den kommunistischen Anteil an der Zerstörung der Weimarer Republik und selbstverständlich hob er wiederholt die sichtbare Bindung der KPD an die Sowjetunion hervor. Obwohl er keine „antikommunistische und noch weniger eine antirussische Spitze“ seiner Politik wünschte und eine pragmatische Zusammenarbeit zur Überwindung der Kriegsfolgen durchaus für notwendig und gerechtfertigt hielt, riet er von der Einheitspartei und Sonderabkommen mit den Kommunisten ab.44 Dafür machte er das taktische Demokratieverständnis der Kommunisten geltend, das am 11. Juni 1945 in ihrem Volksfrontprogramm zum Ausdruck gekommen war. Ohne die viel weiter gehenden Moskauer Exil-Planungen der Kommunisten um Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck gekannt zu haben, zog Schumacher in seiner gründlichen Kritik des kommunistischen Aufrufes die demokratische Wandlung der KPD in Zweifel. Für ihn, so Schumacher, käme das demokratische Bekenntnis der KPD jedenfalls „überraschend“. Er betonte in diesem Zusammenhang, dass für die SPD die Demokratie ein Prinzip sei. Auf die Kommunisten gemünzt, erklärte er, man werde jene Leute, die die „Demokratie als eine Frage der Taktik“ betrachten, „erst einer gewissen Periode der Quarantä42 Erster Aufruf des „Büros Dr. Schumacher“ an die Bevölkerung: „Die Sozialdemokratie ruft: Für ein neues besseres Deutschland!“ von Mitte August 1945. In: ebd., S. 252 f. 43 Kurt Schumacher, Politische Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren vom 25. 8.1945. In: ebd., S. 262 ff. 44 Ebd., S. 278.

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ne und der Beobachtung“ unterziehen. In dieser Periode müssten sie sich „praktisch auf ihre demokratischen Qualitäten hin bewähren“. Angesichts der Tatsache, dass die Führung der Exil-KPD in Moskau das Postulat der „demokratischen Republik“ tatsächlich nur aus taktischen Gesichtspunkten gewählt hatte, um in einer ersten Phase in ganz Deutschland reüssieren zu können, war Schumachers Skepsis mehr als begründet. Völlig zu Recht wies der SPD-Führer auch darauf hin, dass es „auf die Dauer unhaltbar“ sei, wenn in dem einem Land (hier meinte er die Sowjetunion) die „Diktatur theoretisch und real“ herrsche, in einem anderen (und hier meinte er die SBZ) jedoch „von derselben Richtung die Demokratie mit der ganzen Begeisterung der Neubekehrten verkündet“ werde.45 Der Satz des KPD-Aufrufes, der Schumachers besondere Skepsis hervorrief, betraf die zentrale Aussage, die Kommunisten seien der Auffassung, „dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg“ entspräche „nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland“. Diesen Satz, der von nicht wenigen Politikern damals als Beleg für die demokratische Wendung der KPD betrachtet wurde,46 kehrte Schumacher gegen die Kommunisten selbst: Die KPD also würde ein Sowjetsystem zwar nicht unter den gegenwärtigen, wohl aber unter den zukünftigen Entwicklungsbedingungen für möglich und sogar für erstrebenswert halten. Seine Schlussfolgerung, hier werde das „Prinzip der Diktatur nicht negiert, sondern als das höhere Prinzip für eine zukünftige Eventualität zurückgestellt“, sollte sich mit Blick auf die kommunistische Diktaturdurchsetzung in der SBZ geradezu als prophetisch erweisen.47 Ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Kommunisten die Demokratie nur taktisch betrachteten, erblickte Schumacher in der sogenannten Blockpolitik der KPD, wie sie in der SBZ bereits mit einem „antifaschistischen Block der Parteien“ seit Juli 1945 existierte. Versuche der Kommunisten, solche „überparteilichen Organisationen“ zu etablieren, mit denen die SPD oder andere Parteien gebunden wären, die KPD aber „freie Hand zur Führung bekäme“, lehnte er als unvereinbar mit dem demokratischen Prinzipien ab.48 In dieser Analyse traf sich Schumacher mit den Repräsentanten des sozialdemokratischen Exils in London, in erster Linie mit dem letzten gewählten SPDVorsitzenden Hans Vogel und Funktionären wie Erich Ollenhauer. Auch sie lehnten eine Einheitspartei, bestimmte Sonderabkommen mit den Kommunisten und das politische System der SBZ entschieden ab, wobei sie ihre ablehnende Haltung auf einen wesentlich größeren (weil exilbedingten) Erkenntnishori-

45 Ebd. 46 Die Führung der neu gebildeten Ost-SPD reagierte auf diese scheinbare Wende der KPD überwiegend positiv. Vgl. Günther Benser, Die KPD im Jahre der Befreiung. Vorbereitung und Aufbau der legalen kommunistischen Massenpartei (Jahreswende 1944/45 bis Herbst 1945), Berlin (Ost) 1985, S. 159 und 173 ff. 47 Schumacher, Richtlinien, S. 278. 48 Ebd., S. 280.

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zont zu stützen vermochten.49 Während man also in London und Hannover in diesen gravierenden Fragen übereinstimmte, vertrat das dritte sozialdemokratische Zentrum – der Berliner Zentralausschuss (ZA) – eine diametral andere Sicht: Nicht nur, dass führende Mitbegründer dieses Zirkels, allen voran Gustav Dahrendorf, Otto Grotewohl und Max Fechner, den aus Moskau eingeflogenen KPD-Führern um Walter Ulbricht bereits ab Mai 1945 die Gründung einer Einheitspartei angeboten hatten, sie verankerten nach der taktisch motivierten Ablehnung durch die KPD das Ziel der organisatorischen Einheit der Arbeiterbewegung in ihren SPD-Aufruf, der am 15. Juni 1945 in Berlin erschien. Mit dieser programmatischen Bindung sowie dem Eintritt in den sozialdemokratisch-kommunistischen Aktionsausschuss und dem Block der antifaschistischen Parteien hatten sie wichtige Prämissen der KPD-Exil-Planungen erfüllt – so z. B. die Schaffung einer Einheitsfront, die die KPD einer sofortigen Einheitspartei vorzog, um den dafür noch notwendigen Aufbau der eigenen Partei als Kern verwirklichen zu können.50 Als Anfang Oktober 1945 die ungleichen „Gründungsväter“ erstmals in Wennigsen und Hannover zusammentrafen, wurde recht schnell deutlich, in welchen Punkten Übereinstimmung zu erzielen war und in welchen nicht: Sowohl Schumacher als auch Grotewohl und sicherlich auch Ollenhauer betrachteten Demokratie, Sozialismus und Entnazifizierung als Tagesaufgaben. Doch schon in der Frage einer präziseren Bestimmung von Demokratie gingen die Auffassungen weit auseinander: Während Schumacher einem freien Spiel der politischen Kräfte das Wort redete, verteidigte Grotewohl das in der SBZ verankerte politische System (Einheitsfront und Block-System). Auch in der Frage der Einheitspartei kam es zu keiner Annäherung der Kontrahenten, auch wenn Grotewohl (ähnlich wie Schumacher) nun einen Führungsanspruch für dir SPD reklamierte. Die tiefe Skepsis Schumachers, aber auch der Exilvertreter, ob in der SBZ über49 Merseburger, Der schwierige Deutsche, S. 216 f.; Loeding, Otto Grotewohl kontra Kurt Schumacher, S. 25 f. und 29 f. Bereits im Herbst 1944 hatte der frühere bayerische Reichstagsabgeordnete und spätere Ministerpräsident des Freistaats (1945/46), Wilhelm Hoegner (SPD), im Schweizer Exil weitsichtig erklärt: „Mit Sicherheit werden der Bolschewisierung jene Gebiete Deutschlands verfallen, die von russischen Heeren besetzt werden. Zweifellos werden sich sowjetrussische Besatzungsbehörden zur Verwaltung der ihnen unterstehenden deutschen Gebiete vor allem einheimischer kommunistischer Parteigänger bedienen. Zahlreiche Funktionäre der ehemaligen kommunistischen Partei Deutschlands befinden sich in Sowjetrussland und bereiten sich auf solche Aufgaben vor. Die Kommunistengegner in diesen Gebieten würden wahrscheinlich genauso ‚liquidiert‘ werden, wie das im Jahre 1939 in den von den Sowjetrussen besetzten Gebieten Polens und später in den baltischen Ländern der Fall war.“ Zit. nach Rainer Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945, Düsseldorf 1999, S. 310 f. 50 Vgl. Aufruf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Zentralausschuss) vom 15. 6.1945. In: Die Programme der politischen Parteien im neuen Deutschland. Zusammengestellt von Dr. Karl Mahler, Berlin 1945, S. 16–20, hier 20; Schmeitzner, „Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei sein“, S. 276 f.; Benser, Die KPD, S. 172 ff.

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haupt mit der Etablierung einer – westlichen Maßstäben – entsprechenden Demokratie gerechnet werden könnte, führte schließlich zu einem Misserfolg der Konferenz:51 War die Spitze des Berliner ZA mit der Vorstellung nach Wennigsen gereist, den eigenen Führungsanspruch in den Westzonen durchsetzen zu können (unter Einbeziehung Schumachers und der „Londoner“), traf sie genau in diesem Punkt auf Schumachers Widerstand: Es waren wohl weniger seine eigenen innerparteilichen Ambitionen, die ihn zu dieser Ablehnung veranlassten, als vielmehr die Befürchtung, dass Vorstellungen von einer Demokratie und Einheitspartei, wie sie Grotewohls ZA vertrat, auch auf die Westzonen übergreifen könnten. So blieb es bei einer organisatorischen Teilung der SPD in Ost- und Westdeutschland wobei Grotewohl für den Bereich der SBZ und Schumacher für den der Westzonen zuständig sein sollten.52 Auch wenn man Schumacher vorwerfen kann, nicht wenigstens eine Kompromisslösung – nämlich ein gleichrangig bestücktes SPD-Führungsgremium aus Vertretern aller drei Zentren – angestrebt zu haben, gehen Vorwürfe, er sei ein Spalter der SPD,53 an der historischen Realität vorbei. Spätestens in dem Augenblick, als die amerikanische Besatzungsmacht freie und demokratische Wahlen für ihre Zone ankündigte (Herbst 1945) und die österreichischen Nationalratswahlen (25.11.1945) den Kommunisten ein Desaster bescherten,54 nahm der Druck auf die Ost-SPD neue Formen an: Da weder SMAD noch KPD jetzt Wahlen in ihrer Zone abwarten wollten, orientierten sie – entgegen ihren ursprünglichen Moskauer Exil-Planungen – auf eine sofortige Verschmelzung mit der SPD. Ein wie auch immer gearteter Führungsverbund der Vier-ZonenSPD hätte diesem sowjetischen Votum nichts wesentliches entgegensetzen können. Ob Stalin und die SMAD in dieser Situation einen Reichsparteitag der SPD gestattet hätten, bleibt ebenso fraglich, da sie (die den Zweck dieses Manövers – nämlich eine Verzögerung der Entscheidung – erkannten) die Verschmelzung in ihrer Zone als machtpolitisch unumgänglich betrachteten.55 Für Schumacher wiederum wurde durch das Vorgehen von KPD und SMAD sein schon im Sommer 1945 geprägtes Bild von der kontingentierten Demokratie in der SBZ bestätigt. 51 Vgl. Loeding, Otto Grotewohl kontra Kurt Schumacher, S. 52 ff. 52 Vgl. ebd., S. 61. Im Januar 1946 äußerte Schumacher jedenfalls „berechtigten Stolz“ der Westzonen-SPD darüber, „dass sie diese Entwicklung vorausgesehen hat, und wenn wir in Wennigsen am 5. Oktober 1945 auf unserer Konferenz die Kompetenzverteilung nicht so vorgenommen hätten, wie wir das getan haben, könnten wir heute gar nicht mehr über die Möglichkeit diskutieren und uns frei nach eigenem Willen entscheiden.“ Kurt Schumacher, Die Sozialdemokratie im neuen Deutschland. Vortrag gehalten auf dem Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei der Hansestadt Hamburg am 27.1.1946, Hamburg 1946, S. 13. 53 So unumwunden Loeding, Otto Grotewohl kontra Kurt Schumacher, S. 61. 54 Die KPÖ erzielte bei diesen Wahlen rund 5 %, die SPÖ 44 %. Über die Auswirkungen dieser Wahlen auf die SBZ vgl. Mike Schmeitzner, „Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei sein“, S. 282 f. 55 Vgl. ebd., S. 283.

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Aber nicht nur das: Als die SMAD im Dezember 1945 die Führung der OstCDU aus politischen Gründen absetzte und kurz darauf (am 20./21.12.1945) die Einigung von KPD und SPD (der SBZ) über die organisatorische Vereinigung der beiden Parteien herbeiführte, sah Schumacher seine lange schon gehegten Befürchtungen über eine mit Floskeln verbrämte Diktaturdurchsetzung in der SBZ in Erfüllung gehen. Anfang 1946 lehnten unter seiner Führung sozialdemokratische Delegiertenversammlungen der britischen und amerikanischen Zone den Weg in eine Einheitspartei ab, was zweifellos – und mit allen bitteren Konsequenzen – den Verschmelzungsprozess in der SBZ vom Westen weiter abkoppeln musste. In einer Erklärung, die er Anfang Februar 1946 abgab, markierte er die politische Entwicklung in der SBZ noch einmal aus seiner Sicht: Habe in den ersten Monaten nach Gründung der SBZ-Parteien dort noch eine „relativ sehr große Bewegungsfreiheit“ geherrscht, gehe diese Entwicklung „jetzt in rapidem Tempo in entgegengesetzte Richtung“. Die Besatzungsmacht mische sich – im Gegensatz zu den Westzonen – in die „innere Denkungsart und Sinngebung der politischen Parteien“ ein. Das erste Beispiel dafür seien die „erzwungenen Blockbildungen“, ein weiterer Schritt die Absetzung der CDUFührung gewesen, und nun sehe man dies „am schmerzlichsten und am weitreichendsten in der Haltung der Besatzungsmacht, die dazu führen soll, der sozialdemokratischen Anhängerschaft eine kommunistische Führung zu geben“. Den „Abschnitt relativer politischer Freiheit in der Ostzone“ betrachtete Schumacher als „endgültig beendet“. Trotz der zahlen- und ideenmäßigen Überlegenheit der SPD sei in der SBZ das „Gesetz des Handelns“ jetzt ganz an die KPD bzw. an die „hinter ihr stehende Macht“ übergegangen.56 In der Beurteilung der Situation in der SBZ war für ihn klar, dass in dem „heutigen Stadium der Dinge“ nicht die „direkte Gewaltanwendung das Entscheidende“ sei, sondern die „politische Atmosphäre“. Die Methoden der Kommunisten, mit denen sie die Sozialdemokraten zu gewinnen versuchten, seien nicht neu: Die „Einheitsfront von unten“ wollten diese schon vor 1933 schaffen, und der psychische Druck auf Mitglieder und Funktionäre, nicht verfasste Resolutionen zu unterschreiben, erinnere ihn stark an die Praxis im Dritten Reich. Auch in der Beurteilung der anderen Seite der „Vereinigung“, der sogenannten Zugeständnisse der KPD („konsequenter Marxismus“ statt MarxismusLeninismus, paritätische Zusammensetzung der Leitungen usw.), hielt er die KPD-Führung für „nicht vertragstreu“. Die Zusicherungen seien von ihr nur aus Gründen der „Erreichung ihrer Ziele“ abgestellt worden. Die „Kaderpartei“ KPD, die nur „Befehlen gehorcht und nicht aus eigener Überzeugung handelt, deren Kraft in der Hartnäckigkeit, Disziplin und der erzwungenen oder ge56 Kurt Schumacher, Demokratie und Sozialismus zwischen Osten und Westen (Gedankliche Klärung zur Vereinigungsfrage für die Konferenz der SPD in der amerikanischen Besatzungszone im Februar 1946). In: Karl Strutz (Hg.), Kurt Schumacher. Nach dem Zusammenbruch. Gedanken über Demokratie und Sozialismus, Hamburg 1948, S. 84– 108, hier 84 ff.

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wollten Homogenität besteht“, müsse sich durchsetzen, es stehe außer Frage, dass die KPD die Vereinigung als eine „Tat der Eroberung“ betrachte.57 In all diesen Einschätzungen und Prognosen sollte Schumacher richtig liegen, wie die spätere Entwicklung und detaillierte Forschungsergebnisse der letzten Jahre eindrücklich belegen.58 Auch seine Auffassung, wonach die SPD für die KPD als eine Art „Blutspender“ fungiere, da es den Kommunisten nicht gelungen sei, zur stärksten Volkspartei zu avancieren, um bei wirklich freien und demokratischen Wahlen reüssieren zu können, traf den Kern des sowjetisch-kommunistischen Handelns. Ähnlich zutreffend nahm sich seine Feststellung aus, dass die sowjetische Besatzungsmacht das östliche Deutschland durch eine kommunistische Staatspartei in ihren Machtbereich einbeziehen wolle. Aus dieser Situationsbeschreibung ergab sich für Schumacher nur eine Konsequenz, nämlich die, dass es sich bei der KPD um eine „totalitäre“ Partei handele,59 die eine entsprechende Diktatur zu etablieren versuche. Auf welchem Weg das geschehen könnte, gab Schumacher in einem Interview vom Februar 1946 zu Protokoll: Zuerst werde die Führung der neuen Einheitspartei nach „einem kurzem Intermezzo“ und unter den „besonderen machtpolitischen Verhältnissen der Ostzone“ „einseitig kommunistisch“; danach würden auch CDU und LDP „geschluckt“ und mit einer „Einheitspartei“ und einer „Einheitsliste“ die neue Diktatur befestigt.60 Das Szenario vom „erzwungenen Verschmelzungsprozess“ in der Ostzone, der bei den „Sozialdemokraten nicht Halt machen“ werde, „sondern zu einer Einheitspartei oder wenigstens zu einer Einheitsliste“ führe (nach Schumacher das „Ende der Demokratie in der Ostzone und der politische Ausdruck einer absolut totalitären Staats- und Gesellschaftsverfassung“61) entwickelte er damals häufig in der Öffentlichkeit. Auch wenn sich diese Prognose noch nicht 1946 erfüllen sollte, sondern erst zu einem etwas späteren Zeitpunkt (die völlige Gleichschaltung der bürgerlichen Parteien setzte Ende 1947 massiv ein, die ersten Einheitslistenwahlen standen im Frühjahr 1949 an), hatte Schumacher zu diesem frühen Zeitpunkt doch ein Maß an Analysevermögen an den Tag gelegt, das den meisten anderen deutschen Politikern abging. Wenn man einmal von den grotesken Fehleinschätzungen und Selbsttäuschungen der ZA-Führer um Grotewohl absieht (Dahrendorf erscheint hier als eine rühmliche Ausnahme! 62), dann zeugen auch die Analy57 Ebd., S. 87 f. 58 Vgl. etwa Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000; Andreas Schmidt, „... mitfahren oder abgeworfen werden“ Die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der Provinz Sachsen/im Land Sachsen-Anhalt 1945– 1949, Münster 2004; Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. 59 Schumacher, Demokratie und Sozialismus, S. 87. 60 Interview Kurt Schumachers zu Einheitspartei und Demokratie, Februar 1946, maschinenschriftlich (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 36). 61 Kurt Schumacher, Die politischen Fronten. Für den Nordwest-Deutschen Rundfunk, Ende März 1946 (ebd.). 62 Dahrendorf, der noch im Frühsommer 1945 eine enge Kooperation und spätere Vereinigung mit der KPD favorisiert hatte, gelangte im Spätherbst 1945 immer mehr zu der

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sen, die maßgebliche bürgerliche Politiker im Frühjahr 1946 abgaben, von einer seltsamen Verkennung der Lage.63 Andererseits war Schumacher die tiefe Tragik seines Kampfes um die Etablierung eines demokratischen Systems in Deutschland durchaus bewusst: In einem Leitartikel für den Berliner „Tagesspiegel“ äußerte der anerkannte Führer der West-SPD Ende März 1946: Die „deutsche Sozialdemokratie hätte heute die einmalige Chance, die Mehrzahl der geistigen Menschen und des Mittelstandes politisch zu gewinnen. Jetzt wird sie in einen Kampf mit der Kommunistischen Partei gezwungen, bei dem viele Probleme, die sonst gelöst werden könnten, ungelöst bleiben müssen. Es ist eine Situation, die verhängnisvoller ist als die nach 1918.“64 Gleichzeitig ließ Schumacher jedoch keinen Zweifel daran, dass er diesen Kampf um der demokratischen Zukunft der Westzonen Willen aufzunehmen gewillt war. Eine Vereinheitlichung der Arbeiterparteien ohne innere Demokratie war für ihn genauso wie die Schaffung eines neuen deutschen Staates ohne hinreichende demokratische Bindung undenkbar. „Wenn sie“, so Schumacher über die West-SPD „jetzt nachgeben wollte, dann wären die Sache der Demokratie in Deutschland und die Möglichkeiten einer wirklich unabhängigen Sozialistischen Internationale auf lange Zeit hin verspielt. Das ist der Grund, weshalb sie in der jetzt dargebotenen Form eine Vereinigung nicht akzeptiert.“65 Für ihn ging es aber gerade nach der NS-Diktatur darum, der internationalen Gemeinschaft vor Augen zu führen, dass Deutsche durchaus in der Lage waren, für Demokratie zu kämpfen: „Die Welt soll an uns und an Berlin sehen, die Deutschen wollen die Demokratie, die man ihnen nicht geben kann oder will. Das ist eine wichtige Sache, denn jetzt bei dieser Auseinandersetzung wird entschieden, ob mit der Zeit Mitteleuropa, vielleicht das ganze europäische Festland demokratisch oder diktatorisch geformt sein soll.“66 Auf dem ersten Parteitag der Westzonen-SPD, der Anfang Mai 1946 in Hannover stattfand, legte er die Partei mit seinen grundsätzlichen Ausführungen über Sozialdemokratie und Parteikommunismus in geradezu apodiktischer Form auf das Prinzip der westlichen Demokratie fest. Schon zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit der KPD/SED kam er dabei auf den Begriff der Demokratie zu sprechen, den die KPD seit Sommer 1945 beständig im Munde

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Einsicht, dass es sich bei der nun gestarteten Vereinigungskampagne der KPD um eine gezielte Einschmelzung der SPD handeln würde. Im Februar 1946 flüchtete er nach Hamburg und prägte dort die Formel von der „Zwangsvereinigung“. Vgl. Gustav Dahrendorf, „Zwangsvereinigung der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei in der russischen Zone“. In: ders., Der Mensch, das Maß aller Dinge. Reden und Schriften zur deutschen Politik 1945–1954. Hg. und eingeleitet von Ralf Dahrendorf, Hamburg 1955, S. 89–124. Vgl. Michael Richter, Die Entstehung der CDUD und der Prozess ihrer Einbindung in dei politische Struktur der SBZ (Magisterarbeit), Hannover 1985, S. 74. Kurt Schumacher, Das politische Prinzip. In: Der Tagesspiegel vom 27. 3.1946. Ebd. Kurt Schumacher, Sozialistische Demokratie in Deutschland, Rede vom 17. 3.1946 in Regensburg (AdSD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 36).

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führte, um die nächsten ihrer politischen Schritte immer wieder in der Öffentlichkeit zu kaschieren. Vermutlich hatte Schumacher solche KPD-Formeln wir „reale“, „wirkliche“ oder „konsequente Demokratie“ vor Augen (die „Volksdemokratie“ wurde von der KPD/SED später in ihren Sprachschatz aufgenommen), als er deren „Übermaß von schmückenden Vokabeln für das Wort Demokratie“ mit beißendem Spott goutierte: „Aber es ist eine Demokratie, die sie falsch aussprechen und mit falscher Orthographie schreiben. Man muss in der Politik den Leuten nicht nur auf das Maul, man muss ihnen auf die Hände schauen. Nicht was in den öffentlichen Kundgebungen an Demokratie propagiert wird, ist entscheidend für den demokratischen Charakter einer Partei, sondern das, was diese Partei auch wirklich praktiziert.“67 Er glaube, dass man „diktatorisch erzogen sein“ müsse, „um etwas zu sagen, von dem man weiß, dass das Gegenteil richtig ist“.68 Bei der KPD sei die Demokratie jedenfalls eine „ganz substanzlose Phrase“.69 Dann widmete sich Schumacher der „Phrase von der Diktatur des Proletariats, der die deutschen Kommunisten auch heute im Herzen anhängen“. Gerade weil ihm die marxistische Herkunft der Formel und ihre leninistische Interpretation sehr wohl bekannt waren, lehnte er diese „Phrase“ mit den Worten ab: „Es gibt keine Diktatur des Proletariats. Es gibt nur eine Diktatur über das Proletariat“,70 womit er das historische Beispiel der Sowjetunion in den Blick nahm. Für ihn zeige die „ausdrückliche Berufung auf die Tradition des Leninismus bei dieser Zwangsvereinigung [...] ganz deutlich, dass die kommunistische Politik in Deutschland eine bewusst antidemokratische Politik ist“.71 Die endgültige Abschiednahme von der „Diktatur des Proletariats“, die Schumacher für die West-SPD vollzog,72 wog auch deshalb schwer, weil Debatten darüber immer wieder das Bild der Weimarer SPD, die Jahre des Exils und nicht zuletzt die entsprechenden Positionen des Führungszirkels der Ost-SPD beherrscht hatten.73 Sie erscheint auch deshalb bedeutsam, weil sich Schumacher selbst gern 67 Hauptreferat Schumachers „Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie“ auf dem Parteitag der Westzonen-SPD in Hannover am 9. 5.1946. In: Albrecht (Hg.), Kurt Schumacher. Reden, S. 391. 68 Ebd., S. 415. 69 Ebd., S. 394. 70 Ebd., S. 411. 71 Ebd., S. 394. 72 Schumacher hatte bereits vor dem Hannoveraner Parteitag in einem Zeitungsbeitrag geäußert: „So wie die Vorstellungen von der Auserwähltheit des deutschen Herrenvolkes verschwinden müssen, so müssen auch die Ideen von der Diktatur des Proletariats verschwinden. Für Deutschland wirkt sich alles als gegenrevolutionär aus, was die Ideen der Demokratie und des klaren Sozialismus beeinträchtigt.“ Kurt Schumacher, Anschluss an die Welt. In: Der Tagesspiegel vom 17. 4.1946. 73 Zur Diskussion in der Weimarer Sozialdemokratie und in den Exil-Organisationen vgl. Uli Schöler, „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs (1917 bis 1929), Teil 1, Münster 1990, S. 252 ff., Erich Matthias, Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emi-

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in klassenkämpferischer Pose gefiel und von der marxistischen Analyse und Methode nicht Abstand nehmen wollte. In Hannover jedenfalls zog der hier gewählte neue SPD-Vorsitzende die Trennungslinie klar und unmissverständlich: „Dort, wo es keine Parteidemokratie gibt, gibt es überhaupt keine Demokratie.“74 Und: „Eine Demokratie mit Einheitspartei oder Einheitslisten ist keine Demokratie, sondern ist das Gegenteil: Diktatur.“75 Darüber hinaus schärfte er den Delegierten ein, dass es „nicht wahr“ sei, „wie wohlmeinende Optimisten behaupten, dass zwischen uns und den vereinigten Kommunisten nur ein Unterschied des Weges bestände und das gleiche Ziel da wäre“. Ein „gleiches Ziel“ gebe es nicht, da für ihn der Sozialismus die „ökonomische Befreiung der moralischen und politischen Persönlichkeit“ beinhalte.76 Die SPD sei eine Partei „wie alle anderen“, sie habe – im Gegensatz zur KPD / SED – „keine totalitären Machtansprüche“.77 Schon vor Hannover hatte Schumacher öffentlich klar gemacht, dass die SPD zwar eine „selbstständige und unabhängige Partei“ sei, aber ihre „westliche Prägung“ nicht verbergen werde. Die „großen Ideen der Freiheit und Menschlichkeit“, wie sie „aus der englischen und französischen Revolution oder aus der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung in unserer Erinnerung leben“, hätten sich „längst aus dem bürgerlichen Parteiensystem allein zu unserer Partei hinübergeflüchtet“. Kein Sozialdemokrat könne sich heute einen „europäischen Sozialismus“ vorstellen ohne dem dort zugrunde liegenden „Recht der freien Erkenntnis und der freien Kritik“.78 Eindringlich warnte er gerade in diesen Wochen vor einer simplen Gegenüberstellung eines „kapitalistischen“ Westens und eines „sozialistischen“ Ostens. Im Westen, so Schumacher, hätten die oben genannten Ideen Jahrhunderte lange Wurzeln geschlagen, würden gerade sozialdemokratische Regierungen (wie in England und Frankreich) reformsozialistische Schritte unternehmen, während im Osten ein „bürokratisch, zentralistisch geleiteter Staatskapitalismus“ herrsche.79 Ein „kommandierter Sozialismus“ sei aber kein Sozialismus, sondern „diktatorisches und totalitäres Prinzip“, wie er Ende März 1946 dem Nordwest-Deutschen Rundfunk gegenüber erklärte.80 Kein Zweifel: Mit dieser klaren Positionierung hatte sich der SPD-Politiker eindeutig zu jener westlichen

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gration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933–1938, Stuttgart 1952, S. 25–35; Helmut Lehmann, Von der Demokratie zum Sozialismus. In: Einheit. Monatsschrift zur Vorbereitung der Sozialistischen Einheitspartei, Heft 1 von Februar 1946, S. 20–22, hier 21. Hauptreferat Schumachers in Hannover, S. 413. Ebd., S. 411. Ebd., S. 415. Ebd., S. 418. Rede Dr. Kurt Schumachers am 20. 3.1946 im „Pfälzer Hof“ in Augsburg (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 36, Bl. 5). Ebd. Kurt Schumacher, Die politischen Fronten. Für den Nordwest-Deutschen Rundfunk, Ende März 1946 (ebd.).

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Tradition der Sozialdemokratie bekannt, wie sie wohl am stärksten durch Hermann Müller, Wilhelm Sollmann, Hans Vogel oder Curt Geyer verkörpert worden war. Auch wenn er – anders als der späte Sollmann und der späte Geyer – der Ansicht war, dass im Nachkriegsdeutschland – und im Gegensatz zu den „alten Demokratien des Westens“ – ein „Nebeneinander von Kapitalismus und Demokratie“ auf „lange Sicht“ nicht möglich sei81 (aufgrund der Verzahnung von Kapital und NSDAP im Dritten Reich), so unterschied sich doch seine Auffassung fundamental von jenen simplen marxistischen und linkssozialistischen Schwarmgeistern, die die SPD an die Seite der gleichfalls „proletarischen“ KPD oder an die Seite der „sozialistischen“ Besatzungsmacht Sowjetunion zu rücken versuchten.82 Im Grunde hatte sich Schumacher mit seiner westlich-antitotalitären Haltung, die ganz auf die Verteidigung des Individuums abstellte, von seiner ursprünglichen Staatsgläubigkeit ein weiteres erhebliches Stück entfernt: Hatte er noch in seiner Dissertation von 1920 den abstrakten „Staat“ in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt, identifizierte er bereits in der frühen Weimarer Republik den Staat mit der parlamentarischen Demokratie, um jetzt – unter dem Eindruck des braunen und roten Staatskollektivismus – das individuelle Moment in den Vordergrund zu rücken. Dass es ihm in der aktuellen Auseinandersetzung vor allem um die Verteidigung der Freiheit der Persönlichkeit gegen den umfassenden Anspruch eines totalitären Staates ging, kam nicht zuletzt in jener großen Rede zum Ausdruck, die er Anfang September 1946 auf dem Gründungskongress des SPD nahen Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) hielt. Der Diktaturbegriff, den er hier definierte, verdeutlicht noch einmal seine eigene Entwicklung, die von Ferdinand Lassalle über Johann Plenge durchaus auch zu Ernst Forsthoff hätte führen können: „Ich verstehe unter Diktatur nicht eine vorübergehende Konzentration der Exekutive zur Überwindung einer momentanen Anarchie, ich verstehe unter Diktatur nicht römischen Cäsarismus als Ergebnis des Bürgerkrieges, ich verstehe unter Diktatur auch nicht den asiatischen Despotismus als geschichtliche Erscheinungsform, ich verstehe unter Diktatur im modernen politischen Leben die 81 Rede Dr. Kurt Schumachers am 20. 3.1946 im „Pfälzer Hof“ in Augsburg (ebd., Bl. 5). 82 Solche Schwarmgeister waren u. a. die früheren sächsischen Ministerpräsidenten Alfred Fellisch und Erich Zeigner, die 1946 mit großem Pathos in die Einheitspartei gingen und dort kurze Zeit auch wieder Karriere machten. Vgl. Mike Schmeitzner, Alfred Fellisch 1884–1973. Eine Biographie, Köln 2000, S. 440 ff.; Michael Rudloff (Hg.), Erich Zeigner – Bildungsbürger und Sozialdemokrat, Leipzig 1999, S. 106 ff. Grotewohl sprach wenige Monate nach der SED-Gründung offen von den „inneren Bindungen“ zwischen den „Sozialisten“ der SED und der „sozialistischen Besatzungsmacht“. Zit. nach Mike Schmeitzner/Michael Rudloff, Geschichte der Sozialdemokratie im Sächsischen Landtag. Darstellung und Dokumentation 1877–1997, Dresden 1997, S. 133. Zum Begriff der Schwarmgeister grundlegend: Rainer Behring, Die Zukunft war nicht offen. Instrumente und Methoden der Diktaturdurchsetzung in der Stadt: Das Beispiel Chemnitz. In: Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Ute Schmidt (Hg.), Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ / DDR 1945–1955, Dresden 2001, S. 155–168, hier 165.

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große Tatsache, unter der Form des Rechts Unrecht zu tun und die rechtliche Ordnung der Verhältnisse zwischen Individuum und Gemeinschaft in einer solchen Diktatur aufzuheben aus zweierlei Gründen. Einmal anerkennt die alles zermalmende Exekutive ja gar nicht die Menschenrechte des Individuums, und zum zweiten hat die Persönlichkeit keinen Anteil an der Willensbildung des diktatorisch regierten Staates; sie ist nicht mehr Staatsbürger.“83

3.

„Rotlackierte Nazis“. Ein Kampfbegriff mit Relativierungsintention?

Dass Schumacher den Totalitarismusbegriff seit Februar 1946 auch für die östliche Diktatur verwendete, hob ihn zweifellos aus der Gemeinschaft der deutschen Politiker heraus. Geläufig war zu diesem Zeitpunkt die Kennzeichnung der NS-Diktatur als totalitär, wozu selbst Kommunisten tendierten.84 Die frühe definitorische Einbeziehung Moskaus und der KPD durch Schumacher war jedoch direkt auf die Herausforderung der Sozialdemokratie durch die von Stalin angeordnete Zwangsverschmelzung in der SBZ zurückzuführen. Schumacher bediente sich in dieser Auseinandersetzung eines Terminus, der vor allem in den 1930er Jahren im westlichen Exil geprägt worden war – und zwar mit Blick auf alle totalitären Diktaturen. Unmittelbar nach der Gründung der SED im April 1946 griff er aber auch auf eigene Wortschöpfungen zurück, die er mit Blick auf die Kommunisten bereits in der Endphase der Weimarer Republik verwendet hatte. Operierte er damals (1930) mit dem Begriff der „rotlackierten Doppelausgaben der Nationalsozialisten“, führte er nun – im Mai 1946 – den Begriff der „rotlackierten Nazis“ ein. Was bewegte Schumacher so kurz nach der Gründung der SED und der endgültigen Konstituierung der Westzonen-SPD dazu, einen Terminus zu benutzen, der über den Totalitarismusbegriff noch einmal inhaltlich hinausging und in bislang ungewohnter Schärfe die Gleichsetzung von Nationalsozialisten und Kommunisten vornahm? Und: Musste nicht eine so früh ins Auge gefasste Gleichsetzung zur Exkulpierung der nationalsozialistischen Täter und des Dritten Reiches führen?

83 Rede Schumachers über „Student und Politik“ auf dem Gründungskongress des SDS am 4. 9.1946. Zit. nach Albrecht (Hg.), Kurt Schumacher. Reden, S. 469. 84 Anfang 1946 sprach das Jugendsekretariat der KPD-Bezirksleitung Sachsen z. B. selbst vom „totalitären Charakter“ der Hitlerjugend, da diese durch die „Zerschlagung der proletarischen Jugendorganisationen einerseits, die Gleichschaltung der bürgerlichen Jugendverbände andererseits“ als neue „Staatsjugend sanktioniert“ worden sei. KPD und Jugend! Richtlinien für die Jugendarbeit der KPD, maschinenschriftliches Manuskript für den Genossen Pieck vom Frühjahr 1946 (SAPMO-BArch, NY 4036, Nr. 726, Bl. 316).

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Würde man den Terminus der „rotlackierten Nazis“ ohne Schumachers persönliche und zeitgeschichtliche Intentionen betrachten und vergleichbare Auftritte weiterer SPD-Politiker unberücksichtigt lassen, könnte sich in der Tat der Eindruck eines besonders fanatisch auftretenden Antikommunisten ergeben. Allein schon ein Blick auf weitere prominente Sozialdemokraten bestätigt diesen Eindruck nicht: Bemerkenswert erscheint, dass der gerade erst aus dem Londoner Exil nach Deutschland (Hannover) zurückgekehrte Erich Ollenhauer in einem Brief an den USA-Emigranten Friedrich Stampfer Mitte März 1946 eine ähnliche Tonlage anstimmte, um dem fernen Beobachter die Atmosphäre des Vereinigungsprozesses in der SBZ und Berlins so eindrücklich wie möglich zu schildern. Da hieß es etwa wörtlich: „Wenn sie die Situation in Berlin verstehen wollen, dann erinnern sie sich nur an die Dinge, die wir in Berlin zwischen dem Reichstagsbrand und dem Parteiverbot im Juni [1933] durchgemacht haben. Es ist genau dieselbe Situation, nur das heute die herrschende Diktatur noch stärker ist, als damals die Nazis.“85 Nimmt man die Ersterwähnung von Schumachers Begriff, dann stellt man fest, dass seine Formel von den „rotlackierten Nazis“ ebenfalls im Kontext des Vereinigungsprozesses ausgesprochen wurde. Während seiner Rede in Bremen am 19. Mai 1946 rechnete er noch einmal mit den KPD-Methoden ab, die zur Einschmelzung der Ost-SPD geführt hatten. Dabei forderte er von den Kommunisten, sich von diesen unsauberen Methoden zu trennen. Falls sie davon nicht Abstand nehmen würden, könnten sie auch nicht verlangen, von den Sozialdemokraten als „Klassenbrüder“ begrüßt zu werden; „denn dann“ – so Schumacher weiter – „seid ihr nichts weiter als ‚rotlackierte Nazis‘“.86 Wie man sieht, war der SPD-Vorsitzende bei seiner Ersterwähnung und in diesem konkreten historischen Kontext durchaus bereit, die Formel nur in Anführungszeichen zu gebrauchen, die Kommunisten also erst bei einer fortgesetzten Zwangspolitik als „rotlackierte Nazis“ zu bezeichnen. Drei Tage später, bei einer Rede in Kassel, verwendete er den Begriff erstmals ohne Anführungszeichen, was auf besondere Beweggründe zurückging: Zwar kam er auch hier noch einmal auf den Vorwurf der „Sauberkeit“ und der „leninistischen Diktaturbestrebungen“ in Bezug auf die Vereinigung in der SBZ zu sprechen,87 doch ausschlaggebend war für ihn nun ein anderer, sehr persönlicher Anlass – nämlich die von den Kommunisten gestartete Kampagne, die ihn als willigen Unterstützer der Lager-SS anprangerte.

85 Ollenhauer an Stampfer vom 16. 3.1946. Zit. nach Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration. Aus dem Nachlass von Friedrich Stampfer ergänzt durch andere Überlieferungen. Hg. im Auftrage der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien von Erich Matthias, bearbeitet von Werner Link, Düsseldorf 1968, S. 718. 86 Rede Kurt Schumachers in Bremen am 19. 5.1946 (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 37). 87 Rede Kurt Schumachers in Kassel am 22. 5.1946 (ebd.).

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Die im März/April 1946 aus der SBZ gesteuerte Aktion88 machte Schumacher den Vorwurf, er sei in Dachau für die „Vernichtung von kommunistischen und sowjetischen Häftlingen mitverantwortlich“ gewesen.89 Die selbst von Ulla Plener als „schändliche [...] aus dem Arsenal der kommunistischen KI-Tradition“ bezeichnete Attacke lässt nur einen Schluss zu, nämlich den, dass Schumachers „Warnungen vor den alten verwerflichen Methoden der KPD-Führungen [...], den Gegner nicht politisch, sondern mit Lügen zu bekämpfen“, durchaus gerechtfertigt waren.90 Obwohl die Attacken schon allein deswegen als plump erschienen, da die ihm zur Last gelegten Beschuldigungen in einer Zeit begangen worden sein sollten, in der er nicht mehr in Dachau war,91 nahm Schumacher den hingeworfenen Fehdehandschuh auf: Kein Zweifel: Dieser Angriff musste und sollte ihn an seiner empfindlichsten Stelle treffen – der moralischen Integrität. Seine zehnjährige KZ-Zeit war schließlich sein größtes moralisches Kapital, auf dem sich zu einem nicht geringen Teil seine Autorität in der Partei und in Teilen der Bevölkerung gründete. Dass er nun mit der Verknappung seiner Esslinger Formel reagierte, in dem er die Kommunisten direkt mit den Nationalsozialisten gleichsetzte, war bei seinem ohnehin zu beobachtenden Hang zum Apodiktischen nicht weiter verwunderlich. Gleichzeitig erkannte er aber auch die Chance, die sich aus dieser Kampagne ergab: Die hier gehandhabten Methoden mochten seinen Zuhörern den Charakter der östlichen Diktatur noch deutlicher hervortreten lassen. Kaum anders lässt sich jedenfalls jener Satz verstehen, den Schumacher im Juni 1946 an den österreichischen Sozialdemokraten und Dachauer Leidensgefährten Benedikt Kautsky schrieb: „Bei dem Kampf um die Eroberung der SPD durch die KPD sind diese Attacken (Pieck) für uns Sozialdemokraten von außerordentlichem Nutzen gewesen, denn sie haben unseren Leuten gezeigt, dass hier ein gewisser rotlackierter Faschismus als Methode angewendet wurde.“92 Dass die Verwendung des Begriffs von den „rotlackierten Nazis“ nicht auf die Zeit der SED-Gründung und der KZ-Kampagne beschränkt blieb, hatte mit der Entwicklung in der SBZ zu tun. Die von Schumacher vorausgesehene Ausschaltung und Verfolgung von Sozialdemokraten in Ostdeutschland kommentierte der SPD-Vorsitzende in den Wahlkämpfen der britischen Zone im Frühjahr 1947 in seiner bekannten apodiktischen Art, die auch einen Rückgriff auf die bereits einmal verwendete Formel beinhaltete. So erklärte Schumacher gegenüber der „Westfälischen Rundschau“ Anfang April 1947, die gesamte deutsche Entwicklung kranke an der Tatsache, dass die Sozialdemokratie in der Ostzone nicht zugelassen sei. Sie lebe aber trotzdem innerhalb der bestehenden 88 Ausführlich dazu Stefan Rammler, Kurt Schumacher im Urteil der deutschen Nachkriegspresse. Das Bild eines sozialdemokratischen Politikers in Ost- und Westdeutschland, (2. Auflage) Winzer 2005, S. 150 ff. 89 Plener, Der feindliche Bruder, S. 75. 90 Ebd. 91 Vgl. dazu ausführlich Rammler, Kurt Schumacher, S. 150 ff. 92 Schumacher an Kautsky vom 18. 6.1946. Zit. nach Plener, Der feindliche Bruder, S. 76.

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Parteien weiter und existiere „unter denselben Verhältnissen und Gefahren wie im Dritten Reich“.93 In einer Rede in Münster kam er einige Tage später auf diese Entwicklung noch einmal zu sprechen, wobei er jetzt noch deutlicher wurde: „Wir wollen ein neues Deutschland, dessen politischer Willen geformt ist durch direkte, gleiche und geheime Wahlen, zur staatsbürgerlichen Gleichberechtigung und staatsbürgerlichen Freiheit in allen vier Besatzungszonen. Die SPD ist ja die Partei in Deutschland, die als Partei das schwere Schicksal ihres Volkes noch einmal erlebt. In der Ostzone ist die sozialdemokratische Partei verboten und unsere Leute sitzen in den Gefängnissen und Konzentrationslagern.“ Der Aspekt der Verurteilung und Inhaftierung von Sozialdemokraten gab letztlich den Ausschlag dafür, dass er den westdeutschen Kommunisten entgegenhielt: „Kommt uns nicht mit Eurer SED, denn ihr habt Euch in den letzten Monaten benommen, als das was Ihr seid, als rotlackierte Nazis.“94 Mochte es noch angehen, die Verfolgung von ostdeutschen Sozialdemokraten auf diese – sprachlich drastische – Weise zu brandmarken und die KPD/ SED als „Büttel“ der Sowjetunion zu bezeichnen, so überschritt sein Satz „Diese Arbeit der Kommunisten bedeutet den Versuch Adolf Hitlers noch zu überbieten.“95 die Grenze der historisch-empirischen Belastbarkeit. Sie war aber in gewisser Hinsicht nur folgerichtig, kündigte Schumacher doch in seiner Münsteraner Rede an, „eines Tages“ in die SBZ zu kommen und dann die Kommunisten „denazifizieren“ zu wollen.96 Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die gelenkte Presse der SBZ den SPD-Vorsitzenden seit Frühjahr 1946 in immer neuen Varianten als „Faschist“ diffamierte,97 gingen Vergleiche, die das Ulbricht-Regime und die SMAD-Verwaltung letztlich als noch schlimmer als die Hitler-Diktatur glossieren, an der geschichtlichen Realität vorbei. Insofern ist Pleners These, Schumachers antikommunistische Attacken hätten einer tendenziellen Exkulpation des NS-Regimes den Weg bereitet, nicht einfach von der Hand zu weisen. Sie wirft ihm vor, er habe einseitig die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkrieges dargestellt und „deutsche Verbrechen an anderen Völkern“ nur beiläufig erwähnt. Lediglich die Verbrechen an den Juden hätte er stärker thematisiert, aber auch nur im Ausland. Sein „Nationalismus“ gepaart mit seinem „Anti-Bolschewismus“ und seiner „Russen-Feindlichkeit“ hätten ihm den Blick auf das Leid der anderen verstellt, ja sogar die Aufklärung darüber deutlich eingeschränkt.98 Haben also derart drastische und damit öffentlichkeitswirksame Formeln wie die von den „rotlackierten Nazis“ dazu beigetragen, die Aufarbeitung der NS93 Verhältnisse wie im III. Reich. Erklärung Schumachers in der Westfälischen Rundschau vom 5. 4.1947. 94 Rede Kurt Schumachers in Münster vom 17. 4.1947 (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 41). 95 Rede Kurt Schumachers in Kassel vom 18. 5.1946 (ebd.). 96 Rede Kurt Schumachers in Münster vom 17. 4.1947 (ebd.). 97 Vgl. dazu ausführlich Rammler, Kurt Schumacher, S. 154 ff. 98 Plener, Der feindliche Bruder, S. 84, 88 und 95.

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Diktatur in Westdeutschland zu erschweren und den Blick der (West-)Deutschen von den Verbrechen der Nazi-Täter auf die Leiden der Deutschen und die Verbrechen der „Russen“ zu lenken? In der Tat lässt sich wohl kaum bestreiten, dass alle Nachkriegsparteien (einschließlich der KPD/SED) in den Wahlkämpfen von 1946/47 Konzessionen an den deutschen Zeitgeist machten. Zweifellos ging es ihnen darum, die Masse der deutschen Mitläufer, die Millionen von Vertriebenen und Bombenopfer, für die nur das eigene Leid im Vordergrund stand, zu gewinnen. Hier bildeten die SPD und ihr Vorsitzender keine Ausnahme. Auch Schumacher operierte in großen Wahlversammlungen mit Argumenten und Vergleichen, die leicht als Relativierung der NS-Verbrechen und als Zugeständnis an die deutschen Leiden ausgelegt werden konnten. Einem geradezu „klassischem“ Argumentationsmuster bediente er sich in den Herbstwahlkämpfen des Jahres 1946, als er betonte: „Wir wissen genau, wie ungeheuer die Schuld ist, die die Nationalsozialisten des Dritten Reiches auf sich geladen haben, wie fanatisch sie Europa zerstört und ausgeplündert haben. Aber jetzt, nachdem Deutschland das grauenhafte Flüchtlingselend erlebt hat, die Vertreibung von Millionen ohne die allernotwendigste Habe, seitdem der Produktionsapparat weiter stillgelegt ist, jetzt ändert sich das geschichtliche Bild. HitlerDeutschland hat der Welt Unrecht getan, und jetzt beginnt die Welt, einem neuen Deutschland Unrecht zu tun.“99 Für solche Redepassagen, aber auch für Sätze, die das „internationale Versagen“ nach 1933 beklagten und darauf hinwiesen, das Hitlers Bezwinger „viel zu sehr als Sieger und viel zu wenig als Befreier gekommen sind“, gab es jeweils „stürmischen, langanhaltenden Beifall“.100 Derartigen Exkulpationstendenzen, zu denen auch Sätze über die generelle „Deutschfeindlichkeit“ der Kommunisten zählten,101 stehen Auslassungen gegenüber, die sich gegen eine Verurteilung von westdeutschen KPD-Führern durch westalliierte Militärtribunale wandten,102 die deutsche Verantwortung für die Verbrechen des Hitler-Regimes betonten und nach einer härteren Bestrafung der Verantwortlichen verlangten. Ebenfalls in Wesermünde hatte der SPDVorsitzende geäußert, dass der „letzte Grund für alles Elend und für allen Jam99 Protokoll der Rede Kurt Schumachers auf dem Zollinlandplatz in Wesermünde am 7.10.1946, S. 9 (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 39). 100 „Berliner, es geht um Deutschland!“ Protokoll der Rede Kurt Schumachers in den Argus-Hallen Berlin-Reinickendorf am 16.10.1946, S. 5 f. (ebd.). 101 „Die Deutschfeindlichkeit eint alle Kommunisten“. Dr. Kurt Schumacher sprach vor 600 Delegierten sozialdemokratischer Betriebsgruppen. In: Westfälische Rundschau vom 7.1.1948. In seiner Rede spitzte Schumacher sogar noch einmal seine These zu: „Die Frage, ob Kommunist oder Sozialdemokrat, beantwortet gleichzeitig die Frage, ob Russe oder Deutscher.“ 102 Anfang 1949 hatte sich Schumacher beispielsweise gegen die Verurteilung des KPDFührers Max Reimann durch ein britisches Militärgericht gewandt. Reimann hatte nichtkommunistische Politiker als „Quislinge“ bezeichnet und war dafür zu drei Monaten Haft verurteilt worden. In seiner Erklärung argumentierte Schumacher sowohl grundsätzlich als auch politisch; in letzterer Hinsicht habe das Urteil lediglich der kommunistischen Propaganda geholfen, aber nicht den betroffenen demokratischen Parteien. Dr. Schumacher zum Reimann-Urteil. In: Lübecker Freie Presse vom 3. 2.1949.

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mer im Dritten Reich“ liege, und erst in zweiter Linie bei den Besatzungsmächten.103 Den Freispruch Franz von Papens vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg kommentierte Schumacher mit kaum verhohlener Empörung, als er öffentlich erklärte: „Wir verlangen den Kopf dieses Mannes!“ Als Grund gab er an, dass der frühere Reichskanzler (1932) und Hitler-Stellvertreter (1933/34) doch der „Repräsentant der Kreise“ gewesen sei, die die „Nazis erst in den Sattel gesetzt“ hätten. Er sei ein „Symbol für das, was man deutsche Schuld nennen“ könne, und „was in Wahrheit die Schuld des deutschen Großkapitals“ sei. Sein Freispruch sei damit auch ein „Freispruch der Kreise, die so Furchtbares heraufbeschworen haben“. Für die Zukunft sei er „geradezu eine Ermunterung für die kapitalistische und politische Reaktion, sich wieder einmal nach einem Gefreiten umzuschauen, der bereit ist, zum Schutze ihres Portemonnaies auch die blutigsten Geschäfte zu besorgen“.104 Obwohl Schumacher vornehmlich eine marxistische Analyse zugrunde legte und Millionen deutscher NS-Anhänger und Mitläufer unberücksichtigt ließ, traf sein Verdikt in diesem Fall den „richtigen“ Mann, verkörperte Papen doch jene konservativen Kreise, ohne deren Hilfe Hitler nicht an die Macht gekommen wäre.105 Noch deutlicher wird Schumachers Erinnerungs- und Aufarbeitungsbemühen hinsichtlich des singulären NS-Verbrechens: des Holocaust. Anders als es Plener darstellt,106 hatte der SPD-Politiker schon auf dem ersten Westzonen-Parteitag (Mai 1946) öffentlich an das Schicksal der Juden erinnert, die dem „bestialischen Rassenwahn der Hitlerdiktatur zum Opfer fielen“.107 Obgleich er „aufgrund seiner marxistischen Anschauungen die Bedeutung der nazistischen Ideologie unterschätzte“, war er nach Meinung des jüdisch-amerikanischen Historikers Jeffrey Herf doch der „erste deutsche Politiker, der nach dem Krieg das Thema der Vernichtung des europäischen Judentums hervorhob“. Herf weist ausdrücklich darauf hin, dass es für Schumacher in dieser Frage eigentlich keine „taktische Notwendigkeit“ gegeben habe, sich diesem Anliegen besonders zu widmen, da doch „keine jüdischen Wähler mehr“ vorhanden waren. Dennoch habe Schumacher in Interviews mit deutsch-jüdischen Zeitungen darauf abgehoben, dass die Deutschen „das ganze Ausmaß der jüdischen Katastrophe noch nicht begriffen“ hätten. Auf dem zweiten SPD-Parteitag in Nürnberg (Ende Ju103 Protokoll der Rede Kurt Schumachers auf dem Zollinlandplatz in Wesermünde am 7.10.1946, S. 4 (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 39). In diesem Zusammenhang erklärte Schumacher weiter, dass „weite Teile des deutschen Volkes [...] schuld am Dritten Reich“ gewesen seien. 104 Dr. Schumacher: Papen-Urteil ermuntert Reaktion. In: Hannoversche Presse vom 2.10.1946. 105 Zur Rolle Papens vgl. u. a. Joachim Fest, Franz von Papen und Konservative Kollaboration. In: ders., Das Gesicht des Dritten Reiches. Profil einer totalitären Herrschaft, München 1963, S. 209–224; Joachim Petzold, Franz von Papen. Ein deutschen Verhängnis, München 1995. 106 Plener, Der feindliche Bruder, S. 95, behauptet, Schumacher hätte dieses Thema erst ab 1947 etwas stärker hervorgehoben. 107 Zit. nach Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, S. 297.

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ni 1947) warb er dann sogar als erster deutscher Politiker öffentlich für Wiedergutmachungszahlungen an die jüdischen Überlebenden. Diese Forderung vertrat er Monate später auf seiner USA-Reise noch einmal nachdrücklich.108 Kein Zweifel: In der Frage des Holocaust betrieb Schumacher keine taktisch motivierte Konzessionspolitik an den deutschen Nachkriegszeitgeist; die Erinnerung an die Judenvernichtung und die Pflicht deutscher Wiedergutmachung waren ihm eine Herzensangelegenheit, die er sowohl im In- wie auch im Ausland immer wieder zum Ausdruck brachte. Mochte er auch die deutschen Verbrechen in Ost- und Südosteuropa dagegen nur unzureichend zur Sprache bringen, sein „Antikommunismus hatte nichts“ – wie Jeffrey Herf zu Recht betont – „mit der Verdrängung der NS-Vergangenheit zu tun. Im Gegenteil, während die Kommunisten sich als Antipoden der Nationalsozialisten ausgaben, wies Schumacher auf die beiden gemeinsame Neigung zur Diktatur hin. Der Totalitarismus des Dritten Reiches habe die Deutschen ‚schwächer und ärmer an Geist und Gesinnung gemacht, aber so arm und so schwach sind sie nicht geworden, dass sie nicht erkennen würden, dass sich hier dasselbe abspielt, was sich zwölf Jahre hindurch [während der NS-Zeit] abgespielt hat‘. Er kritisierte Ulbricht nicht, um Hitler vergessen zu machen; viel mehr implizierte die prinzipielle Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus seinem Verständnis nach die Ablehnung jeder anderen Form der Diktatur.“109

4.

Der „östliche Totalitarismus“ und das Bollwerk SPD

Ähnlich wie mit der Formel von den „rotlackierten Nazis“ verhielt es sich auch mit dem Begriff des „östlichen Totalitarismus“, den Schumacher erstmals 1947 verwendete und bis zu seinem frühen Tode 1952 als stehende Redewendung benutzte. In diesem von ihm selbst geprägten Begriff versuchte er das Herrschaftssystem der Sowjetunion und ihrer östlichen Satellitenstaaten auf einen Nenner zu bringen, wobei er der SPD als der entscheidenden Widerstandskraft im Zentrum Europas eine besondere Rolle zubilligte: Für ihn war Stalins bolschewistische Herrschaft trotz der „proletarischen Terminologie in der Agitation“ ein „extremer Obrigkeitsstaat“, der auf der „Grundlage der Unfreiheit, der Ungleichheit und der Unbrüderlichkeit errichtet“ worden sei. Dem stellte er sein Bekenntnis von Demokratie gegenüber, nämlich „tatsächliche Selbstverantwortung, Selbstführung und Selbstverwaltung des Volkes“. Aufgrund dieser „diametralen Gegensätzlichkeit in der Theorie“ betrachtete er die Sozialdemokraten als die „eigentlichen Gegenspieler“ Stalins und des östlichen Herrschaftskommunismus.110 Der sozialdemokratische Widerstand gegen die Gründung der 108 Ebd., S. 299 ff. 109 Ebd., S. 302. 110 Referat Schumachers auf dem Parteitag der SPD „Die Sozialdemokratie im Kampf für Freiheit und Sozialismus“ vom August / September 1948. In: Albrecht (Hg.), Kurt Schumacher. Reden, S. 602.

