Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie: BürgerInnen, Verfassung, Institutionen, Verbände [1 ed.] 9783205231851, 9783205231837

144 37 2MB

German Pages [337] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie: BürgerInnen, Verfassung, Institutionen, Verbände [1 ed.]
 9783205231851, 9783205231837

Citation preview

Reinhard Heinisch (Hg.)

Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie BürgerInnen, Verfassung, Institutionen, Verbände

Reinhard Heinisch (Hg.)

Kritisches Handbuch der ­österreichischen Demokratie BürgerInnen, Verfassung, Institutionen, Verbände

Böhlau Verlag wien köln weimar

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft Das Werk Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie ist ein Gemeinschaftsprojekt der ARGE Zukunft der Demokratie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft  ; zu ihren Mitgliedern zählen Tamara Ehs, Claudia Fahrenwald, Reinhard Heinisch, Tobias Hinterseer, Christoph Konrath, Stefan Vospernik, Roland Winkler, Mario Wintersteiger und Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; ­detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung  : © Parlamentsdirektion/Mike Ranz © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat  : Felicitas Sedlmair, Göttingen Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23185-1

Inhalt ao. Univ.-Prof. Dr. Klaus Poier, Universität Graz

Gedanken eines Begleiters dieses Buchprojekts . . . . . . . . . . . . . . .

  7

Reinhard Heinisch im Namen der Herausgeberinnen und Herausgeber

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  9

Reinhard Heinisch

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   11

GRUNDLAGEN Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

2. Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten . . . . . . . . . . . . .   27 Roland Winkler

3. Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung. . . . . . . . . .   63

GESELLSCHAFT UND BÜRGER/INNEN Tamara Ehs & Stefan Vospernik

4. Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen.. . . . . . . . . . . . . .   79 Claudia Fahrenwald

5. Demokratie(lernen) beginnt in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

6. Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs . . . . .

135

6

| 

Inhalt

INSTITUTIONEN Christoph Konrath

7. Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat  : Grundlagen und Ansprüche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Christoph Konrath

8. Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis . . . . . . . . . . .

203

Christoph Konrath

9. Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik. . . . . . . . . . . . .

257

Tobias Hinterseer

10. Sozialpartnerschaft und Verbändestaat  : Baustein oder Problem der Demokratie  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

11. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . .

331

ao. Univ.-Prof. Dr. Klaus Poier, Universität Graz

Gedanken eines Begleiters dieses Buchprojekts

Reinhard Heinisch und seinem Autorinnen- und Autorenteam aus der ARGE Zukunft der Demokratie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft ist mit diesem »Kritischen Handbuch der österreichischen Demokratie« ein besonderes Meisterwerk geglückt. Das vorliegende Buch ist nicht einfach ein weiteres gutes Buch mehr über die österreichische Demokratie, über Staat, Verfassung, Verwaltung, Parteien, Verbände etc., sondern es sticht aus drei Gründen ganz besonders hervor: Zum einen werden die wissenschaftlichen Früchte eines über sieben Jahre lang über die Fachgrenzen hinweg intensiv geführten Diskurses der interdiszi­ plinär zusammengesetzten Autorinnen- und Autorengruppe sichtbar. Während in der Regel in Österreich Rechts- und Politikwissenschaft getrennt nebeneinander betrieben werden und nur wenig wechselseitiger Austausch besteht, profitiert dieses Buch enorm von der gemeinsamen Untersuchung. Während die Methoden unterschiedlich sind, ist der Untersuchungsgegenstand ein und dieselbe Sache: Die verschiedenen Blicke, die aus den diversen Richtungen derart auf die österreichische Demokratie geworfen werden, ergeben mosaikhaft ein stimmiges Bild, vielschichtig, facettenreich und aussagekräftig. Besonders gut gelungen ist dieses Buch zum anderen auch deshalb, als es nicht nur Theorie der Demokratie, empirische Beschreibung oder kritische Auseinandersetzung bietet, sondern grundsätzlich und jeweils für die bearbeiteten Teil­ materien eine nachvollziehbare Verbindung dieser drei Elemente zuwege bringt. So folgen auf die Grundlagen praktische Beispiele sowie Reformüberlegungen, sodass ein äußerst guter Eindruck vermittelt wird, was in Bezug auf unsere Demo­kratie normativ sein soll, in der Realität ist und in der Zukunft sein könnte. Schließlich zeichnet sich das vorliegende Buch auch dadurch aus, dass es aufgrund der Vielschichtigkeit sowie der klaren Struktur und Sprache breit verwendbar ist. Es eignet sich hervorragend als Lehr- und Lerngrundlage, es richtet sich weiters an ein allgemeines Publikum, das an grundsätzlichen und aktuellen Fragen unserer Demokratie interessiert ist, und es liefert ebenso vielfache Impulse für die wissenschaftliche Fachwelt.

8

| 

Klaus Poier

Das vorliegende Buch wird dank seiner Stärken mit Sicherheit einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis der österreichischen Demokratie sowie zur kritischen Diskussion ihrer Reform leisten. Reinhard Heinisch und seinem Team sowie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft ist für die jahrelangen, intensiven Anstrengungen zu danken und zu diesem äußerst gelungenen Werk zu gratulieren.

Reinhard Heinisch im Namen der Herausgeberinnen und Herausgeber

Vorwort

Dieser Band stellt den Abschluss einer sieben Jahre lang aktiven interdisziplinären Arbeitsgruppe der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) unter Leitung von Reinhard Heinisch dar. Die ÖFG ist es auch, die dieses Vorhaben großzügig unterstützt, und die Herausgeberinnen und Herausgeber danken für das Vertrauen und die Mithilfe am Zustandekommen dieser Publikation. Ebenso interdisziplinär wie die Arbeitsgruppe sind auch die Autorinnen und Autoren dieses Buches, die Bereiche wie Rechtswissenschaft, Verwaltungslehre, Politikwissenschaft, Bildungswissenschaft sowie Demokratie- und Geschlechterforschung vertreten. Die Autorinnen und Autoren treten somit auch als Her­ ausgeberkollektiv auf, da die Inhalte dieser Publikation gemeinsam erarbeitet und aufeinander abgestimmt wurden. Zu den Herausgebern und Herausgeberinnen zählen somit: Tamara Ehs, Claudia Fahrenwald, Reinhard Heinisch, Tobias Hinterseer, Christoph Konrath, Stefan Vospernik, Roland Winkler, Mario Wintersteiger und Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel. Für das Gesamtprojekt und das Zustandekommen trägt Reinhard Heinisch die Verantwortung. Der Titel »kritisches« Handbuch soll keineswegs auf einen bestimmten ideologischen Ansatz oder Blickwinkel hinweisen, sondern bezeichnet nicht mehr als eine kritische Distanz zum Gegenstand der Auseinandersetzung, also zur österreichischen Demokratie. Obwohl sich dieses Buch durchaus als wissenschaftliches Sachbuch versteht, will es nicht nur die Demokratie auf Basis der österreichischen Institutionen und deren gesellschaftliche Auswirkungen beschreiben, sondern ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Politikverdrossenheit und Systemkritik entstanden, die den Ausgangspunkt für die hier vorliegende Auseinandersetzung bilden. Die Zielsetzung des vorliegenden Buches war die Schaffung eines allgemeinverständlichen und im nicht-ideologischen Sinn kritischen Standardwerks, das sich mit der Demokratie in Österreich beschäftigt und ihre Wechselwirkung mit Verfassung, Parlament, Verwaltung und Verbänden aufzeigt, wobei sich die Erarbeitung der Materie in drei Teile gliedert: I Grundlagen, II Gesellschaft und BürgerInnen, III staatliche und quasistaatliche Institutionen. Ziel war es, in anschaulicher Weise typische politische, rechtliche und verwaltungsrelevante Entscheidungsabläufe nachzuzeichnen und dabei auch systemische Schwächen und demokratiepolitisch Problematisches aufzuzeigen.

10

| 

Reinhard Heinisch

Die einzelnen Themenfelder und Fallbeispiele werden durch die Autoren und Autorinnen fundiert erarbeitet. Jeder Themenbereich wird jeweils unter drei Aspekten behandelt: Erstens, die Darstellung der Grundlagen und Anforderungen an das politische System. Zweitens, exemplarische oder zentrale Beispiele, wie Prozesse ablaufen. Drittens, die Darstellung diverser Reformansätze, internationaler Vergleiche und best-practice-Modelle. Die Herausgeber hoffen, dass sich von diesem Werk insbesondere Studierende verschiedener Stufen und Disziplinen, Schüler und Schülerinnen bei der Maturavorbereitung, facheinschlägig interessierte Leser und Leserinnen sowie ganz allgemein politisch engagierte Personen und Gruppierungen, die an wissenschaftlich fundierter Information interessiert sind, angesprochen fühlen. Ohne die Mithilfe zahlreicher Personen wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Die Herausgeber und Herausgeberinnen danken besonders Susanne Reitmair für ihre Mitarbeit am Konzept sowie Birgit Mitter und Susanne Rhein für ihre Mitarbeit bei der Zusammenstellung der Texte. Wir hoffen natürlich, dass dieses Buch nicht nur Gefallen findet und möglichst viele Leserinnen und Leser anspricht, sondern auch zu einem gesteigerten Interesse an demokratiepolitischer Partizipation führt.

Reinhard Heinisch

1. Einleitung

»Österreich ist eine demokratische Republik, ihr Recht geht vom Volk aus.« (Art. 1, B-VG) Dieser wichtige Satz, der das politische Wesen Österreichs festlegt, steht ganz am Anfang der österreichischen Bundesverfassung, einem unübersichtlichen und für Nichtjuristen schwer verständlichen Dokument. Diese Verfassungsbestimmung wird gemeinhin als demokratisches Prinzip bezeichnet und so interpretiert, dass das Volk durch Wahlen die Gesetze selbst bestimmt. In Österreich wird der Begriff Demokratie häufig mit Volksherrschaft übersetzt. Kurioserweise fehlen Erläuterungen zum Wesen und den Zielen der Demokratie. Denn erst in der Art und Weise, wie »das Volk« und somit die vielen Millionen BürgerInnen gemeinsam »herrschen« mögen, offenbart sich die Güte eines demokratischen Systems und dessen Verfassung. Selbst Diktaturen, darunter jene, die sich als »Volksrepubliken« und »Volksdemokratien« bezeichnenden Staatengebilde, behaupten ja, im Namen des Volkes zu agieren. Somit sind der Bezug auf das Volk als »Souverän« oder das Abhalten von Wahlen noch keine Garantie, dass ein Staatswesen auch wirklich demokratisch ist. Die österreichische Verfassung kehrt zum Thema Volksherrschaft erst 24 Artikel später wieder zurück und zwar dort, wo es um die recht technische Frage der Gesetzgebung des Bundes geht. Vorher im sogenannten Ersten Hauptstück der Verfassung finden sich keinerlei philosophische Grundgedanken zum Sinn und Wesen der österreichischen Demokratie, allerdings mit einer kuriosen Ausnahme: so lesen wir in Artikel 14.5a von einer Verpflichtung zu Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen. Jedoch bezieht sich diese prominent platzierte Passage lediglich auf das österreichische Schulwesen und die diesem zugrundeliegenden Werte. Somit stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll und wünschenswert wäre, diese Grundwerte auch der Verfassung selbst voranzustellen. Die Verfassung weist Österreich als repräsentatives System aus und beschränkt die politische Rolle des Volkes primär auf dessen Funktion als Wahlvolk. Politische Partizipation findet somit über eine Auswahl vorgegebener Optionen statt oder über Ausübung des passiven Wahlrechts durch Mitwirkung in einer der eingetragenen Parteien. Zwar entscheidet nicht die Parteimitgliedschaft, sondern die Platzierung an wählbarer Stelle einer Namensliste über die Wahl in

12

| 

Reinhard Heinisch

eine gesetzgebende Körperschaft, doch in der Regel verfügen nur Parteien über die notwendige Organisationskraft, um die hierfür erforderlichen formalen und logistischen Voraussetzungen zu erfüllen. Gewiss bietet die Verfassung auch die später geschaffenen Möglichkeiten direktdemokratischer Partizipation in Form von Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen, doch auch diese sind wiederum an parlamentarische Verfahren gekoppelt. Kurzum  : Der Begriff Demokratie sowohl in der Verfassung als auch nach Vorstellung der meisten ÖsterreicherInnen beschränkt sich im Westlichen auf das Abhalten von Wahlen. Der Güte der über Wahlen erreichten Entscheidungen oder der Übereinstimmung von WählerInnen und den von Wahlentscheidungen betroffenen Bewohnern wird in der Verfassung keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Auch andere wesentliche Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie, allen voran die Grundrechte sowie die Rolle unabhängiger Medien als Kontrollinstanz, finden sich nicht geschlossen in der Verfassung, sondern sind über diverse Gesetze aufgeteilt und nur für ExpertInnen auffindbar. Während sonst viele europäische Staaten wie auch Deutschland das Erleben von Diktatur und Krieg zum Anlass nahmen, sich nach 1945 eine neue Verfassung zu geben, die genau aus diesen Erfahrungen ihre Lehren zieht, betont die österreichische Tradition ihre Kontinuität zur »Kelsen-Verfassung« von 1920. Diese greift von ihrem Ansatz her die Gedankenwelt der untergegangenen Monarchie auf und tradiert in die Jahre gekommene Vorstellungen von Demokratie. Dies beginnt beim Bestreben, alles, das als Weltanschauung und werteorientiert angesehen werden könnte, von der Verfassung fernzuhalten und sich neutral zu positionieren, wodurch die österreichische Konstitution eine reine Spielregelverfassung ist. Auch schlummert in ihr noch der obrigkeitsstaatliche Geist vergangener Jahrhunderte. So bietet sie keine Verpflichtung zu Bürgernähe und ist auch nicht sonderlich um eine Verringerung der Normen und Instanzen bemüht. Im Gegenteil, eine der Verfassung innewohnende Bestimmung, das sogenannte Legalitätsprinzip, verhindert Flexibilität und Ermessensspielräume in der staatlichen Verwaltung und erfordert eine extrem kleinteilige Umsetzung von Gesetzen. Dem Geiste nach ist der Bürger/die Bürgerin der österreichischen Verfassung immer noch in erster Linie Untertan eines von Beamten bestimmten Staates. Eine verpflichtende Folgekostenabschätzung gesetzlicher Maßnahmen oder eine stärkere Kontrolle der Verwaltung durch das Parlament oder die Landtage fehlen als Vorgaben. Die Amtsverschwiegenheit und Kameralistik sind sichtbarster Ausdruck dieser Tradition. Die penible Überleitung der Verfassung (in der Fassung von 1929) entsprach der von den Gründervätern der Zweiten Republik gewollten Fiktion, dass das

Einleitung 

|

wiedererstandene demokratische Österreich als »erstes Opfer« des Hitlerfaschismus nie wirklich zu existieren aufgehört habe, aber durch den Anschluss 1938 und die deutsche Besetzung seine Hoheitsrechte bis 1945 nicht habe ausüben können. Dass bereits ab 1934 der autoritäre österreichische Ständestaat die bestehende demokratische Ordnung durch eine neue Maiverfassung »im Namen Gottes« ersetzt hatte und durch diese und zahlreiche Verordnungen der Bundesregierung diktatorisch regierte, ist einer der zahlreichen Widersprüche in der politischen Entwicklung Österreichs. Somit ist die Verfassung nicht nur ein Bauplan für das österreichische politische System, sondern, wie dieses Buch in den nachfolgenden Kapiteln zeigen will, auch ein Spiegel der Widersprüche und Kontraste zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Verfassung ist einerseits so unbestimmt und flexibel, dass sie politisch verschiedene Verfassungswirklichkeiten zulässt, mitunter auch solche, die die Politikwissenschaft als demokratiepolitisch bedenklich bezeichnen würde. Andererseits ist die Verfassung in all ihren Aspekten so detailreich und ausufernd, dass sie durch die normative Kraft des Faktischen, also aufgrund der Vielzahl ihrer Bestimmungen, wenig politischen Gestaltungsraum zulässt. Auch ist die österreichische Verfassung wie kaum eine andere leicht abzuändern, etwa im Gegensatz zu den USA, wo die letzte Verfassungsänderung knapp 200 Jahre dauerte. Dagegen braucht es für Verfassungsänderungen in Österreich lediglich eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit, was von Regierungen vornehmlich dafür genützt wurde, die verschiedensten Gesetze durch das Erheben in den Verfassungsrang vor Einsprüchen durch den Verfassungsgerichtshof zu schützen. Trotz dieser niedrigen Schwelle sind Verfassungsreformen paradoxerweise weitgehend ein Ding der Unmöglichkeit. Zahlreiche Versuche hierzu waren bisher zum Scheitern verurteilt, so auch der Österreich-Konvent 2003 bis 2005. Die Unübersichtlichkeit der Verfassung führt auch dazu, dass sie nur für ExpertInnen wirklich verständlich ist und ihre Bestimmungen wenig bekannt sind. Dieses fehlende Verständnis sowie der Umstand, dass viele Gesetze durch die erforderlichen peniblen Ausführungsbestimmungen für die Betroffenen oft impraktikabel scheinen, bringen es mit sich, dass diese mitunter eine geringe Bindekraft haben. »Österreichische Lösungen« im Sinne einer losen Interpretation gesetzlicher Vorgaben oder das Wählen einer »Abkürzung« im administrativen Hürdenlauf sind häufig anzutreffende Vorgehensweisen in österreichischen Insti­ tutionen. Das wohl beste Beispiel war die nicht gesetzeskonforme Auszählung der Wahlkarten bei den Bundespräsidentenwahlen 2016, als zahlreiche Wahlbeisitzer die zeitraubenden und aus ihrer Sicht realitätsfernen Vorgaben einfach

13

14

| 

Reinhard Heinisch

abkürzten, was beim Bekanntwerden zur Aufhebung und zur Wiederholung der Wahl führte. Dennoch hat sich die österreichische Verfassung auch bewährt und dem Land zumindest während der Zweiten Republik geholfen, politische Krisen zu umschiffen und, wohl entscheidend in einer Demokratie, stets einen friedlichen Machtwechsel ermöglicht. Ihre bisher größte Bewährungsprobe kam unvermutet gerade in jüngster Zeit, als am 27. Mai 2019 die Mehrheit des Nationalrats der Regierung Kurz das Vertrauen versagte. Infolgedessen setzte Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine Minderheitsregierung bestehend aus Experten und Expertinnen unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein ein. Als Beamtenregierung sollte diese bis zur Angelobung einer neuen Regierung nach der vorgezogenen Nationalratswahl die Amtsgeschäfte weiterführen. Die Einsetzung einer solchen Regierung, die Bestellungen einer nicht durch Nationalratswahlen legitimierten Regierungschefin, eine Kanzlerin, die von keiner der im Parlament vertretenen Parteien entsandt wurde, die Duldung dieser durch eine Parlamentsmehrheit sowie ein im Parlament über mehrere Monate andauerndes freies Spiel der Kräfte, mit Entscheidungen auf Basis oft ungewöhnlicher Allianzen zwischen den Parteien, stellen für Österreich ein absolutes Novum dar. In gewisser Weise war diese gemeinsame Erfahrung Österreichs auch eine Bewährungsprobe für die Verfassung und das politische System. Selbst der Bundespräsident, dessen Rolle als »Ersatzmonarch« im Zuge der wiederholten Bundespräsidentenwahl von 2016 des Öfteren als anachronistisch und überflüssig bezeichnet worden war, erfuhr eine Stärkung. Nicht wenige waren froh über die Existenz einer mit hoher staatlicher Autorität ausgestatteten und von der Regierung autonom agierenden und handlungsfähigen Institution. Die Krisentauglichkeit einer Verfassung ist zweifellos ein wichtiges Gut. Das Gleiche gilt für das politische System an sich, wenn es in der Lage ist, existenzielle Bedrohungen abzuwenden. Dennoch kann dies jeweils nur eine Minimal­ anforderung an ein politisches System sein. Die Qualität eines Systems, also seine Leistungsfähigkeit, den Ansprüchen und Erwartungen der Bevölkerung gerecht zu werden, zeigt sich anderswo. Dieses Buch beschäftigt sich somit genau mit den Leistungen der Schlüsselbereiche des politischen Systems im Verhältnis zu den Ansprüchen und Erwartungen, die an dieses gestellt werden.

Einleitung 

|

1.1 Warum dieses Buch  ? Diese kurze vorangegangene Einführung, die nur einige Punkte des nachfolgenden Kapitels über die österreichische Verfassung herausgreift und vorwegnimmt, zeigt bereits, dass das österreichische politische System, insbesondere seine Kernbereiche Verfassung, Regierung und Verwaltung, für viele ÖsterreicherInnen ein Rätsel darstellt. Sie haben in der Regel nur sehr unklare Vorstellungen, was PolitikerInnen im »Hohen Haus« eigentlich tun, wie Verwaltung und Politik zusammenspielen, welche Grundrechte es gibt, oder gar, wo diese zu finden sind. Selbst engagierte und kritische BürgerInnen haben nur ungenaue Auffassungen von den Abläufen im österreichischen demokratischen System, speziell davon, wie Parlament, Bundesregierung, Verwaltung und Verfassung ineinandergreifen. Teilweise kennt man vom Schulunterricht oder den Medien bestimmte Prinzipen und Ideen, die jedoch weitgehend ohne Inhalt bleiben. Natürlich weiß man, dass es die Aufgabe von Abgeordneten ist, das Volk zu vertreten – doch was bedeutet dies konkret  ? So meinen beispielsweise selbst junge Mandatare in ihren ersten Reden noch, ihren Wahlkreis und die dortige Bevölkerung zu vertreten, während die Politik unter dieser Funktion hauptsächlich die Vertretung der nationalen und regionalen Parteiinteressen versteht. Dies ist nicht etwa eine böswillige Unterstellung, sondern vom politischen System auch durchaus so vorgesehen. Österreich ist ein Parteienstaat, und zwar nicht nur, weil Parteien als Trägerinnen der demokratischen Auseinandersetzung angesehen werden und durch das Parteiengesetz besonderen Schutz und bestimmte Privilegien genießen  ; sondern auch deswegen, weil das demokratische Österreich gleich zweimal von den Großparteien und ihren historischen Vorläufern gegründet wurde. In kaum einem anderen westlichen Staat waren die Parteien so sehr eine Machtund Legitimitätsreserve für den Fall, dass das politische System neu zu konstituieren sei. Der Niedergang der staatstragenden Parteien, ausgedrückt durch einen enormen Vertrauensverlust und Wählerschwund, stellt diese Autoritätsreserve genau in jenem Moment in Frage, in dem auch andere Bereiche des politischen Systems unter Legitimationsproblemen leiden. Natürlich ist allgemein bekannt, dass das Parlament die Gesetze beschließt, und formal stimmt dies auch, doch wird weder der Gesetzgeber in der Verfassung mit dem Parlament gleichgesetzt, noch ist das Parlament funktional überhaupt in der Lage, das Gros der österreichischen Gesetzgebung zu produzieren. Nur wenigen BürgerInnen ist daher bewusst, dass die meisten Gesetze ihren Ausgang als Regierungsvorlagen nehmen. Doch auch die Regierung, die ja eigentlich mit der Ausführung von Gesetzen (daher auch Exekutivgewalt) beauftragt ist,

15

16

| 

Reinhard Heinisch

verlässt sich beim Erarbeiten von Gesetzesvorlagen einerseits auf die einzelnen Ministerien und diese wiederum auf ihre BeamtInnen und ExpertInnen in der Legistik. Andererseits ist die Entstehung von Gesetzen untrennbar mit dem Einfluss von Parteien verbunden, wobei die zentrale Rolle nicht unbedingt den gewählten Abgeordneten einer Partei zukommt, sondern einzelnen Interessensgruppen innerhalb einer Partei, wie etwa Gewerkschaften, Wirtschaftstreibenden oder bestimmten Landesparteiorganisationen. Gepaart mit einem weitverbreiteten Unwissen über das formale Regelwerk, wie Politik und Staat in Österreich funktionieren, herrscht eine noch größere Wissenslücke über die soziologische Wirklichkeit der österreichischen Politik. Damit bezeichnet man einerseits die vielen informellen und gewohnheitsmäßigen Handlungsabläufe und Arrangements, die für politische Ergebnisse entscheidend sind, sich in der Regel aber nur Insidern erschließen und auch in Lehrbüchern nicht ausführlich thematisiert werden. Anderseits sind darunter auch jene Handlungsanreize zu verstehen, die im System vorhanden sind und PolitikerInnen dazu bewegen, sich nicht der formal vorgesehenen Entscheidungsmechanismen zu bedienen, sondern alternativer Methoden und Prozesse, um ihre politische Vorhaben umzusetzen. Trotz dieser ungenauen Vorstellungen über die reale politische Praxis gibt es konkrete Erwartungshaltungen an das politische System. Viele Menschen haben klare normative Vorstellungen, was die Politik als Ganzes leisten soll. So gibt es weitverbreitete Annahmen, die bei allen möglichen Anlässen zitiert werden und sich auch in Schulbüchern wiederfinden, wie etwa die Annahme, das Recht gehe vom Volke aus, die Parlamentarier arbeiteten für das Volk, der Bundesrat vertrete die Interessen der Länder. Dies ist auch nicht wirklich falsch, in der Praxis jedoch auch nicht ganz richtig. Dazu kommen neue Erwartungshaltungen, die vom Zeitgeist erzeugt und von den Medien aufgegriffen werden. Dazu gehören etwa normative Erwartungen nach mehr Effizienz und Effektivität. Oft hört man, die Politik müsse die Sorgen und Nöte der Menschen verstehen und entsprechend handeln. Dies ist eine durchaus übliche und verständliche Ansicht, wobei dann die Frustration darüber, dass diese Vorstellungen oft unerfüllt bleiben, zu politischer Enttäuschung und infolge dessen zu Systemverdrossenheit führt. In ihrem Ungemach machen WählerInnen verständlicherweise die in der Politik vorkommenden Akteure, also die PolitikerInnen oder die Parteien, für die empfundene Praxis verantwortlich. Man versucht, das vermeintliche Systemversagen allein bestimmten Personen oder Gruppierungen zuzuschreiben. Selten wird dagegen über die Spielregeln selbst nachgedacht, nach denen Ent-

Einleitung 

|

scheidungsträger handeln, oder darüber, ob diese nicht geändert werden müssten. Wenn man dagegen mit Politikern spricht, dann sehen sich diese auch oft dem Druck des Systems ausgesetzt und würden gerne einiges anders machen, können aber nicht, oder vermeinen, aus Systemzwängen heraus nicht anders handeln zu können. Der US-amerikanische Gründervater James Madison schrieb anlässlich der Schaffung der Verfassung der USA von 1789  : »If men were angels, no govern­ ment would be necessary.« Dies lässt sich so deuten, dass man die politischen Spielregeln so gestalten sollte, dass selbst mittelmäßige Politik und nicht gerade besonders talentierte VolksvertreterInnen gute Ergebnisse zu liefern vermögen, anstatt auf bessere PolitikerInnen zu hoffen. Die Klage über das heutige Format der PolitikerInnen ist jedoch ein Dauerbrenner der kritischen Auseinandersetzung mit dem österreichischen System. Die Frage über Spielregeln und Prozesse wird dagegen viel weniger gestellt oder beschränkt sich auf ExpertInnenkreise, auch weil man diese im Gegensatz zu den in der Öffentlichkeit stehenden Personen nicht wirklich kennt. Warum ist die Frage der Legitimität des politischen Systems im Gegensatz zur Phase vor 30 oder 40 Jahren heute ein größeres Problem  ? Waren die PolitikerInnen oder die Politik gar besser  ? Mit Sicherheit nicht, doch die Repräsentativität war gewiss eine höhere. Die Politikwissenschaft spricht von Kongruenz, also der Überstimmung von WählerInnen und ihren Interessen mit den gewählten RepräsentantInnen. Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten die Großparteien zusammen über 90  Prozent der WählerInnen. Die Gesellschaft bestand aus zwei relativ kompakten und intakten Milieus aus denen PolitikerInnen der Großparteien unmittelbar hervorgingen. Sie waren somit den Interessen ihrer WählerInnen zumindest in sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen fraglos näher, da sie einen ähnlichen beruflichen Hintergrund hatten und analogen Lebensumständen entstammten. Aus dieser Konstellation heraus war es auch für PolitikerInnen weniger notwendig, den WählerInnen »vermittelt« zu werden, weil durch die Sprache und Biografie politischer Akteure diese eher als authentische VertreterInnen einer Bevölkerungsgruppe wahrgenommen wurden. Dies gab der Politik eine gewisse natürliche Legitimation jenseits des formalen politischen Systems mit seinen Regeln und Institutionen. Mittlerweile ist die Gesellschaft komplexer, wodurch WählerInnen mit ihren Lebensentwürfen und Interessen heterogener erscheinen (Gegenwart). Längst geht es nicht mehr allein um soziale und ökonomische Fragen wie soziale Sicherheit, Begrenzung der Arbeitszeit, mehr Urlaub, kostenlose Schulbücher und dergleichen. Themen wie Umwelt, Einwanderung, Europa, individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung,

17

18

| 

Reinhard Heinisch

Identität, Schutz der Privatsphäre, Terrorismus, Datensicherheit im Internet, Altenpflege, Bevölkerungsschwund einerseits und das Anwachsen von Ballungsräumen andererseits, die Finanzierung von Krankenanstalten und dergleichen bestimmen heute neben den klassischen sozialen und wirtschaftlichen Themen die politische Debatte, lassen sich jedoch nicht einfach in das alte Links-RechtsSchema integrieren. Mit dem Schwinden der alten politischen Lager des katholischen Bürgertums und der Arbeiterschaft bewegten sich die WählerInnen in Richtung politische Mitte, wohin ihnen die beiden Großparteien folgten, was diese jedoch für viele ununterscheidbar machte. Dies erklärt auch den Vertrauensschwund der Parteien und vor allem die Krise der einstigen Großparteien, nicht nur in Österreich, sondern beinahe überall in Westeuropa, wo die Entwicklungen ähnlich verlaufen waren. Doch mit dem Schwund der politischen Legitimitätsreserve der Parteien rückt das politischen System, beginnend mit der Verfassung und mit all seinen Regeln und Institutionen, selbst in den Mittelpunkt des Interesses. Es muss sich der kritischen Frage stellen, ob es in der Lage ist, sowohl den Erwartungen der Bevölkerung wie auch Ansprüchen, die das System für sich selbst formuliert, gerecht wird. 1.2 Was will dieses Buch  ? Dieses Buch möchte sich auf eine allgemein verständliche Art genau mit diesen Spielregeln und Handlungsabläufen auseinandersetzen, die das österreichische politische System bestimmen, und dabei auch aufzeigen, wie diese typischerweise funktionieren. Dabei wird auch die Frage gestellt werden, wo im Sinne einer besseren Politik diese Regeln und Abläufe reformiert oder geändert werden sollten. Damit ist weder ein Staatsumbau in Richtung einer Dritten Republik gemeint, noch versucht dieses Buch, die Thematik bestimmter vergangener oder bestehender Reforminitiativen wieder aufzugreifen. Dieses Buch strebt auch keine große Systemkritik etwa in der Tradition der Postdemokratie an. Jedoch können durch die Sichtbarmachung bestimmter Abläufe in Staat und Politik deren Folgen beleuchtet und die Sinnhaftigkeit diskutiert werden. Dieses Werk versteht sich auch nicht als politikwissenschaftliche oder rechtswissenschaftliche Analyse im engeren Sinn, denn aus streng wissenschaftlicher Perspektive ist es schwierig, bestimmte Fragen zu stellen, die dieses Buch bewusst stellen möchte. Einerseits stößt vor allem die Sozialwissenschaft bei Fragen nach gut und schlecht, Sinn und Unsinn rasch an ihre Grenzen, da sie vor

Einleitung 

|

allem messen und erklären möchte und nicht das Ziel der politischen Änderung verfolgt. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ergeben sich politische Vorgänge, die BürgerInnen oft mit Unverständnis kommentieren, als logische Folge theoretisch begründbarer Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge  : eingebettet in systemischen Spielregeln reagieren vernunftbegabte und nach Macht strebende Akteure auf die Spielregeln mit ihren jeweiligen Anreizen und Gegenanreize auf eine mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorherzuberechnenden Weise  – end of story. Die vergleichende Sozialwissenschaft ist auch geneigt, einzelne Fälle  – etwa politische Vorgänge in Österreich  – im Lichte einer Gesamtfallzahl zu relativieren oder als anekdotisch zu verwerfen. Gerade im internationalen Vergleich verstummt oft die Kritik, da das österreichische System politisch, sozial und wirtschaftlich durchaus eine Erfolgsbilanz vorzuweisen hat. Dennoch ist diese Sichtweise für viele unbefriedigend. Auch die Rechtswissenschaft tut sich mit einer kritischen Auseinandersetzung schwer, da gerade in Österreich Verfassung und Rechtsprechung im Sinne anzustrebender politischer Werte weder einen moralischen noch normativen Kompass vorgeben wollen. Die Rechtswissenschaft sieht bestimmte politische Vorgänge, die BürgerInnen mit Unverständnis kommentieren, als gesetzlich, ungesetzlich oder nicht gesetzlich geregelt an und überlässt alles Weitere den Staatsanwälten oder der Politik. Alle gesetzlichen oder gesetzlich nicht geregelten politischen Entwicklungen, seien sie auch unpopulär, werden als eine von verschiedenen alternativen Verfassungswirklichkeiten angesehen und entziehen sich somit weitgehend der juristischen Kritik. Auch diese Perspektive wird als unbefriedigend empfunden und trägt, so meinen die AutorInnen dieses Buches, dazu bei, dass Kritik oft jenen Gruppierungen überlassen wird, die die liberale Demokratie generell in Frage stellen und populistische oder autoritärere Formen vorziehen würden. Ziel dieses Buches ist es auch nicht, nur Negatives oder Kritikwürdiges zu behandeln, sondern das politische System im Bereich Verfassung – Institutionen – Verwaltung an seinen eigenen Ansprüchen zu messen und dort Probleme und Lösungen aufzuzeigen, wo man den eigenen Ansprüchen nicht genügt. Daher möchte dieses Buch weder bevormunden, noch ist es einer bestimmten politischen Richtung oder Agenda verpflichtet. Trotz seiner allgemeinen Ausrichtung orientiert sich der vorliegende Text an Einsichten und Analysen aus den Sozialund Rechtswissenschaften und versucht auf seine Weise, die empirische Realität der österreichischen Politik nachzuzeichnen.

19

20

| 

Reinhard Heinisch

1.3 Zum Inhalt des Buches – Ein Ausblick  : Das österreichische Paradoxon In Österreich wird das öffentliche Leben vom Gesetzgeber minutiös geregelt bis hinunter in die kleinsten Einheiten öffentlicher Einrichtungen. Schulen und Universitäten, die anderswo oft autonome Regelungskompetenzen besitzen, wissen hiervon ein Lied zu singen. Auch die Wirtschaft, insbesondere das Gewerbe, unterliegt wie in kaum einem anderen Land einem umfassenden Regelungswerk, dessen letzte große Liberalisierungsschritte vor allem der Europäischen Integra­ tion geschuldet sind und weniger einem nationalen Impetus. Dennoch gibt es, wie die Beispiele auf den folgenden Seiten zeigen, gerade in Österreich zentrale und politisch bedeutsame Bereiche des politischen und wirtschaftlichen Systems, die völlig in informellen und grauen Bereichen ablaufen. Nicht selten findet sich in Österreich bei der Regelung auch gleich die Ausnahme, Umgehung oder eine Umsetzungspraxis, die dem Sinn der Regelung eindeutig widerspricht. ÖsterreicherInnen sind mit diesen »österreichischen Lösungen« vertraut und lernen in ihrer Sozialisierung zu unterscheiden, welche Regelungen wie zu befolgen sind. Auch die Politik hat im Sinne der Effektivität wichtige Prozesse des Handelns in weniger formalisierte Bereiche ausgelagert oder agiert über Parallelstrukturen, was dazu führt, dass die formalen rechtlichen und politischen Zuständigkeiten umgangen und die tatsächlichen Entscheidungsprozesse anderswohin verlagert werden. Die Bedeutung der informellen Entscheidungsprozesse, die oft verborgen von der Öffentlichkeit ablaufen, erschwert es den Staatsbürgern, Kompetenzen klar zuzuordnen und somit die Entscheidungsträger entsprechend zu beurteilen und zur Verantwortung zu ziehen. So wird beispielsweise über die Rolle der Landeshauptleutekonferenz als Ländervertretung anstelle des Bundesrates oder über die Sozialpartnerschaft in diesem Werk noch ausführlich die Rede sein. Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Teile  : Im ersten werden die Grundlagen der Demokratie und Verfassung erläutert. Im zweiten Teil folgen die gesellschaftlichen und BürgerInnen-bezogenen Aspekte der österreichischen Demokratie als Folge institutioneller und politischer Gegebenheiten. In diesem Zusammenhang werden besonders Partizipation, politische Bildung und Geschlechterverhältnis erläutert. Im dritten und letzten Teil wird die Demokratie im Kontext der staatlichen und staatsnahen Institutionen diskutiert. Hierbei werden besonders Parlament, Regierung, Verwaltung und die Sozialpartnerschaft behandelt. Hiermit stellt dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, widmet sich jedoch allen zentralen Bereichen der österreichischen Demokratie. In jedem der Kapitel wurden die Autoren und Autorinnen vom Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit geleitet, wobei die Kapitel stets von Erwartun-

Einleitung 

|

gen oder Eindrücken ausgehen, wie sie oft im öffentlichen, medialen oder politischen Diskurs formuliert werden. Dies dient als eine Art Zielvorgabe, um besser zu verstehen, was die Demokratie in den besprochenen Bereichen leisten soll. Dann folgt eine genaue Beschreibung und Analyse des Ist-Zustandes. Im Schlussteil werden jeweils Reformansätze und Best Practice-Beispiele vorgestellt, wie sie etwa in anderen Staaten oder auch auf Landesebene bereits praktiziert werden. Im Folgenden werden die einzelnen Kapitel kurz vorgestellt  : Nach dieser Einleitung (als Kapitel 1 konzipiert) gehen wir dem Begriff der Demokratie nach und stellen die Frage, was diese leisten soll. In diesem Kapitel 2 bieten Reinhard Heinisch und Mario Wintersteiger zunächst eine Einführung in das Thema Demokratie und seiner Entwicklung und Definition. In weiterer Folge beschäftigen sie sich mit den Ansprüchen an die Demokratie und der Frage der Demokratiequalität in Österreich, um für die nachfolgenden Themenbereiche eine verbindliche Grundlage zu schaffen. Eine weitere wichtige Grundlage für Demokratie und Staatswesen ist die Verfassung, die von Ronald Winkler im Kapitel 3 eingeführt und im Hinblick auf die Frage der Demokratie diskutiert wird. Wichtige Konzepte wie das »Recht geht vom Volk aus« oder das Legalitätsprinzip werden hierbei genau erklärt und deren Bedeutungen für typisch österreichische Aspekte des Staatswesens herausgearbeitet. Im 4. Kapitel widmen sich Tamara Ehs und Stefan Vospernik der partizipativen Demokratie sowie dem Verhältnis zwischen direkter und indirekter Demokratie in Österreich angesichts einer konstatierten Vertrauenskrise der BürgerInnen. Nach einer Analyse der Grenzen direktdemokratischer Möglichkeiten sowie der Thematisierung von Bereichen wie Parteiendemokratie, Geschlechterdemokratie, sozialer Ungleichheit und anderem werden eine Reihe von Reform­ ansätzen vorgestellt, darunter auch innovative Beispiele aus dem Ausland, wo verschieden Formen der partizipativen Demokratie zu demokratisch legitimierten Entscheidungen führen. Gerade in diesem Kapitel stehen sich Anspruch und gelebte Realität besonders kontrastreich gegenüber. In Kapitel 5 thematisiert Claudia Fahrenwald den Bereich politische Bildung und Demokratie beginnend mit einer kritischen Analyse des »Demokratielernens im österreichischen Schulsystem«. Die Ausbildung zu mündigen BürgerInnen sind Ziel und Anspruch, und dennoch greift das System viel zu kurz. Sofern es überhaupt nachhaltig und gebündelt in der Ausbildung thematisiert wird, so findet sich eine Ausrichtung auf Faktenwissen anstatt auf Citizenship Education im Sinne einer demokratiepädagogisch notwendigen Ausrichtung auf Demokratie als Lebensform und somit auf Erfahrungslernen.

21

22

| 

Reinhard Heinisch

Das Kapitel 6, von Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel verfasst, widmet sich dem Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs. Nach einer umfangreichen Einführung in die Thematik behandelt die Autorin das Geschlechterverhältnis in den österreichischen politischen Institutionen und dessen Konsequenzen. Beispielsweise wird auch die Frage der Quoten in der Demokratie ausführlich diskutiert. Im letzten Teil des Kapitels werden diverse Reformoptionen diskutiert. Ein wichtiger Teil dieses Buches widmet sich den zentralen Institutionen des Staates und hier besonders dem Parlament. Die Autorinnen und Autoren thematisieren hierbei auch die Widersprüche zwischen den formellen und informellen Regelungen dieser Institutionen anhand diverser Politikbereiche und vergleichen so die soziologische und politische Wirklichkeit und den formalen Anspruch an das System. Beispielsweise gilt wie bereits eingangs beschrieben in der öffentlichen Wahrnehmung das Parlament als Gesetzgeber. Wie wir jedoch wissen, kommen Gesetze in der Regel als Regierungsvorlagen in den Nationalrat, und deren weiteres Schicksal hängt von den parteipolitischen Absprachen und dem Verhalten der Parlamentsklubs ab. Dies ist auch in anderen Parlamenten, die eigentlich mehr Kontroll- als Arbeitsparlamente sind, nicht viel anders, nur sind in Österreich etwa im Vergleich zu Deutschland die Kontrollmöglichkeiten für Abgeordnete deutlich begrenzter. Dieser Umstand hat etwa mit den mangelnden Ressourcen an Personal und Ausstattung der einzelnen Abgeordneten sowie des Parlaments als Ganzes zu tun. Die Rolle der staatlichen Institutionen, vor allem das Zusammenwirken und Spannungsverhältnis von Parlament, Regierung und Parteien sowie deren Verhältnis zu deren WählerInnen werden in den Kapiteln 7 und 8 von Christoph Konrad aufgegriffen. Die Gesetze selbst entstehen in der Regel in der Verwaltung. Diese ist bewusst als parteipolitisch neutraler sowie fachlich kompetenter und sachlicher Gegenpol zu den politischen Ministern und ihren Kabinetten konzipiert. Formal gesehen sollte die Verwaltung politisch farbenblind sein. Durch die lange Regierungsdauer bestimmter parteipolitischer Konstellationen wird jedoch die Spitzenverwaltung sukzessive mit loyalen Parteigängern besetzt. Infolge wechseln immer wieder die engsten politischen Berater der Minister, also Mitglieder der Kabinette in hohe Verwaltungspositionen und werden somit staatliche Amtsträger, die jedoch ihre parteipolitische Orientierung weiterverfolgen. Dies wird anschaulich und mit Beispielen unterfüttert in Kapitel 9 ebenfalls von Christoph Konrad analysiert. Auch der wirtschaftspolitische Schlüsselbereich der Sozialpartnerschaft verläuft großenteils im informellen Bereich. Die bestehenden rechtlichen und for-

Einleitung 

|

malen Zuständigkeiten lassen dabei nie die umfassende Bedeutung und Wirkung dieser Institution erahnen. Flexibilität, wie etwa bei der Sozialpartnerschaft, ist nicht unbedingt etwas Negatives, doch dass sich diese in Österreich so lange hält und so relativ problemlos funktioniert, ist bemerkenswert. Dies weist ebenfalls auf den Bruch zwischen formaler und tatsächlicher politischer Wirklichkeit hin und wird in Kapitel 10 von Tobias Hinterseer thematisiert. Das Buch hofft somit einen fundierten Einblick in die wesentlichsten Teile der österreichischen Demokratie und des Staatswesens zu bieten und auch zur Debatte über deren Gefüge und Wirkungsweise beizutragen.

23

GRUNDLAGEN

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

2. Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten

2.1 Einführung Ähnlich wie in anderen Staaten ist während der letzten Jahrzehnte auch in Öster­reich das Vertrauen in Parteien, Parlament und Regierung geschwunden. Die Ursachenforschung gestaltet sich hierbei mitunter schwieriger als gedacht – vor allem deshalb, weil allzu einfache Schablonen nicht genügen und es daher keine allgemein verständlichen Erklärungsmuster für dieses Phänomen gibt  ; es geht hier immerhin um Fragen unserer demokratischen Entwicklung, und diese haben meist komplexe und tiefliegende Wurzeln. Österreich geht es – im internationalen Vergleich gesehen  – beneidenswert gut  : In einigen Bereichen (wie Lebensqualität, sozialer Sicherheit und Infrastruktur) sieht sich das Land sogar als Musterschüler. Die dennoch gewachsene Politikverdrossenheit muss somit mit den großen kulturellen und sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu tun haben, etwa mit dem Generationenwechsel und dem hiermit verbundenen Wertewandel, mit historischen Zyklen also, die noch keineswegs völlig abgeschlossen sind1 und die daher bei der Analyse nicht gänzlich außer Acht gelassen werden dürfen.2 2.1.1 Jean-Jacques Rousseau und der Gemeinwille Sich über die Demokratie Gedanken zu machen ist eine Sache, sie in ihrem Wesen zu verstehen eine völlig andere. Es wird vielleicht erstaunen, dass die Wissenschaft mit diesem Konzept ringt und Versuche, dessen Essenz empirisch festzumachen, nicht leichtfallen. Tatsächlich bieten sich eine Vielzahl historischer Ausgangspunkte, sich mit dem Begriff der Demokratie auseinanderzusetzen. 1 Vgl. dazu z. B. Howe, Neil/Strauss, William (2007), The Next 20 Years  : How Customer and Workforce Attitudes Will Evolve, in  : Harvard Business Review, July–August 2007, S. 41–52. 2 Zur geschichtlichen Einordnung der gegenwärtigen Krise der Demokratie vgl. Heinisch, Reinhard/Wintersteiger, Mario (2018), Die Zukunftsfähigkeit der österreichischen Demokratie. Demokratiepolitische Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft, in  : Demokratische Zukunft der (Salzburger) Landesgesetzgebung, hg. v. Salzburger Landtag/Katharina Weiser, Wien, S. 47– 76, hier S. 49 f.

28

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

Natürlich könnte man auch hier wie bei so vielem mit der griechischen Antike beginnen. Doch verdankt die kontinentaleuropäische Auseinandersetzung mit dem Demokratiebegriff, etwa im Gegensatz zur angelsächsischen Diskussion, viel dem französischen Staatsphilosophen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Dessen Vorstellung von Demokratie als Ausdruck des Gemeinwillens und seine Konzeptualisierung waren von nachhaltiger Bedeutung für die moderne Demokratie europäischer Prägung. In seinem berühmten Gesellschaftsvertrag (2. Buch) schreibt Rousseau, dass »allein der Gemeinwille die Kräfte des Staates gemäß dem Zweck seiner Errichtung, nämlich dem Gemeinwohl, leiten kann«.3 Anders als der bloße Gesamtwille, die (durchaus fehlbare  !) »volonté de tous«, die nur als die Summe der einzelnen Sonderinteressen gilt, stellt sich ihm der Gemeinwille, die »volonté générale«, als Einklang und Gleichklang all dieser Interessen dar.4 So gesehen wäre der Gemeinwille also nicht allein als die Summe, sondern vor allem als die Übereinstimmung der Präferenzen zu verstehen. Damit ist also die Summe der Einzelpräferenzen minus der individuellen Unterschiede gemeint. Die Demokratie sollte demnach zum Erkennen dieser »volonté générale« führen und somit eine gemeinwohlorientierte Qualität besitzen. Dies ist natürlich ein sehr hoher und nahezu unerfüllbarer Anspruch an die Demokratie. Der angelsächsische Demokratiebegriff ist dagegen wesentlich stärker der Summe und Gewichtung der Einzelinteressen verschrieben und blieb stets etwas skeptisch gegenüber den oft obrigkeitsstaatlich oder metaphysisch anmutenden Vorstellungen, einen Gemeinwillen herstellen oder zumindest erkennen zu wollen. Mit dem Gemeinwillen meint Rousseau auch nicht den von der gegenwärtigen Politik oft strapazierten Begriff des Volkswillens. Denn anders als der Gemeinwille lässt sich letzterer auch irreleiten.5 Soweit die Auffassung von Rousseau, einem der Hauptvertreter eines republikanischen Demokratiebegriffs. Und tatsächlich lehrt uns die Geschichte, dass es in Demokratien nicht immer nur um den bloßen Volkswillen geht, sondern dass es mitunter mehr auf das Resultat einer (im Lichte des Gemeinwohls) richtigen politischen Entscheidung ankommt  – der antike Staatsmann Perikles (5. Jh. v. Chr.) ist als Verteidiger Athens ein klassisches Beispiel für diese Haltung.6 Selbst Entscheidungen gegen den Volkswillen 3 Rousseau, Jean-Jacques (2008), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hg. v. Hans Brockard, Stuttgart, S. 27. 4 Rousseau (2008), S. 27, 30–31  ; vgl. auch Ottmann, Henning (2006), Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1  : Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, Stuttgart–Weimar, S. 484–486. 5 Rousseau (2008), S. 30. 6 Vgl. Heinisch, Reinhard (2011), Hat die Demokratie Zukunft  ? In  : Wiener Zeitung, 06.05.2011,

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

können im Nachhinein demokratisch, also durch eine Mehrheit, legitimiert werden, wenn sie sich schlussendlich als richtig, oder, wie im Falle Perikles, als die Rettung in der Not erweisen. 2.1.2 Die demokratische Gleichheit und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger Der Demokratiebegriff ist untrennbar mit der Idee der Gleichheit verbunden, denn ohne diese würde das erwähnte Konzept des Gemeinwillens keinen Sinn ergeben.7 Einerseits soll in der Demokratie theoretisch keiner mehr Einfluss haben als der andere, aber bei gleichen Spielregeln und Bedingungen haben natürlich die schlaueren, dominanteren und ressourcenreicheren Personen mehr Einfluss – das vielzitierte »eherne Gesetz der Oligarchie«8 (Robert Michels) scheint die politische Praxis zu bestimmen. Dies führt in Demokratien stets zu politischen Auseinandersetzungen über die mehr oder weniger künstliche Herstellung von Gleichheit. Die einen fordern Chancengleichheit, um dann in einen Wettbewerb zu treten, wobei eben individuelle Fähigkeiten oder der Markt über die Aneignung von Ressourcen entscheiden. Andere fordern stärker eine Gleichheit im Ergebnis. Auch hier steht die angelsächsische Demokratie (vor allem die amerikanische) eher für gleiche Startchancen, ist aber dann eher bereit, starke Unterschiede im Ergebnis in Kauf zu nehmen, sodass die Gewinner im Leistungswettbewerb quasi auch eine Art demokratischen Lohn zu kassieren vermögen. Beispielsweise gilt der Lobbyismus als durchaus legitim, da die Demokratie als Wettbewerb zwischen Interessen verstanden wird und sich die besseren, also fähigeren Interessensgruppen somit verdient durchsetzen und daher auch in Form von mehr Einfluss belohnt werden sollen. In unseren Breiten gilt das sog. »Lobbying« dagegen als besonders verpönt. Am Pranger steht dabei kurioserweise die (an sich durchaus legitime) Einflussnahme auf die Politik von Seiten der betroffenen Interessensgruppen. Und natürlich gibt es auch in Österreich entsprechende Gruppierungen (wie etwa die Gewerkschaften und Kammern), die Einfluss nehmen, ja per Gesetz sogar privilegiert werden. Nur mag man hierzulande das negativ besetzte Wort »Lobby« [https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/kompendium/46340_Hat-dieDemokratie-Zukunft.html], eingesehen am 14.12.2018. 7 Vgl. Rousseau (2008), S. 27. 8 Michels, Robert (1989), Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart, S. 351.

29

30

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

nicht in den Mund nehmen. Wer jedoch prinzipiell gegen alle »Lobbyisten« ist, muss (unter den bestehenden Bedingungen) in Kauf nehmen, dass Abgeordnete gegenüber den Konsequenzen der von ihnen beschlossenen Gesetze mitunter naiv bleiben. Dies wiederum kann den Regierungen und anderen Sonderinteres­ sen, die auf Regierungsvorlagen Einfluss nehmen wollen, eigentlich nur recht sein. Angesichts komplizierter Gesetzestexte und überforderter Mandatare informiert oft genug erst ein »Lobbyist« einzelne Abgeordnete über die Auswirkungen einer gesetzlichen Maßnahme. 2.1.3 Markt und Demokratie Ein weiteres Paradoxon ist das komplexe Verhältnis von Demokratie und Markt  :9 Viele »westliche« Beobachter sehen in »ihrer« Form der ökonomischen Entwicklung zumeist einen Katalysator demokratischer Veränderungen.10 Aufmerksame Beobachter der politischen Landschaft und Kenner der politischen Ideengeschichte wissen allerdings, dass demokratische und liberale Entwicklungen nicht untrennbar miteinander verbunden sind – davon zeugt die Existenz von liberalen Autokratien genauso wie die jener illiberalen Demokratien, von denen in jüngerer Zeit vermehrt die Rede ist.11 Vor diesem Hintergrund gilt es sich in Erinnerung zu rufen, dass zwischen den Grundwerten von Liberalismus und Demokratie, also zwischen Freiheit und Gleichheit, Zielkonflikte entstehen können.12 Kommt es zu einer derartigen Situation, muss das Spannungsfeld also zu Gunsten eines Wertes (und damit zwangsläufig zu Ungunsten des anderen) aufgelöst werden. Dennoch galt lange Zeit die Annahme, dass man, um möglichst breiten Wohlstand zu erlangen, eine Marktwirtschaft brauche, und diese gäbe es, so der verbreitete Glaube, einzig in der liberalen Demokratie. Denn nur dort würden EigentümerInnen und InvestorInnen Rechtssicherheit finden und nur un  9 Bei den folgenden Ausführungen wird mitunter auf umfangreiche Vorarbeiten aufgebaut, die von uns z. T. auch bereits andernorts veröffentlicht wurden. Vgl. dazu Heinisch/Wintersteiger (2018). Wir greifen hier (und an anderen, späteren Stellen) teilweise auf diese Materialien zurück. 10 Vgl. dazu z. B. Inglehart, Ronald (2004), Kultur und Demokratie, in  : Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen, hg. v. Samuel P. Huntington/Lawrence E. Harrison, München, S. 141– 166, hier S. 158–163. 11 Vgl. dazu Zakaria, Fareed (1997), The Rise of Illiberal Democracy, in  : Foreign Affairs 76, Heft 6, S. 22–43. 12 Ein besonders feines Gespür hierfür besitzt z. B. der Traditionsstrang der liberalen Demokratiekritik. Vgl. darüber Wintersteiger, Mario Claudio (2012), Grundzüge der Demokratiekritik, in  : Demokratiebildung. Annäherungen aus Fachwissenschaft und Fachdidaktik, hg. v. Heinrich Ammerer/Franz Fallend/Elfriede Windischauer, Innsbruck–Wien–Bozen, S. 43–52, hier S. 48–49.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

ter solch allgemein berechenbaren Bedingungen, also abseits der Willkür einer autokratischen Herrschaft, würden ausreichend effiziente Marktbedingungen herrschen und somit Wohlstand gedeihen, der wiederum durch demokratisch legitimierte politische Verfahren möglichst breit verteilt werden und so das Gemeinwohl steigern würde. Angesichts des enormen Wirtschaftswachstums in China und anderen Teilen Asiens, oft unter Bedingungen, die wenig mit liberaler Demokratie zu tun haben, und angesichts der zunehmend eklatanten Einkommensunterschiede in vielen westlichen Gesellschaften (vor allem in den USA) stellt sich die berechtigte Frage, ob die Annahme einer Demokratie als Voraussetzung für eine am Gemeinwohl orientierte Marktwirtschaft (und umgekehrt  !) noch berechtigt ist. 2.1.4 Die repräsentative Demokratie und ihre Schutzmechanismen In jüngster Zeit ist insbesondere die repräsentative Demokratie  – allen voran ihre, wie viele meinen, »blinde Elite«13 (Christopher Lasch) – in die Kritik geraten. Demgegenüber wird meist die direkte Demokratie angepriesen – die jedoch ebenso wenig unproblematisch ist, etwa, weil die Versuchung des Populismus meist nicht fern ist.14 Diese Problematik hat die Demokratietheorie seit ihren Anfängen beschäftigt. Schon den klassischen politischen Philosophen wie dem Sokrates der platonischen Dialoge oder aber dem wichtigsten Schüler Platons, Aristoteles, war die Demokratie als Staatsform äußerst suspekt, herrschte dort doch die in ihren Augen korrumpierbare und daher leicht entfesselte Menge, die sich eben allein durch ihre Quantität auszeichnete.15 Seit der Antike ist die Sorge, ob denn das Volk reif, rational und politisch kompetent genug sei, um demokratisch regiert zu werden, nie wieder vollständig gewichen.16 Sie dürfte in der modernen Massengesellschaft sogar wieder angewachsen sein. Und so wurden in viele Systeme Vorkehrungen gegen die genannten Gefahren i­ntegriert.17 13 Lasch, Christopher (1995), Die blinde Elite. Macht ohne Verantwortung, Hamburg. 14 Vgl. darüber Heinisch/Wintersteiger (2018), S. 62 ff. 15 Vgl. darüber Strauss, Leo 3(1987), Plato. 427–347 B.C., in  : History of Political Philosophy, hg. v. Leo Strauss/Joseph Cropsey, Chicago–London, S.  33–89, hier S.  62 ff.; Lord, Carnes 3(1987), Aristotle. 384–322 B.C., in  : History of Political Philosophy, hg. v. Leo Strauss/Joseph Cropsey, Chicago–London, S. 118–154, hier S. 138–141 16 Über diese Spielart der Demokratiekritik vgl. Wintersteiger (2012), S. 46–48. 17 So etwa auch in Österreichs Bundesverfassung. Vgl. dazu Ucakar, Karl (2006), Verfassung – Geschichte und Prinzipien, in  : Politik in Österreich. Das Handbuch, hg. v. Herbert Dachs u. a., Wien, S. 119–138, hier S. 131.