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SED und ihr überragender Wahlerfolg in Berlin (Oktober 1946) veranlassten ihn sogar zu der Behauptung, dass allein die Sozialdemokratie den „einzigen intakten Wall“ gegen die östliche kommunistische Bedrohung bilde, wozu die vor Angst schlotternden „Besitzbürger“ (vermutlich meinte er damit auch die CDU) unfähig seien.111 Mit dem einzigen „intakten Wall“ meinte der SPD-Vorsitzende aber nicht nur die eigene Partei, sondern darüber hinaus das von ihm favorisierte demokratisch-sozialistische Modell: Wie Richard Löwenthal, der mit seinem Buch „Jenseits des Kapitalismus“ in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ab Anfang 1947 für Furore sorgte und auf dessen Thesen sich Schumacher auch auf dem Nürnberger Westzonen-Parteitag (Juni 1947) stützte,112 beharrte der SPDVorsitzende nach wie vor auf einer demokratisch-sozialistischen Zukunft Deutschlands. Sein Modell sollte das – nach Schumachers Meinung ohnehin schon am Boden liegende – kapitalistische System ebenso beerben wie das totalitär-sozialistische des Ostens. Das demokratisch-sozialistische Modell verstand Schumacher deshalb als Wellenbrecher eines „östlichen Totalitarismus“, der zwar unablässig nach Mitteleuropa ausgreife, aber durch die Zukunftsfähigkeit eben dieses Modells und durch den heftigen Widerstand der SPD erfolgreich abgewehrt werden könne. Die Absicht der „Eroberung Deutschlands“, die Schumacher in diesem Zuge den „Russen“, „Russland“ im Allgemeinen, oder auch den Kommunisten unterstellte,113 bewegte sich dabei zwischen einer realistischen Expansionsanalyse und tradierten Klischees: Zweifellos war der sowjetische Kommunismus seit seiner Herrschaftsgründung 1917/18 und der Konstituierung der Komintern 1919 bestrebt gewesen, in den mittel- und westeuropäischen Bereich auszugreifen und dort eigene Herrschaftsgründungen in die Wege zu leiten. Mit dem Vormarsch der Roten Armee nach Ostmitteleuropa war tatsächlich zweierlei eng verknüpft: die endgültige Vernichtung des nationalsozialistischen Aggressors, der die UdSSR vier Jahre vorher überfallen und brutal ausgebeutet hatte, und die damit einher gehende Sowjetisierung halb Europas. Beide Faktoren wurden von 111 Rede Schumachers in der gemeinsamen Sitzung der obersten Parteigremien, der Fraktion des Parlamentarischen Rates und der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten vom 20. 4.1949. In: ebd., S. 644. Unzweifelhafte Erfolge der SPD wie in Berlin, wo die Sozialdemokratie im Oktober 1946 beinahe 50 Prozent der Stimmen erlangte und damit der SED eine schwere Niederlage beibrachte, interpretierte Schumacher etwas voreilig als Sieg der „Idee der Menschenrechte, der persönlichen Freiheit, der Demokratie und des europäischen Sozialismus“ über den kommunistischen Totalitarismus. Berlin und die Konsequenzen des Sozialismus. Eine Rede Schumachers nach der Wahl. In: Der Tagesspiegel vom 22.10.1946. 112 In seiner Rede „Deutschland und Europa“ stützte sich Schumacher bei der Analyse der neuen politischen Klasse der Sowjetunion ausdrücklich auf Löwenthal [Pseudonym: Paul Sering], der den Unterschied zwischen totalitärer und demokratischer Planung der Wirtschaft in seinem Buch erläutert hatte. Vgl. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 29. Juni bis 2. Juli 1947 in Nürnberg, Hamburg 1947, S. 51 f. Zu Löwenthal vgl. auch den Beitrag von Uwe Backes in diesem Band. 113 Rede Schumachers vom 20. 4.1949, S. 643 ff.

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Schumacher zusammengefasst und in eine historisch begründete Eroberungsstrategie der UdSSR eingebettet. Die „europäische Aktion der Russen in den letzten Jahren“ habe sich – so der SPD-Vorsitzende simplifizierend – auf den „alten Lenin-Satz“ gegründet: „Wer Deutschland hat, der hat Europa!“114 Es war aber nicht nur die Denkfigur der langjährigen sowjetischen Expansionsbestrebungen, die hier zum Ausdruck kam, sondern auch die „russische“ Gefahr, die der geborene westpreußische Grenzlanddeutsche noch im Ersten Weltkrieg selbst erlebt hatte und die er angesichts der sowjetischen Gräuel im deutschen Osten 1944/45 propagandistisch geschickt auszuspielen bereit war. Daraus dürften sich auch seine all zu platten Gleichsetzungen von „russisch“ und „kommunistisch“ speisen.115 Wie stark der SPD-Vorsitzende von der demokratisch-sozialistischen Sendung der eigenen Partei und der dadurch sicher zu stellenden Abwehr des „östlichen Totalitarismus“ überzeugt war, zeigen nicht zuletzt seine großen öffentlichen Auftritte, die er im Oktober 1947 in den USA absolvierte. In einer ersten Rede vor dem Konvent der American Federation of Labour (AFL) beschwor er die Delegierten, dass die Erfolglosigkeit sozialdemokratischer Politik „totalitären Welteroberungsansprüchen die Bahn frei“ machen werde, da der „bolschewistische Totalitarismus“ den „Kontinent zu erobern“ versuche. Die SPD spiele hier die Rolle eines Walles gegen Osten, der aber nur funktioniere, wenn die SPD ihr Programm – Demokratie und Sozialismus – durchsetzen könne.116 Wenige Tage später artikulierte Schumacher seine Position vor dem Commonwealth Club noch schärfer und selbstbezogener, als er allen Ernstes behauptete, dass sich der „kommunistische Totalitarismus“ nur gegen seine Partei richten würde, nicht aber gegen die Reaktion und die „kapitalistische Zusammenballungen“. Als Grund nannte er die kommunistische Furcht vor dem Masseneinfluss der SPD unter den Arbeitern, wobei er hier mit dem Hinweis auf die Unterdrückung der SPD in der SBZ zu punkten versuchte.117 Andererseits hielt er jedoch die „russische“ Bedrohung für (West-)Deutschland für nicht allzu dramatisch, da die Kommunisten in den „Augen der Deutschen viel zu stark mit der russischen Hypothek belastet“ seien. Die Anziehungskraft der KPD werde aus seiner Sicht „nur wirksam aus Protest gegen ungenügende oder fehlerhafte Maßnahmen der Westmächte“.118 SPD-intern spitzte er seine Kritik an den Westmächten weiter zu, als er ihnen vorwarf, die „Leistung der SPD im Winter 1945/46 bei weitem noch nicht erkannt“ zu haben (Hier meinte er wohl die Ablehnung der SED-Gründung). Die „Tatsache, 114 Ebd., S. 643. 115 Zur Kritik an Schumachers Russland-Rhetorik vgl. Plener, Der feindliche Bruder, S. 85 ff. 116 Rede Schumachers in San Fransisco vor dem Konvent der AFL am 14.10.1947 (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 42). 117 Rede Schumachers in San Fransisco vor dem Commonwealth Club am 20.10.1947 (ebd.). 118 Ebd.

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dass sie heute in der Position sind, überhaupt mit den Russen psychologisch beim deutschen Volk [...] konkurrieren“ zu können, beruhe „in erster Linie auf der sozialdemokratischen Leistung in Deutschland“. Kommunistische Machtergreifungen in Westeuropa befürchtete der SPD-Vorsitzende am ehesten in Frankreich und Italien, wo starke kommunistische Parteien existierten. Doch selbst wenn es dem Kommunismus gelänge, diese beiden Ländern „vorübergehend zu erobern“, würden sich die Deutschen „noch immer mit großer Aussicht auf Erfolg dem Kommunismus auch massen-psychologisch widerstehen“. Sollte jedoch Deutschland fallen, sei es seiner Meinung „vorbei in Europa“.119 Schumachers Hoffnung und sein Werben bei den West-Alliierten, dass die „geeignete Methode bei der Neuordnung Europas und Deutschlands“ nur der „demokratische, die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit in sich tragende Sozialismus“ sei und lediglich mit ihm der „Ansturm des Totalitarismus“ abgewehrt werden könne,120 sollte sich jedoch nicht erfüllen: Schon bei den Kommunal- und Landtagswahlen 1946 sowie noch einmal bei den Frühjahrswahlen 1947 schnitt die SPD in den Westzonen schlechter als erhofft ab. Der moralische Anspruch auf Führung, den Schumacher im Sommer 1945 so vehement erhoben hatte, konnte nur in Norddeutschland und Hessen in Wählerstimmen umgemünzt werden. Im neu gebildeten Bundesland Nordrhein-Westfalen und in Süddeutschland dominierte die CDU/CSU, die hier vor allem beim katholischen Wahlvolk Unterstützung fand. Auch wenn es in der neuen christlichen Sammlungspartei anfangs einen sozialistischen Flügel gab, der u. a. auch eine Sozialisierung von Schlüsselindustrien verfocht, so dominierten doch ab 1947 immer stärker die wirtschaftsliberalen Kreise. Ausschlaggebend waren aber schließlich die West-Alliierten, die sozialistischen „Experimenten“ ablehnend gegenüberstanden. Schumacher selbst war schon Anfang 1947 bewusst geworden, dass seine Partei „im ganz überwiegend katholischen Westen in einen schweren Wettlauf mit der doch reaktionär geführten CDU“ kommen werde, da der traditionsreiche ostdeutsche „Lungenflügel“ der SPD im April 1946 „todgelegt und gelähmt“ worden sei.121 Trotz seines Scheiterns in wirtschaftssozialistischer Hinsicht hielt Schumacher am Auf- und Ausbau einer westdeutschen Demokratie und an der Stellung 119 Rede Schumachers auf einer internen Redakteurskonferenz der Parteipresse am 30.11.1947 in Hannover (ebd., Mappe 43). 120 Telegraf vom 9.11.1947. 121 Rede Schumachers „Ein neues Deutschland, ein neues Europa“ in Berlin am 22.1.1947 (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 40). Wie stark ihn die Einheitsproblematik und die Konsequenzen des Wegfalls der Ost-SPD für sein demokratisch-sozialistisches Modell klar waren, zeigt folgende Passage aus seiner Berliner Rede: „Wenn wir ein einheitliches Deutschland und eine einheitliche Sozialdemokratie hätten, wenn wir unsere alten Massen von Anhängern in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg, Pommern, den beiden Sachsen und Thüringen mobilisieren könnten, dann wäre dieser Wettlauf ausgestanden. Wir finden heute dank der Politik der SED gesamtdeutsch und gesamteuropäisch eine Stärkung des Restkapitalismus und der bourgeoisen Kräfte in Deutschland vor.“

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der SPD als wichtigster Widerstandskraft gegen den „östlichen Totalitarismus“ fest. Rückblickend schrieb er im Sommer 1948, das „ohne die deutsche Sozialdemokratie und ihre politische Leistung in der Auseinandersetzung mit dem östlichen Totalitarismus [...] Deutschland – und vielleicht auch manches andere Land Westeuropas – bereits ideologisch-politisch eine Domäne des Kommunismus geworden“ sei. „Man nehme“, so Schumacher selbstbewusst , „alle Kritiker der deutschen Sozialdemokratie und setze sie unter Anrechnung aller Möglichkeiten und Anerkennung aller eventuellen Fähigkeiten in die eine Waagschale und man lege auf die andere Waagschale die eine Tat der deutschen Sozialdemokratie; die Durchsetzung der Demokratie und die Abwehr des Kommunismus, ja man nehme nur den einzigen Kriegsschauplatz Berlin, dann sieht man, wohin sich das Schwergewicht der politischen Leistung neigt.“122 Zweifellos trug diese Rückschau resignative Züge, wusste Schumacher doch, dass sein demokratisch-sozialistisches Modell gescheitert war. Dieses Eingeständnis hielt ihn aber nicht davon ab, die zentralen Entscheidungen auf dem Weg zur westdeutschen Staats- und Demokratiebildung mitzutragen. Maßgebliche Einwürfe, die mit der Bonner Staatsgründung im Zusammenhang standen oder aber daraus resultierten, begründete er mit der Gefahr des „östlichen Totalitarismus“. Sie zeigen, dass er der (westlichen) Demokratie als Eigenwert auch ohne sozialistisches Vorzeichen eine ausschlaggebende Bedeutung beimaß: So begründete Schumacher in der ersten Jahreshälfte 1949 den Standpunkt der SPD, keinen „koddrigen Rheinbund“, sondern einen schlagkräftigen Bundesstaat zu schaffen, mit dem Argument, dass, wenn der „östliche Totalitarismus“ „Anspruch auf das Monopol der nationalen Idee und der nationalen Einheit“ erhebe, ihm der konkurrierende Westen keine Neuauflage des „Rheinbundes“ entgegensetzen könne.123 Im Frühjahr 1950 legitimierte er wiederum seinen Vorstoß in der Frage einer Neuverteilung der Kompetenzen zwischen deutschem Grundgesetz und alliiertem Besatzungsstatut mit dem Hinweis, dass die „Kraft und das Leben der deutschen Demokratie [...] von größter Bedeutung für die Überwindung des östlichen Totalitarismus“ seien.124 Nicht anders argumentierte Schumacher mit Blick auf die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und den Schuman-Plan von 1952. Seine Ablehnung begründete er mit der fehlenden deutschen Verfügungsgewalt und der mangelnden „demokratischen Grundlage und Kontrolle“ dieser Institutionen. Ein derart konstru-

122 Kurt Schumacher, Von der Idee der Gestaltung (Juli 1948). In: Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1947, Hannover 1948, S. 5–9, hier 6. 123 Rede Schumachers auf dem bayerischen Landesparteitag vom 5. 6.1949. In: Albrecht (Hg.), Kurt Schumacher. Reden, S. 665. 124 Grundsatzreferat Schumachers auf dem Bundesparteitag der SPD im Mai 1950: „Die Sozialdemokratie im Kampf um Deutschland und Europa“. In: ebd., S. 748.

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iertes Europa könne „seine Aufgabe der Abwehr des östlichen Totalitarismus nicht in dem notwendigen Umfange gerecht werden“.125 Es soll an dieser Stelle nicht erörtert werden, inwieweit solche Einwürfe zu starke apodiktische Verhaltensweisen offenbaren (z. B. in der Europa-Frage) und es soll in diesem Kontext auch nicht erörtert werden, inwieweit solche Auslassungen eine nationale bzw. eine bereits offen nationalistische Komponente beinhalteten; vielmehr kommt es darauf an, Schumachers Überzeugung, dass nur eine gefestigte und damit ausstrahlungsstarke bundesdeutsche Demokratie den „östlichen Totalitarismus“ eindämmen oder überwinden könne, sichtbar zu machen. Mit Blick auf die deutsche Einheit und ihre Vorbedingungen erläuterte der SPD-Vorsitzende jedenfalls im Frühjahr 1951 im Deutschen Bundestag, mit welchen konkreten Maßnahmen er dem „östlichen Totalitarismus“ begegnen wolle. In seiner Rede hob er vor allem drei Punkte hervor: – Wir haben eine „starke soziale Ordnung“ zu schaffen, die den „weltweiten Unterschied im Sozialen zwischen den Ländern der Demokratie und den Ländern der Diktatur auch den Menschen im Osten, auch den Bewohnern der Satellitenstaaten klarmacht“. – Wir haben zum anderen eine „demokratische Praxis im eigenen Lande und eine demokratische Praxis der Außenpolitik zu entwickeln, die die Gleichberechtigung zum idealen Vorbild für die Völker des Ostens macht“. – Wir haben schließlich ein „System praktischer Maßnahmen zu schaffen, wie sie von den Kräften der Demokratie bei der Rückgewinnung der sowjetischen Besatzungszone nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich für die Eroberung und Sicherung der Freiheit durchgeführt werden sollten“.126 Als „Schritt Nr. 1“ betrachtete Schumacher dabei „gleiche und freie Wahlen unter den gleichen Chancen für alle Beteiligten.“127 Kurz vor seinem Tod, im Sommer 1952, integrierte er sogar die Formel vom „östlichen Totalitarismus“ im Vorwort des neuen SPD-Aktionsprogramms und erhob sie damit zum Vermächtnis: „Die Sozialdemokratie war sich stets darüber klar, das ihre Abwehr des östlichen Totalitarismus und die geistige Gewinnung der Deutschen für die Sache der Demokratie nur dann möglich und von dauerndem Erfolg sein würde, wenn sie diese Abwehr aus einem demokratischen und nationalen Selbstbewusstein heraus führt. [...] Nur ein Deutschland, getragen von einem staatsbürgerlichen Bewusstsein und sozialer Gerechtigkeit, kann erfolgreich in der Abwehr totalitärer Tendenzen sein.“128 125 Interview Schumachers mit dem Leiter des Bonner Büros des NWDR Walter Steigner: Die fortdauernde Ablehnung des Schumann-Planes als „Europa-AG“ vom 6. 8.1952. In: ebd., S. 825 f. 126 Rede Schumachers über „Deutschlands Einheit in Freiheit“ im Deutschen Bundestag vom 9. 3.1951. In: ebd., S. 937. 127 Ebd., S. 935. 128 Aktions-Programm der SPD, beschlossen auf dem Dortmunder Parteitag am 28. 9. 1952, erweitert auf dem Berliner Parteitag am 24. 7.1954. Mit einem Vorwort von Dr. Kurt Schumacher. In: Programme der deutschen Sozialdemokratie, hrsg. vom Bundessekretariat der Jungsozialisten, Hannover 1963, S. 115–177, hier 119 f.

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Zusammenfassung

Fragt man nach den Konstanten in Schumachers Denken, dann kommt seiner frühen anti-extremistischen bzw. antitotalitären Ausrichtung eine besondere Bedeutung zu. Bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik beurteilte er extremistische Parteien wie die KPD und NSDAP als Feinde der Demokratie, die eine neue Form der Diktatur aufzurichten versuchten. Anders als weitere bekannte linksdemokratische Totalitarismuskritiker wie Curt Theodor Geyer und Richard Löwenthal musste er nicht jahrelange Erkenntnisprozesse durchmachen, um etwa das bolschewistische Regime als totalitäre Diktatur und nicht als Land des sozialistisches Fortschritts zu begreifen. Im Gegensatz zu beiden Vorgenannten, die sich in späteren Phasen ihres Lebens auch zu bemerkenswerten Totalitarismustheoretikern entwickelten, blieb Schumacher aber stets nur Totalitarismuskritiker. Mit seinen öffentlich vorgetragenen Vergleichen von faschistischen und bolschewistischen Diktaturen und Parteien profilierte er sich allerdings bis 1933 zu einem der wichtigsten Totalitarismuskritiker der SPD, auch wenn er den Begriff noch nicht verwendete. Die Bezeichnung „totalitär“ lässt sich bei Schumacher erstmals Anfang Februar 1946 nachweisen, und zwar im Zuge der immer härter werdenden Auseinandersetzungen um die Bildung einer Einheitspartei in Ostdeutschland. Schon im Sommer 1945 hatte der Sozialdemokrat das Volksfrontprogramm der KPD einer ätzenden Kritik unterworfen und an der demokratischen Wandlung der KPD offen gezweifelt. Die zwangsweise Einverleibung der Ost-SPD und die dabei angewendeten Methoden ließen ihn nur wenige Monate später zu seiner Weimarer Linie zurück finden und zu dieser Charakteristik greifen. Dass Schumacher Wochen später diesen Begriff noch mit der Formel von den „rotlackierten Nazis“ inhaltlich und sprachlich steigerte (womit er auf eine ältere Interpretation von 1930 zurückgriff), hatte in erster Linie mit persönlichen Verunglimpfungen durch die Kommunisten und die Verfolgung von Sozialdemokraten in der SBZ zu tun. Ähnlich verhielt es sich mit der Formel vom „östlichen Totalitarismus“, die er ab 1947 ständig verwendete. Vor dieser Negativfolie entwickelte er sein demokratisch-sozialistisches Modell, von dem sich in der Bundesrepublik allerdings „nur“ das demokratische Institutionengefüge ohne wirtschaftssozialistische Implikationen durchsetzen ließ. Auch wenn manche Reden und Begriffe des SPD-Politikers (wie die „rotlackierten Nazis“) als Exkulpationsbemühungen in Richtung Drittes Reich verstanden werden konnten, ein Schönredner und Verdrängungsakrobat hinsichtlich deutscher Verbrechen und deutscher Verantwortung war er keinesfalls. Im Gegenteil: Die Erfahrung der NS-Diktatur, unter der er besonders gelitten hatte, bildete vor dem Hintergrund seines anti-extremistischen Denkens der Weimarer Republik den Ausgangspunkt seiner politischen Konzeption: Aus der Katastrophe lernen hieß für Schumacher, eine neue totalitäre Diktatur verhindern helfen. Nur so ist sein Nachkriegscredo zu verstehen, dass mit der nationalso-

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zialistischen Diktatur „Idee und Praxis jeder Diktatur zusammengebrochen“ sei,129 und nur so lässt sich auch sein Appell an die West-Alliierten interpretieren, dass doch der Zweite Weltkrieg „für die Idee der Demokratie“ geführt worden sei und nicht „für die Totalitätsansprüche einer Partei oder der hinter ihr stehenden Kräfte“.130 Auch Jeffrey Herfs Urteil über Schumachers Nürnberger Parteitagsrede 1947 weist genau in diese Richtung: „In einem Atemzug hatte er an die jüdische Katastrophe erinnert, sich für die Wiedergutmachung stark gemacht, stolz seine sozialistischen Überzeugungen bekräftigt und den Totalitarismus sowohl in der NS-Vergangenheit als auch in der kommunistischen Gegenwart verurteilt. Seine Kritik an der in Ostdeutschland entstehenden Diktatur beruhte auf Erinnerung, nicht auf Verdrängung der NS-Vergangenheit.“131 Ohne Zweifel ist es Schumachers Kampf für parlamentarische Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit und für die Entfaltung des Individuums sowie sein Kampf gegen jede totalitäre Diktatur, was als bleibende Leistung eines allzu apodiktischen Politikers anzuerkennen ist. Sein Nachkriegscredo: Nie wieder Diktatur hatte ganz gewiss entscheiden Anteil an der Ausformung eines antitotalitären Konsens in der frühen Bundesrepublik.

129 Berlin und die Konsequenzen des Sozialismus. 130 Interview Kurt Schumachers zu Einheitspartei und Demokratie, Februar 1946, maschinenschriftlich (AdsD, Bestand Kurt Schumacher, Mappe 36). 131 Herf, Zweierlei Erinnerung, S. 302.

Arno Hennig, Carlo Schmid und die Totalitarismuskonferenz der SPD im Juni 1947 Mike Schmeitzner In der Literatur über die programmatische Erneuerung der (west)deutschen Nachkriegssozialdemokratie wird dem Jahr 1947 eine besondere Bedeutung zugemessen: Die kulturpolitische Konferenz von Ziegenhain, auf der im September des Jahres eine Resolution über die Vielfältigkeit der programmatischen Wurzeln und Begründungen des demokratischen Sozialismus einstimmige Annahme fand, gilt zurecht als Zäsur auf dem Weg zum Godesberger Programm der SPD (1959) und als Absage an die jahrzehntelange Dominanz des marxistischen theoretischen Ansatzes in der Sozialdemokratie.1 Doch war „Ziegenhain“ nur der vorläufige Höhepunkt einer gerade 1947 intensiv geführten innersozialdemokratischen Debatte über die eigenen programmatischen Wurzeln. Im Vorfeld hatte die Kulturzentrale der SPD bereits zwei Konferenzen veranstaltet, die nur bedingt als Vorstufe gelten konnten: In Bad Gandersheim (Februar 1947) und Erlangen (Juni 1947) spielten zwar auch Fragen der Kultur, der Bildung und der programmatischen Erneuerung eine Rolle, doch erlangte die Erlanger Tagung einen besonderen Stellenwert dadurch, dass auf ihr erstmals die geistige Elite einer deutschen Partei zum Problem des Totalitarismus in Vergangenheit und Gegenwart zusammenkam und diskutierte.2 Im Mittelpunkt der zweitägigen Konferenz (26./27. 6.1947) standen die „Geistigen Grundlagen des Totalitarismus“ (so der Titel des Hauptreferats) sowie die Auseinandersetzun1

2

Auf der kulturpolitischen Tagung in Ziegenhain (21.–23. 8.1947) hatten 80 Sozialdemokraten eine Resolution einstimmig angenommen, in der sie betonten, das die „Ergebnisse der marxistischen Methode [...] nicht alleinige und absolute Grundlage aller Erkenntnisse“ seien. Neben dem „kämpferischen Bewusstsein der unterdrückten Klassen“ wurde noch der „Wille zur Menschlichkeit“ sowie die „religiöse und sittliche Verpflichtung“ betont. Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 2004, S. 264 f. Vgl. ebd., S. 264; Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945–1965, Bonn 1982 (Neuausgabe 1996), S. 128; Jahrbuch der SPD 1947, S. 113; Petra Weber, Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie, München 1996, S. 303. In anderen Darstellungen wird fälschlicherweise nur von „schulpolitischen Fragen“ gesprochen, die in Gandersheim und Erlangen erörtert worden seien. Vgl. z. B. Georg Eckert, Auf dem Weg nach Godesberg. Erinnerungen an die Kulturkonferenz der SPD in Ziegenhain. In: Freiheitlicher Sozialismus. Beiträge zu seinem heutigen Selbstverständnis. Hg. von Heiner Flohr, Klaus Lompe und Lothar F. Neumann, Bonn 1973, S. 49–58, hier 50.

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gen mit Ideologie und Herrschaft der gerade erst überwundenen NS-Diktatur und des sowjetischen Diktatursystems, das sich mit der Ausschaltung der OstSPD auch in der SBZ unübersehbar zu entwickeln begann. Die für den zweiten Tag geplanten Diskussionen über die Bildungspolitik wurden von diesen Themen überlagert und fast völlig an den Rand gedrängt.3 In Erlangen schärfte die (west)deutsche SPD ihr – bereits durch Schumacher – entworfenes antitotalitäres Profil. Maßgeblichen Anteil daran hatten vor allem die Initiatoren und Referenten der Tagung selbst – insbesondere der Leiter der Kulturzentrale, Arno Hennig, und der Tübinger Staatsrat Carlo Schmid, der mit seinem Referat über die „Geistigen Grundlagen des Totalitarismus“ auch einen Meilenstein auf dem Weg zu „Ziegenhain“ und „Godesberg“ setzte.

1.

Vorbereitung und Themensuche

Die entscheidende Rolle beim Zustandekommen aller drei Konferenzen hatte zweifellos Arno Hennig, dem es Georg Eckert als „bleibendes Verdienst“ anrechnete, die „Programmdiskussion, die überall spontan begonnen hatte, in enger Fühlung mit Willi Eichler, Wilhelm Mellies, Ludwig Metzger, Carlo Schmid, Gerhard Weisser u. a. [...] initiiert und organisiert zu haben“.4 Hennig hatte die Funktion eines Kulturreferenten (die Bezeichnung Kulturzentrale dürfte wohl in dieser Zeit zu hoch gegriffen sein) erst im Spätherbst 1946 übernommen – nach seiner spektakulären Flucht aus der SBZ, in der er schon einmal für ganz ähnliche Aufgaben verantwortlich gewesen war: Vor 1933 einer der Führer der Freitaler SPD, hatte sich der Pädagoge nach 1945 schnell den Ruf eines Erneuerers der Ostzonen-SPD erworben. Als Freitaler Oberbürgermeister, Kulturreferent der sächsischen SPD und als Kurator der im Spätherbst 1945 geschaffenen Arbeiterakademie der sächsischen SPD war er vor der Gründung der SED gleich doppelt ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten: als Gegner eines doktrinären Marxismus und einer schnellen Vereinigung mit den Kommunisten, die er noch Anfang Februar 1946 auf einer Landesvorstandssitzung vorausschauend als „Eintritt der SPD in die KPD“ charakterisierte.5 Auf dem ersten Landesparteitag der sächsischen SPD im Oktober 1945 hatte Hennig in einem vielbeachteten Grundsatzreferat über „Sozialdemokratische Kulturpolitik“ dem vor 1933 gerade in der sächsisch-mitteldeutschen SPD vorwaltenden orthodoxen Marxismus eine klare Absage erteilt und dabei schon ein3

4 5

Vgl. Rupprecht Prinz zu Hohenlohe-Oehringen, Rettet den Menschen in uns Menschen. Bericht von der kulturpolitischen Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Erlangen vom 25.–27. Juni 1947 (AdsD, PV SPD, 0962 A). Die Tagung wurde am 25. Juni abends mit einer öffentlichen Kundgebung eröffnet, begann aber intern am 26. Juni früh. Eckert, Auf dem Weg nach Godesberg, S. 50. Niederschrift der Sitzung des erweiterten Landesvorstandes der SPD Sachsen vom 4. 2.1946 (SächsHStAD, SED-BPA Dresden, II/A/1.001, Bl. 31).

Arno Hennig, Carlo Schmid und die Totalitarismuskonferenz

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mal jenen geistigen Raum vermessen, der dann ab April 1946 in der SBZ für Jahrzehnte unpassierbar blieb. In seinen Ausführungen, die sich gegen jegliches „mechanistisches Denken“, gegen „Machtvergottung“ und „Staatsanbetung“ richtete, versuchte er auch die Frage zu beantworten, wie in Zukunft Sozialismus definiert werden müsse. Hennig gab darauf folgende Antwort: „Der Sozialismus ist keine Weltanschauung, er ist eine Lebensanschauung. Deshalb können wir mit guter Überzeugung sagen: Wir sind weltanschaulich ehrlich neutral und jeder kann mit uns gehen, der auf dem Boden des Sozialismus steht, ohne Rücksicht auf seine Weltanschauung.“ Er selbst wisse z. B., wie „tief verwandt der Geist der Bergpredigt dem Geiste des Sozialismus“ sei, weshalb die SPD das „Bekenntnis zu wohlwollender Neutralität gegenüber dem Christentum ablegen“ sollte. Sein Aufruf, nicht wieder „Dogmatiker“ und „Doktrinäre“ des Marxismus zu werden, musste nach Gründung der SED nicht nur verhallen, er wurde mit der Etablierung des Marxismus-Leninismus geradezu konterkariert.6 Da Hennigs Konzept – „demokratisch sein, das heißt weltanschaulich duldsam sein“7 – nach nur wenigen Monaten SED-Exempel und Verhören durch den sowjetischen Geheimdienst vollständig scheiterte,8 versuchte er nach seiner Flucht in die Westzonen und der Übertragung einer ganz ähnlichen Funktion für die West-SPD nun hier sein Erneuerungskonzept zu realisieren. Dabei konnte er sich meist auf Intellektuelle der mittleren Generation wie Waldemar von Knoeringen,9 Carlo Schmid, Willi Eichler oder Ludwig Metzger stützen, die – wie er – weniger vom Marxismus als vom ethischen und religiösen Sozialismus inspiriert worden waren. In seiner neuen Funktion als Kulturreferent der SPD der Westzonen hatte er bald maßgeblichen Anteil an der 1947 von ihm mit initiierten programmatischen Debatte. Zum selben Zeitpunkt, als er die erste Kulturpolische Tagung in Bad Gandersheim organisierte (Februar 1947), meldete er sich mit einem Beitrag zu Wort, in dem er vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen im Dritten Reich und in der SBZ die Unterschiede zwischen 6

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Rede Arno Hennigs über Sozialdemokratische Kulturpolitik. In: Sozialdemokratische Partei des Landes Sachsen. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Landesparteitages, abgehalten am 7., 8. und 9. Oktober 1945 in Freital, Dresden 1945, S. 139–161, hier 143, 157, 159 f. Ebd., S. 158. Zu Hennigs innerparteilicher Stellung in der SPD und SED und seiner Ausschaltung Ende September 1946 vgl. ausführlich Mike Schmeitzner/Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945–1952, Köln 2003, S. 193 ff., 237 ff., 289 ff., 549 f.; Franz Walter, Freital: Das „Rote Wien Sachsens“. In: Franz Walter/Tobias Dürr/Klaus Schmidtke, Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora. Untersuchungen auf lokaler Ebene vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Bonn 1993, S. 120 ff., 132 ff., 141, 145 ff., 156 f. Die Ausschaltung Hennigs eröffnete die erste Säuberungswelle gegen hohe SPD-Funktionäre in Sachsen. Zu Waldemar von Knoeringen, dem langjährigen bayerischen SPD-Vorsitzenden, hatte Hennig bereits Ende 1946 Kontakt hergestellt. Das Verhältnis war bald derart eng, dass Knoeringen Mitte 1947 erwog, Hennig als Leiter der im Aufbau begriffenen bayerischen SPD-Akademie zu bestellen. Vgl. Knoeringen an Hennig vom 14. 7.1947 (AdsD, NL Arno Hennig, Nr. 2).

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einer Parteidiktatur und einer Parteiendemokratie darzustellen versuchte. Dabei kam er konsequenterweise auf den weltanschaulichen „Totalitätsanspruch“ zu sprechen, der den Trennungsstrich markiere: „Eine Partei ist ein Zweckverband. Sie kümmert sich nicht um alles und jedes, sondern erstrebt Machtentfaltung. Sie erstrebt die Macht zur Durchsetzung ihrer Ziele, ihres Programms [...] Dass von der Verwirklichung des Parteizieles tiefe Wirkungen ausgehen müssen auf das Ganze des gesellschaftlichen Lebens, bedeutet keinesfalls einen ‚Totalitätsanspruch‘. Der Totalitätsanspruch einer Partei ist gefährlich für die Gesellschaft, ja für die Welt. Die grauenhafte Hinterlassenschaft der Nazis und der Faschisten bezeugt es. Er ist aber auch gefährlich für die Partei selbst. Denn er führt zwangsläufig zur Entartung. Er entwertet jede Kritik oder schaltet sie aus; er duldet keinen ehrlichen Wettbewerb; er maßt sich weltanschauliche Vorschriften an; er vergottet den eigenen Apparat, er erklärt ihn für unfehlbar und militarisiert ihn direkt oder indirekt durch ‚Schutz‘Abteilungen oder ‚Schutz‘-Staffeln. Jede Partei, die sich zum Selbstzwecke erklärt und sich, den Teil, an Stelle des Ganzen setzt, geht diesen Weg. Darum ist die Entartung einer Partei zur Totalität mit Demokratie nicht vereinbar. Darum ist auch schon eine Partei bedenklich, die mit der Behauptung auftritt, die richtige und verbindliche ‚Weltanschauung‘ zu besitzen, denn in diesem Ausspruch liegt immer der Kern des ‚Totalitären‘“.10

Mit solchen Äußerungen lag Hennig im Trend der programmatischen Diskussion, die in Berlin, Hessen oder Württemberg-Baden Kurt Schmidt, Klaus-Peter Schulz, Erwin Schoettle, Otto Friedländer oder Willi Eichler führten.11 Unmittelbar nach Hennigs Beitrag in der „Sozialistischen Tribüne“ erklärte sogar Wilhelm Sollmann, der vor den Nazis in die USA geflüchtete frühere Reichsinnenminister, in demselben Organ die „marxistische Theologie“ für gescheitert, da sie seit dem Kommunistischen Manifest und der Verkündung einer Diktatur des Proletariats „totalitäre Ansprüche“ proklamiert habe, die nicht von ungefähr in der sowjetischen Diktatur gemündet hätten.12 Beides, die Erfahrung der totalitären NS-Rassediktatur und die offensichtlich gewordene Anfälligkeit des Marxismus(-Leninismus) für „Klassendiktaturen“ (Sollmann) mit vergleichbarem Totalitätsanspruch, gaben dann auch den Ausschlag dafür, eine zweite kulturpolitische Konferenz anzuberaumen, die beiden Phänomenen und ihren jeweiligen geistigen Wurzeln auf den Grund gehen sollte. Sie sollte in diesem Kontext zugleich einer geistigen Neubestimmung der Sozialdemokratie dienen. Ende März 1947 wandte sich Hennig deshalb an den stellvertretenden Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer mit der Ankündigung, im 10 Arno Hennig, Was ist eine Partei und was soll sie nicht sein? In: Sozialistische Tribüne, 1 (1947) 2/3, herausgegeben von der Landesleitung der SPD Hessen, S. 11–14, hier 11 f. 11 Vgl. Kurt Schmidt, Erstarrter Kommunismus. In: Das sozialistische Jahrhundert, 1 (1947) 5/6, S. 84 f.; Klaus-Peter Schulz, Von der Diktatur des Proletariats. In: ebd., 1 (1946) 3/4, S. 53 f.; Erwin Schoettle, Die neue Aufgabe der Sozialdemokratie. In: Sozialistische Monatshefte, 1 (1946) 1, S. 1–3; Otto Friedländer, Terror und Totalität. In: ebd., 2 (1947) 5, S. 12–17; Willi Eichler, Der Kampf gegen das totale Elend. In: Geist und Tat, 2 (1947) 4, S. 1–5. 12 Wilhelm Sollmann, Neue Wege. In: Sozialistische Tribüne, 1 (1947) 4/5, S. 27–33, hier 29 f.

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unmittelbaren zeitlichen Vorfeld des zweiten Westzonen-Parteitages der SPD in Nürnberg (29. 6.–2. 7.1947) eine zweitägige kulturpolitische Tagung zu einem übergreifenden Thema und zur Bildungsfrage abzuhalten. Für das große geistesgeschichtliche Referat stellte er Themen wie „Politik- und Geistesleben“, „Wege zu einem neuen Geschichtsbild“, „Die Wurzeln des Faschismus“, „Lebendiger Marxismus“ und „Ist Sozialismus eine Weltanschauung?“ zur Diskussion. Gleichzeitig bat er Ollenhauer und den engeren Parteivorstand um Mithilfe bei der „Auswahl geeigneter Referenten“, da diese „über größere Personalkenntnis in den Westzonen verfügen als der Unterzeichnete“.13 Ollenhauer und Hennig müssen sehr schnell zu einem Ergebnis gekommen sein, denn schon am 3. April 1947 versuchte der Kulturreferent in einem ausführlichen Brief den Präsidenten des Staatsrates des neu geschaffenen Landes Süd-Württemberg, Prof. Dr. Carlo Schmid, für das anstehende Hauptreferat zu gewinnen. Als Arbeitstitel schlug Hennig „Sozialismus, Freiheit und Totalitarismus“ vor – darauf habe sich jedenfalls die Spitze der SPD geeignet;14 und dies dürfte in der Summe der selbst genannten Themen auch Hennigs Vorstellungen entsprochen haben. Dass sich die Spitze der Partei auf Schmid geeinigt hatte, konnte eigentlich nur Außenstehende verwundern: Denn der „Paradiesvogel“ Schmid, der der SPD erst 1945 „zugeflogen“ war,15 galt schon 1947 in den Führungskreisen der Partei als politisches und intellektuelles Schwergewicht. Der in frühen Jahren zur bürgerlichen Jugendbewegung gestoßene Jurist hatte als späterer Anhänger der Stefan-George-Kreises nach 1933 keine Universitätskarriere machen können. Erst 1945 konnte der habilitierte Jurist einen Lehrstuhl für Völkerrecht (später für Politische Wissenschaften) an der Universität Tübingen übernehmen.16 Anfang Februar 1946 entwickelte er dann auf der Gründungsversammlung der SPD Süd-Württembergs ganz ähnliche Auffassungen wie Hennig in Sachsen und später in Hannover: Auch Schmid wollte Abschied nehmen vom doktrinären Marxismus und von der alten Klassenkampfrhetorik, wie Hennig sah er im ethischen Sozialismus und in der Überwindung eines rein ökonomisch Begründungszusammenhanges eine Zukunftsoption für die SPD und mit der Neudefinition von demokratischen Parteien die Abgrenzung zum Totalitätsanspruch allmächtiger Weltanschauungsparteien.17 13 Hennig an Ollenhauer vom 31. 3.1947 (AdsD, PV SPD, 0962 A). 14 Hennig an Schmid (ebd.). 15 Zit. nach Helga Grebing, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil II. In: Walter Euchner/Helga Grebing/F.-J. Stegmann/Peter Langhorst/Traugott Jähnichen/ Norbert Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, herausgegeben von Helga Grebing, 2. Auflage Wiesbaden 2005, S. 432. 16 Vgl. ebd., und Weber, Carlo Schmid, S. 191 ff. 17 So betonte Schmid in seiner Rede, dass sich die neu gegründeten Parteien „weniger auf ihre Weltanschauung stützen [sollten] als auf das Gefühl der Verantwortung für die lebenden Generationen und ihre Sorgen. In diesem Falle können nicht Diktatur und Vernichtung des politischen Gegners das Ziel sein, sondern das gemeinsame Vorankommen in der Bewältigung der Gegenwartsaufgaben unter Achtung der Sonderstandpunkte der

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In seinem Brief an Schmid machte Hennig inhaltliche Vorgaben, die mit der Spitze der Partei (vermutlich mit Ollenhauer) abgesprochen worden seien, vor allem aber seine eigenen Vorstellungen wiedergegeben haben dürften. Sie verraten gerade im Rückgriff auf die Geschichte und die geistigen Wurzeln Hennigs Handschrift: „Es wäre zu zeigen, wie schon früh in der Geschichte Europas z. Zt. des Frühkapitalismus in totalitären Staatsgründungsversuchen wie dem Normannenstaat Friedrich II. von Hohenstaufen die Fundamente gelegt wurden für Nationalismus, Militarismus, Bürokratismus, Autokratie und vom Staate her bestimmtes totalitäres Denken. Auch die Ursprünge des von der Naturwissenschaft her stark geförderten mechanistischen Bildes vom Menschen liegen in dieser Zeit. Am Schlusse des historischen Teiles sollte im Anschluss an den Cäsarismus Napoleons III. als das historische Vorspiel zum eigentlichen Faschismus die kennzeichnende gemeinsame gedankliche Grundlage herausgearbeitet werden, die durch George Sorels ‚Violence‘ für Faschismus und Kommunismus gegeben ist und dass Sorel der Lehrer für die damals miteinander befreundeten Männer Mussolini, Lenin und Trotzki war.“18

Es käme, so Hennig, dem Parteivorstand darauf an, den „Totalitarismus nicht nur aufgezeigt zu sehen in den äußerlich zusammengebrochenen deutschen und italienischen Staatsgebilden des Faschismus, sondern auch in der despotischen Form des östlichen Kommunismus“. Es dürfe auch nicht vorübergegangen werden „an der nach wie vor lebendigen faschistischen Grundhaltung unseres Volkes und anderer Völker und ihrer Politik“. Einer solchen Stimmung könne nur durch ein Aufzeigen der „freiheitlichen, von der Würde des Menschen bestimmten Voraussetzungen des Sozialismus“ und von der „Notwendigkeit einer echten Geistesfreiheit und eines organisch geordneten Gemeinschaftslebens“ entgegengetreten werden.19 Hennigs Hoffnung über eine „grundsätzliche Zusage“ Schmids erfüllte sich schnell, denn schon Ende April stand das Programm der kulturpolitischen Tagung einschließlich der Referenten fest: Schmid sollte in einem ersten Teil über den Totalitarismus referieren, und der frühere preußische Kultusminister Adolf Grimme über das Schulprogramm.20 Es ist zu vermuten, dass sich Hennig und Schmid noch ebenfalls im April über den genauen inhaltlichen Zuschnitt des Vortrags verständigen konnten.21

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verschiedenen Gruppen“. Carlo Schmid, Weg und Ziel der Sozialdemokratie. In: Carlo Schmid, Politik als geistige Aufgabe (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 1), Bern 1973, S. 13–37, hier 17 (Rede auf der Gründungsversammlung der SPD Süd-Württemberg in Reutlingen am 10. 2.1946). Hennig an Schmid vom 3. 4.1947 (AdsD, PV SPD, 0962 A). Ebd. So lautete die vom SPD-Parteivorstand auf seiner Sitzung vom 22./23. 4.1947 beschlossene Tagesordnung, die Ollenhauer vorgestellt hatte. Vgl. Willy Albrecht (Hg.), Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer 1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzengremien. Band 1: 1946 bis 1948, Bonn 2000, S. 191. Hennig wies bereits in seinem Brief an Schmid darauf hin, dass man sich in Kürze auf einer Gremiensitzung in Bielefeld verständigen könnte. Vgl. Hennig an Schmid vom 3. 4.1947 (AdsD, PV SPD, 0962 A).

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2.

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Die Konferenz der Improvisationen

Obwohl mit Carlo Schmid der Referent des ersten Tages längst seine Zusage gegeben hatte, einen Vortrag zum Thema Totalitarismus zu halten, warteten am 26. Juni 1947 die „200 Beauftragten geistiger Berufe“22 in dem Tagungslokal der Erlanger Universitätsstraße vergeblich auf den angekündigten Vortrag. Was wohl die meisten von ihnen nicht wussten, war der Umstand, dass der Präsident Süd-Württembergs „wegen Reiseschwierigkeiten aus der französischen Zone“ nicht erscheinen konnte, wie es Hennigs Mitarbeiter in der Kulturzentrale eher euphemistisch umschrieben.23 Tatsächlich hatte Schmid von der französischen Besatzungsmacht „erst verspätet seine Ausreisegenehmigung“24 in die amerikanische Zone erhalten (in der Erlangen lag), was ein bezeichnendes Licht auf die ohnehin schon bekannte restriktivere Linie der Franzosen warf. Es war wohl letztlich diese Tatsache, die Hennig gleich am Anfang der Tagung zu dem versteckten Seitenhieb veranlasste, dass der Totalitarismus „auch heute noch bei den Siegermächten ansteckend“ fortlebe.25 Jedenfalls sah sich der Kulturreferent mit der wenig beneidenswerten Lage konfrontiert, die Tagesordnung kurzfristig ändern zu müssen: An Stelle Schmids hielt nun Hennig selbst ein Referat zum Totalitarismus, während sich sein langjähriger politischer Weggefährte, Prof. Dr. Reinhard Strecker, ebenso kurzfristig überzeugen ließ, einen „2. Vortragsteil über den Totalitarismus“ zu halten.26 Als Schmid im Laufe des zweiten Konferenztages dann doch noch eintraf, präsentierte er den Delegierten aus den Westzonen und Berlins eine Kurzfassung des ausgearbeiteten Hauptreferats, so dass an beiden Tagen schließlich drei Totalitarismusreferate und eines über die Bildungsfrage (Grimme) gehalten wurden. Hennigs und Streckers Vorträgen merkte man freilich an, dass sie improvisiert werden mussten: Während der Kulturreferent die im Brief an Schmid ge22 Bericht über die kulturpolitische Tagung in Erlangen, o. D., o. V. (ebd.). Bei diesem Bericht handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine stenographische Niederschrift der Vorträge beider Tage, die von Mitarbeitern des Kulturreferats vorgenommen wurden. 23 Hermann Lange / Prinz zu Hohenlohe, kulturpolitische Tagung der sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Erlangen vom 25.–27. Juni 1947 (ebd.). Bei diesem Text handelt es sich um eine längere Presseerklärung über den Verlauf des ersten Tages. Symptomatisch für die Gegebenheiten der damaligen Besatzungszeit dürfte auch der Umstand gewesen sein, dass die beiden Mitarbeiter die Wörter „aus der französischen Zone“ aus ihrer Presseerklärung handschriftlich wieder herausstrichen. 24 So der Hinweis von Walter May, Um die geistigen Grundlagen. In: Das sozialistische Jahrhundert, 1 (1947) 17/18, S. 281. Anfang Juni 1947 hatte die französische Militärregierung Schmid verboten, an dem Nürnberger SPD-Parteitag (einschließlich der Erlanger Konferenz) teilzunehmen, da sie über dessen „scharfe Kritik“ an ihrer Besatzungspolitik verärgert war. Erst als sie glaubte, Schmid als „europäisches“ Gegengewicht zum „nationalistischen“ Schumacher ausspielen zu können, ließ sie ihn kurzfristig doch nach Erlangen und Nürnberg fahren. Weber, Carlo Schmid, S. 298. 25 Bericht über die kulturpolitische Tagung in Erlangen, o. D., o. V. (AdsD, PV SPD, 0962 A). 26 Ebd.

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nannten historischen Linien des Totalitarismus zu verdichten versuchte und dabei auch zu Überbewertungen und Fehleinschätzungen in der deutschen Entwicklung kam, ging der Gießener Professor auf die kommunistische Diktaturdurchsetzung in der Ostzone ein, die er – ähnlich wie Hennig – in ihren Anfängen noch selbst miterlebt hatte.27 Bemerkenswert pointiert nahm sich zumindest Hennigs Einstieg aus, als er den Anwesenden mit Blick auf die geistigen Hinterlassenschaften des braunen Totalitarismus erklärte: „Das deutsche Volk steckt noch bis über die Ohren im Totalitarismus. Wir haben wohl die neue äußere Form, aber noch lange nicht die innere Haltung angenommen. Im deutschen Schicksal hat sich seit Jahrhunderten eine Haltung herausgebildet, welche den Totalitarismus in der Form des Nationalsozialismus alle Grenzen durchbrechen sah u.[nd] diese seine Haltung ist heute noch vorhanden. Dieser Totalitarismus ist selbst in den denkenden Köpfen der Soz.[ial]Dem.[okratischen] Partei noch vorhanden. Selbst die Parteimitglieder erwarten noch Befehle. Die Menschen sind das selbstständige verantwortliche Handeln auf eigene Einsicht noch ungewohnt [...] Wir können von gesicherten Verhältnissen auf demokratischem Gebiete noch nicht sprechen.“28

Für Hennig, der nach dieser (selbst)kritischen Bestandsaufnahme auch vor den Gefahren eines „Neofaschismus“ warnte, erläuterte dann den Delegierten seine Definition des Totalitären: Seiner Ansicht nach „verlöscht“ der Totalitarismus die „Freiheit, er vermasst, er entmenscht. Er unterwirft alle Lebensäußerungen des Menschen der Machtentfaltung eines Diktators mit den Mitteln der brachialen Gewalt. Er setzt Gewalt u.[nd] Macht gleich.“ Die Führung eines totalitären Staates, die aus einer „Elite von desillusionierter Pessimisten“ bestehe, setze auf Demagogie und verstehe es zudem, der „Masse eine Ideologie vorzublenden, an die der Letzte glaubt“.29 Wie man sieht, nimmt Hennigs Totalitarismusbegriff einige Spezifika totalitärer Herrschaft durchaus in den Blick, aber er bleibt doch in wesentlichen Punkten unspezifisch. Das trifft insbesondere auf den modernen Charakter totalitärer Herrschaft zu – die aus der Massendemokratie heraus entstandene Weltanschauungsdiktatur auf der Basis eines terroristischen Einparteisystems. Obwohl Hennig auf diesen Aspekt bereits in seinem Parteienaufsatz von Anfang 1947 ansatzweise verwiesen hatte, kam er in seinem Vortrag darauf nicht mehr zurück. Lag es daran, das er in Erlangen den Totalitarismus aus der Tiefe der Geschichte – und hier vor allem der deutschen – erklären wollte und dabei – angelehnt an damals gängige angloamerikanische Erklärungsversuche – einen deutschen, totalitären Sonderweg beschwor? Die „Tour d’horizon“, die er seinen Zuhörern bot, ließ jedenfalls deutlich werden, dass er z. B. die Bedeutung 27 Zur Biographie Reinhard Streckers vgl. Ulrich Peter, Reinhard Strecker (1876–1954). Ein religiöser Sozialist im „gottlosen“ Leipzig. In: Michael Rudloff/Mike Schmeitzner (Hg.), „Solche Schädlinge gibt es auch in Leipzig“. Sozialdemokraten und die SED, Frankfurt a. M. 1997, S. 160–173. 28 Bericht über die kulturpolitische Tagung in Erlangen, o. D., o. V. (AdsD, PV SPD, 0962 A). 29 Ebd.

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der Aufklärung und der Französischen Revolution für die Herausbildung demokratischen wie totalitären Denkens nicht wirklich erkannte. Mit seiner These, wonach das deutsche Volk „in seiner ganzen Geschichte eine Prädestinierung zum Totalitarismus“ gezeigt habe, vermochte er zwar bestimmte autoritäre Entwicklungsmuster der deutschen Geschichte aufzuzeigen, doch konnte er damit nicht das spezifisch nationalsozialistische – nämlich rassistische – der NS-Diktatur verdeutlichen.30 Strecker, der ab Juni 1945 in Leipzig Stadtschulrat für das höhere Schulwesen gewesen war, und hier zu den entschiedensten Gegnern einer Vereinigung mit der KPD gezählt hatte,31 wies in seinem Vortrag zumindest eingangs auf die unterschiedliche Entwicklung der Demokratie in Deutschland und bei den Westmächten hin (hier die autoritäre Erziehung der Nation, dort die längerfristige „Erziehung zur Demokratie“),32 was wohl als komparatistische Ergänzung zu Hennigs Sonderwegsbeschreibung gedacht gewesen war. Der Kern seines Vortrages gruppierte sich jedoch um die „aktuellen Gefahren des Totalitarismus in Deutschland und in Europa“,33 womit er zu Hennigs nationalsozialistischer Totalitarismusvariante die kommunistische hinzuzufügen versuchte. Ausgehend von seinen Erfahrungen in Leipzig, wo er bereits im Herbst 1945 eine „Rätediktatur“ und eine „Bolschewisierung des russisch besetzten Deutschlands“ vorausgesehen hatte,34 schilderte er in Erlangen den „Aufbau eines neuen totalitären Systems in Ostdeutschland durch die SED“. In der SBZ, so Strecker, werde die Demokratie folgendermaßen aufgefasst: „Demokratie ist Diktatur des Proletariats. Proletarier sind diejenigen, welche die Verschmelzung der SPD und KPD zur SED mitmachten. Alle anderen gehörten nicht dazu. Das ist die Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit!“ Die Sozialdemokraten dürften dagegen die Demokratie nicht aufgeben, sie müssten „jeglichen Totalitarismus mit allen Mitteln bekämpfen“.35 Allerdings versuchte Strecker den Begriff der „Diktatur des Proletariats“, wie er in der SBZ verwendet werde, gegen das Marx’sche Original abzuheben: Marx 30 Hennig ging in seiner Geschichtsbetrachtung sogar bis auf den Hohenstaufer-Kaiser Friedrich II. und dessen „autokratische“ Staatsgründung in Sizilien zurück. Selbstverständlich durfte in der folgenden Aufzählung auch nicht der preußische Ordensstaat, die „politische Seite“ der Reformation (Obrigkeitsstaat), der Absolutismus und der preußisch-deutsche Weg fehlen. Ebd. 31 Vgl. Peter, Reinhard Strecker, S. 168 ff. Zu Streckers Haltung im Vereinigungsprozess vgl. grundlegend Michael Rudloff, SED-Gründung in sozialdemokratischer Hochburg. Das Beispiel Leipzig. In: Werner Bramke/Ulrich Heß (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20. Jahrhundert, Leipzig 1998, S. 371–413. 32 Ebd. 33 Vgl. Rupprecht Prinz zu Hohenlohe-Oehringen, Rettet den Menschen in uns Menschen. Bericht von der kulturpolitischen Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Erlangen vom 25.–27. Juni 1947 (AdsD, PV SPD, 0962 A). 34 Bericht über eine Besprechung mit Herrn Prof. Dr. Str.[ecker] am 29.11.1945 (SächsStAL, SPD-BV Leipzig, Nr. 15). 35 Vgl. Rupprecht Prinz zu Hohenlohe-Oehringen, Rettet den Menschen in uns Menschen. Bericht von der kulturpolitischen Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Erlangen vom 25.–27. Juni 1947 (AdsD, PV SPD, 0962 A).

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habe „immer an die Herrschaft einer proletarischen Mehrheit über eine Minderheit der Ausbeuter gedacht“. Man könne heute diese „Form der Gewaltausübung auch begrifflich nicht der Diktatur eines totalitären Hitlerstaates gleichsetzen“.36 Damit hatte Strecker zweifellos recht, nur glaubte er – im Gegensatz zu Eduard Bernstein und Kurt Schumacher37 – die Marx’sche Formel „demokratisieren“ zu können, womit er (bewusst oder unbewusst) an die Tradition Karl Kautskys anknüpfte, der in seinen Auseinandersetzungen mit Lenin und Trotzki immer wieder auf den demokratischen Grundgehalt der Formel abhob.38 Dass auch die Marx’sche Formel elementare demokratische Forderungen wie den Minderheitenschutz für (bürgerliche) politische Gegner nicht kannte, blieb unreflektiert. Nachdem am zweiten Tag auch noch der niedersächsische Kultusminister Adolf Grimme in seinem Referat über die Schulreform den Leitfaden der Tagung aufgenommen hatte („Weltanschauungen [...] haben die Tendenz, totalitär zu werden.“),39 trat endlich Carlo Schmid ans Rednerpult, der aus seinem ausgearbeiteten – und im Anschluss dokumentierten – Referat die Kernsätze vortrug. Anders als Hennig und auch Strecker (der in Gießen eine Honorarprofessur für Philosophie und Politik inne hatte) gelang es dem „Homme de lettre“ der westdeutschen Sozialdemokratie, eine wohldurchdachte und in sich schlüssige Totalitarismuserklärung zu präsentieren, die sowohl die geistigen Wurzeln als auch die jüngsten Erscheinungsformen (Faschismen und Bolschewismus) in den Blick nahm. Dabei kamen sowohl Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Systeme als auch partielle marxistische Interpretationsmuster Schmids zum Tragen. Im Vordergrund der Argumentation stand allerdings nicht so sehr die marxistische Analyse, sondern viel eher der existentialistische Versuch, totalitäre Herrschaft vom Individuum aus zu betrachten. Hier konnte er an einige Einschätzungen Hennigs anknüpfen, die er bereits am Vortag geäußert hatte. Im totalen Anspruch „überindividueller Gruppen“ bzw. des Staates auf den ganzen Menschen erkannte Schmid das Neuartige am Totalitarismus nationalsozialistischer und bolschewistischer Prägung. Der Mensch als solcher sollte nicht mehr „freiverantwortlicher Bürger“ und nicht einmal mehr Untertan sein – so wie in den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor –, sondern nur noch „Automat“, „Roboter“ und „Maschinenaffe“. Eine eigene freie Sphäre werde ihm nicht mehr zuerkannt, oder aber von Staats wegen nur aus Zweckdienlichkeitsgründen partiell eingeräumt. Prinzipiell verfolge der totale Staat die „Abrichtung“ des Menschen und im Falle der Verweigerung die Strategie der Liquidie36 May, Um die geistigen Grundlagen, S. 282. 37 Vgl. Eduard Bernstein, Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus. In: Horst Heimann (Hg.), Texte zum Revisionismus, Bonn 1977, S. 126 f.; Kurt Schumacher, Anschluss an die Welt. In: Tagesspiegel vom 17. 4.1946. 38 Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Zarusky in diesem Band. 39 Bericht über die kulturpolitische Tagung in Erlangen, o. D., o. V. (AdsD, PV SPD, 0962 A).

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rung; dies gelte auch und gerade für Gründe der rassischen Herkunft, die Schmid im Falle des Dritten Reiches gesondert behandelte.40 Anders als Totalitarismusinterpreten vor und nach ihm (z. B. Carl Joachim Friedrich) beschränkte Schmid seine Analyse nicht nur auf einige Herrschaftsmerkmale; er ging zuerst von den unterschiedlichen Zielen und Motiven des Nationalsozialismus und des Bolschewismus aus (einerseits die Welteroberung für die „blonde Herrenrasse“, andererseits die klassenlose Gesellschaft), um dann nach ähnlichen „Mechanismen“ zu fragen, denen „offenbar das gleiche Gesetz zugrunde“ liege. Dabei kam er zu dem Schluss, dass „immer dann, wenn ein bestimmtes Weltbild, das eine Epoche getragen hat, spannungslos geworden ist [...] eine spezifische Art zu denken Platz greift: das Denken in der Kategorie des ‚Nichts als‘.“ Die Verabsolutierung bestimmter Denkansätze habe auch zu den modernen Totalitarismen geführt: Die NS-Diktatur müsse als Ergebnis von im 19. Jahrhundert entstandenen „Denkformen der Biologie“ begriffen werden, nach denen der Mensch „nichts als“ ein „biologisch bestimmtes Faktum“ sei. Die „Veterinärphilosophie“ des Nationalsozialismus und sein „rassischer Totalitätsanspruch“ seien nur eine logische Folge dieses Denkens gewesen – und Auschwitz das Synonym.41 Ein ähnliches „Nichts-als-Denken“ erkannte Schmid auch im Marxismus, wobei er den Schöpfer der Lehre, der doch im Menschen ein „freies und selbstverantwortungsvolles Wesen gesehen“ habe, ausdrücklich vor Kritik in Schutz nahm: „Ewige Wahrheiten“ hätte erst ein „missverstehender, weil einseitiger Epigonen-Radikalismus“ verkündet, womit er die russischen Bolschewiki ansprach. Diese hätten den Menschen als reine Funktion der ökonomischen Verhältnisse gesehen: In dem „automatischen Prozess von Klassenkämpfen“, die über die „Diktatur des Proletariats“ zur klassenlosen Gesellschaft führe, werde er nur als „Produkt“ und „Waffe“ seiner Klasse betrachtet. Das angesprochene Proletariat werde wiederum von einer Partei repräsentiert, die alle Abweichungen im Denken rücksichtslos unterdrücke.42 Letztlich sei die russische Entwicklung nur die konsequente Umsetzung des „Nichts-als“-Prinzips. Mit dieser Deutung hatte Schmid den Schöpfer des Marxismus vor stärkerer Kritik gerettet, war er es doch gewesen, der die schon erwähnte „revolutionäre Diktatur des Proletariats“ als Übergangsperiode auf dem Weg zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft gefordert hatte.43 Als ebenso bemerkenswert wie sein Erklärungsmodell darf Schmids Schlussfolgerung gelten, die er am Ende seines Vortrages äußerte: Wolle man künftig einen Totalitarismus „vermeiden“, müsse man den Weg der „Abkehr von jegli40 Die geistigen Wurzeln des Totalitarismus. Rede von Herrn Staatsrat Prof. Dr. Carlo Schmid gehalten am 26. 6.1947 in Erlangen (AdsD, NL Carlo Schmid, Nr. 79, S. 1 f.). 41 Ebd., S. 4 ff. 42 Ebd., S. 7. 43 Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei [besser bekannt als: Randglossen zum Gothaer Programm]. In: Die Neue Zeit, 9 (1890/91) 18, S. 563– 575, hier 573.

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chem Nichts-als-Denken“ beschreiten, ohne allerdings die „Teilwahrheiten“, die nur durch Verabsolutierungen zur Irrtümern werden, aus den Blick zu verlieren. Die „Abkehr“ habe indes so auszusehen, dass dem Menschen künftig ein „Bereich der Freiheit“ zugestanden werden müsse, der „außerhalb aller kollektiven Zwecke“ liege. Wie Sozialdemokraten diesen „Freiheitsanspruch“ „wissenschaftlich“ begründeten, sei dabei völlig unerheblich. Unabhängig davon erblickte Schmid in der Verwirklichung des Sozialismus nicht nur eine Alternative zum Totalitarismus, wobei er Sozialismus als Realisierung der Demokratie nach „allen Seiten hin“ (u. a. als Wirtschaftsdemokratie) definierte, sondern auch zum Kapitalismus.44 Wie Hennig interpretierte er Faschismus bzw. Nationalsozialismus als Ausdruck eines „sterbenden Kapitalismus“, der in Krisenzeiten zu diesem letzten Mittel greife.45 In den teils mehrstündigen Diskussionen zwischen den einzelnen Vorträgen waren solche Gedankengänge „zum Teil weiter ausgebaut [und] zum Teil ergänzt“ worden. Zudem wurde die Frage „aufgeworfen, wie eine Erziehung zur Demokratie die Gefahr eines Totalitarismus eindämmen könne“.46 In seinem Schlusswort betonte Grimme noch einmal den Wert des Erziehungsgedankens, als er die Aufklärung darüber, dass der „Kollektivismus die größte Gefahr für die Menschheit“ sei, als die „weltpolitische Aufgabe in Deutschland“ beschrieb. Die große Auseinandersetzung kreise um die Frage: „Vermassung des Menschen oder freie geistige Person als ein Ideenträger“. Zum Sozialismus in Osten sei zu sagen, dass er solange „keiner sozialistischen Idee“ entspreche, „solange der kollektivistische Gedanke noch Trumpf“ sei und die „Freiheit der Person, das Ziel jeder Kultur, verachtet“ werde.47 Eine solche Deutung führte Grimme zu der Aussage, dass Marx „für uns eine geschichtliche Persönlichkeit, aber kein Heiliger“ sei.48 Ganz in diesem Sinne präsentierte schließlich Guntram Prüfer (Hamburg) eine Entschließung, die er als „Material zur geistigen Neufundierung der Partei“ verstanden wissen wollte: „Die Teilnehmer der Kulturpolitischen Tagung in Erlangen vom 25. bis 27. Juni 1947 bekennen sich zu der Ansicht, dass jedes totalitäre System eine Gefahr für das kulturelle, ökonomische und politische Leben bedeutet. Sie erkennen, dass auch der Sozialismus in seiner durch die Methode des dialektischen Materialismus begründeten Form zu einem Totalitarismus ausarten kann, wenn er – z. B. in Verbindung mit dem philosophischen Materialismus (Lenin) – zur Weltanschauung wird. Um eine solche Ausartung zu 44 Die geistigen Wurzeln des Totalitarismus. Rede von Herrn Staatsrat Prof. Dr. Carlo Schmid gehalten am 26. 6.1947 in Erlangen (AdsD, NL Carlo Schmid, Nr. 79, S. 8 f.). 45 Bericht über die kulturpolitische Tagung in Erlangen, o. D., o. V. (AdsD, PV SPD, 0962 A). 46 Rupprecht Prinz zu Hohenlohe-Oehringen, Rettet den Menschen in uns Menschen. Bericht von der kulturpolitischen Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Erlangen vom 25.–27. Juni 1947 (ebd.). 47 Bericht über die kulturpolitische Tagung in Erlangen, o. D., o. V. (ebd.). 48 Rupprecht Prinz zu Hohenlohe-Oehringen, Rettet den Menschen in uns Menschen. Bericht von der kulturpolitischen Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Erlangen vom 25.–27. Juni 1947 (ebd.).

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verhüten, legt die kulturpolitische Tagung Erlangen dem in Bildung begriffenen Kulturausschuss der SPD die Aufgabe vor, zu untersuchen: 1. In welchen Beziehungen die Lehre von Karl Marx zu dem heutigen Weltbild der Naturwissenschaften und der zeitgenössischen Philosophie steht. 2. Welche Gültigkeit das System von Hegel, soweit es die Grundlage für die Lehre von Karl Marx bildet, heute noch hat, und wie der Sozialismus zu begründen wäre, wenn man auf das Hegelsche System verzichten müsste. 3. Welche Beziehungen zwischen den Systemen der Ethik und dem Sozialismus bzw. zwischen Christentum und Sozialismus existieren oder sich ableiten lassen.“49

3.

Der Nachhall

Das unmittelbare Echo auf die Erlanger Tagung kann als eher gering veranschlagt werden: Auf dem nachfolgenden Nürnberger Parteitag wurde Hennig nur eine Viertelstunde Zeit zugestanden, um über seine kulturpolitischen Bemühungen und insbesondere über die Erlanger Tagung zu informieren.50 Eine größere Anzahl von Presseberichten blieb gleichfalls aus. Nur einige interessierte Theorieorgane der SPD nahmen Notiz von der Veranstaltung in Franken. Das in Berlin erscheinende und von Louise Schroeder und Otto Suhr herausgegebene „Sozialistische Jahrhundert“ widmete der Konferenz immerhin eine stärkere Beachtung; allerdings galt dieses Periodikum auch als Blatt der programmatischen Erneuerer um Kurt Schmidt und Klaus-Peter Schulz. Walter May, einer der wesentlichen Beiträger des Blatts und Berichterstatter der Tagung, versuchte die Atmosphäre der Konferenz sowie die Diskussionen und Ergebnisse mit dem besonderen Blick des Berliner Sozialdemokraten einzufangen, als er seinen Lesern erklärte: „Für den, der täglich auf die Trümmer einer kriegszerstörten Großstadt schauen muss, war die Fahrt zu der kulturpolitischen Tagung der SPD, vorüber an den sauberen Dörfern Mitteldeutschlands mit den weidenden Viehherden und die unzerstörte Atmosphäre der Stadt Erlangen, ein Erlebnis. Schien man sich rein äußerlich auf einer Insel des Friedens zu befinden, so zeigte die Tagung um so deutlicher, wie fragwürdig nicht nur unsere materielle Existenz, sondern auch die geistigen Grundlagen unseres Daseins geworden sind.“51 Bemerkenswert erscheint, mit welchen konkreten Erwartungen der Berliner Politiker May die Konferenz besuchte und in welcher Weise er die zweitägigen Ergebnisse kommentierte. Der Besucher der kulturpolitischen Tagung, der, so May, in der „Erwartung gekommen war, ein brauchbares Aktionsprogramm für die politische Tagesarbeit zu erhalten, musste insofern enttäuscht sein, als die

49 Entschließung (Material zur geistigen Neufundierung der Partei) von Dr. Guntram Prüfer (ebd.). 50 Vgl. die Rede Arno Hennigs über „Die kulturpolitischen Forderungen der Sozialdemokratie“. In: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 29. Juni bis 2. Juli 1947 in Nürnberg, Hamburg 1947, S. 167–169. 51 May, Um die geistigen Grundlagen, S. 281.

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Erörterungen weitgehend kulturphilosophischen Charakter annahmen, wozu die zur Verfügung stehende Zeit bei weitem nicht ausreichte“. Dennoch habe in seinen Augen die Konferenz einen „erfreulichen Gesamteindruck dadurch“ erhalten, dass man, „um mit Grimme zu sprechen, allgemein den Willen und den Mut zu einer echten Radikalität feststellen konnte, d. h. die Aufgeschlossenheit und Bereitwilligkeit, alle Probleme unserer geistigen Lage von der Wurzel her neu zu durchdenken und sich nicht aus der Not der Zeit heraus in Phrasen oder auf den vorschnell bezogenen Standpunkt einer handfesten Doktrin zu retten“.52 Mays konkrete Erwartung an ein „Aktionsprogramm“ mag wohl aus der Tatsache resultiert haben, dass sich die Berliner SPD als besonderer Teil der deutschen Sozialdemokratie53 schon im Spätsommer 1946 und als Ergebnis des harten Kampfes mit den Kommunisten und den eigenen einheitswilligen Sozialisten /Marxisten ein neues, eindeutig auf parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Minderheitenrechte ausgerichtetes „Aktionsprogramm“ gegeben hatte.54 Die Westzonen-SPD hinkte in diesem Punkt weit hinterher und kam erst 1952 [!] zu einem vergleichbaren Ergebnis. Dass May mit den Ergebnissen der Tagung dennoch zufrieden war, hatte wohl allein mit dem Umstand zu tun, dass in Erlangen die Reformer – allesamt ethische und religiöse Sozialisten – unter sich geblieben waren.55 Ihr Einfluss an der Basis der Partei und in den Führungsgremien schien 1947 jedoch noch relativ gering, wenn man einmal davon absieht, dass es Schmid noch auf dem Nürnberger Parteitag gelang, in den Parteivorstand aufzurücken. Doch bis auf wenige Ausnahmen bestimmten hier die Traditionalisten das Bild. Schumacher selbst hatte zwar schon 1945 die Partei auch für andere als marxistische Begründungszusammenhänge zu öffnen versucht, nur präsentierte er sich selbst immer wieder gern mit einer klassenkämpferischen Rhetorik und antibürgerlichen Intransigenz, die ihn eher als überzeugten Marxisten erscheinen ließ. Obwohl selbst zutiefst antitotalitär geprägt, war er wohl noch lange Zeit davon überzeugt, mit einem klaren sozialistischen Lagerkonzept die zum Taktieren gezwungenen Kommunisten vereinnahmen und so einen dritten sozialis52 Ebd. 53 Nach einer Mitglieder-Urabstimmung innerhalb der Berliner SPD (März 1946) entschied sich die Mehrheit der Sozialdemokraten für den Fortbestand der SPD, eine Minderheit vereinigte sich im April 1946 mit der KPD zur SED. Nach teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien entschieden die Alliierten im Mai 1946, beide Parteien für ganz Berlin zuzulassen. Die Berliner SPD war erstmals auf dem Nürnberger Parteitag 1947 mit Delegierten vertreten. Von da ab war sie integraler Bestandteil der westdeutschen Sozialdemokratie. 54 Prinzipienerklärung und Aktionsprogramm der SPD Groß-Berlin, beschlossen auf dem Landesparteitag am 18. August 1946. Mit dem einleitenden Referat von Dr. Klaus-Peter Schulz, Berlin (West) 1946, S. 19–24. 55 Ein Delegierter aus Niederrhein beschwerte sich sogar auf dem anschließenden Nürnberger Parteitag über die Vorrangstellung der religiösen Sozialisten in Erlangen. Vgl. Protokoll des SPD-Parteitages in Nürnberg, S. 170.

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tischen Weg für Deutschland beschreiten zu können – ein Rückgriff auf Marx schien da unabdingbar. Schmids und Hennigs viel weitergehenden programmatischen Öffnungsversuchen und ihre damit verbundenen Brückenschläge zu bürgerlichen Parteien mussten Schumacher – aber auch einen Großteil der Parteibasis – überfordern; zumal der Kulturreferent mit seinem religiös-sozialistischen Ansatz großen konservativen Blättern bald als prominenter Marx-„Überwinder“ galt – also auch noch „Beifall von der falschen Seite“ evozierte.56 Insofern mussten Schmid und Hennig immer wieder Enttäuschungen über die geringe innerparteiliche Reichweite ihrer Argumente und die nur langsam anlaufende Programmdebatte erleben. Ungeachtet der Tatsache, dass Hennig im Spätherbst 1947 dem Parteivorstand die Bildung eines kulturpolitischen Ausschusses hatte abtrotzen können, erschien den Reformern der Widerstand Schumachers und des Parteiapparates doch „zäh und hart“,57 was wohl offenkundig auch an der Konkurrenzsituation zwischen Schumacher und dem Senkrechtstarter Schmid gelegen haben dürfte.58 Wenn Peter Lösche und Franz Walter mit ihrer Aussage, wonach die ethischen Sozialisten in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren „noch am Rande der Sozialdemokratie werkelten“, also durchaus richtig liegen, so erscheint ihr Hinweis darauf, dass die Parteispitze die „Treffen der Intellektuellen [...] nicht allzu ernst“ nahm, weil dort neben „Erwägenswertem auch allerhand krause Mysthik und idealistischer Überschwang produziert“ worden sei,59 doch weit überzogen. „Mysthik“ und „Überschwang“ kamen gerade in Erlangen und Ziegenhain nirgends zum Ausdruck. Hier wie dort versuchten Hennig und Schmid (und neben ihnen noch Eichler und Prüfer) die SPD aus ihrem jahrzehntelangen marxistischen Ghetto zu befreien und für neue Begründungszusammenhänge zu öffnen, die den Menschen nicht nur als Produkt der ökonomischen Entwicklung erblickte, sondern auch selbst bestimmtes Wesen, das gegen totalitäre Tendenzen jeglicher Art geschützt werden müsse. Dabei gelan56 Nach einem Vortrag Hennigs über die „Kulturkrise“ auf einer SPD-Veranstaltung feierte ihn die konservative FAZ mit den Worten: „Das war doch eine sozialdemokratische Versammlung, wo solches zu hören war! Galt da nicht seither Marx und ‚das Kapital‘ als der große Seher und die maßgebende Bibel? Nun erwartet man vom Seher von Patmos, der das Johannes-Evangelium schrieb, die Rettung der Kultur. Er lehre die Gemeinschaft der Liebe. Man muss genau hinhören. Hier liegt die Wendung. Marx hat von der klassenkämpferischen Masse gesprochen; Hennig will zusammengebundene Menschen, die aus einer Idee leben: der der Menschlichkeit und der Liebe. Wir freuen uns über eine solche Entwicklung. Es mag wirklich besser so gehen als mit dem Marxschen Klassenkampf. Aber was würde wohl der alte Bebel zu seinem späteren Nachfahren Arno Hennig gesagt haben? Sir Stafford Cripps allerdings würde Beifall geklatscht haben.“ H.G.R., Der Kultur-Referent. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 4.1949. 57 Weber, Carlo Schmid, S. 305. 58 Vgl. ebd., S. 304. 59 Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 112.

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gen sie gerade mit Blick auf die Anfälligkeit des marxistischen Begründungszusammenhanges für die Etablierung einer linkstotalitären Diktatur zu wichtigen Einsichten. Dass die Spitze der Partei davon keine Kenntnis nehmen wollte, erscheint unhaltbar, waren doch Schumacher und Ollenhauer immer wieder persönlich präsent oder gaben – wie im Fall der Erlanger Tagung – wichtige personelle Impulse. Nur ging beiden die dort geforderte Öffnung viel zu weit; zudem war Schumacher der Ansicht, dass „im Augenblick infolge der furchtbaren Notlage unseres Volkes die kulturelle Seite der Arbeit der Partei gegenüber der ökonomischen zurücktreten“ müsse.60 Hinzu trat die bereits erwähnte Verfolgung des eigenen konzeptionellen Ansatzes und die allzu lange Rücksichtnahme auf einen Teil der Mitgliedschaft, der noch 1947 Anstoß nahm an einer „Revision der ihnen sakrosankt erscheinenden marxistischen Lehr- und Glaubenssätze“.61 Vor diesem Hintergrund und den desaströsen Wahlniederlagen von 1953 und 1957 ist es zu erklären, dass sich die SPD erst 1959 ein neues Grundsatzprogramm gab, welches mit den erwähnten Lehr- und Glaubenssätzen endgültig brach. Hatte die SPD schon 1952 in ihrem Aktionsprogramm Kernpunkte der Erlanger Thesen aufgenommen („Totalitäre Herrschaftssysteme bedrohen die Demokratie und die Menschenrechte“),62 erklärte sie schließlich in ihrem Godesberger Programm von 1959: „Wir widerstehen jeder Diktatur, jeder Art totalitärer und autoritärer Herrschaft; denn diese missachten die Würde des Menschen, vernichten seine Freiheit und zerstören das Recht.“63 An der Entstehung beider Programme hatte Carlo Schmid – seit 1949 Vizepräsident des Deutschen Bundestages und einer der prominentesten Väter des Grundgesetzes – hervorragenden Anteil. Nach Schumachers Tod zählte er zur Führungsriege der deutschen Sozialdemokratie und genoss auch als späterer Brückenbauer der Großen Koalition hohes überparteiliches Renommee. Hennig hingegen war an der Formulierung dieser späten programmatischen Erneuerung nicht mehr beteiligt: Er hatte bereits Anfang der 1950er Jahre seine kulturpolitischen Ämter verloren. Seine Ersetzung durch Willi Eichler, dem neuen „Star“ des innersozialdemokratischen Erneuerungsprozesses, führte zu einer tiefen Verbitterung, die nur teilweise durch ein Bundestagsmandat und die Arbeit als hessischer Kultusminister (1953–1959) gemildert werden konnte.64 60 SPD und Kulturkrise. In: Telegraf vom 14. 2.1947. 61 Lösche/Walter, Die SPD, S. 112. 62 Aktionsprogramm der SPD, beschlossen auf dem Parteitag in Dortmund 1952 und erweitert auf dem Parteitag in Berlin 1954. In: Dowe/Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente, S. 280. 63 Grundsatzprogramm der SPD, beschlossen auf dem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg 1959. In: ebd., S. 327. 64 In einem Brief an Erwin Schöttle schrieb Hennig: „Die Art meiner Abhalfterung ist unerhört und in der neuen Partei wohl ohne Beispiel. Mir hat bisher noch niemand vorgeworfen, dass ich in dem Ausschuss etwas Falsches gemacht hätte.“ Hennig an Schöttle vom 18. 2.1952 (AdsD, NL Arno Hennig, Nr. 2). Offiziell war Hennigs „Abhalfterung“ wohl mit dem formalen Argument begründet worden, dass künftig ein Mitglied

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Während der ethische Sozialist Eichler auch heute noch im kulturellen Gedächtnis der SPD verankert ist, trifft gleiches auf den religiösen Sozialisten Hennig nicht zu. Auch wenn er sich „zunehmend kapriziösen und nachgerade spirituellen Sozialismusdeutungen“ verschrieb65 und mit dem Schlagwort von der „Kulturkrise“ ein eher fragwürdiges Steckenpferd ritt,66 bleibt sein früher programmatischer und organisationsgeschichtlicher Beitrag doch ein wesentlicher.

DOKUMENTATION Die geistigen Wurzeln des Totalitarismus67 Rede von Herrn Staatsrat Prof. Dr. [Carlo] Schmid gehalten am 28. 6. 47 in Erlangen

I Die hier gestellte Frage ist ein Sonderfall der allgemeinen Fragestellung: Individuum und Gemeinschaft. Je nachdem wie diese Frage von den Völkern durch ihre Existenz beantwortet wird, ist der Totalitarismus eine unausweichliche Konsequenz.

II Der Totalitarismus ist wie folgt zu definieren: Er ist der Anspruch überindividueller Gruppen, vor allem des Staates, auf den ganzen Menschen; nicht nur so, dass in Zeiten der Gefahr die volle Leistung des Menschen bis zur Selbstopferung gefordert wird, sondern so, dass der Staat für sich in Anspruch nimmt, alles, was der Mensch ist und tut, auf sich unter dem Gesichtspunkte der von ihm gesetzten Zwecke zu beziehen. Daraus folgt, dass der des Parteivorstandes für die Kultur zuständig sein müsse (was Eichler war, aber Hennig nicht). Vgl. ebd. 65 Walter, Freital, S. 149. 66 Das Schlagwort von der „Kulturkrise“ hatte Hennig schon in Sachsen bemüht; in den Westzonen schrieb er darüber schließlich ein Buch (Arno Hennig, Kulturkrise, Hamburg 1947), in dem er u. a. zur Bildung des „eigenen Selbst“ aufrief und sich dabei auf Konfuzius, Platon, Augustinus, Thomas Morus, Goethe und Marx berief. Solche Positionen wurden von Kritikern schon mal als „ethisiertes, humanisiertes Christentum ohne den religiösen Ernst der den Menschen in Frage stellenden Botschaft“ glossiert. Berthold Martin, SPD ohne Marxismus. In: Giessener Freie Presse vom 11. 3.1948. 67 Manuskript Carlo Schmid „Die geistigen Wurzeln des Totalitarismus“ (AdsD, NL Carlo Schmid, Nr. 79). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archivs der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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Staat – im Grundsätzlichen wenigstens – keine dem Menschen eigene freie Sphäre anerkennt und dass dort, wo der individuellen Selbstgestaltung des Menschen ein gewisser Spielraum gelassen wird, der Staat es ist, der souverän die Grenzen des Spielraumes bestimmt, und er diesen nicht um des Menschen willen gewährt, sondern weil, in beschränktem Umfange wenigstens, solche partielle Freiheit als seinen eigenen Zwecken dienlich erscheint. Aus dieser Grundeinstellung folgt, dass der Staat nicht nur dem Menschen gewisse Möglichkeiten seines Verhaltens verbietet, sondern dass er ihm bestimmtes Tun gebietet und zwar prinzipiell in allumfassender Weise. Über das Tun hinaus nimmt aber der Staat im extremen Falle das Recht in Anspruch, Denken und Fühlen des Menschen zu bestimmen, um so im Individuum selbst die psychologischen und ideologischen Voraussetzungen zu schaffen, die einen bestimmten Automatismus in den Reaktionen der Menschen auf bestimmte Umweltereignisse in der vom Staat gewünschten Richtung garantieren sollen. Daraus ergibt sich notwendigerweise sein Anspruch auf das Monopol der Erziehungsformen und Erziehungsinhalte. An die Stelle der Erziehung wird der totale Staat immer die Abrichtung setzen. KdF68, das Verbot bestimmter „Weltanschauungen“, Literaturen und überhaupt der Möglichkeiten, sich frei über das Wissbare zu unterrichten, sind notwendige Begleiterscheinungen eines konsequenten Totalitarismus. Alles was eine freie Meinungsbildung erlaubt, muss notwendig unerwünscht erscheinen.

III Das Ziel, das ein solcher Staat in den Menschen erreichen will, ist nicht der freiverantwortliche Bürger und nicht einmal der Untertan – denn von diesem verlangte der Staat nicht mehr, als dass er sich ruhig verhielt, wenn er Steuern zahlen oder zu den Soldaten gehen sollte – sondern dieses Ziel ist der Automat, der Roboter, der Maschinenaffe. Der Mensch ist diesem Staat nur insoweit wertvoll, als er taugliches Instrument zur Verwirklichung bestimmter Ziele ist. Wo sich der Mensch widersetzt, oder wo er aus Herkunfts- oder anderen Gründen für nicht genügend abrichtbar gehalten wird, wird er als Einzelner oder in Gruppen liquidiert. Das Modell hierfür ist Auschwitz; es sind aber auch außerhalb Deutschlands Beispiele zu finden.

68 Kraft durch Freude (NS-Organisation mit sozialpolitischem Anspruch, unter deren Flagge auch kollektivistisch gesteuerte Urlaubsreisen veranstaltet wurden). Der zweite Buchstabe bei „KdF“ ist kaum leserlich, doch dürfte es sich um diese Abkürzung handeln.

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IV Es wäre falsch, zu denken, der Totalitarismus setze begriffsnotwendig „undemokratische“ Regierungssysteme voraus. Wenn man demokratisch nicht als Integration bestimmter humanitärer Inhalte wertet, sondern als bloße Form der politischen Willensbildung betrachtet, etwa als Realisierung des Satzes „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ oder „Mehrzahl gilt“, bietet sich kein Schutz. Auch wo Mehrzahl gilt, ist Totalitarismus möglich, denn die formale Demokratie kann die Freiheit nicht nur erobern, sondern auch verkaufen. Ich erinnere an gewisse Entartungen des Jakobinertums, an Sowjetrussland und an die Mehrheitsabstimmungen während des 3. Reiches. Hat man einmal auf „demokratische Weise“ den Gruppen, die totalitär denken, die Macht gegeben, dann liegt es ja in ihrem Belieben, die freie Meinungsbildung zu unterbinden; und damit ist den Korrektiven, die in jeder auch nur formellen Demokratie liegen können, die Wirkungsmöglichkeit entzogen. Der Gedanke an die allgemeine Wohlfahrt allein ist ebenfalls kein Schutz. Gerade er kann die völlige Verknechtung des Menschen zur Folge haben. Beispiel: Der Jesuitenstaat in Paraguay.

V Sicher ist, dass bei der Schaffung totalitären Gruppen fast immer Klassengründe mitspielen. Es ist kein Zweifel, dass der italienische Faschismus oder der deutsche Nationalsozialismus die Form waren, durch die der bankrotte Kapitalismus der Krisenzeit sich zu verteidigen suchte. Damit ist aber die Frage nach der Herkunft noch nicht beantwortet, denn es muss erst festgestellt werden, was diesen Klassen diese Art ihrer Selbstverteidigung möglich gemacht hat. Zuerst musste der Mensch innerlich bereit gemacht werden, die Rolle, die ihm zugedacht war, zu akzeptieren – ja geradezu sie zu wollen –, ehe aus irgend einem Klasseninteresse heraus der Totalitarismus ermöglicht werden konnte. Gibt es ein allen Totalitarismen Eigentümliches, das bei aller Verschiedenheit der Erscheinungen sich bei näherer Betrachtung als der gleichen Wurzel entsprungen herausstellt? Welches ist diese Wurzel? Wir wollen uns dabei nicht an unser Zeitalter binden; wenn wahr ist, was ich nachher sagen werde, dann muss es im Kern wenigstens für alle Zeitalter Geltung besitzen.

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VI Betrachten wir die Fülle geschichtlicher Ereignisse, von denen wir sagen können, dass sie Ausflüsse des Totalitarismus sind, dann sehen wir sofort, dass das ihnen Eigentümliche nicht das Ziel ist, um dessentwillen sie ihren Herrschaftsanspruch erheben: das Ziel, das sich der ägyptische Pharaonenstaat gestellt hatte, war ein wesentlich anderes, als jenes, in dem Jesuitenstaat in Paraguay aufgerichtet worden ist. – Und doch spüren wir, dass diese beiden Sozialordnungen etwas in der Grundstruktur und in den Antrieben Gemeinsames haben. Der Nationalsozialismus zog aus, um die Welt für die blonde Herrenrasse zu erobern. Der Bolschewismus hat seinen eisernen Sowjetstaat geschaffen, um die klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen, in der alle Menschen gleichen Rechtes sein sollten – vollkommener Gegensatz im Ziel, und doch liegt dem Organismus, oder vielmehr Mechanismus, in dem sich die beiden Systeme verwirklichen wollten, offenbar das gleiche Gesetz zugrunde. Welches ist dies?

VII Betrachten wir die für uns überschaubare Geistesgeschichte, so finden wir, dass immer dann, wenn ein bestimmtes Weltbild, das eine Epoche getragen hat, spannungslos geworden ist, d. h. dem wachen Menschen nicht mehr als Abbild der Wirklichkeit im Gedanken zu erscheinen vermag – nicht nur der gesellschaftlichen Wirklichkeit, aber doch meistens gerade dieser –, eine spezifische Art zu denken Platz greift: das Denken in der Kategorie des „Nichts als“. Der Mensch ist nichts als ..., der Staat ist nichts als ..., Religion ist nichts als ... usw. Das ist nicht Mangel an Phantasie oder böser Wille zu verhängnisvoller Simplifikation, sondern der uns allen geläufige Fall der Verabsolutierung des Faktors, in dem das Ungenügende des Weltbildes, das man nicht mehr als Wirklichkeitsabbild anzuerkennen vermag, am Ausdrucksvollsten erscheint. Ein Beispiel: als im griechischem Stadtstaat der alte Glaube an die im historischen Gesetz sich äußernde göttliche Ordnung nicht mehr ausreichte, um das Verhalten des Menschen an und für sich und der Menschen zueinander in genügender Weise zu erklären, „entlarvte“ der Sophismus das überkommene Weltbild, indem er zeigte, dass der Nomos, die überkommene Ordnung, nichts Gottgesetztes sei, sondern das Werk der Menschen, dass also der Staat „nichts als“ eine von den Menschen unter Nützlichkeitsvorstellungen geschaffene Anstalt sei; und eine Generation später war man dann so weit, zu sagen, dass einzige echte Gesetz, das die Geschicke der Menschen bestimme, sei der Eigennutz und die Macht, ihn zu verwirklichen. Diese „Nichts – als – Philosophie“ schuf den Nihilismus, der immer dort unausweichlich wird, wo eine geistige Revolution im Analytischen stecken bleibt. Der Nihilismus wirkt sich aber staatlich gesehen immer in zwei Extremen aus: entweder als Aufruf zur absoluten Freiheit vom Staate bis zur Anarchie (Diogenes) und damit als Leugnung jedes überindividuellen Anspruchs an den Menschen – oder

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(als nächste Stufe) als Meinung, dass die Vielen dazu da seien, dem stärksten und gestaltungskräftigsten Egoismus als Material für die Verwirklichung seiner Pläne zu dienen. Der Sophismus ist immer geistige Grundlage für Anarchie und Tyrannis zugleich. (Wir kennen ihn noch aus der Zeit um 1933!) Ein anderes Beispiel: Machiavelli erkennt, dass die auf dem christlichen Naturrecht des Mittelalters beruhende Soziallehre und Anthropologie seiner Zeit nicht fähig ist, die „wirklichen“ Antriebe menschlichen Handelns zu offenbaren. Er sieht, wie vor ihm Marsilius von Padua und Occam, dass alles Sollen einen Widerpart hat: das empirisch erkennbare Sein des Menschen, das nichts ist als die Funktion seelischer „Kräfte“ einerseits und die Eigengesetzlichkeit des Gesellschaftlichen und Politischen anderseits. Dies studiert er und er findet, dass der Mensch nichts sei als lebendige Energie, deren Walten dem der physikalischen Gesetze der Natur gleich sei. Daraus folgert er den Amoralismus alles Politischen und die absolute Unterwerfung des Menschen unter die Zwecke, die jene setzen, die die Kraft haben, anderen ihren Willen aufzuzwingen, sei es der Tyrann, sei es die demokratisch organisierte Bürgerschaft, die sich selber als Zweck zu setzen vermag. So wird in seinem Denken der Mensch ein bloßes Mittel zum Zweck im Rahmen einer Geschichte ohne absoluten Sinn. So führt er in das Denken vom Staate und vom Menschen die naturwissenschaftlichen Kategorien von Ursache und Wirkung als einzigen Beweger ein, wie nach ihm Hobbes. Und dieser zieht die letzte Konsequenz mit dem Bild des Staates als eines Leviathan, der alles verschlingen muss, um selber seinem immanenten Sinne gerecht werden zu können. Überall dort, wo sich dieses moderne Nichts-als-Denken durchzusetzen vermochte, haben wir den mehr oder weniger totalitären Staat bekommen und es ist kein Wunder, dass der Apologet des Preußentums, Fichte, gerade im Namen der Freiheit den verkappten Totalitarismus seines geschlossenen Heldenstaates verkündete: er hatte Machiavelli neu entdeckt und auf Rousseau und Friedrich aufgepfropft. Ein drittes Bespiel für das totalitäre Wirken der Nichts-als-Philosophie, die wir getrost als die Philosophie des naturwissenschaftlichen Mechanismus bezeichnen können: in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das naturwissenschaftliche Denken wesentlich bestimmt worden durch die Denkformen der Biologie. Wenn man nun soweit geht, zu glauben, der Mensch sei „nichts als“, ein biologisch bestimmtes Faktum – was ist dann logischer als die Unterstellung der Mensch unter die biologische Zweckfunktion und die Organisation des Staates zu einer Zwangsanstalt, die deren Verwirklichung zu garantieren hat? Ist auf Grund dieser Veterinärphilosophie der Nazismus und sein rassischer Totalitätsanspruch nicht das Natürlichste auf der Welt gewesen? Vor allem dann, wenn dazu in einem grauenhaften Missverständnis Hegels die Lehre gefügt wurde, dass der Sinn der Geschichte der Nationalstaat und die Entfaltung seiner Macht sei? Und wenn dieser falsch verstandene Hegel noch durch einen Pseudo-Wagner und Pseudo-Nietzsche übersteigert wurde, kann man sich dann wundern, dass der totalitäre Staate bei uns die Form angenommen hat, die wir kennen?

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Und nun ein letztes Beispiel: Der Totalitätsanspruch, der aus dem Missverständnis Karl Marx’ abgeleitet worden ist. Wir wissen, dass er mit Meisterhand vieles von dem, was man als ewige Wahrheiten zu deklarieren gewohnt war, als Ideologien entlarvte, also als Produkte eines Zweckdenkens, das der Verteidigung von Klasseninteressen zu dienen hatte. Und wir wissen, wie er unwiderleglich nachgewiesen hat, in welch hohem Maße Denken und Handeln der Menschen Funktion der ökonomischen Verhältnisse, unter deren Zwang sie leben müssen, ist, und wir kennen die Konsequenzen, die er daraus gezogen hat. Wir wissen aber auch, dass diese Konsequenzen gezogen wurden, um des Menschen willen, den Karl Marx als freies und selbstverantwortungsvolles Wesen gesehen hat, dessen Freiheit allerdings durch die Entfremdung des Menschen von seinen Lebensgrundlagen, den Produktionsmitteln, in Frage gestellt wird. Der Mensch, und nicht Zweckfunktionen stehen also im Mittelpunkt auch des Marx’schen Denkens. Was hat aber missverstehender, weil einseitiger, [...]69 Epigonen-Radikalismus aus diesem großartig komplexen Denkgebäude gemacht? Eine Nichts-als-Philosophie, die mit allen ihren Konsequenzen einem neuen Totalitarismus den Weg freimachen musste. Man sagte, der Mensch sei „nichts als“ eine Funktion der ökonomischen Verhältnisse; man sagt weiter, die Geschichte sie „nichts als“ ein automatischer Prozess von Klassenkämpfen, die über eine Diktatur des Proletariats zur Sozialisierung der Produktionsmittel und damit zur klassenlosen Gesellschaft führen müsse, und dass der Mensch in diesem Prozess nichts weiter sei als das Produkt und die Waffe seiner Klasse, die von einer politischen Partei repräsentiert werde, die dem Menschen je und je die Aufgaben setze und der er sich ganz zu unterwerfen habe bis zur Aufgabe seines selbständigen Denkens – das nichts anderes sei als „Reaktion“, wenn es nicht mit dem Denken der „Partei“ identisch sei. Der Mensch wird dabei zur Null, die Partei zur Größe unendlich – wie Arthur Koestler es in seinem erschütternden und epochemachenden Werken formuliert hat. Wenn dieses Denken in seinem vollen Absolutheitsanspruch anerkannt wird, dann ist es völlig logisch und konsequent, was in Russland geschehen ist und geschieht – dann ist der Totalitarismus umfassendster Prägung die richtige Form für den sozialistischen Staat, dann ist Wahrheit, was die Partei befiehlt und dann muss liquidiert werden, was dieser „Wahrheit“ gemäss zu leben außerstande ist.

VIII Es gibt nur einen Weg, den Totalitarismus zu vermeiden, und dieser Weg muss umso konsequenter eingehalten werden, je mehr das Zeitalter auf Zusammenfassung aller Kräfte drängt, wie es im Zeitalter des Sozialismus notwendig der Fall sein muss. Dieser Weg ist die Abkehr von jeglichem Nichts-als-Denken. Freilich 69 Unleserliche, handschriftliche Einfügung zwischen den Zeilen.

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nicht in dem Sinne, dass man den Blick von den echten Erkenntnissen wegwenden dürfte, die uns die großen Entlarver der Fiktionen und Ideologien geschenkt haben. Was sie uns lehrten, sind Wahrheiten, aber es sind nur Teilwahrheiten, die zu Irrtümern werden, wenn wir unter Ausschließung alles andern sie zur vollen Wahrheit verabsolutieren und damit glauben, dass in ihnen die ganze Wahrheit erfasst sei. Diese Abkehr muss so geschehen, dass in nüchterner Anerkennung aller natürlichen und soziologischen Gesetzlichkeiten wir uns dafür entscheiden, dem Menschen einen Bereich der Freiheit zuzugestehen, der außerhalb aller kollektiven Zwecke liegt. Wie wir diesen Freiheitsanspruch „wissenschaftlich“ begründen wollen, ist gleichgültig und ein nachträgliches Bemühen. Freiheit ist nie etwas aus sogen.[annten] wissenschaftlichen Prämissen Abgeleitetes, sondern die Entscheidung des Menschen, nicht anders leben zu wollen, denn als sein Wesen, das sich sein Ja und Nein den Umständen gegenüber, in die es hineingestellt ist, vorbehält. Sie erlaubt es, vieles an Gesetzlichkeit einzubeschließen, sie schließt aber aus, sich mit der Stellung einer bloßen Funktion in einem irgendwie gearteten Prozess zufrieden zugeben – möge dieser Prozess bestimmt sein wie auch immer. Diese Entscheidung für die Freiheit als ihr Kernstück schlechthin muss die Grundlage jedes demokratischen Wollens sein. Wenn nicht, wird gerade unter demokratischen Formen die Freiheit des Menschen am Billigsten verkauft werden können.

IX Ist diese Position einmal bezogen, dann ist ein Leben in einem irgendwie gearteten Totalitarismus unmöglich und dann – aber auch dann allein – kann der Satz nicht mehr gelten, dass der Zweck die Mittel heilige – dann sind umgekehrt die Mittel es, die den Zweck die eigentliche Rechtfertigung zu geben vermögen. In dieser Richtung hat die Erziehung unseres Volkes zu gehen – aber nicht nur in Schulen! Was ist aber Demokratie, inhaltlich verstanden, anderes als ein Leben auf diesen Fundamenten? Und was ist denn Sozialismus anderes als eine Verwirklichung dieser Demokratie nach allen Seiten hin? Was ist er anderes als die Beseitigung der ökonomischen und sozialen Umstände, die die Universalisierung dieser Demokratie unmöglich machen oder erschweren? Was ist Sozialismus anderes als die Verwirklichung der materiellen Voraussetzungen, ohne die die breiten Massen der Menschen in dieser Freiheit nicht leben können?

Ernst Reuter – Hoffnungen eines (Re)migranten auf dem Prüfstand Berlin1 Siegfried Heimann Wenn von politischer Remigration nach 1945 die Rede ist, stellt Berlin aus mehreren Gründen einen Sonderfall dar. Berlin meint in diesem Zusammenhang zunächst die von den vier Siegermächten nicht ohne Schwierigkeiten, aber dennoch bis 1948 gemeinsam verwaltete ehemalige Reichshauptstadt.2 Die meisten der nach Berlin zurückkehrenden Remigranten – im ersten Band des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration sind die Namen von über 200 Remigranten genannt – gehörten der Kommunistischen Partei an oder standen ihr nahe und kamen von Moskau nach Ostberlin. In den Westteil der Stadt kehrten nur wenige zurück. Das Handbuch notiert nur etwa 25 Namen.3 Wenn vom Sonderfall Berlin zu sprechen ist, dann aber nicht in erster Linie, weil so viele Emigranten nach Ostberlin und so wenige nach Westberlin zurückkehrten. Es geht vielmehr um etwas anderes, was in gewisser Weise auch die geringe Zahl der nach Westberlin zurückgekehrten Emigranten erklärt: Im politischen Klima der sich – zunächst nur allmählich – auseinander entwickelnden Viersektorenstadt Berlin standen Pläne und Hoffnungen der zurückgekehrten Emigranten in ganz anderer, in unmittelbarer, Weise auf dem „Prüfstand“ – wie der Remigrant Willy Brandt später einmal schrieb –, als das in den Westzonen, aber auch in der sowjetischen Besatzungszone der Fall war.4 Gerade deshalb war es für viele sozialdemokratische Emigranten nicht selbstverständlich, nach Berlin zurückzukehren, auch wenn sie einmal aus dieser Stadt gekommen waren. Beispielhaft für die Vorbehalte vieler Emigranten ist 1

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Der Beitrag ist eine erweiterte und ergänzte Fassung meines Referat auf der Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung (in Zusammenarbeit mit der Kurt-Schumacher-Gesellschaft und dem Hannah-Arendt-Institut der Universität Dresden) am 9.–11. 11. 2004 in der Evangelischen Akademie Meißen. Vgl. für den allgemeinen Zusammenhang Siegfried Heimann, Remigranten in Berlin. In: Claus-Dieter Krohn / Patrick von zur Mühlen (Hg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997, S. 189–210. Vgl. auch 1945: Jetzt wohin. Exil und Rückkehr ... nach Berlin?, Berlin 1995. Vgl. Werner Röder/Herbert Strauss (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 1, München 1980. Vgl. Willy Brandt, Erinnerungen. Mit den „Notizen zum Fall G“, Berlin 1994, S. 17.

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ein Brief von Fritz Tarnow, den er im Februar 1946 an Ernst Reuter schrieb. „Ganz unerträglich“ fand er die Verhältnisse in Berlin, „wo im russischen Gebiet wie in der ganzen russischen Zone die Kommunisten ganz schamlos die Machtstellung ausnutzen, die ihnen die Russen einräumen und wo unsere Freunde ganz einfach Gefangene sind [...]. Ich persönlich warte auch noch auf eine Gelegenheit, mich drinnen nützlich machen zu können, aber nach Berlin oder den Osten denke ich allerdings nicht zu gehen.“5 Die Gründe für die skeptische Haltung Tarnows lagen auf der Hand. Die politische Situation Berlins war alles andere als klar. Die Anti-Hitler-Koalition und die in diesem Geiste vereinbarte gemeinsame alliierte Verwaltung der Stadt bestanden schon bald nur noch auf dem Papier. Die „Westsektoren“ Berlins waren weit von den westlichen Besatzungszonen entfernt und dorthin vor allem zog es diejenigen Remigranten, die mit der Sowjetunion und der Kommunistischen Partei wenig oder gar nichts im Sinn hatten. Ernst Reuter teilte die Skepsis von Tarnow. Alle Informationen über die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone, die er durch Brieffreunde erhielt, bestärkten ihn darin. In einem Brief an einen guten Bekannten aus Magdeburg, der nach Schweden emigriert war, benannte er die Gründe für seine Vorbehalte mit deutlichen Worten: „Eine Rückreise in die russische Zone kommt schon deswegen nicht in Frage, weil ich nicht die Absicht habe, Selbstmord zu begehen. Mein Bedarf an Konzentrationslagerhaft ist in Deutschland seinerzeit gedeckt worden.“6 Zugleich aber offenbarte Reuter bereits 1946 eine beeindruckende realistische Sicht auf das, was ihn nach seiner Rückkehr in Europa und in Deutschland erwarten sollte. Er schrieb an Tarnow schon im März 1946: „Im Übrigen sind wir in Deutschland für lange, lange Zeit nur ein Stein im Schachbrett der Kämpfe zwischen Ost und West [...]. Dieser Kampf zwischen Ost und West wird in seiner Art das Schicksal Deutschlands bestimmend beeinflussen, und wir müssen sogar mit der Möglichkeit rechnen, dass die in Teheran [...] festgelegte Demarkationslinie die Grenze zwischen Ost und West bleibt. Auf die Dauer wird freilich der Westen der stärkere Teil sein, aber bis das alles sich auswirkt, werden wir noch lange, lange warten müssen.“7 Für sozialdemokratische Widerständler wie für sozialdemokratische Remigranten ging es, wie Kurt Schumacher im August 1946 in einem Brief an den sich noch in New York aufhaltenden Gewerkschafter Siegfried Aufhäuser schrieb, auch darum, der Welt zu zeigen, „dass es auch einen Sozialismus europäischer Prägung und nicht nur einen Staatssozialismus des Kreml gibt“8. Wo anders als 5 6 7 8

Tarnow an Reuter vom 14. 2. 1946 (Landesarchiv Berlin, Rep. 200, Acc. 2326, Nr. 169). Ernst Reuter war 1933 und 1934 jeweils für Monate im Konzentrationslager Lichtenburg bei Torgau eingekerkert, vgl. weiter unten. Reuter an Grunwald vom 11. 3. 1946. In: Ernst Reuter, Schriften – Reden, Band 2, Berlin (West) 1973, S. 625 f. Reuters an Tarnow vom 15. 3. 1946, ebd. S. 627 f. Schumacher an Aufhäuser vom 27. 8. 1946 (Archiv der sozialen Demokratie [AdsD] Bonn , Büro Schumacher, Nr. 64).

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im Berlin der Nachkriegszeit aber war ein solches Ziel leichter aus den Augen zu verlieren. Auch für diejenigen, die in der Emigration eher „zwischen den Fronten“ gestanden hatten, war die Rückkehr nach Berlin schon sehr früh entweder eine Rückkehr nach Westberlin oder nach Ostberlin. Die politischen Erfahrungen in der Emigration, die sie eindeutig der KPD und der Sowjetunion gegenüber auf Distanz gehen ließen oder sie wieder zur KPD zurückführten, waren auch mitentscheidend dafür, sich für West- oder Ostberlin zu entscheiden.9 Zu den wenigen, die sich entschieden, nach Westberlin zurückzukehren, gehörte Ernst Reuter. Am 28. November 1946 traf Reuter zusammen mit seiner Frau Hanna, aus Hannover kommend, in Berlin ein. Willy Brandt schrieb später darüber: „Fast gleichzeitig – ein paar Wochen vorher – war ein anderer Emigrant nach Berlin zurückgekehrt. Ich kam von Norden – er vom Südosten, aus der Türkei – Ernst Reuter. Hier in Berlin trafen sich bald unsere Lebenswege.“10 Beide kamen Ende 1946 in eine Stadt, die bereits seit dem Beginn des Jahres gezeichnet war von einer sich immer mehr verschärfenden Ost-West-Auseinandersetzung. Im März 1946 fand der beginnende Kalte Krieg in dem Widerstand der Berliner Sozialdemokraten gegen eine Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED einen ersten Höhepunkt. Die sowjetische Besatzungsmacht ließ keinen Zweifel an ihrer Absicht, ihre politischen Ziele auch mit brutaler Gewalt durchzusetzen. Nicht wenige Sozialdemokraten in der SBZ fanden sich in den selben Zuchthäusern und Lagern wieder, aus denen sie nur wenige Monate zuvor befreit worden waren. Die Berliner SPD zögerte nicht, die neuerliche politische Verfolgung von Sozialdemokraten mit deutlichen Worten beim Namen zu nennen, aber auch dagegen Widerstand zu leisten. Der nach Großbritannien emigrierte Richard Löwenthal, in Deutschland damals bald besser bekannt unter dem Namen Paul Sering, da er unter diesem Namen mit seinem Buch „Jenseits des Kapitalismus“ einen gerade von Sozialdemokraten vielgelesenen Bestseller geschrieben hatte, suchte den Kontakt zur deutschen Sozialdemokratie. In einem Brief an Kurt Schumacher vom 4. März 1946, also nur wenige Tage nach der berühmten Versammlung Berliner SPD-Funktionäre im Berliner Admiralspalast, die eine Urabstimmung über die Verschmelzung mit der KPD beschlossen hatte, schilderte Löwenthal die Wirkung dieses Beschlusses in Großbritannien. Löwenthal beklagte die Deutschlandpolitik der Westalliierten, die der sozialen Not im besiegten Deutschland zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe: „Wir betonen mit aller Schärfe hier und in Briefen nach Amerika, dass wenn die Leute verhungern kein Hahn mehr nach Demokratie kräht, und dass dies allein alle Aufbauarbeit ruinieren kann und dem neuen To9 Zur Stellung von vielen Emigranten zwischen dem sozialdemokratischen und dem kommunistischem Lager vgl. Jan Foitzik, Zwischen den Fronten. Zur Politik, Organisation und Funktion linker politischer Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40, Bonn 1986. 10 Willy Brandt, Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 205.

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talitarismus Tür und Tor öffnen kann.“ Dann aber kam Löwenthal auf eine kleine Hoffnung zu sprechen: „Die Gleichschaltung im Osten wird jetzt hier [gemeint ist Großbritannien] allmählich auch in der Öffentlichkeit verstanden. [...] Dabei hat die Berliner Funktionärsversammlung vom 1. III. unerhört geholfen. Vorher hatten nur die ‚Tribune‘ und der ‚Manchester Guardian‘ [...] offen gesagt, dass die Fusion unter Druck vor sich geht. Times, Observer usw. gingen über leise Andeutungen von Zweifeln nicht hinaus. Seit der Berliner Abstimmung vom Freitag ist die Lage klar: Herald, Chronicle, Times and [sic!] Observer haben darüber berichtet, der Observer spricht mit Recht von einem schweren Schlag gegen Russlands politisches Prestige in Deutschland, den die Russen nicht verzeihen werden. Die Berliner Funktionäre haben wirklich die Ehre der Partei gerettet.“11 In einer Urabstimmung am 31. März 1946 hatte die Berliner SPD eine Verschmelzung mit der KPD verweigert und sich damit in ganz Berlin (bis 1961) als selbständige Partei behauptet. Die Politik der Westalliierten sollte sich nicht zuletzt dank dieser mutigen Tat vor allem in Bezug auf Berlin ändern. In diesem Jahr 1946 kehrte Ernst Reuter nach Berlin zurück. Die Frage bleibt, was Reuter so sehr befähigte, in dieser Situation und in dieser Berliner SPD so schnell eine führende Rolle zu spielen und spätestens seit der Blockade Berlins im Jahre 1948 auch weltweit bekannt zu werden. Wer also war dieser Ernst Reuter? Der 1889 geborene Reuter wollte und sollte Lehrer und Beamter werden.12 Noch als Student aber bekannte er sich – selten genug an den damaligen deutschen Universitäten – zu den Ideen eines reformistischen Sozialismus. Für die damalige Obrigkeit war das unvorstellbar und nicht akzeptabel. Ernst Reuter musste sich entscheiden, und er tat es zum großen Kummer seiner Eltern radikal und ohne sich eine Hintertür offen zu lassen. Er trat nach seinem Examen im Jahre 1912 nicht in den Schuldienst sondern in die SPD ein. Er verlor seine Verlobte, seine Stelle als Hauslehrer und auch die finanzielle Unterstützung seiner Eltern. Sein Vater forderte ihn zur Umkehr auf, aber Reuter blieb bei seinem Entschluss. Er sei seinen Eltern dankbar, aber eine Umkehr komme für ihn nicht infrage: „Wohin die innere Überzeugung einen ruft, dahin muss er sich stellen, und wer ihn daran hindert, hat Unrecht, selbst wenn seine Sache objektiv die richtige ist.“13 Dieser Maxime ist Reuter sein ganzes Leben lang treu geblieben, viel gescholten deswegen, vor allem von denen, die lieber den bequemen Weg gegangen sind.

11 Löwenthal an Schumacher vom 4. 3. 1946 (AdsD, Bestand Schumacher, Nr. 66). 12 Zur Biographie Reuters vgl. vor allem David Barclay, Schaut auf diese Stadt, Der unbekannte Reuter, Berlin 2000 und, noch immer unverzichtbar, Willy Brandt/Richard Löwenthal, Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957. 13 Zit. nach Brandt/Löwenthal, Ernst Reuter, S. 40.

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Es würde zu weit führen, Reuters Weg von der Spitze der KPD 1919/20 hin zum erfolgreichen sozialdemokratischen Kommunalpolitiker am Ende der Weimarer Republik im Detail nachzuzeichnen. Er war seit 1931 Oberbürgermeister in Magdeburg und seit Sommer 1932 gehörte er auch dem Reichstag an. Natürlich verlor Reuter 1933 sofort seinen Posten. Er wurde mehrfach verhaftet und im Konzentrationslager Lichtenburg bei Torgau brutal misshandelt und über Monate eingekerkert. Nach seiner Freilassung im September 1934 entschloss er sich schweren Herzens zur Emigration nach England. In England erreichte ihn das Angebot, in der Türkei als Sachverständiger für das Wirtschaftsministerium in Ankara tätig zu sein. Er nahm das Angebot sofort an. Er lehrte dann darüber hinaus an der gerade gegründeten Hochschule für Politik, an der er 1941 als Professor den Lehrstuhl für Kommunalwissenschaft übernahm und bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland innehatte. Reuter hatte sich immer mit seiner ganzen Person mit einer Sache identifiziert, aber die Sache: Kommunismus, Sozialdemokratie, Antikommunismus, Berlin-Patriotismus war für ihn „in erster Linie Politik und nicht Weltanschauung“, wie Margret Boveri Mitte der fünfziger Jahre Reuter charakterisierte. Er sei der „große Einzelgänger unter den Ex-Kommunisten“ gewesen, „weniger Ideologe als Politiker, nicht Theoretiker, sondern Praktiker“.14 Oder, wie Lenin bereits im Jahre 1922 an Klara Zetkin schrieb, um den erzwungenen Rücktritt Reuters als KPD-Generalsekretär zu begründen: Reuter sei „ein brillanter und klarer Kopf, nur ist er etwas zu unabhängig“.15 Gerade deswegen verdienen allerdings die Gründe für seine Trennung von der KPD und seine Sicht auf die kommunistische Bewegung nach seiner Wandlung zum demokratischen Sozialisten eine genauere Darstellung. Auf dem Gründungsparteitag der KPD zur Jahreswende 1918/19 war Reuter nur einer der vier Gastdelegierten der russischen Kommunistischen Partei, da er als russischer Kriegsgefangener nach der Oktoberrevolution für kurze Zeit sogar Volkskommissar der Wolgadeutschen gewesen war. Kurze Zeit später begann seine rasante Karriere in der deutschen Kommunistischen Partei. Im August 1921 stand er schon als Generalsekretär an der Spitze der KPD. Nur wenige Monate danach brach er mit der Partei. Dabei hatte er zunächst sogar an der Seite der kommunistischen Linken gestanden, die Paul Levis Kritik an der putschistischen Taktik der KPD vehement zurückgewiesen hatte. Reuter kritisierte aber schon bald die fehlende innerparteiliche Demokratie in der KPD. Er verlangte in öffentlicher Rede, dass die Parteiführung gegenüber den Mitgliedern „absolut bei der Wahrheit“ bleiben müsse. Das „‚Demaskieren‘, das Herunterreißen, das ‚Entlarven‘ der ‚Verräter‘ ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich geworden. Das Proletariat wünscht keine ‚Entlarvungen‘ und ‚Verräter‘-Geschrei. Es wünscht einen Ausweg aus seinem Elend zu sehen“. Die Partei müsse, so sagte Reuter 14

Margret Boveri, Der Verrat im XX. Jahrhundert, Band 3: Zwischen den Ideologien, Hamburg 1957, S. 132 f. 15 Zit. nach Brandt/Löwenthal, Ernst Reuter, S. 121.