31

32

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

Wenn es um die damit verbundenen Grundfragen geht, sollte man nicht darauf verzichten, die politische Literatur des 19. Jahrhunderts zu studieren  : Der französische Freiheitsdenker Alexis de Tocqueville (1805–1859) hat mit seinem berühmten Buch Über die Demokratie in Amerika immerhin den klassischen Text schlechthin verfasst, was die Problematik der drohenden »Tyrannei der Mehrheit«18 betrifft  ; dort schreibt er mit Blick auf die Macht, welche die Mehrheit in einer demokratischen Gesellschaft potentiell besitzt. »Ich halte die Allmacht für in sich schlecht und gefährlich. Ihre Ausübung scheint mir die Kräfte jedes Menschen zu übersteigen«,19 bringt er seine diesbezüglichen Bedenken auf den Punkt. Was ihm an der Demokratie am meisten Kopfzerbrechen bereite, so Tocqueville, seien die unzureichenden Mechanismen zum »Schutz gegen die Tyrannei«.20 Seine Bedenken sollten sich im weiteren Verlauf der Geschichte als nicht ganz unberechtigt erweisen, wie vor allem die diesbezüglich sehr bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verdeutlichen.21 Genau dieselbe Furcht vor der Tyrannei der Mehrheit hat bereits die amerikanischen Gründerväter beschäftigt. Die zentralen Elemente der US-amerikanischen Verfassung wie Repräsentation statt direkter Demokratie sowie eine ausgeklügelte Gewaltenteilung (checks and balances) beruhen auf dem Prinzip, allzu große Machtkonzentrationen zu verhindern. James Madison, einer der Schöpfer der US-amerikanischen Verfassung von 1789, legte in einem Aufsatz, den er für die Bürger von New York als Werbung für die neu konzipierte Verfassung veröffentliche, die Gründe für die repräsentative Demokratie dar  ; der heute unter dem Titel Federalist Paper No. 1022 bekannte Text beschwört die Bedrohung, die von unkontrollierten, mächtigen Interessensgruppen oder Interessensmehrheiten ausgeht, die entweder das gesamte Gefüge in ›Geiselhaft‹ nehmen oder im Verfolgen eigener Interessen den gesellschaftlichen Konflikt auf die Spitze treiben. Wenn die bestehenden Interessen ihre Ambitionen jedoch 18 Tocqueville, Alexis de (2004), Über die Demokratie in Amerika, hg. v. J. P. Mayer, Stuttgart, S. 145. 19 Tocqueville (2004), S. 147. Das Argument ist nicht allein eines gegen die Mehrheitsdiktatur  ; es kann zugleich als Plädoyer für eine demokratische Dezentralisierung von Macht gelesen werden  : Die prinzipielle Fehlbarkeit des Menschen macht es allgemein nötig, Macht demokratisch zu kontrollieren und zu begrenzen. Vgl. C. S. Lewis (1986), Present Concerns, hg. v. Walter Hooper, New York, S. 17, zit. n. Genovese, Eugene D. (1996), The Southern Tradition. The Achievement and Limitations of an American Conservatism, Cambridge-London, S. 29 f. 20 Tocqueville (2004), S. 147. 21 Vgl. darüber Heinisch/Wintersteiger (2018), S. 62 f. 22 Vgl. James Madison (1787), The Federalist No. 10. The Utility of the Union as a Safeguard Against Domestic Faction and Insurrection, [http://www2.oberlin.edu/faculty/gkornbl/GJK/H103F05/ Fed10annotated-A.htm], eingesehen am 06.10.2019.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

nicht unmittelbar und direkt umsetzen können, sondern diese über gewählte Abgeordnete ausüben, dann dienen letztere als eine Art Puffer. Um wiedergewählt zu werden, müssen die RepräsentantInnen einerseits die Interessen der Mehrheit maßgeblich berücksichtigen, andererseits aber auch das Gemeinwohl und somit auch in gewissem Maße die Bedürfnisse der Minderheit. Dieses Denken war damals insofern ungewöhnlich, als die in den amerikanischen Kolonien ausgeübte Form der Demokratie ähnlich dem Schweizer Muster eine direkte war, wie sie auch heute noch in den sogenannten Town Hall Meetings (Versammlungen der Bürgerinnen und Bürger) in den Staaten Neuenglands praktiziert wird. Nur in dem ausgleichenden Wirken der repräsentativen Demokratie sahen die amerikanischen Gründerväter langfristige Stabilität gewährleistet, da jene, die sich heute in der Interessensmehrheit befinden, wissen, dass sie morgen in einer Interessensminderheit sein können und umgekehrt. Damit sind wir bereits mitten in einer Auseinandersetzung um die demokratischen Mechanismen  ; wir wollen im Folgenden noch ausführlicher die theoretischen Säulen der Demokratie erörtern. 2.2 Grundlagen  : Was ist Demokratie und was soll sie leisten  ? Eine kritische Bestandsaufnahme zum demokratischen System in Österreich kann nur geleistet werden, wenn zuvor die Grundlagen der Demokratie selbst ausreichend beleuchtet werden  ; diese sind jedoch nicht allein verfassungsrechtlicher Natur, sondern gehören auch der zugrunde liegenden Domäne der politischen Ideen an. Weder die Erklärungsversuche der Politikwissenschaft noch die Aufklärungsbemühungen der politischen Bildung können daher ohne eine Besinnung auf die philosophischen und politiktheoretischen Fundamente der Demokratie auskommen. Der Grund dafür mag banal erscheinen, soll hier jedoch  – angesichts der doch recht starken »Zurückdrängung philosophischer Orientierung«23 in den Sozialwissenschaften – unterstrichen werden  : Die Beurteilung eines existierenden politischen Systems ist nicht möglich, ohne irgendein »Ideal« als Maßstab anzulegen. Auch sinnvolle Reformvorschläge sind ohne einen derartigen Kompass undenkbar. Und welche politischen Optionen es überhaupt gibt, wird erst durch die Gegenüberstellung mehrerer Ebenen klar – etwa durch die Zusammenschau von dem, was ist, mit dem, was möglich ist, und dem, 23 Hennis, Wilhelm (1963), Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied am Rhein–Berlin, S. 13.

33

34

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

was sein soll.24 Die Zusammenschau dieser drei Ebenen ist ein erklärtes Anliegen dieses Buches  ; es verbindet die Reflexion darüber, was Demokratie im Ideal sein soll, mit der Diagnose der Demokratie, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, und mit einem ernsten Nachdenken darüber, wie sie realistischerweise sein könnte. Dadurch, dass diese drei Ebenen unterschiedliche Dinge ins Auge nehmen, erfordern sie auch jeweils ein anderes Vorgehen (vgl. dazu Tabelle 1). Kategorien und Disziplinen

Aspekte der Demokratie

Philosophie/Anthropologie

Politische Ethik

Gesolltes

Demokratie als Ideal (= wie sie sein soll)

Politikwissenschaft

Politische Soziologie

Seiendes

Demokratie als Realität (= wie sie momentan ist)

Politische Theorie

Richtiges/Mögliches

Demokratie als Möglichkeit (= wie sie sein könnte)

Tabelle 1  : Systematik und Begründungslogik der Demokratietheorie.25

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die bloße Darstellung eines Systems – also schlicht so, wie dieses aktuell beschaffen ist  – nicht ausreicht. Die Qualität eines demokratischen Systems und dessen Beurteilung erschließt sich nicht allein durch politische Meinungen oder ideologische Auseinandersetzungen,26 sondern bedarf auch eines tieferen Eintauchens in die Ideengeschichte und einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Demokratiebegriff selbst.27 Dabei geht es nicht allein um das politische System Österreichs im Speziellen – dies 24 Vgl. dazu Hättich, Manfred (1967), Lehrbuch der Politikwissenschaft, 1. Bd.: Grundlegung und Systematik, Mainz, S.  170  ; Göhler, Gerhard (1978), Die Struktur von Begründungszusammenhängen im normativ-ontologischen Verständnis von Politikwissenschaft, in  : Politische Theorie. Begründungszusammenhänge in der Politikwissenschaft, hg. v. Gerhard Göhler, Stuttgart, S. 138– 174, hier S. 155 ff. 25 Darstellung weitgehend basierend auf den Schemata bei Hättich (1967), S. 170 und Göhler (1978), S. 156  ; von den Verfassern für das Thema der Demokratietheorie adaptiert. 26 Auf die Abgrenzung von bloßen Meinungen beziehungsweise Ideologien von wissenschaftlich begründeten Urteilen soll hier nicht näher eingegangen werden, um den vorliegenden Text nicht mit wissenschaftstheoretischen Erörterungen zu überfrachten. Diesbezüglich Interessierte seien verwiesen auf Voegelin, Eric (2004), Die Neue Wissenschaft der Politik, eine Einführung, hg. v. Peter J. Opitz, München, v. a. S. 14 f., 28 f., 45 f. 27 Zur Rolle von Geschichte und Begriffsarbeit für die Politikwissenschaft vgl. Voegelin (2004), S. 19, 43–46.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

wird Aufgabe von später folgenden Kapiteln dieses Buches sein –, sondern um die Klärung einer Grundsatzfrage  : Was ist überhaupt Demokratie  ? 2.2.1 Das Wesen der Demokratie Hier stößt man bereits auf die erste Schwierigkeit, die es zu überwinden gilt. Denn die Frage, wie Demokratie eigentlich funktioniert beziehungsweise wie sie aussehen soll, wird heute keineswegs einheitlich beantwortet  : Wer sich einen Überblick über die gängigsten Demokratietheorien zu verschaffen versucht, wird in der einschlägigen Literatur gleich auf Dutzende davon stoßen (eine kleine Auswahl davon wird weiter unten im Informationskasten 1 vorgestellt werden).28 Somit herrscht im Bereich der Politischen Theorie, sofern sie überhaupt aufzeigen möchte, was »richtig« und zugleich real »möglich« ist,29 keinerlei Konsens, wenn es um die konkrete Ausgestaltung demokratischer Systeme geht. Wenden wir uns also zunächst der praktisch-philosophischen Ebene der Politik zu.30 Auf der etwas abstrakteren Grundlagenebene des politisch Wünschenswerten oder »Gesollten«31 werden die Dinge klarer. Zwar gibt es auch hier keine Einhelligkeit angesichts einer beachtlichen Ahnenreihe demokratiekritischer Argumente,32 aber was Demokratie meint, lässt sich hier ideengeschichtlich leicht erschließen. Man braucht hierzu nur an die »Geburtsstätte der Demokratie«33 – das antike Athen – zurückzukehren. Dort ist die Demokratie der Sache nach seit Ende des sechsten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung bekannt. Der Begriff hierfür ist aber erst etwas später entstanden und taucht zuerst in den Werken der griechischen Historiker und Tragödiendichter auf. In diesen Schriften bedeutet »Demokratie« eine Herrschaftsform, die durch Bürgerbeteiligung, Redefreiheit und politische Rechtsgleichheit geprägt ist. Sie unterscheidet sich durch diese Merkmale von den anderen politischen Systemen und Herrschaftsformen.34 Wer nun das institutionelle Gefüge Athens während der demokratischen Ära der 28 Vgl. dazu auch z. B. Schmidt, Manfred G. 5(2010), Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen. 29 Vgl. Hättich (1967), S. 170. 30 Es ist hier nicht der Ort für ausführlichere Erörterungen über Politikwissenschaft und Praxis. Für eine grundsätzliche Einführung hierzu vgl. Hennis (1963), S. 35–55. 31 Vgl. Göhler (1978), S. 156 f. 32 Vgl. darüber Wintersteiger (2012). 33 Ottmann, Henning (2001), Geschichte des politischen Denkens, Bd.  1/1  : Die Griechen. Von Homer bis Sokrates, Stuttgart–Weimar, S. 92. 34 Vgl. Ottmann (2001), S. 92 f.

35

36

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

Stadt studiert, wird dort auf einige Einrichtungen stoßen, die zum Grundinventar auch späterer Demokratien zählen. Diese bilden sozusagen die »Urmodelle« für die Versammlungen des Volkes und die politischen Rechenschaftspflichten der Amtsträger.35 Zwar liegen die Unterschiede zu den moderneren demokratischen Systemen auf der Hand – im alten Athen waren die Losverfahren häufiger, die Amtszeiten kürzer und die politische Beteiligung in Relation zur Bürgerschaft gesehen größer als heute.36 auch beschränkte sich das Bürgerrecht auf die freie männliche Bevölkerung, dennoch kann man an der historischen Quelle demokratischer Politik bereits alle wesentlichen Elemente für eine allgemeine Definition schöpfen  : Demokratie ist demnach die Staatsform, bei der sich die Staatsbürger auf der Basis juristischer Gleichheit frei in den Prozess der politischen Willensbildung einbringen können, während sich die Inhaber politischer Ämter ihrem Volk gegenüber zu verantworten haben.

Hinter all dem steckt – schon seit den antiken Anfängen – etwas, das man die Politische Philosophie der Demokratie nennen könnte  ; und diese wiederum basiert auf einem spezifischen Verständnis von Bürgerschaft. Das ist freilich nicht ungewöhnlich, basiert doch alles, was aus einer bestimmten normativen Sicht gesehen politisch sein soll, stets auch auf einem bestimmten Menschenbild  ;37 das heißt, es gründet sich auf Vorstellungen von der »Natur des Menschen« und die hierauf aufbauenden politischen Schlussfolgerungen.38 Im Fall demokratischen Denkens bildet die Annahme, es bestehe eine ganz bestimmte Form von Gleichheit zwischen den Menschen, die Grundlage. Schon der »Mythos des Protagoras«,39 eine Lehrerzählung des gleichnamigen Philosophen, die uns durch Platon überliefert ist, nimmt hierauf Bezug  : Dieser alte Mythos handelt unter anderem von der Verteilung verschiedener Fähigkeiten an die Menschen  ; diese werden, so heißt es, höchst ungleich verteilt, mit einer einzigen Ausnahme  : Die politische Befähigung (in der Erzählung symbolisch verliehen in der Form des Rechtsgefühls) lässt der Göttervater Zeus unterschiedslos allen zuteilen  – mit der Begründung, dies sei die unerlässliche Grundbedingung für die Entstehung eines 35 Vgl. dazu Ottmann (2001), S. 105–109. 36 Vgl. Ottmann (2001), S. 106–110. 37 Vgl. Göhler (1978), S. 154 ff. 38 Über einige Fragen dieser sog. politischen Anthropologie vgl. z. B. Schmitt, Carl 9(2015), Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin, S. 55–63. 39 Ottmann (2001), S. 220.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

funktionierenden Gemeinwesens.40 Der deutsche Philosoph Henning Ottmann nennt dies die »demokratische Pointe des Mythos«.41 Sie besteht darin, dass Protagoras hier im Grunde die Demokratie gegen ihre frühen Kritiker (wie Sokrates) verteidigt, indem er die Position hervorhebt, wonach es allen zustehe, sich am politischen Prozess zu beteiligen.42 Wie wir aus diesen Zeugnissen sehen, wird die Beteiligung der Bürgerschaft von Beginn an als unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Politik gesehen. Manchen gilt die antike Demokratie gerade deshalb als »ein Stachel im Fleisch der modernen Demokratie«,43 weil hier – zumindest relativ gesehen – ein historisches Höchstmaß an politischer Teilnahme – jeder Bürger konnte sich aktiv in den Versammlungen einbringen – verwirklicht war.44 Freilich darf nicht übersehen werden, dass Frauen damals noch ausgeschlossen waren  ; auch war der große Beteiligungsgrad der männlichen Bürger nur dadurch möglich, weil Sklaven all die anderen Arbeiten verrichten mussten und so den Bürgern die nötige Zeit für derart ausgeprägtes politisches Engagement verschafften.45 Dennoch wurde das System Athens zu einem Prototyp der »direkten Demokratie«.46 Solche direktdemokratischen Mechanismen, bei denen nicht gewählte Vertretungen, sondern die beteiligten Bürger selbst eine bindende Entscheidung herbeiführen, werden aber traditionell sehr kontrovers diskutiert  ; einerseits gelten ihre Ergebnisse als hochgradig demokratisch legitimiert, andererseits sagt man ihnen seit jeher eine gefährliche Neigung zur politischen Irreleitung und zu freiheitsfeindlichen Exzessen nach.47 Hierbei sei noch einmal an die bereits erwähnten Bedenken von James Madison und anderen erinnert. Hinter diesen Befürchtungen steckt zweierlei  : Einerseits die Einsicht, dass Demokratie auch eine Form der politischen Herrschaft ist und dass Herrschergewalt selbst in einer Demokratie nichts anderes als Herrschergewalt ist, wie uns Eric Voegelin erinnert.48 Damit verbindet sich auch die Annahme, dass die Ausübung von politi40 Vgl. Platon (2009), Protagoras. Griechisch/Deutsch, übers. v. Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart, S. 33–39 (320c–323a)  ; Ottmann (2001), S. 220 ff. 41 Ottmann (2001), S. 222. 42 Platon (2009), S. 39 (322d–323a). 43 Ottmann (2001), S. 110. 44 Vgl. Ottmann (2001), S. 105. 45 Vgl Ottmann (2001) S. 110. 46 Vierecke, Andreas/Mayerhofer, Bernd/Kohout, Franz (2010), dtv-Atlas Politik, München, S. 14. 47 Vgl. dazu Gaisbauer, Helmut P. (2012), Bausteine einer Ethik der direkten Demokratie, in  : Demokratiebildung. Annäherungen aus Fachwissenschaft und Fachdidaktik, hg. v. Heinrich Ammerer/ Franz Fallend/Elfriede Windischauer, Innsbruck–Wien–Bozen 2012, S. 85–93, hier S. 85 ff. 48 Voegelin (2004), S. 53.

37

38

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

scher Herrschaft einen potentiell korrumpierenden Effekt für jene in sich birgt, die sie ausüben  ; die berühmte Mahnung von Lord Acton  – »Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely«49 – mag einem hier in den Sinn kommen und erneut die alte Befürchtung wachrufen, dass gerade auch demokratische Politik dagegen nicht völlig immun ist. Die Gewichtung der Prinzipien – direkte vs. repräsentative Demokratie – hängt aber wohl in erster Linie davon ab, wovor man sich politisch mehr fürchtet  : vor einem »Aufstand der Massen« im Sinne von José Ortega y Gasset50 oder vor einem »Aufstand der Eliten« im Sinne von Christopher Lasch,51 also vor der Verantwortungslosigkeit der Menge oder vor der Selbstgerechtigkeit der Elite. Dies erinnert uns wieder an die obige Aussage, dass politische Vorstellungen von Sein und Sollen eng mit dem Menschenbild eines Betrachters zu tun haben. Die Frage, was die Demokratie eigentlich leisten soll, lässt sich somit nicht so einfach beantworten. Dies beginnt – wie wir bereits gesehen haben – schon damit, dass selbst der Begriff »Demokratie« verschiedene Deutungen zulässt. In Österreich wird die Demokratie in der Regel als Volksherrschaft verstanden. 2.2.2 Die Demokratie als Volksherrschaft – Doch wie herrscht das Volk  ? Der Begriff der Volksherrschaft entspricht im Wesentlichen der aus der griechischen Antike übernommenen Begrifflichkeit von Demos (Volk, Volksmasse) und kratein (Macht ausüben). Diese durchaus übliche Übersetzung für »Demokratie« wirft jedoch sofort weitere Fragen auf  : Wer ist überhaupt das Volk und wie herrschen beispielsweise die 8,86 Millionen (Stand 2019) Österreicher und Österreicherinnen gemeinsam  ? Mit Volk – genauer gesagt mit dem Ausdruck Staatsvolk – werden gemeinhin alle Staatsbürgerinnen und -bürger bezeichnet, was jedoch wiederum von den jeweiligen Bestimmungen abhängt, wie in einem Staat die Staatsbürgerschaft erlangt wird. Selbst Personen mit Staatsbürgerschaft können von Wahlen ausgeschlossen sein  : so wurde in Österreich etwa das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht bereits 1907 und somit noch in der Monarchie eingeführt. Frauen erlangten das aktive und passive Wahlrecht jedoch erst mit der Gründung der Ersten Republik am 12.  November  1918. In der sonst stets als demokratisches Vorbild genannten Schweiz dauerte diese Gleichstel49 Dalberg-Acton, John Emerich Edward (1907), Historical Essays & Studies, hg. v. John Neville Figgis/Reginald Vere Laurence, London, S. 504. 50 Ortega y Gasset, José 2(2007), Der Aufstand der Massen, München. 51 Vgl. Lasch (1995), S. 35–39.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

lung noch um Jahrzehnte länger, und in unserem Nachbarland Liechtenstein sprachen sich selbst noch  1971 die (ausschließlich männlichen  !) Wahlberechtigten mit 51,09 Prozent gegen die Einführung des Frauenwahlrechts im Fürstentum aus. In der Regel bilden die Staatsbürger und Staatsbürgerinnen einer Demokratie auch die Wahlbevölkerung und sind nach dem Recht, also de jure, wahlberechtigt. Ausnahmen bilden bestehende Altersgrenzen oder das Verbüßen einer Strafe nach einer gerichtlichen Verurteilung. In Österreich ist mit 16 Jahren das gesetzliche Wahlalter das niedrigste in der Europäischen Union und auch im weltweiten Vergleich eine Ausnahme, denn in den allermeisten anderen Staaten liegt dieses bei 18 Jahren. In der Vergangenheit waren auch in Österreich Strafgefangene von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen, aber hier wurden die Bestimmungen in jüngster Zeit gelockert. Gerade in Zeiten starker Migrationsbewegungen gibt es eine zunehmende Diskrepanz zwischen Wohnbevölkerung und Wahlbevölkerung. Aufgrund unterschiedlicher Hürden in verschiedenen Ländern (auch innerhalb der EU), die Staatsbürgerschaft und somit das Wahlrecht zu erwerben, variieren diese Diskrepanzen von Land zu Land beträchtlich. Dabei ist durchaus verständlich, dass die angestammte Bevölkerung aufgrund des Zuzuges von Menschen aus anderen Ländern die gewohnten politischen Spielregeln nur ungern ändern möchte. Andererseits bedeutet ein zunehmendes Auseinanderklaffen von Wohn- und Wahlbevölkerung auch ein wachsendes Repräsentationsproblem, das gelöst werden müsste. Jede Bevölkerungsgruppe hat Bedürfnisse und Interessen, die diese vertreten sehen möchte. Eine Selbstbeschränkung dieser Anliegen dürfte bei der ersten Generation nachvollziehbar sein  ; bei nachfolgenden Generationen, vor allem, wenn diese bereits im Land aufgewachsen und sozialisiert wurden, ist dies jedoch nicht mehr zu erwarten. Sollten diese Bedürfnisse vom politischen System nicht mitgedacht werden, kann es zur Entfremdung oder Radikalisierung der genannten Personenkreise kommen, denn aufgrund fehlender Repräsentation würde das bestehende System von den Betroffenen als nicht mehr legitim angesehen werden. 2.2.3 Die Repräsentation Um zur vorhergehenden Frage zurückzukehren – Was soll die Demokratie leisten  ? Die Repräsentation ist eine der legitimatorischen Grundlagen der liberalen Demokratie, da sich Menschen einerseits von ihrem politischen System vertreten fühlen und sie dieses folglich stützen. Anderseits bewirkt Repräsentation auch

39

40

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

eine rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen. Die StaatsbürgerInnen delegieren Herrschaftsaufgaben für einen begrenzten Zeitraum an ihre RepräsentantInnen. In der angelsächsischen Welt wird dies, aufbauend auf die dortige Tradition des Liberalismus von Philosophen wie Thomas Hobbes und John Locke, oft als doppelter Vertrag verstanden  ; zunächst brauche es einen Vertrag unter den Mitgliedern einer Gesellschaft, der jemandem legislative und exekutive Aufgaben überträgt, und dann einen weiteren Vertrag mit ebendieser Regierung, die verpflichtet wird, bestimmten Aufgaben nachzukommen.52 Ein Bruch des Vertrages von Seiten der Machthaber legitimiert das Volk also dazu, sich eben dieser Machthaber zu entledigen  : »Die Pflicht zum Gehorsam«, fasst Ottmann diese Denkfigur schön zusammen, »ist gebunden an den Schutz. Wer nicht geschützt wird, muß auch nicht gehorchen.«53 Daher liest sich die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 auch wie ein Beweisverfahren, bei dem der englischen Krone ihre vermeintliche Vertragsbrüchigkeit vorgehalten wird.54 In jedem Fall erfolgen durch die Repräsentation verfassungsmäßig legitime und für alle bindende Entscheidungen. Ein weniger repräsentatives System dagegen dürfte von den benachteiligten Bevölkerungsgruppen zunehmend in Frage gestellt werden. Damit verschwinden die politischen Konflikte jedoch keineswegs, sondern verlagern sich zunehmend aus den dafür vorgesehenen politischen Institutionen weg in andere Bereiche, wo sie schwerer zu lösen sind oder sich sogar in Form von Gewalt entladen. Österreichs ehemalige Großparteien, ÖVP und SPÖ, genossen lange Zeit eine große Legitimität, da diese über Jahrzehnte hinweg über 90 Prozent der österreichischen Wählerschaft vertraten. Das heißt, beinahe alle gewählten Mandatare entstammten bis in die späten 1980er Jahre einer dieser Parteien. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Prozentsatz zwar halbiert, dennoch hatte sich die Macht im Staat, den die beiden Parteien bis in jüngste Zeit ausübten, nicht im selben Ausmaß reduziert. Das heißt, es kam zu Legitimitätsdefiziten, die wiederum zu Vertrauensverlusten in das politische System und zur Parteienverdrossenheit führten, wie in diesem Buch noch ausgeführt werden wird. 52 Über diese Vertragstheorien vgl. Ottmann (2006), S. 292–295  ; 358–361. 53 Ottmann (2006), S. 295. 54 In den USA wird der Unabhängigkeitskampf daher mitunter gar nicht als revolutionärer Akt gesehen, sondern eher als Abwehrkampf mit dem Ziel der Bewahrung der eigenen Lebensart gedeutet (»a revolution not made, but prevented«). Vgl. dazu Kirk, Russell (2004), The Roots of American Order, Wilmington, S. 393–401.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

Wesentlich komplexer als die Frage der Repräsentation ist jene, wie denn die Demokratie die unterschiedlichen Bevölkerungsinteressen aufgreifen und in Entscheidungen übersetzen soll. Nicht alle Interessen lassen sich befriedigen, nicht alle politischen Zielsetzungen sind für die Gemeinschaft gleich wichtig und viele Anliegen widersprechen sich sogar und schließen sich somit gegenseitig aus. Nicht immer werden Kompromisse möglich sein, und manche politischen Ziele mögen für die Gemeinschaft insgesamt gar destabilisierend und somit gefährlich sein. Sollen also alle Anliegen gleich viel Gehör finden oder sollen die Positionen von Experten und Expertinnen, demokratiepolitisch engagierten Gruppen oder von direkt betroffenen Bevölkerungsteilen eher in Betracht gezogen werden als jene der oft wenig informierten DurchschnittsbürgerInnen  ? Sollen vom Staat bestimmte Interessen und Forderungen vorrangig behandelt werden und andere Aufgaben zivilgesellschaftlichen oder privaten Instanzen überlassen werden  – oder gar dem freien Markt  ? Soll es gegenüber den von Wählern und Wählerinnen herbeigeführten Entscheidungen Kontrollinstanzen geben oder haben die Bürgerinnen und Bürger immer recht  ? Nach dem Ökonomen Kenneth Arrow ist ein eigenes Theorem (das Arrow-­ Paradoxon bzw. Allgemeine Unmöglichkeitstheorem) benannt,55 das nachweist, dass es in einer Gesellschaft keine vollständige und transitive Rangordnung der Präferenzen geben kann, die sich aus einer beliebigen Anzahl von gleichwertigen Einzelpräferenzen ergibt, da diese sich, vereinfacht gesprochen, in Summe gegenseitig aufheben. Um zu einer Entscheidung zu kommen, müsste somit dieser Kreislauf durchbrochen werden, so dass bestimmte Präferenzen als gewichtiger eingestuft werden als andere. In der Regel gibt es unterschiedliche Gründe, bestimmten Präferenzen einen höheren Rang in der Ordnung zuzuweisen. Die Vorgehensweise richtet sich nach den jeweils zugrunde gelegten Demokratiekonzeptionen oder Demokratietheorien (siehe den nachstehenden Informationskasten). Anders gesprochen, es gibt verschiedene normative Gründe, bestimmte Positionen anderen vorzuziehen, diese sind jedoch wieder unterschiedlichen Vorstellungen von Demokratie und ebenso unterschiedlichen Menschenbildern verpflichtet.

55 Vgl. dazu Scruton, Roger (1982), A Dictionary of Political Thought, London, S. 27.

41

42

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

Demokratietheorien56 Es gibt eine Vielzahl von Demokratietheorien, die sich sowohl nach ideologisch-politischen Vorstellungen als auch nach Kulturkreisen unterscheiden. Beispielsweise sind angloamerikanische Demokratieansätze stärker von liberal-individualistischen Vorstellungen durchzogen als etwa kontinentaleuropäische, in denen gesamtgesellschaftliche Faktoren tendenziell stärker berücksichtigt werden. Im Wesentlichen lassen sich jedoch die bestehenden Demokratietheorien auf folgende Weise zusammenfassen  : Liberale Theorie Wesentliche Kennzeichen  : • Menschenbild  : das selbstbestimmte Individuum • Staatsbürgerliche Freiheiten und Rechte • Repräsentative Demokratie mit Kontrollinstanzen, Gewaltenteilung und Minderheitenrechten • Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament Abgesehen von den Demokratievorstellungen der griechischen Antike, wie sie bereits angesprochen wurden, ist die liberale Demokratietheorie zweifelsohne die älteste und wichtigste, da sie alle nachfolgenden Formen beeinflusste. Sie reicht bis vor die Zeit der großen bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts zurück und ist eng mit den klassischen Philosophen des Liberalismus verknüpft (Thomas Hobbes, John Locke, Charles de Montesquieu, James Madison oder etwas später John Stuart Mill). Die liberale Theorie geht vom Menschen als selbstbestimmtem Individuum aus, dessen Verwirklichung nur in Freiheit von Obrigkeit und staatlicher Intervention möglich sei. In der Regel stößt diese individuelle Freiheit dort an ihre Grenzen, wo die Freiheit anderer Menschen bedroht wird. Wie eng gefasst diese Grenzen sind, daran unterscheiden sich die verschiedenen liberalen Ansätze  : In einigen hat der Staat lediglich die Aufgabe, eine Art Nachtwächter zu sein und die Menschen sowie ihr Eigentum vor den Übergriffen Anderer zu schützen. In moderneren Liberalismuskonzeptionen zählen auch ökonomische und wohlfahrtsstaatliche Ziele zu einer liberalen demokratischen Grundordnung, die hier jedoch stets am Individuum und nicht am Kollektiv orientiert sind. Die liberale Demokratietheorie basiert auf den staatsbürgerlichen Rechten und Freiheiten, wie der Presse-, Rede-, Versammlungs- und Religionsfreiheit. Sie fordert wie andere Demokratieansätze ein freies und gleiches Wahlrecht, charakterisiert sich jedoch besonders durch ihre Kontrollinstanzen. Obwohl der Liberalismus vom Menschenbild des aufgeklärten Staatsbürgers ( jenem des bürgerlichen Mittelstandes) ausgeht, wohnt diesem Ansatz eine gewisse Skepsis gegenüber den »dunkleren« Seiten der »menschlichen Natur« inne, wie dem Egoismus, der Triebhaftigkeit oder der fehlenden Bildung. Daher setzt die liberale Demokratietheorie auf Kontrollmechanismen wie Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte, Gewaltenteilung, die Rolle unabhängiger Gerichte und Medien und vor allem auf das Re-

56 Hierzu gibt es eine mittlerweile kaum mehr zu überblickende Literatur, die hier nicht in ihrer Gesamtheit aufgeführt werden kann, ohne den Rahmen mit Belegen zu sprengen. Für einen ausführlichen Überblick und weiterführende Informationen zu vielen der hier erwähnten Theorien siehe zum Beispiel Schmidt, 5(2010).

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

präsentationsprinzip. Durch die Notwendigkeit, Repräsentanten zu wählen, die dann wiederum untereinander Kompromisse finden müssen, um Gesetze zu verabschieden, werden im Volk vorhandene extreme Positionen abgeschwächt und breite, allgemein verträgliche Entscheidungen getroffen, da auch Minderheitenpositionen berücksichtigt werden sollen. Die liberale Demokratietheorie fürchtet sich somit vor der sog. Pöbelherrschaft und der populistischen Demokratie, die auf die Mobilisierung von Mehrheitspositionen abzielt und die eine Beschränkung der Volksmeinung (etwa durch Gerichtsentscheidungen oder Mahnungen in den Medien) ablehnt. Der populistischen Diktion, das Volk (also der Souverän) habe immer recht und stehe im Extremfall auch über der Verfassung, tritt die liberale Demokratietheorie entschieden entgegen, wodurch auch eine starke Spannung zu direktdemokratischen und stark partizipatorischen Ansätzen besteht. In diesen sieht die liberale Theorie – in der schon erwähnten Tradition des französischen Liberalkonservativen Alexis de Tocqueville stehend – immer eine gewisse Gefahr des Autoritarismus in Form einer Diktatur der Mehrheit. Pluralistische Theorie Wesentliche Kennzeichen  : • Widerspiegelung (»Repräsentation«) der vielfältigen gesellschaftlichen Interessen • Wettbewerb der Interessen • Kräftegleichgewicht  : »checks and balances« • Effektive zivile Kontrolle militärischer und polizeilicher Gewalt • Kultureller Pluralismus verbunden mit Konsens über die Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung • Marktwirtschaftliche Ordnung Angelehnt an die liberale Demokratietheorie betont die pluralistische Theorie die gesellschaftliche Vielfalt und die Tendenz der Menschen, sich zu Interessensgruppen zusammenzuschließen und in einen Wettbewerb miteinander zu treten. Die Rolle des Staates soll somit sein, als neutraler Schiedsrichter aufzutreten und für die Einhaltung der Spielregeln des Wettbewerbes zu sorgen. Dass sich die besser organisierten und effektiveren Gruppen durchsetzen, wird als gesamtgesellschaftlicher Wert erkannt, da Erfolg auch politische Konsequenzen haben soll und im demokratischen Wettbewerb die Gewinner auch mit politischer Macht belohnt werden. Im Pluralismus haben jene von staatlichen Maßnahmen besonders betroffenen Interessen auch das demokratische Recht, etwaige Beeinträchtigungen durch das Lobbying der Entscheidungsträger abzuwenden. Im Unterschied zu anderen Ansätzen vertraut die pluralistische Theorie nicht auf die Aufgeklärtheit der Staatsbürger oder die intrinsische Güte von politischen Regelungen oder Institutionen, sondern allein auf den Wettbewerb. Nur das den Menschen innewohnende Wettbewerbsstreben führe zu den checks and balances, also zu einer gegenseitigen Kontrolle der politischen Kräfte, und nur dies verhindere das Entstehen eines Autoritarismus. Sozialistische Theorie Wesentliche Kennzeichen  : • Bürgerlich-liberale Demokratie als bloße Fassade • Sozialstaatliche Abfederung • Ziel geringer ökonomischer und sozialer Ungleichheit

|

43

44

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

Bereits im 19. Jahrhundert kritisierten die Sozialisten die bürgerlich-liberale Demokratie als bloße Fassade, die lediglich dazu diene, die ungleiche Vermögensverteilung und ein System der wirtschaftlichen Ausbeutung aufrechtzuerhalten. Die liberale Demokratie galt ihnen zudem als Übergangsphänomen, wobei neben den politischen Grund- und Freiheitsrechten auch soziale Grundrechte verlangt wurden. Der demokratisch legitimierte Staat hingegen wurde auf Basis der sozialen Grundrechte zu einem Agenten der Umverteilung und der Einschränkung der Eigentumsrechte. Ziel war hier die Vergesellschaftung der Produktionsgüter, etwa durch Enteignung und Verstaatlichung. Somit steht die sozialistische Theorie im Gegensatz zur klassischen liberalen Demokratietheorie. Mit der Zeit schwächten sich diese Forderungen jedoch ab und trafen in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf sozialere Formen des Liberalismus, die ebenfalls davon ausgingen, dass für das Individuum politische Rechte ohne entsprechende ökonomische oder soziale Absicherung wenig bringen oder dass allzu große ökonomische Machtunterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen eine Gefahr für die Demokratie selbst darstellen und somit der Staat durchaus die Aufgabe habe, ordnend und begrenzend einzugreifen (sog. »Ordo-Liberalismus«). Somit vermischen sich auch in der modernen Sozialdemokratie beispielsweise sozialistische, pluralistische und »ordo-liberale« demokratiepolitische Grundsätze. Ökonomische Theorie Wesentliche Kennzeichen  : • Individuum als Homo Oeconomicus • Parteien als Produzenten, Wähler als Konsumenten • Staat als neutrale »Marktaufsicht« Abgeleitet von der liberalen und pluralistischen Theorie ist auch die ökonomische Demokratietheorie dem Staat gegenüber skeptisch eingestellt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn dieser sich als mächtiger Akteur in das freie Spiel der Kräfte einmischt, eine eigene Agenda verfolgt und bestimmte Interessen gegenüber anderen bevorzugt. Doch stärker als der Liberalismus sieht die ökonomische Theorie im Individuum vor allem einen Kosten/Nutzen-abwägenden, rationalen Akteur (»homo oeconomicus«), der seine wirtschaftlichen Verhaltensweisen auch auf die Politik anwendet. Dabei werden, ähnlich der Konkurrenz der Akteure auf dem Markt, bestimmte politische Gruppierungen als »Produzenten« auf dem »Wählermarkt« antreten, um quasi »politische Käufer« oder »Konsumenten« zu finden. Der Staat habe vor allem als eine Art »Marktaufsicht« zu fungieren, um Verzerrungen des Wählerwillens zu verhindern. Politische Werbung, eine umfassende Informationsfreiheit und niedrige Hürden, um sich zu politischen Interessensgruppen zusammenschließen zu können, sind Grundvoraussetzungen. Der Interessensausgleich regelt sich durch das freie Spiel der Kräfte automatisch. Partizipatorische Theorie Wesentliche Kennzeichen  : • Individuelle Selbstbestimmung (Volkssouveränität) • Mobilisierung der Bevölkerung und Partizipation auf allen Ebenen • Demokratie als Praxis, die gelernt und geübt werden muss • Direktdemokratische Entscheidungsmechanismen Der partizipatorische Demokratieansatz geht von der Idee aus, dass Menschen demokratische Entscheidungen nicht delegieren, sondern an diesen direkt und unmittelbar mitwirken

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

sollen. Dies geschieht – wie in Österreich von der Verfassung vorgesehen – durch Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksabstimmungen. In der Schweiz oder den Bundesstaaten des Nordostens der USA gibt es auch eine Volksgesetzgebung. Geprägt von der partizipatorischen Revolution der 1960er Jahre mit dem Ideal der individuellen Selbstbestimmung geht diese Theorie nicht nur vom Bild der aktiven StaatsbürgerInnen und einer engagierten Zivilgesellschaft aus, sondern auch von der Demokratie als erlernter und eingeübter Praxis. Erst die wiederholte Teilnahme an Abstimmungen und verschiedenen Bürgerbeteiligungsverfahren verinnerliche diese Prozesse und führe dazu, dass Menschen den demokratischen Staat als den ihren wahrnähmen und sich nicht als Untertanen einer Obrigkeit fühlten. Das Prinzip der Volkssouveränität als zentrales Gut, die Mobilisierung der Bevölkerung und die Partizipation auf allen Ebenen sind ebenso zentrale Wesensmerkmale wie die Zurückweisung einer Bevormundung durch Eliten und ExpertInnen. In jüngster Zeit gibt es zahlreiche neue Formen von Bürgerbeteiligungsmodellen und Initiativen wie Citizen juries, vor allem bei Bauprojekten und auf kommunaler Ebene. Der partizipatorische Ansatz wird vielfach auch als Möglichkeit gesehen, der Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Die konkordanzdemokratische Theorie Wesentliche Kennzeichen  : • Individuelle Selbstbestimmung (Volkssouveränität) • Hohe politische Stabilität trotz gesellschaftlicher Spaltungen (aufgrund sozioökonomischer, religiöser und/oder ethnischer Konflikte, einander feindseliger »Lager«-Kulturen) • Akkordierung der Standpunkte durch organisierte Einheiten bzw. Organisationen • Internalisierung externer gesellschaftlicher Konflikte • Positive Bewertung von Kompromissen (Insider-Politik) In der sozialpartnerschaftlich dominierten Zweiten Republik spielten konkordanzdemokratische Konzeptionen eine große Rolle. Österreich gilt international überhaupt als Paradebeispiel für die Konkordanzdemokratie. Dieser Ansatz käme an sich aber besonders in ethnisch, sozioökonomisch oder religiös stark gespaltenen Gesellschaften zur Geltung, wo ein pluralistischer Wettbewerb und ein freies Spiel der Kräfte ganze Gruppen zu Gewinnern oder Verlierern machen würde. Dies hätte einerseits die Verlagerung der politischen Auseinandersetzung auf die Straße oder gar in den Untergrund zur Folge und würde das Vertrauen in den Staat und die demokratischen Institutionen auf Dauer schädigen. Instabilität oder die dauernde Repression bestimmter Interessen wären die Konsequenz. Daher organisieren sich diesem Modell gemäß die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und versuchen durch den Abtausch von Interessen, durch Kompromisse, Akkordierung und proportionale Kontrolle (Proporz) in wichtigen Gremien Ergebnisse zu schaffen, die die unterschiedlichen Präferenzen und Ziele weitgehend berücksichtigen. Durch den Interessensausgleich werden Konflikte internalisiert, also aus der Gesellschaft in Institutionen hinein verlagert, wo sie durch verschiedene von allen akzeptierte Verfahrensregeln gelöst werden können. Kritiker der Konkordanzdemokratie beklagen die ihr innewohnende Kartellierung der Macht, ihre Intransparenz und Neigung zur Insider-Politik sowie ganz allgemein ihren eher illiberalen Charakter. Durch ihre Betonung von Gruppeninteressen, die Skepsis gegenüber dem pluralistischen Wettbewerb sowie durch ihre Präferenz für die organisierte Marktwirtschaft steht die Konkordanzdemokratie auch insgesamt in einem Spannungsverhältnis zur liberalen Demokratietheorie.

|

45

46

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

In der Wissenschaft werden normative und empirische Demokratietheorien unterschieden. Erstere streben ein Sollen, also ein bestimmtes demokratisches Ideal an, das es zu verwirklichen gilt. Letztere versuchen eher, den Ist-Zustand demokratischer Systeme anhand bestimmter Kriterien zu messen, wobei die Messkriterien natürlich auch bestimmten normativen Vorstellungen unterliegen. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die Ausbildung der westlichen Demokratien bildet die liberale Theorie in der Literatur meist den grundlegenden Bezugsrahmen dessen, was Demokratie ist und leisten soll. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Demokratietheoretiker Robert Dahl etwa hat in seinen einflussreichen Werken57 grundlegende Kriterien für die Qualität der Demokratie aufgestellt, ohne die liberale Demokratien nicht auskommen können. Zusammenfassend könnte man seine Qualitätsansprüche an eine leistungsfähige liberale Demokratie in drei Dimensionen unterteilen  : Prozess, Inhalt und Ergebnis. Vom Prozess her ist es notwendig, dass Bürger und Bürgerinnen die Macht haben, die Arbeit der Regierung zu beurteilen und hierüber abstimmen zu können. Vom Inhalt her müssen Bürger und Bürgerinnen über ausreichend Freiheit und Gleichheit verfügen. Vom Ergebnis her bedarf es eines breit legitimierten Regimes, das die Erwartungen der Bevölkerung im Wesentlichen zufriedenstellt. 2.2.4 Das Messen der Demokratiequalität Ob und in welchem Umfang Demokratien diese Leistungen auch erbringen, lässt sich anhand verschiedener empirischer Demokratieindices vergleichen  :58 So belegte Österreich auf dem Democracy Index59 der in Großbritannien beheimaten Analysefirma Economist Intelligence Unit (EIU) unter 167 Staaten den 14. Rang (Stand 2016), wobei jedoch dort überhaupt nur 19 Staaten als vollwertige Demokratien gelistet werden und weitere 66 Staaten als Demokratien mit Fehlern (sog. »flawed democracies«) – darunter auch Staaten wie Frankreich, Italien, Israel, die USA und Tschechien. Die Indexwerte der einzelnen Staaten spiegeln Punktbewertungen in Kategorien wie Wahlsystem, Pluralismus, bür57 Dahl, Robert A. (1956), A preface to democratic theory. Chicago  ; Dahl, Robert A. (1971). Polyarchy  : participation and opposition, New Haven. 58 In den folgenden Abschnitten werden umfangreichere Passagen aus einer parallel zu diesem Beitrag erstellten, bereits publizierten Abhandlung übernommen, z. T. aber auch überarbeitet und ausgebaut  : Heinisch/Wintersteiger (2018), hier an dieser Stelle konkret S. 52. 59 Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2016, [https://www.eiu.com/public/topical_report.aspx  ?campaignid=DemocracyIndex2016], eingesehen am 06.10.2019.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

gerliche Freiheiten, die Effektivität der Regierung, Entscheidungen umzusetzen, politische Partizipation und politische Wertvorstellungen (gemessen an Meinungsumfragen) wider. Im Democracy Ranking60, dem Index einer in Wien beheimateten Vereinigung namens Democracy Ranking Association – Förderung von Demokratiequalität, belegt Österreich im Ranking (Stand 2016) den 13. Platz, die USA hingegen einen weit besseren Rang als im vorher genannten Index. In dem in wissenschaftlichen Analysen häufig verwendeten Polity IV Index,61 der sich der langfristigen demokratischen Entwicklung von Staaten widmet, rangiert Österreich zusammen mit praktisch allen anderen westlichen Staaten seit 1946 konsequent an der Spitze der möglichen Wertungen. Interessanterweise liegt Österreich jedoch auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen, der die Dimensionen Gesundheit, Lebensqualität, Lebenserwartung, Bildung und Lebensstandard misst, etwas abgeschlagen nach fast allen westeuropäischen Staaten auf dem 24. Platz, dabei weit hinter Deutschland (4. Platz), den USA (10. Platz) und natürlich hinter den Spitzenreitern Schweiz (2. Platz) und Norwegen (1. Platz).62 Somit scheint der Zustand der Demokratie interessanterweise besser zu sein als die sozialen Bedingungen und die Lebensqualität, also just jene Bereiche, auf die die ÖsterreicherInnen oft besonders stolz sind. Auch wenn man einschränkt, dass die hier genannten Demokratieindizes ihre Bewertungen allein auf Basis der bürgerlich-liberalen Demokratievorstellungen vornehmen, und wenn man dabei bedenkt, dass es durchaus auch noch andere Demokratiekonzeptionen gäbe, oder wenn man konzediert, dass sich reichere Staaten (aus naheliegenden Gründen) insgesamt leichter tun, die hier zugrunde gelegten Kriterien auch zu erfüllen, schneidet Österreich in Sachen Demokratie hervorragend ab. Demnach könnte man angesichts der Frage Was soll die Demokratie leisten  ? relativ beruhigt antworten, dass – zumindest nach den bestehenden Leistungskriterien und im internationalen Vergleich – Österreichs Demokratie bisher Herausragendes geleistet hat.

60 Global Democracy Ranking (2017), The Democracy Ranking of the Quality of Democracy 2016, [http://democracyranking.org/wordpress/rank/democracy-ranking–2016], eingesehen am 06.10. 2019. 61 Marshall, Monty G./Gurr, Ted Robert (2014), Polity IV Project  : Political Regime Characteristics and Transitions, 1800–2013, [http://www.systemicpeace.org/polity/polity4.htm], eingesehen am 06.10.2019. 62 UNDP (2016), Human Development Report 2016. Human Development for Everyone, New York, S. 198, [http://hdr.undp.org/sites/default/files/2016_human_development_report.pdf ], eingesehen am 06.10.2019.

47

48

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

Bei genauerer Betrachtung sollte man auch erkennen, dass weltweit gesehen die Diskrepanzen zwischen den Staaten insgesamt derart groß sind, dass relativ gesehen die eher geringen Unterschiede unter den westeuropäischen Demokratien nahezu verschwinden. Wohlhabende kleine und bisher weitgehend homogene Staaten mit gut funktionieren Sozialsystemen, die von den großen Konfliktherden der Welt weit entfernt sind, haben gegenüber anderen Ländern demokratiepolitisch gesehen große Vorteile. Die Verteilungskämpfe sind nämlich angesichts ausreichender Ressourcen geringer. Eine gute Ausbildung und ausreichende Bezahlung der Beamtenschaft und Justiz reduziert deren Anfälligkeit für Korruption und ungesetzliche Übergriffe und sorgt zudem für funktionierende Kontrollinstanzen. Wenn wir jedoch einen etwas feineren Index heranziehen, wie etwa die Sustainable Governance Indicators (SGI)63 der Bertelsmann-Stiftung, einen Index, der die Leistungen des Regierungssystems nach verschiedenen Dimensionen bewertet, zeigen sich bei Österreich – relativ zu anderen europäischen Staaten gesehen – in einzelnen Bereichen sehr wohl Defizite  : Beispielsweise schneidet der Nachbar Deutschland in den drei Hauptdimensionen Policy Performance (Leistung in Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik), Governance (Umsetzungskapazität, Transparenz und Kontrolle der Regierung) und Democracy (Demokratiequalität) besser ab als Österreich. Alle skandinavischen Länder, aber auch Großbritannien, die Schweiz und die Niederlande liegen vor Österreich. Im Bereich Demokratiequalität liegt Österreich auch unter dem Durchschnitt der Staaten in der Eurozone und insgesamt nur knapp über dem OECDSchnitt.64 Die Leistungsschwächen des demokratischen Systems werden in den nachstehenden Kapiteln noch genauer analysiert werden. Die hier vorgestellten Messdaten bieten aber bereits eine Möglichkeit, die österreichische Demokratie international zu vergleichen und einzuordnen. Eine Leistungsanforderung an ein demokratisches System besteht auch in dessen Krisentauglichkeit und Stabilität. In dieser Hinsicht hatte sich gerade die Erste Republik nicht besonders ausgezeichnet. Somit behielten die Großparteien nach 1945 lange Zeit eine Art Reserveautorität für den Fall eines etwaigen Staatsversagens. Insbesondere in den Nachkriegsjahren waren es vor allem die 63 Bertelsmann Stiftung (2017), SGI 2017 Survey, [http://www.sgi-network.org/2017], eingesehen am 06.10.2019. Die folgende Passage entspricht weitgehend unseren Ausführungen in Heinisch/ Wintersteiger (2018), S. 52 f. 64 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) gilt als Vereinigung der westlichen Industriestaaten, der mittlerweile auch Chile, die Türkei und Israel angehören.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

Parteien und weniger der Staat selbst, die als Garanten der neuen demokratischen Ordnung auftraten. Mit dem Schwinden der Autorität der staatstragenden Parteien konnte man sich beängstigt fragen, wie der demokratische Staat nun mit Regierungskrisen und Ausnahmesituationen zurande kommen würde. Die Erfahrungen des Jahres 2019, als erstmals eine österreichische Regierung durch einen Misstrauensantrag abgesetzt und durch eine Expertenregierung ersetzt wurde, zeigen die Resilienz des demokratischen Systems. In dieser Hinsicht konnte sich die österreichische Demokratie bewähren und dieser Leistungsanforderung durchaus gerecht werden. 2.2.5 Zwischenfazit Aufgrund der vorhergegangenen Darstellung und der anhand der Demokratietheorien vorgestellten Grundsätze und Werte würde man die Frage nach dem, was die Demokratie leisten soll, wohl wie folgt beantworten  :65 Die Demokratie soll zunächst die Wohnbevölkerung möglichst umfassend vertreten. Sie soll des Weiteren ein Maximum an Volkssouveränität, Pluralismus, Partizipation, persönlicher und politischer Freiheit, Bürgerrechten, politischer Gleichheit und demokratischer Kontrolle der Mächtigen gewährleisten. Kompetenzen sollen so geregelt sein, dass Entscheidungen den hierfür politisch Verantwortlichen klar zuordenbar sind, damit diese allenfalls im Amt bestätigt oder aber abgewählt werden können. Eine klare Gewaltenteilung, effektive Kontrollinstanzen sowie unabhängige Medien zählen ebenfalls zu den Leistungsanforderungen an das demokratische System. Ein Mehrparteiensystem sowie freie und faire Wahlen alleine sind also nicht genug, sondern es muss auch regelmäßig zu einem Wechsel an der Macht kommen können. Eine funktionierende Demokratie bedarf zudem einer aktiven und leistungsfähigen Zivilgesellschaft und geht vom Bild selbstbestimmter Bürger aus, die Politik und Staat aktiv mitgestalten. Diesen Möglichkeiten ist möglichst breiter Raum zu geben, der jedoch nur innerhalb der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Grenzen und Kontrollen verlaufen kann, um etwa den Schutz von Minderheiten zu gewährleisten und so eine Willkürherrschaft zu unterbinden. Politische Rechte und Freiheiten können nur unter Bedingungen der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität sowie der Rechtsstaatlichkeit ausgeübt werden  ; diesen Umständen und den vorher genannten Anforderungen hat eine leistungsfähige Demokratie entsprechend Rechnung zu tragen. 65 Die folgende Passage stammt, wenngleich hier leicht abgeändert, aus Heinisch/Wintersteiger (2018), S. 69 f.

49

50

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

2.3 Soziologische Wirklichkeit  : Partitokratie und schwacher Parlamentarismus  ? Österreich und seine Demokratie werden oft als das Produkt gescheiterter Ambitionen angesehen  :66 Bevor Österreich zu dem wurde, was es heute ist, sind andere politische Entwürfe gescheitert. Im Gegensatz zu anderen westlichen Staaten fand in Österreich auch keine erfolgreiche bürgerlich-liberale Revolution statt, und die Bildung eines österreichischen Nationalstaates erfolgte mit vergleichsweise großer Verzögerung. Selbst die nationale Identität Österreichs stand lange in Zweifel. In jenem von der Provisorischen Nationalversammlung am 11. November 1918 beschlossenen Gesetz über die Staats- und Regierungsform etwa wurde der neue Staat »Deutschösterreich« als demokratische Republik (Artikel 1) und gar noch als Bestandteil der Deutschen Republik (Artikel 2) bezeichnet.67 2.3.1 Die Eigenheiten des österreichischen politischen Systems Statt eines aufkeimenden Nationalpatriotismus gab es einen Lagerpatriotismus von zwei einander misstrauisch gegenüberstehenden Milieus  : auf der einen Seite die sozialdemokratische Arbeiterschaft und auf der anderen das katholisch geprägte Bürgertum. Auch der österreichische Föderalismus ist ein ungewöhnlicher  : Normalerweise finden sich föderale Staatsformen in kulturell oder geographisch heterogenen Ländern, um die politische Entscheidungsmacht zu dezentralisieren und diese näher an die Bevölkerung zu bringen. Im räumlich kleinen und kulturell vergleichsweise homogenen Österreich gab es zwar eine nur schwache nationale, dafür aber eine stark ausgeprägte regionale Identität. Dennoch oder gerade deswegen gilt der österreichische Bundesstaat in der Politikwissenschaft als bloßer Scheinföderalismus oder als sehr unitäre beziehungsweise zentralistische Form des Föderalismus.68 Die Regionalinteressen nämlich werden nicht über die dafür vorgesehenen Institutionen, sondern de facto über 66 Beträchtliche Teile dieser und der nun folgenden Ausführungen über Föderalismus und Parteien wurden von uns auch schon andernorts publiziert und hier z. T. adaptiert  : Heinisch/Wintersteiger (2018), passim. 67 Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich (1918), 1. Stück, 15.11.1918, Art. 1–2, S. 3, [http:// alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=sgb&datum=19180000&page=25], e­ ingesehen am 06. 10.2019. 68 Vgl. dazu Fallend, Franz (2006), Bund-Länder-Beziehungen, in  : Politik in Österreich. Das Handbuch, hg. v. Herbert Dachs u. a., Wien, S. 1024–1040, hier S. 1024.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

die Parteien oder allenfalls über dafür verfassungsmäßig gar nicht vorgesehene Gremien wie die Landeshauptleutekonferenz vermittelt. 2.3.2 Partitokratie und Parteienstaat Wir sehen aus dieser Übersicht, dass die Parteien, insbesondere die beiden ehemaligen Großparteien, Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) und Österreichische Volkspartei (ÖVP), sowie deren Vorläufer eine dermaßen starke Rolle in Österreich spielten, dass dieses gemeinhin als Partitokratie oder »Proporzdemokratie«69 bezeichnet wird. In der Tat sind nicht die Parteien aus dem Staat, sondern ist der Staat aus den Parteien entstanden, denn diese haben Österreich nicht nur einmal, sondern gleich zweimal gegründet – zunächst 1918 und dann erneut 1945. Die Verfassung ebenso wie alle anderen bestehenden politischen Arrangements und Gepflogenheiten spiegeln Kompromisse zwischen diesen beiden Parteien wider, die seit 1945 auch die wesentlichen Träger der Zweiten Republik waren. Beide Parteien waren somit stets mehr als Parteien im üblichen Sinn – diese werden in der Politikwissenschaft gemeinhin als organisierter Zusammenschluss von Menschen mit dem Ziel, gewählt zu werden, definiert. In Österreich jedoch bildeten SPÖ und ÖVP so etwas wie eine Reserveautorität des Staates. Dieser konnte zwar scheitern, aber von den Parteien wiedererrichtet werden. Lange Zeit waren die Parteien zentrale Ankerpunkte der Gesellschaft und als solche identitätsstiftend, denn selbst Automobilklubs, Sportvereine, Wohnviertel, Freizeiteinrichtungen, Sparkassen oder auch Tageszeitungen waren parteipolitisch bestimmt und somit nach Ideologien getrennt. Die Ernennung einer Leitungsfunktion an einer Schule oder bei einem städtischen Betrieb war eine Aushandlungsmaterie zwischen den Großparteien. Eine Anstellung in einem öffentlichen oder halböffentlichen Unternehmen, eine Wohnung bei der Gemeinde oder einer Genossenschaft oder ein öffentlicher Auftrag bedurften allzu oft des »richtigen« Parteibuches. Daher wurde das Land, wie schon erwähnt, auch als »Proporzdemokratie« beschrieben.70 Österreich war auch eines der Länder mit den relativ gesehen meisten Parteimitgliedern weltweit – bis in die 1990er Jahre hatten ÖVP und SPÖ teilweise weit über eine halbe Million Mitglieder,71 und 69 Lehmbruch, Gerhard (1967), Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich, Tübingen. 70 Lehmbruch (1967). 71 Bei der SPÖ waren es 1979 noch über 700.000 Mitglieder, während bei der ÖVP aufgrund von

51

52

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

bis in die 1980er Jahre wählten über 90 Prozent der ÖsterreicherInnen entweder ÖVP oder SPÖ. Somit ist natürlich auch die österreichische Demokratie mit all ihren Ausprägungen (wie etwa der Aufteilung der Kompetenzen) ein Produkt dieser beiden Parteien. Wie im Buch noch genauer dargestellt werden wird, ist der Parlamentarismus in Österreich ein schwacher. Das heißt, dem Parlament fehlen eigentlich die Ressourcen, die notwendig wären, um ein richtiges Arbeitsparlament zu sein, Gesetzesanträge auf ihre Folgen und Kosten hin abzuschätzen oder durch haus­ interne Experten eigene Vorschläge einbringen zu können. Dies würde den Abgeordneten viel unabhängige Macht geben und damit die Vormachtstellung der Parteien schwächen, da diese die Gesetze bislang entweder als akkordierte Regierungsvorlagen oder als parteiintern abgesprochene Initiativanträge im Nationalrat einbringen und von der eigenen Fraktion Zustimmung erwarten. Die Parteien kontrollieren in der einen oder anderen Form nicht nur den Gesetzgebungsprozess, sondern erstellen auch die Listen, auf denen die Mandatare gewählt werden. Der Zuspruch der ÖsterreicherInnen zu den bisher etablierten Parteien hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Mit dem Auflösen der kompakten Milieus und dem weitgehenden Verschwinden der traditionellen weltanschaulichen Lager verloren ÖVP und SPÖ sukzessive etwa die Hälfte ihrer WählerInnen wobei die Stammwählerschaft vor allem der Sozialdemokraten zunehmend älter wurde. Mit dem Entstehen der neuen Mittelschichten im Zuge des steigenden Wohlstandes der Siebzigerjahre mussten auch die Parteien zunehmend in die Mitte rücken und wurden so für viele Beobachter inhaltlich immer weniger unterscheidbar. 2.3.3 Die Kartellparteien – die Verflechtung von Parteien und Staat Die politikwissenschaftliche Literatur spricht davon, dass aus den traditionell ideologisch positionierten Massenparteien sogenannte Catch-All-Parteien wurden, die durch den Wettbewerb über bestimmte Themen (issue politics), Persönlichkeiten und modernes politisches Marketing neue Wähler und Wählerinnen anzusprechen versuchten.72 Diese wurden aufgrund des sozialen Wandels selbst Mehrfachmitgliedschaften bei den Teilorganisationen ein Minimum und ein Maximum angegeben werden. Die Zahl variiert zwischen respektive über 500.000 und 900.000  : Zirnig, Dieter (2014), Entwicklung und Überblick. Parteimitglieder in Österreich, [https://neuwal.com/2014/11/23/ entwicklung-und-ueberblick-parteimitglieder-in-oesterreich], eingesehen am 06.10.2019. 72 Katz, Richard S./Mair, Peter (1995), Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in  : Party Politics 1, Heft 1, S. 5–28.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

in ihrer politischen Orientierung immer flexibler. In weiterer Folge, so die Theorie, entstanden Kartellparteien, die sich vor allem durch ihren Zugang zu staatlichen Ressourcen an der Macht halten, indem sie Schlüsselinstitutionen und Gremien in Staat und Wirtschaft besetzen, überall hin quervernetzt sind und sich weitgehend über Wahlkampfkostenrückerstattung und staatliche Subventionen finanzieren. Im Laufe der 1980er Jahre nahm dann jedoch die Anzahl der ArbeiterInnen, die sich mit der SPÖ identifizieren konnten, um 18  Prozent ab, und 31  Prozent der Wähler kehrten der größten Regierungspartei den Rücken. Im selben Zeitraum stieg der Anteil jener, die das Gefühl hatten, die Politik versage dabei, wichtige Fragen zu lösen, um 10 Prozent auf ganze 43 Prozent. Mehr als zwei Drittel der Befragten waren der Meinung, dass PolitikerInnen korrupt und bestechlich seien, was einen Anstieg um 31 Prozent seit Ende der Siebzigerjahre bedeutet. Daher sehnten sich in jener Zeit 47 Prozent Österreicher nach neuen Parteien, während es eine Dekade vorher nur 10 Prozent waren. Im Jahr 2013 war dann die Zahl der ÖsterreicherInnen, für die die Parteien als »politisch sauber« galten, gar nur noch im einstelligen Bereich angesiedelt.73 Durch die enge Verknüpfung der Großparteien mit dem Staat wurden diese sowohl von ihrer eigenen Basis und deren Mitgliedsbeiträgen wie auch von den WählerInnen zunehmend unabhängig. Ziel war es nun nicht mehr unbedingt, möglichst viele Wählergruppen anzusprechen, sondern relativ zu den Mitbewerbern noch so stark abzuscheiden, dass man weiterhin die angestammte Rolle im Staat einnehmen konnte. So verlor die Bundeskanzlerpartei SPÖ von 1983, wo ihr noch 47,6  Prozent der ÖsterreicherInnen ihr Vertrauen schenkten, bis 2013 beinahe 43,6 Prozent ihrer WählerInnen, und dennoch blieb dies staatspolitisch für die Partei lange fast ohne Folgen. Indem sie etwa knapp vor der noch schwächer reüssierenden ÖVP zu liegen kam und den Auftrag zur Regierungsbildung erhielt, konnte sie wie schon oft zuvor auch mit ihrer stark geschrumpften Mehrheit zusammen mit dem Koalitionspartner alle Machtpositionen weiterhin besetzen – etwa vom Stiftungsrat des öffentlichen Rundfunks bis hin zur Ernennung von Höchstrichtern. Einzig die Möglichkeit, Gesetze mit Zweidrittelmehrheit als Verfassungsgesetze zu beschließen, bestand aufgrund der geringeren Zahl an Mandaten nun nicht mehr, ansonsten war jedoch die Machtfülle ungebrochen. Paradoxerweise bot dieser Schwund an WählerInnen im Wahlkampf sogar gewisse Vorteile, denn eine Partei, die weitgehend auf ihre KernwählerInnen re73 IMAS (2012), Report Nr. 10, S. 2, [http://www.imas.at/images/imas-report/2012/10_die_vorstel lung_vom_guten_staatsbuerger.pdf ], eingesehen am 06.10.2019.

53

54

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

duziert ist, muss sich programmatisch nur mehr auf diese ausrichten. Dies birgt weniger die Gefahr, dass beim sonst notwendigen Umwerben unterschiedlicher Gruppen das eigene Profil und die zentrale Botschaft verwässert würden. So hatte sich die SPÖ vor allem der Zielgruppe der PensionistInnen angenommen, ihrer inzwischen treuesten Wählerschaft, und richtete den Wahlkampf zunehmend auf diese aus. Daher gelang es der SPÖ, in den Wahlkämpfen 2006, 2008 und 2014 ihre Kernschichten zu mobilisieren. Beispielsweise wurde die SPÖ auch in der Nationalratswahl  2014 überdurchschnittlich von PensionistInnen bzw. Älteren (34  Prozent in dieser Gruppe) und von Frauen (29  Prozent in dieser Gruppe) gewählt. Hingegen lag die FPÖ mit 34 Prozent bei ArbeiterInnen vorne und war mit 25 Prozent insgesamt fast gleichauf mit der SPÖ.74 Aus der politischen Logik der Parteien ist die Fokussierung auf bestimmte Gruppen und die Besetzung staatlicher Machtpositionen verständlich, dennoch ist diese Entwicklung demokratiepolitisch bedenklich. Wenn Parteien über Jahre hinweg einen Großteil ihrer Wählerschaft einbüßen, dies aber machtpolitisch de facto ohne Konsequenzen bleibt, dann zeigt dies, wie stark isoliert von demokratischen Entscheidungen die bestehenden Machtverhältnisse inzwischen sind. Von neun Wahlgängen seit  1986 führten lediglich drei zu einer anderen Zusammensetzung der Regierung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass dies zu einem Verdruss an der Parteiendemokratie und zu einem starken Bedürfnis nach Wandel und Reform führte. 2.3.4 Der Verdruss an der Parteiendemokratie Mit der Abnahme der Bindekraft der etablierten Parteien wünschte sich ein großer Teil der Bevölkerung eine stärkere und direktere Mitsprache bei politischen Entscheidungen. So stimmten etwa 44 Prozent der ÖsterreicherInnen der Aussage »Mir genügt es nicht, alle paar Jahre bei einer Wahl meine Stimme abgeben zu können. Als Bürger lege ich großen Wert darauf, in der Politik möglichst viel mitbestimmen zu können. Darum möchte ich, dass viele Volksabstimmungen abgehalten werden.« zu.75 Allerdings ist dieser Prozentsatz geringer als jener in Deutschland (47 Prozent) und steht einer beinahe ebenso großen Gruppe von 41 Prozent gegenüber, die »keinen Wert auf viele Volksabstimmungen« legt, da74 SORA, Nationalratswahl 2013, [http://www.sora.at/themen/wahlverhalten/wahlanalysen/nrw13. html], eingesehen am 06.10.2019. 75 IMAS international (2011), Report Nr. 4, [http://www.imas.at/images/imas-report/2011/4–2011. pdf ], eingesehen am 06.10.2019.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

für aber mehr Einsatz von den gewählten PolitikerInnen erwartet. Auch variiert die Zustimmung zur direkten Demokratie stark nach Alter und Parteipräferenz  : Personen unter dem 30. Lebensjahr (53 Prozent) präferieren Plebiszite ungleich stärker als die älteste Fraktion der Bevölkerung (42 Prozent). Bei den Parteianhängerschaften sind es vor allem die WählerInnen von FPÖ und den GRÜNEN, die sich für die direkte Demokratie entscheiden, während SozialdemokratInnen und ÖVP-AnhängerInnen eher der repräsentativen Demokratie zuneigen. Ähnlich gespalten ist die Bevölkerung auch in Hinsicht auf die Beschäftigung mit und auf das Interesse für die Politik. Etwa 38 Prozent behaupten, »Politik nur beiläufig« zu verfolgen und sich »nicht für Details interessieren«, wobei diese Einstellung von den Älteren weniger stark geteilt wird (Gruppe 50+  : 32 Prozent) als von anderen Altersgruppen (Gruppe 16–29  : 40  Prozent  ; Gruppe 30–49  : 43 Prozent). Die Ergebnisse sind in Deutschland vergleichsweise ähnlich, wenngleich auch das politische Desinteresse dort etwas weniger stark ausgeprägt ist  ; so stimmen insgesamt nur etwa 30 Prozent der Deutschen der oben genannten Aussage zu.76 Wenn man ÖsterreicherInnen über ihre Erwartungshaltung an die guten StaatsbürgerInnen in der Demokratie befragt, so meinen 57 Prozent, StaatsbürgerInnen müssten die Meinungsfreiheit verteidigen  ; 56 Prozent erwarten sich Eigenverantwortung, 54 Prozent das offene und mutige Aussprechen von Meinungen und Standpunkten, und immerhin 52 Prozent sagen, StaatsbürgerInnen hätten sich regelmäßig an Wahlen und Volksentscheiden zu beteiligen.77 2.4 Antworten – Transformation und Reform Neben diesen sehr grundsätzlichen Betrachtungen über die Demokratie und ihre Überforderung angesichts zu großer Erwartungen und zu geringen eigenen Engagements hat jede demokratische Gesellschaft ihre je eigenen demokratiepolitischen Herausforderungen zu meistern.78 Für Österreich bedeutet dies, zumindest folgende wesentlichen Lehren zu ziehen  : Erstens bedarf es mehr demokratischen Wettbewerbs  ; außerdem müssen die politischen Kompetenzen und politischen Verantwortungen für die WählerInnen genauer zuordenbar sein. Zudem sind die ZuwandererInnen besser in das demokratische System zu integ76 IMAS international (2011). 77 IMAS (2012). 78 Wir übernehmen hier und im Folgenden z. T. Passagen aus Heinisch/Wintersteiger (2018), passim.

55

56

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

rieren  ; schließlich muss auch die demokratische Grundbildung der Bevölkerung dringend verbessert werden. Hierzu jeweils einige wenige Überlegungen  – zunächst zu den institutionellen Fragen. 2.4.1 Demokratischer Wettbewerb und Kompetenzverteilung Um den Wettbewerb zu erhöhen und die Kompetenzzersplitterung zurückzudrängen, bedarf es eigentlich der immer wieder verschobenen Verfassungsreform. Österreichs rechtspositivistische Verfassung ist einerseits bis zur Beliebigkeit flexibel, andererseits ist vieles deutlich zu detailliert und unflexibel geregelt. Die Möglichkeit, mittels Zweidrittelmehrheit alle noch so banalen oder kontroversen Gesetze in den Verfassungsrang zu erheben, um sie so unliebsamen Anfechtungen durch die Judikatur zu entziehen, wird von politischen AkteurInnen seit jeher weidlich ausgenützt. Damit werden Kontrollmöglichkeiten ausgehebelt, Reformen verhindert und politische Verantwortung vor den WählerInnen verschleiert. Das kaum mehr zu durchschauende Verfassungsgebilde führt nicht nur zu einem Kompetenzdschungel, sondern ist derzeit nicht dazu geeignet, für BürgerInnen und Politik als notwendiger gemeinsamer Nenner demokratiepolitischer Werte zu fungieren. Im Gegenteil  : Als Ausfluss von Hans Kelsens reiner Rechtslehre, wonach Recht und Moral als Teile zweier unabhängiger Wertsysteme gelten, will diese Verfassung betont unpolitisch sein. Dabei hätte Österreich ein wenig mehr Verfassungspatriotismus durchaus nötig, damit im zunehmend polarisierten innenpolitischen Diskurs zumindest weiterhin die Möglichkeit besteht, auf gemeinsame Grundwerte und Prinzipien hinzuweisen.79 In der Verfassung sind auch die Zuständigkeiten (etwa zwischen Bund und Ländern) unklar geregelt. Diese Schwammigkeit wird im Interesse des politischen Kompromisses großzügig ausgenützt. So ist derzeit für die WählerInnen nicht immer ersichtlich, wer eigentlich welche Kosten verursacht, wer dafür zahlt und wer politisch die Verantwortung dafür trägt. Im Kompetenzdschungel lassen sich Blockaden gut verschleiern und Vetospielern gelingt es, sich ihre Zustimmung teuer abkaufen zu lassen. Bei Reformstau schieben sich dann die politisch Handelnden die Schuld gegenseitig in die Schuhe. 79 Darüber hinaus müsste dafür Sorge getragen werden, dass die Kultur der »Diskussionsbereitschaft« erhalten bleibt bzw. wiederhergestellt wird  ; über diese und die leider weit verbreitete »Technik der Diskussionsverhinderung« vgl. Voegelin, Eric (1959), Diskussionsbereitschaft, in  : Erziehung zur Freiheit, hg. v. Albert Hunold, Erlenbach-Zürich, S. 355–372.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

Die Verfassung hat somit einen Nachholbedarf, das reale politische System entsprechend »einzufangen«. Wäre es nicht an der Zeit, endlich aufzuhören so zu tun, als wäre der Bundesrat wirklich ein wichtiges demokratisches Organ oder gar die Schnittstelle des österreichischen Föderalismus  ? Wäre es nicht realitätsnäher (und wettbewerbsfördernder), die Landeshauptleutekonferenz, etwa ergänzt durch die Vertreter der Landtage, als Interessensvertretung der Länder auch formal aufzuwerten und Kompetenzen zu definieren  ? Wäre es im Interesse von mehr Wettbewerb nicht auch Zeit, in Ober- und Niederösterreich sowie in zahlreichen Gemeinden die Konzentrationsregierungen abzuschaffen  ? Wäre es nicht längst notwendig, die den WählerInnen auf Landes- und Gemeindeebene zur Verfügung stehenden direktdemokratischen Mittel (wie etwa das Initiativrecht bei Volksbegehren und Volksbefragungen) anzugleichen, da diese heute noch von Bundesland zu Bundesland mit einem deutlichen West-Ost-Gefälle variieren  ? Ist es beispielsweise noch sinnvoll, angesichts neuer Aufgabenstellungen und in Hinblick auf die herausfordernde Implementierung von Vorgaben der Europäischen Union immer noch an einer starren Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern festzuhalten  ? Sollte man es nicht vor allem den WählerInnen in ihren Wahlkreisen und nicht nur den Parteien selbst überlassen, über die Reihenfolge bei den Kandida­ tIn­nenlisten auf den Stimmzetteln zu entscheiden  ? Einschlägige und mit dem Verhältniswahlrecht durchaus kompatible Modelle wurden vom Grazer P ­ olitikund Rechtswissenschaftler Klaus Poier bereits vorgestellt.80 Idealerweise könnte diese Maßnahme mit einer Verkleinerung der gesetzgebenden Kammern einhergehen. Zwar könnte die Repräsentativität hierdurch etwas beeinträchtigt werden, dafür verspricht hingegen die »Qualität« der Mandatare aufgrund des Wettbewerbes innerhalb der Wahlkreise besser zu werden – abgesehen davon ist der Talente-Pool in einem kleinen Land wie Österreich begrenzt, und weniger Positionen sind leichter mit qualifizierten Personen zu besetzen als dergleichen viele. Letztlich könnten diese VolksvertreterInnen dann auch mit entsprechend mehr Personal und besseren Ressourcen ausgestattet werden. 2.4.2 Kulturelle Grundlagen der Demokratie, Integration und Bildung Nach diesen Ausführungen zu institutionellen Fragen ist es jedoch nötig, die Ebene zu wechseln und sich den beiden Problemkreisen mit kultureller Komponente zuzuwenden, die bereits kurz angesprochen wurden  : es geht um integra80 Poier, Klaus (2011)  : Persönlichkeiten und Demokratie  : Wie wählen wir die besten Köpfe  ? Graz.

57

58

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

tions- und bildungspolitische Belange. Beide haben gemeinsam, dass sie das sog. »Vorpolitische« berühren  ; hierbei handelt es sich um einen Bereich, der – wie der Name andeutet – nicht unmittelbar »politisch« ist, aber die »lebensweltliche« Voraussetzung des »Politischen« darstellt, diesem also als Fundament dient.81 Politik auf die Oberflächendimension der bloßen Praxis und Funktionsweise der Institutionen zu reduzieren, wäre demnach ein Fehler, weil dadurch verkannt würde, dass all dies auf der Basis (potentiell zerbrechlicher) Grundlagen ruht.82 Diesen Punkt hervorzuheben ist gerade im Hinblick auf die österreichische Rechtstradition wichtig, da die Bundesverfassung eine positivistische ist  ; der Rechtspositivismus aber schenkt dieser Problematik nicht die nötige Aufmerksamkeit.83 Dabei ist die Wertewandelforschung sich längst darüber bewusst, dass es keineswegs ausreicht, eine demokratische Rechtsordnung zu haben, wenn diese nicht auch durch eine demokratische politische Kultur gestützt wird.84 Dieser Sachverhalt führt uns zu Fragen der Integration und der Bildung, kommt doch beiden Bereichen eine Schlüsselfunktion bei der Sicherstellung der nötigen gesellschaftlichen Wertgrundlagen zu. Im Fall der Migration und Integration ist dies eine große Herausforderung, da – wie Studien zeigen – nicht alle kulturellen Entwicklungen gleichermaßen förderlich für die Demokratie sind  ;85 anders ausgedrückt hängt der Charakter des politischen Systems von den Gesinnungen ab, die die Menschen mit sich bringen.86 Schon die alte griechische Philosophie hat dies geahnt  : Die platonische Tradition etwa ging davon aus, dass der Staat im Grunde nur der größer geschriebene Mensch ist, dass sich also im Gemeinwesen im größeren Maßstab nachvollzieht, was sich auch schon im Kleinen zeigt.87 Was bedeutet dies konkret  ? Nicht weniger, als dass die Gesellschaft bloß ein Spiegel der Menschen ist, aus der sie besteht und dass damit auch die politische Ordnung lediglich jenen Menschen abbildet, der sozial vorherrscht.88 Eine funktionierende Demokratie bräuchte demnach einen gesellschaftlichen 81 Vgl. Rentsch, Thomas (2014), Die Unverzichtbarkeit des Vorpolitischen – systematische Thesen, in  : Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, hg. v. Michael Kühnlein, Baden-Baden, S. 37–50. 82 Vgl. Rentsch (2014), passim. 83 Über das diesbezügliche Begründungsproblem des Rechtspositivismus vgl. Rentsch (2014), S. 37 f. 84 Vgl. Inglehart (2004), S. 158–159. 85 Vgl. Inglehart (2004), S. 158–163. 86 Vgl. Inglehart (2004), S. 160 f. 87 Die klassische Stelle hierfür ist Platon (1965), Politeia, in  : Sämtliche Werke 3  : Phaidon, Politea, hg. v. Walter F. Otto/Ernesto Grassi/Gert Plamböck, Leck/Schleswig, S. 67–310, hier S. 106 (368c–e). Zur Interpretation vgl. Voegelin (2004), S. 75 ff. 88 Vgl. Voegelin (2004), S. 75 f.

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

Grundkonsens, auf den sie sich stützen kann. Bemühungen um Integration müssen diesen Umstand in Rechnung stellen, würden aber mehr interreligiöse und »interkulturelle«89 Kompetenz erfordern. Der Fokus müsste dabei wohl auf jenen Kern an Überzeugungen gelenkt werden, der den verschiedenen kulturellen Traditionen gemeinsam ist, da er eine tragfähige gemeinsame Wertebasis ermöglichen könnte, ohne die Verschiedenartigkeit der äußeren kulturellen Formen verleugnen zu müssen.90 Der Zugang setzt aber nicht nur eine bestimmte philosophische Grundorientierung, sondern wohl auch ein anspruchsvolles Konzept von Bildung voraus und ist damit sehr voraussetzungsreich. Damit ist auch der bildungspolitische Aspekt der Thematik angesprochen. Hier gibt es – der allgegenwärtigen Rede von der sog. »Wissensgesellschaft« zum Trotz – durchaus ernste Defizite zu diagnostizieren.91 Dabei kommt gerade dem Bereich der Demokratiebildung eine entscheidende Rolle zu. Bereits das humanistische Bildungsverständnis hatte erfasst, dass ein demokratisches System mit der in der Bevölkerung vorhandenen Bildung steht und fällt.92 Somit kommt es darauf an, diesen Bereich  – und damit auch die Qualität des politischen Systems – nachhaltig zu kultivieren. 2.5 Literaturverzeichnis Bertelsmann Stiftung (2017), SGI 2017 Survey, [http://www.sgi-network.org/2017], eingesehen am 06.10.2019. Dahl, Robert A. (1956), A preface to democratic theory. Chicago. Dahl, Robert A. (1971), Polyarchy  : participation and opposition, New Haven. Dalberg-Acton, John Emerich Edward (1907), Historical Essays & Studies, hg. v. John Neville Figgis/Reginald Vere Laurence, London. Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2016, [https://www.eiu.com/public/topical_report.aspx  ?campaignid=DemocracyIndex2016], eingesehen am 06.10.2019. Fallend, Franz (2006), Bund-Länder-Beziehungen, in  : Politik in Österreich. Das Handbuch, hg. v. Herbert Dachs u. a., Wien, S. 1024–1040. Gaisbauer, Helmut P. (2012), Bausteine einer Ethik der direkten Demokratie, in  : Demo89 Zu dieser Perspektive vgl. Mall, Ram Adhar (1995), Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt. 90 Auf die dahinterstehenden theoretischen Fragen kann hier nicht näher eingegangen werden. Verwiesen sei hierzu nur auf Oldmeadow, Kenneth 2(2011), Traditionalism. Religion in the light of the Perennial Philosophy, San Rafael, S. 68–83. 91 Kritisch dazu vgl. Liessmann, Konrad Paul (2006), Theorie der Unbildung, Wien. 92 Vgl. Strauss, Leo (1968), Liberalism Ancient and Modern, New York-London, S. 4.

59

60

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

kratiebildung. Annäherungen aus Fachwissenschaft und Fachdidaktik, hg. v. Heinrich Ammerer/Franz Fallend/Elfriede Windischauer, Innsbruck–Wien–Bozen 2012, S. 85–93. Genovese, Eugene D. (1996), The Southern Tradition. The Achievement and Limitations of an American Conservatism, Cambridge-London. Global Democracy Ranking (2017), The Democracy Ranking of the Quality of Democracy 2016, [http://democracyranking.org/wordpress/rank/democracy-ranking–2016], eingesehen am 06.10.2019. Göhler, Gerhard (1978), Die Struktur von Begründungszusammenhängen im normativ-ontologischen Verständnis von Politikwissenschaft, in  : Politische Theorie. Begründungszusammenhänge in der Politikwissenschaft, hg. v. Gerhard Göhler, Stuttgart, S. 138–174. Hättich, Manfred (1967), Lehrbuch der Politikwissenschaft, 1.  Bd.: Grundlegung und Systematik, Mainz. Heinisch, Reinhard (2011), Hat die Demokratie Zukunft   ? In   : Wiener Zeitung, 06.05.2011. [https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/kompendium/46340_Hat-die-Demokratie-Zukunft.html], eingesehen am 14.12.2018. Heinisch, Reinhard/Wintersteiger, Mario (2018), Die Zukunftsfähigkeit der österreichischen Demokratie. Demokratiepolitische Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft, in  : Demokratische Zukunft der (Salzburger) Landesgesetzgebung, hg. v. Salzburger Landtag/Katharina Weiser, Wien, S. 47–76. Hennis, Wilhelm (1963), Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied am Rhein–Berlin. Howe, Neil/Strauss, William (2007), The Next 20 Years  : How Customer and Workforce Attitudes Will Evolve, in  : Harvard Business Review, July–August 2007, S. 41–52. IMAS (2012), Report Nr. 10, [http://www.imas.at/images/imas-report/2012/10_die_ vorstellung_vom_guten_staatsbuerger.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. IMAS international (2011), Report Nr. 4, [http://www.imas.at/images/imas-report/2011/4–2011.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Inglehart, Ronald (2004), Kultur und Demokratie, in  : Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen, hg. v. Samuel P. Huntington/Lawrence E. Harrison, München, S. 141–166. Katz, Richard S./Mair, Peter (1995), Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in  : Party Politics 1, Heft 1, S. 5–28. Kirk, Russell (2004), The Roots of American Order, Wilmington. Lasch, Christopher (1995), Die blinde Elite. Macht ohne Verantwortung, Hamburg. Lehmbruch, Gerhard (1967), Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich, Tübingen. Liessmann, Konrad Paul (2006), Theorie der Unbildung, Wien. Lord, Carnes 3(1987), Aristotle. 384–322 B.C., in  : History of Political Philosophy, hg. v. Leo Strauss/Joseph Cropsey, Chicago-London, S. 118–154. Madison, James (1787), The Federalist No. 10. The Utility of the Union as a Safegu-

Demokratie  : Grundlagen, Probleme, Antworten 

|

ard Against Domestic Faction and Insurrection, [http://www2.oberlin.edu/faculty/ gkornbl/GJK/H103F05/Fed10annotated-A.htm], eingesehen am 06.10.2019. Mall, Ram Adhar (1995), Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt. Marshall, Monty G./Gurr, Ted Robert (2014), Polity IV Project  : Political Regime Characteristics and Transitions, 1800–2013, [http://www.systemicpeace.org/polity/polity4. htm], eingesehen am 06.10.2019. Michels, Robert (1989), Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart. Oldmeadow, Kenneth 2(2011), Traditionalism. Religion in the light of the Perennial Philosophy, San Rafael. Ortega y Gasset, José 2(2007), Der Aufstand der Massen, München. Ottmann, Henning (2001), Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1  : Die Griechen. Von Homer bis Sokrates, Stuttgart–Weimar. Ottmann, Henning (2006), Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1  : Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, Stuttgart–Weimar, S. 484–486. Platon (1965), Politeia, in  : Sämtliche Werke 3  : Phaidon, Politea, hg. v. Walter F. Otto/ Ernesto Grassi/Gert Plamböck, Leck/Schleswig, S. 67–310. Platon (2009), Protagoras. Griechisch/Deutsch, übers. v. Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart. Poier, Klaus (2011)  : Persönlichkeiten und Demokratie  : Wie wählen wir die besten Köpfe  ? Graz. Rentsch, Thomas (2014), Die Unverzichtbarkeit des Vorpolitischen – systematische Thesen, in  : Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, hg. v. Michael Kühnlein, Baden-Baden, S. 37–50. Rousseau, Jean-Jacques (2008), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hg. v. Hans Brockard, Stuttgart. Schmidt, Manfred G. 5(2010), Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen. Schmitt, Carl 9(2015), Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin. Scruton, Roger (1982), A Dictionary of Political Thought, London. SORA, Nationalratswahl 2013, [http://www.sora.at/themen/wahlverhalten/wahlanalysen/nrw13.html], eingesehen am 06.10.2019. Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich (1918), 1. Stück, 15.11.1918, [http:// alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=sgb&datum=19180000&page=25], eingesehen am 06.10.2019. Strauss, Leo (1968), Liberalism Ancient and Modern, New York-London. Strauss, Leo 3(1987), Plato. 427–347 B.C., in  : History of Political Philosophy, hg. v. Leo Strauss/Joseph Cropsey, Chicago-London, S. 33–89. Tocqueville, Alexis de (2004), Über die Demokratie in Amerika, hg. v. J. P. Mayer, Stuttgart. Ucakar, Karl (2006), Verfassung – Geschichte und Prinzipien, in  : Politik in Österreich. Das Handbuch, hg. v. Herbert Dachs u. a., Wien, S. 119–138.

61

62

| 

Reinhard Heinisch & Mario Wintersteiger

UNDP (2016), Human Development Report 2016. Human Development for Everyone, New York, [http://hdr.undp.org/sites/default/files/2016_human_development_report. pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Vierecke, Andreas/Mayerhofer, Bernd/Kohout, Franz (2010), dtv-Atlas Politik, München. Voegelin, Eric (1959), Diskussionsbereitschaft, in  : Erziehung zur Freiheit, Erlenbach-Zürich, hg. v. Albert Hunold, S. 355–372. Voegelin, Eric (2004), Die Neue Wissenschaft der Politik, eine Einführung, hg. v. Peter J. Opitz, München. Wintersteiger, Mario Claudio (2012), Grundzüge der Demokratiekritik, in  : Demokratiebildung. Annäherungen aus Fachwissenschaft und Fachdidaktik, hg. v. Heinrich Ammerer/Franz Fallend/Elfriede Windischauer, Innsbruck–Wien–Bozen, S. 43–52. Zakaria, Fareed (1997), The Rise of Illiberal Democracy, in  : Foreign Affairs 76, Heft 6, S. 22–43. Zirnig, Dieter (2014), Entwicklung und Überblick. Parteimitglieder in Österreich, [https://neuwal.com/2014/11/23/entwicklung-und-ueberblick-parteimitglieder-in-oesterreich], eingesehen am 06.10.2019.

Roland Winkler

3. Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung

3.1 Rechtswissenschaftliches Selbstverständnis Bundesverfassung  : Die österreichische Bundesverfassung besteht aus dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) und zahlreichen weiteren Verfassungsgesetzen und Verfassungsbestimmungen. Letztere reichen von den Grundrechten (Staatsgrundgesetz und Europäische Menschenrechtskonvention) und der Finanzverfassung (F-VG) bis zu wenig bedeutsamen Detailregelungen.

Wenn sich österreichische RechtswissenschaftlerInnen mit Demokratie befassen, dann stehen meist formale Aspekte im Vordergrund. Dafür gibt es wohl zwei Gründe  : Zum einen ist die Bundesverfassung selbst in ihrem Kern eine vergleichsweise alte Verfassung (aus den 1920er Jahren) und sehr nüchtern gehalten. Zum anderen versucht das im Öffentlichen Recht herrschende Verständnis von Rechtswissenschaft, außerrechtliche Wertungen aus der Lösung von Rechtsfragen auszuklammern. Rechtspositivismus  : Die Bundesverfassung ist in Entstehung und Auslegung vom Rechtspositivismus mitgeprägt worden. Diese Strömung in den Rechtswissenschaften lehnt es ab, außerrechtliche Werte in die Erkenntnis der Rechtsordnung einfließen zu lassen. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis schließt dies eine Bewertung des Rechts nicht aus  : So war etwa Kelsen entschiedener Gegner des Nationalsozialismus  ; das staatliche Normensystem des Dritten Reiches ist aber nach diesem Verständnis trotzdem »Recht«, wobei sich damit kein Anspruch auf »richtig«, »gerecht« und dergleichen verbindet. Wenn man diesen Anspruch als dem Recht inhärent betrachtet, so ist es eine – wissenschaftlich unlösbare – Wertungsfrage, was »Recht« ist und was nicht.

3.2 Entstehung der Bundesverfassung Die österreichische Bundesverfassung wurde in der politischen Umbruchsituation nach 1918 geschaffen. Der aus der zerbrochenen Monarchie verbliebene Reststaat erhielt eine Verfassung, die einen Kompromiss darstellte  : Das bishe-

64

| 

Roland Winkler

rige Regierungssystem wich einem reinen Parlamentarismus (der 1929 wieder zurückgedrängt wurde), während Grundrechte und im Ergebnis auch die Kompetenzverteilung zu einem Gutteil aus der Monarchie übernommen wurden. Die maßgeblichen Parteien waren sich in vielen Verfassungsfragen nicht einig, strebten aber relativ einhellig den Anschluss an Deutschland an. In dieser Situation entstand – auch unter dem Einfluss des Rechtspositivismus – eine eher technische Verfassung ohne Präambeltext, die sich weder von ihrer Gestaltung her noch vor ihrem historischen Hintergrund zur Identitätsstiftung eignete. Die Bundesverfassung ist von Grundprinzipien geleitet, die nach einhelliger Auffassung nur mit den Verfassungsmehrheiten und einer Volksabstimmung geändert oder abgeschafft werden können1  : In der engsten Aufzählung sind dies das demokratische, bundesstaatliche, republikanische und rechtsstaatliche Grundprinzip. Im Text des B-VG sucht man Grundprinzipien vergebens  : Lehre und Rechtsprechung haben sie aus dem wenig weihevollen Begriff der volksabstimmungspflichtigen »Gesamtänderung der Bundesverfassung« heraus entwickelt. Es geht der Bundesverfassung daher auch bei der Demokratie vor allem um die regelnde Seite, also um Regeln und bestimmte Rechtsfolgen der Befolgung dieser Regeln (z. B.: ein Gesetz entsteht) oder des Verstoßes gegen diese Regeln (z. B.: ein Gesetz wird vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben) zu finden. Übergeordnete Werte wie Legitimation oder Gleichheit und auch bestimmte Demokratiekonzepte können dabei natürlich eine Rolle spielen, sie stehen aber nicht im Vordergrund. Die Bundesverfassung verankert ein parlamentarisches System, ohne dies ausdrücklich als solches zu bezeichnen. Dazu tritt seit 1929 ein präsidialer Einschlag, der sich ebenfalls nur in den Einzelregelungen findet. Auch das zentrale demokratische Element des unblutigen Machtwechsels wird durch die Bundesverfassung ermöglicht, aber nicht eigens hervorgehoben. 3.3 Das »Recht geht vom Volk aus« Das Anlesen des B-VG scheint zunächst in eine andere Richtung zu deuten  : In Art 1 steht  : »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.« Diese Bestimmung hat aber größtenteils programmatischen Charakter, sie ist eine Vorschau auf die konkreten Regeln, die später im Text oder andernorts folgen. Dass das Recht vom Volk ausgeht, bedeutet zunächst nur, dass es für jedes staatliche Handeln einen Legitimationszusammenhang zum »Volk« geben 1 Vgl. Art 44 Abs. 3 B-VG.

Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung 

|

muss – wie dieser Zusammenhang erfolgt, ergibt sich aus anderen Bestimmungen. Die wichtigsten dazu sind  : »Der Nationalrat wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.«2 »Der Bundespräsident wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der zum Nationalrat wahlberechtigten Männer und Frauen gewählt.«3 »Die Landtage werden auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der nach den Landtagswahlordnungen wahlberechtigten männlichen und weiblichen Landesbürger nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.«4

Dazu kommen noch vergleichbare Bestimmungen für die Selbstverwaltung (z. B. Gemeinderäte) und die direkte Demokratie. Der zentrale Zusammenhang erfolgt über Wahlen (dazu unter 3.4), die Umsetzung vor allem über die Gesetzgebung und das Legalitätsprinzip (unter 3.5). Des Weiteren gibt das B-VG auch Demokratie in der Verwaltung und Rechtsprechung vor (unter 3.7). 3.4 Wahlen Das »Volk« ist nach der Bundesverfassung und der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs die Gesamtheit der österreichischen StaatsbürgerInnen.5 Das Volk tritt somit verfassungsrechtlich vorrangig als Wahlvolk in Erscheinung. Das Wahlrecht wird durch die Wahlrechtsgrundsätze der Bundesverfassung stark vorgeprägt  ; insbesondere ist für Nationalrat wie für Landtage der Grundsatz der Verhältniswahl zwingend. 2 3 4 5

Art 26 Abs. 1 B-VG. Art 60 Abs. 1 B-VG. Art 95 Abs. 1 S 2 B-VG. Zum AusländerInnenwahlrecht  : Siehe »Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes« VfSlg (2004), Nr. 17.264.

65

66

| 

Roland Winkler

Die demokratische Legitimation wird auf Bundesebene besonders durch die demokratisch gewählten Organe Nationalrat und Bundespräsident gesichert. Die Bundesregierung wird zum Beispiel nicht gewählt, sondern ihre Mitglieder werden vom Bundespräsidenten ernannt  ; wenn ihr der Nationalrat das Misstrauen ausspricht, hat sie der Bundespräsident zu entlassen. Die Bundesgesetze werden vom Nationalrat beschlossen, vom Bundespräsidenten beurkundet und vom Bundeskanzler kundgemacht. Daneben gibt es Instrumente der direkten Demokratie, die weitgehend in den Gesetzgebungsprozess integriert sind, aber keine große praktische Bedeutung haben. Durch ein Volksbegehren kann eine Gesetzesinitiative in den Nationalrat gebracht werden. Der Nationalrat kann Gesetze freiwillig einer Volksabstimmung unterziehen (fakultatives Referendum  ; erfolgt zur Nutzung der Kernenergie 1978 – »Zwentendorf«)  ; zwingend ist sie nur bei Gesamtänderungen der Bundesverfassung (erfolgt zum EU-Beitritt  ; siehe auch noch unter 3.5). Eine Volksbefragung dient der Einholung der Meinung des Bundesvolks zu einer bestimmten Frage (erfolgt 2013 zur Wehrpflicht). Das B-VG äußert sich kaum zu den politischen Parteien.6 Als wahlwerbende Parteien7 beziehungsweise parlamentarische Parteien8 werden diese in verschiedenen Zusammenhängen genannt. Das B-VG kennt die »politische Partei« nur in einer Unvereinbarkeitsregelung  : »Endlich können dem Verfassungsgerichtshof Personen nicht angehören, die Angestellte oder sonstige Funktionäre einer politischen Partei sind.«9 Erst das Parteiengesetz von 1975 hat in einer Verfassungsbestimmung die politischen Parteien in das Verfassungsrecht aufgenommen, die sich ganz ähnlich im Parteiengesetz 2012 wiederfindet. 3.5 Gesetzgebungsprozesse und Legalitätsprinzip Für die Bundesverfassung spielt in mehrerlei Hinsicht das »Gesetz« eine große Rolle. Sie versteht sich selbst als Gesetz mit vorrangig konkreten regelnden Inhalten, weniger als Wertekatalog  ; 1920 wurde es als »Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-­

6 7 8 9

Anders etwa Art 21 GG. Vgl. Art 26  ; 95 B-VG. Vgl. Art 35ff  ; 55 und 148g B-VG. Art 147 B-VG.

Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung 

|

Verfassungsgesetz)« beschlossen.10 Dies ist im Vergleich ein äußerst nüchterner Zugang zur Verfassung. Auch für die Änderung und Anwendbarkeit versteht sich die Bundesverfassung nicht als etwas anderes, sondern nur als qualifizierte Form des Gesetzes. Die Verfassungsänderung erfolgt daher im Gesetzgebungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit (Konsensquorum 2/3-Mehrheit)  ; Besonder­heiten sind die punktuellen Zustimmungserfordernisse des Bundesrats und das Erfordernis einer Volksabstimmung bei einer Gesamtänderung. Gesamtänderung  : Nach Art 44 Abs 3 B-VG ist eine »Gesamtänderung« der Bundesverfassung einer Volksabstimmung zu unterziehen. Lehre und Rechtsprechung haben einen Konsens dahingehend gefunden, dass dies die Abschaffung oder nachhaltige Berührung von Grundprinzipien (oft auch Baugesetze genannt) der Bundesverfassung bedeutet. Grundprinzipien sind das demokratische, republikanische, bundesstaatliche und rechtsstaatliche Prinzip  ; dazu oder in Aufteilung der genannten Prinzipien werden auch ein liberales beziehungsweise ein gewaltenteilendes Prinzip vertreten. Bisher ist eine Gesamtänderung erfolgt, mit der 1994 die Grundlage für den Beitritt zur EU geschaffen worden ist.

Das einfache, im Rang unter der Bundesverfassung stehende Gesetz dient der Transmission des Willens des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers auf die Verwaltung und Rechtsprechung. Die Gewaltenteilung ist in der Bundesverfassung nicht als drei gleichberechtigte Gewalten angelegt, sondern von einer Überordnung der Gesetzgebung über die »Vollziehung« geprägt. Dies zeigt sich schon begrifflich darin, dass Verwaltung und Rechtsprechung keine Eigenfunktionalität zugemessen wird, sondern sie im B-VG als zwei Formen der »Vollziehung« der Gesetze (man vergleiche dazu die Überschriften zum 3. und 4. Hauptstück) begriffen werden. Damit im Zusammenhang steht die Ausprägung des »Legalitätsprinzips«.11 Die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an das Gesetz ist nichts Ungewöhnliches. Das Legalitätsprinzip im herrschenden Verständnis geht allerdings weiter  : Der Gesetzgeber muss das Handeln der »Vollziehung« auch weitgehend vorherdeterminieren. Ähnliches gibt es etwa im »Parlamentsvorbehalt« nach dem deutschen Grundgesetz oder in Verboten der Delegation der Gesetzgebung (nondelegation doctrine des US Supreme Court oder Art. 13 der Verfassung der IV. Französischen Republik). Demnach ist es dem Parlament ver10 Vgl. StGBl 1920/140. 11 Vgl. Art 18 B-VG.

67

68

| 

Roland Winkler

boten, seine Rolle als Gesetzgeber durch Ermächtigungen zur Rechtsetzung an die Regierung, Agenturen oder andere Verwaltungsbehörden abzugeben. Die Besonderheit des Legalitätsprinzips liegt in der größtenteils rigorosen Anwendung, die schon unbestimmte Gesetzesbegriffe und Ermessensentscheidungen als problematisch betrachtet und größere Spielräume der Vollziehung an sich nicht zulässt  ; so ist insbesondere die Verordnung als Akt einer »Regierungsgesetzgebung« – von einigen Ausnahmen abgesehen – auf die bloße Durchführung der Gesetze beschränkt. Detailregelungen, die in vielen Rechtssystemen einer Verordnung oder der Praxis überlassen sind, finden sich daher in Österreich in den Gesetzen. Ebenso darf auch das Handeln von Behörden im Einzelfall nur aufgrund präziser gesetzlicher Vorherbestimmung erfolgen. Die Vormacht des Gesetzes kontrastiert politisch mit der Schwäche der Gesetzgebungsorgane, die ihre verfassungsrechtliche Macht nicht ausspielen, sondern an die Exekutive gleichsam abgeben (man vergleiche dazu die Kapitel 4 und 8). Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass bei Gesetzesvorschlägen der Bundes- oder Landesregierungen die maßgeblichen politischen Entscheidungen bereits gefallen sind und die parlamentarische Beratung keine oder nur noch geringfügige Änderungen bewirkt. 3.6 Föderalismus und Organisationsrecht Die Bundesverfassung regelt zusammen mit den Landesverfassungen auch die Demokratie auf Landesebene mit den zahlreichen Verflechtungen des österreichischen föderalen Systems. Als Kernelemente eines bundesstaatlichen Systems gelten  : Gebietskörperschaften unterhalb des Zentralstaats (Länder), die neben einer eigenen Verwaltung (diese haben zum Beispiel auch die Gemeinden) über eigene Gesetzgebung sowie eigene Finanzmittel verfügen und an der Gestaltung des Zentralstaates mitwirken. Der Übergang zu dezentralisierten Staaten mit autonomen Regionen und anderen Formen der Dezentralisierung ist fließend. Der Föderalismus österreichischer Prägung weist einige Besonderheiten auf, die ihn immer wieder zum Gegenstand der Kritik machen  : • Die Kompetenzverteilung folgt größtenteils den Regelungszusammenhängen aus den 1920er Jahren und macht es schwierig, größere Lebensbereiche zu reformieren (zum Beispiel das Gesundheitswesen, den Umweltschutz, …). • Die Länder haben wenige bedeutsame Zuständigkeiten und heben auch kaum eigene Abgaben ein  ; die Finanzierung erfolgt durch Zuweisungen aus dem Finanzausgleich.

Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung 

|

• In der Verwaltung haben die Länder mehr Gewicht, die Strukturen zeichnen sich durch schwierige Abgrenzungen und Verzahnungen aus. • Als Symbolfiguren der regionalen Identität haben die Landeshauptleute innerhalb ihrer Parteien erhebliches Gewicht gewonnen. So ist die Landeshauptleutekonferenz politisch mächtiger als der Bundesrat. Diese Macht wird in Blockaden und politischen Kompensationsgeschäften (zum Beispiel in der vom Bund finanzierten Infrastruktur) ausgespielt. Das föderale System ist also in der Verfassung detailliert geregelt, in Summe schwach ausgeprägt, politisch weitaus stärker präsent und für Nichteingeweihte kaum durchschaubar. Neben dem föderalen System regelt die Bundesverfassung auch eingehend Fragen des Organisationsrechts, die in anderen Verfassungen dem einfachen Gesetzgeber überlassen sind. Beides zusammen belastet den Verfassungstext mit sehr technischen und ausführlichen Detailregelungen, die ihn schwer lesbar machen. So widmet sich die Verfassung zum Beispiel in über 600 Wörtern dem »Gebiet des land- und forstwirtschaftlichen Schulwesens«12. Das Budgetrecht wird mit zirka 1500 Wörtern ebenfalls sehr detailliert normiert13. Mit knapp 500 Wörtern werden die Schulbehörden des Bundes geregelt14. Zudem ist zur »Leitung des inneren Dienstes des Amtes der Landesregierung (…) ein rechtskundiger Bediensteter des Amtes der Landesregierung als Landesamtsdirektor15« zu bestellen. Die Aufzählung ließe sich lange fortsetzen. Die konsolidierte Fassung nur des B-VG zählt vor allem aufgrund solcher Detailregelungen ca. 45.000 Wörter, die gesamte Verfassung der USA zählte dagegen in der Erstfassung ca. 4500 Wörter. 3.7 Verwaltung und Rechtsprechung Verwaltung und Rechtsprechung sieht die Bundesverfassung als »Vollziehung« der Gesetze. Die verbleibenden, formalrechtlich geringen Spielräume sind ebenfalls mit demokratischer Legitimation unterfangen, die eine gewisse Vielgestaltigkeit aufweist. Hier seien nur einige wichtige Aspekte genannt.

12 Vgl. Art 14a B-VG. 13 Vgl. Art 51 – 51d B-VG. 14 Vgl. Art 81a B-VG. 15 Art 106 B-VG.

69

70

| 

Roland Winkler

Die Ernennungen und die Übertragung von Handlungsbefugnissen müssen die demokratische Legitimationskette beachten. Die Verwaltung ist grundsätzlich weisungsgebunden. Zum Teil gibt es auch gewählte Verwaltungsorgane (dazu sogleich). Die Verwaltung unterliegt der parlamentarischen Kontrolle und Mitwirkung16. Die Kontrolle umfasst die typischen Parlamentsrechte wie das Fragerecht und das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. Die »Mitwirkung« umfasst – terminologisch ungewöhnlich – auch zentrale Politikfelder wie das Budgetrecht und die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge. Dass hier nur von »Mitwirkung« die Rede ist, steht in einem Spannungsverhältnis zur Konzeption der Exekutive als bloßer Gesetzesvollziehung. Die Bundesverfassung kennt ferner die territoriale und die personale Selbstverwaltung. Territoriale Selbstverwaltungskörper sind die Gemeinden. Auch die gewählten Gemeindeorgane wie Gemeinderat beziehungsweise allenfalls auch BürgermeisterIn sind formalrechtlich Verwaltungsorgane. Um den Gemeinden einen Spielraum zur teilautonomen Schaffung genereller Normen zu geben, muss die Bundesverfassung ihnen die Möglichkeit zur Erlassung verfassungsunmittelbarer Verordnungen geben, die sich nicht in den Grenzen der bloßen Durchführungsverordnung halten (»ortspolizeiliche Verordnungen«17). Die personale Selbstverwaltung beruht nicht auf Gebietskörperschaften, sondern auf demokratisch verfassten Personenverbänden mit Zwangsmitgliedschaft. Auf dieser formalen Konstruktion basieren zum Beispiel die Kammern, die Österreichische Hochschülerschaft und die Sozialversicherungsträger. Auch für die Gerichtsbarkeit gilt die Beachtung der demokratischen Legitimationskette. Dazu tritt die Laienbeteiligung (»Das Volk hat an der Rechtsprechung mitzuwirken.«18). Konkret sind dies Geschworene und Schöffen19 sowie fachkundige Laienrichter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit20. Eine besondere Rolle nimmt der Verfassungsgerichtshof ein. Die Bestellung seiner Mitglieder erfolgt durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung (8 Mitglieder), des Nationalrats (3 Mitglieder) und des Bundesrats (3 Mitglieder).21 Die politisch bedeutsamste Funktion des Verfassungsgerichts16 Vgl. Art 50 ff B-VG. 17 Art 118 Abs. 6 B-VG. 18 Art 91 Abs. 1 B-VG. 19 Vgl. Art 91 B-VG. 20 Vgl. Art 135 B-VG. 21 Vgl. Art 147 B-VG.

Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung 

|

hofes ist die Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit,22 womit ihm die Rolle als »negativer Gesetzgeber« zukommt. Verfassungsgerichte  : Die gerichtliche Durchsetzung der Verfassung erfolgt über die Verfassungsgerichtsbarkeit. Dazu gehören oft die Prüfung von Gesetzen und Verordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit und eine Beschwerde in Grundrechtssachen, in Bundesstaaten auch Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern. Die Verfassungsgerichtsbarkeit kann von einem Höchstgericht mit ausgeübt werden (zum Beispiel dem US Supreme Court) oder einem besonderen Gericht übertragen sein (zum Beispiel dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem österreichischen Verfassungsgerichtshof). Eine österreichische Besonderheit besteht darin, dass der Oberste Gerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof dem Verfassungsgerichtshof nicht untergeordnet sind – es gibt also drei Höchstgerichte mit ihren jeweiligen Zuständigkeiten.