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in seiner letzten Rede vor dem Zentralausschuss der KPD im Januar 1922, endlich aufhören „mit dem ewigen Ruf: reinigt, kontrolliert, kritisiert!“ Einen Tag später war er aus der Partei ausgeschlossen. Danach setze er sich in seiner langjährigen Praxis als Kommunalpolitiker in der Weimarer Republik nur selten mit der KPD oder mit der kommunistischen Bewegung auseinander. Wenn er es aber tat, dann aufgrund seiner Erfahrungen in der KPD mit scharfen Worten und in eindeutiger Abgrenzung.16 Ein Beispiel mag genügen: Im Jahre 1923, in den Monaten der Ruhrbesetzung durch Frankreich, kam es zu einer Erstaunen auslösenden Koalition zwischen Linksradikalismus und Rechtsextremismus. Für Reuter war das allerdings nicht erstaunlich, dass sich gerade in einer solchen Situation die Extreme berührten. In einem längerem Aufsatz kam er zu einer Erklärung, die für ihn auch für spätere Zeiten Richtschnur für eine Einschätzung der kommunistischen Bewegung bleiben sollte: „Blinder Glaube an die Bedeutung politischer oder gar rein militärischer Macht ist einer der hervorstechendsten Züge der kommunistischen Denkweise. [...] Wie ein Phantom steht vor der kommunistischen Bewegung die Idee, dass erstes und einziges Ziel heute sein müsse: militärische Gewaltmittel in die Hand zu bekommen. Hier trifft sich der Kommunismus mit seinen Antipoden. Hier ist die Wurzel der geheimen Sympathie, die die beiden äußersten Flügelrichtungen unseres politischen Lebens verbindet, die den Soldaten der Revolution veranlasst, von den Soldaten der Gegenrevolution mit Hochachtung zu sprechen und sich mit ihm in der Verachtung der faulen Mitte eins zu wissen.“17 Ernst Reuters Biographen Richard Löwenthal und Willy Brandt halten diesen Aufsatz Reuters zu Recht für ein Schlüsseldokument für die weitere politische Entwicklung Reuters. Sie resümierten: „Der Exkommunist sah sich plötzlich mit dem Gespenst der totgeglaubten Revolution konfrontiert – aber es hatte keine Ähnlichkeit mit seinem Jugendtraum. Noch zu Lenins Lebzeiten erkannte er an der bolschewistischen Diktatur die Züge der reinen Machtpolitik, der Anbetung der Gewalt, gegen die er von früh auf rebelliert hatte. Die Gefahr, dass diese Art der Diktatur auch in Deutschland siegen könnte, brachte ihm zum klaren Bewusstsein, dass die Demokratie die einzig mögliche Grundlage des von ihm erstrebten Sozialismus ist. Aus dem Exkommunisten war ein überzeugter Sozialdemokrat geworden.“18 Reuter hatte sich als der „unabhängige Kopf“ erwiesen, den Lenin ihm schon 1922 bescheinigt hatte. Er sollte diese Unabhängigkeit im Denken bis zu seinem Tode 1953 nicht verlieren. Aus dieser Unabhängigkeit im Denken speiste sich aber auch sein politischer Realismus, den er bereits in der Zeit seiner kommunalpolitischen Erfolge in Berlin und Magdeburg der zwanziger Jahre gezeigt hatte. Die Erfahrungen während seiner Emigration in der Türkei haben diesen Hang zum realpolitischen 16 Vgl. dazu Brandt/Löwenthal, Ernst Reuter, S. 190 f. und 203 f. 17 Reuter, Schriften – Reden, Band 2, S. 56. 18 Brandt/Löwenthal, Ernst Reuter, S. 224.

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Pragmatismus noch verstärkt. Mitte der dreißiger Jahre hatte Reuter zunächst aufgrund der schrecklichen Nachrichten über den Terror der Nazi-Diktatur gemeint, dass dagegen alle politischen Kräfte zusammenstehen müssten und den Gedanken einer Volksfront unter Einschluss der KPD unterstützt. Die Informationen über die Moskauer Prozesse und über den Hitler-Stalin-Pakt zu Beginn des Zweiten Weltkrieges aber belehrten ihn schnell eines Besseren: der entschiedenen Kampf gegen die Nazi-Diktatur war nur ohne Bündnis mit der KPD glaubwürdig. In einem Brief an seinen Freund Carl Ebert, dem langjährigen Intendanten der Städtischen Oper Berlin, schrieb er Ende 1943, dass diese Absage an die kommunistische Bewegung nicht von der Tagespolitik bestimmt ist, sondern prinzipielle Gründe hat. Deshalb müsse auch für die Zeit nach der Niederlage der Nazi-Diktatur eine von manchen ersehnte kommunistische Alternative für den Neubeginn nicht nur abgelehnt, sondern auch entschieden bekämpft werden: „Zehn Jahre tyrannischer Gewaltherrschaft können nicht durch eine neue Gewaltherrschaft anderer Färbung abgelöst werden [...]. Wir brauchen wieder einen Staat, in dem Recht gesprochen wird, in dem wirkliche innere Freiheit der Schrift, der Rede, des Gedankens und der Erziehung herrscht. [...] Neue Fahnen, neue Wimpel, neue Galgen [...] nein.“19 Auch Reuter hatte in der Emigration seine – zum Teil bitteren – Erfahrungen gemacht, aber auch neue Freunde und neue Einsichten gewonnen. Er gehörte zu denjenigen Remigranten, die in der Zeit der Emigration auch eigene Fehler aus der Zeit vor 1933 kritisch sahen. Reuter war klar, dass nach Kriegsende in Deutschland einiges geschehen musste, um die Zeit des Nazismus zu überwinden. In einem Brief an Fritz Baade vom 11. August 1943 schrieb er über die „politischen Pflichten“ der Emigranten Deutschland gegenüber: „Nur eine klare, einwandfreie, radikale und die Welt absolut überzeugende Ausrottung des nationalsozialistischen Systems und seiner Ideologie, nur ein rücksichtsloses Durchgreifen gegen alle die Kräfte, die dieses Regime gestützt haben, kann in langsamer und systematischer Arbeit allmählich den politischen Kredit Deutschlands wiederherstellen.“20 Reuter hoffte dabei allerdings – anders als manche andere Emigranten – auf die Hilfe auch vieler im Lande gebliebener Deutscher, da sich seiner Meinung nach „unendlich viele Deutsche“ der „Nazipest ferngehalten“ hatten, wie er in seinem bekannten Brief an Thomas Mann im Jahre 1943 schrieb. Er sah seine Zeit der Emigration deshalb auch als Zeit der Vorbereitung „für die große Aufräumungsarbeit, die einmal notwendig sein wird“ – ohne zu vergessen, aber auch ohne Hassgefühle –. Der Brief Ernst Reuters vom März 1943 aus der Türkei an Thomas Mann in die USA enthält die Summe seiner Hoffnungen für die Zeit nach dem von ihm als sicher erwarteten Zusammenbruch der Nazi-Diktatur. Nach wenigen Zeilen zu seiner Person kam er sofort zu seinem Anliegen. Thomas Mann sollte mit19 Reuter, Schriften – Reden, Band 2, S. 558. 20 Ebd., S. 539.

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helfen, ein „gemeinsames Auftreten aller im Ausland lebenden Deutschen“, der „anständigen Deutschen“, zuwege zu bringen. Den Menschen in Deutschland sollte noch vor dem Ende der Nazidiktatur von draußen von anderen Deutschen gesagt werden, „wie nach dem Sturz der verhassten Peiniger [‚der nationalsozialistischen Verbrecherbande‘] eine neue, bessere Welt aufgebaut werden könne“. Ein solcher Aufruf sollte helfen, einem neuen Deutschland „wieder der Platz im Kreise der Völker“ zu geben, auf den es „Anspruch“ hat, wie er selbstbewusst hinzufügte. „Wir müssen alle erkennen, dass die Heilung der Wunden, die Wiederaufrichtung unseres Landes, [...] nur möglich sein wird, wenn alle diejenigen, die sich Sauberkeit und Anständigkeit erhalten haben, die sich von der Nazipest fernhielten und die niemals an dem guten Kern unseres Volkes gezweifelt haben, heute, schon jetzt, gemeinsam erklären, dass sie bereit sind, sich zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuschließen. Wir wissen gut genug, dass es auch in Deutschland unendlich viele Menschen gibt, die diese Vorbedingung erfüllen, unendlich viel mehr als hinter dem Nebel der Nazipropaganda dem Fernerstehenden wahrscheinlich zu sein scheint.“ Reuter verschwieg nicht, dass es seiner Meinung nach für den Neubeginn einer harten Zäsur bedarf. Er machte sich zum Fürsprecher einer entschiedenen, von den Deutschen selbst vorgenommenen Entnazifizierung, ohne dieses Wort zu gebrauchen: „Der gesamte leitende Verwaltungsapparat, die gesamte Rechtsprechung, das Erziehungswesen, die Spitzen der wirtschaftlichen Leitung müssen neu gebildet werden. [...] Auch in der Friedenswirtschaft, deren Erreichung erst in Jahren möglich sein wird, werden wir einen stärkeren Einfluss des Staates und der Gesamtheit, einen starken sozialistischen Einschlag nicht vermeiden können.“ Die gemeinsame Aktion aller Emigranten sei vor allem aus einem Grunde sehr wichtig: „alle Menschen in Deutschland wollen wissen, dass sie weder auf russische Weise, noch nach irgendeinem anderen Zwangsrezept gesotten werden sollen, dass Deutschland sich vielmehr nach seinen eigenen Bedürfnissen entwickeln kann.“21 Ein hoffnungsvoller, aber auch illusionärer Satz. Er setzte voraus, dass die Alliierten mitspielen und dem besiegten Deutschland den Spielraum gewähren würden, um sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf der „Nazipest“, wie Reuter schrieb, zu ziehen. Mann, der den Brief erst nach zwei Monaten erhalten hatte, nahm den Appell Reuters ernst, verweigerte sich aber in seiner Antwort der Aufforderung, einen gemeinsamen Aufruf zu unterzeichnen. Er billigte den Emigranten aufgrund ihrer Zerstrittenheit und der mangelnden Unterstützung vonseiten der Gastländer keine Autorität zu.22 Reuter war von der Antwort Manns enttäuscht, zumal er später auch noch vom Vorwurf Manns hörte, es gäbe einen „gewissen deutschen Emigranten-Pat21 Alle Zitate aus dem Brief Reuters an Mann vom 17. 3. 1943. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 2, S. 520 ff. 22 Der Antwortbrief Manns an Reuter vom 24. 6. 1943, ebd., S. 530 ff.

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riotismus“, der die Verbrechen der Deutschen nicht sehen wolle – ein Vorwurf, der sicher auf Reuter nicht zutraf.23 In dem Konflikt offenbarte sich eine Differenz in der Haltung der Emigranten, die sich auch in der Zeit nach Kriegsende auswirken sollte. Auf der einen Seite eine große Skepsis bei nicht wenigen Emigranten gegenüber der demokratischen Beeinflussbarkeit der Millionenschar von Mitläufern im Nazireich, auf der anderen Seite war die Bereitschaft von auch nicht wenigen Emigranten zu erkennen, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber auch diese verständnisvollen Remigranten konnten nicht sicher sein, dass ihre Erfahrungen aus Emigration willkommen waren. Für Ernst Reuter war es dennoch selbstverständlich, sofort nach Kriegsende wieder nach Deutschland zurückzukehren, obwohl er nicht sofort an Berlin gedacht hatte. In seinem ersten Brief an Fritz Heine vom SPDExilvorstand im Juli 1945 erklärte er: „Der Mutterboden, auf dem wir arbeiten können und auf dem sich allein diese Dinge entfalten können, ist allein Deutschland. Unser ganzes Leben wird erst wieder einen Sinn bekommen, wenn wir nach Deutschland zurück können und dort von vorne mit der Arbeit beginnen.“ Er erklärte sich auf Heines Anfrage auch bereit, wieder für die sozialistische Bewegung zu arbeiten. Er wollte neue Wege beschreiten, machte sich aber auch keine Illusionen darüber, dass dies leicht wäre. Hindernisse sah er im „alten Organisationsstiefel“ (gemeint war die alte SPD von Weimar), der verhindern könne, aus „unserem alten Turm“ herauszukommen und auf „neue Menschen“ zuzugehen, aber auch in dem „schreckliche[n] kurzsichtige[n] Egoismus des deutschen Bürgertums, von dem man nicht weiß, ob es nun wirklich dazu gelernt hat“.24 Immer wieder drängelte er voller Ungeduld in Briefen an Victor Schiff, Fritz Heine, Erich Ollenhauer und schließlich auch an Schumacher in Hannover, sich für seine Rückkehr zu verwenden – und diese ließen auch nichts unversucht, die bürokratischen Mühlen der Alliierten schneller mahlen zu lassen. Aber es dauerte und dauerte. Reuter konnte erst Ende des Jahres 1946 über Paris nach Deutschland zurückkehren. Im November traf er in Hannover ein, wenige Tage später war er schon in Berlin. Die Bitte Berliner Sozialdemokraten (und Kurt Schumachers), nach Berlin zu kommen, wo nach dem überwältigenden Wahlerfolg Ende 1946 die Sozialdemokraten dringend erfahrene Kommunalpolitiker brauchten, ließ ihn nicht zögern. Trotz seiner Kontakte zu alten Freunden in Magdeburg kam für ihn nun endgültig eine Rückkehr in die „absolute Ungewissheit der russischen Zone“ nicht mehr infrage, wie er schon im Februar 1946 an Victor Schiff schrieb.25 Für Reuter war deshalb die Rückkehr nach Berlin be-

23 Vgl. dazu, auch für das Zitat, das Kapitel „Ernst Reuters Appell“ in: Klaus Harpprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, Berlin 1955, S. 1344 ff., besonders 1354. 24 Reuter an Heine vom 19. 7. 1945 (AdsD Bonn, Bestand Schumacher, Nr. 68) und Reuter an Heine vom 21. 6. 1946. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 2, S. 661, H. i. O. 25 Reuter an Schiff vom 6. 2. 1946, ebd., S. 622 ff.

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reits eine Rückkehr nach Westberlin, auch wenn er zunächst hoffte, Politik in und für ganz Berlin machen zu können. Die Bereitschaft des Remigranten, aus dem Ausland zurückzukehren und beim Wiederaufbau zu helfen, war freilich die eine Sache und die Bereitschaft der im Lande gebliebenen, sich helfen zu lassen, war eine andere. Sicher gab es schon unmittelbar nach dem Kriegsende auch einige „Daheimgebliebene“, die voller Hoffnung auf die Rückkehrer zugingen und auch Hilfe von ihnen erwarteten. Aber der Brief Schumachers vom Januar 1946 an Alexander Schifrin in New York war wohl eher eine Ausnahme. „Sie können sich den Prozess der geistigen Schrumpfung in der deutschen Politik“, schrieb Schumacher, „schon im rein Kenntnismäßigen und Informatorischen gar nicht vorstellen. Dass ich z. B. überhaupt kein einziges Buch mehr besitze und die Zusammenhänge in der Politik in den letzten zwölf Jahren eigentlich nur durch die Mittel des Mitdenkens zu erkennen versucht habe, wird Ihnen sicherlich abenteuerlich klingen. Sie können mir gar nicht soviel schreiben, wie ich aufzunehmen bereit bin.“26 Am 24. Juni 1947 wählte die Berliner Stadtverordnetenversammlung auf Vorschlag der sozialdemokratischen Fraktion den Stadtrat Ernst Reuter zum Oberbürgermeister.27 Nur die SED-Fraktion stimmte gegen den sozialdemokratischen Kandidaten. Reuter wollte der Oberbürgermeister von ganz Berlin sein. In einer ersten Stellungnahme im Rundfunk nach seiner Wahl erklärte er zu seinen politischen Zielen: „Wir müssen Berlin aus seiner Isolierung, aus seiner Umklammerung [...] herauslösen. Wir müssen den Versuch machen, Berlin wirtschaftlich dem Westen wie dem Osten gleichermaßen anzugliedern“.28 Der Tenor der Rede, wie der aller anderen Äußerungen nach seiner Wahl, war zweifellos von dem Bemühen bestimmt, der sowjetischen Besatzungsmacht so wenig wie möglich Vorwände zu liefern, der Wahl nicht zuzustimmen. Er wollte aber auch aus ehrlicher Überzeugung ein Oberbürgermeister für ganz Berlin sein, da er nur zu klar die Schwierigkeiten einer sich auseinander entwickelnden Stadt voraussah. Der Versuch, die Einheit Berlins zu erhalten, scheiterte. Reuter bedurfte der Bestätigung durch die vier Besatzungsmächte und die sowjetische Besatzungsmacht verweigerte unter fadenscheinigen Gründen ihre Zustimmung. Erst nach der von Reuter nicht gewollten Spaltung der Berliner Verwaltung im Herbst 1948 konnte er sein Amt – freilich nur noch Westberlin – antreten. Bis dahin hatte die sozialdemokratische Bürgermeisterin Louise Schroeder dieses Amt mit Bravour ausgefüllt. Nicht viele in Deutschland dachten daran, Remigranten vorbehaltlos und mit offenen Armen willkommen zu heißen. Nicht wenige verbaten sich sogar Rat26 Schumacher an Schifrin vom 19. 7. 1945 (AdsD Bonn, Bestand Schumacher, Nr. 69). Unterstreichung in der Durchschrift. 27 Vgl. zur Vorgeschichte und zur Durchsetzung Reuters in der Berliner Sozialdemokratie Arthur Schlegelmilch, Otto Ostrowski und die Neuorientierung der Berliner Sozialdemokratie in der Viersektorenstadt Berlin. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Band 42, München 1994, S. 59–80, besonders 79. 28 Vgl. den Wortlaut seiner Stellungnahme: Reuter, Schriften – Reden, S. 233 f.

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schläge von denen, die in Deutschlands „schwerster Zeit“ nicht im Lande gewesen waren. Das galt auch und gerade für Berlin, denn besonders in Berlin war eine „ablehnende Haltung der ‚daheimgebliebenen‘ Deutschen gegenüber der politischen Emigration“ – wie Jan Foitzik schreibt – „allgemein konsensfähig“.29 In Berlin – und zunächst nicht nur in Westberlin – war viel früher als in den westlichen Besatzungszonen die Auseinandersetzung mit der Politik der Sowjetunion und der von ihr abhängigen Kommunistischen Partei bzw. der Sozialistischen Einheitspartei ins Zentrum der Diskussion über den politischen Neubeginn gerückt. Diese Auseinandersetzungen gingen einher mit Zwang, Schikanen und Verfolgungen der SPD in Ostberlin.30 Sie steigerten sich seit Mitte 1948 – in der Zeit der Blockade – zu einem Kampf um die Selbstbehauptung der Stadt, der nur für Westberlin von Erfolg gekrönt war. In der sowjetischen Besatzungszone nahmen die Verfolgungen von Sozialdemokraten unter der Überschrift „Kampf dem Sozialdemokratismus“ noch mehr zu.31 Die Bevölkerung von Westberlin sah sich vereint in einem Widerstandskonsens, der gleichermaßen von einem Bekenntnis zur Demokratie und einem militanten Antikommunismus geprägt war.32 Daraus erwuchs freilich auch ein – aus der Blockadesituation nur zu verständliches – Klima des politischen Schwarz-Weiß-Denkens in der ganzen Stadt, das für Zwischentöne wenig Raum mehr ließ. Die nach Westberlin zurückgekehrten Emigranten neigten wohl nicht zuletzt deshalb dazu, eine ablehnende Haltung ihnen gegenüber erst einmal übersehen zu wollen. Zu sehr überwog bei vielen das überwältigende Gefühl, endlich wieder zu Hause zu sein. Sie bescheinigten den Berlinern nicht selten eine ebenso große Wiedersehensfreude, wie sie sie selbst empfanden. Reuter schrieb schon im Dezember 1946 in die Türkei, dass ihn bei einer ersten Rundfahrt durch Berlin, die ihn auch zu Stätten seines früheren Wirkens führte, viele Berliner als den „Stadtrat Reuter“ wiedererkannt hätten. Voller Stolz fügte er an: Hitler „hatte unrecht, als er von uns Emigranten meinte, die Heimat würde uns nicht wiedererkennen. Manchem kamen in Berlin Tränen der Freude ins Gesicht, als er mich wiedersah.“33 Diesen Eindruck hatte andere Rückkehrer auch, wie etwa der frühere Berliner Polizeivizepräsident Bernhard Weiß, der ähnlich euphorisch und gerührt zugleich seine erste Wiederbegegnung mit den Berlinern beschrieb, als er im Herbst 1949, von Reuter 29 Vgl. Jan Foitzik, Politische Probleme der Emigration. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Band 9, München 1991, S. 105. 30 Vgl. für die Geschichte der SPD in Ostberlin bis 1961 Siegfried Heimann, „Im Osten schikaniert, im Westen vergessen“. In: Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948:1958, Berlin 2000, S. 153–168. 31 Vgl. zum Begriff und zur Verfolgung von Sozialdemokraten nach 1945 Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet. Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996. 32 Die Entstehung des Widerstandskonsens in Berlin ist beeindruckend beschrieben von Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, 4 Bände, Köln 1983–1990. 33 Reuter an Neumark vom 12. 12. 1946. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 81.

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gerufen, zu einem kurzen Besuch nach Berlin gekommen war. Er starb, bevor er endgültig zurückkehren konnte.34 Für die in die drei Westsektoren Berlins zurückgekehrten Emigranten gab es aber seit 1947 bereits andere Probleme. Nach einem Jahr anstrengender Tätigkeit als Stadtrat war Reuter keineswegs sicher, ob er nicht doch noch zu einer zweiten Emigration gezwungen sein würde. Als er kurz vor Weihnachten 1947 erstmals zu einer kurzen Ruhepause kam, kam ihm das weiterhin bestehende und sogar größer werdende Gefühl der politischen und auch persönlichen Unsicherheit erst so recht ins Bewusstsein. In mehreren Briefen beschrieb er die politische Situation Berlins und deutete mögliche Konsequenzen für sich an, wenn sich diese Situation noch mehr zuspitzen sollte. Er schrieb an Elisabeth Howard in England über seine Verunsicherung: „Ich bin mir darüber im Klaren, dass es nur eine Ruhe vor dem Sturm ist, denn Berlin ist ein viel zu wichtiger Posten, als dass nicht um ihn ein neuer heißer Kampf entbrennen wird, und, ob wir wollen oder nicht, wir werden mitten in ihm drinstehen, es wird um unseren Kopf gehen, und der Kampf wird für uns um so schwieriger sein, weil wir leider nach manchen bitteren Erfahrungen nicht das Vertrauen in die Westmächte haben können, von ihnen immer und in jeder Lage unterstützt zu werden. Das Gefühl der Unsicherheit ist zu groß, und der furchtbare Druck, der immer wieder auf den Menschen liegt, ist oft zu schwer“. Reuter möchte zwar wegen der vielen Vertrauensbekundungen von Seiten der Berliner nicht aus Berlin weggehen: „Aber wir werden hier bleiben, so lange es geht, und nur dann gehen, wenn gar nichts anderes übrig bleibt.“ Seinen Verwandten konnte er dennoch nicht empfehlen, zu ihm nach Berlin zu kommen, denn er war nicht sicher, ob seiner Frau und ihm nicht „eine neue Emigration bald bevorsteht“.35 Dazu kam es nicht, aber die Verunsicherung aufgrund der politischen Situation in Berlin blieb. Dennoch – oder besser: gerade deshalb – suchte Reuter ständig andere Emigranten zu überreden, auch wieder nach Berlin zu kommen. Er ließ vom ersten Tag seiner Rückkehr nach Berlin nichts unversucht, um in zahlreichen Briefen und in persönlichen Gesprächen, zögernde – besser: scheinbar zögernde – Emigranten zu überzeugen, dass auch sie in Berlin gebraucht würden. Obwohl er die Situation in Berlin keineswegs rosig sah, schrieb er bereits im November 1947 an Paul Hertz: „Der Hunger nach Menschen, die etwas können, ist sehr groß, dass jeder Arbeit im Sinne einer befriedigenden Tätigkeitsmöglichkeit finden könnte, wenn er nur eine Voraussetzung erfüllt, ohne Prätentionen und ohne Anspruch, die auf der Vergangenheit beruhen, zu kommen [...]. Darum meine ich, Ihr solltet hierher kommen und mit uns arbeiten.“36 Und sie kamen nach Berlin und arbeiteten mit, wenn auch in weit geringerer Zahl als in den westlichen Besatzungszonen. Ihr Beitrag beim Wiederaufbau der Stadt war bedeu34 Vgl. dazu 1945: Jetzt wohin, S. 155. 35 Reuter an Howard vom 27. 12. 1947 und an seinen Bruder Karl vom 26. 12. 1947. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 323 f. und 325 f. 36 Reuters an Hertz vom 21. 11. 1947. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 293 f.

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tend. Einen entscheidenden „Vorsprung“, den die Remigranten gegenüber ihren nicht emigrierten Parteifreunden dabei hatten, wagte Willy Brandt in einem biographischen Rückblick durch einen Vergleich zwischen Schumacher und Reuter anzusprechen: „Beide waren entschieden in der Verteidigung ihrer politischen Unabhängigkeit, aber bei Reuter spürte man die Auslandserfahrung, während Schumacher von der Sorge geplagt war, die deutsche Linke könnte noch einmal der nationalen Schlappheit oder Unzuverlässigkeit beschuldigt werden.“37 Nicht zuletzt deshalb ließ Reuter sich selbst in der Hochzeit des Kalten Krieges nicht von seiner Hoffnung abbringen, dass ein Pauschalurteil über die Deutschen: sie seien alle der Nazi-Bewegung hinterher gelaufen seien, falsch sei. In einem Brief an den noch in der Türkei auf die Rückkehr nach Deutschland wartenden Wirtschaftswissenschaftler Walter Rüstow sprach mit ähnlichen Worten wie schon 1943 in dem Brief an Thomas Mann sehr verständnisvoll von den nach 1933 im Lande gebliebenen Deutschen: „Ich habe schon in der Türkei der Versuchung widerstanden, mich dem Chor derjenigen anzuschließen, die immerzu nur den Stab brechen wollen. Diese Menschen sind gewiss nicht schuldlos an dem, was sie getroffen hat.“ Rüstow findet, „dass diese Menschen hier genug gestraft sind. Man sollte ihnen endlich die Möglichkeit zum Leben, zum Arbeiten und zur sinnvollen Gestalten ihres Daseins geben, dann wird man sehen, ob es sich lohnt.“38 Nur Willy Brandt war, obwohl seine Entscheidung für Berlin „ebenso reiflich überlegt wie zwangsläufig“ gewesen war, skeptischer gegenüber dem, was ihn in Berlin erwartete. Er kannte Berlin aus seiner Zeit der Emigration, denn er war im Sommer 1936 für einige Monate – getarnt als norwegischer Student – in Berlin gewesen, um die illegale Arbeit der SAP zu leiten. Er wusste, dass die NSDAP in Berlin weniger als in anderen Regionen Deutschlands Rückhalt in der Bevölkerung hatte, er wusste aber auch, dass es auch in Berlin „Mitläufer und Kompromissler [...] in Hülle und Fülle“ gab und dass auch in Berlin die „Heroen und Märtyrer [...] dünn gesät“ waren.39 Viele dieser Mitläufer und Kompromissler lebten auch weiterhin in Berlin und hatten es gar nicht gern, von Remigranten nach ihrem Tun in der Nazizeit gefragt zu werden. Wer dennoch und nur danach fragte, was die Daheimgebliebenen denn in der Nazizeit getan hätten, geriet dagegen schnell ins Abseits. In welchem politischen Klima die Remigranten seit Mitte 1948 in Berlin tätig waren, zeigte nicht zuletzt die große Aufregung in den Berliner Medien um eine sicher wenig überlegte Äußerung von Erika Mann. Sie war keine Berlinerin und sie kehrte auch nicht nach Berlin zurück. Sie hatte aber während der Berliner Blockade gewagt, den Berlinern den Ehrentitel „Demokraten“ zu verweigern. Kurz nach dem Beginn der Blockade Westberlins hatte Erika Mann während eines „Town Meetings“ im kalifornischen Stockton auf die Frage, ob die USA wegen Berlin einen 37 Brandt, Mein Weg, S. 213. 38 Reuter an Rüstow vom 4. 4. 1947. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 164 ff. 39 Brandt, Mein Weg, S.21.

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Krieg führen solle, geantwortet: „Ich denke nicht, dass es wegen Berlin Krieg geben wird, denn ich meine, dass Berlin für die Westalliierten nicht wichtig genug ist und ich denke nicht, dass es im Moment in Berlin genug deutsche Demokraten gibt, die es wert wären, für sie zu kämpfen.“40 Das war nun an der Realität in Berlin und den Erfahrungen der Berliner gerade im Jahre 1948 völlig vorbeigedacht und -geschrieben. Ernst Reuter selbst hatte im April 1948 den Berlinern bescheinigt, dass – wie auch immer sie früher gedacht und gehandelt haben mochten – sie nun „in unserer Stadt wenigstens lernen“ zu „begreifen, was Freiheit ist [...]. Heute kann man mindestens die Stadt Berlin nicht mehr als eine Stadt ohne Demokraten bezeichnen“.41 So sahen sich auch die meisten Berliner und es war nur zu verständlich, dass gegen Erika Manns Diktum besonders in Berliner Tageszeitungen sogleich ein „publizistisches Trommelfeuer“ begann. Dabei wurden freilich „Töne angeschlagen, die“, wie die Biographin Erika Manns von der Lühe schrieb, „denen des Völkischen Beobachters nur allzu ähnlich waren“.42 Im sozialdemokratischen „Telegraf“ hieß es in einer „Antwort an Erika Mann“ in noch verständlicher Erregung: „Ob es Erika Mann unbekannt ist, dass es Hunderttausende von freiheitlich denkenden Deutschen gegeben hat, die nicht wie sie und ihr Vater emigrieren konnten, die ihre Heimat auch in der dunkelsten Zeit nicht verließen und das Martyrium des Hitlerregimes auf sich nehmen mussten? Es ist ihr offenbar unbekannt, dass es gerade diese Menschen sind, die heute erneut für die Demokratie in ihrer Heimat kämpfen. [...] Die Berliner, die sich mit einer auch vom Ausland anerkannten Kompromisslosigkeit gegen den neuen Totalitarismus zur Wehr setzen, und die mit der Freiheit Berlins und Deutschlands auch die Demokratie an sich verteidigen, sind in jedem Falle die besseren Demokraten als jene streitbare Dame in USA“.43 Klaus Harpprecht – der Biograph Thomas Manns – nennt Erika Manns Bemerkung sicher zu Recht eine „fahrlässige Äußerung“ in einer Zeit, in der die Berliner die Härten der Blockade zu ertragen hatten und stolz darauf waren, den kommunistischen Drohungen so einhellig zu widerstehen. Aber die Reaktion darauf ließ auch sehr merkwürdige und allzu bekannte Töne hören, die schrecken mussten. Harpprecht konstatiert, dass die berechtigte Empörung der Berliner „den schrillen Nationalismus der Repliken in den Berliner Zeitungen“ nicht entschuldigt: „Manche der Autoren in der einstigen Hauptstadt schienen es da-

40 Das Zitat lautet im Original: „I do not think there should be war over Berlin, because I don’t think Berlin is important to the Western Allies, and I don’t think there are enough German democrats in Berlin to be worthy to fight over, actually.“ Zit. nach Irmela von der Lühe, Erika Mann. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1993, S. 227. 41 Ernst Reuter, Eine Demonstration für die Freiheit. In: Neue Zeitung (Berliner Ausgabe), Nr. 34 vom 30. 4. 1948, abgedruckt auch in Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 378 ff. 42 Von der Lühe, Erika Mann, S. 227. 43 Telegraf vom 3. 11. 1948, H. i. O.

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rauf angelegt zu haben, Erikas Vermutung, die Mehrheit der Deutschen seien unheilbare Nazi, lauthals zu bestätigen.“44 Aber die Berlinerinnen und Berliner hatten in diesem Jahr 1948 andere Sorgen, die sie mehr beschäftigten. Der kommunistische Putsch im Februar 1948 in der Tschechoslowakei hatte allen die auch Berlin drohende Gefahr vor Augen geführt. Es galt die „Lehren von Prag“ zu ziehen, es galt, den prinzipiellen Gegensatz „zwischen dem totalitären Kommunismus und dem demokratischen Sozialismus“ offen anzusprechen.45 Ernst Reuter tat dies im Jahre 1948 unermüdlich mit deutlichen Worten. Er wollte damit den Berlinern auch Mut machen, der drohenden Gefahr der Einverleibung Berlins in die sowjetische Besatzungszone zu widerstehen. Am Vorabend des 1. Mai 1948 war klar, dass es in Berlin erstmals wieder zwei Maidemonstrationen geben würde. Reuter machte öffentlich darauf aufmerksam, dass die Maifeiern schon einmal mit hohem propagandistischen Aufwand von der Nazi-Partei für ihre Ziele missbraucht worden seien. Und nun wiederhole sich die Geschichte: „Wir wissen, dass heute dieselben Methoden, dieselbe Technik, dieselbe bewusst mit Betrug arbeitende Organisationsmaschinerie eines riesigen Apparates am Werke ist. Nicht denken, nur marschieren sollen die Massen. Und am Ende steht derselbe Marsch, den sie unter Hitler angetreten hatten, der Marsch in die Sklaverei [...] wir wissen, dass das Wort Einheit im Munde der SEDisten nichts anderes bedeuten soll als das Bekenntnis zur einheitlichen Diktatur über das deutsche Volk“. Reuter wies in dem Zusammenhang auf die in der SBZ neu geschaffene Partei für ehemalige Mitglieder der NSDAP, der Nationaldemokratischen Partei (NDPD), hin. Diese Neugründung könne aber niemanden überraschen, denn sie bestätige nur „die innere Wesensverwandtschaft des Kommunismus mit dem Nationalsozialismus“.46 Reuter wiederholte damit nicht zum letzten Male seine Sicht auf die kommunistische Bewegung, die er schon 1923 angesichts der „nationalbolschewistischen“ Wende der KPD formuliert hatte.47 Aber gerade deshalb ließ sich Reuter trotz der Vorbehalte gegen Remigranten nicht davon abbringen, gegenüber der braunen Diktatur und deren Überbleibsel in der Nachkriegszeit ebenso deutliche Worte zu finden. Er ließ es sich nicht nehmen, auch in den Hochzeiten des Kalten Krieges auch immer mahnende Worte vor allem an die junge Generation auszusprechen und sich nicht dem Schwarz-Weiß-Denken zu unterwerfen. Auf einer Kundgebung der Jugendorganisationen von SPD, CDU und LDP sprach Reuter über „Freiheit und Demokratie“. Er sah offenbar Anlass genug angesichts der verhärteten Fronten im 44 Harpprecht, Thomas Mann, S. 1682. 45 „Die Lehren von Prag“ überschrieb Willy Brandt die gedruckte Fassung seiner ersten Rede vor Berliner Sozialdemokraten im März 1948. Auszüge sind abgedruckt in: Willy Brandt, Berlin bleibt frei. Bearb. von Siegfried Heimann, Bonn 2004, S. 104 ff. 46 Ernst Reuter, Eine Demonstration für die Freiheit. In: Neue Zeitung (Berliner Ausgabe), Nr. 34 vom 30. 4. 1948, abgedruckt auch in: Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 378 ff. 47 Vgl. weiter oben.

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Ost-West-Konflikt den jungen Berlinerinnen und Berliner zuzurufen: „Das Bekenntnis zur Freiheit bedingt auch ein Bekenntnis zur Toleranz, zur gegenseitigen Duldung , bedingt auch die Bereitwilligkeit, im ehrlichen politischen Ringen mit geistigen Waffen miteinander zu kämpfen.“ Noch mehr sah Reuter in dem Zusammenhang die Notwendigkeit, eine schwere Last der Vergangenheit abzuwerfen: „Weil dieser Kampf in Deutschland eine so eminent nationale Bedeutung hat, müssen wir alle [...] uns vor keinem Gift so sehr hüten, wie vor dem Gift nationalistischer Überheblichkeit. Das Zusammenwachsen der europäischen Völker zu einer wirklichen Gemeinschaft ist nicht möglich, wenn dieses Gift sich neu ausbreiten sollte.“ Deshalb verband Reuter seine entschiedene Kritik am politischen System der Sowjetunion auch stets mit einer Bekundung des Respekts vor dem russischen Volk als „Träger einer großen und für die europäische Entwicklung fruchtbar gewordenen Kultur“.48 Die meisten der wenigen nach Westberlin zurückgekehrten Emigranten fügten sich in ihrer politischen Arbeit nicht nur bereitwillig in den „Widerstandskonsens“ der Westberliner Bevölkerung ein, sondern sie stellten sich wie Ernst Reuter selbstbewusst an die Spitze des „antikommunistischen Abwehrkampfes“. In seinen öffentlichen Reden vor Hunderttausenden fand Reuter im Sommer und Herbst 1948 während der Blockade die Worte, die die Berliner in dieser Situation hören wollten, um ihre Angst zu überwinden. Sie fühlten „plötzlich Führung und vertrauten sich ihr an“, wie sich eine Beobachterin rückblickend die Wirkung Reuters erklärte.49 Es war vielen Berlinern aus dem Herzen gesprochen, wenn er ausrief: Nicht die verschlungenen Hände, sondern „Handschellen sind in Wirklichkeit das Symbol dieser erbärmlichen Kümmerlinge [von der SED], die für 30 Silberlinge sich selbst und ihr Volk an eine fremde Macht verkaufen wollen“. Berlin dürfe nicht preisgegeben werden, denn wer „diese Stadt, wer dieses Volk von Berlin preisgeben würde, der würde eine Welt preisgeben, noch mehr, der würde sich selber preisgeben“. Spätestens nach dieser Rede Reuters auf der Protestkundgebung vor dem Reichstag am 9. September 1948, auf der er die Völker der Welt aufforderte, auf diese Stadt zu schauen und sie nicht in ihrem Kampf allein zu lassen, war Reuter der unumstrittene Sprecher der der kommunistischen Bedrohung widerstehenden Berliner.50 Für die im Herbst 1948 bei den Wahlen – nur noch im Westteil der Stadt – als „die Berlinpartei“ mit 64 Prozent aller Stimmen bestätigte SPD war der Remigrant Ernst Reuter vor allem deswegen der weiterhin unumstrittene Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters, der nun auch nicht mehr, wie noch 1947, durch ein sowjetisches Veto verhindert werden konnte. Für Reuter war freilich immer klar, dass der Widerspruch gegen die kommunistischen Drohungen die Warnungen gegenüber der nazistischen Gefahr nicht 48 Ernst Reuter, Rede auf der Kundgebung der Jugendorganisationen von SPD, CDU und LDP am 12. 2. 1948. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 357. 49 Boveri, Verrat , S. 129. 50 Zum Wortlaut vgl. Reuter, Schriften – Reden, Band 3, S. 477 ff.

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überflüssig machten. Aber er musste oder war bereit, dem in der Stadt herrschenden politischen Klima seinen Tribut zollen. Wenn er von der nazistischen Vergangenheit sprach, waren seine Worte nicht mehr so eindeutig wie noch während des Krieges oder kurz nach seiner Rückkehr nach Berlin, als er verlangt hatte, gegen die „Nazipest“ „rücksichtslos durchzugreifen“. In einer Rede, die Reuter während einer Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus in der Hinrichtungsstätte Plötzensee im Jahre 1950 hielt, wird dieser Unterschied deutlich: „Bis zum Ende unseres Lebens, solange in uns ein Atemzug lebendig ist, wollen wir dafür kämpfen, dass ein solcher Schrecken nicht mehr möglich ist! In uns brennt es wie ein Brandmal, dass wir immer noch vor der gleichen Gefahr stehen. Es ist die Gefahr der Herrschsucht, der Herrschgier, des bestialischen Unterdrückungswillen, es ist die gleiche Gefahr, wie auch die Banner aussehen mögen.“51 Er spielte damit natürlich auf die im Jahre 1950 noch keineswegs gebannte Bedrohung Berlins durch die sowjetische Deutschlandpolitik an. Das Zitat belegt auch, dass Reuter keinen platten Antikommunismus predigte, der den Mantel des Vergessens und Vergebens über den Nazismus breiten wollte, sondern er vertrat, wie Helga Grebing gerade für das Selbstverständnis vieler Remigranten betont hat, einen „argumentativen Antistalinismus“, der Remigranten wie Widerständler aus dem linkssozialistischen Lager gleichermaßen auszeichnete.52 Aber den „platten“ Antikommunismus gab es eben auch, vor allem in Berlin. Nicht wenige sahen in dem angesagten Kampf gegen den Kommunismus eine Möglichkeit, drängenden Fragen nach der Zeit des Nazismus auszuweichen. Die Remigranten hatten die Erfahrungen nach 1933 nicht „verdrängt“ und sie „verharmlosten“ auch nicht den Nationalsozialismus. Aber sie neigten dazu, nicht „an der Schuld der Daheimgebliebenen“ zu rühren. Das erleichterte gerade in Berlin den „Daheimgebliebenen“, die Beweispflicht in gewisser Weise umzukehren. Die Remigranten mussten sich anstrengen, um als Mitbürger akzeptiert zu werden, da sie – wie ihnen entgegen gehalten wurde – in Deutschlands finsterster Zeit nicht im Lande geblieben waren und das Martyrium der Nazi-Zeit nicht wie die „Daheimgebliebenen“ zu ertragen gehabt hätten. 51

Vgl. Reuters Rede auf der Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus in der Hinrichtungsstätte Plötzensee am 10. 9. 1950. In: Reuter, Schriften – Reden, Band 4, S. 247. 52 Helga Grebing schreibt in der Einleitung zu einer von ihr herausgegebenen Briefsammlung: „Es hat vor dem ‚eigentlichen‘ Antikommunismus des Kalten Krieges vor allem unter den klassisch-marxistisch orientierten Sozialisten, die nunmehr bewusst das Wort ‚freiheitlich‘ für ihre Position reklamierten, einen argumentativen Anti-Stalinismus gegeben, der dem Kurt Schumachers gelegentlich bis in die Wortwahl hinein in nichts nachstand. Schumachers Position, die heute meist unpräzise als Antikommunismus gekennzeichnet wird, war ebenfalls ein Anti-Stalinismus.“ Helga Grebing (Hg.), Lehrstücke in Solidarität, Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945–1949, Stuttgart 1983, S. 40.

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Peter Weiß resümierte im Juli 1947 nach einem Besuch in Berlin eher resigniert: „Die besten unter den Deutschen, die während der Terrorjahre, soweit sie nicht in den Konzentrationslagern umkamen, einen schweren Stand hatten, sind isoliert und gefährdet. Sie stehen heute wieder abseits. Ihr Widerstandskampf und die Opfer, die sie gebracht haben, werden absichtlich heruntergespielt. Sie hielten die Sieger für ihre Befreier, wurden in ihrer Hoffnung auf eine echte und offenen Zusammenarbeit enttäuscht. Sie sind gleichgültig geworden. [...] Allzu viele nannten sich jetzt auf einmal Widerstandskämpfer. Der politische Emigrant, der mit guten Vorsätzen in die Heimat zurückgekehrt war, konnte sich in dem Land, das sich in einen Schutthaufen verwandelt hatte, nicht zurechtfinden. [...] Die Erfahrungen der Kriegs- und Terrorjahre führten nicht zu Einsicht und Reife, sondern zu Aussichtslosigkeit und Korruption. Misstrauen, Missgunst und Überheblichkeit breiteten sich aus.“53

Ähnlich beschrieb Maximilian Scheer in der von Alfred Kantorowicz herausgegebenen Berliner Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Ost und West“ Anfang 1948 die Situation in Berlin, die er als ein düster stimmendes „Mosaik“ wahrnahm. Er konstatierte, dass die Berliner guten Grund zu Optimismus haben dürften: „Schon heute wird Berlin von Fremden, die hier und in ausländischen Hauptstädten gelebt haben, als eine der geistig lebendigsten, vielfältigsten und interessantsten Städte Europas bezeichnet.“ Aber umso mehr drängte sich ihm eine Frage auf, die er nicht beantworten konnte. „Warum schweigen die Menschen? Warum klagen sie oft über das Heute und erwähnen das Gestern, welche das Heute verschuldete, nie? Wollen sie das Gestern vergessen? Wollen sie ihre frühere Haltung verbergen? Wollen sie das Heute auf einer Verheimlichung des Gestern aufbauen? Dann bauen sie auf einer Lüge auf“.54 Für Ernst Reuter gab es keinen Zweifel, dass ein neues Deutschland die Überreste der Nazi-Zeit radikal beseitigen musste, wie seine Briefe aus der Zeit der Emigration belegen. Aber konnte es nicht auch heißen, die eh schon gegenüber Remigranten skeptischen Berliner mit bohrenden Nachfragen über ihr Verhalten vor 1945 zu verschonen? Sicher nicht um des lieben Friedens willen, sondern vor allem wegen der neuen übergroßen sozialen und politischen Probleme in der sich 1947 bereits auseinander entwickelnden Stadt. Diese Probleme machten ein Zusammenstehen aller – der im Lande Gebliebenen wie der Remigranten – notwendig. Aber machte dieses Zusammenstehen nicht die weiterhin notwendige antinazistische „Aufräumarbeit“ fast unmöglich. Auch Reuter erfuhr ja immer wieder auf seine Emigration anspielende Anfeindungen. Noch kurz vor seinem Tode meinte der, der Deutschen Partei angehörende, Verkehrsminister Seebohm der SPD große Nähe zur KPD nachsagen zu dürfen, weil der angeblich aus der Sowjetunion zurückgekehrte Kommunist Reuter auch als Sozial-

53 Peter Weiß, Menschliches Miteinander. Berlin im Juli [1947]. Zit. nach In Deutschland unterwegs 1945–1948, Reportagen Skizzen Berichte, Stuttgart 1982, S. 360. 54 Maximilian Scheer, Berliner Mosaik. In: Ost und West 1 (Januar 1948), S. 62 ff.

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demokrat Lenin immer noch als sein Vorbild ansähe.55 Reuter hängte solche Anwürfe aus der rechtsextremistischen Ecke nie an die große Glocke, er wollte keine neuen politischen Gräben aufreißen und nicht den – wie Werner Jochmann es nennt – „historischen Kompromiss“ mit früheren nazistischen Führungsschichten gefährden, der eine breite gesellschaftliche Basis für einen Wiederaufbau nach dem Ende der Nazidiktatur ermöglichen sollte.56 Wer in Berlin Politik machen wollte und musste, machte damit nicht nur Politik in einer Stadt, durch die spätestens seit 1948 die Grenze zwischen den zwei Machtblöcken der Nachkriegszeit verlief. Er machte zugleich auch „Deutschlandpolitik“. David Barclay betont in seiner Biographie Reuters unter Verweis auf diesen Zusammenhang zu Recht dessen „antikommunistisches Pathos, das sicherlich historisch zu erklären aber weder wegzudenken noch zu relativieren ist. Ganz im Sinne der in jenen Jahren verbreiteten Totalitarismustheorie hob er in seiner Rhetorik die moralische Gleichsetzung des Nationalsozialismus und des real existierenden Kommunismus sowjetischer bzw. stalinistischer Prägung hervor“.57 Ernst Reuter folgte damit – und nur zu verständlich – dem damals „auf dem Markt der politischen Meinungsbildung gängigen Totalitarismusbegriff“, der freilich „im Hinblick auf wissenschaftliche Anforderungen entwertet worden [war durch seine] propagandistische Verwendung“. Der Anti-Totalitarismus war „zu einem Element der Verteidigung und zugleich des Selbstverständnisses der westlichen Welt geworden“, wie Otto Stammer feststellte, der Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre wenig Raum für differenzierende Zwischentöne bot.58 Reuters Biographie aber zeigt, dass der geringe Raum dennoch genutzt werden konnte. Auch Reuter hatte im Laufe seines vierundsechzigjährigen Lebens nicht nur zwei politische Überzeugungen kennen gelernt. Im Berlin der Nachkriegszeit aber war nur Schwarz-Weiß-Denken gefragt und nicht die vermittelnde Position zwischen den Fronten. Der Traum von einem zwar besiegten, aber vereinten demokratisches Deutschland , das eine „Brückenfunktion“ hätte ausüben, gar einen „dritten Weg“ hätte beschreiten können, war für Reuter spätestens nach dem „Putsch“ der tschechoslowakischen Kommunisten im Februar 1948 in Prag zu Ende geträumt. Reuter fand zwar, wenn es darauf an kam, wie etwa zur Zeit der Blockade, harsche Worte, aber er gewann dennoch dem SchwarzWeiß-Denken jener Tage wenig Geschmack ab, was nicht zuletzt auch den Konflikt mit Kurt Schumacher zu Beginn der fünfziger Jahre mitbestimmte, der nicht 55 Vgl. Brandt/ Löwenthal, Reuter, S. 695. 56 Vgl. Werner Jochmann, Deutschland nach Hitler. Deutsche Demokraten im Exil und ihr Ringen um die Zukunft des Landes. In: Schicksale deutscher Emigranten: auf der Suche nach den Quellen, München 1993, S. 21 f. 57 Vgl. David Barclay, Der Einfluss Ernst Reuters auf das deutschlandpolitische Denken Willy Brandts, Kalamazoo/MI 1999 (MS), S. 2. 58 Vgl. dazu Otto Stammer, Aspekte der Totalitarismusforschung. In: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 414–437, hier 414.

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nur eine politische Differenz etwa hinsichtlich der europäischen Integration war sondern auch den anderen politischen Stil im Umgang mit dem politischen Gegner meinte. Aber es ging nicht nur um Stilfragen. Reuter war vor allem auch ein pragmatischer Realist, der vor der in Europa drohenden Kriegsgefahr nicht die Augen verschloss, sondern ihr durch eine abgewogene Politik auch gegenüber der Sowjetunion begegnen wollte. Reuter war weit davon entfernt, den „Block der Sowjetunion und seinen Druck als etwas Statisches, Unabänderliches und Unerschütterbares“ anzusehen. Es gelte, so sagte Reuter kurz vor seinem Tode, nicht nur auf Veränderungen im Ostblock zu hoffen, sondern sie auch herbeiführen zu helfen. Deshalb müsse der Westen das „Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion“ ernst nehmen und er dürfe, „wenn er wirklich die Wiedervereinigung Deutschlands [und Berlins] will, nicht darauf bestehen [...], dass Deutschland vor dieser Wiedervereinigung ein Teil des westlichen Bündnissystems wird“.59 Anklänge an eine sozialdemokratische Deutschlandpolitik, die erst später zu einem Plan werden sollten. Im Juni 1946 schrieb Victor Klemperer an einen alten, nach New York emigrierten Freund über das, was er nach dem Ende der Nazidiktatur sich für den Rest seines Lebens vorgenommen habe: „Ich möchte gar zu gerne am Auspumpen der Jauchegrube Deutschlands mitarbeiten, dass wieder etwas Anständiges aus diesem Lande werde.“60 Nichts anderes wollte auch der nach (West)Berlin zurückgekehrte Emigrant Ernst Reuter. Der „Prüfstand“ Berlin machte es ihm und seinen Weggefährten schwer, aber nicht unmöglich, dabei immer konsequent zu bleiben. Nicht alle Hoffnungen des Remigranten sollten sich nach seiner Rückkehr nach Berlin erfüllen. Aber Ernst Reuter war und blieb alles in allem ein „Zivilist im Kalten Krieg“.61

59 So Reuter in einer seiner letzten öffentlichen Reden vor seinem Tode im August 1953. Vgl. Reuter, Schriften – Reden, Band 4, S. 765 ff., besonders 772 und 776. 60 Viktor Klemperer, Tagebücher, Band 2, Berlin 1996, S. 876. 61 Vgl. Hannes Schwenger, Ernst Reuter: ein Zivilist im Kalten Krieg, München 1987.

Vom Marxismus zum Antitotalitarismus: Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal Uwe Backes

I.

Einleitung

In Politik und Wissenschaft war das Totalitarismuskonzept in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zum dominierenden Muster für die Deutung der historisch-politischen Grundkonstellation geworden. Daher ist verschiedentlich die Auffassung vertreten worden, es handele sich um ein Produkt des Kalten Krieges. Und weil es in dieser Zeit wie auch später vielfach als Waffe der Rechten gegen die Linke diente, entstand mitunter der Eindruck, es handele sich ursprünglich um einen Kampfbegriff der Konservativen. Die inzwischen in stattlicher Zahl vorliegenden Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung des (variantenreichen) Konzepts zeigen demgegenüber, dass 1) die vergleichende, Gemeinsamkeiten herausarbeitende Betrachtung von Bolschewismus und Faschismus als „totalitäre“ Ideologien, Bewegungen und Systeme nur wenige Monate nach dem „Marsch auf Rom“ (Oktober 1922) begann, 2) sich von Anbeginn Antifaschisten verschiedener politischer Couleur daran beteiligten und 3) Autoren, die sich als Sozialisten verstanden und dezidiert der Linken zurechneten, von den dreißiger Jahren an erheblichen Anteil daran hatten.1 Bei dezidierten Vertretern der Linken war prinzipielle Faschismuskritik selbstverständlich, Fundamentalkritik am Kommunismus hingegen zumeist Resultat eines mühsamen und wechselhaften intellektuellen Ringens. Wenn Faschismus- und Kommunismuskritik auf einen begrifflichen Nenner gebracht 1

Vgl. vor allem Bernard Bruneteau, Les totalitarismes, Paris 1999; Abbott Gleason, Totalitarianism: The Inner History of the Cold War, Oxford 1995; Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen, Bonn 1999; Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Auflage Baden-Baden 1999; Hans Maier (Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996; ders./Michael Schäfer (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Band II, Paderborn 1997; ders. (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band III, Paderborn 2003; Marc-Pierre Möll, Gesellschaft und totalitäre Ordnung. Eine theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, Baden-Baden 1998; Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/ Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997.

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wurden, erforderte dies in vielen Fällen eine Abkehr von marxistischen Dogmen, die geistiges Gemeingut großer Teile der Arbeiterbewegung geworden waren. Dieser Prozess soll hier am Beispiel zweier Intellektueller verfolgt werden, die sich in der Weimarer Zeit innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung engagierten und durch die kritische Auseinandersetzung mit Faschismus/Nationalsozialismus wie Sowjetkommunismus zu antitotalitären Positionen gelangten. Beide leisteten nach 1945 vielbeachtete wissenschaftliche Beiträge zur Totalitarismuskonzeption. Im Zentrum des Beitrags steht die Faschismus- und Kommunismuskritik Ernst Fraenkels (geb. 1898, gest. 1975) und Richard Löwenthals (geb. 1908, gest. 1991). Geprüft wird, in welcher Weise die kritische Auseinandersetzung mit den politischen Extrembewegungen mit Prozessen der Ablösung von traditionellen Kategorien marxistischen Denkens einherging. Die Genese der Totalitarismuskonzepte wird in den historischen Kontext und den wissenschaftlichen Diskussionsverlauf der Zeit eingeordnet. Der Beitrag zeichnet auch die Wandlungen nach, die sich im Totalitarismusverständnis Fraenkels und Löwenthals in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. In einem abschließenden Vergleich wird das geistige Profil der Totalitarismuskonzepte beider Autoren kontrastierend herausgearbeitet.

II.