3.8 Grundrechte Die liberale Demokratie garantiert einen auch der Volksherrschaft entzogenen Bereich der Freiheit. Verfassungsrechtlich wird dieser Bereich durch die Grundrechte abgesichert. Die Bundesverfassung enthält  – wenn auch außerhalb des B-VG angesiedelt – zwei Grundrechtskataloge  : Das StGG von 1867, ein liberaler Grundrechtskatalog aus der Verfassung der Monarchie, und die EMRK. Dazu kommt in ihrem Anwendungsbereich die Grundrechtecharta der EU. So findet sich zum Beispiel die Meinungsfreiheit mit Unterschieden im Detail dreimal verankert  : In Art 13 StGG, Art 10 EMRK und Art 11 GRC. Die Erwerbsfreiheit etwa ist in Art 6 StGG und Art 15 GRC garantiert, nicht jedoch in der EMRK. Grundrechte sind aber nicht nur Grenze, sondern auch Voraussetzung des modernen demokratischen Prozesses. Auf der Agora der griechischen Stadt traf sich die überschaubare Zahl der Bürger  ; im modernen Verfassungsstaat sind die Prozesse weitaus komplexer und durch »politische« Grundrechte abgesichert. Solche Grundrechte mit besonderem Bezug zur politischen Willensbildung sind das Wahlrecht, die Meinungs- und Medienfreiheit und das Petitionsrecht. Eine Rolle spielen aber auch andere Grundrechte wie Gleichheit, faires Verfahren und Eigentum, die die BürgerInnen vor Willkür und völliger Abhängigkeit von den Mächtigen schützen sollen. 22 Vgl. Art 140 B-VG.

71

72

| 

Roland Winkler

3.9 Verfassungsfunktionen und Verfassungswirklichkeit Verfassungsrecht kann neben der regelnden auch weitere Funktionen haben  : identitätsstiftend, wertekodifizierend, politisches Programm usw. Rechtlich sind diese Funktionen auch nicht scharf getrennt  : Was zum Beispiel in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 vor allem Programm für einen politischen und sozialen Umbau war, ist später zur anwendbaren und durchsetzbaren Regel geworden. Staatszielbestimmungen können unter bestimmten Voraussetzungen für gerichtliche Entscheidungen maßgeblich werden. Grundrechte können als Prüfungsmaßstab der Verfassungsgerichte und als politisches Argument dienen. Es gibt allerdings unterschiedliche Gewichtungen, und die österreichische Bundesverfassung sieht sich vorrangig in der regelnden Funktion. Diese Funktion zeichnet sich dadurch aus, dass die verfassungsrechtlichen Inhalte so konkret sind, dass sie Verhaltensanordnungen bilden, über deren Befolgen oder Nichtbefolgen nachvollziehbar gerichtlich entschieden werden kann. Dies trifft zu, wenn die Verfassung zum Beispiel die Wahl der Gesetzgebungsorgane und den Weg der Gesetzgebung regelt, ebenso wie etwa die Wahl und Amtsenthebung des Bundespräsidenten. Auch die Grundrechte werden  – obwohl dies früher umstritten war – »judiziert«. Idealvorstellungen von »guter« oder »funktionierender« Demokratie sind dagegen kaum in vollziehbare Regeln übersetzbar und damit rechtlich kaum durchsetzbar. Verfassungsrecht kann hier zwar Werte benennen, darüber hinaus aber nur versuchen, Voraussetzungen zu schaffen. Man denke etwa an die politischen Mehrheitsverhältnisse. Die Bundesverfassung setzt in zahlreichen Bestimmungen den früheren Antagonismus zwischen (monarchischer) Exekutive und Parlament voraus. Dass daraus ein Antagonismus Regierung und Regierungsmehrheit versus Opposition geworden ist, findet nur ganz langsam Eingang – jüngst in der Etablierung der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen als Minderheitenrecht. Die Verfassung könnte theoretisch von der Regierungsmehrheit so etwas wie parlamentarische Solidarität gegen die Regierung fordern  – nur, was soll geschehen, wenn diese sich nicht daran hält  ? Ein anderes Beispiel ist der Einfluss auf die Gesetzgebung. Nach der Bundesverfassung werden die Bundesgesetze im Nationalrat als Initiative eingebracht, beraten und beschlossen  ; förmliches außerparlamentarisches Initiativrecht haben die Bundesregierung und das Volk (Volksbegehren). Welchen Einflüssen die Abgeordneten dabei nicht unterliegen sollen, lässt die Verfassung ungeregelt. Eine Regelung, die verlangen würde, dass die Gesetze von den Abgeordneten

Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung 

|

allein erarbeitet werden und dabei nicht auf Vorschläge von NGOs, Sozialpartnern und anderen LobbyistInnen zurückgegriffen werden darf, wäre leicht zu umgehen, der Verstoß kaum beweisbar, die Regelung kaum durchsetzbar. Aus rechtlicher Sicht kann man die Verfassung so verstehen, dass diese Einflüsse unerwünscht sind, ihr Bestehen aber keine Rechtsfolgen hat. Oder man versteht die Verfassung so, dass sie sich hier bewusst zurücknimmt und dies der politischen Verantwortung überlässt. Dies ist etwa nach herrschender Ansicht bei einem Misstrauensantrag so  : Der Nationalrat ist rechtlich völlig frei, einem/r BundesministerIn das Misstrauen auch aus den trivialsten Gründen auszusprechen. Die Abgeordneten müssen dies bei der nächsten Wahl vor ihren WählerInnen verantworten. Im verfassungsrechtlichen Rahmen hat sich auch der Föderalismus auf eigenen Wegen entwickelt. Während der Bundesrat politisch weitgehend bedeutungslos ist, hat die Landeshauptleutekonferenz eine starke Stellung erlangt, die allerdings rein auf politischem Einfluss, nicht auf verfassungsrechtlichen Befugnissen beruht. Innerparteiliche Machtverhältnisse können auch dazu führen, dass ein Landeshauptmann die Entscheidung über die Ernennung eines Bundesministers trifft, die dann vom Bundeskanzler (aus Koalitionsräson) und Bundespräsidenten gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben durchgeführt wird. Wiederum hinterfragt die Bundesverfassung nicht die Motive. Ein letztes Beispiel zu den Gestaltungsspielräumen, die die Bundesverfassung der politischen Praxis eröffnet, sei im Folgenden genannt  : Der österreichische Bundespräsident hat eine verfassungsrechtliche Stellung, die weitgehend dem Präsidenten der französischen Republik entspricht, bei der Entlassung der Regierung sogar stärker ist. Trotzdem gibt es derzeit keine Ansätze zur Präsidialdemokratie nach französischem Muster, weil die maßgeblichen PolitikerInnen das Amt des Bundeskanzlers anstreben, nicht das des Bundespräsidenten. Die Bundesverfassung macht ihnen diesbezüglich keine Vorgaben. Würden sie sich auf das Amt des Bundespräsidenten umorientieren, so gibt es in Österreich – anders als wohl zum Beispiel nach dem GG – die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für ein Präsidialsystem nach französischem Muster. Dagegen gibt es Bestimmungen, die bewusst Werte und Ziele verankern, die so genannten Staatszielbestimmungen. Ein solches Staatsziel der Bundesverfassung sind unter anderem die Wasserversorgung und der Umweltschutz.23 Solche »Bekenntnisse« der Republik zu Zielen sind für sich betrachtet keine vollziehba23 BVG über die Nachhaltigkeit, den Tierschutz, den umfassenden Umweltschutz, die Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und die Forschung, BGBl I 2013/111 idF I 2019/82.

73

74

| 

Roland Winkler

ren Regeln. Sie werden daher von kritischen Stimmen als »Verfassungslyrik« bezeichnet und auch von der Politik wegen ihres schmückenden Charakters gerne verwendet. In bestimmten Konstellationen können sie aber durchaus rechtlich bedeutsam werden, insbesondere wenn es um Interessenabwägungen geht. So hat das Bundesverwaltungsgericht 2017 die Genehmigung für die »dritte Piste« des Flughafens Wien-Schwechat u. a. mit der Begründung versagt, dass der erhöhte Ausstoß von CO2 dem Bekenntnis zum Umweltschutz zuwiderlaufe.24 Die plötzliche Bedeutung der Staatszielbestimmung hat dann zu politischen Diskussionen geführt, das Wirtschaftswachstum oder den »Standort« ebenfalls als Gegenziele in die Bundesverfassung aufzunehmen. 3.10 Verfassungskrisen Verfassungen können Regeln bereithalten, um politische Krisen zu lösen. Wenn die Verfassung mit solchen Krisen überfordert ist, wird aus der politischen eine Verfassungskrise. Die österreichische Bundesverfassung hat eine solche 1933 erlebt, als die Bundesregierung den Nationalrat und den Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet und eine neue Verfassung erlassen hat. Kein Regelwerk kann solche Krisen ausschließen, es vermag diese nur eher zu vermeiden oder eher einzuladen. Die Stabilität des österreichischen politischen Systems beruht eher auf der politischen Situation als auf dem Verfassungsrecht. So ist zum Beispiel das Gleichgewicht zwischen Nationalrat und BundespräsidentIn verfassungsrechtlich viel prekärer, als es wohl im politischen Alltag wahrgenommen wird. Im Konfliktfall könnte der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung den Nationalrat auflösen25. Bei Bedarf könnte er dafür auch die bestehende Bundesregierung entlassen und eine neue nur für die Erstattung dieses Vorschlags bestellen. Der Nationalrat könnte dagegen der Bundesregierung das Misstrauen aussprechen beziehungsweise mit 2/3-Mehrheit das Verfahren zur Absetzung des Bundespräsidenten einleiten26, womit dieser an der Amtsführung verhindert wäre. Dafür müsste er allerdings der Auflösung durch den Bundespräsidenten zuvorkommen.

24 Der VfGH hat die Entscheidung des BVwG allerdings aufgehoben und ihm ein »gehäuftes Verkennen der Rechtslage« bescheinigt  ; VfSlg 20.185/2017. 25 Vgl. Art 29 B-VG. 26 Vgl. Art 60 B-VG.

Demokratie in der Österreichischen Bundesverfassung 

|

Im Fall der Auflösung muss übrigens die Bundesregierung die Neuwahl des Nationalrats anordnen27. Tut sie dies nicht, so ist diese Unterlassung verfassungswidrig. Die Rechtsfolgen dieser Verfassungswidrigkeit wären allerdings unklar. Auch eine eher technische Regelverfassung wie die Bundesverfassung schafft es nicht, für alle »Regelverstöße« klare Rechtsfolgen bereitzuhalten. 3.11 Verfassung und EU Abschließend sei darauf hingewiesen, dass das in Österreich geltende Recht auch eine europäische Dimension hat. Österreich hat darüber hinaus zahlreiche europa- und unionsrechtliche Verpflichtungen, wobei die Europäische Union nach den Verträgen, auf denen die Union beruht, über ein eigenes System der demokratischen Legitimation verfügt. Auf der Ebene der EU stellen sich die hier behandelten Fragen zu Demokratie und Verfassungsrecht oft anders dar.

27 Vgl. Art 29 B-VG.

75

GESELLSCHAFT UND BÜRGER/INNEN

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

4. Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen

4.1 Vertrauenskrise der BürgerInnen in die Politik(erInnen) Jährlich zum Verfassungstag am 1. Oktober erhebt das Meinungsforschungsinstitut OGM im Demokratiebefund das Vertrauen der ÖsterreicherInnen in die Politik. Nachdem dieses jahrelang stetig gesunken war, stieg es ausgehend von sehr niedrigem Niveau 2018 erstmals leicht an – bloß um 2019, dem Jahr der »Ibiza-Affaire«, neuerlich zu sinken  : 62 Prozent der Befragten geben aktuell an, wenig oder gar kein Vertrauen in die Politik und ihre Problemlösungsfähigkeit zu haben  ; noch weniger Menschen vertrauen den handelnden Personen. Ergänzend zeigt der neue Demokratiemonitor von SORA, dass Demokratievertrauen und -zufriedenheit auch maßgeblich von sozioökonomischen Faktoren wie Einkommen und Bildung abhängen. Wer in finanzieller Sicherheit lebt, fühlt sich von der Politik eher wahrgenommen und repräsentiert und setzt folglich mehr Vertrauen ins System als ressourcenschwache Personen wie Arbeitslose oder prekär Beschäftigte. Im Umkehrschluss sinkt mit finanzieller Unsicherheit nicht nur das Vertrauen, sondern steigt auch die Hinwendung zu autoritären Gedanken  : Die 2017 veröffentlichte Autoritarismusstudie von SORA und dem Verein zur wissenschaftlichen Aufarbeitung von Zeitgeschichte offenbarte, dass antidemokratische und autoritäre Einstellungen sowie der Ruf nach dem »starken Mann« im vergangenen Jahrzehnt stark zugenommen haben. Jener Studienteil, der sich mit der Ursachensuche dieses Trends befasst, erhob, dass sozioökonomische Unsicherheit autoritäre Einstellungen verstärkt  ; vor allem soziale Kränkungen aufgrund der zunehmenden Ungerechtigkeit und Ungleichheit der Gesellschaft, aber auch durch mangelnde Wertschätzung und fehlenden Respekt hätten eine stark negative Wirkung auf die politische Kultur und damit auf das Vertrauen in die Lösungsfähigkeit demokratischer Institutionen. Die befragten ÖsterreicherInnen gaben an, dass sie sich von »denen da oben« nicht vertreten, nicht wahrgenommen und in ihrer Lebensrealität nicht verstanden fühlten. Vor allem die mannigfache Krise seit 2008 und ihre unzureichenden Bewältigungsstrategien zogen einen Vertrauensverlust gegenüber der Politik und ihren handelnden Personen nach sich. Entsprechend wurden in den vergangenen Jahren vermehrt Stimmen laut, die eine vermeintlich »echte« Demokratie forderten

80

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

und die Antwort in der direkten Demokratie suchten. Doch da die Krise der Demokratie letztlich eng mit dem Verlust sozialer und politischer Gleichheit zu tun hat, genügt es nicht, Beteiligungsrechte wie mehr unmittelbare Instrumente bloß zur Verfügung zu stellen, sondern es ist vor allem erforderlich, dass die Voraussetzungen für substanzielle Gleichheit garantiert sind. Daher bedarf die Auseinandersetzung mit der Demokratie aus Perspektive der Bürgerinnen und Bürger einer besonderen Sensibilität gegenüber den politischen Folgen wirtschaftlicher und sozialer Schieflagen. Dieses Kapitel beschreibt die Partizipation der BürgerInnen an der österreichischen Demokratie in Theorie und Praxis. Wir beleuchten sowohl die indirekte Demokratie, also Wahlen, als auch die Entwicklungen der direkten Demokratie und diskutieren Möglichkeiten einer partizipativen Demokratie. Den Verfassungsvorgaben stellen wir die politische Praxis gegenüber und denken über mögliche und notwendige Reformen nach. Der Schwerpunkt liegt stets auf der sogenannten konventionellen Partizipation und lässt unkonventionelle Beteiligungsformen wie Demonstrationen oder auch strategische Prozessführung außer Acht.1 Unter »Partizipation« subsumiert die Politikwissenschaft nach Max Kaase »jene Verhaltensweisen von Bürgern […], die sie alleine oder mit anderen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Einfluß auf politische Entscheidungen zu nehmen.«2 Dieser Partizipationsbegriff fokussiert weniger auf die Strukturen als vielmehr auf den Akteursaspekt. Partizipation wird in dieser Definition als instrumentelles und zweckrationales Handeln der BürgerInnen verstanden, die sich beteiligen, um ihre Interessen möglichst optimal durchzusetzen. Handlungen, die lediglich in ihren Konsequenzen, nicht aber in ihren Intentionen politisch, d.h. auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess bezogen sind, werden nicht unter politische Partizipation gefasst.

1 Zu unkonventionellen Partizipationsformen siehe allgemein De Nève, Dorothée/Olteanu, Tina (Hg.) (2013), Politische Partizipation jenseits der Konventionen, Oplade  ; sowie Ehs, Tamara (2019), Participation in Juristocracy, in  : Pausch, Markus (Hg.) Ideas for the Future of Europe, Baden-Baden. 2 Kaase, Max (1992), Politische Beteiligung/Politische Partizipation, in  : Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, S. 429–433, hier S. 429.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

4.2 Institutionelle Grundlagen 4.2.1 Indirekte Demokratie Im vielzitierten ersten Verfassungsartikel präsentiert sich Österreich als demokratische Republik, deren Recht vom Volk ausgeht. Doch das Volk herrscht selten direkt, sondern hauptsächlich durch seine gewählten Organe. Schon der Verfassungsjurist und maßgebliche Autor der Verfassung, Hans Kelsen, meinte außerdem, souverän sei nicht das Volk (dessen Wille ohnehin nur ein fiktiver sei), sondern die Republik und ihre Institutionen. Das Volk ist als Legitimationsquelle zwar unerlässlich, muss jedoch nur selten direkt an den Staatshandlungen beteiligt werden, etwa im Zuge einer obligatorischen Volksabstimmung, die bei Gesamtänderung der Verfassung notwendig wird. Diese gab es erst ein einziges Mal und zwar im Rahmen des Beitritts zur Europäischen Union. Während das Bundesverfassungsgesetz in der Fassung von 1920 (B-VG 1920) eine rudimentäre Spielregelverfassung darstellte und über die konkrete Ausgestaltung der Beteiligung des Volkes schweigt, sind europäische Verfassungen jüngeren Datums in der Regel wesentlich konkreter. Sie legen meist an prominenter Stelle fest, dass das Volk seine Staatsgewalt mittels Wahlen und Volksabstimmungen ausübt. Eine entsprechende Formulierung enthält selbst das deutsche Grundgesetz, das ansonsten das Volk durch eine strikt repräsentativ-demokratische Orientierung betont auf Distanz vom Entscheidungsprozess hält. 4.2.1.1 Wer darf wählen  ?

Das österreichische Verständnis der Volksherrschaft wird über die Staatsbürgerschaft gemäß Artikel 7 bestimmt, die festlegt, wer im österreichischen politischen System partizipieren darf. Während es weltweit mittlerweile einige Staaten gibt, die das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft entkoppeln und auf die sogenannte Wohnbürgerschaft (also den dauerhaften legalen Aufenthalt) abstellen, ist in Österreich auf Bundes- und Landesebene nur wahlberechtigt, wer StaatsbürgerIn ist. Aufgrund der Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union sind darüber hinaus UnionsbürgerInnen mit ausländischer Staatsbürgerschaft bei Kommunalwahlen stimmberechtigt. Die Stadt Wien wollte im Jahr 2002 das Wahlrecht auf Bezirksebene ebenso für Nicht-EU-BürgerInnen öffnen, scheiterte damit aber beim Verfassungsgerichtshof. Dieser argumentierte mit dem wahlrechtlichen Homogenitätsprinzip, wonach die Bundesverfassung ein für alle Wahlen in den Grundzügen einheitliches Wahlrecht festlegt. Zu diesen Grundzügen gehört auch, dass das Wahlrecht nur österreichischen StaatsbürgerInnen zukommt. Derzeit erlauben 14 EU-Mitgliedstaaten bestimmten

81

82

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

Gruppen von im Land lebenden Drittstaatsangehörigen mittlerweile die Teilnahme an kommunalen Wahlen  ; sechs EU-Mitgliedstaaten haben das Wahlrecht für bestimmte ausländische Staatsangehörige gar auf Wahlen regionaler Ebene ausgedehnt. Österreich findet sich damit bereits in einer Minderheitenposition wieder. Vorreiterin ist die Republik jedoch beim Wahlalter  : 2007 senkte Österreich das aktive Wahlalter auf 16 Jahre und war damit der erste und für längere Zeit einzige – 2018 folgte Malta – EU-Staat, der seine BürgerInnen auch auf Bundesebene so früh in den politischen Gestaltungsprozess einbindet. Laut der von Staatswissenschafterin Sylvia Kritzinger durchgeführten Erhebung 10 Jahre Wählen mit 16 ist diese Maßnahme von Erfolg gekrönt  : Das politische Interesse der ErstwählerInnen ist deutlich gestiegen, und immer mehr junge Erwachsene sind motiviert, wählen zu gehen  ; bislang war ihre Beteiligung unter dem Durchschnitt gelegen.3 Mittlerweile empfehlen auch das Europäische Parlament und der Europäische Rat den Mitgliedstaaten eine allgemeine Anpassung des Wahlalters auf 16 Jahre für die nächsten EP-Wahlen 2024. 4.2.1.2 Parteiendemokratie

Oberflächlich betrachtet ist Österreich eine klassische Repräsentativ- und damit Parteiendemokratie. Die Mechanik des Entscheidungssystems unterscheidet sich nicht wesentlich von jener in den meisten anderen europäischen Staaten  : Das Volk wählt seine VertreterInnen und überträgt ihnen damit umfassende Regelungsbefugnisse. Doch bei näherem Hinsehen verdeutlicht sich, dass dieses System eher eines der Delegation als der Repräsentation geschweige denn der Partizipation ist. Dies zeigt sich schon bei der Mechanik des Wahlsystems  : Seit 1992 gibt es bei Nationalratswahlen drei Selektionsebenen – 39 Regionalwahlkreise, 9 Landeswahlkreise und eine Bundesliste. Nominell haben die WählerInnen so drei Möglichkeiten, Einfluss auf die konkrete Zusammensetzung des Nationalrates zu nehmen. Faktisch führen aber die komplexen Wechselwirkungen in diesem System verbunden mit der nachträglichen Einflussnahme der politischen Parteien dazu, dass der/die WählerIn kaum Gelegenheit hat, die Personalselektion nachhaltig zu steuern. Der Vergleich zum Instrument des Volksbegehrens drängt sich geradezu auf  : So wie dieses dem/der WählerIn Einflussnahme auf Sachentscheidungen verheißt, tut es die Vorzugsstimme bei der Personal-

3 Vgl. Kritzinger, Sylvia/Wagner, Markus/Glavanovits, Josef (2018), Wählen mit 16 – ErstwählerInnen bei der Nationalratswahl 2017, Wien.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

selektion. In beiden Fällen ist es den AdressatInnen ein Leichtes, den Wunsch der WählerInnen zu ignorieren oder zu instrumentalisieren. Funktionsebenen von Wahlen 1. Legitimation der Regierenden  : Durch die Wahl erhalten PolitikerInnen das Mandat, Entscheidungen im Namen der WählerInnen zu treffen. 2. Kontrolle  : Nicht alle gewählten PolitikerInnen sind Teil der Regierung. Die Minderheit bildet die parlamentarische Opposition, deren Aufgabe die Kontrolle der Regierung ist. 3. Konkurrenz  : PolitikerInnen von Regierung und Opposition liefern sich einen öffentlichen Wettbewerb, der Wahlen erst sinnvoll macht. 4. Repräsentation und Integration  : Wahlen stellen eine Verbindung zwischen den BürgerInnen und ihren VertreterInnen her und sorgen damit für die Integration des Gemeinwesens. Persönlichkeits-und Verhältniswahl Es gibt unzählige Möglichkeiten, gesetzgebende Körperschaften zu wählen. Die grundlegende Frage ist  : Steht die Wahl des einzelnen Mitglieds im Vordergrund oder die Zusammensetzung der Körperschaft  ? Im ersten Fall läuft das Wahlsystem auf ein Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen hinaus, im zweiten Fall auf ein Verhältniswahlrecht. Das Mehrheitswahlrecht hat den Vorteil der direkten Verbindung zwischen WählerIn und »ihrem/seinem« Abgeordneten, allerdings um den Preis einer geringeren Repräsentativität – die für andere KandidatInnen abgegebenen Stimmen verfallen. Das Verhältniswahlrecht hat den Vorteil, die Kräfteverhältnisse im Volk möglichst genau und auch detailliert abzubilden, allerdings um den Preis einer nur losen Verbindung zwischen WählerInnen und Abgeordneten. Deshalb gibt es zahlreiche Systeme, in denen Elemente der Verhältnis- und Persönlichkeitswahl verbunden werden, so auch in Österreich. Wahlsystem und Vorzugsstimme Entscheidend ist das dritte Ermittlungsverfahren  : Die Gesamtzahl der bei der Nationalratswahl abgegebenen Stimmen bestimmt, welche Partei wie viele der 183 Mandate erhält. Zum Zuge kommen dabei nur Parteien, die im gesamten Bundesgebiet mindestens vier Prozent der Stimmen oder zumindest ein Regionalwahlkreismandat erhalten haben. Welche Personen die Mandate erhalten, wird aber in den Regional- und Landeswahlkreisen bestimmt. So wurden bei der Nationalratswahl 2019 nur 27 Mandate über den Bundeswahlvorschlag besetzt. 79 Abgeordnete wurden in den Regionalwahlkreisen gewählt, weitere 77 über die Landeslisten. Das Primat der Parteien ist ungebrochen, auch wenn die WählerInnen mittlerweile rege von der Möglichkeit der Vorzugsstimmenvergabe Gebrauch machen. »VorzugsstimmenkaiserInnen« sind regelmäßig jene SpitzenkandidatInnen, die ohnehin nicht mehr vorgereiht werden können. In den vergangenen vier Jahrzehnten haben es nur fünf Abgeordnete aufgrund von Vorzugsstimmen in den Nationalrat geschafft, der SPÖ-Kandidat Josef Cap (1983) sowie die ÖVP-BewerberInnen Gerhart Bruckmann (1999), Franz Glaser (2002), Martina Diesner-Wais (2013) und Peter Weidinger (2017), letzterer auf-

83

84

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

grund von internen Regeln, die eine niedrigere Hürde für die Vorreihung vorsahen. Für eine Vorreihung sind 14 Prozent der Parteistimmen im Regionalwahlkreis, 10 Prozent im Landeswahlkreis oder 7 Prozent auf der Bundesliste erforderlich. In den Regionalwahlkreisen wurde diese Hürde schon mehrmals genommen, weil die Vorzugsstimmenvergabe gefördert wird, indem die Namen der KandidatInnen auf dem Stimmzettel aufgedruckt sind. Bei der Wahl 2019 wurden auf diese Weise 1.139.892 Vorzugsstimmen in den Regionalwahlkreisen vergeben – deutlich mehr als auf Landesebene (231.020) und Bundesebene (483.832).

4.2.1.3 Delegativdemokratie

Die Mandatsverteilung auf drei Ebenen soll weniger eine optimale Repräsentation des Wahlvolkes sicherstellen als den Gestaltungsspielraum der wahlwerbenden Parteien erhöhen. Sie können nämlich zwischen BewerberInnen in Regionalwahlkreisen, der Landesliste und dem Bundeswahlvorschlag jonglieren. Wer auf einer Ebene nicht reüssiert, kann es auf einer anderen Ebene schaffen. Dies vergrößert die Abhängigkeit der BewerberInnen von den Parteien, die ihr Personal durch entsprechende Vorkehrungen wie Blankoverzichtserklärungen auch über die Konstituierung des Parlaments hinaus in Griff haben können. Ihr Antlitz zeigt die österreichische Delegativdemokratie auch beim Thema Legislaturperioden  : Zerfällt eine Koalitionsregierung, muss stets auch der Nationalrat seine Arbeit einstellen, obwohl hierfür keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht. Dessen Legitimation endet offenbar bereits in dem Moment, in dem er seine Macht an eine nach der Wahl gebildete Regierung delegiert. Der fliegende Wechsel zu einer neuen Koalition scheint nach dieser Deutung ebenso »undemokratisch« wie das Weiterregieren einer Minderheitsregierung. Vorstöße hinsichtlich eines Neuwahlverbots etwa nach norwegischem Vorbild, wie sie die ehemalige Nationalratspräsidentin Barbara Prammer unternahm, fanden bislang keine Resonanz. Und die nach der Ibiza-Affaire amtierende »Expertenregierung« – die einem freigespielten Nationalrat gegenübersteht – stellt eine absolute Ausnahme dar. Tatsächliche Beschneidungen von Mitwirkungsrechten werden hingegen achselzuckend hingenommen  : Im Jahr  2007 wurde die Legislaturperiode des Nationalrates von vier auf fünf Jahre verlängert. Dieser Eingriff in das demokratische Prinzip ging praktisch ohne öffentliche Diskussion über die Bühne. Nicht einmal ansatzweise erwogen wurde dabei, dass es sich um eine wesentliche Änderung des demokratischen Baugesetzes gehandelt haben könnte, die eigentlich eine Volksabstimmung notwendig gemacht hätte. Ein wesentliches Argument für die Verlängerung war, dass man mehr Zeit für effektives Regieren hätte  ; im Umkehrschluss offenbart dies ein eigenartiges Demokratieverständnis, weil die

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

Botschaft lautet, dass die Kommunikation mit den BürgerInnen die Politik behindere. Im Gegensatz dazu ist in Deutschland die mehrfach erwogene Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre mit dem Argument verworfen worden, dass die Beteiligung der BürgerInnen an der staatlichen Willensbildung nicht – oder zumindest nicht ohne Kompensation in Form eines Ausbaus von Sachentscheidungen – eingeschränkt werden könne. Auch die Verfasser der österreichischen Bundesverfassung vor 100 Jahren hatten erwogen, nur kurze, z. B. zweijährige Legislaturperioden festzusetzen  ; dies schien ihnen demokratischer. 4.2.1.4 Der lange Schatten der Parteien

Ohne Parteien ist politische Repräsentation in Österreich undenkbar. Das B-VG 1920 fokussierte auf Parteien als tragendes Element allen Staatshandelns – ohne sie jedoch als solche in der Verfassung festzuschreiben – und etablierte bis zur Novelle von 1929 ein radikalparlamentarisches System. Obwohl in jenem Jahr die Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk als Gegengewicht eingeführt wurde, blieben die Parteien staatstragend. Erst nach Austrofaschismus, Bürgerkrieg und daraus folgender NS-Herrschaft übten sich ÖVP und SPÖ im großkoalitionären Konsens, der Konflikte u. a. an die Sozialpartnerschaft auslagerte, und zementierten mit dem VdU (bzw. ab 1956 mit der FPÖ) auf Jahre ein »Zweieinhalb-« oder »hinkendes Dreiparteiensystem« ein.4 Der Historiker Ernst Hanisch prägte für die österreichische Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts den Ausdruck vom »langen Schatten des Staates«5  ; und ebenso kann man vom langen Arm der Parteien sprechen, die als Milieu- und Weltanschauungsparteien Österreich in zwei (bzw. zweieinhalb) Lager einteilten. Erst 1975 aber wurde ein Parteiengesetz beschlossen, das in seinem ersten Paragraph per Verfassungsbestimmung die Existenz und Vielfalt von Parteien zum wesentlichen Bestandteil der Demokratie in Österreich erklärte. Parteigründung und -tätigkeit sind mit Ausnahme der NS-Wiederbetätigung frei. Das Gesetz regelt – vor allem in seiner neuen Fassung aus dem Jahre 2012 – auch die staatliche Parteienfinanzierung und verpflichtet die Parteien zur jährlichen Rechenschaft über ihre Einnahmen und Ausgaben. Nach dem Gesetzeswortlaut ist eine politische Partei »eine dauernd organisierte Verbindung, die durch gemeinsame 4 Pelinka, Anton/Rosenberger, Sieglinde (2017), Österreichische Politik. Grundlagen, Strukturen, Trends, Wien, S. 160. 5 Vgl. Hanisch, Ernst (1994), Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (1890–1990), Wien.

85

86

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

Tätigkeit auf eine umfassende Beeinflussung der staatlichen Willensbildung, insbesondere durch die Teilnahme an Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern und dem Europäischen Parlament, abzielt und deren Satzung beim Bundesministerium für Inneres hinterlegt ist (§1 Abs. 2 Parteiengesetz).« Das Parteiengesetz 2012 widmet sich ausführlich finanziellen Fragen wie Spenden oder Wahlwerbeausgaben. Staatliche Fördermittel, einschließlich der Klubförderung im Parlament, erhalten demnach nur politische Parteien  ; für andere Formen einer »dauernd organisierten Verbindung, die durch gemeinsame Tätigkeit auf eine umfassende Beeinflussung der staatlichen Willensbildung« abzielen würde, ohne jedoch als Partei zu Wahlen anzutreten, sind keine umfassenden Mittel vorgesehen – weder in diesem Gesetz noch in einem anderen. Eine allgemeine Demokratieförderung etwa für Bürgerinitiativen fehlt im repräsentativ geprägten System Österreichs. Dies offenbarte sich etwa bei der Nationalratswahl 2017, als die Liste Pilz (später  : Jetzt) sich demonstrativ als lose Bürgerplattform und Gegenmodell zu den etablierten Parteien präsentierte und partout nicht »Partei« sein wollte. Letztlich musste sie einlenken und sich als »wahlwerbende Partei«, später als »parlamentarischer Klub« konstituieren, um einerseits überhaupt zu den Wahlen antreten und andererseits Gelder aus dem Parteiengesetz lukrieren zu können. Wenn das Gesetz politische BewerberInnen auch in die Rechtsform der Partei zwängt, stellt dies doch eine demokratische Vorkehrung dar  : Durch die im internationalen Vergleich hohe Parteienförderung ist sichergestellt, dass nicht nur finanzstarke Privatpersonen in den politischen Prozess eintreten können, wie dies etwa in der USA mittlerweile der Fall ist.6 Die oftmals beklagte Dominanz der österreichischen Parteien bedingt aus soziologischer Sicht somit einen Ausgleich  : Parteien (mitsamt all ihren Vorfeldorganisationen) sind eine vergleichsweise niederschwellige Möglichkeit, politisch aktiv zu werden, und ermöglichen eine soziale Streuung, die andere Beteiligungsformen (bislang  ?) nicht leisten können. 4.2.1.5 Zählebiges Parteiensystem

Den starken Lenkungseffekt der Verfassung in Richtung Organisation als Partei verdeutlichte das Beispiel der Liste Sebastian Kurz, die im Mai 2017 vorgestellt wurde. Obwohl Kurz die Bildung einer eigenen »Bewegung« erwogen haben dürfte, um sich der als einschränkend empfundenen Parteistrukturen der ÖVP 6 Näher zur Parteienfinanzierung siehe Pentz, Eva (2017), Parteispenden und staatliche Kontrolle, in  : juridikum 4.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

zu entledigen, entschied er sich letztlich für eine Übernahme der Partei, weil sie einen funktionierenden Apparat, eine gesicherte Position auf dem Stimmzettel sowie eine Vorzugsbehandlung durch die dominierenden Medien mit sich brachte. Diese Episode verdeutlichte abermals die äußerste Zählebigkeit der österreichischen Parteiendemokratie. Zuvor hatten Namenslisten wie jene des EU-Abgeordneten Hans-Peter Martin, des Tiroler Arbeiterkammerpräsidenten Fritz Dinkhauser oder des austrokanadischen Milliardärs Frank Stronach nur kurzfristige Erfolge erzielen können. Österreich unterscheidet sich damit von anderen europäischen Staaten, in denen das Parteiensystem weitaus fluider ist. Etwa in Frankreich ändert sich die Konfiguration des Parteienspektrums jeweils in Abhängigkeit vom Wettbewerb um das Präsidentenamt. Parteien sind im Laufe der Zeit immer mehr zu Wahlvereinen von PräsidentschaftskandidatInnen beziehungsweise Erfüllungsgehilfinnen der gewählten Präsidenten geworden. Emmanuel Macrons La Republique en Marche ist deshalb keineswegs ein Sonderfall, sondern steht in der Tradition der Gaullisten oder auch der von Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy aus der Taufe gehobenen konservativen Sammlungsbewegungen. Freilich hat die Entwicklung sogenannter »politischer Start-ups«7 mittlerweile auch Österreich erfasst, wie man anhand von NEOS beobachten konnte. Doch zeigen Phänomene wie die Liste Kurz, dass die Traditionsparteien eine erstaunliche Resilienz, Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit aufweisen. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei der Kurz-ÖVP nämlich um eine Fortführung des auf Bundesländerebene schon seit geraumer Zeit erfolgreich betriebenen Re-Brandings etwa der Tiroler Volkspartei, der Oberösterreichischen Volkspartei, der Volkspartei Niederösterreich, der Steirischen Volkspartei, die sich auch mit ihren Logos und Parteifarben deutlich von der Mutterpartei abheben. Während demnach Macron tatsächlich ein politisches Start-up gründete, vollzog Kurz bloß eine Art Management-buy-out, übernahm also die Partei durch eine eigene Geschäftsleitung. 4.2.1.6 Relative Stärke der Traditionsparteien

In immer mehr europäischen Staaten, zunehmend auch in etablierten Demokratien, kommt es zu Umsturzwahlen, bei denen neue Parteien ihre traditionellen MitbewerberInnen deklassieren. Die griechische Syriza, die tschechische ANO oder die italienische Cinque Stelle sind nur einige Beispiele. Zwar ist auch das öster7 Vgl. Lentsch, Josef (2018), Political Entrepreneurship. How to Build Successful Centrist Political Start-ups, Berlin.

87

88

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

reichische Parteiensystem deutlich in Bewegung geraten, denn bei drei der fünf jüngsten Nationalratswahlen kam eine neu gegründete Partei ins Parlament, bei der Wahl 2013 waren es sogar zwei. Dennoch zeigt sich die starke Dominanz bestehender Strukturen  : Lediglich eine dieser vier Parteien – NEOS – schaffte es aus dem Stand ohne vorherige Zugehörigkeit zum politischen Establishment ins Parlament  ; sie hatte jedoch und hat noch immer durch den Unternehmer Hans-Peter Haselsteiner großzügige finanzielle Unterstützung. Die Rigidität des Parteiensystems lässt sich schließlich auch daran ermessen, dass von den anderen neuen Parteien (BZÖ, Liste Frank Stronach und Liste Pilz/Jetzt) nur eine (das BZÖ) die Wiederwahl schaffte, und dass erstmals bei der Wahl 2019 mit den Grünen einer zuvor aus dem Nationalrat geschiedenen Partei der Wiedereinzug gelang. Trotz des versuchten Ausgleichs durch das Parteiengesetz ist gerade in einer Mediendemokratie Aufmerksamkeit käuflich, was ressourcenstarken neuen Parteien einen Wettbewerbsvorteil verschafft. BZÖ (2006), Team Stronach (2013) und die Liste Pilz (2017) hatten jeweils den Startvorteil, vor der Wahl durch Abspaltung von anderen Klubs bereits im Parlament vertreten oder – im Fall des BZÖ – sogar Regierungspartei zu sein. Bezeichnend ist auch, dass bei den Nationalratswahlen 2017 und 2019 abermals jene drei Parteien die vorderen Plätze belegten, die schon bisher das politische Leben Österreichs während der Zweiten Republik bestimmt hatten  : ÖVP, SPÖ und FPÖ. Und auch wenn Letztere in den vergangenen drei Jahrzehnten zu den beiden Traditionsparteien aufschließen konnte, wurde deren Hegemonie vor allem aufgrund der sozialpartnerschaftlichen Verankerung bislang nicht gebrochen. Bei allen Wahlen seit 1945 landete eine der beiden Traditionsparteien auf dem ersten Platz. Parteienparadies Österreich  ? In kaum einem anderen Land ist die Gründung von Parteien so einfach wie in Österreich. Das Parteiengesetz sieht keine besonderen Voraussetzungen und auch keine Prüfung von Gründungen vor. Es reicht die Hinterlegung der Parteisatzung beim Innenministerium, die nur wenige formale Kriterien (Organe der Partei und Vertretungsbefugnis, Rechte und Pflichten der Mitglieder, Gliederung der Partei) erfüllen muss. Gleichzeitig zählt Österreich zu jenen Ländern, die gemessen an ihrer Wirtschaftskraft am meisten öffentliches Geld für Parteien ausgeben. Im Jahr 2018 flossen 198,4 Millionen Euro von Bund und Ländern an Parteien, dazu kamen weitere Millionen von Städten und Gemeinden. Der Löwenanteil geht dabei an die im Nationalrat vertretenen Parteien, die nicht nur »normale« Parteienförderung bekommen (2018  : 29,4 Millionen Euro), sondern auch Klubförderung (2018  : 22 Millionen Euro) sowie Förderungen für ihre jeweiligen Parteiakademien (2018  : 10,5 Millionen Euro). Außerparlamentarische Parteien erhalten auf Bundesebene eine einmalige Zahlung

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

pro Stimme, sofern sie bei der Nationalratswahl mehr als ein Prozent erreichen – gleichsam als Ersatz für die Wahlkampfkostenrückerstattung, die das Parteiengesetz 2012 abgeschafft hat. So erhielten die Grünen als Einmalzahlung 481.595 Euro für die Wahl 2017. Zu den finanziellen kommen auch mediale Vorteile  : Im Wahlkampf werden die aktuell im Nationalrat vertretenen Parteien gegenüber anderen wahlwerbenden Gruppen bevorzugt, insbesondere auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF. Obwohl es aktuell 1.142 (Stand 15. Oktober 2019) Parteien mit hinterlegten Satzungen gibt, tritt nur ein Bruchteil davon auch bei Wahlen in Erscheinung. Bei der Nationalratswahl 2019 traten 13 Wahlparteien an, acht davon bundesweit. Wahlparteien müssen nicht identisch sein mit Parteien. Hierbei kann es sich um Bündnisse mehrerer Parteien (wie beispielsweise KPÖ Plus) oder auch um Listen handeln, die nicht mit Parteien verbunden sind. Nach der Wahl konstituieren sich die auf den Listen der Wahlparteien gewählten Abgeordneten in Klubs, die mindestens fünf Mitglieder haben müssen. Die Klubbildung ist aber nur noch einen Monat nach der Konstituierung des Nationalrates möglich. Damit wird verhindert, dass sich während der Legislaturperiode neue Klubs durch Abspaltungen bilden, wie es einst im Falle des Liberalen Forums und des Team Stronach geschehen war.

4.2.2 Direkte Demokratie Unter »direkter Demokratie« verstehen wir nach Andreas Kost »alle durch Verfassung und weitere Rechtsvorschriften ermöglichten Verfahren, die durch stimmberechtigte BürgerInnen eines Staates, eines Bundeslandes oder einer Kommune politische Sachfragen durch Abstimmung selbst und unmittelbar entscheiden bzw. auf die politische Agenda setzen.«8 In Österreich ist die direkte Demokratie seit jeher schwach ausgeprägt. Der extreme Parlamentarismus des B-VG 1920 war vor allem auf den Einfluss der Sozialdemokratie zurückzuführen. Erst nach ihrem Ausscheiden aus der Regierung wurden in den 1920er Jahren das Volksbegehrensgesetz (BGBl 367/1921) sowie das Volksabstimmungsgesetz (BGBl 297/1929) beschlossen. Die B-VG-Novelle 1929 brachte zudem die Direktwahl des Bundespräsidenten. Die Wahl des Bundespräsidenten war übrigens lange Zeit die einzige Direktwahl eines Exekutivorgans. Erst seit den 1990ern kann man in einigen österreichischen Bundesländern (derzeit in  : Burgenland, Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg) den/die BürgermeisterIn direkt wählen. 4.2.2.1 Land der vorsichtigen Demokratie

Auf Bundesebene kamen die direktdemokratischen Instrumente erst in der Zweiten Republik zum Einsatz  : 1958 wurde ein neues Volksabstimmungsgesetz 8 Kost, Andreas (2008), Direkte Demokratie, Berlin, S. 10.

89

90

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

(BGBl 13/1958) und 1963 ein neues Volksbegehrensgesetz (BGBl 197/1963) in Kraft gesetzt. Somit fand erst 44 Jahre nach der Verfassungsgebung das erste bundesweite Volksbegehren statt. Hierbei handelte es sich um das 1964 vom Journalisten und TV-Kommentator Hugo Portisch lancierte Rundfunkvolksbegehren. In den darauffolgenden Jahren wurde von Volksbegehren allerdings nur wenig Gebrauch gemacht  ; als Initiatorinnen traten die beiden Großparteien sowie ihnen nahestehende Organisationen auf (Einführung der 40-Stunden-Woche 1969, Abschaffung der 13. Schulstufe 1969, Schutz des menschlichen Lebens 1975). Das politische System beharrte auf dem Weg der repräsentativen Demokratie. Dies sollte sich erst mit der erstarkenden Umwelt- und Ökologiebewegung der 1980er Jahre ändern. Mit und nach der ersten bundesweiten Volksabstimmung (AKW Zwentendorf 1978) setzte eine Politisierung der Gesellschaft ein, die weitere Volksbegehren nach sich zog (u. a. zwei Volksbegehren für und gegen das AKW Zwentendorf 1980, Erhaltung der Hainburger Au 1985). 1981 wurde außerdem das Erfordernis von 200.000 Unterschriften für eine Behandlung im Nationalrat auf 100.000 gesenkt. Unter ihrem neuen Parteichef Jörg Haider entdeckte die FPÖ das Volksbegehren für sich als Oppositionsinstrument (Anti-Privilegien 1987, Sicherung der Rundfunkfreiheit 1989, »Österreich zuerst« 1993, etc.). Auch die Grünen als basisdemokratisch organisierte Bewegung erkannten bald die Möglichkeiten eines Volksbegehrens (EWR-Beitritt 1991, Tierschutz 1996, Gegen Gentechnik 1997, etc.). In den 1990er Jahren etablierten sich auf Bundesebene die Elemente direkter Demokratie folglich vor allem als Mittel der Oppositionsparteien, weil diese sonst kaum Rechte hatten, und wurden für den politischen Wettbewerb instrumentalisiert. Auf Basis dieser Erfahrung wurde 1998 die Möglichkeit abgeschafft, Volksbegehren von Landtags- oder Nationalratsabgeordneten einzuleiten. Seither ist dies nur mehr BürgerInnen gestattet, sofern sie mindestens 8.401 Unterstützungserklärungen für den Einleitungsantrag beibringen. Abgesehen von der einst regen Verwendung des Volksbegehrens durch Parteien ist Österreich hinsichtlich der Nutzung seiner direktdemokratischen Elemente nach wie vor ein »Land der vorsichtigen Demokratie«, wie es der Politologe Ferdinand Karlhofer ausdrückt  : Auf Bundesebene gab es in der Zweiten Republik lediglich zwei Volksabstimmungen (1978 über die Nutzung der Atomenergie [»Zwentendorf«] und 1994 über den Beitritt Österreichs zur EU), die Anzahl der Volksbegehren beträgt bislang 45 (Stand 23.11.2019). Die allererste Volksbefragung, deren Möglichkeit als politischer Kompromiss und Zugeständnis an die Demokratisierungsdebatte im Jahr  1989 eingeführt wurde, fand im Jänner 2013 über die Wehrpflicht statt.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

4.2.2.2 Direkte Demokratie auf Länderebene

Anders als auf Bundesebene gestalten sich die Möglichkeiten und praktischen Anwendungen direktdemokratischer Elemente auf Länderebene. In Vorarlberg, Salzburg, Tirol und Kärnten hatte es bereits in der Ersten Republik nicht bloß Möglichkeiten zur Bürgerpartizipation gegeben, sondern diese wurden auch rege wahrgenommen. In den übrigen Ländern kam es erst ab den 1970er Jahren zu einer Aufwertung der direkten Demokratie. Im Gefolge der Verfassungsautonomiediskussionen wurde in den östlichen und südlichen Bundesländern vermehrt die Chance der Bürgerbeteiligung an der Landesgesetzgebung etabliert, in Oberösterreich 1971, in Kärnten 1975, in Wien 1978, in Niederösterreich 1979, im Burgenland 1981 und in der Steiermark 1986. Die Steiermark verfügte über das modernste direktdemokratische Repertoire, weswegen seither alle Länder begannen, sich an diesem zu orientieren. Neben jenen Mitteln, die auch auf Bundesebene zur Verfügung stehen, können die Länder heute Volksbefragungen in Sachen der Landesvollziehung (außer Wien, dort auf Gemeindeebene) durchführen und sehen Landesgesetzesinitiativen sowie Volksinitiativen in Vollzugsangelegenheiten vor. Auf Grundlage von Art 117 Abs 8 B-VG fand ebenso auf Gemeindeebene seit den 1980er Jahren ein kontinuierlicher Ausbau direkter Demokratie statt. Die Rechts- und Staatswissenschafter Klaus Poier und Martin Dolezal identifizierten in einer Erhebung für den Zeitraum von 1945 bis 2010 606 direktdemokratische Verfahren auf Gemeindeebene, wovon die überwiegende Mehrzahl in den letzten 20 Jahren durchgeführt worden war. Angesichts der heute insgesamt 2.100 Gemeinden ist aber auch diese Anzahl eher gering.9 Seit dem Frühjahr  2012 steht den ÖsterreicherInnen als EU-BürgerInnen auch die Europäische Bürgerinitiative (EBI) zur Verfügung. Damit können sie sich an die Europäische Kommission wenden und diese auffordern, einen Rechtsakt in Bereichen vorzuschlagen, die in die Zuständigkeit der Europäischen Kommission fallen (etwa in den Bereichen Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr). Eine EBI muss von mindestens einer Million EU-BürgerInnen aus mindestens sieben Mitgliedstaaten unterstützt worden sein, um vorgelegt werden zu können. In jedem Mitgliedstaat ist ein Minimum an Unterstützungsbekundungen erforderlich, die sich an der Größe der Bevölkerung und der Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments orientiert. In Österreich muss eine Mindestzahl von 13.500 Unterstützungsbekundungen vorliegen. Eine 2015 von der Autorin unter 9 Vgl. Dolezal, Martin/Poier, Klaus (2014), Die Anwendung direktdemokratischer Verfahren in Österreichs Gemeinden, ÖFG-Working Paper 8.

91

92

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

österreichischen InitiatorInnen und TeilnehmerInnen durchgeführte Befragung verdeutlichte jedoch, dass der Aufwand in keiner Relation zur Durchschlagskraft steht und die EBI als wenig beteiligungsfreundliches und zahnloses Instrument wahrgenommen wird.10 Die daraufhin beschlossene Novelle der EBI verspricht per 1. Jänner 2020 allerdings deutlich mehr Anwenderfreundlichkeit. Des Weiteren entwickelt die Europäische Kommission in jüngster Zeit direktdemokratische Ansätze von oben, um die Meinung der BürgerInnen auszuloten. So startete im Mai 2018 eine einjährige Online-Bürgerkonsultation mit Fragen zur Zukunft Europas, die zuvor von einem Panel aus 96 BürgerInnen verschiedener Staaten entwickelt worden waren. Größeres Aufsehen erregte die im August 2018 abgeschlossene Online-Konsultation über eine mögliche Abschaffung der Zeitumstellung, an der sich mehr als vier Millionen Menschen (davon allerdings zwei Drittel aus Deutschland) beteiligten. Dies veranlasste die Kommission, einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorzulegen, der im März 2019 auch vom Europäischen Parlament angenommen wurde.11 4.2.3 Partizipative Demokratie Das Ausprobieren alternativer Formen demokratischer Teilhabe ist auch in Österreich nicht neu. Bereits im Anschluss an das »Revolutionsjahr 1968« sprach man von einer »Beteiligungsrevolution« (Frauen-, Friedens-, Antiatomkraftbewegung etc.). Was damals an Basisdemokratie, alternativen Abstimmungsmodi und Begegnungsart erprobt wurde, ist seither vielerorts zum fixen Bestandteil der Unternehmenskultur von NGOs und neuen Parteien wie allen voran den Grünen geworden, fand jedoch in den staatlichen Institutionen kaum Verankerung. So ist etwa Bürgerbeteiligung in Umweltangelegenheiten spätestens seit der Aarhus-Konvention (2005) state-of-the-art  ; grundsätzlich ins institutionelle Gefüge der repräsentativen Demokratie sind diese partizipativdemokratischen Elemente jedoch selten integriert. Denn oftmals läuft die Diskussion über »mehr Demokratie« auf einen Machtkampf zwischen direkter und indirekter Demokratie, zwischen der in Österreich dominanten repräsentativen Demokratie als Parteienstaat und den wenig entwickelten Elementen direktdemokratischer Einflussnahme hinaus. Vergessen wird dabei auf einen dritten Weg, der im Kon10 Vgl. Ehs, Tamara (2015), The ECI in Action. Austria and the UK, Brüssel. 11 Kritisch zu Online-Konsultationen als bloßes »Governance-Instrument« siehe Labitzke, Jan (2016), Mehr partizipative Demokratie wagen. Zum Umgang der Europäischen Kommission mit Online-Konsultationen, Wiesbaden  ; sowie Ehs, Tamara (2019), Participation in Juristocracy..