Lebenswege: Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal

Ernst Fraenkel wurde 1898 in Köln als Sohn eines gutsituierten jüdischen Kaufmanns geboren.2 Noch im Ersten Weltkrieg nahm er nach dem Notabitur das Studium der Jurisprudenz und Geschichte auf, meldete sich aber bald darauf freiwillig zum Militärdienst und erlitt schwere Verwundungen. Anfang 1919 immatrikulierte er sich an der Universität Frankfurt und schloss sich dort – wie seine Kommilitonen Franz L. Neumann und Leo Löwenthal – einer sozialistischen Studentengruppe an. Während des Jurastudiums zählte der Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer zu seinen wichtigsten akademischen Lehrern. Bei Sinzhei2

Vgl. zur Biographie Ernst Fraenkel, Anstatt einer Vorrede, sowie ders., Zur Soziologie der Klassenjustiz, jeweils in: ders., Gesammelte Schriften, Band 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik. Hg. von Hubertus Buchstein unter Mitarbeit von Rainer Kühn, Baden-Baden 1999, S. 55–68, 654–661. Siehe in demselben Band auch die biographische Skizze von Hubertus Buchstein/Rainer Kühn, Vorwort zu diesem Band, S. 15– 54; dies., Vorwort. In: ders., Gesammelte Schriften, Band 4: Amerikastudien, BadenBaden 2000; Gerhard Göhler/Dirk Rüdiger Schumann, Vorwort zu diesem Band. In: ders., Gesammelte Schriften, Band 3: Neuaufbau der Demokratie in Deutschland und Korea, Baden-Baden 1999, S. 9–49; Art. „Fraenkel, Ernst“. In: Herbert A. Strauss/ Werner Röder (Hg.), International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945, Band II: The Arts, Sciences, and Literature, München 1999, S. 312 f.; Art. „Ernst Fraenkel“. In: Muntzinger Archiv/Internationales Biographisches Archiv, 2001; Ernst C. Stiefel/Frank Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1950), Tübingen 1991, S. 88–91.

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mer, der für die SPD Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung und des Verfassungsausschusses gewesen war, promovierte er 1923 („Der nichtige Arbeitsvertrag“) und wurde anschließend dessen Assistent. Noch vor Abschluss der Dissertation war er der SPD beigetreten, wo er mit dem linken Parteiflügel sympathisierte und für eine grundlegende soziale Veränderung der bestehenden Verhältnisse eintrat. Auf Vermittlung seines Lehrers unterrichtete er ab 1925 an der Schule des Deutschen Metallarbeiterverbandes in Bad Dürrenberg. Ab 1927 arbeitete er für den Verband als Syndikus in Stuttgart, wohin dessen Zentrale verlegt worden war. In Berlin eröffnete er mit seinem Studienkollegen Franz L. Neumann eine Rechtsanwaltspraxis, beriet in dieser Eigenschaft von 1931 an auch den SPD-Parteivorstand. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten behielt Fraenkel aufgrund seiner Kriegsteilnahme die anwaltliche Zulassung und blieb noch einige Jahre in Deutschland, wo er unter schwierigsten Bedingungen verfolgte Gewerkschaftsmitglieder und Sozialdemokraten betreute. Er beteiligte sich an der Widerstandsarbeit des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), schrieb unter Pseudonym Artikel für dessen in Paris erscheinende Zeitschrift und arbeitete an einer Analyse zum Herrschaftssystem des Nationalsozialismus. Sie erschien 1941 unter dem Titel „The Dual State“ in den USA,3 nachdem er im September 1938 aufgrund zunehmender Repressalien aus Deutschland geflohen war. Über Großbritannien ging es in die USA, wo er zunächst als Sekretär für jüdische Gruppen in New York arbeitete. Nach einem zweiten juristischen Studium an der Universität Chicago (Ph.D. 1942) trat er 1944 in den amerikanischen Staatsdienst ein, wo er u. a. Gutachten über die künftige Deutschlandpolitik verfasste. Von 1945 bis 1950 war er Regierungsberater für sozial- und verfassungsrechtliche Fragen in Korea. 1951 kehrte Fraenkel auf Betreiben Otto Suhrs nach Deutschland zurück, begann an der „Deutschen Hochschule für Politik“ zu lehren und wurde 1953 Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität. Von 1964 an war er gleichzeitig Direktor des von ihm initiierten John F. Kennedy-Instituts für Nordamerika-Studien. Die letzten Lehrjahre empfand er wegen der Auseinandersetzungen mit einer fanatisierten Studentenschaft als Last, doch blieb er auch nach der Emeritierung 1967 bis zu seinem Tod 1975 in Berlin. Kollege Fraenkels am Otto Suhr-Institut war in den sechziger Jahren Richard Löwenthal.4 Der um zehn Jahre Jüngere (geb. 1908 in Berlin) war wie Fraen3 4

Vgl. Michael Wildt, Die politische Ordnung der Volksgemeinschaft. Ernst Fraenkels „Doppelstaat“ neu betrachtet. In: Mittelweg 36, (2003) 2, S. 45–61. Zur Biographie vgl. vor allem Art. „Richard Löwenthal“. In: Munzinger Archiv/Internationales Biographisches Archiv, 2001; Art. „Löwenthal, Richard“. In: Werner Röder / Herbert A. Strauss (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 1: Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben, München 1999, S. 458. Ein (unvollständiges) Schriftenverzeichnis enthält die Festschrift zum 70. Geburtstag: Käthe Söhring, Verzeichnis der Schriften Richard Löwenthals. In: Sozialismus in Theorie und Praxis. Festschrift für Richard Löwenthal zum 70. Geburtstag. Hg. von Hannelore Horn, Alexander Schwan und Thomas Weingartner, Berlin (West) 1978, S. 667–683.

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kel Sohn eines jüdischen Kaufmanns. In Berlin und Heidelberg studierte er (u. a. bei Alfred Weber und Karl Mannheim) Nationalökonomie und Soziologie. Als „18-jähriges Erstsemester an der Berliner Universität“ trat er in die KPD ein und gehörte der „Kommunistischen Studentenfraktion“ an, deren Reichsleiter zu dieser Zeit Franz Borkenau war. Mit diesem und weiteren Freunden wurde er 1929 aus der Partei ausgeschlossen, da er sich weigerte, den Kurs der KPD mitzutragen, die „im Angesicht der steigenden Gefahr des Nationalsozialismus darauf bestand, die Sozialdemokraten als ‚Hauptfeinde‘ zu behandeln“.5 Von da an zählte er zur „KPD-Opposition“ (KPO). Ab 1931, dem Jahr, in dem er mit einer Arbeit über „Die Marxsche Theorie des Krisenzyklus“ promoviert wurde, engagierte sich Löwenthal in der „Leninistischen Organisation“ Walter Löwenheims („Miles“), die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als Gruppe „Neu Beginnen“ im Untergrund operierte. Wegen des zunehmenden Verfolgungsdrucks verließ er 1935 Deutschland. In Prag wirkte er im Auslandsbüro der Gruppe, hielt sich 1936/37 als Forschungsstipendiat in London auf, lebte danach wieder zeitweilig in Prag und Paris, bis er 1939 (mit Erwin Schoettle und Waldemar von Knoeringen) in die Londoner Auslandsleitung eintrat. Hier verfasste er Analysen zur politischen Lage und nahm wie in den Jahren zuvor prägenden Einfluss auf die ideologische und strategische Orientierung der Gruppe.6 1942 begann er, für die Nachrichtenagentur Reuters zu arbeiten, in den Jahren 1949 bis 1955 war er deren Korrespondent in Deutschland und Mitteleuropa. Von 1954 an schrieb er zahlreiche außenpolitische Leitartikel für den Observer. Ein Forschungsauftrag am Russian Research Center der Harvard University (1959/60) bildete den Auftakt für eine 1961 beginnende Lehrtätigkeit an der Freien Universität Berlin. Der zeitweilige Weggefährte Willy Brandts,7 der 5

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Richard Löwenthal, Vorwort zur amerikanischen Erstausgabe. In: Franz Borkenau, Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes. Hg. und eingeführt von Richard Löwenthal, Stuttgart 1984, S. 7–10, hier 9. Vgl. Richard Löwenthal, Die Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“, Berlin (West) 1982; ders., Die Schrift „Neu Beginnen“ – 50 Jahre danach. In: IWK, 19 (1983), S. 491–493; ders., Konflikte, Bündnisse und Resultate der deutschen politischen Emigration. In: VfZ, 39 (1991), S. 626–636; Jan Foitzik, Zwei Dokumente aus dem Untergrund. In: IWK, 21 (1985), S. 142–182; ders., Zwischen den Fronten. Zur Politik, Organisation und Funktion linker politischer Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40 unter besonderer Berücksichtigung des Exils, Bonn 1986; Kurt Kliem, Der sozialistische Widerstand gegen das Dritte Reich, dargestellt an der Gruppe „Neu Beginnen“, Diss. phil., Marburg 1957; Hartmut Mehringer, Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie, München 1989, S. 189–227; Hans J. Reichardt, Neu Beginnen. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes der Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 12 (1963), S. 150–188; Werner Röder, Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940–1945, Hannover 1968. Vgl. Willy Brandt, Gedenkrede. In: Gesine Schwan (Hg.), Wissenschaft und Politik in öffentlicher Verantwortung. Problemdiagnosen in einer Zeit des Umbruchs. Zum Gedenken an Richard Löwenthal, Baden-Baden 1995, S. 11–16.

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1946 eine vielbeachtete Schrift zur „sozialistischen Neuorientierung“ unter dem Titel „Jenseits des Kapitalismus“ veröffentlicht hatte (noch unter seinem Widerstands-Pseudonym Paul Sering) und mit Brandt eine Biographie des Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter verfasste,8 beriet viele Jahre lang den SPD-Parteivorstand. Als anerkannter Kommunismus- und Sowjetunion-Experte begleitete er analytisch die Entwicklung des Ost-West-Konflikts bis zu dessen allmählicher Überwindung nach der Machtübernahme Gorbatschows. Er starb 1991 – in dem Jahr, in dem die Sowjetunion zusammenbrach.

III.

Ansätze und Entfaltung totalitarismuskritischen Denkens

1.

Ernst Fraenkel

In der Weimarer Zeit verstand sich Ernst Fraenkel als Marxist. Seine Tätigkeit an der Wirtschaftsschule des Deutschen Metallarbeiterverbandes orientierte sich an den „Denkformen der marxistischen Lehre“,9 war darauf gerichtet, den „Emanzipationskampf des Proletariats“10 zu fördern und den Arbeitern „Gegenwartsfragen unter Anwendung der Marxschen Methode verständlich zu machen.“11 Diese Einstellung schloss Kritik am Kommunismus ein, zumindest an solchen Formen, „die glauben, dass die Ausrottung des Kapitalismus genügt, um aus dem gesunden Gefühl einer befreiten Volksmasse eine Rechtsordnung der wirtschaftlichen Vernunft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete zur Entstehung zu bringen“.12 Die Auseinandersetzung mit der Politik der KPD zählte zum Tagesgeschäft des Sozialdemokraten, der etwa die Integration der Betriebsräte in die Gewerkschaftsbewegung als stabilisierendes Moment würdigte und den kommunistischen Versuch des Ausspielens der Räte gegen die Syndikate ablehnte. In einer Rezension über Hermann Hellers Schrift „Rechtsstaat oder Diktatur“ charakterisierte er 1930 den Bolschewismus als „Diktatursystem“ und hob die Bedeutung der Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln hervor.13 Später warnte er vor „Diktaturexperimenten“ der „Arbeitermassen“,14 die das Demokratievertrauen der Proletarier erschütterten, die im Bürgertum verbreitete Bolschewismusfurcht und Diktaturneigung stimulierten. 8

Vgl. Willy Brandt/Richard Löwenthal, Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957. 9 Ernst Fraenkel, Die Wirtschaftsschule des Deutschen Metallarbeiterverbandes in Bad Dürrenberg (1926). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 163–166, hier 164. 10 Ebd., S. 163. 11 Ebd., S. 164. 12 Ders., Die Stellung des jungen Proletariers zum Recht (1925). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 135–138, hier 135 f. 13 Ders., Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur (1930). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 423–425, hier 424. 14 Ders., Die Staatskrise und der Kampf um den Staat (1932). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 510–515, hier 513.

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Trotz dieser kritischen Ansätze bildete die marxistische Lehre ein Bindeglied, das angesichts der gemeinsamen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus nach 1933 neue Bedeutung erlangte. Die Überzeugung, die vielbeklagte Spaltung der Arbeiterbewegung beruhe auf einem unüberbrückbaren ideologischen Schisma, reifte erst allmählich heran. Dass ein Trennungsstrich gezogen worden und ein Bruch erfolgt war, zeigte sich in aller Klarheit, als Fraenkel, inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt, am 9. November 1951 eine Rede vor Kreisfunktionären der Berliner SPD hielt. Bei dieser Gelegenheit kritisierte er die bei Teilen der Vorkriegssozialdemokratie verbreitete Neigung, „im Bolschewismus eine Art linken Flügel der internationalen Arbeiterbewegung zu erblicken. Das war ein Irrtum [...]. Lenin hatte im Jahre 1904 die russische Sozialdemokratie gespalten, nicht so sehr um sachlicher als um organisatorischer Fragen willen. Die Konzeption, die Lenin leitete, war nicht die vom Vertrauen der Mitgliedschaft einer Massenpartei getragene Führung, sondern die von einer sich selbst ergänzenden Führerschicht diktatorisch geleitete Masse. Die Führung der deutschen Gewerkschaften und der deutschen Arbeiterparteien [...] haben das Verhängnisvolle der Leninschen Konzeption damals instinktmäßig voll begriffen. In Verteidigung ihrer ihnen ans Herz gewachsenen demokratischen Massenorganisationen haben in den Novembertagen 1918 die deutschen Arbeiterorganisationen den russischen Vorstoß zum Halten gebracht. Die deutschen demokratischen Arbeiterorganisationen sind die eigentlichen Veteranen im Kampf gegen die bolschewistische Gefahr. Der Kampf um Berlin im Jahre 1948 stellt nur eine weitere Phase in diesem 30-jährigen Kriege dar. Die westliche Welt sollte sich endlich der Dankesschuld bewusst werden, die sie den Preisfechtern gegen den Bolschewismus schuldet.“15 In der Gegenwart werde „das Wort ‚Deutsche Demokratische Republik‘ für eine ‚Spottgeburt aus Dreck und Feuer‘ missbraucht“, und zwar von jenen, „die sich einst im trauten Zusammenwirken mit Reaktionären und Faszisten nicht genug tun konnte[n], sie zu verhöhnen.“16 Über die eigene Entwicklung zu einer klar antikommunistischen Haltung schrieb Fraenkel über zwanzig Jahre später, er habe in den Jahren, die er im nationalsozialistischen Deutschland verbrachte „nicht stets der Versuchung widerstanden, mich unkritisch einer monoman anti-monopolkapitalistischen Theorie des Anti-Faschismus zu verschreiben. Dies geschah unter völliger Vernachlässigung der fundamentalen Veränderungen, die sich in der UdSSR unter dem Regime Stalin und in den USA im Zeichen des New Deal vollzogen. Der Stalin-HitlerPakt zerstörte die Illusion, dass eine Voll-Sozialisierung zu einer – weil klassenfreien –‚wahren‘ Demokratie zu führen vorbestimmt sei. Das Miterlebnis der ‚Roosevelt-Revolution‘ begründete die Bereitschaft, an der Errichtung und Entwicklung eines pluralistischen Demokratie-Modells mitzuarbeiten, wie es mir für das Nach-Hitler-Deutschland vorschwebte.“17 15 Ders., Die Lehren des 9. Nov. 1918 (1951). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 616–619, hier 617. 16 Ebd., S. 618. 17 Ders., Anstatt einer Vorrede (1973). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 68.

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Während die Kommunismuskritik zunächst zurückhaltend ausfiel, gegen Ende der Weimarer Republik an Schärfe gewann, sich in den dreißiger Jahren wieder abschwächte und erst in der Emigration fundamental wurde, war Fraenkels Auseinandersetzung mit dem Faschismus von Anbeginn scharf und kompromisslos. Sie begann mit einer Entlarvung von Mussolinis „Carta del Lavoro“ aus dem Jahr 192618 und mündete in die scharfsinnige Beschreibung der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis im „Doppelstaat“. Die Faschismuskritik war allerdings in erster Linie Produkt sozial-ökonomischer Analyse und weit weniger Ausdruck einer Verteidigungshaltung gegenüber den institutionellen Grundlagen der wesentlich vom Liberalismus geschaffenen gewaltenkontrollierenden Ordnung. Dies schloss die Wertschätzung rechtlicher Errungenschaften nicht aus. So hieß es in der Kritik des faschistischen Arbeitsrechts: „Die sozialistisch eingestellte Arbeiterschaft mag dem Liberalismus, der geschichtlich und soziologisch mit dem kapitalistischen System auf das engste verbunden ist, noch so ablehnend gegenüberstehen; innerhalb des kapitalistischen Systems muss sie darauf bedacht sein, dass die Auswirkungen des Liberalismus auch für sie gelten.“19 Was Fraenkel für die SPD der Weimarer Zeit schrieb: für sie sei die Reichsverfassung „stets nur eine Etappe, niemals ein Ziel“20 gewesen, traf in erheblichem Umfang auch auf seine eigene Haltung gegenüber der „kollektiven Demokratie“ zu. Die Verknüpfung von Faschismus- und Kommunismuskritik findet sich in den Beiträgen vor 1945 nur in schwachen Ansätzen. Wenn Fraenkel 1929 Kommunisten und Nationalsozialisten als „ständige[n] Oppositionsparteien“21 auf einen Nenner brachte, geschah dies überwiegend deskriptiv. Nach den erdrutschartigen Wahlerfolgen der Nationalsozialisten bei den Septemberwahlen von 1930 nahm er Nationalsozialisten und Kommunisten erstmals als doppelte Bedrohung schwer errungener Rechte der Arbeiterschaft wahr: „Der Kampf gegen den Nationalsozialismus muss nicht nur direkt gegen den Faschismus, sondern auch indirekt gegen die KPD geführt werden. Eine Arbeiterschaft, die gegen die Argumente der KPD gefeit ist, wird auch für die Sirenenklänge Adolf Hitlers nicht empfänglich sein.“22 Nun rückte deutlicher als zuvor die Bewertungsgrundlage des „Rechtsstaates“ (im eher formalen Sinne der „Bindung von Verwaltung und Justiz an das Gesetz“23) ins Blickfeld: „Erst nachdem der Bolschewismus und ihm folgend der Faschismus die Figur des Rechtsstaats in Zwei18 Ders., Die Carta del Lavoro (1927). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 238– 242. 19 Ebd., S. 242. 20 Ders., Abschied von Weimar? (1932). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 481– 495, hier 491. 21 Ders., Kollektive Demokratie (1929). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 343– 357, hier 346. 22 Ders., Antifaschistische Aufklärungsarbeit. In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 410–417, hier 411. 23 Ders., Die Krise des Rechtsstaats und die Justiz (1931). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 454–458, hier 455.

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fel gezogen, ja den Rechtsstaat als Requisit des Liberalismus verhöhnt und verspottet haben, ist das Fundament erschüttert, auf dem sich die verfassungsrechtliche Debatte jahrzehntelang abgespielt hat. Verneinung des Rechtsstaats bedeutet in einer entwickelten Verkehrswirtschaft Absolutismus der Bürokratie, heißt Ausschaltung der gesellschaftlichen, nicht vom Staat erfassten Kräfte auf die Willensbildung des Staates.“24 Rechtsstaat versus Absolutismus (der Bürokratie) lautete die begriffliche Antithese, mit der Bolschewismus und Faschismus/Nationalsozialismus 1931 auf einen Nenner gebracht wurden: „Ob dieser Absolutismus durch faschistische, nationalistische oder bolschewistische Ideologien verbrämt ist, mag für den sozialen Gehalt und den kulturellen Wert des betroffenen Staates von maßgeblicher Bedeutung sein. Vom staatsrechtlichen und staatstheoretischen Standpunkt aus sind diese Ideologien nur Verhüllungen der Allmacht des bürokratischen Apparates.“25 Später, angesichts der Existenzkrise des Jahres 1932, fand Fraenkel noch deutlichere Worte für die „Mehrheit grundsätzlich staatsfeindlicher, in sich uneiniger Parteien im Parlament“; deren Verhältnis zur Verfassung bezeichnete er als „rebellierend“.26 Von „Totalitarismus“ war bei Fraenkel in diesem Zusammenhang lange Zeit keine Rede. Ende 1931 taucht erstmals das „Irrlicht des ‚totalen Staates‘“27 auf, dem die Notwendigkeit des Schutzes der persönlichen Freiheitssphäre entgegengehalten wird. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem vieldeutigen, auf Carl Schmitt zurückgehenden Konzept findet sich im „Urdoppelstaat“, dem in den Jahren 1936 bis 1938 im nationalsozialistischen Deutschland verfassten Vorläufer des 1940 im amerikanischen Exil veröffentlichten „Dual state“. Wie manche NS-Juristen (Roland Freisler propagierte die „totale Bewegung“) lehnte auch Fraenkel – mit anderen Argumenten – die Charakterisierung des neuen Regimes als „totalen Staat“ ab. Sie werde weder der „Selbstbeschränkung des Maßnahmenstaates“ (insbesondere mit Blick auf das Wirtschaftsleben mache man von der Möglichkeit, das gesamte gesellschaftliche Leben zu durchdringen, „absichtlich nur einen beschränkten Gebrauch“) gerecht, noch berücksichtige sie die „Existenz des Normenstaates“28 (also jenes Bereiches privater und gesellschaftlicher Beziehungen, die aus Gründen der Opportunität nicht nach politischen, sondern nach rechtlichen Gesichtspunkten geregelt werden sollen). Die Bezeichnungen „totalitär“ oder „Totalitarismus“ kommen im Urdoppelstaat nicht vor. Sie erscheinen erst in der amerikanischen Ausgabe von 1941, den 24 Ebd. 25 Ders., Chronik (November/Dezember 1931). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 551–557, hier 552. 26 Ders., Verfassungsreform und Sozialdemokratie (1932). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 516–529, hier 518. 27 Ders., Chronik (November/Dezember 1931). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 556. 28 Ders., Der Urdoppelstaat (1938). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 2: Nationalsozialismus und Widerstand. Hg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 1999, S. 267–473, hier 327.

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durch Übersetzung daraus hervorgegangenen deutschen Ausgaben und entsprechen dem damaligen angelsächsischen Sprachgebrauch. Fraenkel nahm die Totalitarismusdiskussionen der dreißiger Jahre nicht auf, wollte dazu aber insofern einen Beitrag leisten, als er mit der Beschreibung des Neben- und Miteinanders von „Maßnahmenstaat“/„Prerogative State“ und „Normenstaat“/„Normative State“ ein „important characteristic of the totalitarian state in Germany“ herausgreifen und damit einen Beitrag zur Klärung des Totalitarismusbegriffs – „a word of many meanings too often inadequately defined“29 – leisten wollte. Im „Doppelstaat“ sprach Fraenkel von „totalitären Tendenzen“ im Sinne der „Unterordnung sämtlicher Tätigkeiten unter den Staatszweck“ und sah im NS-System insofern zwei Strömungen zusammenfließen, „als es die Jakobinerbewegung innerhalb des Massenstaates mit der napoleonischen Politik des Machtstaates nach außen verbindet.“30 Der totalitäre Staat sei also durch die äußerste Steigerung seiner Macht nach innen (gegenüber den Individuen) wie nach außen (gegenüber anderen Staaten) gekennzeichnet. Vergleiche mit dem Bolschewismus zog Fraenkel nicht. Auf das Jakobinertum als Vorläufer des modernen Totalitarismus verwies Fraenkel in der 1943/44 im Auftrag des Carnegie Endowment for International Peace verfassten Studie „Rule of Law in einer sich wandelnden Welt“ (Erstveröffentlichung 1973) erneut: „John Adams’ Beschreibung des revolutionären Frankreichs ist eine der eindrucksvollsten Darstellungen einer totalitären Herrschaft, die je geschrieben wurde“.31 Für die Gründergeneration der Vereinigten Staaten habe der „Anti-Jakobinismus“ eine ähnliche Rolle gespielt wie in der Gegenwart der „Anti-Bolschwismus“.32 Gemeint war wohl vor allem eine bei den intellektuellen Führern der Französischen Revolution von 1789 verbreitete Tendenz, den Willen der Nation als einheitlich und unfehlbar anzusehen, den politisch-sozialen Pluralismus als gemeinwohlschädlich zu beargwöhnen und die Staatsgewalt zu konzentrieren, statt sie institutionell zu balancieren und zu kontrollieren. Eben dies ist die Stoßrichtung der Kritik, die der von Fraenkel zitierte zweite Präsident der Vereinigten Staaten an Autoren wie Turgot und Condorcet geübt hatte.33 Diese Kritik teilten seinerzeit im Wesentlichen die Väter der 29 Ernst Fraenkel, The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship. Translated from the German by Edward A. Shils, New York 1941, S. XIII. 30 Ders., Der Doppelstaat (1974). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 2, S. 33–266, hier 116 (Hervorhebungen im Original). In der amerikanischen Ausgabe von 1941 findet sich die Textstelle auf S. 60. 31 Ders., „Rule of Law“ in einer sich wandelnden Welt (1943/44). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 3: Neuaufbau der Demokratie in Deutschland und Korea. Hg. von Gerhard Göhler unter Mitarbeit von Dirk Rüdiger Schumann, Baden-Baden 1999, S. 64 f. (Hervorhebung im Original). Zur Entstehung dieser Schrift vgl. Göhler/Schumann, Vorwort zu diesem Band, S. 23. 32 Ders., „Rule of Law“ in einer sich wandelnden Welt (1943/44). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 3, S. 65. 33 Vgl. vor allem John Adams, A Defence of the Constitution of Government of the United States of America, against the attack of M. Turgot, in his letter to Dr. Price, dated the twenty-second day of march, 1778. In: ders., The Works of John Adams, second pre-

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amerikanischen Verfassung von 1787, an deren Ausarbeitung der als Botschafter in England weilende Adams nicht beteiligt war. In „Rule of Law“ ging Fraenkel erstmals ausführlich und kritisch auf den Totalitarismusbegriff ein. „Totalitarismus“, das „Lieblingsschlagwort unserer Zeit“,34 sei wissenschaftlich noch unzureichend geklärt.35 Fraenkel sprach von der „Doppeldeutigkeit“ der Vokabel, die „zwei unterschiedliche Staatstypen zu einer künstlichen Einheit“36 zusammenfasse. Ihre „Popularität“ führte er auf die Zeit der Appeasement-Politik zurück, als der Westen Bolschewismus und Faschismus für „identisch“ erklärt und in der Hoffnung gehandelt habe, im „Zweikampf“ des „roten“ und „braunen Bolschewismus“37 neutral bleiben zu können. Trotz dieser Kritik hielt er am Gattungsbegriff „Totalitarismus“ fest; nur legte er Wert auf die Unterscheidung zweier unterschiedlicher Typen, den „ideokratischen“ und den „solipsistischen“ Totalitarismus. Der Bolschewismus stehe als Ideokratie38 „in einem grundsätzlichen Widerspruch zur Demokratie wie zur Rechtsstaatlichkeit. Als Hüter einer geheiligten Idee kann der ideokratische Staat die wahre Lehre nicht den Risiken aussetzen, die bei einer Mehrheitsentscheidung immer bestehen; auch kann der Staat nicht dem Grundsatz einer strikten Anwendung allgemeiner Gesetze huldigen, weil dieser Grundsatz in einem kritischen Falle zu Resultaten führen könnte, die nicht der geheiligten Idee entsprechen“. Herrscher und Anhänger des Faschismus als eines solipsistischen Staates glaubten demgegenüber „weder an Gott noch an eine Idee“, sondern „ausschließlich an sich selbst. Ihre Religion ist der Zynismus. Der Staat wird als ein Wert an sich und als der einzige Wert betrachtet. Religion, Recht und Kultur sind lediglich Werkzeuge des Staates.“ Der solipsistische Staat negiere daher – wie der ideokratische, nur auf anderem Wege – die Idee der Herrschaft des Rechts. Bei dieser Charakterisierung des NS-Totalitarismus denkt

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sident of the United States, with a life of the author, notes and illustrations, by his grandson Charles Francis Adams, Band 4, Boston 1851, S. 271–588; ders., Discourses on Davila (1790/91). In: ebd., Band 6, S. 223–399. Fraenkel, „Rule of Law“, S. 71. „Totalitarismus“ und „Totaler Staat“ waren für Fraenkel offenbar austauschbare Formeln. So sprach er 1941 von der Wendung „Totaler Staat“ als dem „meist gebrauchten politischen Schlagwort der Gegenwart“. Ders., Die 150-jährige Wiederkehr der „Bill of Rights“: Zum 15. Dezember 1941 (13. Dez. 1941). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 2, S. 572–575, hier 572. Als „total“ gilt ein Staat, „der die bewusste Verneinung der Bill of Rights zum tragenden Staatsprinzip erhoben hat“ (S. 575) – im Unterschied zu Einschränkungen der individuellen Freiheitssphäre in kriegführenden Staaten wie England. Fraenkel, „Rule of Law“, S. 71. Ebd. Fraenkel entlehnt den Terminus bei Bluntschli. Vgl. ders., Ideokratie und Theokratie. In: ders./Karl Brater, Deutsches Staats-Wörterbuch, Band 5, Stuttgart 1860, S. 279– 290. Der Begriff „Ideokratie“ geht auf den konservativen Historiker Heinrich Leo zurück. Vgl. ders., Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates. Erste Abtheilung, Halle 1833.

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man an Hermann Rauschnings „Die Revolution des Nihilismus“,39 von der Fraenkel trotz seiner scharfen Ablehnung der ideengeschichtlichen Genealogie dieser Deutung40 womöglich angeregt worden war. Die Negierung beider „Formen des Totalitarismus“ und die Anerkennung der Notwendigkeit eines „agnostischen“, weltanschaulich neutralen Staates bildeten für Fraenkel die zentralen Voraussetzungen für die „Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in der Nachkriegswelt“.41 In einer zur gleichen Zeit entstandenen Schrift über „Die künftige Organisation der deutschen Arbeiterbewegung“ warnte Fraenkel davor, den „Nazi-Totalitarismus“ nach Kriegsende durch einen Totalitarismus der siegreichen Besatzungsarmee zu ersetzen. Der „geschlagene Feind“ sei „nach anti-totalitären Prinzipien zu behandeln“.42 Insbesondere solle man den „anti-totalitären Kräften in Deutschland in ihrem Bemühen behilflich“ sein, wieder „unabhängige Institutionen und Verbände aufzubauen“.43 Die autonomen gesellschaftlichen Gruppen stehen im Mittelpunkt der Theorie des Neopluralismus, die Fraenkel am Berliner Otto-Suhr-Institut zu entwickeln begann. Dabei kamen vielfach analytische Kategorien zur Anwendung, die unverkennbar Spuren des „dialektischen“ Demokratieverständnisses der Weimarer Zeit aufweisen, durch die Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen der USA und der dortigen pluralismustheoretischen Diskussion aber einen neuen Sinn angenommen hatten. In seiner aus der akademischen Lehre und Vorträgen entstandenen, erstmals 1960 erschienenen Studie zum amerikanischen Regierungssystem hob er dessen „antitotalitären“ Charakter hervor. Dieser bestehe insbesondere in der Betonung des „Eigenwertes eines jeden menschlichen Wesens“44 (und damit der Ablehnung der Ideen der „Perfektibilität“ und „totalen“ Erfassung) und der bewussten Anerkennung einer Vielfalt religiöser, ethnischer oder ökonomischer Gruppen. Der zentrale Unterschied zwischen einem pluralistisch-antitotalitären und einem „totalitären Regierungssystem“ bestehe nicht „in dem mehr oder weniger großen Grad seiner Homogenität [...], sondern vielmehr in der Bewertung [...], die der Existenz heterogener Elemente beigemessen wird. Je nachdem, ob ein Staat sein primäres Anliegen darin sieht, den pluralistischen Charakter der Gesellschaft tunlichst zu eliminieren oder weitest39 Vgl. Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, 2. Auflage Zürich 1938. Rauschning verwendet allerdings nicht den Ausdruck „solipsistisch“. 40 Vgl. Ernst Fraenkel, Ein in die Irre gegangener deutscher Konservativer. Hermann Rauschning – Appeaser Nummer 1 (4. Okt. 1941). In: ders., Gesammelte Werke, Band 2, S. 556–562. 41 Ders., „Rule of Law“, S. 71. 42 Ders., Die künftige Organisation der deutschen Arbeiterbewegung (1943/44). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 3, S. 99–118, hier 99. 43 Ebd., S. 101. 44 Ders., Das amerikanische Regierungssystem (1960). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 4: Amerikastudien. Hg. von Hubertus Buchstein und Rainer Kühn unter Mitarbeit von Cord Arendes und Peter Kuleßa, Baden-Baden 2000, S. 441–834, hier 644.

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gehend zu konservieren, entspricht er dem Typus des autoritär-diktatorial-omnipotenten oder dem Typus des demokratisch-rechtsstaatlich-liberalen Staates.“45 In seinem Aufsatz „Deutschland und die westlichen Demokratien“ (1960) entfaltete Fraenkel eine doppelte Dichotomie. Der idealtypischen Unterscheidung von „westlicher Demokratie“ und „Totalitarismus“ entspricht die Gegenüberstellung der „pluralistischen“ und der „monistischen“ Gesellschaft. Den Antithesen liegt nach Fraenkel ein gegensätzlicher Umgang mit den divergierenden Interessen sozial „differenzierter“ Gesellschaften und eine konträre Einstellung mit Blick auf das Zustandekommen des Gemeinwohls zugrunde. Während der Totalitarismus „unter Verwendung diktatorischer Methoden bestrebt“ sei, „entweder den differenzierten Charakter der Gesellschaft ‚aufzuheben‘ oder das Zustandekommen eines unreflektierten consensus durch einen nicht abreißenden Appell an irrationale Vor-Urteile zu erzwingen“, setze sich der „pluralistische Staat der westlichen Demokratien die Aufgabe, im Rahmen der bestehenden differenzierten Gesellschaft zwischen den organisierten Gruppeninteressen einen Ausgleich zustande zu bringen, der zur Begründung eines reflektierten consensus zu führen geeignet ist.“46 Diese Gedanken weiterentwickelnd, stellte er später dem Idealtypus des „autonom-heterogenen-pluralistischen Rechtsstaates“ den der „heteronom-homogenen-totalitären Diktatur“47 gegenüber. Fraenkel schloss an Tocquevilles Beobachtungen zur Demokratie in Amerika und Talmons Ideengeschichte der „totalitären Demokratie“ an, wenn er den Antipluralismus / Totalitarismus auf Rousseaus optimistisches Menschenbild, dessen Ablehnung partikularer Interessen und das Konzept einer „volonté générale“ als Ausdruck eines „a priori-Gemeinwohls“ zurückführte. Demgegenüber sei die pluralistische Gesellschaft durch die legitime Vielfalt divergierender Interessen gekennzeichnet. Das Gemeinwohl gehe dabei – „a posteriori“ – aus dem Konfliktaustrag der Interessenorganisationen hervor, sofern der Wettbewerb „mit Fairness gehandhabt“ werde, geltende „Rechtsnormen“ sowie die „Grundprinzipien gesitteten menschlichen Zusammenlebens uneingeschränkt respektiert“48 würden. Die pluralistische Gesellschaft bedürfe gewiss eines „nicht-kontroversen Sektor[s]“49 im Sinne eines allgemein anerkannten „Wert45 Ebd., S. 645. 46 Ders., Deutschland und die westlichen Demokratien (1960). In: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien. Mit einem Nachwort über Leben und Werk Ernst Fraenkels hg. von Alexander von Brünneck, Frankfurt a. M. 1991, S. 48–67, hier 60 (Hervorhebung im Original). 47 Ders., Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie (1964). In: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 297–325, hier 325. 48 Ernst Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie (1966). In: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 260–276, hier 275. 49 Ders., Strukturanalyse der modernen Demokratie (1969). In: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 326–359, hier 354.

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kodex“ und elementarer Regeln, ohne die friedlicher Meinungsstreit und geordneter Interessenaustrag nicht möglich seien. Die inhaltliche Ausgestaltung des Politischen sei jedoch darüber hinaus weitgehend gestaltungsoffen. Ein „allgemein gültiges bonum commune“ und ein „allumfassender consensus omnium“50 seien Vorstellungen, die der Tradition einer „heteronomen Demokratie“ totalitärer Prägung entsprächen. Totalitarismus und Pluralismus bildeten bei Fraenkel das zentrale Gegensatzpaar, das unvereinbare politische Gestaltungsformen und Systeme idealtypisch erfasste.

2.

Richard Löwenthal

Richard Löwenthal war zehn Jahre jünger als Ernst Fraenkel. Die ersten Veröffentlichungen fallen bereits in die Zeit der NS-Herrschaft, als er, von der KPO kommend, zur „Leninistischen Organisation“ Walter Loewenheims gestoßen war, die als Gruppe „Neu Beginnen“ den Widerstand zu organisieren begonnen hatte. Hier übte der nicht einmal Dreißigjährige maßgeblichen Einfluss auf die ideologischen und strategischen Reflexionsprozesse innerhalb der Gruppe aus. Löwenthals Auseinandersetzungen mit dem Faschismus, die in den Jahren 1935 und 1936 auf Anregung Karl Franks, des Leiters der Auslandsabteilung von „Neu Beginnen“, in der „Zeitschrift für Sozialismus“, dem theoretischen Organ der SOPADE, in Prag erschienen und die eine Art ideologischer „Korsettstange“51 für die aktivistischen, gegen Löwenheims strategischen Rückzug opponierenden Berliner Gruppenmitglieder bildete, suchten diese politische Bewegung in Auseinandersetzung mit den kursierenden Faschismusinterpretationen, insbesondere der KPD und der Komintern, neu zu bestimmen. Bei aller erkennbaren Opposition zum Komintern-Kurs, der zum Zeitpunkt der Abfassung der Beiträge noch an der Sozialfaschismus-These orientiert war und den „kleinbürgerlichen“ Charakter der faschistischen Bewegungen hervorhob,52 hielten diese sich weiterhin in den Bahnen einer marxistischen Gesellschaftsanalyse und der Imperialismustheorie Lenins. Die Krise des Kapitalismus führte demnach zu einem revolutionären Bruch mit der „Interessendemokratie“ und der Entstehung eines faschistischen „Subventionsstaates“,53 der gekennzeichnet sei durch eine „neue höhere Form der staatlichen Organisation“, eine „neue reaktionäre Form gesellschaftlicher Organisation“ und „eine wachsende Hemmung der ökonomischen Entwicklung durch reaktionäre Kräfte, die sich der Staatsmacht bemäch-

50 Ebd., S. 352 (Hervorhebung im Original). 51 So Francis Carsten, Richard Löwenthal und „Neu Beginnen“. In: Schwan (Hg.), Wissenschaft und Politik in öffentlicher Verantwortung, S. 124–132, hier 127. 52 Vgl. dazu Theo Pirker (Hg.), Komintern und Faschismus. Dokumente zur Geschichte und Theorie des Faschismus, Stuttgart 1965. 53 Paul Sering, Der Faschismus. 1. Teil: Voraussetzungen und Träger. In: Zeitschrift für Sozialismus, 2 (1935), 765–787, hier 786.

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tigt haben“.54 Die Definition des „Faschismus“ auf der Grundlage seiner sozial-ökonomischen Triebkräfte – unter Hintanstellung seiner geistigen und programmatischen Inhalte – verengte den Begriff auf die deutsche und italienische Diktatur, klammerte also die neuen Autokratien in den industriell unterentwickelten, überwiegend agrarischen Ländern aus.55 Löwenthal hob die Herrschaftsstruktur des „vollendete[n] Faschismus“ streng von der anderer „arbeiterfeindliche[r] Diktaturen der Nachkriegszeit“ auf rückständiger ökonomischer Basis (wie Horthys Ungarn und Piłsudskis Polen) ab, die zwar die kommunistische Partei verboten und die Möglichkeiten oppositionellen Wirkens eingeschränkt, die „Freiheit der Bildung von Interessentenorganisationen“56 jedoch bewahrt hätten. Die Unterscheidung baute auf einem Merkmal auf, das spätere Forscher zur Differenzierung zwischen autoritären und totalitären Diktaturen veranlasste. Löwenthals Beschreibung des faschistischen „totalen Staates“ wiederum nahm Elemente des herrschaftsstrukturellen Totalitarismussyndroms vorweg. So war die Rede von der Beseitigung jeder „Möglichkeit legaler selbständiger Organisationen, dem „totale[n] Organisationsmonopol“, dem „totale[n] Propagandamonopol“. „Die parteilose Presse ist den gleichen Weisungen unterworfen wie die faschistische, das Erziehungswesen wird zum einheitlich geleiteten Propaganda-Instrument, der Rundfunk verbreitet nach Möglichkeit 24 Stunden am Tage die faschistischen Losungen des Tages, Bühne und Film werden nicht nur der eingeschränkten Zensur, sondern auch der systematischen positiv-faschistischen Einflussnahme unterworfen, die Buchproduktion wird reglementiert und die Leihbüchereien systematisch ‚gesäubert‘ – von keiner Seite soll eine Stimme in die Öffentlichkeit dringen können, die andere als die offiziellen Meinungen vertritt.“57 Dieses auf Repression und Terror gründende System mit seinem „Totalitätsanspruch“58 sei nur in zwei Ländern, Italien und Deutschland, „voll verwirklicht worden“.59 Damit unterstrich Löwenthal nochmals den Unterschied zu anderen Rechtsdiktaturen. Strukturelle Gemeinsamkeiten des „totalen Staates“ mit Linksdiktaturen wie in Russland, die antifaschistische Zeitgenossen herausgearbeitet hatten, entgingen dem Faschismuskritiker nicht ganz, traten aber hinter die Wahrnehmung ihres „Klasseninhalts“, ihrer Bewegungsform und -richtung zurück: „Die Analogien, die zwischen der politischen Dynamik der proletarischen und der faschistischen Revolution gezogen worden sind, können sich auf zwei gemeinsame Merkmale stützen. Für beide ist die Konzentration aller Hoffnungen auf einem Pol, um eine Massenpartei, die die Abschaffung des bestehenden Regimes auf ihre Fahne geschrieben hat, Voraussetzung. In beiden versagt vor 54 Ebd., S. 787. 55 Vgl. ebd., S. 767. 56 Paul Sering, Der Faschismus. 2. Teil: System und Widersprüche. In: Zeitschrift für Sozialismus, 2 (1935), S. 839–856, hier 851. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 855. 59 Ebd., S. 851.

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dieser Eindeutigkeit der Massenströmung jeder Versuch des Widerstandes von seiten des rein militärisch überlegenen Exekutiv-Apparates. Für beide sind also die formalen Kennzeichen der revolutionären Situation gemeinsam. Trotzdem erstreckt sich der Gegensatz beider Revolutionen nicht nur auf den Klasseninhalt, sondern auch auf die Form des Verlaufs, die durch diesen Klasseninhalt bedingt ist. [...] Die faschistische Revolution kennt nur eine negative terroristische, keine gestaltende Form der Massenaktivität.“60 Die Orientierung Löwenthals an der „gestaltenden Kraft“ der sozialistischen Bewegung in ihrer Überwindung des Kapitalismus hinderte ihn Mitte der dreißiger Jahre daran, die russische Linksdiktatur mit jenen Maßstäben zu messen, die er der Charakterisierung der Herrschaftsstruktur des faschistischen „totalen Staates“ zugrundelegte. So mündete seine Analyse der sozial-ökonomischen Triebkräfte des Faschismus und seiner Überwindung in eine Prognose, in der die „parlamentarische Demokratie auf kapitalistischer Basis“ für die Zeit nach dem Faschismus „nur noch ein Übergang“ zu sein vermochte. Langfristig laute die Alternative: „ein proletarisch-sozialistischer Zentralismus mit der Tendenz der Überwindung der Widersprüche“ oder „ein neuer reaktionärer Zentralismus auf kapitalistischer Basis“.61 Löwenthal propagierte die „demokratische Revolution“ unter sozialistischer Führung und erwähnte den „Rechtsstaat“ nur als „Losungswort“, mit dem eine „bourgeois-bürokratische Opposition von gestern“ versuchen werde, jeden Versuch zu diskreditieren, „die Machtverhältnisse gründlich zu verändern“.62 Die vom Sommer 1935 an unter zunehmendem Verfolgungsdruck und nach einer Verhaftungswelle ins Exil gedrängten „Neu Beginnen“-Aktivisten näherten sich langsam sozialdemokratischen Reform-Positionen. Unter dem Signum des Antifaschismus und der „Volksfront“ traten zeitweilig die Differenzen zu Moskau in den Hintergrund. Sie wurden aber durch das brutale Vorgehen der Komintern-Emissäre im Spanischen Bürgerkrieg (Borkenau berichtete darüber ausführlich in seinem Buch „The Spanish Cockpit“63) mit brennender Schärfe ins Bewusstsein gerufen, so dass Löwenthal den Hitler-Stalin-Pakt nicht mehr als so schockierend empfand wie viele andere Linke in Europa.64 In internen „Notizen zur Russlanddiskussion“ würdigte Löwenthal Mitte 1939 (unter dem Decknamen „Ernst“65) die sozialen und ökonomischen Fortschritte wie auch die Entwicklungshemmnisse Russlands. Das entscheidende Problem für die Entfaltung des Sozialismus sah er weder in der Herausbildung einer neuen Oberschicht 60 Sering, Der Faschismus. Teil 1, S. 785 f. 61 Sering, Der Faschismus, Teil 2, S. 856. 62 Paul Sering, Die Aufgaben der deutschen Revolution. In: Zeitschrift für Sozialismus, 3 (1936), S. 1041–1049, hier 1046. 63 Franz Borkenau, The Spanish Cockpit. An Eye-Witness Account of the Political and Social Conflict of the Spanish Civil War, Ann Arbor 1937. 64 Vgl. Jones, The Lost Debate, S. 104. 65 Vgl. Mehringer, Waldemar von Knoeringen, S. 138; Foitzik, Zwischen den Fronten, S. 336.

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noch in Tendenzen eines Rückfalls in kapitalistische Verhältnisse, sondern in der „totalitäre[n] Entartung des Regimes“.66 Eine „Balancepolitik, die abwechselnd auf die einen schlägt und die anderen zum Bündnis heranzieht“, stelle die wichtigste Ursache für den „Wandel von der Klassenpartei zur Staatspartei, von der Parteidiktatur zur Apparatsdiktatur, schließlich zur Diktatur einer engen Spitze“67 dar. Diese Entwicklung verhindere wiederum den Aufbau eines leistungsfähigen Verwaltungsapparats, da es unmöglich sei, strittige Fragen kontrovers zu erörtern und das Schulungssystem auf eine kontinuierliche Grundlage zu stellen. Eine Demokratisierung des Systems schien auf absehbare Zeit nicht möglich, allenfalls „die Eröffnung von Spielraum für Selbstverwaltung, Rechtsgarantien und Massenerziehung unter der Kontrolle einer toleranteren Art von zentraler Autorität.“68 In einem internen Dossier „Zur Einschätzung der deutsch-russischen Zusammenarbeit“ vom 1. Oktober 1939 wurde die Sowjetunion (nebst Hitlerdeutschland) als ein „System der totalitären Unterdrückung“69 charakterisiert. Löwenthal hielt es für unwahrscheinlich, dass in Deutschland eine „Revolution von oben“ den Kapitalismus entmachten und anschließend die verbündeten „totalitären ‚Sozialismen‘“ den „Kampf gegen die demokratischen Kapitalismen antreten“70 könnten. Wenn dies geschähe, wäre, so Löwenthal damals, der „Weg des demokratischen Sozialismus“71 für längere Zeit blockiert. Jene, die eine solche Entwicklung für möglich hielten, wurden nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion als spät erwachte „Nazi-Bolshevik dreamers“72 charakterisiert. Demgegenüber hob Löwenthal die Chancen für die Neubelebung der Arbeiterbewegung und die Durchführung einer sozialen Revolution nach dem Sturz Hitlers hervor. Dies werde vereitelt, wenn man – wie das Curt Geyer in seiner Broschüre „Die Partei der Freiheit“ für die Sopade getan habe73 – den „Kampf um ein sozialistisches Wirtschaftssystem“ aufgebe und sich auf die „Verteidigung der menschlichen Freiheit gegen totalitäre Allmacht“ beschränke. Die unterschiedliche soziale Basis verbot die Schlussfolgerung, „dass beide totalitäre Dik-

66 Ernst, Notizen zur Russlanddiskussion (Mitte 1939), Nachlass Paul Hertz, Mappe J, IISH Amsterdam, S. 7. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich meinem Dresdner Kollegen Mike Schmeitzner. 67 Ebd., S. 8. 68 Ebd., S. 14. 69 Sering, Zur Einschätzung der deutsch-russischen Zusammenarbeit (1.10.1939), Neu Beginnen Archiv 41, IISH Amsterdam, S. 4. Vgl. Jones, The Lost Debate, S. 115. 70 Sering, Zur Einschätzung der deutsch-russischen Zusammenarbeit, S. 8. 71 Ebd., S. 9. 72 Paul Sering, The German workers and Hitler’s new war. In: The Gateshead Herald Nr. 176 von August 1941, S. 1 (Neu Beginnen Archiv 42). 73 Vgl. Curt Geyer, Die Partei der Freiheit (1939). In: Kurt Klotzbach (Hg.), Drei Schriften aus dem Exil, Berlin (West) 1974, S. 299–356. Zur Bedeutung der Schrift siehe Rainer Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945, Düsseldorf 1999, S. 215 f.

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taturen die gleiche Weltgefahr verkörperten“.74 Die totalitäre Entartung der Sowjetunion konnte nach Löwenthals Überzeugung den Gedanken der proletarischen Diktatur und des revolutionären Sozialismus nicht in jeder Form kompromittieren. Wo die sozial-ökonomischen Bedingungen für die Einführung des Sozialismus reif waren, würde erst die Revolution eine Grundlage für freiheitliche Verhältnisse schaffen, selbst wenn ein „von der Konterrevolution aufgezwungene[r] Bürgerkrieg [...] diktatorische Maßnahmen notwendig“75 mache. In einer Analyse aus dem Jahr 1940 war von einer „totalitären Parteidiktatur“76 die Rede, die unter Stalin errichtet worden sei. Allerdings zog Löwenthal keine Vergleiche zum NS-Regime. Auch führte er die Entstehung des Totalitarismus nicht auf die Natur des Bolschewismus / Leninismus, sondern auf die Fehlentwicklungen unter Stalin zurück – eine Sichtweise, an der er im Kern lebenslang festhielt.77 Löwenthal und „Neu Beginnen“ begegneten den Westmächten lange Zeit mit erheblichen Reserven; diese standen in dem Verdacht, im Falle eines Sieges die revolutionären Bewegungen unterdrücken und das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf Europa und die Sowjetunion übertragen zu wollen.78 Die Wahl schien eine Zeitlang nur zwischen Pest und Cholera zu bestehen, dem „kapitalistischen Imperialismus“ und der „totalitären Unterdrückung“.79 Dann wieder wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, eine Entscheidung an der russischen Front zuungunsten Hitlers werde „die Partnerschaft Russlands in der Nachkriegsregelung und die Entmachtung der klassenbewussten Reaktionäre in England“ sichern, die „amerikanische Administration“ zwingen, „auch den Kampf mit dem amerikanischen Monopolkapital auszutragen“.80 Löwenthal vertrat in den Jahren 1942/43 eine Position der Äquidistanz zwischen der Sowjetunion und England. Für die Zeit nach dem Krieg sah er in Deutschland „die Chance einer gleichzeitig mit der Labour Party und der KP[d]SU verbündeten vereinigten Arbeiterpartei. Nur eine solche Partei hätte ernsthafte Chancen, die soziale Revolution durchzuführen, ohne eine dauernde totalitäre Diktatur zu errichten.“81 Man beachte das Attribut „dau74

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Anonym (Richard Löwenthal), Freiheitskampf und revolutionärer Sozialismus. In: Sozialdemokratischer Informations-Brief. Hg. vom Auslandsbüro Neu Beginnen, Nr. 48, New York, Oktober 1939, S. 13–22, hier 14. Siehe zu diesem Text und seiner Autorschaft: Mehringer, Waldemar von Knoeringen, S. 189 f., 445. Ebd., S. 17. Anonym (Richard Löwenthal), Russland und die deutsche Revolution, o. D. (1940), Neu Beginnen Archiv 41. Vgl. Jones, The Lost Debate, S. 115. Vgl. Richard Löwenthal, Leserbrief an die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 29.11.1986. In: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 297–299. Siehe dazu auch Jones, The Lost Debate, S. 116. Vgl. Paul Sering, Klare Fronten!, London 1941. Siehe dazu Röder, Die deutschen sozialistischen Exilgruppen, S. 106. Sering, Zur Einschätzung der deutsch-russischen Zusammenarbeit (1.10.1939). Paul Sering, Die neue Krise des Krieges (19. 9.1941), Neu Beginnen Archiv 20, S. 5. Richard Löwenthal, Unsere Taktik gegenüber den Kommunisten (6. 6.1942), Neu Beginnen Archiv 40, S. 1.

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ernd“; Löwenthal schloss also eine zeitlich begrenzte Diktatur zwecks Realisierung sozialrevolutionärer Ziele nicht aus.82 Erst die Polenpolitik Moskaus im Jahr 1943 gab nach eigenem Bekunden den Anstoß zur grundlegenden Revision dieser Ansichten und zur Anlehnung an die Westmächte, vor allem an die britische und amerikanische Arbeiterbewegung.83 Allerdings plädierte Löwenthal auch noch angesichts des nahenden Kriegsendes im März 1945 für die Bildung einer „breiteren antifaschistischen Bewegung“84 unter Einschluss von Kommunisten. Dabei überwogen taktische Erwägungen: Im Osten Deutschlands war im Einflussbereich der Sowjetunion mit einer starken KPD zu rechnen. Freiheitliche Sozialisten würden dort – wenn überhaupt – nur dann wirken können, wenn sie sich zu partieller Zusammenarbeit bereit zeigten. Eine prinzipielle Kooperationsverweigerung war daher auch im Westen kein Erfolg versprechender Weg. Nicht in erster Linie an traditionell pragmatischere britische und amerikanische Freunde, sondern an die „überlebenden“ in Deutschland war eine Schrift adressiert, die Löwenthal 1946 in London verfasste und die der Nest-Verlag in Lauf bei Nürnberg zu Beginn des folgenden Jahres mit einer Lizenz der amerikanischen Militärregierung druckte. Darin plädierte Löwenthal für sozialistische Wirtschaftsplanung, übte aber zugleich scharfe Kritik an jenen Formen, die er nun mit dem Begriff „totalitär“ auf einen Nenner brachte. Ausführlich setzte er sich mit den Ursachen und Folgen einer Fehlentwicklung auseinander, die die Arbeiterbewegung im Sog der bolschewistischen Regimebildung genommen habe. Mit dem „Hineintragen totalitären Denkens in die Arbeiterbewegung“85 hätten die Kommunisten deren fortdauernde Spaltung bewirkt und die Anpassungsfähigkeit an neue soziale und politische Bedingungen geschwächt. Löwenthal beschrieb das „kommunistische Dogma“ in seinen Hauptinhalten und benannte gewisse strukturelle Eigenheiten: den Hang zur „drastischen Vereinfachung“86 der historisch-politischen Wirklichkeit, die monopolistische Selbstzuschreibung eines einzig legitimen Anspruchs auf die Vertretung der „wahren Interessen“ der Arbeiterklasse und die Herabminderung aller übrigen Kräfte (einschließlich der Sozialdemokratie) durch das „An-die-Wand-malen eines teuflischen Allfeindes, der nichts weiter ist als die Projektion des eigenen Willens zur Allmacht in die Außenwelt.“87 Ein „typischer Mechanismus totalitären Denkens“ führe zur Monopolisierung politischer Macht: „Die Diktaturpartei, die keine unabhängigen Kräfte neben sich dulden will, die nur bedingungslose An82 Vgl. zu Löwenthals außenpolitischer Position vor allem Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland, S. 462 f. 83 Vgl. Röder, Die deutschen sozialistischen Exilgruppen, S. 110. 84 Anonym (Sering), Botschaft von März 1945, Nachlass Paul Hertz, IISG Amsterdam, „Neu Beginnen“, Mappe C, 1, S. 1. 85 Paul Sering, Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung, 3. Auflage Regensburg 1948 (1946), S. 232. 86 Ebd., S. 228. 87 Ebd., S. 232.

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hänger und Feinde kennt, muss damit enden, alle von ihr unabhängigen Organisationen, Gruppen, selbst Meinungen als Manifestationen des einen allgegenwärtigen Feindes anzusehen, gegen den ihre Diktatur angeblich notwendig ist.“88 Für „die Nazis“ habe der „Allfeind“ im „Weltjudentum“ bestanden, bei den Kommunisten erfülle das „Weltkapital“ dieselbe Funktion. Gewiss handele es sich beim ersten „Allfeind“ um eine Fiktion, beim zweiten dagegen um eine „gesellschaftliche Realität“ – doch nicht in der Art der von den Kommunisten an die Wand gezeichneten „einheitlichen, weltweiten, allgegenwärtigen, drähteziehenden Verschwörung“. Eine solche Vorstellung widerspreche auch marxistischer Analyse. Vielmehr habe „das totalitäre Denken der Kommunisten“ den Marxismus „soweit verzerrt, bis er für sie die gleiche Funktion erfüllen konnte wie die Rassentheorie für die Nazis“.89 Löwenthal gelangte zu diesen Befunden in erster Linie durch die Analyse kommunistischer Ideologie und Herrschaftspraxis. Ein systematischer Vergleich zum anderen Extrem wurde nicht gezogen, wenngleich man in den Betrachtungen zum Totalitarismus jeweils das Spiegelbild des Antipoden erkennen konnte. In den vergleichsweise knapp gehaltenen Abschnitten zum Faschismus und Nationalsozialismus erschien das Totalitäre in erster Linie in Gestalt des „totalen Staates“: „Die Diktatur ist die Aufhebung aller rechtlichen Beschränkungen der Staatsgewalt. Totale Diktatur ist die totale Aufhebung der Rechte des Individuums nicht nur während eines Notstandes, sondern als dauerndes System: die Rechte bestehen nur, solange sie mit den Staatszwecken nicht in Konflikt kommen – es gibt in einem totalitären Regime keine Rechte gegen den Staat.“90 Die ihm eigenen Verfolgungs- und Repressionspraktiken resultierten aus den herrschaftsstrukturellen Eigenheiten: „Schutzhaft und Konzentrationslager, Sondergerichte und Urteile nach ‚Volksempfinden‘ auf politische Anweisung, willkürliche Morde, willkürliche Inhaftierungen und willkürliche Enteignungen aus Gründen der nach Gutdünken interpretierten ‚Staatsraison‘ sind nur ebenso viele unvermeidliche Konsequenzen des fundamentalen Prinzips der totalen Diktatur.“91 Einen nicht unwesentlichen Unterschied zwischen „faschistischem“ und „kommunistischem“ Totalitarismus konnte der Leser aus den aufeinander folgenden Ausführungen zur Wirtschaftsprogrammatik und -politik der totalitären Bewegungen ersehen. Während der Faschismus das Privateigentum grundsätzlich aufrechterhalte, mehr oder weniger willkürliche Eingriffe in das Eigentumsrecht je nach politischer Opportunität gestatte, ziele der Kommunismus auf eine umfassende Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Einführung eines Systems „totalitärer Planung“: „Dies sind die Züge, die dem bolschewistischen Staat seinen totalitären Charakter gegeben haben: Das Einparteisystem ist nicht bloß Waffe zur Verteidigung der neuen Gesellschaft gegen eine feudale oder 88 89 90 91

Ebd., S. 231. Ebd., S. 232. Ebd., S. 118 (Hervorhebungen im Original). Ebd.

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bürgerliche Konterrevolution, deren Voraussetzungen längst geschwunden sind, – es ist Werkzeug der Staatsmacht für die immer neue Umwälzung der Gesellschaft im Hinblick auf einmal gesetzte und zäh festgehaltene Ziele. [...] Es ist das Werkzeug einer permanenten Revolution von oben, die die aktive Teilnahme der Massen verlangt, doch ihre freie Wahl zwischen Bejahung oder Ablehnung der vorgeschlagenen Maßnahmen ausschließt.“92 Demgegenüber plädierte Löwenthal für eine reformerische Überwindung des Kapitalismus durch ein System sozialistischer Planung auf der Basis eines Interessenausgleichs und demokratischer Kontrolle unter Wahrung der Organisationsfreiheit und individueller Verantwortlichkeit. „Jenseits des Kapitalismus“ erschien in mehreren Auflagen und übte erheblichen Einfluss auf die programmatische Orientierung der sich neu konstituierenden deutschen Sozialdemokratie aus.93 Dennoch kehrte Löwenthal nicht nach Deutschland zurück, sondern blieb mehr als ein Jahrzehnt lang Korrespondent, u. a. der Nachrichtenagentur Reuters und des Observer. In dieser Zeit machte er sich als scharfsinniger Analytiker der inneren Machtprozesse im Staats- und Parteiapparat der Sowjetunion einen Namen. Der „Totalitarismus“ stand im Zentrum vieler Analysen.94 Eine Erklärung für die Entstehung und Ausbreitung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert gab Löwenthal in einem Beitrag über die „Despotie im zwanzigsten Jahrhundert“, der 1957 im „Monat“ erschien. Darin trat er der „einseitig religiösen oder ideologischen Deutung des Totalitarismus“ entgegen, da sie „nur zu leicht die ‚Schuld‘ an wesentlich antihumanistischen und antidemokratischen Entwicklungen den humanistischen und demokratischen Ideen der Aufklärung“95 zuschiebe. Stattdessen erschien die Etablierung totalitärer Systeme als Folge fehlgeschlagener Anpassung an neue, durch sozial-ökonomische Wandlungen hervorgerufene Verhältnisse. Der Totalitarismus liefere eine radikale „Alternativlösung“: „Er löscht Freiheit und Sicherheit des Einzelnen aus, er leugnet die Ideen der Wahrheit und Gerechtigkeit, er versucht jede Spur einer unabhängigen Entwicklung zu beseitigen, nicht um nach Art des alten Despotismus den status quo aufrechtzuerhalten, sondern um das Risiko eines ‚anarchischen‘ und unvorhersehbaren Wechsels zu vermeiden. Er will die Gewissheiten einer ‚geordneten‘ Entwicklung nach einem vor92 Ebd., S. 142 f. 93 Siehe dazu das selbstkritische Vorwort Löwenthals zur Ausgabe von 1977: ders., Nach 30 Jahren. In: ders., Jenseits des Kapitalismus, 2. Auflage Berlin (West) 1977, S. XIII– LVII. Über die Wirkung auf junge Nachkriegssozialdemokraten berichtet der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, Ausblick auf das Ende des 20. Jahrhunderts. In: Schwan (Hg.), Wissenschaft und Politik in öffentlicher Verantwortung, S. 185–204. Siehe auch Hubertus Buchstein, Paul Sering (alias Richard Löwenthal), Jenseits des Kapitalismus. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1995, S. 539–542. 94 Er verfasste zahlreiche Reportagen und Analysen über die Verhältnisse in Russland und Jugoslawien für Zeitschriften wie „Der Monat“, „The Twentieth Century“, „Problems of Communism“, „Commentary“ und „Encounter“. Siehe z. B. Richard Löwenthal, The Permanent Revolution Is On Again. In: Problems of Communism, 6 (1957) 5, S. 1–7. 95 Richard Löwenthal, Die Hölle auf Erden. Despotie im zwanzigsten Jahrhundert. In: Der Monat, 9 (1957) 105, S. 3–8, hier 8.

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gefassten Plan, dem das Wertesystem der totalitären Bewegung und deren Auffassung von Zukunft und Ziel der Gesellschaft zugrunde liegt“.96 Löwenthals Kritik an der ideologischen Deutung des Totalitarismus ging also nicht mit einer Unterschätzung der Rolle der Ideologie als Triebkraft totalitärer Bewegungen und Systeme einher. Dies zeigte auch sein Beitrag „Ideologie und Realpolitik“, in dem er der Frage nachging, welche Bedeutung der Ideologie für das konkrete Handeln der Kreml-Machthaber zukomme. Dabei benannte er strukturelle Gemeinsamkeiten der totalitären Ideologien und ging auf Besonderheiten des Kommunismus ein. Dessen Stärke im Vergleich zu Nationalismen und Rassismen sah er in ihrem gesamt-menschheitlichen Anspruch, seine Schwäche in der relativen Konkretheit seiner Utopie und der stärkeren „Ausarbeitung der Ideologie“, die mit ihrer „Fiktion von Demokratie und Rationalität“ den „Anschein ideologischer Konsequenz“97 bewahren müsse und mit ihren Dogmen („Diktatur des Proletariats“, „wahres Klassenbewusstsein“, „Avantgarde“, „führende Rolle der Sowjetunion“) ideologische Krisen auslöse. Die von chiliastischen Ideologien entfesselte Dynamik der totalitären Regime stand im Mittelpunkt eines Aufsatzes von 1960/61, in dem Löwenthal die Besonderheit des Totalitarismus im Vergleich zu allen anderen Formen der Diktatur und den Verlaufsformen demokratischer Umwälzungen revolutionstheoretisch zu bestimmen suchte. Er wandte sich explizit gegen den Ansatz Hannah Arendts, den Totalitarismus über die „Extreme des Grauens“ zu definieren. Im Gegensatz dazu vertrat er die These, auch die Sowjetunion nach Stalin trage „die entscheidenden Merkmale der totalitären Machtstruktur und Dynamik“.98 Die Besonderheit der totalitären Herrschaft und den Unterschied zu demokratischen Revolutionen mit tyrannischen Phasen (wie den Machtusurpationen unter Cromwell und Robespierre) sah er „darin, dass sie die Macht nicht nur mit revolutionären Methoden erobern, sondern sie durch zielbewusstes Inganghalten eines Prozesses gelenkter gesellschaftlicher Umwälzung zu behaupten suchen – dass sie eine ‚permanente Revolution von oben‘ anstreben.“99 In der Hervorhebung der Rolle der Ideologie samt ihrer chiliastischen Züge als Motor der totalitären Revolution traf sich Löwenthal wiederum mit Hannah Arendt und auch in der Einschätzung, dass der Totalitarismus an sein Ende kommen könne, wenn es ihm nicht mehr gelinge, die Gesellschaft „im Sinne ihrer Doktrin weiter umzuwälzen“.100 96 Ebd., S. 7 (Hervorhebung im Original). 97 Richard Löwenthal, Ideologie und Realpolitik. Glauben die Kreml-Machthaber an Dogmen? In: Der Monat, 10 (1958) 117, S. 37–46, hier 39. 98 Richard Löwenthal, Totalitäre und demokratische Revolution. In: Der Monat, 13 (1960/61) 146, S. 29–40. Zit. nach dem Abdruck bei: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 359–381, hier 361. In abgewandelter Form war der Beitrag in der Zeitschrift „Commentary“ erschienen: Richard Löwenthal, Totalitarianism Reconsidered. In: Commentary, 29 (1960), S. 504–512. 99 Löwenthal, Totalitäre und demokratische Revolution, S. 363. 100 Ebd., S. 378.

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In einem Nachtrag aus dem Jahr 1966 sah er diesen Zeitpunkt in der Sowjetunion Chruschtschows gekommen. Gerade die großen programmatischen Verheißungen des 22. Parteitags vom Herbst 1961 zeugten vom Ende der totalitären Dynamik, da „zum erstenmal solche Umwälzungen nicht mehr als eine operative Aufgabe [...], die als Vorbedingung für die Erreichung des ideologischen Ziels erfüllt werden müsse“, behandelt worden seien, „sondern als eine bloße Prophezeiung, deren Erfüllung als Nebenprodukt stetiger Steigerung von Produktivität und Lebensstandard schließlich eintreten werde. Damit hat sich zum erstenmal in der sowjetischen Geschichte die ungeplante gesellschaftliche Evolution ‚von unten‘ als stärker erwiesen als die geplante Revolution von oben“.101 Das „Erlöschen der spezifisch totalitären Dynamik“ lasse einen „institutionellen Systemwandel“102 für die Zukunft erwarten. Diesen Systemwandel charakterisierte Löwenthal in einem Beitrag aus dem Jahr 1970 erstmals als den Übergang vom totalitären zum autoritären Regime.103 In einem Rückblick anlässlich des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution hatte er den „totalitären Einparteistaat“ durch „vier institutionelle Hauptmerkmale“ bestimmt: 1) die „Monopolstellung der herrschenden Partei im Staate“ mit der Monopolisierung des politischen Prozesses innerhalb des Apparates wie auch in der Gesellschaft insgesamt, 2) die „monopolistische Beherrschung aller Formen gesellschaftlicher Organisation durch die Partei“, 3) die „monopolisierte Beherrschung aller Informations- und Bildungsmittel“ und schließlich 4) die – von Lenin in dieser Weise definierte – „Beseitigung aller gesetzlichen Beschränkungen der Staatsmacht“.104 Diese Merkmale erschienen ihm nun nicht völlig verschwunden, jedoch erheblich abgewandelt und abgeschwächt. Das kommunistische Regime habe sich dem „Modell der Industriegesellschaft“ angenähert und dadurch eine neue innere Konfliktstruktur angenommen. Diese sei insbesondere gekennzeichnet durch den Einflussgewinn einer „nachrevolutionären Fachelite“ gegenüber der „revolutionären Veteranenelite“, die Dominanz „materieller Anreize“105 über die ideologischen Motive und die Veränderung der Rolle der Partei, die eine Legitimitätskrise erlebe und auf neue soziale Interessen reagieren müsse. Zwar verfüge die Partei noch über ihr Machtmonopol und kontrolliere unverändert alle Massenorganisationen, doch 101 Ebd., S. 380. 102 Ebd., S. 381. Siehe auch folgende, für die Lehrerweiterbildung bestimmte Synthese: ders., Die totalitäre Diktatur. In: Gegenwartskunde, 15 (1966), S. 199–211. 103 Vgl. Richard Löwenthal, Entwicklung kontra Utopie. Das kommunistische Dilemma. In: Der Monat, 22 (1970) 266, S. 60–84. 104 Richard Löwenthal, Der Einparteistaat als Vorbild. In: Merkur, 21 (1967), S. 901–922, hier 902. Siehe auch ders., 1917, and After. On the Model of the Totalitarian State. In: Encounter, 29 (1967) 4, S. 21–31; ders., „1917“: an Afterthought. On Totalitarian Models. In: Encounter, 29 (1967) 5, S. 60–64. Ähnlich die Modellbildung in folgendem Beitrag: ders., Von der gelenkten Revolution von oben zur spontanen Evolution von unten. In: ders./Boris Meissner (Hg.), Sowjetische Innenpolitik. Triebkräfte und Tendenzen, Stuttgart 1968, S. 114–129. 105 Löwenthal, Entwicklung contra Utopie, S. 80.

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habe sich der „Bereich der Eingriffe von Regierung und Partei“ verengt, die „rechtliche und soziale Sicherheit des einzelnen“106 zugenommen. Die Sphären autonomen gesellschaftlichen Handelns hätten sich erweitert, im Privatleben ebenso wie im Geistesleben und auf den Gebieten der Literatur und Kunst. Das „nachrevolutionäre Parteiregime“ mit seinem „begrenzten Pluralismus“ sei nicht mehr totalitär, aber ebenso wenig demokratisch, vielmehr autoritär. Die Partei agiere wie ein „autoritärer Schiedsrichter, der über den verschiedenen Sonderinteressen steht und ihre Existenz zwar anerkennt, ihren Ausdruck aber reguliert und ihre Vertretung begrenzt, während er sich selbst die letzte Entscheidung vorbehält.“107 Mit dieser Beschreibung der Wandlungstendenzen im „realen Sozialismus“ inspirierte Löwenthal andere Forscher, die dem Totalitarismusmodell für die Beschreibung der politischen und sozialen Verhältnisse in Russland und anderen osteuropäischen Parteidiktaturen nur noch eingeschränkte Erklärungskraft zubilligten und statt dessen vom „Spät-“ oder „Posttotalitarismus“ sprachen.108 Allerdings schaltete er sich nicht in diese Debatte ein. Aufgrund der besonderen Sensibilität für strukturelle Veränderungen gehörte er zu jenen, die dem Wandel in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hohe Bedeutung beimaßen und frühzeitig für eine außenpolitische Annäherung der westlichen Staaten an die sowjetische Führung unter Gorbatschow warben.109

IV.

Vergleich

Die intellektuelle Entwicklung Fraenkels wie Löwenthals nahm vom Marxismus ihren Ausgang. Beide einte in ihren Anfängen die Deutung geschichtlicher Prozesse auf der Grundlage einer sozial-ökonomischen Analyse der Kräfteverhältnisse, die Überzeugung von der geschichtlichen Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus (und damit eines Systems der Ausbeutung und imperialistischen Bedrohung) ebenso wie der Glaube an den historischen Sieg der Arbeiterklasse und die Heraufkunft des Sozialismus. Da sie die Weimarer Republik vorwiegend aus einer sozial-ökonomischen Perspektive betrachteten und als kapitalistisches System perzipierten, konnten sie die „bürgerliche Demokratie“ als Kampfplatz einseitiger Interessenvertretung allenfalls unter Vorbehalt und für eine Übergangszeit anerkennen. 106 Ebd., S. 81. 107 Ebd., S. 84. 108 Vgl. die Bezugnahme auf Löwenthal bei: Juan J. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime. Hg. von Raimund Krämer, Berlin 2000, S. 233 f. Die Passagen sind in der ersten Version aus dem Jahr 1975 enthalten. 109 Vgl. Richard Löwenthal, Von der totalitären Dynamik des Sowjetstaates zu seinen nachtotalitären Konflikten. In: Gerhard Simon (Hg.), Weltmacht Sowjetunion. Umbrüche – Kontinuitäten – Perspektiven, Köln 1987, S. 15–34. Siehe auch ders., Gorbatschow und die Zukunft der Sowjetunion. In: Osteuropa, 38 (1988), S. 515–522.

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Allerdings war der Weg Löwenthals hin zu antitotalitären Positionen erheblich weiter als derjenige Fraenkels. Während Fraenkel dem linken Flügel der SPD nahestand und damit eine in der Praxis (allerdings nur eingeschränkt in der Programmatik) reformistische, republiktragende Partei unterstützte, gehörte Löwenthal zunächst dem Studentenverband der KPD, also einer extremistischen, offen republikfeindlichen, Organisation an. Und selbst nach seinem Parteiausschluss blieb er lange Zeit leninistischen Prinzipien treu, insbesondere den Konzepten der „Avantgarde“ von Berufsrevolutionären und der „Diktatur des Proletariats“. Fraenkels Marxismus-Verständnis ließ demgegenüber eine evolutionäre Entwicklung des Sozialismus zu; jedenfalls galt dies für seine Haltung in den Krisenjahren gegen Ende der Weimarer Republik. Seine Beiträge zeigen von Mitte der zwanziger Jahre an eine zunehmende Tendenz, dem Recht und dem das Recht durchsetzenden Staat einen Eigenwert beizumessen. Er sah, dass selbst eine von Klasseneinflüssen nicht freie Justiz in der Lage war, in rechtliche Formen gegossene Ergebnisse von Arbeitskämpfen zu schützen und damit wichtige Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu sichern. Mochte er zu Beginn seiner Tätigkeit als Arbeitsrechtler noch die von Gustav Radbruch kritisierte Haltung gegenüber der parlamentarischen Demokratie eingenommen haben – Teile der Sozialdemokratie verstünden diese als eine „Leiter zum Sozialismus“, die man „beiseitestoßen“ könne, „sobald man den Sozialismus erstiegen hat“110 –, wurde er sich angesichts der existentiellen Bedrohung der Republik durch antidemokratische Kräfte zunehmend der Bedeutung des Rechtsstaates bewusst. Dessen institutionelle Mechanismen mussten aus diesem Blickwinkel Eigengewicht gewinnen und die Dominanz der sozial-ökonomischen Betrachtung „repressiver“ Kräfteverhältnisse brechen. Die Kritik am Kommunismus – insbesondere in seiner von der Komintern vertretenen Form – wurde zugleich schärfer; sie war Anfang der dreißiger Jahre bei Fraenkel ohnehin bereits grundsätzlicher und weitreichender als diejenige Löwenthals. Allerdings dürften sich die Positionen beider nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten angenähert haben; zumindest legt dies Fraenkels späteres Eingeständnis nahe, sich unter dem NS-Regime zeitweilig „unkritisch einer monoman anti-monopolkapitalistischen Theorie des AntiFaschismus“111 verschrieben zu haben. Angesichts der faschistischen/nationalsozialistischen Bedrohung verminderten sich perspektivisch die ideologischen Differenzen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Besonders bei Löwenthal wird offenkundig, wie sehr seine Hoffnung wuchs, die historische Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden. Doch warnte er zugleich davor, den Faschismus als ein letztes Stadium des Kapitalismus zu interpretieren, dem der Sozialismus ohne viel eigenes Dazutun auf dem Fuße folgen werde.

110 Gustav Radbruch, Staatskrise? In: Neue Blätter für den Sozialismus, 1 (1930), S. 385– 388, hier 387. 111 Fraenkel, Anstatt einer Vorrede (1973), S. 68.

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Löwenthals wie Fraenkels Haltung gegenüber „dem Faschismus“ war klar und kompromisslos. Während die Analysen Löwenthals, die Mitte der dreißiger Jahre in der Zeitschrift für Sozialismus erschienen, eine unorthodox-marxistische, auf den sozial-ökonomischen Grund des Phänomens konzentrierte Deutung lieferten, stellte Fraenkel im „Urdoppelstaat“ in einem stärker juristischen als soziologischen Zugriff die Rolle des Rechts im NS-Regime in den Mittelpunkt. Löwenthals Betrachtungen sind trotz allen Scharfsinns von der Forschung überholt worden. Dagegen hat Fraenkels Unterscheidung zwischen Normen- und Maßnahmestaat nichts von ihrer erkenntnisaufschließenden Wirkung verloren. Allerdings bildete die Faschismusdeutung Fraenkels ebenso wenig wie diejenige Löwenthals einen Ausgangspunkt für totalitarismuskritische, das entgegengesetzte Extrem systematisch einbeziehende, Reflexionen. In der amerikanischen Ausgabe des „Doppelstaats“ findet man – im Gegensatz zum „Urdoppelstaat“ – davon immerhin einen Anflug, wenn auf das in der NS-Bewegung wirksame jakobinische Traditionselement verwiesen wird. Dagegen hielt Löwenthal die Analogisierung der „gestaltenden“ Massenaktivität kommunistischer Prägung mit der „negativ terroristischen“ der „faschistischen Revolution“ Mitte der dreißiger Jahre für unangebracht. Der Antitotalitarismus beider entwickelte sich erst infolge der Enttäuschung antifaschistischer Bündnis-Illusionen und einer längeren Emigrationserfahrung in demokratischen Verfassungsstaaten, die trotz tiefer ökonomischer Verwerfungen und aller gravierenden Belastungen durch Wirtschaftskrise und Krieg als plurale, gewaltenkontrollierende Systeme funktionsfähig blieben. Fraenkel erwähnt rückblickend den Hitler-Stalin-Pakt als einschneidendes Erlebnis, Löwenthal die Polenpolitik der Sowjetunion 1943. Fraenkel gewann angesichts der Politik des New Deal Zutrauen in die Reformfähigkeit der amerikanischen Demokratie und wurde durch die Amerikaerfahrung wesentlich zur Entwicklung seiner NeopluralismusKonzeption angeregt.112 Löwenthal näherte sich dem englischen Reformsozialismus der „Fabian Society“ und lernte nicht nur die sozialpolitischen Ergebnisse, sondern auch die institutionellen Grundlagen des britischen Parlamentarismus zu schätzen. Allerdings blieb ein tiefes Misstrauen gegenüber den „kapitalistisch“ verfassten Westalliierten während der Kriegsjahre bestehen. Fraenkel bekannte sich noch in einem Artikel für die New Yorker Neue Volkszeitung vom 18. September 1943 zum „wissenschaftlichen Sozialismus“113 und sagte dem „Monopolkapital“ den Kampf an. Angesichts der Pläne Russlands, „ein Puppenregime von militärischen und politischen Landsknechten“ in einem deutschen „Vasallenstaat“ zu errichten, und der Entschlossenheit der Westmäch112 Vgl. Hubertus Buchstein, Political Science and Democratic Culture. Ernst Fraenkel’s Studies on American Democracy. In: German Politics and Society, 21 (2003) 3, S. 48– 73; Arnd Bauerkämper, Americanisation as Globalisation? Remigrés to West Germany after 1945 and Conceptions of Democracy: The Cases of Hans Rothfels, Ernst Fraenkel and Hans Rosenberg. In: Leo Baeck Institute Year Book, 49 (2004), S. 153–170. 113 Ernst Fraenkel, Aussichten einer deutschen Revolution (18. Sept. 1943). In: ders., Gesammelte Werke, Band 3, S. 51–57, hier 52.

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te, „den faschistisch-nationalsozialistischen Terrorapparat“114 zu zerschlagen, warb er jedoch für eine „Zusammenarbeit mit den angelsächsischen Demokratien“, um den Aufbau einer „neuen deutschen Arbeiterbewegung“115 zu ermöglichen. Löwenthal hielt in den Jahren 1942/43 Distanz zu England wie zur Sowjetunion, hoffte für die Zeit nach dem Krieg auf eine von Labour Party und KPdSU gemeinsam initiierte soziale Revolution und schloss für diesen Fall die Errichtung einer befristeten Transformations- und Erziehungsdiktatur nicht aus.116 Auch wenn Fraenkel bereits im Doppelstaat von „totalitären Tendenzen“ sprach, bildete sich sein antitotalitärer Ansatz – im Sinne einer Äquidistanz zu den Extremen – erst während seiner Arbeit in Amerika heraus. Er kommt erstmals in seiner 1943/44 für das Carnegie Endowment for International Peace verfassten Studie „Rule of Law in einer sich wandelnden Welt“ klar zum Ausdruck. Was Löwenthal angeht, gilt dies für seine programmatische Nachkriegsschrift „Jenseits des Kapitalismus“. Während allerdings Löwenthal in seinen späteren Werken in vielfältiger Weise an die dort entfalteten Gedanken anknüpfte, hat Fraenkel seine frühe Unterscheidung zwischen „solipsistischem“ Rechts- und „ideokratischem“ Linkstotalitarismus später nicht wieder aufgegriffen. Fraenkel entfaltete den Totalitarismusbegriff in seinen Arbeiten der sechziger Jahre im Rahmen seines Pluralismuskonzepts, mit dem das politische und soziale Gefüge westlicher Demokratien in einer Verbindung von normativer und empirisch-analytischer Betrachtung bestimmt wurde. Löwenthals Totalitarismusverständnis ging demgegenüber vor allem aus der Auseinandersetzung mit den kommunistischen Systemen hervor. Dabei suchte er nicht nur deren Herrschaftsstruktur, sondern auch deren spezifische Dynamik zu erfassen. Das Fraenkelsche Totalitarismuskonzept war dagegen Produkt einer Demokratietheorie, in deren Mittelpunkt der Wettbewerb politischer und sozialer Akteure steht. Sie hat ihren Ursprung in den späten Weimarer Arbeiten zur „dialektischen“ und „kollektiven“ Demokratie, in denen bereits das marxistische „Klassenkampf“-Modell hinter die Anerkennung reformistischer Praxis im Rechtsstaat zurücktritt.117 Die aus der marxistischen Methode resultierende 114 Ebd., S. 53. 115 Ebd., S. 57. 116 Vgl. Löwenthal, Unsere Taktik, S. 1. Siehe zu Löwenthals außenpolitischer Position vor allem Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland, S. 462 f. 117 Vgl. Gerhard Göhler, Vom Sozialismus zum Pluralismus. Politiktheorie und Emigrationserfahrung bei Ernst Fraenkel. In: PVS, 27 (1986), S. 6–27; Hans Kremendahl, Von der dialektischen Demokratie zum Pluralismus. Kontinuität und Wandel im Werk Ernst Fraenkels. In: Günter Doeker/Winfried Steffani (Hg.), Klassenjustiz und Pluralismus. Festschrift Ernst Fraenkel zum 75. Geburtstag, Hamburg 1973, S. 381–394; Joachim Blau, Sozialdemokratische Staatslehre in der Weimarer Republik. Darstellung und Untersuchung der staatstheoretischen Konzeptionen von Hermann Heller, Ernst Fraenkel und Otto Kirchheimer, mit einem Vorwort von Helmut Ridder, Marburg 1980, S. 215– 338; Angelo Bolaffi, Dalla „kollektive Demokratie“ al „doppio Stato“ nell’analisi di Ernst Fraenkel. In: Annali della Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, 23 (1983/84), S. 1065–1091.

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Institutionenskepsis überwand Fraenkel indes vollends erst im amerikanischen Exil unter dem Eindruck eines politischen Systems, das sich in der Zeit der Wirtschaftskrise mit der Politik des „New Deal“ auch auf dem Gebiet des Arbeitsrechts als reformfähig erwies. Seine treffend als kulturalistisch gedeutete118 Analyse der historischen „Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus“119 enthielt somit auch ein Stück intellektueller Autobiographie. Während Fraenkel dem pluralistischen System das totalitäre idealtypisch-dichotomisch gegenüberstellte, ohne nach Übergangsformen zu fragen oder zwischen „autoritären“ und „totalitären“ Systemen zu differenzieren,120 erfasste Löwenthal den politischen und sozialen Wandel in den kommunistischen Gesellschaften, benannte die Differenzen zum klassischen Totalitarismusmodell und konstatierte unter Chruschtschow einen allmählichen Systemwechsel zum Autoritarismus. Fraenkel und Löwenthal behielten während der Jahre ihrer akademischen Lehrtätigkeit die aus der Auseinandersetzung mit Faschismus und Kommunismus gewonnene antitotalitäre Haltung konsequent bei. Dass sie den Einzug der rechtsextremen NPD in Landesparlamente in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre mit Besorgnis beobachteten, darf als selbstverständlich gelten. Die ehemaligen Marxisten sahen aber auch im Aufkommen einer „Neuen Linken“ an den Universitäten eine Renaissance des (linken) Totalitarismus. Fraenkel schloss sich Erwin K. Scheuchs Analyse der „Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft“121 an und sah in ihr eine „Fortsetzerin und Erbin des Gedankens der heteronomen Legitimierung der Demokratie“.122 Löwenthal deutete die „Neue Linke“ demgegenüber als eine – in ähnlicher Form bei Mao und Castro vorzufindende – „neo-romantische Reaktion auf das Ausbleiben der proletarischen Revolution in 118 Vgl. Hubertus Buchstein, Ernst Fraenkels Studien zur Politik und Kultur Amerikas. In: Buchstein/Göhler (Hg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus, S. 79–96; Alfons Söllner, Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. In: Leviathan, 30 (2002), S. 132–154. 119 Ernst Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus. In: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 23–47. Dies gilt auch für die Studie „Rätemythos und soziale Selbstbestimmung“. In: ebd., S. 95–136. 120 Vgl. nur ders., Das amerikanische Regierungssystem (1960). In: ders., Gesammelte Schriften, Band 4, S. 645. Siehe dazu die Kritik Winfried Steffanis an dem für seinen Lehrer typischen „Denken in Dichotomien“: ders., Ernst Fraenkel als Persönlichkeit. In: Buchstein/Göhler (Hg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus, S. 125–147, hier 134 f. Siehe auch die Kritik bei Hans Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland. Entstehung, Kritik, Perspektiven, Leverkusen 1977, S. 201–220, die stark von der in den sechziger Jahren einsetzenden (nicht selten undifferenzierten) Kritik am Totalitarismuskonzept geprägt ist. Zu dieser Kritik und zur Kritik der Kritik in Berlin siehe Hubertus Buchstein, Totalitarismustheorie und empirische Politikforschung. Die Wandlung der Totalitarismuskonzeption in der frühen Berliner Politikwissenschaft. In: Söllner/Walkenhaus/Wieland (Hg.), Totalitarismus, S. 239–266. 121 Vgl. Erwin K. Scheuch (Hg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der „Neuen Linken“ und ihrer Dogmen, Köln 1968. 122 Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie (1969). In: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 341.

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den entwickelten Industrieländern und die Herausbildung einer bürokratischen Industriegesellschaft in der Sowjetunion“.123 In ihrer „Glaubenssehnsucht“ falle sie nicht selten in einen „Nihilismus“ zurück, „dem die humanistischen Werte unserer Zivilisation als bloße Heuchelei erscheinen.“ Daher sei es falsch, die „Neue Linke“ nur als einen „Gegenschlag gegen die Ideen des Nationalsozialismus“ und die „Schrecken seiner Herrschaft“ zu interpretieren. Vielmehr stelle sie auch die „unbewusste Fortsetzung einiger der geistigen Strömungen“ dar, die „diese Schrecken mit ermöglicht haben“.124 Fraenkel wie Löwenthal sahen den Totalitarismus nicht nur als Herrschaftsform, sondern zeigten in ihren Analysen auch, dass dem totalitären Handeln eine spezifische Logik zugrunde lag. Die ehemaligen Marxisten gewannen die Überzeugung, nicht nur im Faschismus, sondern auch im Marxismus sei eine Form „totalitären Denkens“ wirksam, ohne deren Kenntnis die verhängnisvolle Wechselwirkung der Extreme unverständlich bliebe.

123 Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, 2. Auflage Stuttgart 1970, S. 9. 124 Ebd., S. 13.

Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse Eckhard Jesse

1.

Einleitung

Es ist nahezu ein Gemeinplatz der einschlägigen Literatur, dass es „die“ Totalitarismuskonzeption nicht gibt.1 Die Vielfalt der Ansätze bietet mehrere Möglichkeiten für Typologieversuche. Wer zwischen dem herrschaftsstrukturellen Konzept Carl J. Friedrichs, der geschichtsphilosophischen Theorie Hannah Arendts, der sozialreligiösen Interpretation Eric Voegelins, dem genetisch-interaktionistischen Vorgehens Ernst Noltes und dem politikgeschichtlich-normativen Rahmen Karl Dietrich Brachers unterscheidet, hebt auf wichtige Ansätze ab.2 Wer etwa nach konservativen, liberalen und linken Konzeptionen trennt, nennt dieselben und ähnliche Autoren, etwa Waldemar Gurian, Raymond Aron und Franz Borkenau.3 Auf diese Weise lässt sich überzeugend die Breite der Totalitarismustheorien von Anfang an belegen. Die Auffassung, vor allem Konservative hätten bei der Konzeptualisierung den Ton angegeben, ist unhaltbar.4 So sehr diese Ansätze in der Reichweite wie in den Denkmustern differieren, gleichen sie sich doch darin, dass sie alle die Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts systematisch zu erfassen suchen. In aller Regel fällt der Name eines linken Autors nicht: Herbert Marcuse. Sein Ansatz zielte nicht allein (und nicht einmal in erster Linie) auf die Großtotalitarismen, sondern auch (und vor allem) auf die westlich-„kapitalistische“ Welt gleichermaßen. Dieser Repräsentant der Frankfurter Schule spielte während der Studentenbewegung eine intellektuell einflussreiche Rolle, auch und gerade mit seiner schon vorher entfalteten Theorie vom „eindimensionalen Men-

1 2 3 4

Vgl. statt vieler: Achim Siegel (Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998. Vgl. Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung und ihre Repräsentanten. Konzeptionen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt, Eric Voegelin, Ernst Nolte und Karl Dietrich Bracher. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/98, S. 3–18. Vgl. Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Hg. von Alfons Söllner, Karin Wieland und Ralf Walkenhaus, Berlin 1997. Gleiches gilt übrigens für den Extremismus-Ansatz. Vgl. jetzt die aus den Quellen gearbeitete Studie von Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006.

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schen“5 in der Industriegesellschaft: „Denn ‚totalitär‘ ist nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nicht-terroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht. [...]. Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem ‚Pluralismus von Parteien‘, Zeitungen, ‚ausgleichenden Mächten‘ etc. durchaus verträgt.“6 Die Signalbegriffe wie „Gleichschaltung“, „Manipulation von Bedürfnissen“, „besonderes Produktions- und Verteilungssystem“ zeigten die Tendenz der Richtung, die zur Zeit der Studentenbewegung kein Schattendasein fristete. Seine „Theorie der Befreiung“ übte auf intellektuelle Kreise große Faszination aus. Marcuse, wohl der Mentor der radikalen Studentenbewegung, ging damit über die marxistisch-leninistische Kritik hinaus. Diese ersetzte mit ihrem ökonomischen Determinismus zwar weithin die Totalitarismusforschung durch die Faschismusforschung. Der Liberalismus galt als „eine Form bürgerlicher Herrschaft“7, jedoch nicht als totalitär. Der Totalitarismusbegriff firmierte als (unwissenschaftliche) „Doktrin“8, fand im Gegenzug auf die westlichen Demokratien aber keine Anwendung. Dieser Beitrag prüft die Tragfähigkeit des Totalitarismuskonzepts Marcuses (auch unter dem Gesichtspunkt von Kontinuität und Wandel) und untersucht, ob es sich um eine Konzeption handelt, die einen wesentlichen Beitrag zur Totalitarismusforschung liefert oder selbst totalitären Tendenzen Vorschub leistet. In den einschlägigen Studien taucht Herbert Marcuse, wie erwähnt, so gut wie nicht auf.9 Ist dies berechtigt oder nicht? Nach kurzen Hinweisen zum Leben und Werk folgen Interpretationen zu Marcuses früher Phase kurz nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, zu seiner mittleren Phase (50er Jahre) und zu seiner späten Phase (60er und 70er Jahre), jeweils anhand eines seiner Werke. Im Vordergrund steht die letzte Phase, die in mehrere Unterphasen 5 6 7 8

9

Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/Berlin 1967 (1964). Ebd., S. 23. Vgl. etwa den mehrfach aufgelegten Band von Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus – Faschismus, Reinbek bei Hamburg 1971. Vgl. Autorenkollektiv unter Leitung von Gerhard Lozek (Hg.), Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus. Kritik einer Grundkomponente bürgerlicher Ideologie, Berlin (Ost) 1985. Siehe zur Kritik Eckhard Jesse, Die „Totalitarismus-Doktrin“ aus DDRSicht. In: ders. (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Auflage Baden-Baden 1999, S. 458–483. Zu den Ausnahmen gehören: Marc-Pierre Möll, Gesellschaft und totalitäre Ordnung. Eine theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, Baden-Baden 1998, S. 323–331 („Die Kulturkritik von Herbert Marcuse“). Der Aufsatz des Autors (Kulturkritik von Herbert Marcuse. Totalitarismustheoretisches Denken von links. In: Aufklärung und Kritik, Heft 1/2004, S. 5–13) deckt sich mit den obigen Ausführungen; Reinhard Kühnl, „Linke“ Totalitarismusversionen. In: Martin Greiffenhagen/Reinhard Kühnl / Johann Baptist Müller, Totalitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972, S. 97–19, 141–144.

Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse

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zerfällt, etwa in die Zeit vor und nach der radikalen Studentenbewegung. In ihr vor allem wurde die These von der „Gleichschaltung“ entfaltet. Der Referierung schließt sich jeweils eine Kritik an. Die Ausführungen münden in einen Vergleich. Die Phaseneinteilung bezieht sich ausschließlich auf das Totalitarismusverständnis, auf die Interpretation von „totalitär“, nicht auf das Werk Marcuses in toto. So bleibt etwa dessen Orientierung an Heidegger, ungefähr von 1928 bis 1932 („Heideggermarxismus“), gänzlich unberücksichtigt. Schließlich wird die Position von Marcuse, die faktisch auf einen „Totalitarismus der Mitte“ hinausläuft, mit der seit einigen Jahren verbreiteten These vom „Extremismus der Mitte“ konfrontiert. Nicht beabsichtigt ist eine Darstellung und Kritik des vielfältigen Marcuseschen Werkes. Nur am Rande findet die positive oder negative Kritik an Marcuse Berücksichtigung, etwa im Bereich des Marxismus-Leninismus.

2.

Leben und Werk Herbert Marcuses

Herbert Marcuse, geboren am 19. Juli 1898 in Berlin als jüngster Spross einer assimilierten jüdischen Familie, wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf.10 Nach dem Notabitur 1916 zog er in den Krieg. Von 1917 bis 1919 Mitglied der SPD, verließ er diese nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts. Er sollte sich nie wieder in einer politischen Organisation engagieren. Auch dem Soldatenrat von Berlin-Reinickendorf kehrte er wegen der als „konterrevolutionär“ empfundenen politischen Entwicklung den Rücken. Das Studium an den Universitäten in Berlin und Freiburg (Hauptfach: Neue deutsche Literaturgeschichte; Nebenfächer: Philosophie und Nationalökonomie) schloss Marcuse 1922 mit einer Dissertation über den deutschen Künstlerroman ab. Es folgte dank väterlicher Unterstützung eine Tätigkeit im Buchhandel und im Verlag, ehe der Gesellschaftswissenschaftler 1928 wieder nach Freiburg ging, um bei Heidegger Philosophie zu studieren. Das Studium der 1932 publizierten Jugendschriften von Karl Marx, der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“, beeinflusste Marcuse nachhaltig und ließ ihn von Heidegger abrücken. In jenem Jahr erschien die ursprünglich als Habiltationsschrift angelegte Arbeit über „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“.11 Marcuse verließ Ende 1932 Deutschland; er ging 10 Zum Leben und Werk von Herbert Marcuse vgl. u. a. Hauke Brunkhorst/Gertrud Koch, Herbert Marcuse zur Einführung, Hamburg 2000; Arno Waschkuhn, Herbert Marcuse – Der eindimensionale Mensch und die große Weigerung. In: ders., Kritische Theorie. Politikbegriffe und Grundprinzipien der Frankfurter Schule, München 2000, S. 127–146. Grundlegend zum Leben: Douglas Kellner, Herbert Marcuse and the crisis of Marxism, Basingstoke 1984. 11 Die Hintergründe dafür, dass Marcuse die Arbeit nicht als Habilitationsschrift eingereicht hat, sind nicht ganz klar, dürften aber mit dem offenbar gespannten Verhältnis zu Heidegger zusammenhängen. Der Versuch einer Habilitation in Frankfurt am Main zerschlug sich ebenfalls. Vgl. Peter-Erwin Jansen, Marcuses Habilitationsverfahren – ei-

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in die Schweiz, erhielt dank der Unterstützung Leo Löwenthals an der Genfer Filiale des Instituts für Sozialforschung eine Anstellung. Marcuse zählte zu dessen bekanntesten Vertretern. Davon legen die beiden großen Studien von Martin Jay und Rolf Wiggershaus über die Frankfurter Schule, die sich dank ihrer unterschiedlichen zeitlichen Schwerpunktsetzung gut ergänzen, Zeugnis ab.12 Immer wieder gab es persönliche, politische und wissenschaftliche Differenzen mit Max Horkheimer und Theodor Adorno.13 Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris emigrierte Marcuse in die USA, wo er für das inzwischen in New York angesiedelte Institut für Sozialforschung arbeitete. In seinem zweiten Hegel-Buch („Vernunft und Revolution“) aus dem Jahre 1941 verteidigte Marcuse Hegel vor einer Inanspruchnahme durch die Nationalsozialisten. Der Antikapitalist Marcuse, inzwischen Amerikaner geworden, trat 1942 in die Forschungsabteilung des „Office of Strategic Services“ (OSS) ein, einer Vorläuferorganisation des CIA, nicht zuletzt aufgrund finanzieller Schwierigkeiten. Dort blieb er bis 1950, u. a. mit Otto Kirchheimer und Franz Neumann kooperierend. Die „Feindanalysen“ wurden erst Ende der neunziger Jahre publiziert.14 Nach einer wissenschaftlichen Tätigkeit an Forschungsinstituten über Sowjetmarxismus (aus ihr ging sein Band über „Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“ [1957] hervor) erhielt er 1954 – mit 56 Jahren – seine erste Professur an der Brandeis University in Boston (für Philosophie und Politikwissenschaft). Seine zweite (für Politikwissenschaft) folgte 1965 an der State-University in San Diego/Kalifornien. In einem Buch von 1955 über „Triebstruktur und Gesellschaft“ nahm Marcuse eine neomarxistisch geprägte Uminterpretation Sigmund Freuds vor. Die von Freud als nötig erachtete Triebunterdrückung zur Sicherung des zivilisatorischen Fortschritts hielt er nicht nur für aufhebbar, sondern auch für eine Wurzel des Aufkommens der nationalsozialistischen Bewegung. Der „neue Mensch“ könne durch Triebbefreiung entstehen. Dieser Gedankengang durchzieht viele seiner Studien. Mit seinem Hauptwerk „Der eindimensionale Mensch“ (1964), einem „Schlüsselbuch der sechziger Jahre“,15 erlangte Marcuse weltweite Bene Odysee. In: ders. (Hg.), Befreiung denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse, 2. Auflage Offenbach 2000, S. 141–150. 12 Vgl. Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt a. M. 1981 (1973); Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, 5. Auflage Frankfurt a. M. 1997 (1988). 13 Vgl. zahlreiche Briefe in dem Band von Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995. Band 2: Dokumente, Hamburg 1998. Siehe etwa den Brief von Adorno und Horkheimer an Marcuse vom 12. 2.1960. In ihm gehen sie auf den zentralen Vorwurf Marcuses ein, eine Kritik am Osten müsse zugleich eine solche am Westen einschließen. Ebd., S. 127 f. – Die Studien Marcuses sind stets so angelegt, dass eine Kritik am Sowjetkommunismus durch eine Kritik am Westen ergänzt wird. 14 Vgl. Herbert Marcuse, Feindanalysen. Über die Deutschen, hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998. 15 So Detlev Claussen, Kopf der Leidenschaft. Herbert Marcuses Deutschlandanalysen. In: Herbert Marcuse, Feindanalysen, S. 14.

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kanntheit. Er avancierte zum intellektuellen Stichwortgeber der radikalen Studentenbewegung – in den USA wie im Westen Europas, „zum Jean-Jacques der jungen Linken“.16 Besonders die „Neue Linke“ in der Bundesrepublik Deutschland berief sich auf seine Vision einer „befreiten Gesellschaft“.17 In den Bänden „Versuch über die Befreiung“ (1969) und „Konterrevolution und Revolte“ (1972) suchte er der Rebellion Schützenhilfe zu geben. Am 29. Juli 1979 starb Herbert Marcuse bei seinem Besuch von Jürgen Habermas in Starnberg. Heute spielt die Position des Neomarxisten kaum mehr eine Rolle. Sie wird eher ignoriert als kritisiert. Es liegen zwei Gesamtausgaben Marcuses vor, zum einen seine teils noch bei Lebzeiten publizierten „Schriften“ in neun Bänden im Suhrkamp Verlag,18 zum andern seine von Peter-Erwin Jansen herausgegebenen „Nachgelassenen Schriften“ im zu Klampen Verlag.19 Das Herbert-Marcuse-Archiv in Frankfurt am Main, das der dortigen Stadt- und Universitätsbibliothek angeschlossen ist, erhielt dank der Hilfe von Peter Marcuse, Herbert Marcuses Sohn, 1984 den größten Teil des umfangreichen Nachlasses.20

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Der frühe Marcuse

„Die Wendung vom liberalistischen zum total-autoritären Staat vollzieht sich auf dem Boden derselben Gesellschaftsordnung. Im Hinblick auf diese Einheit der ökonomischen Basis lässt sich sagen: es ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären Staat aus sich ‚erzeugt‘: als seine eigene Vollendung auf einer 16 So Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Vorbild oder Verführer? Über den politischen Einfluss der Philosophie Herbert Marcuses. In: Wort und Wahrheit, 25 (1979), S. 47. 17 Vgl. kritisch Erwin K. Scheuch (Hg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der „Neuen Linken“ und ihrer Dogmen, Köln 1968; Ulrich Hommes, Provokation der Vernunft? Herbert Marcuse und die neue Linke. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/69, S. 3–27. 18 Vgl. Herbert Marcuse, Der deutsche Künstlerroman. Frühe Aufsätze, Frankfurt a. M. 1978 (Band 1); ders., Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1989 (Band 2); ders., Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934– 1941, Frankfurt a. M. 1979 (Band 3); Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1989 (Band 4); ders., Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1979 (Band 5); ders., Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Frankfurt a. M. 1989 (Band 6); ders., Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt a. M. 1989 (Band 7); ders., Aufsätze und Vorlesungen 1948–1969. Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M. 1984 (Band 8); ders., Konterrevolution und Revolte. Zeit-Messungen. Die Permanenz der Kunst, Frankfurt a. M. 1987 (Band 9). 19 Vgl. Herbert Marcuse, Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie, Lüneburg 1999 (Band 1); ders., Kunst und Befreiung, Lüneburg 2000 (Band 2); ders., Philosophie und Psychoanalyse, Lüneburg 2002 (Band 3); Die Studentenbewegung und ihre Folgen, Lüneburg 2004 (Band 4). 20 Siehe auch René Görtzen, Auswahlbibliographie zu Herbert Marcuse. In: Text + Kritik, Heft 98/1988 („Herbert Marcuse“), S. 97–120.

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fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung. Der total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Organisation und Theorie der Gesellschaft.“21 Dieses Zitat Herbert Marcuses, das den „total-autoritären“ Staat als Überwindung wie Fortsetzung des Liberalismus ansieht, stammt aus einem 1934 in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ publizierten Beitrag mit dem Titel „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“. Es handelte sich um einen der ersten theoretisch orientierten Beiträge zur Einordnung der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten. Mit dem Sieg des Nationalsozialismus ging nach Marcuse die Heroisierung des Menschen einher, die Philosophie des Lebens mit ihrer „Theorie des Totalen“, ein irrationalistischer Naturalismus und der Universalismus mit der Mythisierung des Volkes. Die Theoretiker des Nationalsozialismus verstünden sich als Gegner der Weltanschauung des Liberalismus, stellten aber nicht dessen ökonomische und soziale Struktur in Frage. Marcuse sah eine „innere Verwandtschaft zwischen der liberalistischen Gesellschaftslehre und der scheinbar so antiliberalen totalitären Staatstheorie“.22 Bei der Beschreibung der „liberalistischen Gesellschaftstheorie“ glaubte Marcuse zeigen zu können, in ihr seien schon viele Elemente der totalitären Staatsauffassung angelegt. Allerdings zeichne sich diese auch durch neue Elemente aus, die überwiegend Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse sind: den „Universalismus“, den „Naturalismus“, den „Existenzialismus“. Im totalen Staat gibt es „keine gesellschaftliche Beziehung, die nicht im Ernstfall in eine politische Beziehung umschlägt: hinter allen ökonomischen, sozialen, religiösen, kulturellen Verhältnissen steht die totale Politisierung. Es gibt keine Sphäre des privaten und öffentlichen Daseins, keine rechtliche und rationale Instanz, die sich dieser Politisierung widersetzen könnte.“23 Der Beitrag endet mit der skeptischen Feststellung, wonach das Schicksal der Arbeiterbewegung im Ungewissen liege. Marcuse geht mit keinem Wort auf den erklärungsbedürftigen Umstand ein, wieso der totalitäre Staat gerade in Deutschland an die Macht gekommen ist. Denn wenn eine derartige Struktur dem Interesse des Kapitalismus entspricht, liegt es nahe, Erklärungen für das Ausbleiben einer „total-autoritären“ Entwicklung in anderen hochindustrialisierten Staaten zu finden. Eine wesentliche Schwäche des Beitrages liegt in dem folgenden Umstand: Marcuse hat den fundamentalen Unterschied zwischen einer liberalen Demokratie und einer totalitären Diktatur verwischt. Diese Position war damals repräsentativ für alle Vertreter der Kritischen Theorie.24 Wohl keine Wendung aus deren Umfeld ist so bekannt wie das fol21 So Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung (1934). In: ders., Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt a. M. 1965, S. 17–55, hier 32. 22 Ebd., S. 25. 23 Ebd., S. 49. 24 Vgl. Helmut Dubiel, Liberalismus und Liberalität in der „eindimensionalen Gesellschaft“. In: Klaus Hansen (Hg.), Frankfurter Schule und Liberalismus. Beiträge zum

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gende Horkheimer-Zitat: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen.“25 Der Habermas-Schüler Zoran Djindjic, der im März 2003 ermordete serbische Regierungschef, schrieb 1986 leicht ironisch, aber treffend: „Damit die Gleichung vom Liberalismus und von der totalitären Ordnung aufgehen kann, muss erstere auf den Kapitalismus reduziert werden, denn auch für eine dialektische Beweismethode ist es ein hartes Stück Arbeit, plausibel zu machen, dass der Liberalismus gerade in Deutschland, wo es gar keinen gab, eine Ursache des Faschismus gewesen sei.“26 Nach Djindjic hat die Kritische Theorie dem Liberalismus nicht vorgehalten, die eigenen Prinzipien über Bord geworfen zu haben, wohl aber dem Nationalsozialismus, dass er die Dualismen des Liberalismus (wie Individualismus versus Gesellschaft) lediglich verschleiern, nicht auflösen wollte. Der Begriff „totalitär“ wird von Marcuse nur auf den Nationalsozialismus angewandt, nicht auf den Kommunismus. Eine vergleichende Perspektive zog Marcuse nicht in Betracht, wohl schon deshalb nicht, weil ein System, in dem das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft ist, nicht die Voraussetzungen für einen angemessenen Vergleich erfüllt. Gleichwohl ist seine Interpretation von Freiheit so angelegt, dass ein Marxist-Leninist, der an der führenden Rolle „der“ Partei festhält, sie verwerfen muss. Für Marcuse war der Nationalsozialismus neben dem Liberalismus eine Variante des Kapitalismus. Die politische Eigendynamik der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur kam bei ihm, wie bei vielen anderen, nicht zur Sprache. „In der bewussten Politisierung der Existenzbegriffe, in der Ent-Privatisierung und Ent-Innerlichung der liberalistischidealistischen Konzeption des Menschen liegt ein Fortschritt der totalitären Staatsauffassung, durch den sie über ihren eigenen Boden, über die von ihr statuierte Gesellschaftsordnung hinausgetrieben wird.“27 Ist die Interpretation ein Missverständnis, dass der totale Staat, wie er sich in Deutschland durchgesetzt hat, für Marcuse ein Durchgangsstadium zu einer Gesellschaft bedeutet, die wahre Freiheit schaffe?

Dialog zwischen Kritischer Gesellschaftstheorie und politischem Liberalismus, BadenBaden 1981, S. 103–114, hier 110. 25 Max Horkheimer, Die Juden und Europa. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 8 (1939), S. 115–137, hier 115. Wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Schriften, Band 4, hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1988, S. 308–331, hier 308. 26 Zoran Djindjic, Kontinuität der Liberalismuskritik von Marx bis zur Frankfurter Schule. In: Axel Honneth/Albrecht Wellmer (Hg.), Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10.–15. Dezember 1984 in Ludwigsburg, Berlin (West) 1986, S. 275–284, hier 281 f. 27 Marcuse, Kampf gegen den Liberalismus, S. 52.

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Der mittlere Marcuse

„Die Aufnahme dieses Buches war eigenartig. In der Sowjetunion beschuldigten mich die Kritiker, bestrebt zu sein, ‚die kommunistische Moral abzuwerten und zu verzerren‘, ‚die kommunistische Gesellschaft‘ als den ‚Triumph individueller Freiheit‘ anzusehen und ‚die alte bürgerliche Lüge‘ zu wiederholen, ‚dass der Sozialismus ein strenges, totalitäres System ist, das auf allgemeiner Unterdrückung basiert‘. In den Vereinigten Staaten sagte man mir nach, dass ich ‚den Sowjetmarxismus als eine Stufe im Kampfe der Menschheit um Freiheit und Sozialismus‘ behandele und bei meiner ‚kritischen Analyse des westlichen Lebens und der westlichen Gesellschaft unzweideutiger‘ sei als bei meiner Analyse der Sowjetunion. Ich sehe in diesen Widersprüchen den Hinweis darauf, dass ich bei dem Versuch, mich von der Propaganda des Kalten Krieges freizumachen und eine relativ objektive Analyse zu bieten, die auf einer begründeten Interpretation historischer Entwicklungen beruht, einigen Erfolg hatte.“28 So lautete der erste Absatz des Vorwortes zur zweiten Auflage (1960) von Herbert Marcuses „Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“. Damit wollte der Autor seine Äquidistanz gegenüber dem Kapitalismus der amerikanischen und dem Sozialismus der sowjetischen Richtung unter Beweis stellen. In dem erstmals 1957, also auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges vorgelegten Werk ging es Herbert Marcuse um eine Untersuchung der sowjetischen Gesellschaftslehre. Der Autor versteht seinen Ansatz als immanent, misst die Sowjetunion an marxistischen Prinzipien. Den Begriff „Totalitarismus“ für die Sowjetunion verwirft er, „weil dieser Begriff auf eine große Vielfalt von Gesellschaftssystemen mit verschiedenen und antagonistischen Strukturen anwendbar ist“.29 Gleichwohl taucht an einigen Stellen der Terminus auf, wenn es etwa heißt, die „stalinistische Politik des Totalitarismus [hat] sich bezahlt gemacht“,30 etwa durch die forcierte Industrialisierung. Zu den charakteristischen Zügen der Sowjetunion in allen Phasen zählt Marcuse folgende Elemente: totale Industrialisierung auf der Basis der Verstaatlichung, Kollektivierung der Landwirtschaft, Mechanisierung der Arbeit, Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards, Aufbau einer allgemeinen Arbeitsmoral, Aufrechterhaltung der staatlichen Apparaturen, Übergang zur Verteilung des Sozialprodukts nach individuellen Bedürfnissen. Marcuse wendet sich gegen die These, der Sowjetmarxismus sei „einfach eine übergestülpte Ideologie [...], die dem Regime zur Stütze dient“.31 Gleichwohl handle es sich bei ihm um keinen Sozialismus. Eine gesellschaftliche Kontrolle über die Produktionsmittel finde nicht statt. „Es muss jedoch die Frage gestellt werden, ob nicht die sowjetische Verstaatlichung trotz dieser Tatsache unter der historischen Bedingung ihres 28 Herbert Marcuse, Vorwort zur zweiten Auflage. In: ders., Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus (1957), Springe 2004, S. 11. 29 Herbert Marcuse, Gesellschaftslehre, S. 87. 30 Ebd., S. 233. 31 Ebd., S. 100.

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Fortschreitens eine innere Dynamik besitzt, die den repressiven Tendenzen entgegenwirken und die Struktur der Sowjetgesellschaft umformen kann – ungeachtet der wirklichen oder angeblichen politischen Praktiken und Ziele der Führung.“32 Marcuse hält es für möglich, dass die Verbreitung genuin marxistischer Vorstellungen das Sowjetsystem unterminiert – und zwar im Sinne einer vom Autor befürworteten stärkeren sozialistischen Ausrichtung. Der Autor bejaht die Frage nach einem „Bruch“ zwischen Leninismus und Stalinismus, begründet die Unterschiede wesentlich „als das beständige Anwachsen von Totalitarismus und autoritärer Zentralisation, als das Anwachsen der Diktatur nicht des Proletariats und der Bauernschaft, sondern über sie“.33 Zwar hat der Totalitarismus der Stalin-Zeit nach Marcuse das sowjetische System wirtschaftlich gekräftigt, doch zu einer Verselbständigung spezifischer Mechanismen geführt, jedenfalls nicht zu einem Abbau bürokratischer Herrschaft. Eine weniger aggressive Strategie der Sowjetunion könnte das westliche System erschüttern und klassenkämpferische Potenzen mobilisieren. Obwohl das Buch die sowjetische Gesellschaftslehre analysieren will, zieht es immer wieder Vergleiche zwischen der Sowjetunion und dem Westen. So interpretiert, ja rechtfertigt Marcuse manches Verhalten des stalinistischen Systems als Verteidigung gegenüber dem Kapitalismus der westlichen Welt, und das eine oder andere Zugeständnis des Kapitalismus gegenüber der Arbeiterschaft als Reaktion auf die Existenz der Sowjetunion. Zudem bietet der Autor Beispiele für das negativ interpretierte Konvergieren sowjetischer und westlicher Ethik. „Dem grundlegenden Unterschied zwischen der westlichen und der sowjetischen Gesellschaft geht eine starke Tendenz zur Angleichung parallel. Beide Systeme zeigen die allgemeinen Züge der spätindustriellen Zivilisation: Zentralisation und Reglementierung treten an die Stelle individueller Wirtschaft und Autonomie; die Konkurrenz wird organisiert und ‚rationalisiert‘; es gibt eine gemeinsame Herrschaft ökonomischer und politischer Bürokratien; das Volk wird durch die ‚Massenmedien‘ der Kommunikation, die Unterhaltungsindustrie und Erziehung gleichgeschaltet. Wenn diese Mittel sich als wirksam erweisen, dann ließen sich die demokratischen Rechte und Institutionen durch die Verfassung garantieren und ohne die Gefahr ihres Missbrauchs gegen das System aufrechterhalten.“34 Hier findet sich ansatzweise bereits die Theorie von der „Eindimensionalität“ des Menschen. Marcuse ebnet die Unterschiede zwischen der Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus und westlicher Grundannahmen ebenso ein, wie dies bereits beim Vergleich zwischen dem Liberalismus und dem Nationalsozialismus der Fall gewesen war. Da der Autor als Bezugspunkt nicht den demokratischen Verfassungsstaat zugrundelegt, gelangt er zur These von der grundsätzlichen Unterschiedlichkeit der Lenin- und der Stalin-Zeit, den „demokratischen Zentralismus“ unter Lenin kaum erwähnend. 32 Ebd., S. 100. 33 Ebd., S. 84. 34 Ebd., S. 89.