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

zept der partizipativen Demokratie die besten Elemente aus beiden Zugängen verbindet  : die höhere Partizipation und breitere Ideeneinbringung sowie Beratschlagung, die man sich von der direkten Demokratie erhofft (Demokratie als Prozess), und die umfassenderen Aushandlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die ein Parlament bereitstellen kann (Demokratie als Struktur). Solch neue Formen des demokratischen Miteinanders werden längst erprobt und gelebt, zum Beispiel im Rahmen der Vorarlberger Bürgerräte. 4.2.3.1 Das Vorarlberger Modell

Seit 2006 organisiert das beim Amt der Vorarlberger Landesregierung angesiedelte Büro für Zukunftsfragen Bürgerräte als partizipative Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Mittlerweile wurden auf Gemeinde-, Regional- und Landesebene fast 50 dieser Verfahren durchgeführt  ; sie sind also bereits fixer Bestandteil der Politikgestaltung im Ländle. Bekanntheit erlangte u. a. der im Juni 2015 abgehaltene landesweite Bürgerrat zu Asyl- und Flüchtlingsfragen. Seit 2013 ist dieses Instrument der partizipativen Demokratie auch in der Landesverfassung verankert. Hierbei initiiert die Landesregierung ein bis zweimal jährlich ausführliche, bis zu zwei Tage dauernde Diskussionsrunden zu verschiedenen gesellschaftspolitischen Themen. Der Bürgerrat formuliert Lösungsvorschläge, die an die Landesregierung weitergegeben werden. Diese muss sich mit den Ergebnissen auseinandersetzen  ; eine Verpflichtung zur Umsetzung der Vorschläge gibt es bislang jedoch nicht. An Bürgerräten teilnahmeberechtigt sind alle in Vorarlberg wohnhaften Menschen, die per Zufallsauswahl aus dem Melderegister eingeladen werden  ; die österreichische Staatsbürgerschaft ist nicht notwendig. Mittels dieses sozial durchmischten Settings werden durch die unterschiedlichen Blickwinkel der TeilnehmerInnen oft unkonventionelle aber durchaus brauchbare Vorschläge entwickelt. Die Landesverfassung sieht zudem vor, dass landesweite Bürgerräte nicht nur von der Regierung, sondern auch von Einzelpersonen oder Initiativen einberufen werden können, sofern diese 1.000 Unterschriften sammeln. Jene Möglichkeit wurde im Juni 2017 erstmals ergriffen  : Eine sechsköpfige Gruppe aus verschiedenen lokalen Initiativen erreichte mit der Frage »Wie sieht ein zukunftsfähiger Umgang mit Grund und Boden in Vorarlberg aus  ?« und der Forderung nach einem Bürgerrat zum Thema Raumplanung die nötigen Unterschriften. Im Zentrum standen Widmungs- und Nutzungskonflikte im dicht besiedelten Rheintal. Die Ergebnisse dieses ersten selbstinitiierten Bürgerrats haben bereits ins neue Raumplanungsgesetz und Grundverkehrsrecht Einzug gehalten. Zudem gab die

93

94

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

Landesregierung eine Studie zur Leerstandsmobilisierung in Auftrag, um dem Wunsch nach mehr und vor allem leistbarem Wohnraum nachzukommen. Im Herbst 2019 fand bereits der zweite mittels Unterschriften einberufene Bürgerrat statt, und zwar zum Thema »Zukunft der Landwirtschaft«. Im Mittelpunkt der Bürgerräte steht die Dialogorientierung, nicht die Abstimmung. Es geht darum, mit Expertinnen und Experten des Alltags das lokale Wissen zu heben und die Gemeinwohlperspektive zum Ausdruck zu bringen. Seit 2016 findet sich die partizipative Demokratie in Form von Bürger- und Jugendräten auch in der Salzburger Landesverfassung.12 4.2.3.2 Neue Partizipationsformen im repräsentativen System

Auch im repräsentativen System gibt es für BürgerInnen Möglichkeiten, sich zwischen den Wahlen einzubringen  : Zum Beispiel können mittels parlamentarischer Bürgerinitiativen, die von mindestens 500 wahlberechtigten Personen unterzeichnet werden müssen, Vorschläge für Bundesgesetze oder die Durchführung bestehender Gesetze eingebracht werden.13 Außerdem wurde im September 2017 das parlamentarische Begutachtungsverfahren erweitert, sodass BürgerInnen nun Stellungnahmen zu Ministerialentwürfen über die Parlamentswebsite einbringen und diese wiederum mit einer Zustimmungserklärung unterstützen können. Einen bemerkenswerten Versuch der Bürgerbeteiligung startete der Nationalrat im Rahmen der Enquetekommission Zur Stärkung der Demokratie 2014/2015  : Nebst den üblicherweise geladenen ParlamentarierInnen und wissenschaftlichen ExpertInnen nahmen auch acht BürgerInnen teil, die sich dafür hatten bewerben können und mittels Losverfahren ermittelt wurden. Da diese BürgerInnen zwar ein Rede-, aber kein Stimmrecht hatten und zudem kaum inhaltlich und verfahrenstechnisch begleitet und eingebunden wurden, fiel deren Erfahrung jedoch überwiegend negativ aus. Für den Erfolg einer neuartigen Bürgerbeteiligung an alten Mechanismen der repräsentativen Demokratie hätte es einer umfassenderen Herangehensweise bedurft, wie sie etwa das Land Vorarlberg oder noch weitergehend die Bürgerversammlung (Citizens’ Assembly) der Republik Irland seit einigen Jahren umsetzt. 12 Vgl. Ehs, Tamara (2020), Partizipative Demokratie auf Landes- und Gemeindeebene, in  : Foster Europe (Hg.) Föderalismus 2030. Neue Ansätze zur Weiterentwicklung, Wien. 13 Vgl. Rosenberger, Sieglinde/Stadlmair, Jeremias (2016), Petitionen und Parlamentarische Bürger­ initiativen – Zivilgesellschaft im Parlament  ? in  : TransForm. Journal für zivilgesellschaftliche Innovation 1, S. 68–100.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

4.3 Politische Realität  : Inklusion und Exklusion 4.3.1 Verhältniswahlrecht Politische Repräsentation hat in Österreich proportional zu sein. Dies geht auf die zweifelhaften Erfahrungen mit dem Mehrheitswahlrecht in der Habsburger Monarchie zurück, in der Einerwahlkreise kaum als Möglichkeit für eine stärkere Verbindung zwischen Wählerschaft und politischen Repräsentanten wahrgenommen wurden, sondern als Verfestigung überkommener Machtstrukturen und Negierung pluraler Gesellschaftsstrukturen. Mit der Republiksgründung wurde daher – vor allem auf Forderung der Sozialdemokratie, aber auch im Einklang mit internationalen Trends – das Verhältniswahlrecht eingeführt. Mehrere Wahlrechtsreformen beseitigten seither allmählich jene Verzerrungseffekte, die zugunsten von Großparteien und Parteien mit ländlichen Hochburgen ausgefallen waren. Seit der Wahlrechtsreform 1992 ist durch ein drittes Ermittlungsverfahren, das sich auf alle 183 Mandate bezieht, praktisch völlige Verhältnismäßigkeit gegeben. 4.3.1.1 Hürden und Verzerrungen

Ein verbliebener intervenierender Faktor ist die Vier-Prozent-Hürde  ; ihre Wirkungen werden meist durch taktische Stimmabgabe aufgrund von Umfrage­ er­geb­nissen neutralisiert. Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) versuchte 2006 eine Anfechtung der Nationalratswahl mit der Begründung, die 4  %-Hürde bewirke, dass das gleiche Wahlrecht und vor allem der Grundsatz der Verhältniswahl verletzt wären. Denn jene Wahlberechtigten, die einer wahlwerbenden Partei ihre Stimme gaben, die nicht 4 % der abgegebenen gültigen Stimmen erreichte, seien nicht im Nationalrat repräsentiert. Der Verfassungsgerichtshof teilte diese Bedenken jedoch nicht.14 Zu überlegen wäre in dieser Hinsicht allerdings, ob gemäß der Bundesverfassung, die den Grundsatz der Freiheit der Wahl verbürgt, die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen (zumindest kurz vor der Wahl) verboten werden könnte. In Frankreich, Portugal oder Italien dürfen Wahlumfragen in den letzten Wochen vor der Wahl nicht mehr veröffentlicht werden, um taktisches Wählen zu unterbinden und damit zum freien Wählerwillen zu gelangen. In Österreich ist nur die Veröffentlichung von Teilwahlergebnissen vor Schließung der Wahllokale

14 VfGH-Erkenntnis vom 12.12.2006, W I–5/06.

95

96

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

untersagt, wie auch der VfGH im Zuge seines Erkenntnis zur Wiederholung der Bundespräsidentschaftswahl 2016 festhielt.15 Österreich zählt bislang zu den europäischen Staaten mit der geringsten Disproportionalität im Wahlrecht  ; sie liegt meist im Bereich von ein bis zwei Prozentpunkten. Höhere Werte gibt es in Österreich nur, wenn Parteien knapp den Nationalratseinzug verpassen, wie dies etwa  1999  beim Liberalen Forum, 2013 beim BZÖ oder 2017 bei den Grünen geschah.16 4.3.1.2 Vor- und Nachteile des Verhältniswahlrechts

Aus demokratietheoretischer Sicht hat das Verhältniswahlrecht den Vorteil, dass es eine stärkere Abbildung der politischen und gesellschaftlichen Diversität im politischen Entscheidungsprozess ermöglicht. Paradoxerweise verhindert aber gerade dies eine möglichst getreue Umsetzung der WählerInnenpräferenzen. Das Verhältniswahlrecht geht nämlich in aller Regel mit einem Mehrparteiensystem und Koalitionsregierungen einher. In diesem System enttäuschen alle Beteiligten ihre WählerInnen  : die Koalitionsparteien, weil sie Abstriche von ihren Wahlversprechen machen müssen, um eine gemeinsame Regierung bilden zu können, und die Oppositionsparteien, die von dieser ferngehalten werden und zugleich im Nationalrat für ihre Anliegen keine Mehrheit finden. Denn koalitionsfreie Räume werden nur selten gebildet oder zugestanden. Im Mehrheitswahlrecht müssen sich WählerInnen zwar zwischen zwei »kleineren Übeln« entscheiden, können aber bei einem Sieg der präferierten Partei darauf vertrauen, dass sie ihre Wahlversprechen umsetzen wird können. Empirische Untersuchungen zeigen, dass das Verhältniswahlrecht nicht unbedingt mit mehr Demokratiezufriedenheit oder einem stärkeren Teilhabeempfinden der WählerInnen einhergeht. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer Untersuchung der OECD zur Frage, wie die BürgerInnen ihre Einflussmöglichkeiten auf die Regierungspolitik einschätzen. Die Schlusslichter sind Frankreich und Slowenien  – Staaten mit völlig unterschiedlichen Wahlrechtskonfigurationen. In der Spitzengruppe finden sich Griechenland (Verhältniswahlrecht mit Mehrheitsprämie für die stärkste Partei), Chile (Mehrheitswahlrecht, Präsidentenwechsel bei jeder Wahl) sowie die skandinavischen Staaten 15 VfGH-Erkenntnis vom 01.07.2016, W I–6/16–125. 16 Siehe hierzu den internationalen Vergleich der Gallagher-Indexwerte  : [https://www.tcd.ie/Political_Science/people/michael_gallagher/ElSystems/Docts/ElectionIndices.pdf ], eingesehen am 06.10.2019.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

(Verhältniswahlrecht mit häufigen Minderheitsregierungen und starker Stellung der Opposition im Parlament). Danach folgen bereits die USA. Fünf von acht Staaten mit einem Mehrheitswahlrecht liegen über dem OECD-Durchschnitt, 10 von 18 Staaten mit einem Verhältniswahlrecht unter dem Durchschnitt.17 Fokus Stimmabgabe Im internationalen Vergleich zählt Österreich zu den Staaten mit hoher Wahlbeteiligung. An der letzten Nationalratswahl nahmen 76 % der Wahlberechtigten teil, allerdings zeigen Wahlen zweiter (Landtags- und Gemeinderatswahlen) und dritter Ordnung (etwa ÖH-Wahlen) deutlich niedrigere und sinkende Beteiligungsraten. Auf der Habenseite stehen das allgemeine Wählerregister (in der Regel kein eigener Willensakt zur Eintragung erforderlich) und das im internationalen Vergleich niedrige Wahlalter von 16 Jahren. Allerdings ist ein wachsender Teil der Wohnbevölkerung (derzeit mehr als eine Million) aufgrund des Staatsbürgerschaftskriteriums ausgeschlossen. Bei den direktdemokratischen Verfahren ist die staatliche Unterstützung bei der Unterschriftensammlung, insbesondere die im Jahr 2018 eingeführte Möglichkeit zur Abgabe von Online-Unterstützungserklärungen, positiv zu vermerken. Da Volksbegehren solcherart auch im zeitlich nicht beschränkten Einleitungsverfahren leicht unterstützt werden können, relativiert sich der kurze Eintragungszeitraum von einer Woche. Dieser hat jedoch andererseits den Vorteil einer – Wahlen nicht unähnlichen – starken (insbesondere auch medialen) Fokussierung, was die Mobilisierung erleichtert. Diese Erleichterung bei der Abgabe von Online-Unterstützungserklärungen gilt jedoch nicht für jene 2.600 Unterschriften, die wahlwerbende Parteien für ihre bundesweite Kandidatur benötigen. Hierfür ist trotz Reformbekenntnis zahlreicher Parteien noch immer der Gang aufs Amt der Hauptwohnsitzgemeinde erforderlich.

4.3.2 Nichtwahlberechtigte Mehr als 1 Million Menschen im Wahlalter waren von der Teilnahme an der letzten Nationalratswahl ausgeschlossen, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Dies entspricht einem Anteil von rund 15  % an der gesamten Bevölkerung im Wahlalter. Das heißt, von 100 Menschen im Wahlalter durften nur 85 an der Wahl teilnehmen. Noch größer ist die Zahl in der Bundeshauptstadt  : Dort ist mittlerweile ein Drittel der ständig in Wien lebenden Menschen von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen  ; besonders betroffen sind bestimmte sozioökonomisch ressourcenschwache Bezirke, in denen 17 Vgl. OECD (2017), How’s Life  ? Measuring Well-being, Kapitel 4, Grafik 4.11.: Having a say on what the government does. [http://www.oecd.org/statistics/how-s-life–23089679.htm], eingesehen am 06.10.2019.

97

98

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

auch die Wahlbeteiligung unter den Berechtigten niedrig ist.18 Und es trifft vor allem die jüngere, erwerbstätige Gesellschaft – ab 65 Jahren beträgt der Ausländeranteil österreichweit weniger als 4 % – die zwar den Gesetzen unterworfen sind, jedoch nicht an deren Entstehung und Veränderung mitwirken dürfen, weil sie den »falschen« Pass haben. Dies führt zu einer Verzerrung der Repräsentation, weil das Elektorat im Vergleich zur tatsächlichen Bevölkerung überaltert ist. Bedenkt man zudem die nach Altersgruppen unterschiedlichen Wahlpräferenzen, stehen wir vor einem wachsenden strukturellen Demokratiedefizit. Darüber hinaus sind die Einbürgerungsbestimmungen im internationalen Vergleich restriktiv und sozial selektiv. Dadurch führt etwa ein niedriges Einkommen selbst eines/einer hier geborenen ausländischen StaatsbürgerIn – 15 % aller NichtstaatsbürgerInnen sind in Österreich geboren  – zum weitgehenden Ausschluss von der Demokratie, weil die erforderlichen finanziellen Mittel zum Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht beigebracht werden können. Laut einer Studie der Arbeiterkammer hat Österreich EU-weit die höchsten Einbürgerungsgebühren, und zusammen mit dem Erfordernis der »ökonomischen Leistungsfähigkeit« (d.h. dem Nachweis von monatlich 933 Euro nach Abzug von Miete, Kreditraten, Unterhaltszahlungen) birgt das System somit die Gefahr, dass sich immer mehr langjährig niedergelassene Personen nicht als gleichwertige BürgerInnen, sondern als Fremdkörper in der Gesellschaft wahrnehmen.19 4.3.2.1 Österreich versagt als Einwanderungsland

Doch Demokratie lebt von Beteiligung, nicht von Ausschluss. Die Exklusion eines durch Migration immer größer werdenden Teils der Bevölkerung delegitimiert die politisch verfasste Gesellschaft von ihrer demokratischen Basis her, im Sinne des anzustrebenden Ideals der Identität von Gesetzgeber und Gesetzesadressat. Aus der Geschichte wissen wir, dass sich gerade Einwanderungsländer dieser demographischen als demokratischen Herausforderung bewusst waren und Lösungen fanden  : Die Vorstellung, dass Wahlrecht und Staatsbürgerschaft unabhängig voneinander bestehen können, war bis in die 1930er Jahre etwa in den USA stark verbreitet. In mehreren US-Bundesstaaten war es üblich, dass 18 Vgl. Ehs, Tamara (2018), Wien wählt (nicht), in  : Perspektiven. Policy brief 6 des Jahoda-Bauer-­ Instituts. [http://jbi.or.at/wp-content/uploads/2018/07/Perspektiven_2018_06.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. 19 Vgl. Karasz, Lena/Perchinig, Bernhard (2013), Studie Staatsbürgerschaft. Konzepte, aktuelle Situation, Reformoptionen, Wien  ; Ehs, Tamara (2019), Teures Wahlrecht, sozial selektive Demokratie, online auf https://derdiedasrespekt.at/kommentare/2019/08/teures-wahlrecht-sozial-selektive-demokratie/, eingesehen am 23.11.2019.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

ZuwandererInnen bereits politische Rechte hatten, bevor sie zu StaatsbürgerInnen wurden. Dies war als eine Art Vorbereitung oder Schulung in staatsbürgerlichen Aufgaben gedacht. Dem entspricht auch die heutige Praxis mancher Staaten, politische Rechte auf kommunaler Ebene früher zu gewähren als auf nationalstaatlicher. Auch Wien wollte diesen Weg 2002 auf Bezirksebene einschlagen, musste sich aber nach einem VfGH-Urteil dem Bundesrecht beugen, dass das Wahlrecht nur StaatsbürgerInnen zugesteht. Nun wäre aus Gründen politischer Gleichheit zu überlegen, die Verfassung dahingehend zu ändern, dass alle Menschen, die ihren dauerhaften Hauptwohnsitz in Österreich haben, das aktive und passive Wahlrecht erhalten. Die derzeit bestehende Exklusion verschärft schließlich auch politische Frontstellungen, wie sich exemplarisch in der Diskussion über die Beteiligung von in Österreich lebenden türkischen StaatsbürgerInnen an dortigen Wahlen zeigte. Die Empörung in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft war groß, als sich rund 52.000 AuslandstürkInnen im April 2017 an der Volksabstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems beteiligten und fast drei Viertel von ihnen die als antidemokratisch kritisierten Pläne von Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterstützten. Dass sie in ihrem Wohnsitzstaat Österreich, in dem viele von ihnen sogar geboren wurden, keine Mitbestimmungsrechte haben, blieb unerwähnt. 4.3.3 Soziale Ungleichheit Trotz der in Österreich traditionell hohen Wahlbeteiligung nahm ein Viertel der Wahlberechtigten nicht an der letzten Nationalratswahl teil. Diese NichtwählerInnen sind jedoch gesellschaftlich nicht gleich verteilt, sondern entstammen mehrheitlich sozioökonomisch ressourcenarmen Schichten. Somit beobachten wir seit einiger Zeit auch in Österreich den internationalen Trend, dass bildungsund einkommensstarke, also sozial privilegierte Schichten beständig zur Urne schreiten und auch andere Möglichkeiten der Partizipation nutzen, während sozial prekäre Schichten, also die einkommens- und bildungsschwächeren Menschen nicht mehr wählen gehen. Der Politikwissenschafter Armin Schäfer weist in mehreren Studien eindringlich darauf hin, wie dieser Verlust politischer Gleichheit die Demokratie gefährde.20 20 Vgl. Schäfer, Armin (2015), Der Verlust politischer Gleichheit, Frankfurt am Main  ; sowie insbesondere für Österreich  : Zandonella, Martina/Hacker, Evelyn (2016), Schadet Ungleichheit der

99

100

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

Die Wahlforschung kennt hinsichtlich der Beteiligung zwei Erklärungsansätze  : Die Sozialpsychologie erhebt, welche subjektiven Einstellungen die Wahlteilnahme fördern oder mindern, also etwa Parteibindung, allgemeines politisches Interesse und vor allem bei jüngeren WählerInnen das Gefühl, durch die Stimmabgabe etwas bewirken zu können. Die Soziologie wiederum erörtert die objektive Gruppenzugehörigkeit und das soziale Umfeld (Einkommensgruppe, Bildungsgruppe, Nachbarschaft, Arbeitsumfeld). Beide Ansätze kombiniert und um kleinräumige Wahldaten (wie z. B. die Arbeitslosenquote in einem Viertel) ergänzt, zeichnen ein klares Bild  : Bessergestellte, die über mehr Ressourcen wie Bildung und Einkommen verfügen, nehmen überproportional an Wahlen teil. Diese soziale Schieflage politischer Partizipation steigt mit der wachsenden sozialen Ungleichheit. »Für die Demokratie besteht die Gefahr einer niedrigen und sozial ungleichen Wahlbeteiligung darin, dass die Politik sich an den sozial Bessergestellten orientieren könnte, die nicht nur weiterhin wählen, sondern auch andere Wege nutzen, ihre Anliegen zur Sprache zu bringen, während sozial Benachteiligte weder das Eine noch das Andere in gleichem Umfang tun«, so Schäfer.21 Mit »anderen Wegen« sind Instrumente wie Bürgerpetitionen oder die in Diskussion stehenden von unten zu initiierenden Volksabstimmungen gemeint. Unkonventionelle Formen der Demokratie sowie direktdemokratische Instrumente sind demnach sozial noch stärker verzerrt als konventionelle wie insbesondere Wahlen. Bei der Etablierung von mehr direktdemokratischen Instrumenten ist daher darauf zu achten, nicht schlicht das Handlungsrepertoire der ohnehin schon Ressourcenstarken zu erweitern, sondern sich auch der sozialen Fragen anzunehmen. So hat etwa der deutsche Politologe Wolfgang Merkel in einem Vergleich der Abstimmungspraxis in Europa festgestellt, dass bei Volksabstimmungen Frauen und untere Schichten unterrepräsentiert sind, Männer und die sozioökonomisch Bessergestellten dagegen überrepräsentiert. Wenn die Beteiligung »deutlich unter 50 Prozent liegt, ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass nicht das Volk, sondern nur eine Schrumpfversion des Volkes abstimmt.«22 Die Entwicklung der wachsenden sozialen Ungleichheit bedroht den egalitären Kern der Demokratie, der nach der gleichen Berücksichtigung aller InteresDemokratie  ? Die Auswirkungen von lokaler Einkommensungleichheit auf das Nichtwählen in Österreich am Beispiel der Nationalratswahl 2013, in  : Wirtschaft und Gesellschaft, 42(2), S. 303– 323. 21 Schäfer, Armin (2013), Wahlbeteiligung und Nichtwähler, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte, S. 39–46, hier S. 46. 22 Merkel, Wolfgang (2014), Direkte Demokratie. Referenden aus demokratietheoretischer und sozialdemokratischer Sicht, Berlin, S. 11.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

sen verlangt. Arme, prekär Beschäftigte und formal Geringgebildete haben somit nicht dieselbe Chance, dass ihre Anliegen im politischen Prozess gehört und umgesetzt werden. Jene geringere Berücksichtigung von Interessen der unteren Einkommens- und Bildungsschicht hat auch mit dem Wandel sozialdemokratischer Parteien zu tun, die sich in den letzten Jahrzehnten einer »neuen Mitte« zugewandt haben und damit das Versprechen der sozialen Inklusion gerade für die »neue Unterschicht« verletzen, wie die Politikwissenschafterin Lea Elsässer in einer umfassenden Studie darlegte.23 Aufgabe eines Parlaments und seiner Regierung ist es aber, alle Interessen gleich zu berücksichtigen und soziale Ungleichheit einzudämmen sowie idealerweise auf ihre Überwindung hinzuarbeiten. Denn soziale Ungleichheit untergräbt das Vertrauen in die Demokratie und ihre Problemlösungsfähigkeit. 4.3.4 Geschlechterdemokratie Zahlreiche Befragungen und Studien kamen lange Zeit zu dem Schluss, Frauen wären die schlechteren Demokratinnen. Denn Frauen sind noch immer s­ eltener Parteimitglieder, weniger in Parlamenten und Regierungen vertreten, also weni­ ger dort beteiligt, wo es um politische Macht geht. Hingegen partizipieren sie überdurchschnittlich in »machtfernen« Zusammenhängen wie sozialen Bewegungen oder Nachbarschaftsprojekten  ; außerdem geben sie bei Umfragen selbst an, wenig(er als Männer) an Politik interessiert zu seien. Die Partizipation von Frauen wurde hierbei stets am Ideal des männlichen Aktivbürgers gemessen und von daher als defizitär beurteilt, bis eine neue ForscherInnengeneration dazu überging, nicht nur subjektiv bei den Versäumnissen der Frauen anzusetzen, sondern systematisch die politischen Machtverhältnisse zu analysieren. Insbesondere die deutsche Politikwissenschafterin Bettina Westle hat auf strukturelle Ungleichheiten in der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung (zwischen Erwerbs- und Sorgearbeit) und deren Auswirkungen auf die Teilhabemöglichkeiten an politischer Gestaltung hingewiesen und betont, dass somit auch die Selbstverständlichkeit, politisch tätig zu werden, nicht gleich verteilt ist. Solange die verschiedenen Lebensformen nicht für Männer wie Frauen gleichermaßen selbstverständlich auswählbar seien, würde auch keine gleichwertige Beteiligung von Frauen an der Politik erreicht.24 23 Vgl. Elsässer, Lea (2018), Wessen Stimme zählt  ? Frankfurt a. M./New York. 24 Vgl. Westle, Bettina (2001), Politische Partizipation und Geschlecht, in  : Koch, Achim/Wasmer, Martina,/Schmidt, Peter (Hg.) Politische Partizipation in der Bundesrepublik Deutschland, Opla-

101

102

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

Zudem gibt es noch immer einen durch Stereotype verursachten politischen Wettbewerbsnachteil für Frauen  ; dieser ist vor allem in ländlichen Gegenden ausgeprägt. Die politisch aktive und Ämter bekleidende Frau, die Bürgermeisterin, die Kanzlerin, die Präsidentin bleibt somit die Ausnahme. Dadurch fehlen wiederum Politikerinnen als Vorbilder (role models) für andere Frauen. Demokratiewissenschafterin Bärbel Schöler-Macher hat hierfür einst den Ausdruck der »subjektiven Fremdheitserfahrung« geprägt, die Frauen gegenüber dem politischen System verspüren. Die US-amerikanische Studie Why Are Women Still Not Running for Public Office  ? bestätigte  : Da Frauen wenige andere Frauen in höheren politischen Positionen sehen, schätzen sie den Wettbewerb um öffentliche Ämter viel größer und ihre eigenen Chancen viel niedriger ein, als Männer dies tun, und nehmen sich schließlich selbst zurück.25 4.3.4.1 Geschlechterverhältnisse sind Herrschaftsverhältnisse

Die österreichische Politikwissenschafterin Birgit Sauer gibt zu bedenken, dass die strukturellen Ungleichheiten in der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung gerade in der Politik besonders hartnäckig fortbestüden, wenn man nicht aktiv gegensteuere. Denn Geschlechterverhältnisse seien Herrschaftsverhältnisse. Die Gesellschaft sei nämlich so gestaltet, dass Frauen und Männer zu ungleichen Bedingungen das politische Terrain betreten. Vor allem ein »schlanker Staat«, der die Politik dem Markt ausliefert und darauf verzichtet, regulierend einzugreifen, sei nicht geschlechtsblind, sondern vielmehr geschlechtsspezifisch selektiv. Er privilegiere die Interessen ressourcenstarker, internationalisierter Eliten in Ökonomie und Politik – nach wie vor mehrheitlich Männer – und desartikuliere die Interessen nicht weltmarktgängiger Bevölkerungsgruppen, zu denen mehrheitlich Frauen zu zählen seien. Auch wenn die austrokeynesianistischen Jahrzehnte bei Weitem kein goldenes Zeitalter darstellten, gibt Sauer für die Gegenwart zu bedenken, dass in jüngster Zeit jene Sektoren, die historisch eng mit Männlichkeit verknüpft waren – nämlich Polizei, Militär, Finanzen (also der Gewalt- und Repressionsapparat zur Aufrechterhaltung kapitalistisch-patriarchaler Produktionsbedingungen) – zuungunsten der historisch später integrierten, gleichsam feminisierten Politikbereiche wie Sozialpolitik, wieder gestärkt würden.26 den, S. 131–168. 25 Vgl. Lawless, Jennifer L./Fox, Richard L. (2008), Why Are Women Still Not Running for Public Office  ?, in  : Issues in Government Studies, 16. 26 Vgl. Sauer, Birgit (2001), Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte, Frankfurt am Main.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

Die Wissenschaft hat den Mythos von der »unpolitischen Frau« längst entzaubert. Allerdings weisen Wahlen oft einen deutlichen Gender Gap auf  : Frauen wählen überdurchschnittlich jene Parteien, die die erwähnten Ungerechtigkeiten thematisieren, und stimmen überdurchschnittlich für Parteien im linken Spektrum. So hätten laut SORA-Wahltagsbefragung die Grünen den Wiedereinzug in den Nationalrat 2017 deutlich geschafft, wären nur Frauen wahlberechtigt gewesen. 4.4 Reformoptionen 4.4.1 Mehrheitswahlrecht, Personalisierung, innerparteiliche Demokratie  ? Wiederholt ist über die Einführung eines Mehrheitswahlrechts diskutiert worden, doch scheiterten entsprechende Anläufe letztlich immer an den Eigeninteressen der politischen Parteien. Das Mehrheitswahlrecht ist nämlich in zweierlei Hinsicht nicht mit einer starken Parteiendemokratie vereinbar. Einerseits schränkt ein System der Einerwahlkreise die Personalhoheit der Parteien stark ein. Somit ist kein Jonglieren zwischen den verschiedenen Ermittlungsverfahren möglich, während die gewählten Abgeordneten über eine eigene Wählerbasis verfügen und diese nutzen können, um sich insbesondere mit längerer Amtszeit von der eigenen Partei zu emanzipieren. Andererseits ist das Mehrheitswahlrecht ein Spiel mit hohem Einsatz, das starke Parteien mit großen Apparaten nicht eingehen können. Ein schwaches Wahlergebnis kann eine Partei nämlich an den Rand der parlamentarischen Existenz bringen, die aufgrund der derzeitigen öffentlichen Parteienfinanzierung wohl auch das politische Überleben an sich gefährdete oder in die Abhängigkeit von GroßspenderInnen brächte. Warum wird in Österreich trotzdem immer wieder über das Mehrheitswahlrecht diskutiert  ? Hinter diesem Wunsch steht das Versprechen des effizienten Regierens. Spezifisch österreichisch ist auch die Hoffnung, sich auf diesem Weg der ungeliebten und als lähmend wahrgenommenen großen Koalition entledigen zu können. Das Mehrheitswahlrecht würde einer Großpartei eine absolute Mehrheit bescheren und ihrer Regierung eine starke Opposition gegenüberstellen. Doch vielen erschien gerade dieses Szenario – mit Blick auf die Erfahrungen der Konfliktdemokratie der Ersten Republik – als nicht erstrebenswert. Das »minderheitenfreundliche Mehrheitswahlrecht« des Rechtswissenschafters Klaus Poier skizziert einen Ausweg aus diesem Patt, da es einerseits eine Mehrheitsprämie für die stärkste Partei vorsieht, sie aber zugleich zur Koali-

103

104

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

tionsbildung verpflichtet.27 Freilich krankt dieser Vorschlag daran, dass ihm  – anders als beim klassischen Mehrheitswahlrecht  – eine stringente Verbindung zwischen Stimmenverteilung und Mandatsvergabe fehlt und es gerade in einem Umfeld von mehreren annähernd gleich starken Parteien zu »Zufallsmehrheiten« kommen kann, die als illegitim wahrgenommen werden. So könnte etwa eine 28-Prozent-Partei die Regierung anführen, während zwei 27-Prozent-Parteien die Oppositionsbank drücken müssten, obwohl sie eine absolute Stimmenmehrheit auf sich vereinigen konnten. Gedankenspiel Mehrheitswahl Bei der Nationalratswahl 2019 erreichte die ÖVP 71 Mandate, die SPÖ 40, die FPÖ 31, die Grünen 26 und NEOS 15. Wie würde der Nationalrat aussehen, wenn das Wahlsystem in Richtung Mehrheitswahlrecht verändert würde  ? Die Berechnung eines Mehrheitswahlrechts ist schwierig, weil zunächst eine größere Zahl an Einerwahlkreisen gebildet werden müsste. Modellrechnungen wie jene des Politikwissenschaftlers Guido Tiemann28 beziehen sich auf die bestehenden politischen Bezirke und Statutarstädte (und die 23 Gemeindebezirke in Wien), deren Größe aber deutlich variiert – von der burgenländischen Statutarstadt Rust mit knapp 2.000 EinwohnerInnen bis zur steirischen Landeshauptstadt Graz mit fast 300.000 EinwohnerInnen. Bemerkenswert an diesen Berechnungen ist, dass sie etwa für die Nationalratswahlen 2006 und 2008 keine absolute Mehrheit für eine Partei zeigten, sondern ein Patt zwischen SPÖ und ÖVP. Bei der Nationalratswahl 2019 war die ÖVP in 96 Bezirken die stärkste Partei, die SPÖ in elf (davon acht Wiener Gemeindebezirke), die Grünen in zehn (allesamt Wiener Gemeindebezirke). Realitätsnäher scheint es, die bestehenden 39 Regionalwahlkreise für eine Modellrechnung heranzuziehen. Bei der Nationalratswahl 2019 wurden 79 Abgeordnete in diesen Wahlkreisen gewählt. 48 Mandate entfielen auf die ÖVP, 16 auf die SPÖ, 10 auf die FPÖ und 5 auf die Grünen. Lediglich die kleinste Parlamentspartei NEOS ging leer aus, doch konnte sich die Wahlsiegerin eine satte absolute Mehrheit sichern. Hochgerechnet auf 183 Mandate ergäbe sich folgende Verteilung  : ÖVP 111, SPÖ 37, FPÖ 23, Grüne 12. Noch deutlicher wäre der Vorsprung, wenn man die 39 Regionalwahlkreise als Einerwahlkreise betrachtet. In 34 Wahlkreisen hatte die ÖVP die relative Mehrheit, in 5 die SPÖ. Hochgerechnet auf 183 Mandate ergäbe sich folgende Verteilung  : ÖVP 160, SPÖ 23.

Nach dem Konzept des minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts gemäß Poier erhielte die stimmenstärkste Partei automatisch die absolute Man27 Vgl. Poier, Klaus (2001), Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht. Rechts- und politikwissenschaftliche Überlegungen zu Fragen des Wahlrechts und der Wahlsystematik, Wien. 28 Vgl. Tiemann, Guido (2013), Ausweg Mehrheitswahl  ? Die politischen Konsequenzen eines Mehrheitswahlsystems in Österreich, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1, S. 5–24.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

datsmehrheit. Die restlichen 91 Mandate würden proportional auf die anderen Parteien aufgeteilt. Nach diesem System wäre bei der Nationalratswahl 2019 folgendes Ergebnis erzielt worden  : ÖVP 92, SPÖ 33, FPÖ 25, die Grünen 21 und NEOS 12. Demnach hätte die ÖVP allein regieren können und sich nur zur Absicherung von Mehrheiten sowie bei Verfassungsgesetzen variierende KoalitionspartnerInnen suchen müssen. 4.4.1.1 Das Für und Wider bei Reformmodellen des Wahlrechts

Als Kompromiss zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht wird immer wieder eine stärkere Personalisierung des Wahlrechts bei gleichzeitiger Beibehaltung des Verhältniswahlrechts ins Spiel gebracht. Heute gibt es kaum noch Staaten in Europa mit einer starren Listenwahl. Wie oben ausgeführt ist das geltende Vorzugsstimmensystem in Österreich bestenfalls als Placebo oder Feigenblatt anzusehen, wenn nicht gar als Steuerungsinstrument in den Händen der politischen Parteien. Als Ideal eines personalisierten Verhältniswahlrechts gilt in der politischen Diskussion das deutsche System von Erst- und Zweitstimme. Mit der Erststimme werden in 300 Wahlkreisen Abgeordnete direkt gewählt, dazu kommen mindestens 300 Abgeordnete, die zum Proportionalausgleich vergeben werden. Entscheidend für die Zusammensetzung des Bundestags ist die Zweitstimme. In einem zersplitternden Parteiensystem hat dies zur Folge, dass die Direktmandate immer »billiger« werden und immer mehr Ausgleichsmandate benötigt werden, um Mehrheitseffekte auszugleichen. Aus demokratietheoretischer Sicht bedenklich ist auch, dass es in diesem System zwei Arten von Abgeordneten gibt – die direkt und die über Parteilisten Gewählten. Obwohl das »deutsche Modell« bei Wahlrechtsreformen immer genannt wird, hat es bisher in Europa kaum Verbreitung erlangt. Allerdings wurde 2017 in  Italien ein ähnliches kombiniertes System beschlossen, bei dem jedoch nur 36 Prozent der Sitze in Einerwahlkreisen vergeben werden und der Rest nach dem Verhältniswahlrecht. Entsprechend wurde in Österreich diskutiert, 100 Abgeordnete direkt zu wählen und die restlichen 83 nach dem Verhältniswahlrecht zu ermitteln. Vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen würde dies aber entweder zu einer Aufblähung des Parlaments (durch Ausgleichsmandate) oder einer überproportionalen Vertretung der in den Direktwahlkreisen erfolgreicheren (größeren) Parteien führen. In der wissenschaftlichen Diskussion immer wieder ins Spiel gebracht werden Alternativwahlsysteme wie jenes von Irland oder Malta, bekannt als »Sys-

105

106

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

tem der übertragbaren Einzelstimmgebung« (Single Transferable Vote)29 oder die »Wahl mit sofortiger Stichwahl« (Instant Runoff Voting)30. Solche Systeme schaffen die Quadratur des Kreises aus Persönlichkeits- und Verhältniswahl. Der Preis dafür ist ein äußerst komplexes Wahlverfahren, das hohe Ansprüche an die WählerInnen stellt und bei dem die Stimmen mehrmals ausgezählt werden müssen. Die WählerInnen stimmen nämlich nicht für eine/n KandidatenIn, sondern reihen diese. Die KandidatInnen mit der geringsten Stimmenanzahl scheiden nach und nach aus, nicht aber ihre Stimmen. Sie werden nach der Zweitpräferenz anderen KandidatInnen zugeordnet  – so lange, bis alle zu vergebenden Mandate besetzt sind (im Fall von Mehrpersonenwahlkreisen) oder ein/e KandidatIn die absolute Mehrheit geschafft hat (im Fall von Einerwahlkreisen). Instant-Runoff-Voting wurde in Österreich bislang nur in der innerparteilichen Demokratie verwendet. Zuletzt wählten die Wiener Grünen mit dieser Methode ihre neue Vorsitzende. Andere, vor allem die Traditionsparteien haben bei der innerparteilichen Demokratie noch Nachholbedarf. Entsprechend könnte im Sinne der Demokratisierung darüber nachgedacht werden, politischen Parteien gar gesetzliche Vorgaben bezüglich innerparteilicher Demokratie zu machen. Tatsächlich zeigten jüngst einige Beispiele, dass den jeweiligen Parteichefs und Parteichefinnen praktisch keine Grenzen gesetzt sind, was ihre innere Machtentfaltung betrifft, einschließlich der Erstellung der KandidatInnenlisten für Wahlen. Im europäischen Vergleich rückständig sind die österreichischen Parteien nämlich auch, was Urabstimmungen und Vorwahlen für Führungspositionen betrifft. 4.4.2 Direkte Demokratie  ? Seit einigen Jahren wird die Antwort auf die krisenhafte Wahrnehmung repräsentativer Demokratie und den damit einhergehenden Vertrauensverlust in Politik und PolitikerInnen im Ausbau direktdemokratischer Instrumente gesucht. Im Oktober 2011 brachten Nationalratsabgeordnete der Grünen einen Antrag für eine zwingende Volksabstimmung nach ausreichend unterstützten Volksbegehren (die sogenannte »Volksgesetzgebung«) sowie für ein Vetoreferendum gemäß Schweizer Vorbild im Parlament ein. Ihnen folgte im Februar 2012 die 29 Vgl. O’Neill, Jeffrey (2004), Tie-Breaking with the Single Transferable Vote, in  : Voting Matters 18, S. 14–17. 30 Vgl. Grofman, Bernard (2008), A Taxonomy of Runoff Methods, in  : Electoral Studies 27 (3), S. 395–399.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

FPÖ  ; und im April 2012 stellte die ÖVP ihr Reformkonzept Demokratie.Neu vor. Darin fand sich etwa der Vorschlag einer Volksinitiative, d.h. eines Volksbegehrens, das ab einer Unterschriftenanzahl von 10  % der Wahlberechtigten (ca. 650.000 Personen) eine verpflichtende Volksabstimmung nach sich ziehen und damit für den Gesetzgeber bindend wirken sollte. Selbst die SPÖ, die traditionell der direkten Demokratie am kritischsten gegenübersteht, sprach sich damals für bindende Volksbefragungen und bindende Volksabstimmungen aus, wenn ein Drittel der Wahlberechtigten (bei Verfassungsthemen die Hälfte der Wahlberechtigten) am Volksbegehren teilnehme. Im Jänner 2013 legten die Regierungsfraktionen SPÖ/ÖVP schließlich einen Entwurf vor, der aber lediglich eine aufgewertete parlamentarische Behandlung von Volksbegehren sowie die Onlineunterstützung von Volksbegehren (mittels elektronischer Wählerevidenz) und eine sogenannte »Bürgeranfrage« vorsah. Dies ging den Oppositionsparteien (FPÖ, Grüne, BZÖ) und einigen prominenten Altpolitikern nicht weit genug. Während Letztere im April 2013 das Volksbegehren Demokratie Jetzt  ! starteten (das allerdings die notwendige Zahl von 100.000 Unterschriften verfehlte), legten Erstere im Mai ihrerseits einen Gesetzesentwurf vor  : Wenn ein Volksbegehren (in Form eines Gesetzesentwurfs) von 4 % der Wahlberechtigten unterstützt werde und der Nationalrat kein entsprechendes Gesetz beschließt, muss zwingend eine Volksbefragung durchgeführt werden. Schon einen Monat später schien ein Kompromiss zwischen SPÖ, ÖVP und Grünen zum Greifen nahe  : Die Unterstützungsschwelle wurde von 4  % auf 10 % (für einfachgesetzliche Volksbegehren) beziehungsweise auf 15 % (für Verfassungsänderungen) angehoben. Zudem wurden inhaltlich und strukturell bedingte Grenzen (Verstoß gegen Grundrechte, das EU- oder das Völkerrecht) gesetzt  ; ansonsten war man sich jedoch einig. Doch mittlerweile war es Sommer geworden, und für September standen die Nationalratswahlen im Kalender. Man entschied daher, jegliche Abstimmung über den Kompromissvorschlag in die nächste Legislaturperiode zu verschieben. Das sogenannte Demokratiepaket 2013 kam auf diese Weise niemals zur Abstimmung. Stattdessen beschlossen im September 2014 alle im Nationalrat vertretenen Parteien die Einsetzung einer parlamentarischen Enquetekommission, also einer überfraktionellen Arbeitsgruppe, die ExpertInnen hinzuzieht, mit dem Titel Stärkung der Demokratie. Die Grundlage dieser im ersten Halbjahr 2015 tagenden Kommission bildete das Demokratiepaket 2013  : Während etwa die darin enthaltene Forderung nach Schaffung eines zentralen elektronischen Wählerregisters, das unter anderem die Unterstützungsmöglichkeit von Volksbegehren erleichtern sollte, kaum Gegen-

107

108

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

stand von Kontroversen war, wurde die Einführung von qualifiziert unterstützten Volksbegehren zum Prüfstein dafür, wie ernst den jeweiligen Parteien der Ausbau der direkten Demokratie tatsächlich ist. Die Enquetekommission hatte allgemein die Stärkung der Demokratie – also auch die Verbesserung des Parlamentarismus – zum Thema und fokussierte nicht nur auf direktdemokratische Elemente. In acht Sitzungen berieten Parteien, ExpertInnen und ausgewählte BürgerInnen neben Möglichkeiten und Grenzen der direkten Demokratie auf Bundes- und Länderebene deshalb auch den Einfluss und die Aufgabe der Medien im demokratischen System und warfen einen intensiven Blick auf die Parlamentsarbeit in anderen Staaten. Um den Willen zur Bürgereinbindung von Anfang an zu demonstrieren, ging die Kommission auch in ihrer Zusammensetzung neue Wege  : Die wahlberechtigten Österreicher waren aufgefordert, sich zur Teilnahme an der Enquetekommission zu bewerben. Das Losverfahren ermittelte acht Bürgerinnen und Bürger, denen das Rede-, jedoch nicht das Stimmrecht verliehen wurde. Bereits während der Beratungen im Frühjahr 2015 zeigte sich an den Wortmeldungen der ParteivertreterInnen, dass es keinen breiten Konsens zur Einführung von mehr direktdemokratischen Instrumenten geben werde. Der im Juni 2013 erzielte Kompromiss, der qualifiziert unterstützte Volksbegehren vorgesehen hatte, hielt nicht mehr. Die Enquetekommission hatte eine Menge an Vorschlägen zur Verbesserung des Parlamentarismus aufgezeigt, sodass vor allem die Regierungsfraktionen SPÖ/ÖVP in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung und Radikalisierung vom »Wagnis direkte Demokratie« absehen konnten. Im September 2015 beschlossen sie daher lediglich, die verfassungsmäßige Ermächtigung für Länder und Gemeinden in Angriff zu nehmen, sodass diese ihre jeweiligen Verfassungen so ändern dürfen, um Instrumente der direkten Demokratie einzuführen. Außerdem sollen künftig BürgerInnen bei bestimmten Themen schon vor dem Gesetzgebungsprozess via Crowdsourcing eingebunden werden, und es soll ein objektives Abstimmungsbüchlein nach Schweizer Vorbild geben. Vom Demokratiepaket 2013 blieb wenig übrig, allerdings  : Das neue Wählerevidenzgesetz ist seit 2016 in Kraft, zudem besteht seit September 2017 ein erweitertes Begutachtungsverfahrungen, und die Parlamentsdirektion bemüht sich online um Crowdsourcing. Mit den vorgezogenen Nationalratswahlen des Jahres 2017 und der Koalitionsbildung von ÖVP und FPÖ kam wieder Schwung in die Debatte um mehr direkte Demokratie. Obwohl beide Parteien deren Ausbau im Wahlkampf angekündigt hatten, wurden ihre unterschiedlichen Vorstellungen schließlich beinahe zum Knackpunkt in den Koalitionsverhandlungen. Das Regierungsüber-

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

einkommen hielt schließlich fest, dass ein Volksbegehren, das von mindestens 900.000  Wahlberechtigten (i.e. mehr als 14  %) unterstützt worden ist, einer Volksabstimmung unterzogen werden solle – sofern das Begehren nicht binnen eines Jahres vom Parlament umgesetzt würde. Möglich soll dies jedoch erst dann sein, wenn der Verfassungsgerichtshof in einer Vorabkontrolle gegen eine konkrete Frage keine grund-, völker- und europarechtlichen Bedenken anmelde. Die Umsetzung dieses Koalitionsvorhabens war für 2022 geplant gewesen, musste aber aufgrund abermals vorgezogener Neuwahlen den Praxistest nie bestehen. Im Wahlkampf 2019 war die direkte Demokratie kein Thema mehr. 4.4.3 Partizipative Demokratie  ? Das Land Vorarlberg geht mit den Bürgerräten seit einigen Jahren vorbildliche Schritte in der partizipativen Demokratie. Dass dieses Instrument auch in größerem Maßstab und auf nationalstaatlicher Ebene funktioniert, zeigt das Beispiel Irland  : Das Land erlebte durch die Finanzkrise 2008 einen tiefen Fall, der sich vielen BürgerInnen auch als Krise des politischen Systems darstellte. Um dem Vertrauensverlust entgegenzutreten, entschloss man sich 2011 zu einem spannenden Demokratieexperiment  : 99 BürgerInnen werden per Losverfahren, das heißt mittels qualifiziertem Zufallsprinzip, ermittelt, um an mehreren Wochenenden unter Begleitung eines Moderatorenteams in Beratungen und Expertenhearings Politikempfehlungen an die Regierung abzugeben. Die sogenannte Citizens’ Assembly tagt unter der einfachen Prämisse, dass BürgerInnen gemeinsam in der Lage sind, zukunftsweisende Politikentscheidungen zu treffen. Auf diese Weise führte Irland 2015 per Verfassungsänderung die Ehe für alle ein. Niemals zuvor hatte ein Land seine Verfassung auf Basis von Beratungen durch per Los ausgewählte BürgerInnen aus allen sozialen Schichten und Landesteilen geändert. Der Erfolg gab dem Demokratieexperiment, das auf dem antiken Losverfahrensprinzip der athenischen Demokratie beruht, recht.31 2017 war die jüngste Citizens’ Assembly gestartet, die sich unter anderem mit dem schwierigen Thema der Reform der traditionell äußerst strengen Abtreibungsgesetze befasste. Die Assembly sprach sich schließlich für eine Liberalisierung aus und in einem darauffolgenden Referendum hießen die StimmbürgerInnen den Vorschlag der BürgerInnenversammlung, das 1983 in die Verfassung geschriebene und danach in zwei Volksabstimmungen bestätigte Abtreibungsverbot aufzuhe31 Vgl. Ehs, Tamara (2019), Die demokratische Gleichheit des Loses  : aus der Nische des Rechtswesens zurück in die Polis, in Momentum Quarterly 8 (1), S. 14–26.

109

110

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

ben, mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gut. Anders als bei der Einführung der Ehe für alle 2015 gab es keinen parteienübergreifenden Konsens, was aber auch nicht nötig ist. Denn das System der Bürgerversammlung erleichtert es den Parteien, sich zurückzunehmen. Partizipationsinstrumente als »vierte Gewalt«

Im Fokus der partizipativen Demokratie steht nicht der Moment des Plebiszits, also nicht die Abstimmung, sondern die politische Beratung und Deliberation. Die Demokratiewissenschafterin Patrizia Nanz und der Politologe Claus Leggewie verstehen jene Partizipationsinstrumente als »vierte Gewalt« und nennen sie Konsultative  : Weder als außerparlamentarische Opposition noch als Beschränkung der etablierten Gewalten, sondern vielmehr zur Stärkung der Parlamente wird eine breite und tiefgehende Konsultation der Bürgerschaft dem Gesetzgebungs- und Entscheidungsverfahren vorangestellt.32 Laut Nanz und Leggewie mangle es zurzeit an öffentlicher Erörterung und gründlicher Beratung unter Teilnahme einer informierten Bürgergesellschaft. Stattdessen finde deren politischer Austausch oft hysterisiert und durch bewusste Falschmeldungen parteipolitisch instrumentalisiert in Onlineforen und sozialen Medien statt, während LobbyistInnen ihr Geld und ihre Interessen auf wenig transparenten Wegen in die Legislative einfließen lassen können. Die Einrichtung einer Konsultative als institutionalisierte, damit permanente, transparente demokratische Bürgerversammlung stelle daher eine dringend notwendige Repolitisierung des Beratungsprozesses dar. Nanz und Leggewie verstehen ihren Vorschlag nicht als Eingriff ins repräsentative Machtgefüge, sondern tatsächlich nur als »Rat«. Allerdings müsse gewährleistet sein, dass Legislative und Exekutive Rechenschaft ablegen, ob und welche Wirkung die Ergebnisse der Beratungen auf den weiteren politischen Prozess haben. Die Praxis zeigt, dass Bürgerräte dann erfolgreich sind und von den Menschen angenommen werden, wenn Parlament und Regierung zuvor eine Zusage geben, sich zumindest am Ergebnis orientieren zu wollen. Da sie außerdem meist Initiatoren des Prozesses und immer Verwalter des Verfahrens sind, ist dadurch auch ihrerseits das Vertrauen in die Qualität der Bürgerräte sichergestellt. Nanz und Leggewie sprechen sich insbesondere für Zukunftsräte aus, die auf allen politischen Entscheidungsebenen eine Partizipationskultur aufbauen  : Sie 32 Vgl. Nanz, Patrizia/Leggewie, Claus (2016), Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

sind dauerhafte Einrichtungen einer Gemeinde, eines Stadtteils oder Landes oder einer supranationalen Organisation, die wichtige Zukunftsfragen identifizieren und Lösungsvorschläge ausarbeiten, mit denen sich Legislative und Exekutive substantiell und in angemessener Frist befassen und Feedback geben müssen. Einem Zukunftsrat gehören je nach politischer Ebene etwa 15 bis maximal 50 zufällig ausgewählte Personen an, welche die Bevölkerung annähernd abbilden und vor allem in ihrer Generationenmischung spiegeln. Die Mitwirkenden treffen sich regelmäßig und erhalten eine maßvolle Aufwandsentschädigung. Die Amtsperiode des Zukunftsrates beträgt zwei Jahre, er wird von einem Team von VerwaltungsmitarbeiterInnen mit Moderationserfahrung unterstützt, die auch an der Geschäftsführung mitwirken. Damit ist im Grunde die irische Citizens’ Assembly umschrieben. Für eine österreichische Adaption brachte die Partei Wandel bei ihrem Antritt zur Nationalratswahl 2019 die Idee auf, den Bundesrat als Bürgerrat zu gestalten, also die zweite Kammer des Parlaments statt mit Parteimitgliedern mit parteiunabhängigen BürgerInnen zu besetzen. Diese würden nach antikem Vorbild gelost  ; der Auftrag an jedes Mitglied des Bürgerrats wäre es, hauptamtlich (also vom bisherigen Beruf freigestellt) und vergütet ein Jahr im Parlament Dienst an der Demokratie zu leisten  – etwa vergleichbar mit der Laiengerichtsbarkeit. Der Bürgerrat hätte keine Entscheidungskraft, sondern würde dem Nationalrat (und dem Volk bei allfälligen Referenden) Entscheidungen empfehlen. Realpolitisch ist diese Neugestaltung des Bundesrates nicht zu erwarten. Eher könnte sich die Chance eröffnen, ähnlich wie in Irland ein Pilotprojekt der Bürgerversammlung zu starten. Wie auch immer der Weg dorthin führen mag, die demokratiepolitisch höchste Bedeutung dieser dialogorientierten Form politischer Beteiligung kommt dem Losverfahren im Sinne einer qualifizierten Zufallsauswahl (strati­ fied random sampling) zu. Das Losverfahren kann nämlich helfen, sowohl die sozioökonomische Kluft als auch den Gender Gap in der politischen Beteiligung zu schließen, weil dies Menschen in den politischen Prozess bringt, die nicht ohnehin bereits AktivbürgerInnen sind. Die qualifizierte Zufallsauswahl garantiert aufgrund der Kleingruppe zwar keine statistische Repräsentativität, jedoch einen »Minipopulus«  : eine ausgewogene Mischung von Altersgruppen, Bildungshintergrund und sozioökonomischer Stellung, annähernde Geschlechterparität sowie die Berücksichtigung des Migrationshintergrunds. Die somit bereinigte Zufallsauswahl garantiert schließlich, dass nicht – wie etwa bei direktdemokratischen und zivilgesellschaftlichen Instrumenten üblich  – Männer Frauen ma-

111

112

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

jorisieren oder bildungs- und einkommensstarke Gruppen in der Überzahl sind, während Menschen mit Migrationshintergrund fehlen. Solcherart zusammengestellte Bürgerräte würden auch für die politische Integration arbeiten und stellen vertrauensbildende Maßnahmen dar. Sie fördern das Vertrauen der BürgerInnen zueinander ebenso wie deren Vertrauen »in die Politik«, weil Menschen, die sonst aufgrund ihres sozioökonomischen Status, ihres Bildungsgrades oder ihrer Herkunft im Dunkeln bleiben, in ihnen Gehör finden. 4.5 Schlussfolgerungen Demokratische Regierungssysteme sind besonders widerstandsfähig und verletzlich zugleich. Widerstandsfähig, weil auf Dauer nur an den Volkswillen gebundene politische Systeme bestehen können  ; verletzlich, weil eben diese Bindung an den Volkswillen auch ein Einfallstor für vorgeblich demokratisch begründete Zerstörungsversuche bietet. Letztlich stehen und fallen Demokratien mit der Zufriedenheit ihrer BürgerInnen. Österreich liegt diesbezüglich im oberen Mittelfeld der europäischen Demokratien, wie die laufenden Eurobarometer-Untersuchungen zeigen. In einer kurz nach der Europawahl 2019 und damit am Höhepunkt der Ibiza-Krise durchgeführten Erhebung zeigten sich 77 Prozent der befragten ÖsterreicherInnen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert, zufrieden. Nur in Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Finnland, Irland und Schweden wurden höhere Werte erreicht.33 Langjähriger Spitzenreiter mit einer Demokratiezufriedenheit von 90  Prozent und mehr ist Dänemark, dessen politisches System sich durch hohe Wahlbeteiligung, starke Fragmentierung des Parteiensystems, Dominanz von Minderheitsregierungen sowie obligatorische Volksabstimmungen über bedeutende Fragen (Verfassungsänderungen und EU-Verträge) auszeichnet  – ein System, in dem das Mehrheitsprinzip durch Konsenszwang und freies Spiel der Kräfte relativiert wird. Die hohe Demokratiezufriedenheit beruht zudem auf gesellschaftlicher Inklusion durch geringe soziale Ungleichheit, weit fortgeschrittene Geschlechtergerechtigkeit und Ausländerwahlrecht auf kommunaler Ebene. In Österreich zeigen die positiven Ergebnisse der Wahlaltersenkung auf 16 Jahre, des leichteren Zugangs zu Volksbegehren oder auch der Erfolg der Vorarlberger Bürgerräte, dass Demokratiereformen vom Volk gut angenommen werden. Die vergleichsweise große politische Stabilität böte demnach noch mehr 33 Europäische Kommission (2019), Standard Eurobarometer Nr. 91, Brüssel.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

Gelegenheiten, diesen Weg beherzter zu beschreiten. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Fragmentierung sollte der Fokus der Demokratiereform auf einer Stärkung der Partizipation  – in der Bandbreite von Bürgerräten bis hin zu Volksabstimmungen nach qualifiziert unterstützten Volksbegehren – liegen. Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei. Auch scheinen gemeinsame Sachentscheidungen heute eher geeignet als Weltanschauungsparteien, die Integration verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu verwirklichen. Zudem zeigen vergleichende Untersuchungen in Europa, dass direktdemokratische Verfahren komplementäre Wirkungen zu den jeweiligen Systemtypen entfalten, indem sie der Machtkonzentration in Mehrheitsdemokratien entgegenwirken und Entscheidungsblockaden in Konsensdemokratien aufzulösen helfen.34 Allen voran auf kommunaler Ebene könnten mehr partizipative und direktdemokratische Entscheidungsprozesse, die zudem auch für NichtstaatsbürgerInnen offen sind, Laboratorien einer inklusiven Demokratie sein. Das Ziel müsste letztlich sein, möglichst alle Menschen, die den österreichischen Gesetzen unterworfen sind, auch an ihrer Entstehung zu beteiligen – und so das demokratische Ideal von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen. 4.6 Literaturverzeichnis De Nève, Dorothée/Olteanu, Tina (Hg.) (2013), Politische Partizipation jenseits der Konventionen, Opladen. Dolezal, Martin/Poier, Klaus (2014), Die Anwendung direktdemokratischer Verfahren in Österreichs Gemeinden, ÖFG-Working Paper 8. Ehs, Tamara (2015), The ECI in Action. Austria and the UK, Brüssel. Ehs, Tamara (2018), Wien wählt (nicht), in  : Perspektiven. Policy brief 6/2018 des Jahoda-­ Bauer-Instituts. [http://jbi.or.at/wp-content/uploads/2018/07/Perspektiven/2018/06. pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Ehs, Tamara (2019), Die demokratische Gleichheit des Loses  : aus der Nische des Rechtswesens zurück in die Polis, in  : Momentum Quarterly 8 (1), S. 14–25. Ehs, Tamara (2019), Participation in Juristocracy, in Pausch, Markus (Hg.) Ideas for the Future of Europe, Baden-Baden. 34 Vospernik (2018), Referendums and Consensus Democracy  : Empirical Findings from 21 EU Countries, London).

113

114

| 

Tamara Ehs & Stefan Vospernik

Ehs, Tamara (2020), Partizipative Demokratie auf Landes- und Gemeindeebene, in  : Foster Europe (Hg.), Föderalismus 2030. Neue Ansätze zur Weiterentwicklung, Wien. Elsässer, Lea (2018), Wessen Stimme zählt  ? Frankfurt a. M./New York. Europäische Kommission (2018), Standard Eurobarometer Nr. 89, Brüssel. Gallagher, Michael (2019), Election indices. [http://www.tcd.ie/Political_Science/people/ michael_gallagher/ElSystems/index.php], eingesehen am 06.10.2019. Grofman, Bernard (2008), A Taxonomy of Runoff Methods, in  : Electoral Studies 27(3), S. 395–399. Hanisch, Ernst (1994), Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (1890–1990), Wien. Kaase, Max (1992), Politische Beteiligung/Politische Partizipation, in  : Andersen, Uwe/ Woyke, Wichard (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, S. 429–433. Karasz, Lena/Perchinig, Bernhard (2013), Studie Staatsbürgerschaft. Konzepte, aktuelle Situation, Reformoptionen, Wien. Kost, Andreas (2008), Direkte Demokratie, Berlin. Kritzinger, Sylvia/Wagner, Markus/Glavanovits, Josef (2018), Wählen mit 16 – ErstwählerInnen bei der Nationalratswahl 2017, Wien. Labitzke, Jan (2016), Mehr partizipative Demokratie wagen. Zum Umgang der Europäischen Kommission mit Online-Konsultationen, Wiesbaden. Lawless, Jennifer L./Fox, Richard L. (2008), Why Are Women Still Not Running for Public Office  ?, in  : Issues in Government Studies, 16. Lentsch, Josef (2018), Political Entrepreneurship. How to Build Successful Centrist Political Start-ups, Berlin. Merkel, Wolfgang (2014), Direkte Demokratie. Referenden aus demokratietheoretischer und sozialdemokratischer Sicht, Berlin. Nanz, Patrizia/Leggewie, Claus (2016), Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin. OECD (2017), How’s Life  ? Measuring Well-being, Kapitel 4, Grafik 4.11.: Having a say on what the government does. [http://www.oecd.org/statistics/how-s-life–23089679. htm], eingesehen am 06.10.2019. O’Neill, Jeffrey (2004), Tie-Breaking with the Single Transferable Vote, in  : Voting Matters 18, S. 14–17. Pelinka, Anton/Rosenberger, Sieglinde (2017), Österreichische Politik. Grundlagen, Strukturen, Trends, Wien. Pentz, Eva (2017), Parteispenden und staatliche Kontrolle, in  : juridikum 4, S. 432–442. Poier, Klaus (2001), Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht. Rechts- und politikwissenschaftliche Überlegungen zu Fragen des Wahlrechts und der Wahlsystematik, Wien. Rosenberger, Sieglinde/Stadlmair, Jeremias (2016), Petitionen und Parlamentarische Bürgerinitiativen – Zivilgesellschaft im Parlament  ? in  : TransForm. Journal für zivilgesellschaftliche Innovation 1, S. 68–100.

Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen 

|

Sauer, Birgit (2001), Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte, Frankfurt am Main. Schäfer, Armin (2013), Wahlbeteiligung und Nichtwähler, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte 48–49, S. 39–46. Schäfer, Armin (2015), Der Verlust politischer Gleichheit, Frankfurt am Main. Tiemann, Guido (2013), Ausweg Mehrheitswahl  ? Die politischen Konsequenzen eines Mehrheitswahlsystems in Österreich, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1, S. 5–24. Vospernik, Stefan (2018), Referendums and Consensus Democracy  : Empirical Findings from 21 EU Countries, in  : Morel, Laurence / Qvortrup, Matt (eds.) The Routledge Handbook to Referendums and Direct Democracy, London, S. 123–146 Westle, Bettina (2001), Politische Partizipation und Geschlecht, in  : Koch, Achim/Wasmer, Martina/Schmidt, Peter (Hg.) Politische Partizipation in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen, S. 131–168. Zandonella, Martina/Hacker, Evelyn (2016), Schadet Ungleichheit der Demokratie  ? Die Auswirkungen von lokaler Einkommensungleichheit auf das Nichtwählen in Österreich am Beispiel der Nationalratswahl 2013, in  : Wirtschaft und Gesellschaft, 42(2), S. 303–323.

115

Claudia Fahrenwald

5. Demokratie(lernen) beginnt in der Schule

Das Thema Demokratie hat in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit der Globalisierung eine enorme Bedeutungssteigerung erfahren. In vielen Ländern Europas stellt sich vor dem Hintergrund weitreichender Transformationsprozesse (Krise des Sozialstaats, gesellschaftliche Heterogenität, Migration, Digitalisierung, demographischer Wandel, Aufstieg rechtspopulistischer Parteien etc.) zunehmend die Frage nach dem sozialen Band und dem Zusammenhalt der Gesellschaft.1 Diese Entwicklung macht zum einen deutlich, dass eine offensive demokratische Reformpolitik ohne die Einsicht und Handlungsbereitschaft des Einzelnen kaum denkbar ist und dass zum anderen gleichzeitig die Veränderungen der Strukturen des Politischen auf der Ebene der Nationalstaaten und im globalen Zusammenhang mit ganz neuen Herausforderungen verbunden sind.2 Die Institutionen der repräsentativen Demokratie bieten allein offensichtlich keine Gewähr für ihren Bestand. Die kulturelle und gesellschaftliche Verankerung der Demokratie scheint somit gegenwärtig dringlicher denn je. Auf diese Weise wird die zukünftige Entwicklung der Demokratie nicht nur zu einer Frage der Politik, sondern auch zu einer Frage des Bildungswesens. Demokratie(lernen) bereits in der Schule kann als eine zentrale Herausforderung eines zukunftsorientierten Bildungssystems betrachtet werden. Dieser Beitrag beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit der Frage, welche Bedeutung dem Thema Demokratie(lernen) im österreichischen Schulsystem zukommt, wie die gesetzlichen und curricularen Rahmenbedingungen für Demokratielernen derzeit aussehen und welche empirischen Untersuchungsergebnisse es hierzu gibt. Ergänzend wird die aktuelle Diskussion zum Thema Demokratielernen im europäischen Bildungsdiskurs vorgestellt und am Beispiel von England und Deutschland näher ausgeführt. Abschließend werden Perspektiven und Herausforderungen für eine zukünftige demokratische Schulentwicklung skizziert. Ziel des Beitrags ist es, das vorliegende politikwissenschaftlich ausge-

1 Vgl. Scherb, Armin, Was hält die Gesellschaft (noch) zusammen  ? In  : Polis 2011, H. 4, S. 7–9. 2 Vgl. Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter (Hg.) (2009), Demokratie, Lernqualität und Schulentwicklung, Schwalbach/Ts., S. 9 ff.

118

| 

Claudia Fahrenwald

richtete Handbuch zur österreichischen Demokratie um eine erziehungswissenschaftliche Perspektive zu ergänzen. 5.1 Die Verankerung von Demokratielernen im österreichischen Schulsystem Zunächst erfolgt ein Einblick in die gesetzlichen und curricularen Rahmenbedingungen für Demokratielernen im österreichischen Schulsystem. Anschließend werden ausgewählte empirische Untersuchungsergebnisse zur politischen Partizipation junger Menschen in Österreich und zur Einstellung von Lehrkräften zum Thema Demokratie in der Schule vorgestellt. 5.1.1 Gesetzliche und curriculare Rahmenbedingungen Die Bildungsprogrammatik des österreichischen Schulsystems bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für das Thema Demokratielernen. So legt schon das 1962 in Kraft getretene Schulorganisationsgesetz fest, dass die wesentliche Aufgabe des Schulsystems darin bestehe, »die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen«.3 Wesentlich hierbei sei die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf ihre Rolle als Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft. Demnach sollen sie »zu selbständigem Urteil, sozialem Verständnis (…) geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken«.4 Diese grundsätzliche Ausrichtung der österreichischen Schule wird in den Leitvorstellungen des allgemeinen Bildungsziels der Lehrpläne noch genauer ausgeführt. In den allgemeinen didaktischen Grundsätzen sind hier im Hinblick auf diese Grundsätze allgemeine Prinzipien wie »Integration«, »Stärken von Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung«, »Interkulturelles Lernen« oder »Herstellen von Bezügen zur Lebenswelt« verankert, nach

3 Schulorganisationsgesetz (1962), »Bundesgesetz vom 25. Juli 1962 über die Schulorganisation«, BGBI. Nr. 242/1962, konsolidierte Fassung. [https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe? Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009265], eingesehen am 06.10.2019. 4 Ebd.

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

|

denen Unterricht gestaltet werden soll.5 Auf diese Weise wird Demokratielernen in der Schule explizit gefordert, ebenso wie durch die im Lehrplan verankerten Bildungsbereiche, welche für die verschiedenen Unterrichtsgegenstände Ziele im Sinne der Allgemeinbildung vorgeben. In den Zielen der Bildungsbereiche sind auch die Bildungsziele der Unterrichtsprinzipien enthalten, die wiederum allgemeine und fächerübergreifende Aufgaben der Schule beschreiben. Für jedes Unterrichtsprinzip gibt es zudem einen eigenen »Grundsatzerlass«, in dem die jeweiligen allgemeinen und fächerübergreifenden Aufgaben der Schule genauer ausformuliert sind. Durch diesen vom Gesetzgeber formulierten Auftrag an das österreichische Schulsystem, die Schülerinnen und Schüler durch überfachliche Kompetenzen auf ihre gesellschaftliche Rolle vorzubereiten, gibt es in Österreich somit im Prinzip gute Rahmenbedingungen für Demokratielernen in der Schule auf gesetzlicher und curricularer Ebene. 5.1.2 Die Bedeutung überfachlicher Kompetenzen für Demokratielernen Diese gesetzliche und curriculare Verankerung des Themas Demokratie(lernen) im österreichischen Schulsystem entspricht allerdings nach Einschätzung führender Bildungsexperten nicht dem derzeitigen Stand der tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Demokratie im österreichischen Schulwesen. Der Nationale Bildungsbericht Österreich 2012 kritisiert beispielsweise, dass sich in den vergangenen Jahren die systematische Überprüfung des Lernerfolgs an österreichischen Schulen sowohl durch internationale Vergleichsstudien als auch durch die nationalen Bildungsstandards im Wesentlichen auf die Überprüfung von Fachwissen konzentriert habe. Durch diese einseitige Konzentration auf das Fachwissen komme es jedoch zu einer »faktischen Depotenzierung der übrigen Ziele der Schule in der Wahrnehmung der SchülerInnen, ihrer Eltern, aber auch der Lehrpersonen selbst«.6 Auch das derzeit in Österreich praktizierte Systemmonitoring beschränkt sich überwiegend auf die Erfassung fachlicher Leistungen. Die Ergebnisse dieses Berichts legen daher ganz klar den Schluss nahe, dass die 5 Vgl. Lehrpläne für allgemeinbildende höhere Schulen (1985), »Verordnung des Bundesministers für Unterricht und Kunst vom 14. November 1984 über die Lehrpläne der allgemeinbildenden höheren Schulen, BGBl. Nr. 88/1985, konsolidierte Fassung. [https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe  ?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008568], eingesehen am 06.10.2019. 6 Eder, Ferdinand/Hofmann, Franz (2013), Überfachliche Kompetenzen in der österreichischen Schule  : Bestandsaufnahme, Implikationen, Entwicklungsperspektiven, in  : Barbara Herzog-Punzenberger (Hg.), Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012, Band 2  : Fokussierte Analysen bildungspolitischer Schwerpunktthemen, Graz, S. 71- 109, hier S. 74.

119

120

| 

Claudia Fahrenwald

überfachlichen Kompetenzen, in Österreich derzeit nicht ausreichend berücksichtigt werden, obwohl ihre stärkere Berücksichtigung aufgrund des aktuellen gesellschaftlichen Wandels angebracht wäre.7 Überfachliche Kompetenzen (cross curricular competencies) sind dabei nicht einheitlich definiert, umfassen jedoch in jedem Fall folgende Merkmale  : • Überfachliche Kompetenzen betreffen Bildungsziele, die über die inhaltliche Struktur einzelner Schulfächer hinausreichen, d.h. somit für mehrere oder alle Schulfächer bzw. Unterricht und Schule als Ganzes relevant sind. • Überfachliche Kompetenzen umfassen neben kognitiv-fachlichen auch motivationale, volitionale oder soziale Komponenten und heben sich dadurch von reinem Fachwissen ab. • Überfachliche Kompetenzen beschränken sich nicht auf die Schule, sondern weisen in der Regel einen expliziten Bezug zu außerschulischen »Lebenssituationen« auf. • Überfachliche Kompetenzen betreffen häufig entweder bedeutsame individuelle oder gesellschaftsbezogene Aufgaben und Probleme und werden wegen dieser Bedeutsamkeit in der Regel normativ festgelegt. So unbestritten somit zum einen die Bedeutung fachlicher Kompetenzen ist, so sehr kann zum anderen die starre Ausrichtung auf ihre Verbesserung den Blick dafür verstellen, dass die Kernaufgabe der Schule darin liegt, junge Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen und sie auf das Leben mit anderen und in der Gesellschaft vorzubereiten.8 Der Nationale Bildungsbericht verweist daher ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer verstärkten Ausbildung staatsbürgerlich-demokratischer Kompetenzen bereits in der Schule. 5.1.3 Empirische Untersuchungsergebnisse Diese Forderung wird durch empirische Untersuchungsergebnisse zur geringen politischen Partizipation junger Menschen in Österreich unterstützt  : So weisen die Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS) von 2009 nach, dass 14-jährige österreichische Schülerinnen und Schüler im Ländervergleich im Hinblick auf ihr Wissen in Sachen Demokratie im Ländervergleich lediglich durchschnittlich abschneiden9. Auch von den Lehrpersonen 7 Vgl. Ebd., S. 76. 8 Vgl. Ebd., S. 99. 9 Vgl. Schulz, Wolfram et al. (2010), Initial findings from the IEA International Civic and Citizen­

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

|

wird die Institution Schule als Erfahrungsraum für das Lernen demokratischer Kompetenzen nur sehr geringgeschätzt.10 Der Nationale Bildungsbericht kritisiert in diesem Zusammenhang, dass sich durch die zahlreichen internationalen Vergleichsstudien in den vergangenen Jahren der Konkurrenz- und Leistungsdruck stark erhöht und die daraus resultierende einseitige Fokussierung auf das fachliche Lernen zu einer unzulässigen Verkürzung schulischen Lernens geführt habe. Für eine Verbesserung der Situation wird eine stärkere Verbindung von fachlichem Lernen und dem Erlernen überfachlicher Kompetenzen empfohlen.11 Fast alle überfachlichen Kompetenzbereiche erfordern jedoch einen Unterricht, der unmittelbare Erfahrungen ermöglicht. Dafür geeignete Unterrichtsmodelle für den Fachunterricht liegen allerdings laut Aussage des Nationalen Bildungsberichts in Österreich nur ansatzweise vor. Darüber hinaus wird die Entwicklung eines begleitenden Fortbildungsangebots gefordert, das fachdidaktische Hilfen zur Verfügung stellt, wie fachliches Lernen besser mit überfachlichem Lernen verknüpft werden kann. Im Folgenden wird daher die Verankerung des Demokratielernens im europäischen Bildungsdiskurs vorgestellt, wo sich bereits eine verstärkte Handlungs- und Erfahrungsorientierung findet und dementsprechend methodisch-didaktische Lernformate sowie Schulentwicklungsprogramme zur Verfügung stehen. 5.2 Die Verankerung des Demokratielernens im europäischen Bildungsdiskurs Das Thema Demokratielernen spielt im europäischen Bildungsdiskurs seit dem Ende der 1990er Jahre eine wichtige Rolle. Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels wurde hier 1997 vom Europarat eine Initiative für eine Stärkung der Demokratie »Education for Democratic Citizenship (EDC)« gestartet. Diese zielte darauf ab, Bürgerinnen und Bürger in ihren Rechten und Verantwortlichkeiten zu bestärken und insbesondere junge Menschen zu einer aktiven Mitgestaltung der Gesellschaft zu ermutigen. In der Folge wurde ein Austauschforum für Experten und Expertinnen aus ganz Europa aufgebaut, wo diese Konzepte und ship Education Study. [https://files.eric.ed.gov/fulltext/ED512412.pdf ], eingesehen am 06.10. 2019. An der aktuellen IEA International Civic and Citizenship Education Study 2016 hat Österreich nicht teilgenommen. Es liegen daher keine neueren Zahlen vor. 10 Vgl. Eder/Hofmann 2013, S. 83 f. 11 Vgl. ebd., S. 97.

121

122

| 

Claudia Fahrenwald

Strategien für Demokratielernen entwickeln sowie Beispiele gelungener Praxis diskutieren können. Auf dieser Grundlage wurde 2004 ein Aktionsprogramm für die Förderung von Active Citizenship auf den Weg gebracht, das die Werte und Ziele der Europäischen Union befördern und zugleich neue demokratische Initiativen motivieren sollte.12 2005 wurde zudem zum European Year of Citizenship through Education ausgerufen und das Programm »Citizens for Europe« mit einer Laufzeit bis 2013 gestartet. Dieses sollte der Herausbildung einer europäischen Identität dienen und ein wechselseitiges Verständnis der Bürgerinnen und Bürger Europas unterstützen.13 In all diesen Initiativen und Programmen wird der Schule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung von Active Citizenship zugesprochen und insgesamt die Bedeutung von Erziehung und Bildung für die Lösung sozialer Probleme sowie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt betont. Die Europäischen Mitgliedsstaaten sind sich darin einig, dass Demokratielernen in der Schule ein Bestandteil des Curriculums sein muss und in jedem Fall mehr sein sollte als theoretische Wissensvermittlung über Politik.14 5.2.1 Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education Basierend auf den von der UNESCO entwickelten Konzeptionen von »Education for Democratic Citizenship (EDC)« und »Human Rights Education (HRE)« wurde daher in der Folge 2010 mit der Charta des Europarates (Council of Europe) zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung »Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education« (EDC/HRE) ein umfassendes Bildungskonzept zur Förderung demokratisch-zivilgesellschaftlicher Strukturen in den heute 47 Mitgliedstaaten des Europarats formuliert. Vorherrschend ist hier ein moderner, komplexer Lernbegriff, der sich in die Dimensionen attitude – awareness – knowledge – skills ausdifferenziert und sowohl Reflexion als 12 Vgl. Council Decision of 26 January 2004, Establishing a Community Action Programme to Promote Active European Citizenship (civic participation) (2004/100/EC), [https://eur-lex.europa. eu/legal-content/EN/TXT/  ?uri=CELEX%3A32004D0100], eingesehen am 06.10.2019. 13 Vgl. European Commission (2005), Proposal for a Decision of the European Parliament and Council of Europe Which Approved the »Citizens for Europe« Programme between 2007–2013 to Promote Active European Citizenship. [https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do? uri=CELEX  :52005PC0116  :EN  :HTML], eingesehen am 06.10.2019. 14 Vgl. Arbués, Elena (2014), Civic Education in Europe  : Pedagogic Challenge versus Social Reality, in  : Sociology Mind, 4, S.  226–232 [http://dx.doi.org/10.4236/sm.2014.43023], eingesehen am 06.10.2019.

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

|

auch Praxis umschließt. Die Mitgliedstaaten werden darin aufgefordert, Politische Bildung und Menschenrechtsbildung in den Lehrplänen aller Schulstufen, in der Hochschulbildung sowie in der Fort-, Aus- und Weiterbildung entsprechend umzusetzen. Zudem werden eine demokratische Führungskultur in allen Bildungseinrichtungen, eine stärkere Einbindung von Nichtregierungs- und Jugendorganisationen sowie die Förderung von Unterrichtsmethoden zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts empfohlen. Ergänzt wird die Charta-Orientierung durch eine Selbstverpflichtung der Unterzeichner zu einem ständigen Monitoring, d.h. zu Begleitforschung und zur Aufstellung von Kriterien für die Evaluation.15 Citizenship Education wird somit im europäischen Bildungsdiskurs als eine der zentralen Herausforderungen für das 21. Jahrhundert betrachtet und den Schulen hierbei eine wichtige Rolle für die Herausbildung einer gerechteren Gesellschaft zugesprochen. Dieser Bildungsauftrag zielt weit über die reine Wissensvermittlung hinaus und erfordert eine (neue) Zusammenarbeit aller im Kontext von Schule maßgeblichen Akteure. Notwendig werden darüber hinaus eine veränderte Lehrerbildung sowie die Einbeziehung sowohl formaler als auch informeller Lernprozesse und die aktive Teilnahme an der Zivilgesellschaft.16 In vielen europäischen Ländern hat Demokratielernen in dieser Form mittlerweile Einzug in die Curricula der Lehrerbildung und in die Lehrpläne der Schulen gehalten und dort zu neuen handlungs- und erfahrungsorientierten Lehr- und Lernformaten geführt. Dies wird im Folgenden am Beispiel von England und Deutschland näher ausgeführt. 5.2.2 Citizenship Education in England In England ist Citizenship Education seit 2002 verbindliches Kernfach im »National Curriculum«. Diese Neueinführung eines Pflichtfachs wurde seinerzeit als weitreichender Schritt wahrgenommen, der mit vielen Veränderungen an den Schulen selbst und im Bildungssystem als Ganzem verbunden war, weil es eine Konzeption von Demokratielernen beinhaltete, die in ihren Zielsetzungen und Methoden sehr umfassend war  : Auf der Grundlage des 1998 veröffentlichten Crick Reports sollte es eine Education for Citizenship vermitteln, die eine demokratische Gestaltung der Schulkultur sowie die Entwicklung von demo15 Vgl. Europarat (2010), »Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung«, Empfehlung CM/Rec(2010)7, Straßburg. [https://rm.coe.int/168048e02b], eingesehen am 06.10.2019. 16 Vgl. Arbués, Elena (2014).

123

124

| 

Claudia Fahrenwald

kratischen Kompetenzen durch eine Verbindung von curricularen Inhalten mit aktiver Partizipation und der Erfahrung von Demokratie innerhalb der Schule und über diese hinaus ermöglicht. Damit ist eine Doppelstrategie von education about citizenship und education through citizenship gemeint, die auf die kognitive, affektive und praktische Dimension von Demokratielernen abzielt und neben Wissen auch Werte, Haltungen und Fertigkeiten vermitteln will, um Demokratie aktiv mitzugestalten.17 2008 wurde das »National Curriculum« erneut überarbeitet und um die Dimensionen ›Identität‹ und ›Diversität‹ ergänzt. Citizenship Education sollte auf diese Weise über die Schule hinaus zu einem Mittel der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden. Für die Erreichung dieser Ziele wurden Bildungsstandards definiert, bei der Umsetzung wurde den Schulen jedoch weitgehende Freiheit eingeräumt. So konnte das Fach sowohl in Form von Blockveranstaltungen, Projekttagen und -wochen als auch in Gestalt von Schwerpunktmodulen oder Schulentwicklungsprojekten durchgeführt werden. Citizenship Education wurde auf diese Weise als eine demokratische Lebensform (way of life) aufgefasst, die neben dem Unterricht auch das Schulklima und die Schulkultur verändern sollte.18 Die Wirkungen der in dieser Weise umgesetzten Citizenship Education wurden in einer zwischen 2001 und 2009 von der National Foundation for Educational Research durchgeführten quantitativen und qualitativen Längsschnittstudie The Citizenship Education Longitudinal Study (CELS) überprüft, deren zentrale Ergebnisse im Folgenden kurz vorgestellt werden19  : • Individueller Kompetenzzuwachs   : Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit (personal self efficacy) durch aktivierende Lernarrangements und horizontale Partizipation (z. B. Teilnahme an Debating-Clubs oder Fundraising-Aktivitäten) oder vertikale Partizipation (z. B. School Council oder Befragungen) am Schulleben hat sich demnach erhöht. Die Einschätzungen der Lehrenden und der Schulleitungen waren dabei allerdings positiver als die der Schülerinnen und Schüler.

17 Vgl. Crick, Bernard (1998), Education for citizenship and the teaching of democracy in schools. Final Report of the Advisory Group on Citizenship. London  : QCA. 18 Vgl. Frank, Susanne (2012), Citizenship Education in England – Kontext, Implementierung und Ergebnisse der Einführung eines Schulfachs, in  : Wolfgang Beutel/Peter Fauser/Helmolt Rademacher (Hg.)  : Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012. Schwalbach/Ts., S. 252–261, hier S. 252. 19 Vgl. Keating, Avril/Kerr, David/Lopes, Joana/Featherstone, Gill/Benton, Thomas (2009), Embedding Citizenship Education in Secondary Schools in England (2002–08). Citizenship Education Longitudinal Study Seventh Annual Report (DCSF Research Report 172), London.

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

|

• Organisationale Lernherausforderungen  : Als eine große Herausforderung erwies sich der »ganzheitliche« Ansatz von Citizenship Education, der auf eine Verknüpfung von Unterricht, Schulkultur und Kooperation mit der Gemeinde abzielte. • Grenzen  : Neben diesen positiven Entwicklungen gab es auch Rückmeldungen von den Lehrerinnen und Lehrern, dass es teilweise schwierig sei, die Schülerinnen und Schüler zu mehr Engagement zu motivieren. Diese wiederum beklagten ihrerseits, dass ihnen teilweise mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeiten entgegengebracht werde und dass zudem manchmal Prüfungsdruck die Realisierung von Partizipation verdränge. Insgesamt wurde Citizenship Education von den Schulen auf sehr unterschiedliche Weise umgesetzt, in Abhängigkeit von den jeweiligen Ausgangsbedingungen. Die Frage nach den besten Umsetzungsformen lässt sich hierbei auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig beantworten.20 Als wichtige Gelingensbedingungen für die erfolgreiche Umsetzung erwiesen sich in jedem Fall eine starke und visionäre Schulleitung sowie eine gute Koordination aller Aktivitäten.21 5.2.3 Demokratiepädagogik in Deutschland Auch in Deutschland erfährt das Thema Demokratielernen in der Schule seit den 1990er Jahren zunehmende Aufmerksamkeit. Ausschlaggebend war seinerzeit die Zunahme von (rechter) Gewalt an den Schulen sowie die Ergebnisse der Shell-Studie von 2002, die eine zunehmende Politikverdrossenheit unter den Jugendlichen feststellte.22 In der Folge kam man darin überein, dass das friedliche demokratische Zusammenleben zukünftig auch in der schulischen Bildung eine wichtigere Rolle spielen müsse. Die Bund-Länder-Kommission beschloss daraufhin 2002 das Programm »Demokratie lernen und leben«, an dem sich 13 Bundesländer beteiligten. Das Programm zielte darauf ab, den Schülerinnen und Schülern mehr Demokratie- und Partizipationserfahrungen zu ermöglichen 20 Vgl. Kerr, David Tom Benton/Elizabeth Cleaver/Joana Lopes/Julie Nelson/Kerensa White (2007), Vision Versus Pragmatism  : Citizenship in the Secondary School Curriculum in England. Citizenship Education Longitudinal Study  : Fifth Annual Report (DfES Research Report 845), London. 21 Vgl. Keating et al. (2009). 22 Vgl. Jugend 2002. 14. Shell-Jugendstudie, Frankfurt/M. 2002 (Konzeption und Koordination Klaus Hurrelmann und Mathias Albert in Arbeitsgemeinschaft mit Infratest Sozialforschung).

125

126

| 

Claudia Fahrenwald

und neben fachlichem Wissen über die Demokratie auch konkrete demokratische Handlungsperspektiven zu eröffnen23. Der methodisch-didaktische Ansatz des Programms folgte dabei zum einen der angelsächsischen Tradition der Citizenship Education und zum anderen Ideen und Konzepten aus der deutschsprachigen Reformpädagogik.24 Aus politikwissenschaftlicher Sicht hat der Politikdidaktiker Gerhard Himmelmann diesen Zusammenhang maßgeblich reformuliert, indem er eine stärkere Orientierung an Demokratie und zivilgesellschaftlichem Engagement forderte und dazu in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus und insbesondere des Demokratietheoretikers John Dewey zwischen Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform unterschied  : Demokratie als Regierungsform meint dabei das System der politischen Institutionen, Regeln und rechtlichen Regulative, Demokratie als Gesellschaftsform die Ebene der Gruppen, Verbände sowie anderer geregelter Formen des gesellschaftlichen Miteinanders und Demokratie als Lebensform schließlich die unmittelbare Lebenspraxis der Menschen im Nahbereich.25 Aktuelle demokratiepädagogische Ansätze knüpfen vor allem an dieser letztgenannten Perspektive an. Seither hat in Deutschland eine lebhafte Debatte über Demokratielernen in der Schule eingesetzt, die durch eine begriffliche und inhaltliche Abgrenzung zwischen traditioneller Politischer Bildung und den neueren Ansätzen der Demokratiepädagogik geprägt ist.26 Die Politische Bildung beschäftigt sich dabei ihrem Grundverständnis nach in erster Linie mit Formen und Strukturen der institutionell verfassten Demokratie und ist durch eine enge Didaktisierung und Verwissenschaftlichung gekennzeichnet.27 Hinzu kommt die reiche publizistische Tradition der Fachdidaktik Politische Bildung, die aber überwiegend in dieser speziellen »Fach-Community« verbleibt, weshalb sie Demokratielernen vor allem als eine Aufgabe des Faches Politische Bildung betrachtet und die Schule als eine notwendige Rahmenbedingung von Fachunterricht sieht, jedoch 23 Vgl. BLK-Programm ›Demokratie lernen und leben‹, [https://www.bildungsserver.de/innovationsportal/Demokratie-lernen-und-leben–5298-de.html], eingesehen am 06.10.2019. 24 Vgl. Beutel, Wolfgang/Blank, Josef/Edler, Kurt/Hugenroth, Reinhild/Rademacher, Helmolt/ Steinl, Vincent (2013), Demokratiepädagogik  : Chancen für eine Schule der Bürgergesellschaft  ? In  : Hartnuß, Birger/Hugenroth, Reinhild/Kregel, Thomas (Hg.), Schule der Bürgergesellschaft. Bürgerschaftliche Perspektiven für moderne Bildung und gute Schulen, Schwalbach/Ts., S. 87–89. 25 Vgl. Himmelmann, Gerhard (2001), Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Studienbuch, Schwalbach/Ts. 26 Vgl. Fauser, Peter (2007), Demokratiepädagogik und politische Bildung. Ein Diskussionsbeitrag, in  : Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.), Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft, Schwalbach/Ts., S. 16- 41. 27 Vgl. Himmelmann, Gerhard (2017), Demokratie-Lernen in der Schule, Schwalbach/Ts, S. 9.

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

|

kaum auf ihre überfachlichen Wirkungen hin thematisiert. Die Demokratiepädagogik sieht sich dagegen stärker dem methodisch-didaktischen Verständnis der Citizenship Education verpflichtet und fokussiert sehr stark auf pädagogische, insbesondere schulische und unterrichtliche Aktivitäten zur Förderung von Kompetenzen, die Menschen benötigen, um an Demokratie als Lebensform teilzuhaben und diese aktiv in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu gestalten.28 Demokratiepädagogische Ansätze sind dabei in erster Linie auf Demokratie als Lebensform ausgerichtet und zielen auf Erfahrungslernen, Projektunterricht und zivilgesellschaftliches Engagement. Gemeinsam ist allen demokratiepädagogischen Ansätzen, dass Demokratie in der Schule erfahren und gelebt werden muss. Dies gilt in gleicher Weise für Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie für die Eltern.29 Demokratiepädagogik kann somit als eine Querschnittsaufgabe pädagogischer Institutionen verstanden werden.30 Der Gewinn dieser kontroversen Diskussionen ist in jedem Fall, dass der gemeinsame Blick auf das Ziel politischer Bildung neu justiert worden ist und eine aktive Beteiligung an der Demokratie durch eine Förderung von demokratischer Handlungskompetenz angestrebt wird.31 Seither sind eine ganze Reihe von zivilgesellschaftlichen Projekten und Initiativen entstanden, die maßgeblich von Stiftungen ins Leben gerufen wurden, wie beispielsweise die von der Freudenberg-Stiftung geförderte Einführung von Service Learning an den Schulen Baden-Württembergs32 oder die von der Bürgerstiftung Hamburg geförderte Einführung von Service Learning an ausgewählten Schulen in Hamburg.33 2005 wurde die »Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik« gegründet, die eine wichtige Aufgabe darin sieht, die Demokratie als Thema und Prinzip schulischen und außerschulischen Lernens und als Ziel der Schulentwicklung

28 Vgl. Edelstein, Wolfgang (2007), Was ist Demokratiepädagogik  ? Versuch einer operativen Bestimmung. In Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter (Hg.), Demokratiepädagogik – Lernen für die Zivilgesellschaft, Schwalbach/Ts., S. 203 f. 29 Vgl. Beutel/Blank/Edler u. a. (2013), S. 86–87. 30 Ebd. 31 Vgl. Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter/Rademacher, Helmolt (2012), Demokratiepädagogik, in  : Dies. (Hg.), Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012, Schwalbach/Ts., S. 17–37, S. 25. 32 Vgl. Seifert, Anne/Zentner, Sandra/Nagy, Franziska. (2012), Praxisbuch Service Learning. »Lernen durch Engagement« an Schulen, Weinheim. 33 Vgl. Fahrenwald, Claudia (2014), Manifestationen des Neuen in Organisationen  – Die Einführung von Service Learning an ausgewählten Hamburger Schulen, in  : Susanne Maria Weber/Michael Göhlich/Andreas Schröer/Jörg Schwarz (Hg.), Organisation und das Neue. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik, Wiesbaden  : S. 183–192.

127

128

| 

Claudia Fahrenwald

zu fördern.34 Mit Unterstützung der Zukunftsstiftung Bildung der GLS-Treuhand und der Heinrich-Böll-Stiftung hat diese 2015 erstmals einen »Preis für demokratische Schulentwicklung« ausgeschrieben, der alle zwei Jahre vergeben wird.35 Die Demokratiepädagogik verfügt somit in Deutschland mittlerweile über diverse Formen der Institutionalisierung sowie ein breites Repertoire an praxisbewährten Methoden und Best-Practice-Beispielen. Was jedoch kritisch angemerkt wird, ist das Fehlen einer breiter angelegten Evaluations- und Wirkungsforschung sowie operationalisierbarer Qualitätsstandards.36 5.3 Perspektiven für eine demokratische Schulentwicklung von morgen Es ist offensichtlich, dass sich ein solches umfassendes Verständnis von Demokratielernen in der Schule, wie es im europäischen Bildungsdiskurs programmatisch formuliert und in manchen Ländern auch bereits umgesetzt wird, nicht ohne weiteres und in traditioneller Form curricular in der Schule verankern lässt. Demokratielernen kann nicht allein im Unterricht stattfinden, sondern muss auch im Schulalltag erfahrbar sein und sich als ein Element der Schulkultur etablieren. Die hier vorgestellten bildungstheoretischen Ansätze, bildungspraktischen Beispiele und empirischen Untersuchungsergebnisse haben deutlich gemacht, dass dies neben einer grundlegenden methodisch-didaktischen Neuausrichtung des Demokratielernens in der Schule auch einen umfassenden Prozess der schulischen Organisationsentwicklung erfordert, der Strategien der inneren und äußeren Öffnung von Schule impliziert  : • Öffnung nach innen  : Neue Formen des Unterrichts und des Lernens, Prinzipien wie Handlungsorientierung, selbständiges und erfahrungsorientiertes Lernen, Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung und der Verantwortungsübernehme von Schülerinnen und Schülern in realen Handlungssituationen. • Öffnung nach außen  : Schule öffnet sich hinein in den umliegenden Stadtteil oder die umliegende Gemeinde  ; im Rahmen einer demokratiepädagogisch 34 Vgl. Beutel/Fauser/Rademacher 2012, S. 25. 35 Vgl. DemokratieErleben-Preis, [https://www.demokratieerleben.de/derpreis/], eingesehen am 06. 10.2019. 36 Vgl. Maritzen, Norbert (2012), Die Bedeutung von Qualitätsstandards in der demokratischen Schulentwicklung. In  : Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter/Rademacher, Helmolt (2012), Demokratiepädagogik, in  : Dies. (Hg.), Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012, Schwalbach/Ts., S. 66–81, S. 79.

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

|

ausgerichteten Projektarbeit kommt es zu ganz neuen Kooperationen mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft.37 Dies erfordert zum einen eine demokratische Weiterentwicklung in den Schulen selbst, was unweigerlich mit einem erweiterten Verständnis von Demokratielernen verbunden ist, sowie zum anderen eine verstärkte Aufnahme von demokratiepädagogischen Elementen und Modulen in die Studiengänge der Lehrerbildung, da die demokratische Schulentwicklung ohne entsprechend professionell ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer nicht vorankommen kann.38 Die Debatte um Leistungsfähigkeit und Effizienzsteigerung von Schule als eine Folge der internationalen Vergleichsstudien seit Beginn der 2000er Jahre, verbunden mit einer auf evidenzbasierten Nachweis setzenden Output-Orientierung bei der Evaluation von Schulleistung sowohl im System als auch in der einzelnen Schule selbst haben in den vergangenen Jahren demokratischer Schulentwicklung tendenziell eher entgegengewirkt, was zur Folge hat, dass in der aktuellen Schulentwicklungsforschung das Thema Demokratie derzeit wenig ausgeprägt ist.39 Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels erscheint jedoch ein in dieser Weise verkürztes Verständnis des Bildungsauftrags von Schule für die Zukunft nicht länger haltbar. Mit Blick auf die vorliegenden Forschungsergebnisse und die internationalen Entwicklungen in diesem Bereich ergibt sich somit auch für Österreich beim Thema Demokratielernen in der Schule als eine grundlegend neue Perspektive, das fachliche Lernen in der Schule stärker als bisher direkt mit dem überfachlichen Lernen zu verbinden und dabei auch aktuelle Ansätze der Citizenship Education und der Demokratiepädagogik mit einzubeziehen. Zeitgemäße schulische Bildung kann sich demzufolge nicht allein auf die Vermittlung von kognitivem Wissen beschränken, sondern muss verstärkt auch überfachliche Kompetenzen wie die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe, zum demokratischen Mitentscheiden, Mitmachen, Mitgestalten und zur Übernahme von sozialer Verantwortung berücksichtigen. 37 Vgl. Fahrenwald Claudia/Feyerer, Jakob (2016), Zivilgesellschaftliche Öffnung des Lernraums Schule – Internationale Perspektiven, in  : Gabriele Khan/Almut Thomas (Hg.), Erziehung & Unterricht. Schwerpunktausgabe zum Thema Bildungslandschaften, Wien, S. 52–58. 38 Vgl. Fahrenwald, Claudia (2017), Die Einführung eines erweiterten Praxisfeldes im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung, in  : Fridrich, Christian/Mayer-Frühwirth, Gabriele/Potzmann, Renate/Greller, Wolfgang/Petz, Ruth (Hg.), Forschungsperspektiven Band  9. Münster und Wien u. a., S. 241–257. 39 Vgl. Beutel, Wolfgang (2016), Demokratiepädagogik als Querschnittsaufgabe aktueller Schulentwicklung, in  : DDS – Die Deutsche Schule 108, Heft 3, S. 226–238.

129

130

| 

Claudia Fahrenwald

Nicht zuletzt ist daher die (Bildungs-)Politik gefordert, wieder verstärkt Verantwortung für die demokratische Erziehung junger Menschen zu übernehmen. Sie muss sicherstellen, dass sie vom Kindergarten über die Grundschule bis in die weiterführende Schule hinein vielfältige Möglichkeiten haben, Demokratie zu erlernen und zu erleben. Zielsetzung und Aufgabe der Politik, des Staates und der Bildungsverwaltung sollte es deshalb sein, dass niemand die Schule verlässt, ohne Demokratie erfahren zu haben.40 Demokratie(lernen) in der Schule stellt somit eine gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe dar, die einer weiteren bildungstheoretischen Fundierung, bildungspolitischen Unterstützung und begleitenden empirischen Forschung bedarf.41 5.4 Literaturverzeichnis Arbués, Elena (2014), Civic Education in Europe  : Pedagogic Challenge versus Social Reality, Sociology Mind, 2014 4, S. 226–232 [http://dx.doi.org/10.4236/sm.2014.43023], eingesehen am 06.10.2019. Beutel, Wolfgang (2016), Demokratiepädagogik als Querschnittsaufgabe aktueller Schulentwicklung. In  : DDS – Die Deutsche Schule 108, Heft 3, S. 226–238. Beutel, Wolfgang und Himmelmann, Gerhard (2014), Demokratie, Schule und Unterricht, in  : Beutel, Wolfgang und Reinhardt, Volker (Hg.), Demokratiepädagogik. Wochenschau-Sonderausgabe, Schwalbach/Ts., S. 16–21. Beutel, Wolfgang/Blank, Josef/Edler, Kurt/Hugenroth, Reinhild/Rademacher, Helmolt/ Steinl, Vincent (2013), Demokratiepädagogik  : Chancen für eine Schule der Bürgergesellschaft  ? In  : Hartnuß, Birger/Hugenroth, Reinhild/Kregel, Thomas (Hg.), Schule der Bürgergesellschaft. Bürgerschaftliche Perspektiven für moderne Bildung und gute Schulen. Schwalbach/Ts., S. 85–99. Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter/Rademacher, Helmolt (2012), Demokratiepädagogik, in  : dies. (Hg.), Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012, Schwalbach/Ts., S. 17–37. Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter (Hg.) (2009), Demokratie, Lernqualität und Schulentwicklung, Schwalbach/Ts. Crick, Bernard (1998), Education for citizenship and the teaching of democracy in schools. Final Report of the Advisory Group on Citizenship, London. Edelstein, Wolfgang (2007), Was ist Demokratiepädagogik  ? Versuch einer operativen

40 Vgl. Beutel/Blank/Edler u. a. 2013, S. 97. 41 Vgl. Fahrenwald, Claudia/Feyerer, Jakob (2019), Zivilgesellschaftliche Öffnung der Bildungsorganisation Schule, in  : Andreas Schröer/Michael Göhlich/Susanne M. Weber/Nicolas Engel/ Claudia Fahrenwald/Christian Schröder (Hg.), Organisation und Zivilgesellschaft. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik, Wiesbaden, S. 65–74.

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

|

Bestimmung. In Beutel, Wolfgang und Fauser, Peter (Hg.), Demokratiepädagogik  – Lernen für die Zivilgesellschaft, Schwalbach/Ts., S. 203–204. Eder, Ferdinand/Hofmann, Franz (2013), Überfachliche Kompetenzen in der österreichischen Schule  : Bestandsaufnahme, Implikationen, Entwicklungsperspektiven, in  : Barbara Herzog-Punzenberger (Hg.), Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012, Band 2  : Fokussierte Analysen bildungspolitischer Schwerpunktthemen, Graz, S. 71–109. European Commission (2005), Proposal for a Decision of the European Parliament and Council of Europe Which Approved the »Citizens for Europe« Programme between 2007–2013 to Promote Active European Citizenship. [https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do  ?uri=CELEX  :52005PC0116  :EN  :HTML] eingesehen am 06.10. 2019. Europarats-Charta (2010), Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education. 1. Empfehlung CM/Rec(2010) des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten (verabschiedet vom Ministerkomitee am 11. Mai 2010 anlässlich der 120. Versammlung). [https://bildung.bmbwf.gv.at/ministerium/rs/2012_15_23178. pdf  ?5i82dv], eingesehen am 06.10.2019. Fahrenwald, Claudia (2014), Manifestationen des Neuen in Organisationen – Die Einführung von Service Learning an ausgewählten Hamburger Schulen, in  : Susanne Maria Weber/Michael Göhlich/Andreas Schröer/Jörg Schwarz (Hg.)  : Organisation und das Neue. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik, Wiesbaden, S. 183–192. Fahrenwald, Claudia (2017), Die Einführung eines erweiterten Praxisfeldes im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung, in  : Fridrich, Christian/Mayer-Frühwirth, Gabriele/Potzmann, Renate/Greller, Wolfgang/Petz, Ruth (Hg.), Forschungsperspektiven Band 9. Münster und Wien u. a., S. 241–257. Fahrenwald, Claudia/Feyerer, Jakob (2019), Zivilgesellschaftliche Öffnung der Bildungsorganisation Schule, in  : Andreas Schröer/Michael Göhlich/Susanne M. Weber/Nicolas Engel/Claudia Fahrenwald/Christian Schröder (Hg.), Organisation und Zivilgesellschaft. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik, Wiesbaden  : VS Verlag, S. 65–74. Fahrenwald Claudia/Feyerer, Jakob (2016), Zivilgesellschaftliche Öffnung des Lernraums Schule  – Internationale Perspektiven, in  : Gabriele Khan und Almut Thomas (Hg.), Erziehung & Unterricht. Schwerpunktausgabe zum Thema Bildungslandschaften, Wien, S. 52–58. Fauser, Peter (2007), Demokratiepädagogik und politische Bildung. Ein Diskussionsbeitrag, in  : Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.), Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft, Schwalbach/Ts., S. 16- 41. Frank, Susanne (2012), Citizenship Education in England – Kontext, Implementierung und Ergebnisse der Einführung eines Schulfachs, in  : Wolfgang Beutel/Peter Fauser/ Helmolt Rademacher (Hg.), Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012, Schwalbach/Ts., S. 252–261. Hartnuß, Birger/Hugenroth, Reinhild/Kregel, Thomas (2013) (Hg.), Schule der Bürgergesellschaft. Bürgerschaftliche Perspektiven für moderne Bildung und gute Schulen. Schwalbach/Ts.

131

132

| 

Claudia Fahrenwald

Himmelmann, Gerhard (2017), Demokratie-Lernen in der Schule, Schwalbach/Ts. Himmelmann, Gerhard (2001), Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Studienbuch. Schwalbach/Ts.. Keating, Avril/Kerr, David/Lopes, Joana/Featherstone, Gill/Benton, Thomas (2009), Embedding Citizenship Education in Secondary Schools in England (2002–08). Citizenship Education Longitudinal Study Seventh Annual Report (DCSF Research Report 172), London. Kerr, David Tom Benton/Elizabeth Cleaver/Joana Lopes/Julie Nelson, Kerensa White (2007), Vision Versus Pragmatism  : Citizenship in the Secondary School Curriculum in England. Citizenship Education Longitudinal Study  : Fifth Annual Report (DfES Research Report 845), London DfES [https://files.eric.ed.gov/fulltext/ED502427. pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Lehrpläne für allgemeinbildende höhere Schulen (1985), »Verordnung des Bundesministers für Unterricht und Kunst vom 14. November 1984 über die Lehrpläne der allgemeinbildenden höheren Schulen, BGBl. Nr. 88/1985, konsolidierte Fassung. [https:// www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe  ?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008568], eingesehen am 06.10.2019. Maritzen, Norbert (2012), Die Bedeutung von Qualitätsstandards in der demokratischen Schulentwicklung, in  : Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter/Rademacher, Helmolt (Hg.), Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012, Schwalbach/Ts., S. 66–81. Scherb, Armin, Was hält die Gesellschaft (noch) zusammen  ? In  : Polis 2011, H. 4, S. 7–9. Schulorganisationsgesetz (1962), »Bundesgesetz vom 25. Juli 1962 über die Schulorganisation«, BGBI. Nr. 242/1962, konsolidierte Fassung. [https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe  ?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009265], eingesehen am 06.10.2019. Schulz, Wolfram et al. (2010), Initial findings from the IEA International Civic and Citizenship Education Study. [https://files.eric.ed.gov/fulltext/ED512412.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Seifert, Anne/Zentner, Sandra/Nagy, Franziska. (2012), Praxisbuch Service Learning. »Lernen durch Engagement« an Schulen, Weinheim. Unterstützungsangebote in Österreich für Demokratielernen in der Schule In Österreich gibt es neben der Schule auch staatliche und nichtstaatliche außerschulische Organisationen, die auf verschiedenen Ebenen ergänzende Angebote für den Unterricht an den Schulen bereitstellen und somit ebenfalls einen wichtigen Faktor für die politische Bewusstseinsbildung darstellen. Die Angebote betreffen dabei sowohl allgemeine gesellschaftliche Themen wie Demokratie, Parteien oder Menschenrechte als auch aktuelle gesellschaftliche Themen wie die Themen Migration und Flüchtlinge. Als ein zentraler außerschulischer Akteur für Politische Bildung kann hier beispielsweise das Zentrum Polis genannt werden, das als Informations- und Serviceplattform für Pädagoginnen und Pädagogen sowie als aktiver Förderer der Politischen Bildung in Österreich fungiert. Das Zentrum Polis ist die zentrale österreichische pädagogische Service- und Beratungseinrichtung für

Demokratie(lernen) beginnt in der Schule 

die schulische Bildungsarbeit in den Bereichen Politische Bildung, Menschenrechtsbildung und Demokratie-Lernen. Auftraggeber ist das Bundesministerium für Bildung. Die Förderung der Politischen Bildung an Österreichs Schulen, sei es im Rahmen des Unterrichtsfachs oder im Rahmen des Unterrichtsprinzips Politische Bildung bzw. die Unterstützung der Lehrkräfte bei der Umsetzung sind die Hauptaufgaben von Zentrum Polis. Zu den Aufgaben gehören hierbei z. B. die Herausgabe einer Zeitschrift für LehrerInnen polis aktuell sowie die eigenständige Herausgabe von Publikationen (Edition polis) und Verbreitung von Materialien für den Unterricht. Auch die Aus- und Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer fällt in den Zuständigkeitsbereich des Zentrum Polis, zudem die Veranstaltung von Workshops für Schulklassen oder die Organisation von Veranstaltungen und Veranstaltungsreihen wie z. B. Aktionstage Politische Bildung (https://www.politik-lernen.at/). Ein weiterer wichtiger Akteur zur Unterstützung des Demokratielernens in der Schule ist das Demokratiezentrum Wien, eine wissenschaftliche Non-Profit-Organisation mit starker Ausrichtung auf Anwendung und Vermittlung. Die Themen, mit denen sich das Demokratiezentrum Wien beschäftigt, sind Grundfragen der politischen Kultur und des politischen Systems Österreichs im europäischen Kontext, Demokratisierungsprozesse und ihre historische Entwicklung, aktuelle gesellschaftspolitische Debatten, die Mediengesellschaft und die Wissensgesellschaft. In den letzten Jahren hat sich das Demokratiezentrum Wien zu einem wissenschaftlichen Institut mit einem anwendungsorientierten Profil an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit entwickelt. Dabei erfolgte die Projektentwicklung entlang der thematischen Schwerpunktsetzungen Demokratieforschung, Europäische Identität(en), politische Bildstrategien sowie historische und politische Ikonographie, Medien und Demokratie, Migration sowie Creative/Open Access und digitale Wissensspeicher. Auf dieser Wissensplattform wurden Lehrangebote für den Schulbereich entwickelt (http://www. demokratiezentrum.org/aktuell.html). In engem Zusammenhang hiermit steht auch das Forum Politische Bildung, das Unterrichtsmaterialien, Studien und Workshops anbietet (http://www.politischebildung.com/). Durch die verschiedenen, teilweise auch durch Staat und Länder unterstützten Kooperationsbemühungen schulexterner Akteure zu Themen der Demokratie und des Demokratielernens ist in den letzten Jahren in jedem Fall eine zunehmende Vernetzung und Koordinierung des diesbezüglichen außerschulischen Bildungssektors erkennbar. Hier wären für die Zukunft eine systematische Erfassung sowie gezielte methodisch-didaktische Unterstützung durch zusätzliche Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer sowie Unterstützung bei weitergehenden Schulentwicklungsmaßnahmen wünschenswert.

|

133

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

6. Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs

6.1 Einführung Umfragen zeigen immer wieder, dass ÖsterreicherInnen mehrheitlich der Ansicht sind, dass in der österreichischen Politik die Gleichstellung der Geschlechter bereits erreicht sei. So gaben in einer 2017 publizierten Eurobarometer-Umfrage rund zwei Drittel der in Österreich Befragten an, dass die Gleichstellung der Geschlechter in der österreichischen Politik bereits verwirklicht sei.1 Im europäischen Vergleich ist dies ein bemerkenswert hoher Anteil. In 21 von 28 untersuchten EU-Mitgliedstaaten wird der bisher erreichte Fortschritt in Sachen Gleichstellung der Geschlechter in der Politik kritischer gesehen als in Österreich.2 Im Gegensatz zum positiven Meinungsbild, das in Österreich vorherrscht, zeichnen die Zahlen für Österreich ein anderes Bild. Die Daten, anhand derer die Gleichstellung der Geschlechter im Bereich der Politik üblicherweise gemessen wird, zeigen, dass Österreich im europäischen Vergleich keineswegs weit vorne steht. Wenn wir in den Sozialwissenschaften von der Gleichstellung der Geschlechter in der Politik sprechen, geht es heute, anders als noch vor einigen Jahrzehnten, nicht mehr um die rechtliche Gleichstellung. 1918 erwarben Frauen in Österreich das aktive wie auch das passive Wahlrecht.3 Mit der Einführung des Wahlrechts für Frauen wurde in Österreich bereits vor über einhundert Jahren der wichtigste Grundstein für die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern in der Politik gelegt. Seit über einhundert Jahren können Frauen an Wahlen teilnehmen – sei es als Wählerinnen, sei es als Kandidatinnen für politi1 Europäische Kommission (2017), Special Eurobarometer 465. Report. Gender Equality 2017 ( Juni 2017). [https://data.europa.eu/euodp/data/dataset/S2154_87_4_465_ENG.], eingesehen am 06.10.2019. 2 Ebd. 3 Ucakar, Karl (1985), Demokratie und Wahlrecht in Österreich. Zur Entwicklung von politischer Partizipation und staatlicher Legitimationspolitik, Wien  ; Demokratiezentrum Wien (2019), Allgemeines und gleiches Frauenwahlrecht. [http://www.demokratiezentrum.org/themen/demokratieentwicklung/frauenwahlrecht/frauenwahlrecht.html], eingesehen am 06.10.2019.

136

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

sche Funktionen.4 Wenn wir heute von der Gleichstellung der Geschlechter im Bereich der Politik sprechen, dann geht es heute um eine andere Frage  : Werden zentrale Positionen im politischen System in ausgewogener Weise gleichermaßen von Frauen und Männern ausgeübt – oder gibt es hier eine Schieflage  ? Es geht hier also z. B. um die Frage, wie das Geschlechterverhältnis unter den Abgeordneten im Parlament oder unter den Regierungsmitgliedern gestaltet ist. Oder um die Frage, wie viele Frauen/Männer als BürgermeisterInnen in Österreich tätig sind. Hintergrund der Frage nach dem Geschlechterverhältnis in der Politik ist die Tatsache, dass der systematische Ausschluss von Frauen in der Politik lange Zeit ein prägendes Charakteristikum politischer Herrschaft war  : »Die Geschlechterdifferenz wurde (…) in der politischen Moderne zu einem zentralen Modus des politischen Ein- und Ausschlusses  : das liberale Trennungsdispositiv, das seit dem 19. Jahrhundert die Hierarchisierung der beiden Sphären Öffentlichkeit und Privatheit sowie die Zuweisung von Frauen in die Privatsphäre legitimierte und zugleich den Staat als exklusiv männlich begründete, bildet den zentralen patriarchalen Herrschaftsmodus. Frauen wurden qua Geschlecht von staatsbürgerlichen, zivilen, sozialen und politischen Rechten ausgeschlossen.«5 Der vorliegende Beitrag befasst sich aus drei Perspektiven mit der ungleich verteilten Präsenz von Frauen und Männern im politischen System Österreichs  : In einem ersten Schritt diskutiert der Beitrag die Frage, ob und auf welche Weise die ungleiche Präsenz von Frauen und Männern in politischen Institutionen aus demokratietheoretischer Perspektive ein Problem darstellt. In einem weiteren Schritt liefert der Beitrag neben einer vertieften Bestandsaufnahme des Frauen- und Männeranteils in den politischen Institutionen Österreichs auch eine Analyse der Strategien politischer Parteien hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter in der Politik. In einem dritten und letzten Schritt präsentiert der Beitrag Reformoptionen und diskutiert diese für den Kontext des politischen Systems Österreichs.