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Eine der weiteren Schwächen des Buches besteht darin, dass es einer präzisen Bestimmung des gelegentlich verwendeten Begriffs „Totalitarismus“ aus dem Wege geht. Zudem macht Marcuse – und nicht nur hier – einen Bogen um die praktische Politik. Ihm geht es augenscheinlich um den „Überbau“, nicht um die „Basis“. Insofern unterscheidet sich das Werk, das eine Rhetorik des Kalten Krieges meidet, in diesem Punkt nicht von früheren oder späteren Studien. Allerdings weist es eine größere Differenziertheit als viele seiner anderen Arbeiten auf.

5.

Der späte Marcuse

„Die absorbierende Macht der Gesellschaft höhlt die künstlerische Dimension aus, indem sie sich ihrer antagonistischen Inhalte angleicht. Im Bereich der Kultur manifestiert sich der neue Totalitarismus gerade in einem harmonisierenden Pluralismus, worin die einander widersprechenden Werke und Wahrheiten friedlich nebeneinander koexistierten.“35 Dieses Zitat findet sich in Marcuse bekanntestem Werk: „Der eindimensionale Mensch“. Gerade die Existenz von Pluralismus schaffe eine neue Form des Totalitarismus. Die Demokratie mit ihrem materiellem Überfluss stelle nur eine Fassade dar, eine Gesellschaft ohne Opposition sei entstanden. Marcuse kritisiert in seinem Hauptwerk die moderne Industriegesellschaft als durch und durch repressiv. Alle Beziehungen seien von dieser Struktur durchdrungen. Die „Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, so der Untertitel, festige den Status quo. Der technische Fortschritt integriere Gegensätze und lähme jeglichen Wandel. „Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft lässt sich der traditionelle Begriff der ‚Neutralität‘ der Technik nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird; die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist.“36 Die Kritik Marcuses richtet sich also nicht gegen den Gebrauch der Technik in einer kapitalistischen Welt, sondern gegen diese selbst. Raffinierte Manipulation durch die Meinungsindustrie trüge zur Zufriedenheit der Menschen mit ihrem Los ebenso bei wie die Erfüllung künstlicher Bedürfnisse. Der Konsumismus verschleiere das Fortbestehen der Klassengesellschaft, fördere eine affirmative Kultur. „Die Mittel des Massentransports und der Massenkommunikation, die Gebrauchsgüter Wohnung, Nahrung, Kleidung, die unwiderstehliche Leistung der Unterhaltungs- und Nachrichtenindustrie gehen mit verordneten Einstellungen und Gewohnheiten, mit geistigen und gefühlsmäßigen Reaktionen einher, die die Konsumenten mehr oder weniger angenehm an die Produzenten binden und vermittels dieser ans Ganze. Die 35 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 81. 36 Ebd., S. 18.

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Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewusstsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird ein Lebensstil, und zwar ein guter – viel besser als früher –, und als ein guter Lebensstil widersetzt sie sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren.“37 Nach Ausführungen zur „eindimensionalen Gesellschaft“ (mit Hinweisen auf „die neuen Formen der Kontrolle“) und zum „eindimensionalen Denken“ (mit Hinweisen auf „die Logik der Herrschaft“) folgt abschließend ein Kapitel über „Die Chance der Alternativen“. Laut Marcuse schwankt die Studie zwischen zwei Hypothesen, die sich gegenseitig ausschließen: „1. dass die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.“38 Obwohl der Autor beteuert, sich nicht sicher zu sein, welche Tendenzen dominieren, überwiegt bei ihm klar die erste Variante. Schließlich heißt es: „Die totalitären Tendenzen der eindimensionalen Gesellschaft machen die traditionellen Mittel und Weges des Protests unwirksam – vielleicht sogar gefährlich, weil sie an der Illusion der Volkssouveränität festhalten. Diese Illusion enthält ein Stück Wahrheit: ‚das Volk‘, früher das Ferment gesellschaftlicher Veränderung, ist ‚aufgestiegen‘, um zum Ferment gesellschaftlichen Zusammenhalts zu werden.“39 Die manipulierte Arbeiterschaft empfinde die Entfremdung nicht mehr, das materielle Elend sei aufgehoben. Allerdings gäbe es auch „das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen“.40 Deren Opposition sei revolutionär, nicht deren Bewusstsein. Marcuse bekundet in seinem Negativismus abschließend Sympathie jenen, „die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben“.41 Überwog in seinem Hauptwerk deutlich die Skepsis gegenüber der Aussicht auf Veränderung, so sollte sich dies bald ändern. Bereits im Essay von 1965 über „Repressive Toleranz“ spitzte Marcuse die eigene Position zu. Hier plädierte er für Intoleranz gegenüber „den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen“.42 Deren Toleranz sei repressiv. Ihm schwebte eine Art „befreiender Toleranz“ vor. Diese würde „Intoleranz gegenüber Bewegungen 37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 31 f. (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 17. Ebd., S. 267. Ebd., S. 267. Ebd., S. 268. Herbert Marcuse, Repressive Toleranz (1965). In: Robert Paul Wolff/Barrington Moore/Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a. M. 1966, S. 93.

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von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links. Was die Reichweite dieser Toleranz und Intoleranz angeht, so müsste sie sich ebenso auf die Ebene des Handelns erstrecken wie auf die der Diskussion und Propaganda, auf Worte wie auf Taten.“43 Da das falsche Bewusstsein zum allgemeinen Bewusstsein geworden sei, müsse davon Gebrauch gemacht werden, das Recht der freien Rede aufzuheben. Die „tatsächlichen Schranken, welche die totalitäre Demokratie gegen die Wirksamkeit qualitativ abweichender Ansichten errichtet“, seien im Vergleich mit den Praktiken einer Diktatur „schwach und angenehm genug“.44 In dem „Versuch der Befreiung“ erwies sich Marcuse optimistischer als in früheren Studien, offenbar beflügelt durch die revoltierende akademische Jugend in westlichen Gesellschaften. Hier war ihm daran gelegen, den Gegensatz zwischen dem radikalen Charakter der Rebellion und ihrer fehlenden Klassenbasis herauszuarbeiten. Er versuchte „Einbruchstellen“ im kapitalistischen Gefüge aufzuzeigen, innere und äußere. „Die in das System der Repression eingebaute Gewalt kann außer Kontrolle geraten oder noch totalitärere Kontrollen notwendig machen.“45 In der Studie über „Konterrevolution und Revolte“ klingt vieles wieder skeptischer, was die Chancen einer Revolution angeht.46 „Der Kapitalismus reorganisiert sich, um der Gefahr einer Revolution zu begegnen, welche die radikalste aller historischen Revolutionen wäre: die erste wahrhaft weltgeschichtliche Revolution.“47 Ein „faschistischer Totalitarismus“48 könnte die Folge der Verschlechterung der ökonomischen Verhältnisse sein. „Kein Buch radikaler, marxistischer oder neomarxistischer Gesellschaftsoder Kulturkritiker hat seit dem Ende des Zweitens Weltkrieges eine solch außerordentliche internationale Wirkung auf breiteste Kreise der Intellektuellen, namentlich der Studenten ausgeübt, ja eine ganze Bewegung ausgelöst, wie dasjenige des kritischen Marxisten, Philosophen und Soziologen Herbert Marcuse.“49 Auch wenn eine derartige Einschätzung übertreibt (schließlich diente Marcuse weniger als Auslöser denn als Autorität, auf die es sich zu berufen galt), so macht sie doch die Bekanntheit des Buchtitels (nicht unbedingt des Inhalts) deutlich. Aber berechtigt dürfte der Befund keineswegs sein. Denn Marcuse bietet eine Ansammlung wenig überzeugender Einwände gegen die von ihm als „eindimensional“ ausgemachte Gesellschaft. Manche Passagen erinnern an die Kritik konservativer Kulturpessimisten wie Hans Freyer, auf den der Terminus

43 Ebd., S. 120. 44 Ebd., S. 110. 45 Ders., Versuch über die Befreiung (1969). In: ders., Aufsätze und Vorlesungen 1948– 1969. Versuch über die Befreiung, Band 8, Frankfurt a. M. 1984, S. 239–317, hier 310. 46 Vgl. ders., Konterrevolution und Revolte, Frankfurt a. M. 1973. 47 Ebd., S. 8. 48 Ebd., S. 71. 49 Willy Hochkeppel, Modelle des gegenwärtigen Zeitalters. Thesen der Kulturphilosophie im Zwanzigsten Jahrhundert, München 1973, S. 138.

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des „eindimensionalen Menschen“ zurückgeht.50 In Marcuses Buch findet sich Technikfeindlichkeit en masse. Auch wenn der Autor realistischer als andere die Stabilität westlicher Gesellschaften erfasst haben dürfte, wiewohl Sozialwissenschaftler bei einem solchen Urteil vorsichtig sein sollten (so vermochten sie weder die Studentenbewegung in der westlichen Welt zu prognostizieren noch den Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems noch den islamistischen Furor), schoss er bei seiner Diagnose weit über das Ziel hinaus, wenn er eine Art „Ende der Geschichte“51 konstatierte. Als Kind seiner Zeit dachte er in ähnlichen Kategorien wie Daniel Bell mit seinem „Ende der Ideologien“,52 freilich mit dem gewichtigen Unterschied, dass er eine solche Entwicklung scharf geißelte. Otto Kirchheimer, Marcuses Kollege beim Office of Strategic Services, argumentiere mit seiner These vom „Verfall der Opposition“ weitaus differenzierter.53 Die Kanalisierung und die Neutralisierung von systemsprengenden Konflikten ist tatsächlich eine Stärke des demokratischen Verfassungsstaates, keine Schwäche. Die Kritik an der „repressiven Toleranz“ nimmt bei Marcuse Züge an, die auf eine Erziehungsdiktatur hinauslaufen. Im Bestreben, eine – aus seiner Sicht – Diktatur abzuschaffen, propagierte er eine neue. Marcuse zeigt sich vielfach als Anhänger manichäischer Denkmuster, keineswegs als Verfechter von Reformen, die nur der Verschleierung der Machtverhältnisse dienten. „Wir kämpfen nicht gegen eine terroristische Gesellschaft, die bereits bewiesen hat, dass sie nicht funktionieren kann. Wir kämpfen nicht gegen eine Gesellschaft, die in der Desintegration begriffen ist. Wir kämpfen gegen eine außerordentlich gut funktionierende Gesellschaft, und – was mehr ist – wir kämpfen gegen eine Gesellschaft, der es in der Tat gelungen ist, Armut und Elend in einem Maße zu beseitigen, wie es früheren Stadien des Kapitalismus nicht gelungen ist.“54 Wer eine solche – geradezu optimistisch anmutende – Diagnose zugrunde legt, kann nicht plausibel machen, wieso er das Allheilmittel in einer revolutionären Umgestaltung des Kapitalismus sieht. Die wohl bekannteste und immer wieder zitierte Stelle ist der emphatische Schluss: „Aber ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minder50 Vgl. Erwin K. Scheuch, Zum Wiederverstehen der Erlösungsbewegungen. In: Kurt Sontheimer, Der Überdruss an der Demokratie. Neue Linke und alte Rechte. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Köln 1970, S. 129–206, hier 189, Anm. 1. 51 Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. In: Das Ende der Utopie. Herbert Marcuse. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Frankfurt a. M. 1980, S. 9–18, hier 9. 52 Vgl. Daniel Bell, The End of Ideology, Glencoe/Ill. 1960. Allerdings lehnte Marcuse die These vom „Ende der Ideologien“ als ideologisch ab. Vgl. ders., Der eindimensionale Mensch, S. 31; ders., Repressive Toleranz, S. 121. 53 Vgl. Otto Kirchheimer, Deutschland oder der Verfall der Opposition (1955). In: ders., Politische Herrschaft, Frankfurt a. M. 1981, S. 58–91. Siehe dazu Frank Schale, Zwischen Engagement und Skepsis. Eine Studie zu den Schriften von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2006, insbes. 255–271. 54 Herbert Marcuse, Moral und Politik in der Überflussgesellschaft. Podiumsdiskussion. In: Das Ende der Utopie, S. 93. Allerdings wirft Marcuse an anderen Stellen dem Kapitalismus das Gegenteil vor.

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heiten ein ‚Naturrecht‘ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. [...] Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.“55 Damit gibt Marcuse revolutionären Kräften einen Freibrief für die Anwendung von Gewalt im demokratischen Verfassungsstaat. Horst Fuhrmanns Umformulierung der Sätze hält hingegen ethischen Prinzipien stand: „Wenn sie jedoch Gewalt anwenden, dann zerbrechen sie nicht nur die etablierte Kette von Gewalttaten, sondern beginnen zugleich eine neue. Da sie dieses Risiko – den Preis an Leid und Leben der Opfer und die Gefahr der Korruption der Zwecke durch die Mittel – nicht kennen können, hat jeder, und insbesondere der Erzieher und Intellektuelle, nicht allein das Recht, sondern sogar die Pflicht, ihnen Enthaltung zu predigen.“56 Im „Versuch über die Befreiung“ schlug Marcuses Herz für Kuba, Vietnam und China. Auch wenn er die repressive Sowjetunion kritisierte, lobte er ihre Unterstützung für Kuba und Vietnam. Emphatisch hieß es, „dass für eine ganze Generation ‚Freiheit‘, ‚Sozialismus‘ und ‚Befreiung‘ nicht zu trennen sind von Fidel, Ché und den Guerillas – nicht weil ihr revolutionärer Kampf das Modell für den Kampf in den Metropolen liefern könnte, sondern weil sie die Wahrheit dieser Ideen im tagtäglichen Kampf von Männern und Frauen für ein Leben als Menschen zurückerobert haben: für ein neues Leben.“57 Marcuse ließ sich vom revolutionären Überschwang mitreißen, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, wie es mit „Freiheit“, „Sozialismus“ und „Befreiung“ in den von ihm gepriesenen Fällen bestellt war. In den letzten Lebensjahren betonte er den Gedanken, es sei richtig, die bestehenden Freiräume im Sinne von Rudi Dutschkes Konzeption des „langen Marsches durch die Institutionen“ auszuweiten. Ein „faschistisches“ System sei kein Vorbote für den Sieg des Sozialismus.58 Hier entsagte er jeglichem politischem Abenteurertum. Marcuse vermochte folgendes Dilemma nicht zu lösen: Wenn die totalitären Strukturen der modernen Industriegesellschaft derart unaufbrechbar sind, kann er nicht im selben Atemzug Wege zu ihrer Änderung anbieten. Beides geht nicht zusammen: Entweder die Gesellschaft ist totalitär und die Aussicht auf Wandel unwirksam; oder die Gesellschaft ist weniger totalitär als behauptet, so dass Widerstand Sinn ergibt. Tertium non datur.

55 Marcuse, Repressive Toleranz, S. 127 f. 56 Helmut Fuhrmann, Zum Problem der revolutionären Gewalt. Ein Plädoyer gegen und für Herbert Marcuse. In: Neue Sammlung, 9 (1969), S. 139–146, hier 146. 57 Marcuse, Versuch über die Befreiung, S. 313. 58 Vgl. ders., Konterrevolution und Revolte, insbes. S. 69–71.

Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse

6.

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Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Herbert Marcuse, dessen Schriften sich durch eine beträchtliche Kontinuität auszeichnen, bezieht den Begriff „totalitär“ jeweils auf völlig unterschiedliche Gesellschaftsordnungen. Im ersten Fall ging es ihm um den Nationalsozialismus, im zweiten Fall um die kommunistische Sowjetunion (ohne den Totalitarismusbegriff gutzuheißen), im dritten Fall um die westlichen Demokratien. Einer präzisen Definition ist er jeweils ausgewichen. Stets war es die kapitalistische Gesellschaft (in der Sowjetunion der „Staatskapitalismus“), der Marcuse den Kampf angesagt hatte. Zugleich vermochte er in keiner der drei Phasen Sympathien gegenüber dem „realen Sozialismus“ aufzubringen, weswegen ihn dessen Verteidiger mehr oder weniger geschmäht haben, vor allem dann, als Marcuse ein Idol der radikalen Studentenbewegung wurde. Mit erstaunlichem Aufwand bezogen marxistisch-leninistische Autoren Stellung gegen den Häretiker Marcuse59 – u. a. wegen der Ablehnung der Sowjetunion, der Kritik am Parteikonzept Lenins, der geringen Rolle des Proletariats im revolutionären Prozess. In mancher Hinsicht sind die Einwände von Marxisten-Leninisten durchaus berechtigt, wenn sie etwa die These Marcuses zur Stabilität kapitalistischer Gesellschaft kritisieren oder seine Hinweise auf ähnliche Entwicklungen in den kommunistischen wie in den westlichen Gesellschaften. Der Bogen der Kritik spannt sich vom Vorwurf des „Linksradikalismus“ bis zum Vorwurf, Repräsentant der „bürgerlichen Ideologie“ zu sein. Die Beteuerung von Hans Heinz Holz, „eine Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse ist ein Gespräch unter Freunden, keine Polemik gegen einen Gegner“,60 spiegelt sich in der marxistisch-leninistischen Schelte nicht wider. Die Bewertung von Marxisten-Leninisten fällt dabei anders aus als die des Verfassers. Sie deckt sich, wenn auch aus gegensätzlichen Gründen, allerdings in der Kritik am „dritten Weg“ Marcuses, der eine Position der Äquidistanz gegenüber der freiheitlichen und der kommunistischen Welt einnahm. Zum Teil ist die Position Marcuses weiter von den Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates entfernt (etwa beim Liebäugeln mit der Gewalt in der westlichen 59 Vgl. Hans Heinz Holz, Utopie und Anarchismus. Zur Kritik der kritischen Theorie Herbert Marcuses, Köln 1968; Robert Steigerwald, Herbert Marcuses dritter Weg, Berlin (Ost) 1969; N. Motroschilowa/J. Samoschkin, Marcuses Utopie der Antigesellschaft, Berlin (Ost) 1971; Johannes Heinrich von Heiseler/Robert Steigerwald/Josef Schleifstein (Hg.), Die „Frankfurter Schule“ im Licht des Marxismus. Zur Kritik der Philosophie und Soziologie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas, Frankfurt a. M. 1970; Gertraud Korf, Ausbruch aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“? Kritik der Kulturtheorien Max Webers und Herbert Marcuses, Frankfurt a. M. 1972; Hans G. Helms, Fetisch Revolution. Marxismus und Bundesrepublik, erweiterte Sonderausgabe, Neuwied 1973; Ulrich Geisler/Helmut Seidel, Die romantische Kapitalismuskritik und der utopische Sozialismusbegriff H. Marcuses. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 17 (1969), S. 409–421; Ingrid Schuchardt, Der Antikommunismus der „Revolte“ des Herbert Marcuse. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität, 27 (1979), S. 269–278; Kühnl, „Linke“ Totalitarismusversionen. 60 Holz, Utopie und Anarchismus, S. 7.

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Gesellschaft) als die des Marxismus-Leninismus (etwa bei der Verteidigung der Parteidiktatur in der östlichen Gesellschaft). Eine große Schwäche ist es gewesen, dass Marcuse die nicht-totalitäre Gegengesellschaft, die ihm vorschwebte, nur unangemessen erhellen konnte. Seine zaghaften Versuche, das „befriedete Dasein“ zu umschreiben, blieben vage. Marcuses Denken durchzog ein hohes Maß an Skepsis gegenüber der weiteren Entwicklung, wenngleich er in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre im Zuge der Studentenbewegung zeitweilig Optimismus anklingen ließ. Das revolutionäre Subjekt, das eine Befreiung in Gang setzen könnte, war nicht mehr das Proletariat, sondern eine Gruppe von nicht im herrschenden System integrierten Menschen. Im Vergleich zu anderen Autoren hat Marcuses Weg damit nicht vom Marxismus zum Antitotalitarismus geführt.61 Seine Schriften zeichnen sich im Gegenteil durch eine Verschärfung seiner Positionen aus –, wiewohl am Ende der Reformismus leise verteidigt wurde. Die Kulturkritik, die bereits in der „Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“ angelegt war, nahm derartig schroffe Formen an, dass die westliche Gesellschaft mit ihren Manipulationsmechanismen als totalitär galt. Erst in dem Moment, in dem die kapitalistische Industriegesellschaft so apostrophiert wurde, bedachte er auch die Sowjetunion mit diesem Terminus62 – offenbar deshalb, weil er die kapitalistische Gesellschaft nicht besser erscheinen lassen wollte als die sowjetkommunistische. Die Annahme, Marcuse habe sich von einem antifaschistischen Denker (erste Phase) über einen antikommunistischen (zweite Phase) zu einem antidemokratischen (dritte Phase) entwickelt, stimmt nicht. Ungeachtet dieser zeitlichen Schwerpunktsetzung waren in der entsprechenden Phase die Elemente der anderen beiden Phasen jeweils angelegt. Insofern überlagert Kontinuität Diskontinuität. Herbert Marcuse blieb zeit seines Lebens immer ein entschiedener Gegner rechtstotalitärer Bestrebungen, ebenso ein Gegner des Marxismus-Leninismus und damit der kommunistischen Sowjetunion, sowie ein Gegner des demokratischen Verfassungsstaates. Wohl keiner hat Marcuse derart scharf und so kompetent kritisiert wie Leszek Kolakowski, einer der besten Kenner des Marxismus: „Marcuse benutzte die Wörter ‚totalitär‘ und ‚Totalitarismus‘ in einer Weise, dass dieses Etikett sich meistens ebenso gut auf die Sowjetunion wie auf die Vereinigten Staaten bezieht, und im Allgemeinen bedient er sich bei diesen Gelegenheiten solcher Wendungen, die den amerikanischen Totalitarismus im Vergleich zum sowjetischen unvorteilhaft erscheinen lassen, obwohl Marcuse einräumt, dass eines dieser Systeme pluralistisch, das andere dagegen terroristisch ist. Er sieht darin jedoch keinen wahrhaft bedeutenden Unterschied.“63 Kolakowski zitiert im Anschluss 61

Vgl. etwa mit Blick auf Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal den Beitrag von Uwe Backes in diesem Band. 62 Deswegen kritisierte ihn Rudi Dutschke. Vgl. ders., Moral und Politik in der Überflussgesellschaft, S. 100 f. 63 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall, dritter Band, München 1979, S. 450.

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einen Satz Marcuses aus dem Jahre 1970, der das Gemeinte sinnfällig unterstreicht: „Das Wort ‚totalitär‘ wird hier in der Weise umgedeutet, dass es nicht nur ein terroristisches, sondern auch ein pluralistisches Absorbieren jeglicher wirksamen Opposition durch die bestehende Gesellschaft bezeichnet.“64 Diese Form der Rabulistik ist für weite Teile des Werkes typisch, vor allem in der letzten Phase. Für die differenzierte Totalitarismusforschung fällt Herbert Marcuse damit aus. Seine Konzeption wird eher zu ihrem Objekt.

7.

Vergleich zum „Extremismus der Mitte“

Anfang der 1990er Jahre machte in der Bundesrepublik Deutschland das paradox anmutende Schlagwort vom „Extremismus der Mitte“ Karriere. Da sowohl unter Tätern bei den fremdenfeindlichen Ausschreitungen als auch unter Wählern von Rechtsaußenparteien eine feste rechtsextremistische Ausrichtung fehlte (jedenfalls bei vielen von ihnen), erhoben Kritiker – unterschiedlich nuanciert – den Vorwurf, die politische Mitte sei verantwortlich für die Gewalt wie für die Wahlerfolge.65 Sie habe – z. B. durch die Verschärfung des Asylrechts – solche Positionen salonfähig gemacht, ihnen damit den Boden bereitet. Ihr komme letztlich die Schuld zu. Der Begriff des „Extremismus der Mitte“ hat aber einen anderen Traditionshintergrund. Im Jahre 1959 vertrat der amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset unter Berufung auf Theodor Geiger und andere Autoren in einem seither immer wieder zitierten Aufsatz die Meinung, der Nationalsozialismus sei ein „Faschismus der Mitte“, weil der Mittelstand überproportional stark den Nationalsozialismus gewählt habe. Bei Lipset wird eigens vom „extremism of the centre“66 gesprochen. Der Kommunismus sei der Extremismus der Arbeiterklasse, der traditionelle Konservatismus der Extremismus der Oberklasse. Auch wenn Lipsets These vom Zusammenhang zwischen der Schichtenzugehörigkeit und der politischen Ausprägung mit Blick auf den Nationalsozialismus kaum haltbar sein dürfte67, ist seine Position weitaus differenzierter als die der heuti64 Zit. nach ebd., S. 450. Das Zitat stammt aus der Studie von Herbert Marcuse, Five Lectures, Boston 1970, S. 48. 65 Vgl. u. a. Hans-Martin Lohmann (Hg.), Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation, Frankfurt a. M. 1994; Wolf-Dieter Narr, Der Extremismus der Mitte. In: Vorgänge, 31 (1992) 6, S. 4–7; Heinz Lynen von Berg, Politische Mitte und Rechtsextremismus. Diskurse zu fremdenfeindlicher Gewalt im 12. Deutschen Bundestag (1990–1994), Opladen 2000. 66 Vgl. Seymour Martin Lipset, Social Stratification and „Right-Wing Extremism“. In: British Journal of Sociology, 10 (1959), S. 346–382, hier 347. Der Beitrag ist auf deutsch mehrfach nachgedruckt worden: Der „Faschismus“, die Linke, die Rechte und die Mitte. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11 (1959), S. 401–444. Siehe auch ders., Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962, S. 131–189. 67 Vgl. Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1993. Nach der empirischen Studie Falters ist der Anteil des Mittelstands in der Wählerschaft der NSDAP stark überschätzt worden.

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gen Verfechter der These vom „Extremismus der Mitte“. Diese entgrenzt den Begriff des Extremismus. Der herkömmliche Extremismusbegriff verliert so jede Trennschärfe und wird damit uminterpretiert. Im Grunde läuft eine derartige Verwendung auf eine Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates hinaus. Dass sich ausgerechnet Gegner des Terminus vom „Extremismus der Mitte“ bedienen, ist eine Paradoxie. Ein früherer Anhänger dieser These wie Wolfgang Kraushaar68 ist wegen der als unklar geltenden Begriff „Mitte“ und „Extremismus“ mittlerweile davon etwas abgerückt: „Durch ihre Verwendung könnte unter Umständen mehr Verwirrung als Aufklärung gestiftet werden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die mit ihm zum Ausdruck gebrachte Vorwurfsstruktur den Extremismusverdacht zunächst einmal totalisiert. Indem keine politische Strömung, Bewegung, Organisation oder Partei bei der Suche nach den gesellschaftlichen Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit mehr ausgeschlossen wird, kann es zu einem Relativismus bei der Suche nach den verursachenden Faktoren kommen.“69 Für den Frankfurter Sozialwissenschaftler Joachim Hirsch, langjährig im „Sozialistischen Büro“ aktiv, bildet die Globalisierung einen „nationalen Wettbewerbsstaat“ heraus, der sich von den Staatstotalitarismen des 20. Jahrhunderts ebenso unterscheidet wie von der traditionellen Form des Kapitalismus. Er spricht von einer „neuen, nämlich ‚zivilgesellschaftlichen‘ Form von Totalitarismus“.70 Nach Hirsch kommt es zu einer „historisch neuen Form von Totalitarismus, die überhaupt nicht mehr entscheidend vom Staatsapparat ausgeht, sondern in den Strukturen der ‚Zivilgesellschaft‘ wurzelt“.71 Mediale Inszenierungen verdrängten das Bewusstsein, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Eigens heißt es, „Herbert Marcuses Diagnose vom Heraufziehen einer Gesellschaft ‚eindimensionaler Menschen‘ ist heute aktueller denn je“.72 „Freiheit“, der Begriff ist in Anführungszeichen gesetzt, werde „zum Moment eines tendenziell totalitären Unterwerfungs- und Einpassungsmechanismus“.73 Für den „Totalitarismus der Mitte“74 macht Hirsch auch die Linke mit ihrer Fixierung auf „zivilgesellschaftliche“ Elemente verantwortlich. Charakteristisch für diese „Staatsideologie“ sei der Glaube an die Unabänderlichkeit des Status quo und das Verschwinden einer grundsätzlichen Opposition. Damit ähnelt die Po68 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Extremismus der Mitte. Zur Geschichte einer soziologischen und sozialhistorischen Interpretationsfigur. In: Lohmann (Hg.), Extremismus der Mitte, S. 23–50; ders., Radikalisierung der Mitte. Auf dem Weg zur Berliner Republik. In: Richard Faber/Hajo Funke/Gerhard Schoenberner (Hg.), Rechtsextremismus. Ideologie und Gewalt, Berlin 1995, S. 52–69. 69 Wolfgang Kraushaar, Extremismus der Mitte. Zur Logik einer Paradoxie. In: Leonhard Fuest/Jörg Löffler (Hg.), Diskurse des Extremen. Über Extremismus und Radikalität in Theorie, Literatur und Medien, Würzburg 2005, S. 13–22, hier 14 f. 70 Joachim Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin 1995, S. 8. 71 Ebd., S. 161 (Hervorhebung im Original). 72 Ebd., S. 161. 73 Ebd., S. 162. 74 Ebd., S. 165, 168.

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sition Hirschs der Marcuses. Das folgende Zitat Hirschs stellt eine präzise Zusammenfassung von Marcuses Position dar: Der Totalitarismus des Wettbewerbsstaates ist „vor allem dadurch charakterisiert, dass er die bestehenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse erfolgreich als unveränderlich erklärt [...]. Die Freiheitsbedrohung resultiert nicht vorrangig aus staatlichem Zwang, sondern daraus, dass die Möglichkeit einer gesellschaftsgestaltenden und -verändernden Praxis schon aus dem Bewusstsein der Menschen ausradiert wird.“75 Stärker als Marcuse rückt Hirsch eine ökonomische Sichtweise in den Vordergrund, wenn von der Globalisierung des Kapitals die Rede ist, und stärker als bei ihm kommt die Labilität des „zivilgesellschaftlichen Totalitarismus“ zur Sprache. Die Einwände gegen die Formel vom „Extremismus der Mitte“ gelten erst recht für die These vom „Totalitarismus der Mitte“. Die gängige Begriffstypologie wird auf den Kopf gestellt. Schließlich besteht dabei nicht die Möglichkeit, dem Vorwurf des Totalitarismus zu entgehen. Wer den „Extremismus der Mitte“ verwandte, machte diesen immerhin an konkreten Tatbeständen fest (wie fremdenfeindlichen Ausschreitungen oder Wählerstimmen für Rechtsaußenparteien). Der Begriff vom „Totalitarismus der Mitte“ immunisiert sich hingegen vor jeglicher Kritik. In einem anderen Sinn ist der Terminus jedoch treffend, wenn es etwa darum geht, die Denkstruktur Marcuses einzufangen. Denn Marcuse zielt mit schneidender Schärfe auf das Zentrum, die gesellschaftliche Mitte, deren Bewusstsein als „eindimensional“, als totalitär gilt.

8.

Zusammenfassung

„Marcuse hat die eigentümliche Verschlingung der Produktivität des wirtschaftlichen Wachstums mit der Destruktivität seiner gesellschaftlichen Folgen in beschwörend-totalisierenden Begriffen erfasst – mit Begriffen, die uns fremd geworden sind. Er hat seine Diagnose zum Bild einer totalitär geschlossenen Gesellschaft verdichtet, weil er meinte, ein Vokabular einführen zu müssen, das abgestumpfte Augen für gar nicht mehr wahrgenommene Phänomene erst öffnet, indem es die scheinbar vertrauten Phänomene in grelles Gegenlicht taucht.“76 Mit dieser These verfolgt Habermas ein doppeltes Anliegen: Zum einen will er abrücken von der verqueren Terminologie Marcuses, wie sie in der Verwendung des Wortes „totalitär“ für westliche Gesellschaften zum Ausdruck kommt, zum anderen sucht er dessen Position als im Kern tragfähig hinzustellen. Die Kulturkritik Marcuses hat aber weder Missstände richtig diagnostiziert (tatsächlich waren die westlichen Gesellschaften nie „repressiv“ und „gleichgeschaltet“) noch geeignete Therapien zu deren Behebung entfaltet (die Hinwei75 Ebd., S. 167. 76 So Jürgen Habermas, Die verschiedenen Rhythmen von Philosophie und Politik. Herbert Marcuse zum 100. Geburtstag. In: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a. M. 1998, S. 232–239, hier 238.

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se auf nicht integrierte Geächtete wirkten wenig überzeugend). Insofern geht die „stillgelegte Wirkungsgeschichte des Philosophen Herbert Marcuse“77 auch auf die zunehmend selbst von dessen einstigen Anhängern als anachronistisch empfundene Ideologie zurück. Marcuses Charakterisierung der modernen Industriegesellschaft im Sinne von totalitär ist abwegig. Der „Eindimensionale Mensch“ hat zwar große Beachtung gefunden, doch führten die Kernaussagen in ihrer Pauschalität in die Irre. Seine weit umspannende Kulturkritik, die überall totalitäre Züge ausmachte, ist ihrerseits nicht frei von solchen. Denn immer wieder sah sich Marcuse genötigt, die als repressiv empfundene Toleranz zugunsten einer „befreienden Toleranz“ aufzukündigen. Solche Aussagen dürften Leszek Kolakowski bei seinem deutlichen Wort vom „Ideologe[n| des Obskurantismus“78 vor Augen gestanden haben. Ungeachtet von Marcuses Warnungen vor dem „Anti-Intellektualismus“79 der radikalen Studentenbewegung trat er vielen Irrationalismen und Gewaltphantasien der Neuen Linken nicht entschieden genug gegenüber. Dies bedeutet nun aber keineswegs, ihn dafür verantwortlich zu machen, dass etwa Andreas Baader sich bei seiner Verteidigung vor Gericht auf ihn berufen hat.80 Allerdings votierte Marcuse nicht klar – ohne Vorbehalte – gegen Gewaltanwendung in demokratischen Verfassungsstaaten, allenfalls in strategischer Form, nie in prinzipieller.81 Auch mit seinen Studien zum Nationalsozialismus und zum Kommunismus kann sich Marcuse, anders als Repräsentanten der „Frankfurter Schule“ wie Franz Neumann, nicht in die Ahnengalerie der Totalitarismustheoretiker einreihen. Der bekannte Aufsatz über den „Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“ sieht den Nationalsozialismus als einen Bestandteil des Liberalismus, und das weniger bekannte Buch über die kommunistische Sowjetunion ist zwar keine Apologie, doch weicht der Verfasser bei der Frage nach dem totalitären Grad des Sowjetsystems aus. Marcuse hat sich nicht auf das Totalitarismuskonzept eingelassen, es weder verteidigt noch intensiv kritisiert. Und er konnte sich bis zu seinem Tode niemals dazu durchringen, die freiheitliche Ordnung als das System zu betrachten, das bei allen Mängeln den Menschen am ehesten die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und zur Verhinderung einer totalitären Diktatur bietet. Sein eschatologisches Ideal von einer herrschaftsfreien Gesellschaft versperrte ihm eine solche Konsequenz, nicht jedoch den Zugang zu pathetischen Worten wie denen von der „Großen Weigerung“ und vom „befriedeten Dasein“. 77 78 79 80

Ebd., S. 238. Kolakowski, Hauptströmungen, S. 457. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, S. 149. Vgl. Sara Hakemi/Thomas Hecken, Die Warenhausbrandstifter. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Band 1, Hamburg 2006, S. 316–331, hier 327 f. 81 Vgl. für Einzelheiten Susanne Kailitz, Frankfurter Schule, Studentenbewegung und RAF. Analyse am Beispiel der Gewaltfrage, Wiesbaden 2007.

Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse

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Es besteht kein Anlass, Marcuse als vergessenen Totalitarismustheoretiker (wieder) zu entdecken, wohl aber genügend Grund, totalitären Strukturen in seinem Denken nachzugehen. Dieses oszilliert zwischen utopischen Verheißungen und katastrophischen Szenarien. Sozialwissenschaftliche Forschung ist immer zeitgebunden. Wer 40 Jahre nach Marcuses spektakulären Auftritten an deutschen Universitäten auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung seine Sichtweise nüchtern prüft, kommt zum Ergebnis, dass der Fundamentalkritiker des „Spätkapitalismus“ ein besonders enges Bündnis mit dem Zeitgeist eingegangen war.

Die demokratische Linke und die Umwälzung 1989/90. Zur Bedeutung von Totalitarismustheorien in der deutschen Sozialdemokratie Bernd Faulenbach

I.

Zur Fragestellung

Die Umwälzung 1989/90 hat nahezu die gesamte deutsche Gesellschaft, auch die politischen Führungsgruppen überrascht. Praktisch alle politischen „Lager“ hatten Schwierigkeiten, ihre Position zu den revolutionären Prozessen zu bestimmen und angemessene Politikkonzepte zu entwickeln. In besonderer Weise gilt dies für die Linke. Dabei meine ich nicht die kommunistische Linke, für die eine Welt zusammenbrach, sondern die demokratische Linke, d. h. die deutsche Sozialdemokratie und ihre intellektuellen Umfelder. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Schwierigkeiten der Sozialdemokratie 1989/90 – wie z. B. Brigitte Seebacher meint1 – spezifische Ursachen hat. Zu beleuchten sind dabei im Hinblick auf die Sozialdemokratie – ihre Beurteilung der nationalen Frage und des Nationalstaates, – ihr Verhältnis zu Kommunismus und SED, – ihre Beurteilung von Totalitarismus, Spättotalitarismus und Posttotalitarismus. Insbesondere gilt es zu klären, inwieweit für die sozialdemokratische Politik der ausgehenden 80er Jahre antitotalitäre Prinzipien (noch) leitend waren. Dass die Sozialdemokratie eine Partei mit verschiedenen Strömungen war und sich auch mit verändernden, teilweise auch konkurrierenden Stimmen vernehmen ließ, sei hier bereits angemerkt. Wir kommen deshalb in diesem Rahmen nicht umhin, zu typisieren und zu vereinfachen.

1

Vgl. Brigitte Seebacher-Brandt, Die Linke und die Einheit, Berlin 1991. Seebacher sieht Ursachen für die Schwierigkeiten der Sozialdemokratie 1989/90, sich auf die neue Konstellation einzustellen in den Traditionen der Linken in Deutschland.

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II.

Bernd Faulenbach

Zum Antitotalitarismus der deutschen Sozialdemokratie

Bereits in der Weimarer Zeit war die deutsche Sozialdemokratie theoretischprogrammatisch wie praktisch-politisch eine antitotalitäre Partei. Zwar wurde die Demokratie teilweise – etwa im Heidelberger Programm – noch als das geeignete Mittel gesehen, um das Eigentliche, den Sozialismus zu realisieren, auf den vermeintlich letztlich die Geschichte zulief.2 Doch zugleich wurde doch die Demokratie auch schon als Selbstzweck gesehen, was auch in der sozialdemokratischen Haltung zur Weimarer Republik zum Ausdruck kam: sie war nicht nur die bedeutendste politische Kraft, die die Republik 1918/19 prägte, sie war es auch, die am Ende nahezu als einzige Partei – abgesehen vom Zentrum, dessen Haltung freilich zunehmend ambivalent war – die Republik verteidigte. Dieses sozialdemokratische Engagement für die Republik von Weimar fand sein Pendant in der sozialdemokratischen Auseinandersetzung mit den Feinden der Republik auf der Rechten wie auf der Linken. Bemerkenswerterweise wandten sich Sozialdemokraten gegen die nationalistische Rechte wie gegen die bolschewistische Linke und begannen, Affinitäten zwischen der Rechten und der Linken festzustellen: nicht nur im Kampf gegen die Demokratie, sondern auch in ihren totalitären Politikbegriffen und Staatsverständnissen. In Reden wichtiger Sozialdemokraten wurden zunehmend Parallelen zwischen Moskau und Rom, zwischen Sowjets und Faschisten, zwischen Stalin und Mussolini gezogen. Karl Kautsky, Rudolf Breitscheid oder Otto Wels lassen sich geradezu als Antizipatoren einer – im Einzelnen gewiss noch nicht sehr elaborierten – Totalitarismustheorie bezeichnen: im Herrschaftssystem der Sowjetunion und des faschistischen Italien sahen sie Parallelen, wobei Demokratie als normativer Hintergrund fungierte.3 In der Endphase der Republik kämpfte die Sozialdemokratie zusammen mit dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und mit der Eisernen Front für die Erhaltung der Demokratie und gegen NSDAP und KPD, die das Dritte Reich bzw. Sowjetdeutschland realisieren wollten. Die antitotalitäre Stoßrichtung wurde in Widerstand und Emigration – trotz zeitweiligen Engagements von emigrierten Sozialdemokraten im französischen Exil für eine Volksfront – nicht aufgegeben, sondern verstärkte sich. Die Moskauer Säuberungen und Schauprozesse 1937 wurden von Sozialdemokraten heftig kritisiert, was umgekehrt aus der Sicht von KPD und Komintern Ausweis der fortdauernden Feindschaft der Sozialdemokraten war, die wie die Trotzkis2

3

Im Heidelberger Programm heißt es: „Die demokratische Republik ist der günstigste Boden für die Befreiung der Arbeiterklasse und damit für die Verwirklichung des Sozialismus. Deshalb schützt die Sozialdemokratische Partei die Republik und tritt für ihren Ausbau ein.“ Zit. nach Wilhelm Mommsen (Hg.), Deutsche Parteiprogramme, 3. Auflage München 1960, S. 464. Das Programm ist abgedruckt auf S. 463–469. Vgl. dazu Jürgen Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeption 1917–1933, München 1992; Bernd Faulenbach, Zur Rolle von Totalitarismus- und Sozialfaschismus„Theorien“ im Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Weimarer Republik. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004, S. 98–110.

Die demokratische Linke und die Umwälzung 1989/90

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ten, mit denen sie angeblich im Bunde standen, zu bekämpfen waren.4 Der Hitler-Stalin-Pakt verstärkte den Gegensatz. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedenfalls dominierte in der deutschen Sozialdemokratie eine klare antitotalitäre Orientierung. Zwar gab es bei größeren Teilen der Sozialdemokratie zunächst den Wunsch, die Spaltung der Arbeiterbewegung rückgängig zu machen.5 Doch wurden von Anfang an Demokratie und Sozialismus als sich gegenseitig bedingend begriffen. Hinzu kamen die konkreten Erfahrungen mit der KPD in der SBZ: die mit Mitteln des Zwangs und der Täuschung durch KPD und Besatzungsmacht durchgesetzte Vereinigung von SPD und KPD zur SED und die rasch einsetzende Verfolgung von Sozialdemokraten, die die Vereinigung ablehnten oder auch nur ihre sozialdemokratische Identität wahren wollten.6 Sozialdemokraten wurden in der SBZ und in der DDR in Formen verfolgt, die an die NS-Zeit erinnerten. Auf diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Sozialdemokraten in den Westzonen und in der Bundesrepublik unter Kurt Schumacher, doch auch unter seinem Nachfolger Erich Ollenhauer nicht nur das Erbe der NS-Diktatur aufarbeiten wollten, sondern auch die Entwicklungen und Verhältnisse in der SBZ/DDR scharf ablehnten.7 Keine Frage, dass die Sozialdemokratie der 50er und 60er Jahre zu den Hauptträgern der Totalitarismus-Kritik im politischen Raum gehörten. Zu erinnern ist in diesem Kontext u. a. an das Ostbüro der SPD, doch auch an zahllose Reden von Sozialdemokraten, die sich gegen „den Totalitarismus“ des 20. Jahrhunderts wandten.8 Dieser Antitotalitarismus war in seinen Formen vom Kalten Krieg mitbestimmt, besaß aber prinzipienhafte Züge. Stärker als in der Weimarer Zeit wurden in der Sozialdemokratie der Nachkriegsepoche die individuellen Freiheitsrechte betont, was u. a. im Godesberger Programm von 1959 deutlich wird. In den „Grundforderungen für eine menschenwürdige Gesellschaft“ heißt es: „Wir streiten für die Demokratie. Sie muss die allgemeine Staats- und Lebensordnung werden, weil sie allein Ausdruck der Achtung vor der Würde des Menschen und seiner Eigenverantwortung ist. Wir 4 5

6

7 8

Vgl. dazu Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939. Bonn 1999, S. 862 f., 1054 ff., 1068; siehe ferner Reinhard Müller, Herbert Wehner – Moskau 1937, Hamburg 2004, S. 72 ff. Vgl. dazu Helga Grebing, Probleme einer Neubestimmung demokratisch-sozialistischer Politik nach 1945. In: Bernd Faulenbach/Heinrich Potthoff (Hg.), Sozialdemokraten und Kommunisten nach Nationalsozialismus und Krieg. Zur historischen Einordnung der Zwangsvereinigung, Essen 1998, S. 55–68. Vgl. dazu Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996; Beatrix W. Bouvier/Horst-Peter Schulz (Hg.), „... die SPD aber aufgehört hat zu existieren“. Sozialdemokraten unter sowjetischer Besatzung, Bonn 1991. Vgl. dazu Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation deutscher Sozialdemokraten 1945 bis 1965, Neuauflage Bonn 1996. Vgl. Wolfgang Buschfort, Das Ostbüro der SPD. Von der Gründung bis zur Berlin-Krise, München 1991; ders., Das Ostbüro der SPD 1946–1981. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1992) B 21, S. 23–32.

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widerstehen jeder Diktatur, jeder Art totalitärer und autoritärer Herrschaft; denn diese missachten die Würde des Menschen, vernichten seine Freiheit und zerstören das Recht.“

III.

Die „neue Ostpolitik“ als Aufgabe des Anti-Totalitarismus?

Die neue Ostpolitik ist nach dem Bau der Mauer in einem längeren Prozess – vornehmlich von Willy Brandt, Egon Bahr u. a. entwickelt worden – durch das Konzept „Wandel durch Annäherung“ und die „Politik der kleinen Schritte“ in Berlin.9 Die Sozialdemokraten setzten in der Großen Koalition ihr Konzept nur teilweise durch; dominiert hat es die bundesdeutsche Politik seit Regierungsantritt der SPD-FDP-Koalition unter Kanzler Willy Brandt 1969. Bedeutete diese Politik eine Abkehr vom Antitotalitarismus der Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit? Der Gegensatz zum kommunistischen System war durch die neue Ostpolitik keineswegs per se in Frage gestellt. Die neue Ostpolitik wurde zunächst flankiert durch ein von Richard Löwenthal formuliertes, vom Parteivorstand der SPD verabschiedetes Konzept, in dem der Gegensatz von Sozialdemokraten und Kommunisten – auch im Hinblick auf die linken Ränder der eigenen Partei, die KGruppen, doch auch die Öffentlichkeit erneut herausgestellt wurde.10 Hier wurde etwa der Grundsatz bekräftigt: „Das Bekenntnis zur rechtsstaatlichen Demokratie und geistigen Freiheit ist für die Sozialdemokratie unabdingbar.“11 Als entscheidender Gegensatz zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Politik galt der Gegensatz von Selbst- und Fremdbestimmung. Willy Brandt hob in einer Grundsatzrede anlässlich des 20. Todestages von Kurt Schumacher am 20. August 1972 hervor, dass die auswärtigen Beziehungen das eine und die Gegensätzlichkeit staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung das andere seien. Durch die Friedenspolitik würden die grundsätzlichen Gegensätze von Sozialdemokraten und Kommunisten nicht aufgehoben.12 9 Vgl. Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999, S. 31 ff.; Peter Bender, Neue Ostpolitik. Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1996; Diethelm Prowe, Die Anfänge der Brandtschen Ostpolitik in Berlin 1961 bis 1965. In: Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hg.), Aspekte der deutschen Außenpolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, S. 249–289; Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996. 10 Vgl. dazu Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt – Scheel, Stuttgart 1982. 11 Vgl. auch Brigitte Seebacher, Willy Brandt, München 2004, S. 224. 12 Die Rede Willy Brandts ist abgedruckt in: Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Band 4: Auf dem Weg nach vorn. Willy Brandt und die SPD 1947 – 1972, Bonn 2000, S. 480–515, insbes. 494: „Bei Verträgen mit kommunistisch regierten Staaten handelt es sich nicht um die Einebnung von Weltanschauungen und Gesellschaftssystemen; dies gilt ganz allgemein für unsere auswärtigen Beziehungen.“

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Gleichwohl bedeutete die neue Ostpolitik so etwas wie einen Strategiewechsel gegenüber den kommunistischen Systemen: – die prinzipiellen Gegensätze wurden in der konkreten Politik ausgeklammert, – es wurden Wege gesucht, um in bestimmten Politikfeldern gemeinsam voranzukommen, nicht zuletzt um menschliche Erleichterungen zu erreichen, – der status quo der Grenzen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges gezogen worden waren, wurde mit der Absicht anerkannt, sie durchlässig zu machen. Aufs Ganze gesehen wurde die konfrontative Auseinandersetzung durch eine differenziertere Auseinandersetzung ersetzt; de facto kam es zu einem „Zurückstufen“ der ideologischen Auseinandersetzung. Und nolens volens wurden die SU, die osteuropäischen Länder und auch das SED-Regime zunehmend zu Partnern, mit denen die Bundesrepublik verhandelte und Vereinbarungen abschloss. Gewiss blieben die Verhandlungen mit dem SED-Regime mühsam und schwierig. Auch trug u. a. das Grenzregime der DDR dazu bei, dass die Distanz beträchtlich blieb. Doch begann sich das Klima zwischen der Bundesrepublik und der DDR – ungeachtet mancher Rückschläge – zu verändern. Um die Vertragspolitik nicht zu gefährden, wurde über den Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur von Seiten der sozial-liberalen Bundesregierung und der sie tragenden Parteien weniger demonstrativ gesprochen, dafür aber umso mehr von der Opposition, die die Vertragspolitik bekämpfte. So wurde die Beurteilung zum Gegenstand des Streites zwischen Regierung und Opposition, bei dem es bald nicht mehr vorrangig um die Beurteilung der DDR, sondern um Gegensätze in der Bundesrepublik ging, die ideologisch überhöht wurden.13 Allerdings versuchten Teile der Jusos und der Linken – mehr oder weniger demonstrativ – die Distanz zu kommunistischen Organisationen, zur DDR und der SED-Jugendorganisation FDJ zu verringern, zum einen, weil sie sich als Protagonisten der Ost-West-Entspannung betrachteten, zum anderen aber auch, da ihnen der Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus angesichts der Erfahrungen des Vietnam-Krieges und des gewaltsamen Sturzes des chilenischen Präsidenten Allende Vorrang zu haben schien.14 Für Teile der innerparteilichen Linken, insbesondere der Jusos, verlor auf diesem Hintergrund der sozialdemokratische Gegensatz zu den Kommunisten an Bedeutung, manche sahen es auch als ihre Aufgabe an, den Antikommunismus der Nachkriegszeit in Frage zu stellen. Allerdings wurde trotz mancher schriller Töne bei den Jusos auch von ihnen die DDR mit dem SED-System durchweg nicht als Alternative zur Bundesrepublik gesehen, sie diente allenfalls als Projektionsfläche eigener Wünsche, was freilich bei manchen – etwa bei der Stamokap-Richtung – zu einer unkritischen Sicht des SED-Systems führte. Manche sahen im SED-System „einen real13 Zur Auseinandersetzung über die Ostverträge vgl. Potthoff, Im Schatten der Mauer, S. 104 ff. 14 Vgl. dazu Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt? In: AfS, 44 (2004), S. 1–37, hier 24 ff.; Dietmar Süß, Die Enkel auf den Barrikaden. Jungsozialisten in der SPD in den Siebzigerjahren. In: ebd., S. 67–103.

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sozialistischen Pfahl im kapitalistischen Fleische“ und verschlossen deshalb die Augen vor der konkreten Diktatur und ihrer Folgen für die Menschen.15 Die Sozialdemokratie als Ganze – so lässt sich im Hinblick auf die 70er Jahre konstatieren – hat weiterhin die hinter dem Grundgesetz stehenden Werte uneingeschränkt bejaht, was wohl auch überwiegend für die innerparteiliche Linke gilt – trotz mancher radikaler Juso-Theorie und -Rhetorik, die die Jusos zu Erben der Studentenbewegung machte; sie tendierten dazu, mit dem Kapitalismus auch die liberalen Werte gering zu schätzen. Gewandelt hat sich im Zeichen der Entspannungspolitik gewiss das Verhältnis der Sozialdemokratie zu den realsozialistischen Systemen, nicht jedoch der eigene Wertehorizont, der demokratisch und damit letztlich antitotalitär blieb. Allerdings schienen sich die realsozialistischen Diktaturen zu Systemen zu wandeln, deren totalitäre Züge sich zunehmend abschwächten. Ein Teil der Politikwissenschaft – etwa Peter Christian Ludz und seine Schule – stützte diese Einschätzung.16 Auf dem Hintergrund der veränderten Einschätzung des SEDSystems schien es bald auch Sinn zu machen, etwa auf gewerkschaftlicher Ebene Kontakte in der DDR zu pflegen, obgleich die Funktion der Gewerkschaften in der DDR eine ganze andere blieb als die der Gewerkschaften in der Bundesrepublik.

IV.

Die 80er Jahre: NS-Regime und SED-Regime aus der Sicht der Sozialdemokratie

Die CDU/FDP-Koalition setzte nach 1982 die deutsch-deutsche Politik der sozial-liberalen Koalition bei kaum veränderter Semantik fort.17 Von der gesamten westdeutschen Politik wurde das SED-Regime – ungeachtet der aus westdeutscher Sicht fragwürdigen Legitimation – als Partner anerkannt. Treffen mit der politischen Führung in Ostberlin schienen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit Pluspunkte zu bedeuten. Es war Helmut Kohl, der als Bundeskanzler 1987 Erich Honecker in Bonn mit fast allen Ehren eines Staatsoberhauptes emp15 Vgl. Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD: Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 271 (Zitat). 16 Vgl. Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, 3. Auflage Opladen 1970. Bernd Faulenbach, Die DDR als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In: Jens Hüttmann/Ulrich Mählert/Peer Pasternack (Hg.), DDR-Geschichte vermitteln. Ansätze und Erfahrungen in Unterricht, Hochschullehre und politischer Bildung, Berlin 2004, S. 65–79, hier 68 ff. (darin auch weitere Literatur zur Debatte über die Positionen von Ludz). 17 Vgl. dazu Heinrich Potthoff, Die „Koalition“ der Vernunft. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995; ders., In den Fußstapfen der sozial-liberalen Deutschlandpolitik. Realität und Anspruch der CDU-Deutschlandpolitik unter Kanzler Kohl. In: Die Partei hatte immer recht – Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur. Hg. von Bernd Faulenbach, Markus Meckel und Hermann Weber, Essen 1994, S. 165–188.

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fing. Obgleich die Menschenrechte keineswegs durchgängig garantiert waren, Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet war, Gewaltenteilung fehlte, gewöhnte man sich im Westen an das Regime in der DDR, versuchte sich mit ihm zu arrangieren, hoffte auch, es zu zivilisieren. Dabei verblasste das Bild der DDR als eines totalitären Staates, obgleich etwa das Grenzregime stets daran erinnerte, dass man es nicht mit einem „normalen“ Staat zu tun hatte. Dass dieses Bild der DDR für die Sozialdemokratie, doch keineswegs nur für sie seit den 70er Jahren sie in den Hintergrund rückte, war u. a. auf folgende Faktoren zurückzuführen: 1. Offener Terror war in der DDR tatsächlich seit den 60er Jahren weniger praktiziert worden, an seine Stelle waren subtilere Methoden der stark ausgebauten Staatssicherheit getreten, mit denen die Kontrolle der Gesellschaft sichergestellt werden sollte. 2. In den 80er Jahren kam es zu einer weiteren Intensivierung der Verhandlungen und zu Vertragsabschlüssen mit der DDR, auch zur Gewährung von Kreditabschlüssen, eingefädelt durch den lange Zeit besonders exponiert antikommunistischen CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß. Für die Sozialdemokratie war die Fortführung der Vertragspolitik selbstverständlich, die SPD versuchte sich durch Gespräche mit der SED auf Parteiebene zu fördern. Alle Bonner Parteien waren – trotz guter Kontakte der SPD in den kirchlichen Raum der DDR – mehr oder weniger auf die SED fixiert und unterschätzten die Entstehung und Entwicklung der Oppositionsgruppen. 3. Das Bild der totalitären Diktatur wurde zunehmend durch Hitler-Deutschland bestimmt, wobei dieses totalitäre Regime dadurch definiert war, dass es darüber entschied, wer Lebensrecht auf dieser Welt hatte oder nicht. „Totalitarismus“ im Sinne einer umfassenden Kontrolle der Gesellschaft durch konsequente Durchorganisierung der Gesellschaft und Intimidation der Menschen trat demgegenüber in den Hintergrund. Der Juden-Genozid galt seit dem Historikerstreit als der „Zivilisationsbruch“ des 20. Jahrhunderts18. Etwas Vergleichbares bot das SED-Regime nicht. Überhaupt wurde – wie etwa der Historikerstreit 1986/87 zeigte19 – von vielen Historikern die Vergleichbarkeit von NS-System und kommunistischen Systemen mehr oder weniger bestritten. Auf diesem Hintergrund wurde die Totalitarismus-Theorie für viele fragwürdig. In Teilen der linksliberalen Öffentlichkeit schwand nicht nur der traditionelle Antikommunismus; vielmehr wurde mancherorts – insbesondere an den Universitäten – ein dezidierter Anti-Antikommunismus vorherrschend, der eine gewisse Tendenz enthielt, die repressive Dimension des SED-Systems auszublenden. 18 Vgl. Dan Diner, Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: ders. (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M. 1987, S. 185–197. 19 „Historikerstreit“. Die Dokumentation um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987.