4 Frauen erhielten im Vergleich zu Männern das Wahlrecht verspätet (das allgemeine Männerwahlrecht wurde bereits 1907 eingeführt). Zudem waren nicht alle Frauen ab 1918 zur Wahl berechtigt. Prostituierten wurde bis 1923 die Teilnahme an Wahlen verwehrt. 5 Sauer, Birgit (2012), Die österreichische Demokratie aus Sicht der geschlechterkritischen Staatsund Demokratietheorie, in  : Die österreichische Demokratie im Vergleich, hg. v. Ludger Helms und D.M. Wineroither, Baden-Baden, S. 122–144, hier S. 128.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

6.2 Grundlagen Ist die Gleichstellung der Geschlechter in der Politik ein wichtiges demokratiepolitisches Ziel, das es zu verwirklichen gilt  ? Die kurze Antwort auf diese Frage lautet  : Ja. Es sind vor allem drei Argumente, die im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, die klar dafürsprechen. Das erste Argument bezieht sich auf die Herstellung von Gerechtigkeit. Das zweite Argument bezieht sich auf die Frage, welchen Inhalten in der Politik Vorrang eingeräumt wird. Das dritte Argument bezieht sich auf die Symbolwirkung, die von politischen Institutionen ausgeht. Das erste Argument besagt, dass das Verhältnis von Frauen und Männern in der Politik ausgewogen sein muss, um gerecht zu sein. Demnach sei es nicht gerecht, wenn auf lange Sicht in politischen Institutionen – und damit strukturell – ein Geschlecht im Vergleich zum anderen Geschlecht dominant vertreten sei. Frauen stellen rund die Hälfte der Weltbevölkerung dar.6 Wenn politische Institutionen dieses gesellschaftliche Geschlechterverhältnis in struktureller Weise nicht widerspiegeln, stellt dies in Hinblick auf die Herstellung von Gerechtigkeit in der politischen Repräsentation ein Problem dar. Dieses Problem lässt sich gut anhand eines Gedankenspiels veranschaulichen. Man stelle sich vor, unter den Abgeordneten des österreichischen Parlaments wäre heute die große Mehrheit Frauen, und niemals in der Geschichte der Republik Österreichs wäre es anders gewesen. Immer schon hätte die große Mehrheit der Abgeordneten im österreichischen Parlament aus Frauen bestanden. Und heute, nach rund einhundert Jahren gleichem Wahlrecht für Frauen und Männer, wäre es nun endlich so weit, dass deutlich mehr als ein Drittel der Abgeordneten im österreichischen Parlament Männer wären. Man stelle sich weiter vor, es hätte noch niemals in der Geschichte der Republik Österreich einen männlichen Bundespräsidenten gegeben. Zudem würde erst 2019 zum ersten Mal in der Geschichte der Republik ein Mann (in Folge einer politischen Krise) Bundeskanzler werden. Viele würden bei einem solchen Geschlechterverhältnis in der Politik wohl zustimmen, dass diese Schieflage ein Gerechtigkeitsproblem darstellt.

6 Auch in Österreich betrug beispielsweise im Jahr 2016 der Frauenanteil an der Gesamtbevölkerung 50,9 Prozent. Auch in den Dekaden davor (zwischen 1960 und 2016) war der Frauenanteil an der Gesamtbevölkerung stets höher als der Männeranteil. Siehe Statistik Austria (2019 c), Gender-Statistik. Demographie. [https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/gender-statistik/demographie/index.html], eingesehen am 06.10.2019.

137

138

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

Die Forderung, dass Frauen Männern aus Gründen der Gerechtigkeit in politischen Institutionen gleichgestellt sein müssen, wurde in der Geschichte Europas in erster Linie von den Frauenbewegungen postuliert.7 Angesichts der Tatsache, dass Männer heute immer noch in politischen Institutionen strukturell überrepräsentiert sind, fordern auch heute noch überall in Europa Frauenbewegungen die Angleichung von Frauen und Männern in der Politik. Auch in Österreich hat sich rund um das 2018 durchgeführte »Frauenvolksbegehren« eine breite Bewegung formiert, die auch auf das ungleiche Geschlechterverhältnis in der Politik Bezug nahm. So lautete eine der Forderungen des Frauenvolksbegehrens, das von rund einer halben Million Menschen unterschrieben wurde  :8»Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen*. Trotzdem nehmen sie an Entscheidungstischen in Wirtschaft und Politik nicht die Hälfte der Plätze ein. Daher fordern wir, dass der Bundesgesetzgeber mit Bundesverfassungsgesetz regeln möge  : Die Hälfte aller Plätze für Wahllisten und in Vertretungskörpern auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene für Frauen* und Männer* (…).«9 Auch innerhalb der politischen Theorie kommt dem Argument der Gerechtigkeit in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis in der Politik eine wichtige Rolle zu. So entwickelte beispielsweise Iris M. Young eine Theorie, die sich genau mit dieser Frage befasst  : Wie müssen politische Institutionen gestaltet sein, damit sie Gerechtigkeit herstellen können  ?10 Die von Young entwickelte Gerechtigkeitstheorie hebt hervor, dass die von politischen Entscheidungen Betroffenen auch am politischen Prozess, der zu diesen Entscheidungen führt, teilnehmen müssen  : »Persons should have the right to participate in making the rules and policies of any institution with authority over their actions.«.11  7 Vgl. Unger, Petra (2019), Frauenwahlrecht. Eine kurze Geschichte der österreichischen Frauenbewegung, Wien–Berlin. Ziegerhofer, Anita (2018), Ohne Frauenbewegungen kein Frauenwahlrecht. »Müht Euch um die Stimmzettel, er ist der Schlüssel zu allen bürgerlichen Rechten  !«, Graz–Wien.  8 Das Frauenvolksbegehren 2018 wurde von 481.959 Menschen unterschrieben (Siehe Bundeswahlbehörde (2018), Verlautbarung der Bundeswahlbehörde über das endgültige Ergebnis. [https: //www.bmi.gv.at/411/Volksbegehren_der_XX_Gesetzgebungsperiode/Frauenvolksbegehren/ start.aspx#uebersicht], eingesehen am 06.10.2019).  9 Bundesministerium für Inneres, Republik Österreich (2018), Begründung zur Einleitung des Verfahrens für das Volksbegehren »Frauenvolksbegehren«. [https://www.bmi.gv.at/411/Volksbe gehren_der_XX_Gesetzgebungsperiode/Frauenvolksbegehren/start.aspx#pk_01.], eingesehen am 06.10.2019. 10 Vgl. Young, Iris Marion (1990), Justice and the Politics of Difference, Princeton, New Jersey  ; Young, Iris Marion (1994), Gender as Seriality  : Thinking about Women as a Collective, in  : Signs 19, Heft 3, S. 713–738. Young, Iris Marion (2000)  : Inclusion and Democracy. Oxford, New York. 11 Young (1990), S. 187.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

Das zweite Argument, das für eine ausgewogene Verteilung politischer Ämter zwischen Frauen und Männern spricht, bezieht sich auf die gesellschaftlichen Fragen, derer sich die Politik annimmt. Kern dieses Arguments ist, dass politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger aus einer großen Fülle an gesellschaftlichen Fragen, die politisch zu gestalten sind, eine Auswahl treffen müssen. Die Berücksichtigung und Verhandlung unterschiedlicher, oft auch gegensätzlicher Interessen im politischen Entscheidungsprozess ist wesentlich für die Demokratie.12 Frauen kommt in der heutigen Zeit noch immer in vielen Bereichen (wie im Bereich der Familie oder in der Arbeitswelt) eine andere soziale Rolle zu als Männern. Folgende Zahlen zeigen die immer noch bestehenden strukturellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der österreichischen Gesellschaft. Immer noch arbeitet rund die Hälfte der erwerbstätigen Frauen in Österreich Teilzeit. So befanden sich laut Statistik Austria im Jahr 2018 rund 48  Prozent der erwerbstätigen Frauen in Teilzeitbeschäftigung.13 Im EU-europäischen Vergleich ist der Anteil an Teilzeitbeschäftigung unter den erwerbstätigen Frauen in Österreich hoch. Unter den 28  EU-Mitgliedsländern nahm Österreich  2017 mit der Teilzeitquote unter den erwerbstätigen Frauen den zweithöchsten Rang ein. Ein großer Teil der in Österreich teilzeitbeschäftigten Frauen gibt an, dass sie sich für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden, weil dies die Betreuung von Kindern oder das Umsorgen pflegebedürftiger Verwandter ermögliche.14 Von den 2018 in Österreich erwerbstätigen Männern waren lediglich rund 11 Prozent Teilzeit beschäftigt.15 Innerhalb der 28 EU-Mitgliedsländer arbeiteten 2017 nur 9  Prozent der erwerbstätigen Männer Teilzeit.16 Aufgrund der unterschiedlichen sozialen Rollen, die Frauen und Männern in vielen Bereichen immer noch zukommt, ist davon auszugehen, dass die politischen Interessen von Frauen und Männern in vielen Fragen divergieren können. An dieser Stelle sei betont, dass für die Verwirklichung der Repräsentation der politischen Interessen von Frauen ein ausschließlicher Fokus auf die numerische 12 Rosenberger, Sieglinde (2004), Interesse – Identität, in Politikwissenschaft und Geschlecht, hg.v. Sieglinde Rosenberger/Birgit Sauer, Wien, S. 171–190. 13 Statistik Austria (2019 a), Teilzeit, Teilzeitquote. [http://www.statistik.at/web_de/statistiken/ menschen_und_gesellschaft/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote/index.html], eingesehen am 06.10.2019. 14 Falter (2018), Warum arbeiten so viele Frauen in Teilzeit und was sagt das über die Rollenbilder in unserer Gesellschaft aus  ? Falter 47/18, 06.10.2019. 15 Vgl. Statistik Austria (2019 a). 16 Statistik Austria (2019 b), Leben von Frauen und Männern in Europa. [http://www.statistik.at/ leben_von_frauen_und_maennern_in_europa/], eingesehen am 06.10.2019.

139

140

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

Gleichstellung von Frauen und Männern in politischen Institutionen zu kurz greifen würde. Für die demokratische Repräsentation der politischen Interessen von Frauen können andere Faktoren ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. So zeigen aktuelle Studien, dass die Einrichtung von parlamentarischen Ausschüssen, die sich explizit mit Frauenpolitik befassen, ein entscheidender Faktor für das Voranbringen frauenpolitischer Angelegenheiten sein kann.17 Eine andere Studie von Dingler et al. zeigt, dass eine hohe Wahlbeteiligung von Frauen mit einer besseren Repräsentation politischer Interessen von Frauen in Zusammenhang zu stehen scheint – selbst dann, wenn der Frauenanteil in parlamentarischen Körperschaften nicht hoch ist.18 Zudem vertreten Parteien mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen oftmals divergierende frauenpolitische Positionen. So ist beispielsweise bei einer politischen Partei, die eine konservative soziale Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern propagiert, nicht zu erwarten, dass ein höherer Frauenanteil unter den Abgeordneten dieser Partei zu emanzipatorischen frauenpolitischen Entscheidungen führen wird. Fest steht, dass es in Österreich noch niemals ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis unter den Abgeordneten des österreichischen Parlaments gab. Daher lässt sich bis dato lediglich auf der Grundlage von empirischen Ergebnissen zu anderen Ländern erahnen, wie sich ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im österreichischen Parlament auf die Repräsentation der Interessen von Frauen in Österreich auswirken würde. Empirische Forschung, die sich mit der Frage befasst, welchen Effekt die Anwesenheit von Frauen in politischen Vertretungskörpern auf politische Entscheidungen hat, zeigt, dass sich die Prioritätensetzungen in gesetzgeberischen Körperschaften verändert, wenn mehr Frauen anwesend sind. In politischen Entscheidungsprozessen, in denen viele unterschiedliche Interessenlagen eingebracht und verhandelt werden, bewirkt ein höherer Anteil an Frauen am Verhandlungs- und Entscheidungsprozess, dass die Interessen von Frauen eher berücksichtigt und behandelt werden.19 17 Allen, Peter/Childs, Sarah (2018), The Grit in the Oyster  ? Women’s Parliamentary Organizations and the Substantive Representation of Women, in  : Political Studies, [https://doi.org/ 10.1177/0032321718793080], eingesehen am 06.10.2019  ; Ahrens, Petra (2016), The Committee on Women’s Rights and Gender Equality in the European Parliament, in  : Parliamentary Affairs 69, Heft 4, 778–793. 18 Dingler, Sarah C./Kroeber, Corinna/Fortin-Rittberger, Jessica (2019), Do parliaments underrepresent women’s policy preferences  ? Exploring gender equality in policy congruence in 21 European democracies, in  : Journal of European Public Policy 26, Heft 2, 302–321. 19 Vgl. Childs, Sarah/Lovenduski, Joni (2013), Political Representation, in  : The Oxford Handbook of Gender and Politics, hg. v. Georgina Waylen et al., Oxford, S. 489–513. Ennser-Jedenastik, Laurenz (2017), How women’s political representation affects spending on family benefits, in  : Journal

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

Das dritte Argument, das für eine ausgewogene Verteilung politischer Funktionen zwischen Frauen und Männern spricht, bezieht sich auf die Symbolwirkung, die von politischen Institutionen ausgeht. In einem jüngeren Beitrag weist Anne Phillips darauf hin, dass eine ausgewogen verteilte Präsenz von Frauen und Männern allein für sich genommen aufgrund der Symbolkraft, die von politischen Institutionen ausgehe, wichtig sei  : »Descriptive representation is not just a tool for achieving better substantive representation. It is something that matters in and of itself. Descriptive representation matters because of what it symbolizes to us in terms of citizenship and inclusion  – what it conveys to us about who does and who does not count as a full member of society.«20 Phillips argumentiert hier, dass die deskriptive Repräsentation, also die Repräsentation durch eine Körperschaft, die die gesellschaftliche Zusammensetzung widerspiegelt, für sich genommen wichtig sei – unabhängig von den inhaltlichen Ergebnissen, zu denen eine solche Repräsentation führe. Denn letztendlich würde die Zusammensetzung von Institutionen der repräsentativen Demokratie auch etwas darüber vermitteln, welcher Stellenwert unterschiedlichen sozialen Gruppen in der Gesellschaft zukomme. Zusammengefasst sprechen also diese drei Argumente dafür, die Gleichstellung der Geschlechter in der Politik als politisches Ziel zu verfolgen  : Erstens stellt es ein Gerechtigkeitsproblem dar, wenn ein Geschlecht im Vergleich zum anderen in überproportionaler Weise in der Politik vertreten ist. Wenn Männer in struktureller Weise über mehrere Jahrzehnte (und konkret im Falle Österreichs, in der gesamten Geschichte der Republik) auf allen politischen Ebenen überproportional dominant vertreten sind, stellt dies eine Schieflage dar, an deren Beseitigung die Politik arbeiten sollte. Das zweite Argument besagt, dass davon auszugehen ist, dass eine gleichere Verteilung von Frauen und Männern in der Politik eine Veränderung in der Prioritätensetzung der Politik bewirken könnte. Die noch immer bestehenden strukturellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern bewirken, dass Männer und Frauen in vielen politischen Fragen unterschiedliche Interessenlagen haben. Eine ausgeglichenere Verteilung beider Geschlechter in der Politik würde die Chance erhöhen, dass diese unterschiedlichen Interessenlagen im politischen Entscheidungsprozess Berücksichtigung finden. Das dritte Argument besagt, dass Institutionen der repräsentativen Demokratie eine besondere Symbolwirkung zukommt. Werden in den Institutionen of Social Policy 46, Heft 3, 563–581. Wängnerud, Lena (2009), Women in Parliaments  : Descriptive and Substantive Representation, in  : Annual Review of Political Science 12, 51–69. 20 Phillips, Anne (2012), Representation and Inclusion, in  : Politics and Gender 8, Heft 4, S. 512.

141

142

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

der repräsentativen Demokratie soziale Gruppen strukturell unterrepräsentiert, so vermitteln die Institutionen, dass diesen sozialen Gruppen nicht der gleiche Stellenwert in der Gesellschaft zukommt wie jener sozialen Gruppe, die strukturell überrepräsentiert ist. Den Institutionen der repräsentativen Demokratie kommt in dieser Frage eine Vorbildfunktion für die breitere Gesellschaft zu. 6.3 Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs Wie zu Beginn des Beitrags erwähnt, überrascht die optimistische Einschätzung der ÖsterreicherInnen in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Politik. Denn diese Einschätzung passt nicht mit der tatsächlichen Position, die Österreich im europäischen Vergleich hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter in der Politik einnimmt, zusammen. Im folgenden Abschnitt des Beitrags richten wir den Blick auf die aktuelle Gestaltung des Geschlechterverhältnisses im politischen System Österreichs. Wir konzentrieren uns hierbei auf jene politischen Ebenen, die in der international vergleichenden Forschung üblicherweise in den Blick genommen werden, um das Geschlechterverhältnis in den Institutionen des politischen Systems zu untersuchen. Diese Daten werden nicht isoliert, sondern im Kontext der historischen Entwicklung und internationaler Vergleichszahlen betrachtet. 6.3.1 Das Geschlechterverhältnis im österreichischen Parlament Ausgehend von einem Frauenanteil von 5,45  Prozent im Jahr  1945 stieg der Anteil der Frauen im österreichischen Nationalrat seitdem nur sehr langsam an.21 Bis zum Jahr  1994 wurden 80  Prozent der Mandatssitze im Nationalrat von Männern besetzt. In einer Zeitspanne von knapp 50  Jahren gelang es den im Parlament vertretenen Parteien somit, nicht einmal ein Viertel der Mandatssitze im Nationalrat mit Frauen zu besetzen. Zwischen 1994 und 2002 kam es zu einer kurzen Phase, in der etwas Bewegung in die Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat kam. In dieser Zeit stieg der Anteil der Frauen im Nationalrat auf rund ein Drittel der Abgeordneten an. Zwischen 2002 und 2017 kam es dann wieder zu einer längeren Phase der Stagnation, in der der Anteil der Frauen 21 Für die Entwicklung des Frauenanteils im Österreichischen Parlament siehe  : Österreichisches Parlament (2019 a), Frauen im Parlament. [https://www.parlament.gv.at/PERK/FRAU/WO DIEFRAU/index.shtml], eingesehen am 06.10.2019.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

unter den Nationalratsabgeordneten auch immer wieder sank. Aktuell sind von 183  Abgeordneten des Nationalrats 67  Abgeordnete Frauen.22 Dies bedeutet, dass das Geschlechterverhältnis unter den Abgeordneten zum österreichischen Nationalrat aktuell 63 Prozent (Männer) zu 37 Prozent (Frauen) beträgt (Stand April 2019). Von einer gleichen Verteilung der Mandatssitze zwischen Männern und Frauen ist dieses Verhältnis also auch im Jahr 2019 weit entfernt. Wie ist dieses Verhältnis im internationalen Vergleich zu interpretieren  ? Der Vergleich mit anderen Ländern verbessert die Optik keineswegs. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nimmt Österreich mit diesem Frauenanteil im Nationalrat gegenwärtig (Stand April 2019) die 11. Stelle ein.23 Im weltweiten Vergleich befindet sich Österreich mit diesem Frauenanteil aktuell an 27. ­Stelle.24 Im Bundesrat des österreichischen Parlaments ist das Verhältnis zwischen Frauen und Männern ähnlich ungleich wie im Nationalrat. Von den 61  Mitgliedern des Bundesrats sind aktuell 23 Mitglieder Frauen (Stand April 2019).25 Die Unterschiede zwischen den Parteien im Bundesrat sind in Hinblick auf den Frauenanteil groß.26 6.3.2 Das Geschlechterverhältnis auf Ebene der Bundesregierung Bis zum heutigen Tag hat es noch niemals in Österreich eine Bundespräsidentin gegeben. Damit ist in Österreich, anders als in vielen Ländern Europas, noch niemals eine Frau an der Spitze des Staates gestanden. Im Jahr 2019 wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Republik mit Brigitte Bierlein eine Frau zur Bundeskanzlerin angelobt.27 Weltweit betrachtet ist das Geschlechterverhältnis auf dieser politischen Ebene noch sehr ungleich.28 In Bezug auf die Verteilung von Regierungsämtern auf Bundesebene befand sich Österreich im internationalen Vergleich 2019 nicht weit vorne hinsichtlich Geschlechterparität in den Institutionen. In 21 Ländern war der Anteil der in 22 Ebd. 23 Inter-Parliamentary Union (2019 a), Women in National Parliaments, [http://archive.ipu.org/ wmn-e/ClaSSif.htm] eingesehen am 06.10.2019. 24 Ebd. 25 Vgl. Österreichisches Parlament (2019 a) 26 Ebd. 27 Der Standard (2019), Brigitte Bierlein wird erste Bundeskanzlerin Österreichs (30. Mai 2019). [https://www.derstandard.at/story/2000104101028/brigitte-bierlein-wird-erste-bundeskanzlerin], eingesehen am 22.10.2019. 28 Inter-Parliamentary Union (2019 b), Women in Politics  : 2019. [https://www.ipu.org/resources/ publications/infographics/2019-03/women-in-politics-2019], eingesehen am 06.10.2019.

143

144

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

der Regierung vertretenen Frauen größer als in der österreichischen Regierung (Stand April  2019).29 Eine ungleiche Verteilung zwischen den Geschlechtern ist nicht nur auf Ebene der MinisterInnen die Norm. Auch auf anderen Ebenen innerhalb der Ministerien ist man in Österreich von Geschlechterparität noch weit entfernt. So sah beispielsweise das Geschlechterverhältnis bei den GeneralsekretärInnen und KabinettschefInnen (September 2018) wie folgt aus  : »Jeweils nur 8 Prozent der Positionen der GeneralsekretärInnen und KabinettschefInnen sind aktuell an Frauen vergeben. Bei insgesamt 12 GeneralsekretärInnen instal­ lierte nur die FPÖ eine Frau in dieser Spitzenposition. Bei den 13 Kabinetts­ chefInnen ist es ebenfalls nur eine Frau, die in einem ÖVP-Ministerium die Verantwortung trägt.«30 6.3.3 Das Geschlechterverhältnis auf Länder- und Gemeinde-Ebene Auch auf der Ebene der Länder ist Österreich weit von einer gleichmäßigen Verteilung von Frauen und Männern in zentralen politischen Funktionen entfernt. So gab es in der gesamten Geschichte der Republik bis zum Jahr 2019 unter mehr als 70  Landeshauptleuten erst drei Landeshauptfrauen. Die erste Landeshauptfrau war Waltraud Klasnic, eine Politikerin der ÖVP, die von  1996  bis  2005 Landeshauptfrau der Steiermark war.31 Die zweite Landeshauptfrau in der Geschichte Österreichs war Gabriele Burgstaller, eine Politikerin der SPÖ, die von 2004 bis 2013 Landeshauptfrau des Bundeslandes Salzburg war32. Seit 2017 ist Johanna Mikl-Leitner, eine Politikerin der ÖVP, in Niederösterreich die dritte Landeshauptfrau in der Geschichte der Republik (Stand April 2019).33 Die nach wie vor tief verankerte Ungleichheit der Geschlechter im politischen System Österreichs wird auch speziell auf der Ebene der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sichtbar. 2017 waren in Österreich rund 92 Prozent 29 Ebd. 30 Kritzinger, Sylvia/Praprotnik, Katrin (2018), Frauen in politischen Führungspositionen  : ein Blick über den Tellerrand. (25.09.2018), in  : Blog des Vienna Center for Electoral Research. [https:// viecer.univie.ac.at/blog/detail/news/frauen-in-politischen-fuehrungspositionen-ein-blick-ueber-den-tellerrand–2/  ?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=c7a854fa94ca7d27f22f1a80d53c0a11], eingesehen 06.10.2019. 31 Wiener Zeitung (2017), Niederösterreich. It’s a Landeshauptfrau. Bericht der Wiener Zeitung vom 18.01.2017. 32 Ebd. 33 Ebd.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

der BürgermeisterInnen Männer – gegenüber rund 8 Prozent Frauen.34 Diese erstaunlich niedrige Zahl an Bürgermeisterinnen stellte im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten einen Anstieg dar.35 Bemerkenswert ist auch, wie lange es in einigen Bundesländern gedauert hat, bis überhaupt jemals eine Frau Bürgermeisterin wurde. Im Bundesland Salzburg dauerte es besonders lange – hier wurden erstmals 2004 Frauen zu Bürgermeisterinnen gewählt.36 6.3.4 Strategien der politischen Parteien in Hinblick auf die Herstellung von Geschlechterparität im politischen System Der Frauenanteil von rund 37 Prozent im österreichischen Nationalrat (Stand April 2019) sagt noch nichts darüber aus, wie hoch der Anteil der Frauen und Männer in den einzelnen, im Parlament vertretenen Parteien ist. Der Frauenund Männeranteil variiert unter den im Parlament vertretenen Parteien stark.37 Den höchsten Frauenanteil hatte in der XXVI. Gesetzgebungsperiode die Partei der »NEOS – Das neue Österreich und liberales Forum« (NEOS) mit 50 Prozent, gefolgt von der »Sozialdemokratischen Partei Österreichs« (SPÖ) mit rund 48 Prozent, gefolgt von »JETZT – Liste Pilz« ( JETZT) mit rund 43 Prozent, gefolgt von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) mit rund 36 Prozent. Den geringsten Anteil an Frauen unter ihren Nationalratsabgeordneten hatte die »Freiheitliche Partei Österreichs« (FPÖ) mit rund 24 Prozent.38 Diese Reihenfolge der Parteien entsprach für jene Parteien, die schon längere Zeit im österreichischen Parlament vertreten sind, weitgehend dem Trend der vergangenen Jahre. Anders als in vielen anderen Ländern gibt es in Österreich keine gesetzliche Regulierung darüber, ob und in welcher Weise sich die im Parlament vertretenen Parteien für eine ausgewogene Repräsentation von Frauen und Männern in den gesetzgebenden Institutionen zu engagieren haben. In Folge einer fehlenden staatlichen, überparteilichen Regulierung obliegt es allein dem Engagement der politischen Parteien, für Geschlechterparität in den Institutionen der repräsentativen Demokratie Sorge zu tragen. Da es in Österreich in der alleinigen Verantwortung der politischen Parteien liegt, Maßnahmen für das Erreichen von 34 Genderatlas.at (2017), Frauen als Ortschefinnen immer noch unterrepräsentiert. [http://genderatlas.at/articles/buergermeisterinnen.html], eingesehen am 06.10.2019. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Vgl. Österreichisches Parlament (2019 a). 38 Ebd.

145

146

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

Geschlechterparität in den Institutionen der repräsentativen Demokratie zu setzen, sind die Positionen und Strategien der politischen Parteien der wichtigste Erklärungsfaktor, um das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs zu verstehen. Wie von Birgit Sauer beschrieben, war das Herstellen von Geschlechterparität keine Priorität der staatstragenden politischen Parteien der Zweiten Republik  : »Die Akteure einer rechts- und sozialstaatlichen Entwicklung, namentlich die Parteien und Sozialpartner, legten in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts zunächst wenig Wert auf die Stärkung (geschlechter-)demokratischer Institutionen und Verfahren. (…) Österreichische parlamentarische und sozialpartnerschaftliche Entscheidungsstrukturen blieben lange Zeit ein ›Männerbund‹. Bis weit in die 1970er Jahre hinein waren Frauen überhaupt ›Fremde‹ in der Politik des Landes, und auch heute sind sie in politischen Entscheidungsgremien systematisch unterrepräsentiert.«39 Zweifelsohne haben die dominierenden Parteien in Österreich viele Jahrzehnte lang der Zielsetzung Geschlechterparität in den Institutionen wenig bis gar keine Wichtigkeit beigemessen. Die langsame Entwicklung in der Angleichung des Frauen- und Männeranteils in der österreichischen Politik ist auch das Resultat davon, dass dem politischen Ziel Geschlechterparität in den Institutionen seitens der etablierten, staatstragenden Parteien kein hoher Stellenwert zukam. Dennoch ist hervorzuheben, dass die Strategien der einzelnen Parteien hinsichtlich der Herstellung von Geschlechterparität in der Politik stark variieren. Um das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs zu verstehen, ist es daher wichtig, den Blick auf diese divergierenden Strategien der im Parlament vertretenen Parteien zu richten – vor allem auf die Strategien jener Parteien, die nach 1945 über mehrere Jahrzehnte für das politische System Österreichs prägend waren. Die SPÖ war die erste Partei im politischen System Österreichs, die Frauen in den Entscheidungsgremien der eigenen Partei statutarisch Platz einräumte. Schon sehr früh, im Jahr  1909, verankerte die SPÖ, dass die Frauenorganisation der SPÖ im Bundesparteitag und im Parteivorstand vertreten sein müsse.40 Diese frühe Verankerung der Präsenz der Frauenorganisation in den Entscheidungsgremien der Partei führte in der Folge aber nicht zu einer bedeutenden

39 Sauer (2012), S. 125. 40 Steininger, Barbara (2000), Representation of Women in the Austrian Political System 1945–1998, in  : Women & Politics 21, Heft 2, S. 84.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

Feminisierung der Partei.41 Die Präsenz der Frauenorganisation in den Entscheidungsgremien stellte eher eine Minimal-Repräsentation von Frauen in der Partei dar. Erst in den 1980er Jahren setzte in der SPÖ aufgrund der Initiative der Frauenbewegung und v.a. aufgrund der Initiative von Johanna Dohnal ein wichtiger Entwicklungsschub in Bezug auf die Repräsentation von Frauen in der SPÖ ein. Von 1979 bis 1995 war Dohnal zuerst Staatssekretärin für Frauenfragen und später die erste Frauenministerin Österreichs.42 In dieser Zeit setzte sich Dohnal erfolgreich für die Anliegen der Frauen im Allgemeinen, jenseits der Parteipolitik, ein. Mit ihrer Arbeit prägte sie nachhaltig die Frauenpolitik der Zweiten Republik. Gleichwohl erachtete Dohnal das Herstellen von Geschlechterparität in der Politik als ein wichtiges politisches Ziel, um frauenpolitischen Interessen in der Politik Gehör zu verschaffen. So forderte die SPÖ-Frauenorganisation mit Dohnal in den 1980er Jahren eine Geschlechterquote für alle Parteigremien und für die Erstellung der Wahlkreislisten der Partei. 1985 führte die SPÖ als erste Partei in Österreich eine Geschlechterquote ein. Statt der von der Frauenorganisation geforderten 40  Prozent wurde damals allerdings nur eine 25 Prozent-Quote für Frauen für alle gewählten Parteifunktionen und für alle Wahllisten der SPÖ beschlossen.43 Erst 1993 beschloss die SPÖ dann eine 40-Prozent-Geschlechterquote, die vorsah, dass jedes Geschlecht zu mindestens 40  Prozent in den Wahllisten bei der Wahl von Parteifunktionären vertreten sein muss.44 Diese Quote ging zwar hinsichtlich der Reichweite und auch der Verbindlichkeit weiter als die 1985 beschlossene Quotenregelung (die neue Regelung sah einen höheren Prozentsatz vor und wurde als »Soll-Bestimmung« formuliert) – dennoch sah die neue Regelung von 1993 vor, dass diese in einer vergleichsweise langen Zeitspanne (innerhalb von zehn Jahren) umgesetzt werden solle.45 Wie die zahlreichen Reden von Johanna Dohnal dieser Zeit gut dokumentieren, war der Widerstand innerhalb der Partei gegen die Einführung einer Geschlechterquote groß.46 Viel Überzeugungsarbeit musste geleistet werden, um die Mitglieder der SPÖ von der Einführung der Geschlechterquote zu überzeugen. 41 Ebd. 42 Vgl. Niederkofler, Heidi (2013), Von der Hälfte des Himmels, oder  : Die Geduld der Frauen ist die Macht der Männer. Geschlechterdemokratie und Quotendiskussion in der SPÖ, in  : Johanna Dohnal. Ein politisches Lesebuch, hg. v. Maria Mesner/Heidi Niederkofler, Wien, S. 89–106. 43 Steininger (2000), S. 85. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Vgl. Niederkofler, Heidi (2013), S. 97.

147

148

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

Dohnal argumentierte damals, dass die sich über die Jahrzehnte kaum verändernde Dominanz der Männer in allen Sphären der Politik eine inoffizielle »Männerquote« darstellen würde  : »Wenn wir als demokratische Partei, die klug und glaubwürdig handelt, wenn wir als eine solche Partei gelten wollen, dann müssen wir die Diskussion über die bereits bestehenden Männerquoten führen (…) Fragen wir hingegen nach der Rechtmäßigkeit für die Gesamtquote Mann, dann, liebe Genossen, müßt ihr endlich einmal verständlich und überzeugend argumentieren, woher die Männer in diesem Staate das Recht für ihre Männerquote ableiten.«47 Nachdem die SPÖ 2003, also zehn Jahre nach der 1993  beschlossenen Geschlechterquote, die Quote noch immer nicht umgesetzt hatte, initiierte die Partei einen Deliberationsprozess, um Ideen für die Förderung von Frauen in der Politik zu sammeln. Nach der Nationalratswahl im Jahr 2006 stieg der Frauenanteil unter den SPÖ-Abgeordneten erstmals bedeutend an, ging in den zwei darauffolgenden Gesetzgebungsperioden aber wieder zurück.48 Nach der Nationalratswahl 2017 waren fast die Hälfte der SPÖ-Abgeordneten Frauen.49 Im Oktober 2006 wurde Barbara Prammer, die zuvor mehrere leitende Funktionen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei innehatte, als erste Frau in der Geschichte Österreichs zur Präsidentin des Nationalrates gewählt.50 Erstmals in der Geschichte der SPÖ wurde 2018 eine Frau, Pamela Rendi-Wagner, die zuvor Bundesministerin für Gesundheit und Frauen war, zur geschäftsführenden Bundesparteivorsitzenden der SPÖ und Klubobfrau der SPÖ gewählt.51 Als 2017 in Österreich eine allgemeine Wahlrechtsreform diskutiert wurde, postulierte die SPÖ die Forderung, dass es für alle im Parlament vertretenen Parteien eine gesetzlich verankerte Quotenregelung geben müsse. Bei Nichterfüllung der vorgeschriebenen Quote solle den Parteien, die sich nicht an die Quotenregelung halten, die Parteienförderung gekürzt werden.52 In der Folge dieser Forderung sprachen sich die damalige Bundesvorsitzende der SPÖ-Frauen, Gabriele Heinisch-Hosek und die Bundesleiterin der ÖVP-Frauen, Dorothea Schittenhelm gemeinsam für eine gesetzliche Quotenregelung für im Parlament 47 Dohnal 1989, zit. n. Niederkofler, Heidi (2013), S. 99. 48 Österreichisches Parlament (2019 b), Die ParlamentarierInnen seit 1918. [https://www.parlament. gv.at/WWER/], eingesehen am 06.10.2019. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Der Standard (2017 a), 35  Prozent  : SPÖ für verpflichtende Frauenquote im Parlament (07.02. 2017). [https://derstandard.at/2000052260722/Parlament-SPOe-fuer-verpflichtende-­Frauenquo te], eingesehen am 06.10.2019.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

vertretene Parteien aus.53 Aufgrund des Widerstandes anderer Parlamentsparteien bzw. aufgrund des Widerstandes einzelner Mitglieder der ÖVP wurde diese Forderung schließlich nicht umgesetzt. Vor allem der damalige Klubobmann der ÖVP (Reinhold Lopatka) artikulierte offen seine Opposition gegenüber einer gesetzlich verankerten Regelung, welche die Auszahlung der Parteienförderung an die Erfüllung von Geschlechterquoten koppeln würde.54 Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) hat im Vergleich zu anderen Parteien in Österreich erst verspätet aktiv innerparteiliche Bestimmungen zur Nominierung von Frauen in den Partei-Gremien und Wahlkreislisten beschlossen. Anfang der 1990er Jahre gab es in Österreich einen Moment, in dem in allen Parteien verstärkt über Geschlechterquoten in der Politik diskutiert wurde. Diese Diskussion wurde damals u. a. durch die Grünen angestoßen, die bei der Nationalratswahl 1990 erstmals ein sogenanntes »Reißverschlusssystem« angewandt hatten. Bei einem Reißverschlusssystem werden auf Wahllisten abwechselnd Frauen und Männer gelistet. Bei der ÖVP führte diese Diskussion um Geschlechterquoten in der Politik Anfang der 1990er Jahre nicht zur Einführung von Quoten. Wie von Barbara Steininger beschrieben, wurde 1992 in Österreich das Wahlrecht dahingehend geändert, dass es von nun an möglich war, mittels einer Vorzugsstimme die Reihenfolge der KandidatInnen auf der Wahlliste der gewählten Partei zu beeinflussen.55 Anfang der 1990er Jahre argumentierte die ÖVP, dass die Möglichkeit, mittels Vorzugsstimme die Reihung der KandidatInnen auf der Wahlliste zu beeinflussen, die bessere Alternative zu Quoten sei.56 Schon damals äußerten viele ihre Skepsis, dass die Möglichkeit zur Vorzugsstimme nicht zu einer ausgewogeneren Verteilung der Mandate zwischen Frauen und Männern führen könne, solange die Ausgangsbedingungen für Frauen und Männer so ungleich seien. Heute wissen wir, dass die Möglichkeit zur Vorzugsstimmen-Vergabe allein für sich genommen es nicht vermochte, eine bedeutsame Veränderung im Geschlechterverhältnis der Abgeordneten zu bewirken. Die Startbedingungen und Herausforderung im Vorzugsstimmen-Wahlkampf sind für Frauen und Männer immer noch zu unterschiedlich, als dass Frauen

53 Der Standard (2017 b), ÖVP-Frauenchefin  : Mehr Parteienförderung für höheren Frauenanteil. (27.02.2017). [https://derstandard.at/2000053231956/OeVP-Frauenchefin-Mehr-Parteienfoerderung-fuer-hoeheren-Frauenanteil], eingesehen am 06.10.2019. 54 Der Standard (2017 a). 55 Steininger (2000). 56 Vgl. ebd.

149

150

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

in gleicher Weise wie Männer von den Vorteilen eines Vorzugsstimmen-Wahlkampfes profitieren könnten.57 Erst kürzlich hat sich nun auch in der ÖVP die Ansicht durchgesetzt, dass für eine Angleichung der Frauen- und Männeranteile unter den ÖVP-Mandataren Quoten notwendig sind. Nachdem die Frauenorganisation innerhalb der ÖVP, die »ÖVP Frauen«, schon seit längerer Zeit die Einführung einer Quote gefordert hatte,58 hat die ÖVP 2015 in ihrem Organisationsstatut verankert, dass bei der Erstellung der Wahllisten für die Nationalratswahl ein Reißverschlusssystem anzuwenden sei.59 Nachdem dieses Reißverschlusssystem anfangs noch nicht für alle politischen Ebenen vorgesehen war, auf denen die Mandate für den Nationalrat ermittelt werden (das Reißverschlusssystem wurde damals lediglich für die Bundeswahlliste beschlossen und für die anderen Ebenen empfohlen), wurde im Juli 2017 das Organisationsstatut dahingehend geändert, dass auf allen drei Ebenen, auf denen Mandate vergeben werden (Regionalwahlkreise, Landeswahlkreise, Bundeswahlkreis) ein Reißverschlusssystem anzuwenden ist.60 Hinsichtlich des Reißverschlusssystems präzisiert das Organisationsstatut der ÖVP  : »Die Reihung der einzelnen Kandidatenlisten (…) hat nach dem Reißverschlusssystem zu erfolgen, also jeweils abwechselnd zwischen Frauen und Männern bzw. umgekehrt.«61 Bemerkenswert an dieser Formulierung ist, dass das Organisationsstatut der Volkspartei nicht vorsieht, ob Frauen oder Männer zuerst in den Wahllisten aufscheinen. Dies ist insbesondere in Hinblick auf die Regionalwahlkreise interessant. In den Regionalwahlkreisen werden insgesamt viele Mandate ermittelt (2017 wurde mehr als die Hälfte der Mandate auf dieser Ebene ermittelt). In den einzelnen Regionalwahlkreisen sind es jedoch oft nur ein bis fünf Mandate die gewonnen werden können. An folgendem Beispiel lässt 57 Vgl. Wauters, Bram/Weekers, Karolien/Maddens, Bart (2010), Explaining the number of preferential votes for women in an open-list PR system  : An investigation of the 2003 federal elections in Flanders (Belgium), in  : Acta Politica 45, Heft 4, 468–490. 58 Der Standard (2014), VP-Frauenchefin Schittenhelm will Frauenquote in Parteien (7.9.2014). [https://derstandard.at/2000005253726/VP-Frauenchefin-Schittenhelm-will-Frauenquote-­inParteien], eingesehen am 06.10.2019. 59 Österreichische Volkspartei (2015), Schittenhelm  : ÖVP-Delegierte stimmen dem Reißverschlusssystem zu. OTS0267 (12. Mai 2015, 22  :26). [https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_2015 0512_OTS0267/schittenhelm-oevp-delegierte-stimmen-dem-reissverschlusssystem-zu], eingesehen, am 06.10.2019 60 Österreichische Volkspartei (2017), Bundespartei-Organisationsstatut der Österreichischen Volkspartei in der Fassung vom 01. Juli 2017. [https://www.dieneuevolkspartei.at/Programme-­ Statuten-Logos], eingesehen am 06.10.2019. 61 Ebd., S. 27.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

sich die Problematik veranschaulichen  : Angenommen, in einem Regionalwahlkreis wären lediglich drei Mandate zu gewinnen. Bei der Nationalratswahl im Jahr 2017 war dies z. B. in den Wahlkreisen Oberland, Kärnten West, Salzburg Stadt oder Burgenland Süd der Fall.62 Wenn in einem Regionalwahlkreis drei Mandate zu gewinnen sind, macht es einen großen Unterschied, ob die Reihenfolge in der Liste Mann-Frau-Mann oder Frau-Mann-Frau lautet. Während bei der ersten Reihung zwei Männer und eine Frau Mandate für den Nationalrat erhalten würden, wären es bei der zweiten Reihung zwei Frauen und ein Mann. Wenn in vielen Wahlkreisen an erster Stelle ein Mann gelistet ist, dann führt dies in Summe zu einem höheren Anteil an Männern im Gesamtergebnis. So betrug der Frauenanteil unter den ÖVP-Abgeordneten trotz Anwendung eines Reißverschlusssystems nach der Nationalratswahl  2017 lediglich 30,6  Prozent (19 von 62 erreichten Mandaten). Wie von Meyer und Reidinger (2018) gezeigt, lässt sich dieses Ergebnis für die Volkspartei unter anderem dadurch erklären, dass in den Wahlkreislisten der ÖVP oftmals Männer an erster Stelle gereiht waren.63 In 67 Prozent der Regionalwahlkreislisten der ÖVP waren Männer an erster Stelle gereiht. Zudem waren Frauen in jenen Wahlkreisen häufiger an erster Stelle gereiht, in denen die Chance auf ein Mandat für die ÖVP eher gering war  : »Dort wo die ÖVP aber mindestens ein Regionalwahlkreis gewinnen konnte, waren Frauen weit weniger häufig Listenerste (25 %). Weibliche Listenerste waren also häufiger dort zu finden, wo die Volkspartei schlechtere Chancen auf Mandate hatte (…).«64 Die Tatsache, dass die ÖVP später als andere Parteien ein Reißverschlusssystem beschloss, ist mit Sicherheit auch auf die unter den Mitgliedern der ÖVP stärker verbreitete Befürwortung einer traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern zurückzuführen.65 Gerade vor dem Hintergrund, dass die Politik im Allgemeinen – und insbesondere bestimmte politische Bereiche – traditionell als »Männerdomäne« gelten, ist interessant, dass die ÖVP auffallend oft 62 Bundesministerium für Inneres, Republik Österreich (2019), Nationalratswahlen. Wahlkreiseinteilung. [https://www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/Wahlkreiseinteilung.aspx], eingesehen am 06.10.2019. 63 Meyer, Thomas M./Reidinger, Verena (2018), Was bringt das »Reißverschlusssystem« den Frauen  ? (02.05.2018), in  : Blog des Vienna Centre for Electoral Research. [https://viecer.univie.ac.at/ blog/detail/news/was-bringt-das-reissverschlusssystem-den-frauen/?tx_news_pi1%5Bcontroller %5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=5703185c72f30770ca44f0929f2b 3bdf ], eingesehen am 06.10.2019. 64 Ebd. 65 Vgl. Steininger (2000), 92.

151

152

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

Frauen mit Regierungs-Ressorts betraute, die nicht als typische »Frauen-Ressorts« gelten. Einer geschlechterstereotypen Rollenverteilung folgend, werden Frauen in Europa und der Welt auch heute noch eher mit der Leitung von Ministerien in bestimmten Bereichen betraut. Die Zahlen zeigen, dass Frauen typischerweise immer noch eher in den Bereichen Soziales, Familie, Umwelt und Arbeit Ministerien leiten.66 Daher ist bemerkenswert, dass beispielsweise die erste Außenministerin Österreichs (Benita M. Ferrero-Waldner im Jahr 2000), die erste Innenministerin Österreichs (Liese Prokop im Jahr 2004) und die erste Finanzministerin Österreichs (Maria Fekter im Jahr  2011) alle ÖVP-Politikerinnen waren. Wie oben erwähnt, war auch die erste Landeshauptfrau Österreichs (Waltraud Klasnic im Jahr 1996) ÖVP-Politikerin. Die FPÖ spricht sich seit jeher klar gegen Maßnahmen aus, die die Partei zur Berücksichtigung des Geschlechterverhältnisses bei Personalfragen oder bei der Erstellung von Wahllisten zwingen könnten. Dieser FPÖ-Tradition folgend, sprach sich auch 2018 die Frauensprecherin der FPÖ, Carmen Schimanek, ausdrücklich gegen die im Frauenvolksbegehren postulierte Forderung nach einer 50-Prozent-Frauenquote in der Politik aus  : »Zwangsquoten verstoßen gegen liberale und demokratische Grundprinzipien und sind (…) striktest abzulehnen.«67 Im Parteiprogramm der FPÖ heißt es  : »Die Bevorzugung eines Geschlechts zur Beseitigung tatsächlicher oder vermeintlicher Benachteiligungen wird von uns entschieden abgelehnt. Statistisch errechnete Ungleichheiten, die durch eine Vielzahl an Faktoren bedingt sind, können nicht durch Unrecht an einzelnen Menschen ausgeglichen werden. Daher sprechen wir uns gegen eine Quotenregelung oder das ›Gender-Mainstreaming‹ aus.«68 Bemerkenswert an der Ablehnung der FPÖ einer Quotenregelung ist, dass keine alternativen Maßnahmen zur Förderung von Frauen in der Politik angedacht werden. Abgesehen von der explizit formulierten Ablehnung einer Quotenregelung, die Parteien zur Rekrutierung von Frauen verpflichten würde, ist im Parteiprogramm der FPÖ nichts weiter zum Thema Frauen in der Politik zu finden. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass es im Parteiprogramm der FPÖ keinen ei66 Vgl. Inter-Parliamentary Union (2019 b). 67 Freiheitlicher Parlamentsklub (2018), FPÖ-Schimanek  : Frauenvolksbegehren schießt übers Ziel hinaus, OTS0072, (12. Feb. 2018, 11  :15). [https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20180212_ OTS0072/fpoe-schimanek-frauenvolksbegehren-schiesst-uebers-ziel-hinaus], eingesehen am 06. 10.2019. 68 Freiheitliche Partei Österreichs (2011), Parteiprogramm der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Beschlossen vom Bundesparteitag der Freiheitlichen Partei Österreichs am 18. Juni 2011 in Graz. [https://www.fpoe.at/themen/parteiprogramm/], eingesehen am 06.10.2019.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

genen Abschnitt zum Thema Frauenpolitik gibt. Das Zitat zur Ablehnung einer Quotenregelung seitens der FPÖ ist im Kapitel »Familien und Generationen« des Parteiprogramms zu finden.69 Daher überrascht nicht, dass die FPÖ in der Zweiten Republik stets einen sehr niedrigen Frauenanteil unter ihren Parlaments-Abgeordneten hatte. Auch nach der Nationalratswahl 2017 waren mehr als drei Viertel der FPÖ-Abgeordneten im Nationalrat Männer.70 Im Jahr  1988 wurde Heide Schmidt die erste Generalsekretärin der FPÖ. Bei der Bundespräsidentschaftswahl  1992 trat Schmidt für die FPÖ als Kandidatin zur Wahl an und erhielt 16,4 Prozent der Stimmen – ein Ergebnis, das zum damaligen Zeitpunkt als Erfolg angesehen wurde.71 1993 trat Schmidt aus der FPÖ aus und gründete gemeinsam mit anderen PolitikerInnen eine neue Partei, das »Liberale Forum«.72 Nachdem das Liberale Forum kurz nach seiner Gründung erfolgreich bei Nationalratswahlen Mandate erzielen konnte, schied es 1999 wieder aus dem Nationalrat und dem Europäischen Parlament aus. 2014 fusionierte das Liberale Forum mit der Partei der NEOS, die sich seitdem »NEOS – Das neue Österreich und liberales Forum« nennt.73 Auch die NEOS begegnen der Ideen von Quoten mit Skepsis. Die grundsätzliche Skepsis gegenüber gesetzlich vorgeschriebenen Quoten kommt gut in folgender Äußerung zum Ausdruck  : »Die individuelle Freiheit und Selbstbestimmtheit aller Bürgerinnen und Bürger bildet die Grundlage unserer Gesellschaft. Um Frauen diese Freiheit und Selbstbestimmtheit zu garantieren, sind bestimmte gesetzliche und soziale Rahmenbedingungen zu setzen. Dies erfordert einen ganzheitlichen Zugang, der über simple Symptombekämpfung mittels Zwangsmaßnahmen hinausgeht.«74 Auch wenn für die Partei der NEOS ähnlich wie bei der FPÖ die Idee von Quoten-Vorgaben dem liberalen Prinzip der möglichst nicht-eingreifenden Rolle des Staates entgegenstehen dürfte, sind doch essentielle Unterschiede in den Positionen dieser zwei Parteien in Hinblick auf die Frauenfrage in der Politik zu konstatieren. Während die FPÖ sich in ihrem Parteiprogramm und öffentlichem Webauftritt auf die Postulierung beschränkt, dass Quoten-Regelungen abgelehnt werden, und darüber hinaus keine 69 Ebd. 70 Vgl. Österreichisches Parlament (2019 a). 71 Vgl. Steininger 2000, S. 95. 72 Ebd. 73 Liberales Forum (2019), Geschichte. [http://www.lif.at/geschichte/], eingesehen 01.02.2019. 74 NEOS (2016), Mutig, Innovativ, Freiheitsliebend. Unsere Pläne für ein neues Österreich, Stand 25. Juni 2016. [https://www.neos.eu/programm/positionen], eingesehen am 06.10.2019.

153

154

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

alternativen Maßnahmen vorschlägt, die zu einer höheren Präsenz von Frauen in der Politik führen könnten, befassen sich die NEOS seit einigen Jahren mit der Frage, wie gesellschaftliche Geschlechtergerechtigkeit erreicht werden kann.75 Auch die Frage, wie Frauen in der Politik gefördert werden könnten, beschäftigt die NEOS.76 Seit 2018 steht eine Frau an der Spitze der Partei der NEOS. Beate Meinl-Reisinger, die zuvor Klubobfrau der NEOS im Wiener Landtag und Gemeinderat war, ist seit 2018 Parteivorsitzende der NEOS und Klubobfrau der NEOS im Nationalrat.77 Die Partei der Grünen (»Die Grünen – Die Grüne Alternative) hatte seit ­ihrer Gründung starke Verflechtungen mit der österreichischen Frauenbewegung.78 Gleich nach dem erstmaligen Einzug der Grünen ins österreichische Parlament im Jahr  1986 wurde Freda Meissner-Blau, zentrales Gründungsmitglied der Grünen, zur Obfrau des Grünen Klubs im Parlament gewählt.79 Die Grünen führten bereits bei ihrer Gründung ein Reißverschlusssystem für die Nominierung von KandidatInnen für Wahllisten ein, das bei der Nationalratswahl 1990 erstmals zur Anwendung kam. Seit damals sicherte das Reißverschlusssystem den Grünen den im Vergleich zu den anderen im Parlament vertretenen Parteien höchsten Frauenanteil unter den Abgeordneten. Auch in den Jahren nach der Gründung der Partei hatten die Grünen immer wieder Frauen in Führungspositionen an der Spitze der Partei. So war Madeleine Petrovic von 1994 bis 1996 Bundessprecherin der Grünen. Von 2008 bis 2017 war Eva Glawischnig-Piesczek Bundessprecherin der Grünen. 2017 folgten Glawischnig-Piesczek als Bundessprecherin Ingrid Felipe und Ulrike Lunacek, die zuvor Ko-Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei und später Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments war, als Spitzenkandidatin für die Nationalratswahlen 2017 nach.80 Wie von Barbara Steininger beschrieben, beeinflussten die Grünen mit ihrer engagierten und proaktiven Förderung von Frauen in der Politik ab Mitte 1980er Jahre auch andere Parteien.81 Mit ihrem Engagement für die Förderung von Frauen in der Politik zeigten die Grünen, dass es möglich ist, Geschlechterpari75 Vgl. ebd. 76 NEOS Wien (2014). Positionspapier Frauen. Stand  : 13. Dezember 2014. [https://wien.neos.eu/_ Resources/Persistent/…/Positionspapier-Frauen.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. 77 Vgl. Österreichisches Parlament (2019 b). 78 Gottweis 1997, zit. n. Steininger (2000). 79 Vgl. Österreichisches Parlament (2019 b). 80 Ebd. 81 Vgl. Steininger (2000).

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

tät in der Politik zu erreichen, wenn der Wille dazu vorhanden ist. Für AktivistInnen anderer Parteien, die sich ebenfalls für eine wichtigere Rolle von Frauen in ihrer Partei einsetzten, wurden die Grünen damit zu einem Referenz-Beispiel, auf das man im Kampf um die Förderung von Frauen in der Partei verweisen konnte. 6.4 Reformoptionen Der Anteil der Frauen in der österreichischen Politik ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder angestiegen – er ist jedoch auch stagniert und zeitweise sogar auch wieder zurückgegangen. Was kann nun unternommen werden, damit mehr Frauen in den Institutionen des politischen Systems vertreten sind  ? Die Maßnahmen, die für eine höhere Präsenz von Frauen in den politischen Institutionen gesetzt werden können, variieren je nach politischer Sphäre, in der die Maßnahmen greifen sollen. Die Tatsache, dass gegenwärtig (April 2019) drei von fünf im österreichischen Parlament vertretenen Parteien Frauen an der Spitze der Partei haben, bedeutet eine wichtige Veränderung im politischen System Österreichs. Damit zeigen sich mehr Parteien als jemals zuvor dazu bereit, im politischen System und damit möglichenfalls in einer Regierung von einer Frau vertreten zu werden. Bei der Rekrutierung von MinisterInnen spielen viele Faktoren eine Rolle, die bei der Besetzung anderer politischer Funktionen nicht in dieser Form von Relevanz sind. So zeigen die Untersuchungen von Veronika Schwediauer zur Rekrutierung österreichischer Regierungsmitglieder im Geschlechtervergleich, dass der Rekrutierungsprozess von MinisterInnen äußerst komplex ist.82 Zwar kommt der Parteiführung in dieser Frage viel Entscheidungsautonomie zu. Gleichzeitig werden üblicherweise seitens der Parteiführung viele Faktoren gleichzeitig berücksichtigt  : »Der/die ParteichefIn bringt eigene Wünsche ein, der diesbezügliche Spielraum bei der Personalselektion hängt von der jeweiligen Machtposition ab (…). Es müssen, um die Etablierung einer parteiinternen Machtbalance zu gewährleisten, die Kräfteverhältnisse innerhalb der Parteien Berücksichtigung finden, indem RepräsentantInnen der zentralen Parteigrup82 Vgl. Schwediauer, Veronika (2010), Same same but different. The political recruitment of women and men to the Austrian government, Dissertation  : Universität Wien. Schwediauer, Veronika (2012), Rekrutierungsprozesse österreichischer Regierungsmitglieder im Geschlechtervergleich, in  : SWS-Rundschau, 52, Heft 1, 47–68.