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Die Sozialdemokratie versuchte nach 1982 in einer „zweiten Phase der Ostpolitik“, die seit 1990 viel Kritik gefunden hat, die bisherige deutsch-deutsche Politik auf Parteiebene weiterzuführen, wobei man insbesondere Vorschläge zur Sicherheitspolitik, etwa zur Schaffung einer chemiewaffenfreien Zone, zu erarbeiten versuchte.20 Generell war das Verhältnis zur SED für die Sozialdemokraten in den 80er Jahren durch Gesichtspunkte der Sicherheitspolitik dominiert; man war in der Sozialdemokratie dieser Jahre von dem Gedanken erfüllt, die Entspannungspolitik auf das Feld der Sicherheitspolitik zu übertragen, um die Gefahren des Wettrüstens, die durch die Nachrüstung sich verschärft zu haben schienen, zu mindern.21 Eine deutsch-deutsche Verantwortungsgemeinschaft wurde proklamiert – über die Systemgrenzen hinweg. Selbstverständlich war den sozialdemokratischen Akteuren klar, dass die DDR keine Demokratie mit Gewaltenteilung und kein Rechtsstaat war. Der Häftlingsfreikauf, von dem alle wussten, warf ein spezifisches Licht auf das Regime.22 Auch der Wunsch vieler Menschen in der DDR, diesen deutschen Staat zu verlassen, war offenkundig. Und doch hofften die Sozialdemokraten, die SED durch ein Netz von Vereinbarungen zivilisieren zu können. Sie wollten, zumal nach dem Machtantritt Gorbatschows, die Reformkräfte in der DDR stärken.23 Auf diesem Hintergrund ist etwa das von der Grundwertekommission der BRD auf der einen Seite und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR aus der anderen Seite in einem 1984 beginnenden längeren Gesprächsprozess ausgehandelte und von der SPD- und der SED-Führung verabschiedete Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ (1987) zu sehen, in dem zwar die Gegensätze in Grundsatzfragen nicht zugedeckt, doch die Entwicklung einer Streitkultur über ideologische Fragen verabredet wurde, was für die SED u. a. bedeutete, dass sie sich bereit erklären musste, auch in der DDR eine offene Willensbildung über ideologische Fragen zuzulassen.24 Es ent20 Zur „zweiten Phase“ sozialdemokratischer Entspannungspolitik siehe Klaus Moseleit, Die „zweite Phase“ der Entspannungspolitik der SPD 1983–1989. Eine Analyse ihrer Entstehungsgeschichte, Entwicklung und konzeptionellen Ansätze, Frankfurt a. M. 1991. Kritische Auseinandersetzung mit dieser „zweiten Phase“ bei Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1983, S. 457 ff.; vgl. auch Dieter Dowe (Hg.), Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982–1989, Bonn 1993. 21 Vgl. dazu Bernd Faulenbach, Zur Beurteilung der Bonner Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. In: Günter Verheugen (Hg.), Rück-Sicht auf Deutschland. Beiträge zur Geschichte der DDR und zur Deutschlandpolitik der SPD, Bonn 1993, S. 18–23. 22 Zum Häftlingsfreikauf vgl. Ludwig Geissel, Unterhändler der Menschlichkeit. Erinnerungen, Stuttgart 1991; Ludwig Rehlinger, Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963–1989, Berlin 1991. 23 Vgl. Peter Bender, Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 1996, S. 118 ff. und195 ff. 24 Vgl. dazu Potthoff, Im Schatten der Mauer, S. 263 ff.; Susanne Miller, Die Gespräche der Grundwertekommission der SPD mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und das „gemeinsame Papier“. Persönliche Bemerkungen zu ei-

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ging der SPD nicht, dass sich schon wenige Monate nach der Verabredung Kurt Hager das Papier in wesentlichen Teilen dementierte. Die Praxis der SED konterkarierte die Intentionen des Papiers ebenfalls: Verschärfte Repression, Willkür und Dialogverweigerung beherrschten wieder das Klima in der DDR. Erhard Epplers Rede zum 17. Juni 1989 fasste die Erfahrungen der SPD zusammen: Eppler u. a. zweifelten an der Reformfähigkeit der SED.25 Und im Herbst erhoben sich Stimmen, die eine neue Distanz zum SED-System forderten. Norbert Gansel etwa postulierte – auch auf Attacken von CDU-Generalsekretär Rühe reagierend – „Wandel durch Abstand“. Doch die Mehrheit im SPD-Vorstand, nicht zuletzt Egon Bahr, hielten im Herbst 1989 – gefangen in den seit den 70er Jahren herausgebildeten Politikmustern – an der bisherigen Politik gegenüber der SED fest.26 Aufs Ganze wird man sagen können, dass es in der Sozialdemokratie der 80er Jahre eine starke Tendenz gab, die DDR vorrangig als sicherheitspolitischen Partner zu sehen. Dieser Perspektive wurden andere Gesichtspunkte deutlich nachgeordnet, was u. a. dazu führte, dass ungeachtet der Persistenz der Geltung sozialdemokratischer Grundauffassungen die Schattenseiten des SEDSystems eher selten benannt und von der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik vielleicht auch zu wenig wahrgenommen wurden. Hinzu kam eine etatistische Verengung des Politikbegriffs, die dazu beitrug, die Oppositionsbewegung auf der einen Seite und die Legitimationskrise des Regimes auf der anderen Seite zu wenig wahrzunehmen.27 Erst unter dem Eindruck der Flucht von DDR-Bürgern in die ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, generell der Ausreiseproblematik, dann auch der Demonstrationen im Herbst 1989 begann die westdeutsche Öffentlichkeit – und mit ihr auch die Parteien, keineswegs nur die Sozialdemokratie – die Verhältnisse in der DDR, die teilweise ausgeblendet worden waren, kritisch zu betrachten. nem umstrittenen Thema. In: Karsten Rudolph/Christl Wickert (Hg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. Festschrift für Helga Grebing, S. 354– 368; Thomas Meyer, Das SPD/SED-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Intentionen, Hintergründe, Wirkungen. In: Rück-Sicht auf Deutschland, S. 24–29; Dowe (Hg.), Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD, S. 57 ff. 25 Vgl. die Rede Erhard Epplers am 17. 6.1989 im Deutschen Bundestag, abgedruckt in: Erhard Eppler, Reden auf die Republik. Deutschlandpolitische Texte 1952–1990, München 1990, S. 31–47; vgl. auch Erhard Eppler, Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren, Frankfurt a. M. 1996, S. 173 ff. 26 Vgl. dazu jetzt Daniel Friedrich Stumm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Diss. Bonn 2005. Dazu auch Bernd Faulenbach, Die friedliche Revolution in der DDR als Herausforderung der Deutschlandpolitik der Parteien in Bonn. Dokumentation einer Ringvorlesung des Instituts für Deutschlandforschung der Ruhr-Universität Bochum im Sommer-Semester 1999, Bochum 1999, S. 24–42. 27 Vgl. dazu die retrospektive Sicht Egon Bahrs, die durchaus selbstkritische Elemente enthält. Egon Bahr, Zu meiner Zeit, 2. Auflage München 1996, S. 525 ff. und 570 ff.; Dowe (Hg.), Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982–1989, S. 11 ff. und 79 ff.

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V.

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Wie die gesamte deutsche Öffentlichkeit, übrigens auch die Wissenschaftler, haben auch die Sozialdemokraten die Stabilität der DDR überschätzt, wobei sie davon ausgingen, dass letztlich die Sowjetunion das SED-System garantieren würde. Andererseits bot Gorbatschows Politik die Hoffnung, dass auch in der DDR Reformer und Reformen sich durchsetzen würden. Die Reformfähigkeit des Systems wurde – so kann retrospektiv konstatiert werden – überschätzt. Dass westliche Politik jedoch versuchte, das System zu verändern, wenn man es – wovon man ausging – angesichts der Machtverhältnisse, d. h. der Hegemonie der Sowjetunion über Osteuropa einschließlich der DDR nicht abschaffen konnte – erscheint auch aus retrospektiver Sicht keineswegs abwegig. Und es ist mehr als fraglich, ob eine konfrontative Strategie früher zu einem Ende des SED-Systems geführt hätte; vieles spricht dafür, dass eher das Gegenteil der Fall war. Durch die „neue Ostpolitik“ und den KSZE-Prozess wurde jedenfalls der Erosionsprozess kommunistischer Herrschaft gefördert.28 Es lässt sich die paradoxe These wagen, dass die Annahme der Wandlungsfähigkeit des SED-Systems, die auf zu optimistischen Einschätzungen basierte, eine der Voraussetzungen für die Überwindung der kommunistischen Systeme war. Dass die Sozialdemokraten zunächst – wie übrigens auch die Mehrzahl der Bürgerrechtler – 1989 glaubten, die DDR werde einen Dritten Weg einschlagen, ist auf dem Hintergrund der Gesamtsituation verständlich.29 Keine Frage, dass die Sozialdemokratie durchgängig eine Demokratisierung der DDR im Herbst 1989 begrüßte und diese dann auch zu fördern suchte. Meinungsunterschiede innerhalb der Sozialdemokratie bildeten sich in dieser Zeit vorrangig in der nationalen Frage heraus, anfangs auch im Hinblick auf die Frage, inwieweit die SED und dann die SED / PDS noch als Gesprächspartner zu begreifen sei.30 Drei Positionen lassen sich unterscheiden: 1) Die Position der Einheitsbefürworter. Willy Brandt war ihr herausragender Repräsentant. Brandt – mit dessen Namen die neue Ostpolitik verbunden war, die auf ein geregeltes Nebeneinander der beiden deutschen Staaten bei Annahme der Fortdauer einer gemeinsamen Nation hinauslief – ließ schon im November 1989 keinen Zweifel daran, dass aus seiner Sicht die Teilung nun überwunden werden konnte. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen28 Vgl. Garton Ash, Im Namen Europas, S. 189 ff., 261 ff. 29 Zum vieldeutigen Begriff „dritter Weg“ vgl. Eckhard Jesse, Dritter Weg. In: Werner Weidenfeld/Karl Rudolf Korte (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt a. M. 1992, S. 252–259. Zur Opposition in der DDR und ihren Konzepten vgl. Eberhard Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999. 30 Vgl. dazu Wolfgang Jäger in Zusammenarbeit mit Michael Walter, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozess der Vereinigung 1989/90, Stuttgart 1998, S. 141 ff.; Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90; Faulenbach, Die friedliche Revolution in der DDR als Herausforderung der Parteien in Bonn.

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gehört“, sagte er nach dem Fall der Mauer. Und wie er dachten andere Sozialdemokraten, insbesondere aus den älteren Jahrgängen, etwa Klaus von Dohnanyi,31 bei den jüngeren allerdings nur eine Minderheit. Hans-Jochen Vogel tendierte ebenfalls zu dieser Position, benannte sie indes nicht so deutlich wie Willy Brandt, wobei wohl auch das Ziel eine Rolle spielte, die auseinanderdriftende Partei zu integrieren. Ähnliches gilt für Johannes Rau, der sehr gute Kontakte in den Bereich der Evangelischen Kirche in der DDR hatte. Und auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke publizierte bereits am 20. November einen deutschlandpolitischen Stufenplan unter dem Titel „Das erreichbare Maß an Einheit verwirklichen“, ein Plan, der manche Gemeinsamkeiten mit Helmut Kohls eine gute Woche später vorgestelltes 10-Punkte-Programm aufwies. Ehmke war freilich im Grunde ein Repräsentant der dritten Position. 2) Die Position der modifizierten Zweistaatlichkeit. Oskar Lafontaine, den man damals zu den „Enkeln“ Brandts rechnete, dachte im Herbst 1989 in den Kategorien der Zweistaatlichkeit. Und wie er hielten viele Sozialdemokraten, insbesondere der 68er Generation, die nationale Einheit für überholt; ihr Ziel war die Überwindung des nationalen Denkens in Europa, das für sie mehr war als ein Europa der Vaterländer (wobei sie sich über die Bedeutung des nationalen Gedankens in Europa teilweise täuschten). Ihr Bild der DDR war nicht in dem Maße wie das der älteren Generation durch den Ost-West-Konflikt geprägt; in gewisser Weise war ihnen die DDR fremd – letztlich ein ziemlich fernes Land. Für Freiheit in der DDR plädierten 1989/90 auch diese Sozialdemokraten, doch wollten sie nicht die Einheit mit der Freiheit verbinden. Lafontaine u. a. setzten – zumindest im Herbst ’89 – das Staatsbewusstein der Bundesrepublik gegen das Nationalbewusstsein. Andere wie Peter Glotz und Günter Grass sahen in der Zweistaatlichkeit eine notwendige Konsequenz der deutschen Geschichte angesichts der NS-Politik und ihrer einzigartigen Verbrechen.32 Bei ihnen machte sich die Dominanz der NS-Vergangenheit bemerkbar, unter der die SED-Diktatur geradezu verschwand. Für Grass erschien sie – trotz des von ihm nicht in Abrede gestellten Unrechts – im Vergleich zum Dritten Reich als „kommode Diktatur“.33 Allerdings gab es in der Sozialdemokratie und ihren Umfeldern – jedenfalls in der Öffentlichkeit – kaum eine Absage an die Vereinigung, motiviert von der Absicht, die DDR als sozialistische Alternative zu erhalten, eher schon – jedenfalls bei

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Vgl. dazu Klaus von Dohnanyi, Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre, München 1990. 32 Vgl. dazu die Reden von Günter Grass und Peter Glotz auf dem SPD-Bundesparteitag in Berlin im Dezember 1989. In: Protokoll vom Programmparteitag Berlin 18.– 20.12.1989, Bonn o. J., S. 150 ff. und 158 ff. 33 Vgl. Günter Grass, Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot. Reden und Gespräche, Frankfurt a. M. 1990.

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manchen Linksliberalen – eine Verteidigung der Verwestlichung der Bundesrepublik gegen einen fragwürdigen neuen „deutschen Weg“.34 3) Die Position der Pragmatiker: Viele Sozialdemokraten bewegten sich zwischen den beiden genannten Positionen, suchten sie zu verbinden oder pragmatische Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Ein Entwurf, der von HansUlrich Klose ausgearbeitet worden war und von Björn Engholm, Anke Fuchs und Johannes Rau unterstützt wurde, sah die deutsche Einheit als „notwendigen Zwischenschritt“ auf dem Weg zur Neuordnung Europas. Die Vertreter dieser Linie versuchten den dissonanten Chor auf eine gemeinsame Melodie einzustimmen. Die hier skizzierten Positionen tauchten auch im Laufe des Jahres im Kontext der Diskussion über den Einigungsvertrag wieder auf. Die Differenzierung resultierte aus unterschiedlichen Einschätzungen der deutschen Frage, weniger der DDR, die durchweg als nicht erhaltenswert erschien. Von den Meinungsverschiedenheiten nicht eigentlich tangiert war eine prinzipienhaft demokratische Position, die eine antitotalitäre Grundeinstellung zur Konsequenz hatte. Die Sozialdemokratie betonte verstärkt, dass sie sich stets gegen jede Diktatur gewandt und im Kampf gegen die NS- wie die SED-Diktatur große Opfer gebracht hatte. Ein dezidierter Antitotalitarismus wurde auch von der in der DDR neugegründeten sozialdemokratischen Partei vertreten.35

VI.

Die Wiedergründung der Sozialdemokratie in der DDR und ihre Bedeutung für die deutsche Sozialdemokratie

Im Herbst 1989 wurde in der DDR die Sozialdemokratie als eigene Partei – unabhängig von der Sozialdemokratie in der Bundesrepublik – wiedergegründet, ein Vorgang, der die bundesdeutsche Sozialdemokratie überraschte, doch bald mit Sympathien begleitet und auch unterstützt wurde. Ende der achtziger Jahre hegten – glaubt man verschiedenen Berichten – Menschen unabhängig voneinander die Idee, dass die Sozialdemokratie in der DDR wieder gegründet werden sollte und seit August 1989 schritt ein kleiner Kreis durch die Veröffentlichung eines Gründungsaufrufs zur Tat.36 Unübersehbar meldete sich hier die 34 Vgl. z. B. Jürgen Kocka, Nur keinen neuen Sonderweg. Jedes Stück Entwestlichung wäre als Preis für die deutsche Einheit zu hoch. In: Die Zeit vom 19.10.1990, S. 11. Wieder abgedruckt in: Jürgen Kocka, Interventionen. Der Historiker in der öffentlichen Verantwortung, Göttingen 2001, S. 68–77. 35 Vgl. dazu Martin Gutzeit/Stephan Hilsberg, Die SDP/SPD im Herbst 1989. In: Eberhard Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 607–686. 36 Zur Gründung der SDP siehe Markus Meckel/Martin Gutzeit, Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierte Quellentexte, Köln 1994, S. 349 ff.; Markus Meckel, Die Forderung nach Grundrechten und die Umwälzung 1989. In: Bernd Faulenbach/Heinrich Potthoff (Hg.), Die Revolution 1849/49 und die Tradition der sozialen Demokratie in Deutschland, Essen 1999, S. 81–100, insbes. 98 ff.; His-

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antitotalitäre Tradition der Sozialdemokratie wieder zu Wort. Man wollte Demokratie und soziale Gerechtigkeit gegen das SED-System durchsetzen. Schon im Entwurf des Gründungsaufrufs von Martin Gutzeit und Markus Meckel, der im Mai 1989 entstand, stehen die klaren Sätze: „Wir leben unter Bedingungen des angemaßten, geschichtsmetaphysisch begründeten Macht- und Wahrheitsanspruchs einer Partei, die diesen Anspruch institutionell in Staat und Gesellschaft zementiert hat und sich durch ihre Ideologie legitimiert glaubt, alle ihre möglichen Mittel einzusetzen, um diese Situation zu perpetuieren, obgleich sie ideologisch, politisch, wirtschaftlich und ökologisch in weiten Bereichen abgewirtschaftet hat. Ohne ausdrückliche Bestreitung ihres Macht- und Wahrheitsanspruchs und seiner Begründungen, d. h. der geistigen Grundlagen des Stalinismus, hat eine demokratische Reform keine Aussicht auf Erfolg.“37

Mit diesen beiden komprimierten Sätzen wurde das SED-System samt seiner ideellen Grundlagen und seines Totalitätsanspruchs prinzipiell in Frage gestellt. Auch die positiven Ziele des Aufrufs – uneingeschränkte Geltung der Menschenund Bürgerrechte, Gewaltenteilung, parlamentarische Demokratie usw. – zielten nicht mehr nur auf eine Reform, sondern auf die Abschaffung des SED-Systems. Schon die Idee der Gründung einer sozialdemokratischen Partei – nicht einer Bürgergruppe, sondern einer Organisation mit dem Ziel des Machterwerbs und der Durchsetzung politischer Ziele – wurde von der bereits geschwächten SED als ungleich größere Gefahr begriffen als die Herausbildung von Bürgergruppen.38 Die SDP-Gründung hatte auf der einen Seite die Entstehung und Entwicklung der Oppositionsbewegung der 80er Jahre zur Voraussetzung und blieb auch mit dieser zunächst – teilweise auch noch mit einigen Ideen – verbunden, ging aber doch in ihren Zielen darüber hinaus und übte – trotz ihrer anfangs stark protestantischen Einfärbung – auch auf Menschen in der DDR eine Anziehungskraft aus, die habituell oder aus anderen Gründen den Oppositionsgruppen ferner standen. Ungeachtet der Verbindung mit den Bürgerrechtsgruppen griff sie die sozialdemokratische Tradition auf und begann sich schrittweise auch organisatorisch zu „sozialdemokratisieren“, d. h. an sozialdemokratischen Organisationsmodellen zu orientieren.

torische Kommission beim Parteivorstand der SPD (Hg.), Von der SDP zur SPD, Bonn 1994; Wolfgang Herzberg/Patrick zur Mühlen (Hg.), Auf den Anfang kommt es an. Interviews und Analysen, Bonn 1993; Gutzeit/Hilsberg, Die SDP/SPD im Herbst 1989; Konrad Jarausch, „Die notwendige Demokratisierung unseres Landes“ – Die Rolle der SDP im Herbst 1989. In: Bernd Faulenbach/Heinrich Potthoff (Hg.), Die deutsche Sozialdemokratie und die Umwälzung 1989/90, Essen 2001, S. 52–68. 37 Zit. nach Gutzeit/Hilsberg, Die SDP/SPD im Herbst 1989, S. 615. Zur Bedeutung der Bürgerrechte im Prozess der Gründung der SPD siehe auch Markus Meckel, Die Forderung nach Grundrechten und die Umwälzung 1989. In: Faulenbach/Potthoff (Hg.), Revolution, S. 91–100. 38 Vgl. Jarausch, „Die notwendige Demokratisierung unseres Landes“ – Die Rolle der SDP im Herbst 1989.

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Die programmatischen Grundsätze der neuen Partei waren unverkennbar sozialdemokratisch geprägt. Sie spiegelten Grundpositionen der deutschen Sozialdemokratie, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatten und im Godesberger Programm manifest wurden. Bezüge zur älteren sozialdemokratischen Tradition gab es demgegenüber zunächst gar nicht. Erst nach 1990 begann man, die ältere Geschichte der Sozialdemokratie sich wieder anzueignen. Schon im Gründungsdokument von Schwante gibt es charakteristische Ideen der neueren Sozialdemokratie wie ein Bekenntnis zum weltanschaulichen Pluralismus, die Definition der Partei als „demokratische Volkspartei“, „die für alle Schichten der Bevölkerung offen ist“, das Eintreten für „parlamentarische Demokratie und Parteienpluralität“, für Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, für eine gemischte Wirtschaftsstruktur mit unterschiedlichen Eigentumsformen, Kontrolle „unvermeidlicher Monopole“ etc.39 Hier ist die Geschichte dieser Neugründung nicht wiederzugeben. Zweifellos hat sie geholfen, die Opposition politikfähig zu machen. Sie trug wesentlich zur De-Legitimation des SED-Systems bei, „indem sie“ – wie Konrad Jarausch formuliert hat – „einen freiheitlichen Umgang mit den Emanzipationshoffnungen der Arbeiterbewegung einklagte“.40 Heinrich Potthoff urteilt: „Die Gründung der SDP durch die kleine Schar von Aufrechten ist ein Markstein in der langen wechselvollen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie als Anwalt von Freiheit und Bürgerrecht.“41 Was die Frage der deutschen Einheit angeht, so ging auch die Sozialdemokratie in der DDR zunächst – wie alle anderen Oppositionsgruppen und die westdeutschen Parteien – im Oktober 1989 von einer relativ festen Zweistaatlichkeit aus. Der Name SDP signalisierte, dass die Sozialdemokratie in der DDR auch auf ihre Unterscheidung von der West-SPD Wert legte. Allerdings begann sie früher als diese, sich mit der Frage der deutschen Einheit zu beschäftigen. Wie für die meisten Ostdeutschen war auch für die Sozialdemokratie in der DDR die deutsche Frage letztlich nicht erledigt. Und schon im Dezember 1989 sprach sie sich für die deutsche Einheit aus, wobei der Vorstand freilich Wert darauf legte, dass Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe geführt und die Modalitäten der Vereinigung die Interessen der Menschen in der DDR gewahrt sein sollten.42 Dass dies hinreichend geschehen ist, mag man bezweifeln; allerdings 39 Das Statut der Sozialdemokratischen Partei in der DDR – SDP ist in der in Schwante verabschiedeten Fassung abgedruckt bei Gutzeit/Hilsberg, Die SDP/SPD im Herbst 1989, S. 681 f. 40 Jarausch, „Die notwendige Demokratisierung unseres Landes“ – Die Rolle der SDP im Herbst 1989, S. 66. 41 Heinrich Potthof/Susanne Miller, Kleine Geschichte der SPD 1848 – 2002, 8. Auflage Bonn 2002, S. 335. 42 Vgl. Erklärung der SDP zur deutschen Frage. Vom Vorstand verabschiedete Fassung. Berlin 3.12.1989, abgedruckt im Anhang bei Gutzeit / Hilsberg, Die SDP / SPD im Herbst 1989, S. 683 f.

Die demokratische Linke und die Umwälzung 1989/90

391

war eine gewisse Asymmetrie im Vereinigungsprozess zwangsläufig, da die Geschichte der DDR in einer Sackgasse geendet hatte.

VII. Die Beurteilung der DDR nach 1990 Aufs Ganze gesehen trübte sich das Bild der DDR 1989/90 auf dem Hintergrund des Aufbegehrens der Massen gegen das SED-System und seinen Sturz, auch unter dem Eindruck des Endes der DDR und des nun zunehmend sichtbar gemachten gewaltigen repressiven Apparates der DDR eindeutig ein. An der kritischen Auseinandersetzung mit dem SED-System beteiligten sich Sozialdemokraten auf vielfältige Weise. Es waren Sozialdemokraten wie Friedrich Schorlemmer und Wolfgang Thierse, die für Tribunale zu einer systematischeren Auseinandersetzung mit dem SED-System plädierten. Dem von dem Sozialdemokraten Markus Meckel in die Öffentlichkeit gebrachte Vorschlag, eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der SEDDiktatur und ihrer Folgen einzurichten, folgte der Bundestag.43 Die Kontroversen bei der Aufarbeitung verliefen in der Praxis nur teilweise entlang der parteipolitischen Gegensätze und hatten mehr die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik als den Charakter der SED-Diktatur zum Gegenstand. Es gab keine in jeder Hinsicht einheitliche Sicht, mit der die Sozialdemokraten die DDR und das SED-System betrachteten. Allerdings wurden nun die stalinistische Periode des SED-Systems, vor allem auch die Verfolgung von Sozialdemokraten in der SBZ/DDR wieder verstärkt bewusst und Gegenstand der Erinnerungsarbeit in der SPD. So meldeten sich auch frühere Häftlinge mit sozialdemokratischem Hintergrund zu Wort und kritisierten, dass die Öffentlichkeit, auch die Sozialdemokratie, sie und ihre Erfahrungen seit den 70er Jahren zunehmend ignoriert hätten. Die Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten begann, die Stalinismus-Verfolgten in ihre Arbeit einzubeziehen.44 Aufs Ganze gesehen hat die Sozialdemokratie im Hinblick auf die Konkurrenz der Opfergruppen der verschiedenen Diktaturen ausgleichend gewirkt.

43 Vgl. Bernd Faulenbach, Die Auseinandersetzung mit der doppelten Vergangenheit im Deutschen Bundestag. In: Martin Sabrow (Hg.), Grenzen der Vereinigung. Die geteilte Vergangenheit im geeinten Deutschland, Leipzig 1999, S. 35–54. 44 Vgl. Susanne Miller, So würde ich noch einmal leben. Erinnerungen, Bonn 2005, S. 200 f.

392

Bernd Faulenbach

VIII. Schlussresümee Abschließend seien die Ergebnis noch einmal knapp zusammengefasst. 1) Die Sozialdemokratie gehörte stets zu den prinzipienhaften Befürwortern der Demokratie. Sozialismus und Demokratie wurden schon in der Weimarer Zeit, verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg in engstem Zusammenhang gesehen. Nach 1945 trat der Sozialismus-Begriff tendenziell hinter dem der Demokratie zurück, der der dominante wurde. Sozialismus galt als konsequente Demokratie. 2) In der Sozialdemokratie der Weimarer Zeit wurde die Totalitarismus-Theorie (in einem weiteren Sinne) geradezu antizipiert. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten Sozialdemokraten zu den Anhängern von Totalitarismus-Theorien. Allerdings blieben die Debatten über den TotalitarismusBegriff seit den 60er Jahren nicht folgenlos in den intellektuellen Umfeldern der SPD; in ihnen wurden die Unterschiede zwischen dem NS-System und den kommunistischen Systemen zunehmend betont. 3) Der Gegensatz zur kommunistischen Welt wurde stets als prinzipieller gesehen, doch wurde er während der 70er Jahre weniger stark akzentuiert, um ein geregeltes Nebeneinander der beiden deutschen Staaten zu erreichen, und in den 80er Jahren teilweise überdeckt durch die Dominanz sicherheitspolitischen Denkens, dessen Bemühen um blockübergreifende, konkret deutsch-deutsche Sicherheitspartnerschaft als Konsequenz der Entspannungspolitik begriffen wurde. Im deutsch-deutschen Verhältnis schien die begriffliche Polarität von Demokratie und Totalitarismus durch eine Politik der pragmatischen Zusammenarbeit obsolet zu werden. 4) Die Differenzen innerhalb der Sozialdemokratie resultierten 1989/90 weniger aus einer unterschiedlichen Beurteilung des SED-Systems, als vielmehr der deutschen Frage. Nach kurzer Orientierungskrise begannen Sozialdemokraten, die Vereinigung mitzugestalten. Daran hatten die Sozialdemokraten aus der bisherigen DDR, die mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden waren, einen beträchtlichen Anteil. Sie erneuerten das Selbstverständnis der Sozialdemokratie als Anwältin von Freiheit und Bürgerrechten, das zeitweilig sich abgeschwächt hatte.

Anhang

Abkürzungsverzeichnis AAU AdsD AFL AfS APuZ ASR

Allgemeine Arbeiter-Union Archiv der sozialen Demokratie American Federation of Labour Archiv für Sozialgeschichte Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeiter- und Soldaten-Rat

BA BO BRD BzG

Bundesarchiv Betriebsorganisation Bundesrepublik Deutschland Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung

CDU/CDUD CIA CSU

Christlich-Demokratische Union (Deutschlands) Central Intelligence Agency Christlich-Soziale Union

DA DDR DGB DNVP

Deutschland Archiv Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsch-Nationale Volkspartei

e. V. EVG

eingetragener Verein Europäische Verteidigungsgemeinschaft

FAZ FDJ FDP

Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei

Gestapo GS GSA GULag

Geheime Staatspolizei Gesammelte Schriften German Studies Association Glavnoe upravlenie lagerej NKVD/MVD (Staatliche Verwaltung der Lager des NKVD/MVD)

HAIT

Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung

IISG/IISH

Internationales Institut für Soziale Geschichte (Amsterdam) Internationale Kommunisten Deutschlands Internationale Pressekorrespondenz Internationaler Sozialistischer Kampfbund Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung

IKD Inprekorr ISK IWK Juso

Jungsozialist

396

Anhang

KAPD KdF KI Komintern KP KPD KPdSU/KPSU KPO KPÖ KSZE KW KZ

Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands Kraft durch Freude Kommunistische Internationale Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei-Opposition Kommunistische Partei Österreichs Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kommentierte Werkausgabe Konzentrationslager

LDP

Liberal-Demokratische Partei (Deutschlands)

MA MAD Mass. MEW MSPD

Magisterarbeit Manuscript and Archives Division Massachusetts Marx-Engels-Werke Mehrheits-SPD

Nazi NBlS ND NDPD NEP / NÖP NL NPD NS NSDAP NWDR NY NYPL

Nationalsozialist Neue Blätter für den Sozialismus Neues Deutschland National-Demokratische Partei Deutschlands Neue Ökonomische Politik Nachlass Nationale Partei Deutschlands Nationalsozialismus Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Nordwestdeutscher Rundfunk New York New York Public Library

Org OSS

Organisation Office of Strategic Services

PDS POUM PV PVS

Partei des Demokratischen Sozialismus Partido Obrero de Unification Marxista Parteivorstand Politische Vierteljahresschrift

RAF

Rote Armee Fraktion

SächsHStAD SächsStAL SAI SAP

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Sozialistische Arbeiter-Internationale Sozialistische Arbeiterpartei (Deutschlands)

Abkürzungsverzeichnis SAPMO-BArch SBZ SDP SDS SED SED-BPA SMAD SOPADE SPD SPD-BV SPÖ SS Tscheka

397

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR Sowjetische Besatzungszone Deutschlands Sozialdemokratische Partei der DDR Sozialistischer Deutscher Studentenbund Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED-Bezirksparteiarchiv Sowjetische Militäradministration in Deutschland Exil-Vorstand der SPD 1933–1945 Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD-Bezirksvorstand Sozialistische Partei Österreichs Schutzstaffel

TU

Črezvyčajnaja komissija bor’by s kontrrevoljuciej i sabotaža ([Allrussische] außerordentliche Komission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage) Technische Universität

UdSSR/USSR US USA USPD/USP

Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken United States United States of America Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

VfZ

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

YIVO, OT

YIVO Institute for Jewish Research, New York

ZA ZK

Zentralausschuss Zentralkomitee

Personenverzeichnis Seitenangaben mit Stern beziehen sich auf eine Fußnote.

Abramowitsch, Raphael 62, 69, 70, 121, 123, 128 Adams, John 335 Adenauer, Konrad 159 Adler, Fritz 127 Adler, Max 61 Adorno, Theodor W. 200, 229, 232, 241–246, 358 Albrecht, Stephan 21 Albrecht, Willy 25, 249, 250 Amendola, Giovanni 9 Arendt, Hannah 31, 72, 151, 205, 206, 230*, 245, 347, 355 Aristoteles 195 Aron, Raymond 355 Aufhäuser, Siegfried 308 Augustinus 299* Axelrod, Pavel 57, 59, 69 Baade, Fritz 313 Baader, Andreas 374 Backes, Uwe 24, 25, 99* Bahr, Egon 380, 385 Barclay, David 325 Bauer, Otto 15, 60, 61, 63, 69, 88 Bebel, August 162, 297 Behring, Rainer 22 Bernfeld, Siegfried 177 Bernstein, Eduard 10, 12, 13, 31, 32, 50, 57, 292 Besier, Gerhard 22 Bismarck, Otto von 88 Blachstein, Peter 17* Bloch, Ernst 199 Blum, Léon 143, 144 Bluntschli, Johann Caspar 336* Boas, Franz 199 Boenheim, Felix 199 Borkenau, Franz 22, 177–192, 330, 341, 355 Bracher, Karl Dietrich 355 Brandler, Heinrich 124, 179, 203*

Brandt, Willy 159, 307, 309, 312, 319, 321*, 330, 380, 386, 387 Brauer, Max 158* Braun, Otto 104 Breitscheid, Rudolf 53, 128–130, 255, 378 Broch, Hermann 100, 101 Brodjo, Eva 121 Brüning, Heinrich 111, 114, 182 Brzezinski, Zbigniew 135, 136, 219, 230*, 236, 240, 245 Bucharin, Nikolaj 60, 74, 124 Castro, Fidel 353, 368 Chamberlain, Arthur Neville 144, 195, 198 Chamberlain, Houston Stewart 97 Che Guevara, Ernesto 368 Chomsky, Noam 196* Chruschtschow, Nikita 348 Clarkson, Jesse 194, 200 Condorcet, Nicolas de 335 Cripps, Stafford 297 Crispien, Artur 76, 123 Cromwell, Oliver 347 Cunow, Heinrich 251 Dahrendorf, Gustav 260, 263 Daladier, Édouard 195, 198 Dalin, David 121, 123 Damaschke, Adolf 97 Dan, Fedor (Theodor) 61, 62, 69– 71, 73, 77, 121, 123 Decker, Georg (eigentl. Denicke, Georg Jury) 15, 72, 121, 129 Denicke, Georg Jury (siehe Decker, Georg) Dimitroff, Georgi 179 Diogenes 302 Djindjic, Zoran 361 Dodd, Martha 191 Dohnanyi, Klaus von 387 Dostojewski, Fjodor M. 98

400 Dowe, Dieter 25 Drury, Betty 201 Duncker, Hermann 207* Dutschke, Rudi 368 Ebert, Carl 313 Ebert, Friedrich 44–46, 74, 124, 209, 226 Eck, Thomas (Pseudonym für Muhle, Hans) Eckert, Georg 284 Ehmke, Horst 387 Eichhorn, Emil 46 Eichler, Willi 284–286, 297–299 Einstein, Albert 91 Engels, Friedrich 10, 11, 15, 49, 88, 89, 92, 151 Engholm Björn 388 Eppler, Erhard 385 Faulenbach, Bernd 21, 24, 73 Fechner, Max 260 Fellisch, Alfred 267* Fichte, Johann Gottlieb 88, 89, 303 Fichter, Tilman 24, 25 Fischer, Benno 79 Fischer, Louis 177* Fischer, Ruth 202 Foitzik, Jan 317 Forsthoff, Ernst 234, 267 Fraenkel, Ernst 19, 24, 205, 327– 354 Frank, Karl 339 Freisler, Roland 334 Freud, Sigmund 231, 234, 358 Freyer, Hans 366 Friedländer, Otto 286 Friedrich II. von Hohenstaufen 288, 291* Friedrich II. von Preußen 303 Friedrich, Carl Joachim 9, 135, 136, 189, 206, 219, 224, 230*, 236, 240, 245, 293, 355 Fritze, Lothar 15* Frölich, Paul 29*, 36 Fromm, Erich 22, 233–235 Fuchs, Anke 388 Fuhrmann, Horst 368

Anhang

Gansel, Norbert 385 Garwy, Peter 62 Geck, Oskar 71* Geiger, Theodor 371 George, Stefan 287 Gerstel-Rühle, Alice 207 Geyer, Curt Theodor 17, 22, 135– 160, 267, 280, 342 Geyer, Florian (Pseudonym für Muhle, Hans) Gide, André 177* Gideonse, Harry D. 201, 202 Glazer, Nathan 196 Gobineau, Joseph Arthur de 88 Goebbels, Joseph 255 Goethe, Johann Wolfgang von 299* Gorbatschow, Michail 151*, 349, 384, 386 Göring, Hermann 174 Grass, Günter 387 Grebing, Helga 323 Grimme, Adolf 288, 289, 292, 294, 296 Groh, Dieter 50 Gross, Felix 195 Grossmann, Henryk 200 Grotewohl, Otto 260, 261, 263, 267* Grzesinski, Albert 158* Gsell, Silvio 97 Gurian, Waldemar 355 Gutzeit, Martin 389 Habermas, Jürgen 359, 361, 373 Hager, Kurt 385 Harpprecht, Klaus 320 Haubach, Theodor 110, 111, 115, 117 Häupel, Beate 10, 65, 66 Hauth, Emil 71* Hayek, Friedrich A. 175 Hayes, Carlton J. H. 218, 219 Heckert, Fritz 126 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 88, 231, 295, 303, 357, 358 Heidegger, Martin 357 Heidenreich, Walter 25

Personenverzeichnis Heimann, Eduard 12, 21, 22, 103, 109, 112, 113, 161–175 Heimann, Siegfried 23 Heine, Fritz 315 Heller, Hermann 12, 21, 66, 83– 102, 116, 117, 331 Helmbrecht, Martin 114 Henderson, Neville 198 Hennig, Arno 283–305 Herf, Jeffrey 273, 274, 281 Herrmann, Friedrich Georg 206*, 222 Hertz, Paul 318 Hilferding, Rudolf 17, 22, 72, 127, 135–160 Hindenburg, Paul von 182 Hinze, Paul von 52 Hipler, Wendel (Pseudonym für Muhle, Hans) Hirsch, Joachim 372, 373 Hirschfeld, Otto 193 Hitler, Adolf 17, 19, 22, 23, 63, 64, 67, 72, 84, 97, 130, 131, 137, 138, 140–145, 147–155, 159, 174, 182, 184, 188–190, 191*, 194–196, 199, 200, 202, 205, 208, 213–215, 217– 219, 221–224, 226, 231, 236, 256*, 271–274, 308, 313, 317, 321, 332, 333, 341–343, 351, 379, 383 Hobbes, Thomas 303 Hoegner, Wilhelm 260* Holborn, Hajo 194 Holz, Hans Heinz 369 Honecker, Erich 382 Horkheimer, Max 22, 200, 229, 231–236, 241, 245, 358, 361 Horthy, Miklós 15, 59, 76, 254*, 256*, 340 Howard, Elisabeth 318 Huth, Th. 71* Jabotinsky, Ze’ev 197, 198 Jacoby, Henry 206 Jansen, Peter-Erwin 359 Jarausch, Konrad 390 Jaurès, Jean 32 Jay, Martin 358 Jesse, Eckhard 24, 30

401

Jochmann, Werner 325 Jones, William David 10, 189 Kaledin, Alexej M. 40 Kampffmeyer, Paul 122, 123 Kantorowicz, Alfred 200, 324 Kautsky, Benedikt 67, 270 Kautsky, Gerda 68 Kautsky, Karl 10, 12–16, 18, 20, 21, 30, 36, 41, 43, 49–69, 75–77, 122, 123, 127, 146, 150*, 162, 183, 195, 209, 216, 226, 254, 292, 378 Kautsky, Luise 68 Kegel, Claudia 25 Kerenski, Alexander F. 40 Keßler, Mario 22 Kinner, Klaus 125 Kirchheimer, Otto 232, 236, 237, 246, 358, 367 Klatt, Fritz 165 Klemperer, Victor 326 Klose, Hans-Ulrich 388 Klotz, Peter 387 Klotzbach, Kurt 249 Knoeringen, Waldemar von 285, 330 Koellreutter, Otto 234 Koestler, Arthur 177*, 186 Kohl, Helmut 382, 387 Kolakowski, Leszek 29, 66, 370, 374 Konfuzius 299* Korsch, Karl 219, 220* Kraushaar, Wolfgang 18 Kroch, Ernesto 49 Kühnl, Reinhard 17 Lafontaine, Oskar 387 Langhammer, Saskia 25 Lassalle, Ferdinand 89, 251, 267 Lederer, Emil 162 Lehmann, Christine 25 Lenin, Wladimir Iljitsch 11, 13–16, 18, 21, 30, 31, 38, 39–41, 43, 47, 54–56, 62, 63, 89, 90, 113, 121, 127, 137, 168–170, 184, 187, 208, 210, 213, 215–218, 223, 276, 288,

402 292, 294, 311, 312, 325, 332, 339, 348, 363, 369 Leo, Heinrich 336* Levi, Paul 40, 46, 52, 60, 208, 209, 210*, 311 Liebig, André 70, 72 Liebknecht, Karl 43, 206, 357 Linz, Juan 136 Lipset, Seymour Martin 371 Lorenz, Konrad 91 Lösche, Peter 50, 51, 249, 297 Löwe, Adolf (Adolph) 162, 174 Löwenheim, Walter 179, 330, 339 Löwenthal, Leo 328, 358 Löwenthal, Richard 17, 19, 20, 24, 177–179, 191, 205, 275, 280, 309, 310, 312, 327–354, 380 Lozek, Gerhard 12, 17, 18 Ludendorff, Erich 210 Ludz, Peter Christian 382 Lühe, Irmela von der 320 Lukacs, Georg 178 Luks, Leonid 73, 123 Luther, Martin 164, 235 Luxemburg, Rosa 11, 20, 29–47, 50, 52, 53, 203, 207, 216, 251, 357 Machiavelli, Niccolo 303 Maier, Emil 71* Man, Hendrik de 103 Mann, Erika 319–321 Mann, Heinrich 102 Mann, Thomas 313, 314, 319, 320 Mannheim, Karl 99, 100, 330 Mannzen, Walter 108 Manuil’skij, Dimitrij 178 Mao Zedong 29, 353 Marck, Siegfried 71 Marcuse, Herbert 17, 22, 24, 200, 233–235, 355–375 Marcuse, Peter 359 Martow, Julius 55, 57, 69, 70, 121 Maruhn, Jürgen 25 Marx, Karl 10, 11, 13, 15, 31, 49, 56, 65, 89, 90, 92, 113, 114, 151, 164, 166, 168, 172, 180, 183, 195, 203, 207, 213, 215, 223, 225, 231, 251, 292, 294, 295, 297, 299*,

Anhang 304, 357 Mathiez, Albert 195 Matthias, Erich 50 Mattick, Paul 216*, 219, 220* May, Walter 295, 296 Meckel, Markus 389, 391 Mellies, Wilhelm 284 Melman, Seymour 196, 197* Mende, Hans-Jürgen 18 Mengele, Josef 68 Mennicke, Carl 106 Merges, August 210* Mergner, Gottfried 206 Merseburger, Peter 249, 250 Merz, Kai-Uwe 67 Metzger, Ludwig 284, 285 Metzler, Georg (Pseudonym für Muhle, Hans) Meusel, Alfred 110 Meyer, Eduard 193 Mierendorff, Carlo 21, 108, 115, 117, 175 Moeller van den Bruck, Arthur 97 Mommsen, Hans 104, 105 Morgenthau, Hans 195 Morus, Thomas 299* Muhle, Hans 21, 111, 112 Müller, Hermann 139–141, 146, 153, 160, 267 Müller, Werner 20 Musik, Erna 68 Mussolini, Benito 15, 16, 21, 22, 59, 62, 65, 74–76, 93–97, 113, 127, 129, 184, 197, 213, 217, 222, 223, 254*, 256*, 288, 378 Napoleon III. 288 Nenni, Pietro 128 Nernst, Walther Hermann 92 Nettl, Peter 29* Neumann, Franz L. 23, 200, 205, 224, 236, 238–241, 246, 328, 329, 358, 374 Neumann, Sigmund 205, 230* Neureither, Ludwig (Pseudonym für Borkenau, Franz) 183, 186 Nikolaevsky, Boris 121 Nietzsche, Friedrich 303

Personenverzeichnis Nolte, Ernst 67, 223, 355 Noske, Gustav 74, 124 Occam, Rasoio di 303 Ollenhauer, Erich 158, 159, 259, 260, 269, 286–288, 298, 315, 379 Oppenheimer, Franz 162 Ortlieb, Heinz-Dietrich 162*, 165 Orwell, George 186, 189 Overi, Margret 311 Padua, Marsilius von 303 Papen, Franz von 114, 273 Pareto, Vilfredo 93, 184 Pfeiffer, Heinrich (Pseudonym für Muhle, Hans) Pfempfert, Franz 210 Pieck, Wilhelm 258, 270 Piłsudski, Josef 340 Pinthus, Kurt 200 Platon 195, 299* Plener, Ulla 250, 255*, 270, 271, 273 Plenge, Johann 251, 267 Pollack, Franz 177 Pollack, Rudolf 177 Pollock, Friedrich 178 Potthoff, Heinrich 250, 390 Prüfer, Guntram 294, 297 Pyta, Wolfram 105 Radbruch, Gustav 104, 350 Radek, Karl 57, 210, 252* Ragaz, Leonard 164 Rathenau, Walther 97, 162 Rathmann, August 104, 114, 165 Rau, Johannes 387, 388 Rauschning, Hermann 191, 337 Rawls, John 175 Reimann, Max 272* Remmele, Hermann 252 Reuter, Ernst 20, 23, 307–326 Reuter, Hanna 309 Rist, Walter (Pseudonym für Wiskow, Eberhard) Robespierre, Maximilien de 347 Robinton, Madeleine 194 Rocker, Rudolf 10, 12, 15, 16*

403

Röhn, Herbert (Pseudonym für Schifrin, Alexander) 71 Roosevelt, Franklin D. 225, 226, 227*, 332 Rosenberg, Arthur 22, 193–203, 220 Rosenberg, Hans 195, 203 Rosenfeld, Alice 199 Rousseau, Jean-Jacques 303, 359 Rudloff, Michael 21 Rühle, Otto 10, 12, 15, 17, 19, 22, 205–227 Rüstow, Walter 319 Salvadori, Massimo 64 Sapir, Boris 72 Scheer, Maximilian 324 Scheidemann, Philipp 44–46 Scheringer, Richard 110, 111 Scheuch, Erwin K. 353 Schiff, Victor 315 Schifrin, Alexander 12, 15, 16, 21, 66, 69–82, 118, 121, 129, 316 Schiller, Friedrich 249 Schlageter, Albert-Leo 252*, 253 Schmeitzner, Mike 22, 23 Schmeitzner, Nicole 25 Schmid, Carlo 20, 23, 283–305 Schmidt, Gabriele 25 Schmidt, Helmut 160, 346* Schmidt, Kurt 286, 295 Schmiechen-Ackermann, Detlef 136 Schmitt, Carl 182, 183, 234, 334 Schober, Volker 251, 253 Schöler, Uli 21, 121 Schoettle, Erwin 286, 298*, 330 Schorlemmer, Friedrich 391 Schöttler, Peter 191 Schröder, Gerhard 160 Schroeder, Louise 295, 316 Schulz, Klaus-Peter 286, 295 Schumacher, Kurt 20, 23, 25, 159, 249–281, 284, 289*, 292, 296– 298, 308, 309, 315, 316, 319, 323*, 325, 380 Schuman, Robert 278 Schwarz, Hans-Peter 250 Seebacher-Brandt, Brigitte 377

404 Seebohm, Hans-Christoph 324 Seeckt, Hans von 74, 124 Seger, Gerhart 158* Sering, Paul (Pseudonym für Löwenthal, Richard) 191, 309, 331 Seydewitz, Max 106 Simons, Hans 116, 117 Sinowjew, Grigorij 74, 124 Sinzheimer, Hugo 104, 328, 329 Smith, Adam 172 Sollmann, Wilhelm 104, 267, 286 Söllner, Alfons 10, 22 Sorel, George 21, 90, 93, 113, 288 Sorge, Richard 178 Souchy, Augustin 186 Spender, Stephen 177* Spengler, Oswald 192 Stalin, Josef (Iosif V. Džugašvili) 17, 19, 22, 23, 47, 61, 63, 64, 72, 123, 125, 126, 129, 131, 137, 139, 146, 148–152, 170, 184, 186–188, 196, 199, 207, 208, 211–216, 218, 219, 223*, 253, 256*, 261, 274, 313, 332, 341, 351, 363, 378, 379 Stammer, Otto 325 Stampfer, Friedrich 130, 143, 153, 156, 158, 159, 269 Stecklina, Gerd 209*, 215* Steenson, Gary P. 51*, 66 Stein, Alexander 52, 54, 55, 57 Strauß, Franz-Josef 383 Strecker, Reinhard 289, 291, 292 Sturzo, Luigi 9, 218* Suhr, Otto 295, 329 Talmon, Jacob 338 Tarnow, Fritz 308 Thalheimer, August 124, 179, 180, 203* Thierse, Wolfgang 391 Thomas, Wendelin 226, 227 Tietze, Peter 25 Tillich, Paul 103, 106, 113, 162, 163, 165, 174, 175 Tocqueville, Alexis de 338 Tolstoi, Leo 98

Anhang Tomsky, Michail 126 Toynbee, Arnold J. 192 Trotzki, Leo 13, 22, 41, 47, 54, 56, 57, 89, 187, 208, 214, 215, 288, 292 Turgot, M. 335 Ulbricht, Walter 258, 260, 271, 274 Varga, Eugen (Jenö) 178 Varga, Lucie 184 Viertel, Berthold 200 Voegelin, Eric 184, 355 Vogel, Hans 158, 259, 267 Vogel, Hans-Jochen 387 Vogt, Stefan 105, 118 Voigt, Frederick A. 191 Vollnhals, Clemens 10, 22, 25 Vranicki, Predrag 29 Wagner, Richard 88, 303 Wallenstein 249 Walter, Franz 249, 297 Weber, Alfred 162, 330 Weber, Hermann 126 Weber, Max 165, 238 Weiser, Gerhard 284 Weiß, Peter 324 Wels, Otto 76, 122, 123, 127, 128, 130, 255, 378 Wenzel, Otto 252 Werner, Max (Pseudonym für Schifrin, Alexander) 71 Wielepp, Christoph 25 Wiggershaus, Rolf 358 Wilamowitz-Möllendorff, Ulrich von 193 Winkler, Heinrich August 105 Wippermann, Wolfgang 10 Wiskow, Eberhard 111 Wiskow, Wolfgang 111* Wright, Richard 177* Zarusky, Jürgen 20, 122, 128 Zeigner, Erich 267* Zepler, Wally 75, 76

Autorenverzeichnis PD Dr. Stephan Albrecht, Politik- und Biowissenschaftler, wiss. Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt der Universität Hamburg. apl. Professor Dr. Uwe Backes, Politikwissenschaftler, stellv. Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Dr. Rainer Behring, Historiker, Lehrbeauftragter an der Universität Köln. Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier, Historiker, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Prof. Dr. Bernd Faulenbach, Historiker, Honorar-Professor an der Ruhr-Universität Bochum und stellv. Leiter des Forschungsinstituts Arbeit – Bildung – Partizipation e. V. Recklinghausen. PD Dr. Siegfried Heimann, Historiker, Privatdozent am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Prof. Dr. Eckhard Jesse, Politikwissenschaftler, Professor für Politische Systeme und Politische Institutionen an der TU Chemnitz. apl. Professor Dr. Mario Kessler, Historiker, wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Prof. Dr. Werner Müller, Historiker, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Rostock. Dr. Michael Rudloff, Historiker, Leiter der „Arbeitsgemeinschaft Staat und Gesellschaft e. V.“ für die neuen Bundesländer, Chemnitz. Dr. Mike Schmeitzner, Historiker, wiss. Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. PD Dr. Uli Schöler, Politikwissenschaftler, Privatdozent am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, Leiter der Abteilung Parlamentarische Beziehungen des Deutschen Bundestages. Prof. Dr. Alfons Söllner, Politikwissenschaftler, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Chemnitz. Dr. Clemens Vollnhals, Historiker, stellv. Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Dr. Jürgen Zarusky, Historiker, wiss. Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München.

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 33: Hans Jörg Schmidt / Petra Tallafuss (Hg.) Totalitarismus und Literatur Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung 2007. 208 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36909-8 Dieser Band untersucht Genese und Auswirkungen totalitärer Denkweisen in der deutschen Literatur der Zeit und fragt nach den Entstehungsbedingungen von Literatur im Totalitarismus, ihrer Wegbereiterrolle und der Bedeutung literarischer Agitation. Zensurmechanismen und Repressalien werden dabei ebenso behandelt wie Strategien zeitnahen Reagierens in Widerstand und Exil und Bewältigungsversuche nach dem »Neuanfang« 1945. Die Analysen werden ergänzt durch Fallstudien zu Werken von Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hermann Broch, Thomas Mann, Ernst Jünger, Christoph Hein und Christa Wolf.

32: Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals (Hg.) Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955 2006. 574 Seiten mit 18 Tab., 6 Abb. und 2 Karten, gebunden ISBN 978-3-525-36906-7 Dieser Band vergleicht erstmals systematisch die sowjetische Besatzungspolitik in Österreich und in Deutschland nach 1945.

Weshalb konnte Österreich seine staatliche Souveränität bewahren und 1955 den Abzug aller Besatzungstruppen erreichen, während Moskau im selben Jahr seine These von der Existenz zweier deutscher Staaten endgültig zementierte? Die Beiträge stellen die Gemeinsamkeiten der Instrumente und Maßnahmen der Besatzungsmacht dar und beleuchten darüber hinaus die fundamentalen Unterschiede in der Ausgangslage und der Besatzungssituation.

Band 31: Uwe Backes Politische Extreme Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 310 Seiten mit 12 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36908-1 In der abendländischen Tradition des Verfassungsstaats, deren ideengeschichtliche Wurzeln in die Antike zurückreichen, wurden die politischen Extreme als Inbegriff des unbedingt Abzulehnenden einer tugendhaften, Mäßigung verbürgenden Mitte gegenübergestellt. Die Begriffsgeschichte der politischen Extreme war mehr als zwei Jahrtausende lang eng mit der ethischen Mesoteslehre und der politischen Mischverfassungstheorie verknüpft. Erst im Zuge der Französischen Revolution verband sich die alte Gegenüberstellung von Mäßigung und Extremen mit der noch heute fortwirkenden geistig-politischen Geographie der Unterscheidung von Rechts und Links. Uwe Backes zeichnet diese Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart nach.

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 30: Babett Bauer Kontrolle und Repression Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971–1989. Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History 2006. 492 Seiten mit 2 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36907-4

Band 27: Frank Hirschinger »Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter« Kommunistische Parteisäuberungen in SachsenAnhalt 1918–1953 2005. 412 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36903-6

Staatliche Kontrolle und Repression in der DDR im Spiegel individueller Erfahrungen (1971–1989).

Die Tradition der Verfolgung: kommunistische Parteisäuberungen vor 1933 und nach 1945.

Band 29: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.) Gefährdungen der Freiheit

Band 26: Stefan Paul Werum Gewerkschaftlicher Niedergang im sozialistischen Aufbau

Extremistische Ideologien im Vergleich 2006. 592 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36905-0 Politikwissenschaftler, Historiker und Soziologen untersuchen die ideologischen Inhalte und Strukturen in den Diskursen, Visionen, Programmen und propagandistischen Bemühungen extremistischer Organisationen.

Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) 1945 bis 1953 2005. 861 Seiten mit 63 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-36902-9 Vom Gewerkschaftsbund zum Herrschaftsinstrument der SED.

Band 25: Thomas Widera Dresden 1945–1948

Band 28: Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hg.) Politische Religion und Religionspolitik

Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft 2004. 469 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36901-2

Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit 2005. 415 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36904-3

Band 24: Michael Richter Die Bildung des Freistaates Sachsen

Analysen europäischer und amerikanischer Strategien der Religionspolitik erklären Konfliktpotenziale und Chancen der Pluralisierung.

Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90 2004. 1184 Seiten mit 16 Abb., 8 Karten und einem Dokumententeil auf CD, gebunden ISBN 978-3-525-36900-5