155

156

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

pierungen in die Regierung berufen werden (…). Bei der Suche nach einem/r geeigneten Kandidaten/in können aber auch viele biographische Merkmale relevant sein wie etwa die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bundesland, ein gewisses Alter, ein akademischer Titel, ein spezifisches Studium, ein bestimmter Beruf oder die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht usw.«83 Somit ist bei der Besetzung von Regierungsämtern letztendlich relevant, ob die Parteiführung der Ansicht ist, dass bei der Besetzung von Regierungsfunktionen auf Geschlechterparität zu achten sei. Die Einschätzung der Parteiführung in dieser Frage wird sowohl vom Druck, der innerhalb der Partei in dieser Frage ausgeübt wird, als auch von der gesellschaftlichen Erwartungshaltung beeinflusst. Seit einigen Jahren ist in Bezug auf die gesellschaftliche Erwartungshaltung eine deutliche Veränderung zu beobachten. Wo immer in Europa eine neue Regierung gebildet wird, berichten die Medien auch über die Anzahl der weiblichen und männlichen Regierungsmitglieder. Ein Zurück zu Zeiten, in denen in einem Regierungsteam mit dreizehn Regierungsmitgliedern lediglich ein bis drei Frauen vertreten sind, scheint aus heutiger Sicht auch in Österreich undenkbar. Wie im Beitrag erläutert, kommt den politischen Parteien in Österreich bei der Besetzung politischer Funktionen eine zentrale Rolle zu. Daher kommt auch in Hinblick auf Reformen, die auf eine Erhöhung des Frauenanteils in der Politik abzielen, den politischen Parteien eine Schlüsselrolle zu. Jüngere empirische Forschung deutet darauf hin, dass die Verfahren anhand derer Parteien KandidatInnen rekrutieren, eine wesentliche Rolle für das Geschlechterverhältnis unter den Abgeordneten der Partei spielen können.84 Welche Strategien lassen sich nun im internationalen Vergleich beobachten, um den Anteil der Frauen in den Parlamenten zu erhöhen  ? Grundsätzlich können zwei Strategien unterschieden werden  : a) Quotenregelungen, zu denen sich politische Parteien aus Überzeugung freiwillig verpflichten, und b) gesetzlich verankerte Quotenregelungen, die für alle an Wahlen teilnehmenden Parteien gelten. Am Beispiel der Parteien in Schweden und Norwegen lässt sich gut erkennen, dass es durchaus machbar und möglich ist, freiwillig beschlossene Regelungen, die auf Geschlechterparität abzielen, auch so umzusetzen, dass sie Wirkung zeigen. Beide Länder haben im internationalen Vergleich schon seit vielen Jahren einen hohen Frauenanteil im Parlament, obwohl es in diesen Ländern keine ge83 Schwediauer (2012), S. 53. 84 Fortin-Rittberger, Jessica/Rittberger, Berthold (2015), Nominating women for Europe  : Exploring the role of political parties’ recruitment procedures for European Parliament elections, in  : European Journal of Political Research 54, 767–783.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

setzliche Quotenregelung gibt.85 Politische Parteien in Schweden und Norwegen haben aus Überzeugung parteiintern Regelungen beschlossen, die auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis abzielen  – und setzen diese Regelungen auch um. Auch das Beispiel der Grünen und mittlerweile auch das Beispiel der SPÖ in Österreich zeigen, dass es möglich ist, parteiintern beschlossene Quotenregelungen so umzusetzen, dass das Geschlechterverhältnis bei den Abgeordneten der Partei im Parlament ausgewogen ist. Eine andere Strategie, die in vielen Ländern der Welt angewandt wird, sind gesetzlich vorgeschriebene Quotenregelungen. Weltweit existieren sehr unterschiedliche gesetzliche Quotenregelungen. So können gesetzliche Quotenregelungen beispielsweise vorsehen, dass eine bestimmte Zahl an Parlamentssitzen für weibliche Abgeordnete reserviert ist (so z. B. in Marokko, Algerien und Tansania).86 In Europa ist in mehreren Ländern eine andere Art gesetzlich vorgeschriebener Geschlechterquoten zu finden  : Quotenregelungen, die die Erstellung von Wahllisten wahlwerbender politischer Parteien betreffen. Anders als reine Frauenquoten, die meistens einen Mindest-Anteil an Frauen in politischen Körperschaften vorsehen (und somit nicht ausschließen, dass der Anteil der Frauen in politischen Körperschaften auch größer als der Anteil der Männer sein könnte), zielen Geschlechterquoten darauf ab, die Dominanz eines Geschlechts zu verhindern. So sehen beispielsweise die in Spanien für Parlamentswahlen bestehenden Geschlechterquoten vor, dass in den von politischen Parteien erstellten Wahllisten Frauen wie Männer zu mindestens 40 Prozent vertreten sein müssen.87 Anders als in Spanien ist beispielsweise in Belgien geregelt, dass auf den Wahllisten der wahlwerbenden Parteien die Differenz zwischen der Zahl der Frauen und der Zahl der Männer nicht größer als 1 sein darf.88 Große Unterschiede gibt es zudem von Land zu Land in Bezug auf die Sanktionen, die bei Nichtbeachtung gesetzlich vorgeschriebener Geschlechterquoten vorgesehen sind.89 So bestehen in Belgien beispielsweise die Sanktionen darin, dass eine Partei, die sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben hält, nicht an der Wahl teilnehmen kann. In Frankreich andererseits, wo es auch gesetzlich vorgeschriebene 85 International IDEA (2019), Gender Quotas Database, Website of the International Institute for Democracy and Electoral Assistance. [https://www.idea.int/data-tools/data/gender-quotas/quotas], eingesehen am 06.10.2019. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Hughes, Melanie M./Paxton, Pamela/Clayton, Amanda B./Zetterberg, Pär (2019), Global Gender Quota Adaption, Implementation, and Reform, in  : Comparative Politics 51, Heft 2, 219–238.

157

158

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

Geschlechterquoten für die Erstellung von Wahllisten für Parlamentswahlen gibt, sind die Sanktionen finanzieller Natur  : Parteien, die sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben halten, erhalten nicht die volle Parteienförderung.90 In Österreich gibt es, wie oben beschrieben, aktuell keine gesetzlich vorgeschriebenen Geschlechterquoten für die im Parlament vertretenen Parteien. Einige, aber nicht alle im Parlament vertretenen Parteien haben sich freiwillig parteiintern für die Anwendung von Geschlechterquoten entschieden. Aufgrund dieser uneinheitlichen Praxis gestaltete sich nach der Nationalratswahl 2017 das Geschlechterverhältnis im österreichischen Parlament wie folgt  : Während der Frauenanteil bei den im Parlament vertretenen Oppositionsparteien (SPÖ, NEOS und JETZT – Liste Pilz) insgesamt rund 47 Prozent betrug, betrug der Frauenanteil bei den Regierungsparteien (ÖVP und FPÖ) insgesamt lediglich rund 30 Prozent.91 Gegenwärtig ist es in Österreich so, dass eine Partei, die sich nicht um ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis unter ihren Mandataren bemüht, mit keinerlei Sanktionen zu rechnen hat. So ist die FPÖ beispielsweise eine Partei, die sich in ihrem Parteiprogramm dezidiert gegen Geschlechterquoten ausspricht. Gleichzeitig hat die FPÖ seit Jahrzehnten unter ihren Nationalratsabgeordneten einen überproportional hohen Männeranteil. Politische Parteien, die im österreichischen Parlament vertreten sind, werden im Rahmen der sogenannten Parteienförderung aus Steuermitteln finanziell unterstützt. Gäbe es finanziell spürbare Sanktionen für Parteien, die nicht für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis unter ihren Mandataren Sorge tragen, würden diese Parteien unter Umständen diese Praxis überdenken. 6.5 Literaturverzeichnis Ahrens, Petra (2016), The Committee on Women’s Rights and Gender Equality in the European Parliament, in  : Parliamentary Affairs 69, Heft 4, 778–793. Allen, Peter/Childs, Sarah (2018), The Grit in the Oyster  ? Women’s Parliamentary Organizations and the Substantive Representation of Women, in  : Political Studies, [https:// doi.org/10.1177/0032321718793080], eingesehen am 06.10.2019. Bundesministerium für Inneres, Republik Österreich (2019), Nationalratswahlen. Wahlkreiseinteilung. [https://www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/Wahlkreiseinteilung. aspx], eingesehen am 06.10.2019. 90 Ebd. 91 Vgl. Österreichisches Parlament (2019 a).

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

Bundesministerium für Inneres, Republik Österreich (2018), Begründung zur Einleitung des Verfahrens für das Volksbegehren »Frauenvolksbegehren«, [https://www.bmi. gv.at/411/Volksbegehren_der_XX_Gesetzgebungsperiode/Frauenvolksbegehren/start. aspx#pk_01.], eingesehen am 06.10.2019. Bundeswahlbehörde (2018), Verlautbarung der Bundeswahlbehörde über das endgültige Ergebnis, [https://www.bmi.gv.at/411/Volksbegehren_der_XX_Gesetzgebungsperiode/Frauenvolksbegehren/start.aspx#uebersicht], eingesehen am 06.10.2019. Childs, Sarah/Lovenduski, Joni (2013), Political Representation, In  : The Oxford Handbook of Gender and Politics, hg. v. Georgina Waylen et al., Oxford  : Oxford University Press, 489–513. Demokratiezentrum Wien (2019), Allgemeines und gleiches Frauenwahlrecht. [http:// www.demokratiezentrum.org/themen/demokratieentwicklung/frauenwahlrecht/frauenwahlrecht.html.], eingesehen am 06.10.2019. Der Standard (2014), VP-Frauenchefin Schittenhelm will Frauenquote in Parteien. (07.09.2014).[https://derstandard.at/2000005253726/VP-Frauenchefin-Schittenhelm-­ will-Frauenquote-in-Parteien], eingesehen am 06.10.2019. Der Standard (2017 a), 35 Prozent  : SPÖ für verpflichtende Frauenquote im Parlament. (07.02.2017). [https://derstandard.at/2000052260722/Parlament-SPOe-fuer-verpfli chtende-Frauenquote], eingesehen am 06.10.2019. Der Standard (2017 b), ÖVP-Frauenchefin   : Mehr Parteienförderung für höheren Frauenanteil. (27.02.2017). [https://derstandard.at/2000053231956/OeVP-Frauen chefin-Mehr-Parteienfoerderung-fuer-hoeheren-Frauenanteil], eingesehen am 06.10. 2019. Der Standard (2019), Brigitte Bierlein wird erste Bundeskanzlerin Österreichs. (30. Mai 2019).[https://www.derstandard.at/story/2000104101028/brigitte-bierlein-wirderste-­bundeskanzlerin], eingesehen am 22.10.2019. Dingler, Sarah  C./Kroeber, Corinna/Fortin-Rittberger, Jessica (2019), Do parliaments underreprest women’s policy preferences  ? Exploring gender equality in policy congruence in 21 European democracies, in  : Journal of European Public Policy 26, Heft 2, 302–321. Ennser-Jedenastik, Laurenz (2017), How women’s political representation affects spending on family benefits, in  : Journal of Social Policy 46, 3, 563–581. Europäische Kommission (2017), Special Eurobarometer 465. Report. Gender Equality 2017. ( Juni 2017), [https://data.europa.eu/euodp/data/dataset/S2154_87_4_465_ ENG.], eingesehen am 06.10.2019. Falter (2018), Warum arbeiten so viele Frauen in Teilzeit und was sagt das über die Rollenbilder in unserer Gesellschaft aus  ? Falter 47/18, 21.11.2018. Fortin-Rittberger, Jessica/Rittberger, Berthold (2015), Nominating women for Europe  : Exploring the role of political parties’ recruitment procedures for European Parliament elections, in  : European Journal of Political Research 54, 767–783. Freiheitlicher Parlamentsklub (2018), FPÖ-Schimanek  : Frauenvolksbegehren schießt übers Ziel hinaus, OTS0072, (12. Feb. 2018, 11  :15). [https://www.ots.at/presseaussen-

159

160

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

dung/OTS_20180212_OTS0072/fpoe-schimanek-frauenvolksbegehren-schiesst-uebers-ziel-hinaus], eingesehen am 06.10.2019. Freiheitliche Partei Österreichs (2011), Parteiprogramm der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Beschlossen vom Bundesparteitag der Freiheitlichen Partei Österreichs am 18. Juni 2011 in Graz. [https://www.fpoe.at/themen/parteiprogramm/], eingesehen am 06.10.2019. Genderatlas.at (2017), Frauen als Ortschefinnen immer noch unterrepräsentiert. [http:// genderatlas.at/articles/buergermeisterinnen.html], eingesehen am 06.10.2019. Hughes, Melanie M./Paxton, Pamela/Clayton, Amanda B./Zetterberg, Pär (2019), Global Gender Quota Adaption, Implementation, and Reform, in  : Comparative Politics 51, Heft 2, 219–238. International IDEA (2019), Gender Quotas Database, Website of the International Institute for Democracy and Electoral Assistance. [https://www.idea.int/data-tools/data/ gender-quotas/quotas], eingesehen am 06.10.2019. Inter-Parliamentary Union (2019 a)  : Women in National Parliaments, [http://archive. ipu.org/wmn-e/ClaSSif.htm], eingesehen am 06.10.2019. Inter-Parliamentary Union (2019 b), Women in Politics  : 2019. [https://www.ipu.org/resources/publications/infographics/2019-03/women-in-politics-2019], eingesehen am 06.10.2019. Kritzinger, Sylvia/Praprotnik, Katrin (2018), Frauen in politischen Führungspositionen  : ein Blick über den Tellerrand (25.09.2018), in  : Blog des Vienna Center for Electoral Research. [https://viecer.univie.ac.at/blog/detail/news/frauen-in-politischen-­ fuehrungspositionen-ein-blick-ueber-den-tellerrand–/ ?tx_news_pi1%5Bcontrolle r%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=c7a854fa94ca7d27f 22f1a80d53c0a11], eingesehen am 06.10.2019. Liberales Forum (2019), Geschichte. [http://www.lif.at/geschichte/], eingesehen am 06.10.2019. Meyer, Thomas M./Reidinger, Verena (2018), Was bringt das »Reißverschlusssystem« den Frauen  ? (02.05.2018), in  : Blog des Vienna Centre for Electoral Research. [https: //viecer.univie.ac.at/blog/detail/news/was-bringt-das-reissverschlusssystem-denfrauen/  ?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=de tail&cHash=5703185c72f30770ca44f0929f2b3bdf ], eingesehen am 06.10.2019. NEOS (2016), Mutig, Innovativ, Freiheitsliebend. Unsere Pläne für ein neues Österreich, Stand 25. Juni 2016. [https://www.neos.eu/programm/positionen], eingesehen am 06.10.2019. NEOS Wien (2014). Positionspapier Frauen. Stand  : 13. Dezember 2014. [https://wien. neos.eu/_Resources/Persistent/…/Positionspapier-Frauen.pdf ], eingesehen am 06.10. 2019. Niederkofler, Heidi (2013), Von der Hälfte des Himmels, oder  : Die Geduld der Frauen ist die Macht der Männer. Geschlechterdemokratie und Quotendiskussion in der SPÖ, in  : Johanna Dohnal. Ein politisches Lesebuch, hg. v. Maria Mesner/Heidi Niederkofler, Wien  : Mandelbaum Verlag, S. 89–106.

Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs 

|

Österreichisches Parlament (2019 a), Frauen im Parlament. [https://www.parlament. gv.at/PERK/FRAU/WODIEFRAU/index.shtml], eingesehen am 06.10.2019. Österreichisches Parlament (2019 b), Die ParlamentarierInnen seit 1918. [https://www. parlament.gv.at/WWER/], eingesehen am 06.10.2019. Österreichische Volkspartei (2015), Schittenhelm  : ÖVP-Delegierte stimmen dem Reißverschlusssystem zu. OTS0267 (12. Mai 2015, 22  :26). [https://www.ots.at/presseaus sendung/OTS_20150512_OTS0267/schittenhelm-oevp-delegierte-stimmen-­demreissverschlusssystem-zu], eingesehen am 06.10.2019 Österreichische Volkspartei (2017), Bundespartei-Organisationsstatut der Österreichischen Volkspartei in der Fassung vom 01. Juli 2017. [https://www.dieneuevolkspartei. at/Programme-Statuten-Logos], eingesehen am 06.10.2019. Phillips, Anne (2012), Representation and Inclusion, in  : Politics and Gender 8, Heft 4  : 512–518. Rosenberger, Sieglinde (2004), Interesse  – Identität, in Politikwissenschaft und Geschlecht, hg. v. Sieglinde Rosenberger/Birgit Sauer, Wien  : WUV, S. 171–190. Sauer, Birgit (2012), Die österreichische Demokratie aus Sicht der geschlechterkritischen Staats- und Demokratietheorie, in  : Die österreichische Demokratie im Vergleich, hg. v. Ludger Helms und D.M. Wineroither, Baden-Baden  : Nomos, S. 122–144. Schwediauer, Veronika (2010), Same same but different. The political recruitment of women and men to the Austrian government, Dissertation  : Universität Wien. Schwediauer, Veronika (2012), Rekrutierungsprozesse österreichischer Regierungsmitglieder im Geschlechtervergleich, in  : SWS-Rundschau 52, Heft 1, 47–68. Statistik Austria (2019 a), Teilzeit, Teilzeitquote. [http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote/index.html], eingesehen am 06.10.2019. Statistik Austria (2019 b), Leben von Frauen und Männern in Europa. [http://www.statistik.at/leben_von_frauen_und_maennern_in_europa/], eingesehen am 06.10.2019. Statistik Austria (2019 c), Gender-Statistik. Demographie. [https://www.statistik.at/web_ de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/gender-statistik/demographie/in dex.html], eingesehen am 06.10.2019. Steininger, Barbara (2000), Representation of Women in the Austrian Political System 1945–1998, in  : Women & Politics 21, Heft 2, 81–106. Ucakar, Karl (1985), Demokratie und Wahlrecht in Österreich. Zur Entwicklung von politischer Partizipation und staatlicher Legitimationspolitik, Wien  : Verlag für Gesellschaftskritik. Unger, Petra (2019), Frauenwahlrecht. Eine kurze Geschichte der österreichischen Frauenbewegung, Wien, Berlin  : Mandelbaum Kritik & Utopie. Wängnerud, Lena (2009), Women in Parliaments  : Descriptive and Substantive Representation, in  : Annual Review of Political Science 12, 51–69. Wauters, Bram/Weekers, Karolien/Maddens, Bart (2010), Explaining the number of preferential votes for women in an open-list PR system  : An investigation of the 2003 federal elections in Flanders (Belgium), in  : Acta Politica 45, Heft 4, 468–490.

161

162

| 

Katharina Concepción Zahradnik-Stanzel

Wiener Zeitung (2017), Niederösterreich. It’s a Landeshauptfrau. Bericht der Wiener Zeitung vom 18.01.2017. Young, Iris Marion (1990), Justice and the Politics of Difference, Princeton, New Jersey  : Princeton University Press. Young, Iris Marion (1994), Gender as Seriality  : Thinking about Women as a Collective, in  : Signs 19, Heft 3, 713–38. Young, Iris Marion (2000), Inclusion and Democracy, Oxford, New York. Ziegerhofer, Anita (2018), Ohne Frauenbewegungen kein Frauenwahlrecht. »Müht Euch um die Stimmzettel, er ist der Schlüssel zu allen bürgerlichen Rechten  !«, Graz, Wien  : Leykam.

INSTITUTIONEN

Christoph Konrath1

7. Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat  : Grundlagen und Ansprüche

7.1 Einführung 7.1.1 Alltagserfahrungen Viele Gespräche über Politik, aber auch die Medienberichterstattung sind durch einfache und damit auch sehr klare Vorstellungen von politischen Institutionen geprägt. Es gibt, kurz gesagt, das Parlament, das die Bevölkerung repräsentieren und Gesetze machen soll, die Regierung, die diese mithilfe der Verwaltung umsetzen soll, und die Gerichte, die Streitigkeiten entscheiden sollen. Wer beginnt, die politischen Institutionen Österreichs an diesen Vorstellungen zu messen, kann leicht zu dem Schluss gelangen, dass hier vieles nicht »wie vorgesehen« funktioniere, dass die Verwaltung zu viele Vorgaben mache, dass Abgeordnete und AmtsträgerInnen ihren Aufgaben nicht nachkommen. Die Beschreibung und Interpretation dieser Vorgänge kann aber auch Politik-, Sozial- und Rechtswissenschaften vor große Probleme stellen, da sowohl ihre Standardannahmen als auch die in Verfassung und Gesetzen festgelegten Regeln zu unbefriedigenden Erklärungen führen können. 7.1.2 Geschichte und Theorie Die Befassung mit der Entwicklung und Erscheinungsweise des parlamentarischen Regierungssystems und der Verwaltung kann vieles, was wir sehen, nachvollziehbar machen. Sie kann etwa Bezüge zu Vorstellungen guter Politik herstellen und Gelingensbedingungen aufzeigen. Eine solche Zugangsweise hat ihre prägende Grundlage im (konservativen) politischen Denken Englands, auf das wir mehrfach zurückkommen werden, und sie ist nach wie vor, nicht zuletzt wegen ihrer großen Anschaulichkeit und Lebensnähe, aktuell. Eine ebenso lange Tradition hat das Infragestellen parlamentarischen Regierens. Es weist auf die Widersprüche parlamentarischen Regierens hin und betont 1 Ich danke Alexandra Becker und Franziska Bereuter für die kritische Durchsicht des Textes und die Unterstützung bei der Erstellung des Anmerkungsapparats.

166

| 

Christoph Konrath

die negativen Seiten des Parteienstreits. Infolgedessen spricht es sich für Einheitlichkeit und Durchsetzungskraft von Regierung und Verwaltung aus. Mit der Entwicklung (und Anfeindung) des modernen Parlamentarismus geht folglich das Bemühen einher, theoretische Grundlagen hierfür zu schaffen. Darauf aufbauend soll er auch mit sozialwissenschaftlichen Methoden erforscht werden können. Die Diskussionen über Bestand und Sinn der Demokratie im Deutschland und Österreich der Zwischenkriegszeit und nach 1945 sowie die gegenwärtigen Krisendebatten machen deutlich, dass die Verteidigung und Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie auf beide Zugänge, praktisch und theoretisch, angewiesen ist. Eine politische Ordnung, die sich auf Vielfalt, Freiheit und Gleichberechtigung gründet, kann es nicht ohne innere Spannungen geben.2 Parlamentarismus muss zugleich rational begründet und breit verstanden werden können, um über ausreichenden Rückhalt zu verfügen. Die theoretische Erklärung und Rechtfertigung wird aber vor allem dann schwierig, wenn sich ein solches System innerhalb einer bestehenden Rechtsund Verwaltungsordnung herausgebildet hat, die Entwicklungspfade und -möglichkeiten vorprägt. Gerade dies ist jedoch für Österreich typisch, wo der »lange Schatten des Staates«, die gesellschaftliche und politische Entwicklung des 20.  Jahrhunderts dominiert hat.3 Verwaltung ist dabei Instrument und stetige Herausforderung für politische Gestaltung  : Sie soll leisten und umsetzen, sie muss »eingedämmt« und »reformiert« werden. Zugleich wird davon ausgegangen, dass sie den stabilen Rahmen des demokratischen Rechtsstaats bildet und dessen Bestand und demokratische Ordnung sichert. 7.1.3. Systemkomponenten und Schnittstellen Dies alles verweist auf ein sehr komplexes Beziehungsgeflecht, das in der Politikwissenschaft (aber auch in allgemeinen Diskussionen über Politik) meist nur in Ausschnitten und unter Zuhilfenahme von Idealisierungen betrachtet wird. Vor allem fällt es immer wieder schwer, die Verwaltung einzuordnen. Ehe ich in den beiden Folgekapiteln näher auf die institutionelle Wirklichkeit von Politik und Verwaltung in Österreich eingehe, möchte ich hier versuchen, Grundlagen 2 Siehe dazu am Beispiel der Weimarer Republik  : Hacke, Jens (2018), Existenzkrise der Demokratie – Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin. 3 Vgl. Hanisch, Ernst (1994), Der lange Schatten des Staates  : Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

für eine theoretische Beschreibung von Parlament und Regierung im Verwaltungsstaat zu formulieren.4 Dabei will ich verschiedene Systemkomponenten hervorheben, die Verbindungsstellen zwischen Parlamenten, Regierungen und Verwaltung bilden. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, die Mechanismen und Funktionen eines politischen Systems und seiner Einrichtungen zu erfassen, zu beschreiben und in ihren Zusammenhängen verständlich zu machen. In der Politikwissenschaft geschieht dies meist, indem Aufgaben und Funktionen von Parlament, Regierung und Verwaltung definiert werden. Sie sollen erklären, was warum und wie funktioniert und mit welchen Gründen dies gerechtfertigt werden kann. In den Kapiteln über die institutionelle Wirklichkeit von Parlament und Bundesregierung in Österreich (8.) bzw. über die Verwaltung (9.) werde ich anhand dieses Schemas vorgehen. Dieser Zugang, so analytisch hilfreich er ist, weist aus meiner Sicht jedoch eine Schwachstelle auf, wenn er nämlich Einrichtungen und Verfahren »bloß« beschreibt. Ihre Legitimation folgt dann letztlich aus der Zweckmäßigkeit zur Sicherung von Freiheit und Gleichheit oder von allgemeiner Beteiligung. Warum soll es dann nur so und nicht anders gehen  ? Demgegenüber finden sich etwa in der (politischen) Philosophie Erklärungsansätze, die über die Bestimmung von Aufgaben oder Zweckmäßigkeit hinausgehen. Sie können in drei großen Themenbereichen zusammengefasst werden, nämlich  : • Repräsentation und damit Erwartungen an die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, • Kommunikations- und Verfahrensregeln sowie • Wissen und Ressourcen. Diese Konzepte können schon auf den ersten Blick auf Parlamente bezogen werden. Und seit jeher liegt in der Auseinandersetzung mit ihnen der Fokus auf Parlamenten. Die Gründe dafür sind vielfältig und finden sich etwa in der Notwendigkeit, eine neue politische Herrschaftsform zu begründen, aber auch darin, dass Parlamente aufgrund ihrer Öffentlichkeit viel mehr Daten und Informationen bieten als Regierungen. Alle drei lassen sich jedoch ebenso zur Beschreibung von Regierung aber auch von der Verwaltung als eigenständiger Institution verwenden und können (z. B. zum Zweck der Legitimation) von ihnen in Anspruch genommen 4 Eine Einführung in die Verwaltungstheorie im Allgemeinen würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Dafür empfehle ich  : Seibel, Wolfgang (2016), Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin.

167

168

| 

Christoph Konrath

werden. Das erscheint mir entscheidend. Denn erst wenn wir die unterschiedlichen Bezugnahmen verstehen, kommen wir in die Lage, das Beziehungsverhältnis von Parlament, Regierung und Verwaltung zu beurteilen und Maßstäbe zu entwickeln, die auch unter Bedingungen realer Politik Bestand haben.5 7.1.4 Inhaltsübersicht In diesem Sinne werde ich zunächst eine Annäherung an das Grundverständnis der Institutionen (7.2) und deren Entwicklungsgeschichte (7.3) vornehmen. Dann gehe ich auf die (auch praktisch) bedeutsame Auseinandersetzung mit Orten und Erscheinungsweisen parlamentarischen Regierens ein (7.4). Daran schließt die Befassung mit Theorien von Repräsentation (7.5), Verfahren und Entscheidungsprozessen (7.6) sowie Wissen und Expertise (7.7) an. All diese Systemkomponenten werden im parlamentarischen Regierungssystem durch vier Pole geprägt  : (I) Den parlamentarischen Pol, der auf Öffentlichkeit und Auseinandersetzung ausgerichtet ist, (II) den exekutiven Pol, der auf politische Führung im Sinne von Effizienz und Machtsicherung zielt und der von Regierung und Verwaltungsapparat besetzt werden kann, (III) den Anspruch auf Stabilisierung des politischen Systems und (IV) die Notwendigkeit, dieses weiterzuentwickeln und an veränderte Umstände anzupassen. Unter diesen Gesichtspunkten können wir abschließend die Frage stellen, wie die Beziehungen zwischen den drei Bereichen Parlament, Regierung und Verwaltung ausgestaltet werden können (7.8). Dies kann in den Folgekapiteln einen kritischen Zugang zur institutionellen Wirklichkeit in Österreich ermöglichen, der über den bloßen Befund der »Realverfassung« hinausgeht, und schließlich eine Grundlage für Reformdiskussionen bilden. 7.2 Grundlagen und Grundbegriffe 7.2.1 Parlamentarisches Regierungssystem Ein parlamentarisches Regierungssystem ist durch die enge Verbindung zwischen der Regierung und dem Parlament geprägt. Dies drückt sich vor allem darin aus, dass die Regierung dauernd auf die Unterstützung (das Vertrauen) 5 Ein großer Einwand aus politischer Praxis und politischer Theorie gegenüber einer theoretischen Erfassung politischer Herrschaft ist ja, dass diese Idealbilder zeichne, die nichts mit der Realität zu tun hätten. Siehe dazu etwa Geuss, Raymond (2008), Philosophy and Real Politics, Princeton.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

oder jedenfalls Duldung durch die Parlamentsmehrheit angewiesen ist. Dem entspricht in der Regel die Möglichkeit der Regierung, das Parlament (oder zumindest eine Parlamentskammer) aufzulösen. Die enge Verbindung zeigt sich in Kontroll- und Mitwirkungsrechten des Parlaments gegenüber der Regierung, ebenso wie es grundsätzlich möglich (oder teilweise sogar Bedingung) ist, dass die Regierungsmitglieder dem Parlament angehören. Vor diesen Hintergründen erklärt sich die Kurzbezeichnung bloß als Parlamentarismus oder parlamentarisches System. 7.2.2 Präsidialsystem und Versammlungsregierung als Gegenmodelle Dem parlamentarischen Regierungssystem stehen das Präsidialsystem, wie es etwa die USA prägt, oder die Versammlungsregierung der Schweiz idealtypisch gegenüber. In beiden Modellen sind Parlament und Regierung unabhängig voneinander eingerichtet. Auch hier gibt es Kontroll- und Mitwirkungsrechte, und die Exekutive braucht gesetzliche (also vom Parlament beschlossene) Handlungsgrundlagen. Entscheidend ist aber, dass keine gegenseitigen Abberufungs- oder Auflösungsrechte bestehen. Dies kann beiden  – Regierung und Parlament – ein höheres Maß an Unabhängigkeit im Handeln vermitteln und zugleich eine stärkere gegenseitige Kontrolle ermöglichen. In der Schweiz sichern die Vorgaben für die Regierungsbildung (Proporzregierung) ein gewisses Maß an Pluralität. Sie fordern damit einen politischen Interessensausgleich ein, dem die Volksabstimmungen als Korrektiv zur parteipolitischen Kartellbildung gegenübergestellt sind. In den USA sollen die vielfältigen Verflechtungen auf Bundes- und Gliedstaatsebene den Interessensausgleich fördern. Sie tragen aber das Risiko der Blockadebildung in sich, auf das mit Tendenzen zur Sicherung der Dominanz einer Partei in allen Staatsgewalten reagiert wird. 7.2.3 Ausgleich und Stabilität Das parlamentarische Regierungssystem hat sich in vielerlei Hinsicht aus der englischen politischen Tradition entwickelt (siehe 7.3.4). In seiner heutigen Ausprägung ist es jedoch maßgeblich durch die Erneuerung der demokratischen Regierungssysteme Westeuropas nach dem 2.  Weltkrieg geprägt. Im Mittelpunkt stand dabei nach den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und nach (bzw. im Angesicht von) autoritären und totalitären Systemen, das Ziel stabiler Demokratien. Diese sollten einerseits in der Lage sein, die – wie es damals hieß – Massen in das politische System einzubinden, und andererseits eine liberale Ordnung

169

170

| 

Christoph Konrath

durch Schaffung starker Regierungen und ebensolcher Verwaltungsapparate, starker Kontrolleinrichtungen (insbesondere von Verfassungsgerichten) und die Einbindung in internationale Organisationen dauerhaft zu sichern.6 Dieser Wunsch nach Ausgleich und Stabilität zeigt sich darin, dass parlamentarische Regierungssysteme eine Mischform aus vielen unterschiedlichen institutionellen Traditionen und deren theoretischer Begründung darstellen. 7.2.4 Präsidialisierung versus Parlamentarisierung Die Entstehung des modernen parlamentarischen Regierungssystems ist historisch eng mit dem Aufstieg großer Volksparteien und der Schaffung des allgemeinen Wahlrechts verbunden. Sie sollten die erwähnte Einbindung der Massen gewährleisten. Ihre Ausrichtung entlang der Konfliktachse Wirtschaft-Soziales war wiederum Ansatzpunkt für eine Gesamtstabilisierung des politischen Systems nach 1945. Dementsprechend wurden Verfassungen und parlamentarische Geschäftsordnungen auf ein Regieren mit stabilen Mehrheiten ausgelegt.7 Damit wird auch verständlich, warum die Zunahme von politischen Parteien (Fragmentierung) und die Polarisierung der Parteimeinungen als eine der größten Herausforderungen für dieses System angesehen wird. Sie tragen das Risiko in sich, dass sich keine stabilen Mehrheiten finden oder die Verfahrensabläufe nicht mehr funktionieren (können).8 Die starke Mehrheitsausrichtung führt zugleich dazu, dass die Wahl des Parlaments in der Strategie der Parteien ebenso wie in der allgemeinen Wahrnehmung zu Regierungswahlen stilisiert wird. Im Grunde ist dies nichts Neues  : Schon der Klassiker »realistischer Demokratietheorie«, Walter Bagehots »The English Constitution« betonte 1867 die Vorrangstellung der Regierung und deren Stützung durch die Parlamentsmehrheit. Dennoch sollte das Parlament eine zentrale Stellung für die Kommunikation nach innen und außen (»expressive, reaching, informing«) und für das Treffen von Entscheidung haben. Im Kontext der wachsenden Personalisierung des politischen Wettbewerbs wird dieses 6 Siehe dazu im Überblick  : Müller, Jan-Werner (2013), Das demokratische Zeitalter – Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin. 7 Dies schließt Minderheitsregierungen nicht per se aus. Es erhöht aber das permanente Risiko des Scheiterns. Wo das politische System an Minderheitsregierungen angepasst ist, sind z. B. Antragsrechte im Gesetzgebungsverfahren oder beim Beschluss des Staatsbudgets eingeschränkt (z. B. in Schweden). 8 Siehe für Österreich  : Konrath, Christoph (2017), Parlamentarische Opposition in Österreich, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2017 (3), S. 557–574.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

Zusammenspiel jedoch aufgegeben, weshalb von einer »Präsidialisierung« parlamentarischer Regierungssysteme gesprochen wird. Demokratische Mitentscheidung läuft dann darauf hinaus, bloße Bestätigung (oder Abwahl) zu sein, Kommunikation soll gesteuert und auf Ergebnisse fokussiert sein.9 Andererseits findet sich im parlamentarischen Regierungssystem die Gegentendenz zur Präsidialisierung. Die enge Verbindung zwischen Parlament und Regierung kann (immer wieder) auch als Anknüpfungspunkt zur Parlamentarisierung, also zur Stärkung des Parlaments, genutzt werden. Dies kann den Zweck demokratischer Rückversicherung und Vertrauensbildung haben, birgt jedoch zugleich das Potential, dem grundsätzlich informellen Verhandlungsprozess der Regierung den formalisierten und auf Öffentlichkeit ausgerichteten parlamentarischen Beratungsprozess entgegenzustellen. Angesichts dieser unterschiedlichen Ziele und der in der institutionellen Architektur angelegten Risiken ist das parlamentarische Regierungssystem darauf angewiesen, dass die Akteure Kompromiss- und Konsensbereitschaft aufweisen. Sie müssen, wie der österreichische Jurist und Rechtsphilosoph Hans Kelsen seit der Zwischenkriegszeit betont hat, bereit sein, Meinungs- und Institutionenvielfalt zu achten und Minderheitspositionen mitzudenken und zu schützen. 7.2.5 (Öffentliche) Verwaltung Die Verwaltung – oder präziser die öffentliche bzw. staatliche Verwaltung – ist überall präsent, aber dennoch schwer zu fassen. Allgemein wird diese als jede Tätigkeit des Staates außerhalb von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierung definiert.10 Diese Definition kann (abgesehen davon, dass sie nur negativ erfolgt) auf jede Art Staatsverwaltung unabhängig von der Regierungsform übertragen werden. Für unsere Zwecke kommt es aber darauf an, Verwaltung im Kontext von Demokratie zu verstehen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel11 hat hierfür Grundfunktionen und Begrenzungen formuliert, an die ich mich anschließen möchte  : Verwaltung ist demnach die Vollziehung der Beschlüsse von Parlament und Regierung in möglichst genauer und effizienter (ressourcenschonender) Weise. Da Verwaltung in vielfacher Hinsicht eigenständig agiert (weil z. B. nicht jede Handlung politisch überblickt und autorisiert werden kann), muss sie in einer Demokratie, die sich   9 Ausführlich dazu Rosanvallon, Pierre (2016), Die gute Regierung, Hamburg. 10 Vgl. Mayer, Otto (1924), Deutsches Verwaltungsrecht, Berlin, S. 7. 11 Vgl. Seibel, Wolfgang (2016), Verwaltung verstehen, Berlin, S. 18 ff.

171

172

| 

Christoph Konrath

darauf gründet, dass es keine verantwortungsfreien Räume des Staates gibt, verantwortlich handeln. Verwaltung wird auf diese Weise mit zwei großen Herausforderungen konfrontiert, die sie zugleich in ihrem Handeln bzw. im Zugriff von außen begrenzen  : Sie muss als große Institution so handeln, dass sie einerseits ihren durch Verfassungen und Gesetze festgelegten Aufgaben verpflichtet bleibt (und diese z. B. nicht aus politischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten ablehnt). Dies erfordert einen Ausgleich zwischen Aktivitäten, die nach innen gerichtet sind, um Stabilität und Kontinuität zu wahren, und solchen, die eine Verselbständigung der Verwaltung gegenüber politischer Leitung und öffentlicher Kontrolle fördern könnten. Andererseits muss sie ihr Handeln verantwortlich nach außen kommunizieren. Dementsprechend muss ihr Handeln grundsätzlich nachvollziehbar und transparent sein. Damit ist die Öffentlichkeit jedenfalls miteinzubeziehen, und zwar – je nach Sachfrage – von Information über Konsultation bis zur aktiven Beteiligung. 7.3 Entwicklungslinien 7.3.1 Kontinuität und Veränderung Das Interesse an Ausgleich und Stabilisierung im parlamentarischen Regierungssystem zeigt sich in der langen Geschichte einzelner Elemente und ihrer nur schrittweisen Weiterentwicklung. So reichen die Ursprünge vieler parlamentarischer Regeln weit zurück, und die grundlegenden Rechtstexte wurden oft Mitte des 19.  Jahrhunderts formuliert. Die maßgeblichen Theorien gehen auf das 18. Jahrhundert zurück. In Österreich sind bis heute Kelsens Schriften aus den 1920er  Jahren Referenzpunkt des Verfassungsrechts. Bei Beschreibungen und theoretischen Begründungen führt das aber oft zu Widersprüchen oder zu Elementen, die sich nur schwer erklären lassen. Der Politikwissenschaftler Gerhard Loewenberg spricht in diesem Zusammenhang von »Paradoxien des Parlamentarismus«, die daher kommen, dass eine im Mittelalter entstandene Institution an den modernen Staat angepasst wurde.12

12 Vgl. Loewenberg, Gerhard (2007), Paradoxien des Parlamentarismus. Historische und aktuelle Gründe für Fehlverständnisse in Wissenschaft und Öffentlichkeit, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2007 (4), S. 816–827.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

7.3.2 Tugenden und Ideale Wenn von der historischen Entwicklung der parlamentarischen Demokratie gesprochen wird, kommen viele auf die Demokratie im antiken Athen. Diese hat aber als Versammlungsdemokratie einer relativ kleinen Bürgergruppe wenig mit modernem Parlamentarismus und Rechtsstaat zu tun (siehe Kapitel 2). James Madison, einer der Gründerväter der USA und späterer Präsident, hat in den Debatten über die Verfassung der USA ausdrücklich vor dem antiken Beispiel gewarnt. Er sah Versammlungen und direkte Demokratie als anfällig für Demagogie an und fürchtete, dass ungezügelte Leidenschaften den Fortbestand der Demokratie gefährden würden.13 Viele assoziieren Parlamentarismus dennoch mit der Antike, weil bedeutende Parlamentsgebäude in antiken Stilformen gebaut sind. Deren Zeitlosigkeit und Erhabenheit hat jedoch wenig mit der athenischen Demokratie (die im Übrigen größtenteils unter freiem Himmel ausgeübt wurde), dafür umso mehr mit den Vorstellungen und Traditionen guter und tugendhafter Politik und Regierung zu tun, die fast ununterbrochen an antike Vorbilder anknüpften.14 7.3.3 Persönliche Beziehungen und Staatsbildung Bis zur Gründung moderner Flächenstaaten, die ab dem späten 16.  Jahrhundert einsetzte, war Herrschaft vor allem durch persönliche Beziehungen von Adel, Kirchenvertretern und (autonomen, also selbständigen) Gemeinden geprägt. Diese Stände bildeten das Land.15 Ihr Selbstverständnis drückt sich in Österreich bis heute in den prächtigen Landhäusern des 16. Jahrhunderts von Graz, Klagenfurt, Linz und Wien aus. An diesen Orten kamen sie zusammen, um miteinander und den Landesherren – wenn auch unregelmäßig – zu beraten. Auch wenn bei der Schaffung von Parlamenten im 19. Jahrhundert vielfach Anleihen beim englischen System (siehe 7.3.4) genommen wurden,16 so blieben die Traditionen der Ständeverfassungen für das sogenannte Zeitalter der kons13 In den Federalist Papers (No. 55) schrieb er  : »Had every Athenian citizen been a Socrates, every Athenian assembly would still have been a mob.« 14 Vgl. Mantl, Wolfgang (1975), Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt, Wien, S. 76 ff. 15 Siehe dazu Mitterauer, Michael (2004), Warum Europa  ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München, S. 109 ff. 16 Siehe zu den vielen Büchern, die dazu in Europa erschienen sind, nur Redlich, Josef (1905), Recht und Technik des englischen Parlamentarismus, Leipzig.

173

174

| 

Christoph Konrath

titutionellen Monarchie (in der die absolute Herrschaft des Monarchen durch eine Verfassung geregelt und damit beschränkt wurde) vorrangige Anknüpfungspunkte.17 Dies zeigt sich etwa daran, dass die Einberufung von Parlamenten (wie zuvor jene der Stände) von der Entscheidung des Monarchen abhing. Auch das »Beraten« durch die Stände wirkt in der Bezeichnung mancher Parlamente als »Rat« nach (wie dem Nationalrat und dem Bundesrat in Österreich). Es zeigt sich ebenso in der Frage der Beziehung zwischen Parlament und Regierung (Über-/Unterordnung  ; Unterstützung/Verhinderung), dem Spannungsfeld zwischen Parlamentarismus (Auswahl und Distanz) und Demokratie (in ihrer unmittelbaren Form).18 Im Unterschied zur Entwicklung des Parlamentarismus ist jene der Verwaltung von einer Abkehr von ständischen Einflüssen geprägt. Neben der (oft schwachen) Zentralverwaltung bestanden zahlreiche ständische Behörden und somit eine (zumindest) verdoppelte Verwaltungsorganisation. Mit der Ausbildung des Flächenstaats (im Unterschied zum Personenverband) ging nämlich der Aufbau einer starken Zentralverwaltung und eines Beamtenapparats einher. Dieser sollte unter staatlicher Aufsicht stehen und im Interesse des Gesamtstaats ein einheitliches (und nicht mehr partikulares) Staatsbewusstsein schaffen.19 7.3.4 Der englische Parlamentarismus als Vorbild In durchaus ähnlicher Weise ist auch das moderne parlamentarische System von dem Gedanken getragen, dass sich BürgerInnen auf Verfahren und Institutionen verlassen können und dass sie nicht auf Eigenschaften und das Verhalten Einzelner angewiesen sein sollen. Die Entwicklung dahin ist durch zwei große Linien geprägt. Die erste ist die Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozess der Gesetzgebung. Ausgangspunkt ist das englische Parlament, dessen ursprüngliche Aufgabe – neben der Gewährung von Geldmitteln an den König – in der Rechtsprechung und Rechtsfortbildung lag. Parlamentarismus zwang die Austragung von Macht- und Interessengegensätzen in eine 17 Vgl. Stolleis Michael (2014), Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte, München, S. 55 ff. 18 Vgl. Mantl (1975)  ; Kriele, Martin (2003), Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart, S.  204  ; Loewenberg (2007). 19 Siehe dazu im Überblick am Beispiel Österreichs  : Wiederin, Ewald (2010), Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht. Österreich, in  : Von Bogdandy, Armin, et al. (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band 3, Verwaltungsrecht in Europa. Grundlagen, Heidelberg, S. 187–228.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

durch Verfahrensregeln geleitete Auseinandersetzung, die in einer verbindlichen Entscheidung mündet. Damit ging eine Disziplinierung einher, und es kam (mit der Zeit) nicht mehr allein auf persönliche Beziehungen oder Durchsetzungskraft im Augenblick an. Rederechte, Redeordnung und Antragsrechte haben ihr Vorbild im Gerichtsprozess. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass es keinen Dritten gibt, der schiedsrichterlich führt und entscheidet. Daraus folgt zunächst zweierlei  : Parlamente müssen aufgrund des Mehrheitsprinzips entscheiden, und es gibt im parlamentarischen Prozess keine neutrale Instanz.20 Angesichts der Tatsache, dass dieses Modell in vielen anderen Staaten (nicht nur Europas) übernommen wurde, folgt daraus aber die Frage, warum dies in England über Jahrhunderte funktioniert hat und warum es in vielen europäischen Staaten schon nach wenigen Jahren oder Jahrzehnten durch die Diktaturen der Zwischenkriegszeit abgelöst wurde. Die Auseinandersetzung mit dem Parlamentarismus kann sich damit nicht auf Regelungsmodelle beschränken, sondern muss sich stets auch mit ihrer konkreten Umsetzung, der politischen Kultur sowie dem Medien- und Bildungssystem einer Gesellschaft befassen. 7.3.5 Herrschaft des Gesetzes Die zweite große Linie ist die Vorstellung der Herrschaft des Gesetzes. Sie ist durch die Tradition der französischen Aufklärung und der französischen Revolution geprägt. Anstelle des persönlich und absolut herrschenden Königs sollte das unpersönliche und objektiv begründete Gesetz treten. Seine Grundlage sollte auf den allgemeinen Willen des Volkes zurückgeführt werden können. Alle Funktionäre des Staates sollten ausschließlich den Willen des Gesetzes erfüllen. Nach dieser Auffassung wäre Regierung, Verwaltung, aber auch Gerichten alles Handeln genau vorgegeben und ihre eigenen Auslegungs- und Entscheidungsmöglichkeiten weitestgehend eingeschränkt.21 Die Herrschaft des Gesetzes muss jedoch nicht vom Volk her gedacht werden. Gerade in der österreichischen und deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts wird deutlich, dass sie auch »von oben« und im Interesse von Herrschaftssicherung erfolgen kann. Mit der Schaffung einer zentralen Verwaltung ging das Bemühen einher, diese auch einheitlich zu regeln. Dies erfolgte durch die Schaffung neuer Gesetze und eine verbindliche Ausbildung, die ihren Schwerpunkt auf einen genauen Vollzug der Gesetze legte. Die Betonung der Rechtsförmigkeit und die Einführung von Verwal20 Vgl. Kriele (2003), 205 ff. 21 Vgl. Rossanvallon (2016), 35 ff.

175

176

| 

Christoph Konrath

tungsgerichtshöfen führte jedoch in Konsequenz dazu, dass Herrschaft durch Recht zur Herrschaft des Rechts im Sinne moderner Rechtsstaatlichkeit werden konnte.22 Die grundlegenden Vorstellungen von Recht als Instrument wirken bis heute nach, wenn es darum geht, die Rolle von Parlament und Regierung im Gesetzgebungsprozess und das, was Gesetze leisten sollen, zu beschreiben (siehe 8.4.3). Sie wirken auch in den Erwartungen an staatliche Institutionen nach, wenn Verwaltung und Gerichte nur genau das tun sollen, was ihnen durch Gesetz aufgetragen ist. Offen bleibt dabei, wie mit Texten umzugehen ist, die nicht jeden Einzelfall vorhersehen können (und so sind Gesetze nun einmal) und die damit auslegungsbedürftig sind. Offen bleibt auch, welchen Platz Meinungsverschiedenheiten und Parteien in einem solchen Modell haben, das ganz auf Einheit ausgerichtet ist. 7.3.6 Regierungskunst und effizientes Entscheiden Solche maßgeblichen Schritte der Prozeduralisierung und Institutionalisierung, die weitere theoretische und praktische Entwicklungen prägen, fehlen für den Bereich der Regierungen. Hier dominierte die Frage nach Persönlichkeit, Talent, Strategie und individueller Bildung. Bis heute bringt dies der zumindest in Teilen vielzitierte Vortrag des Soziologen Max Weber »Politik als Beruf« aus 1919 zum Ausdruck (»Politik ist das Bohren harter Bretter …«). Weber führte in vieler Hinsicht Überlegungen des schon erwähnten Bagehots (siehe 7.2.4) fort und setzte damit Impulse für das Verständnis von (demokratischem) Regieren im 20. Jahrhundert  : Es geht um das Treffen verbindlicher Entscheidungen über Fragen, über die es in pluralistischen und dynamischen Gesellschaften keine gemeinsame Meinung gibt. Während die Entwicklung von Parlamenten durch den Ausbau von Verfahren geprägt ist, erfolgte jene des Regierens zunehmend mit Blick auf Ergebnisse. Wenn heute von »gutem Regieren« gesprochen wird, stehen vor allem Erfolg und Effizienz (output) im Vordergrund. Erst dann kommen Transparenz und Nachvollziehbarkeit, während andere Verfahrensregeln (input) in den Hintergrund treten.23 Diese Entwicklung ist von ebenso großer Bedeutung für die Verwaltung. Während ihre Entwicklung lange durch die »Herrschaft 22 Siehe dazu nochmals im Überblick  : Wiederin (2010)  ; sowie Biegelbauer, Peter, et al. (2014), Die wissenschaftliche (Nicht-)Beschäftigung mit der Verwaltung und ihrem Verhältnis zur Politik in Österreich, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2014 (4), S. 349–365. 23 Vgl. dazu beispielhaft Weiler, Joseph (1999), The Constitution of Europe. »Do the New Clothes Have an Emperor  ?« and Other Essays on European Integration, Cambridge.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

des Gesetzes« geprägt war, hat sich ihre Steuerung immer mehr auf die Erreichung von Zielen und Wirkungen verlagert (siehe 9.2.3). 7.3.7 Herrschaft und Souveränität Mit der Regierung steht noch eine weitere zentrale Frage staatlicher Herrschaft in Verbindung  : Wer soll den Staat vertreten und repräsentieren, wer soll souverän handeln können  ? Seit den »Politiques« im Frankreich des 16. Jahrhunderts und Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert geht es darum, ob Souveränität, also unbeschränkte Entscheidungsgewalt, dem Staat (als Gesamt der Staatsorgane und des Rechts) oder dem Souverän (einer Person oder Personengruppe) zukommen soll. Auch wenn der Verfassungsstaat diese Frage  – nach innen  – beantwortet hat, bleibt sie in politischen Auseinandersetzungen und Vorstellungen aktuell  : Im Verfassungsstaat gibt es keinen unbeschränkten Souverän mehr  : Weder ein König noch ein Präsident noch eine Regierung noch das Volk stehen über dem Recht und haben unumschränkte Befugnisse. Die Herausforderung der Verbindung von persönlicher Führung (insbesondere durch die Regierung) und Institutionalisierung bleibt aber auch hier. 7.4 Orte und Bilder 7.4.1 Distanz und Zugänglichkeit Die Darstellung von Entwicklungslinien des parlamentarischen Regierungssystems hat mehrfach auf Orte und Gebäude Bezug genommen. Jedes politische System kennt (jedenfalls bis heute) Orte, an denen seine Ideale ebenso wie Macht und Herrschaft sichtbar werden. Parlamentarismus basiert darauf, dass diese Orte zugleich herausgehoben und zugänglich sind. Sie sollen herausgehoben sein, weil erst Distanz Freiheitsräume für Nachdenken, Ausdruck vielfältiger Meinungen, Beratung und freie Entscheidungen verschaffen kann.24 Das Gegenmodell ist, wie es der schon erwähnte Madison (siehe 7.3.2) formuliert hat, das Risiko der Vereinnahmung durch die Lauten und Übergriffigen. Das Herausheben gibt demokratischen Vorgängen einen Ort, an dem man einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen muss und für den besondere Regeln im Umgang miteinander gelten. Im parlamentarischen System muss dieser Ort zugänglich sein. Das heißt, dass es jeder und jedem möglich 24 Vgl. Möllers, Christoph (2008), Demokratie. Zumutungen und Versprechungen, Berlin. S. 40 f.

177

178

| 

Christoph Konrath

sein muss, zu wissen, was dort passiert, und als ZuschauerIn dabei sein zu können. Zugänglich meint ebenso den Auftrag an demokratische Institutionen, ihre Tätigkeit verständlich und nachvollziehbar zu gestalten, zu erklären, was sie tun und wie sie es tun. In totalitären Systemen (und in dystopischen Romanen von Franz Kafka bis William Gibson) dominiert hingegen selbst bei Fortbestand von zentralen Orten die Omnipräsenz politischer und staatlicher Macht, gerade weil sie nicht immer sichtbar ist und jedeR ein Agent des Staates sein könnte. 7.4.2 Verpflichtung zur Öffentlichkeit Im parlamentarischen Regierungssystem ist das Parlament der Ort, an dem Debatten und Entscheidungen öffentlich werden müssen. Hier ist die Regierung verpflichtet, zu kommen, Rede und Antwort zu stehen und sich den parlamentarischen Verfahrensregeln zu unterwerfen. Dies ist von so großer Bedeutung, weil es für den Bereich der Regierungen und Verwaltungen keine Tradition (und Theorie) der Öffentlichkeit und geregelten Debatte gibt. In den Auseinandersetzungen über Wissen und Repräsentation gehen Regierungen vielmehr von ihrer Macht aus, zu bestimmen, was sie wie, wann und wo präsentieren. Deutlich wird dies am Regieren unter digitalen Bedingungen, in denen die Schaffung eigener Informationskanäle zu einem wesentlichen Element geworden ist. Regierungen sind nicht an die Zeitplanungen der Parlamente gebunden und können ihre Kommunikation im Unterschied zu diesen frei und flexibel gestalten. Damit können sie die parlamentarische Beratung infrage stellen und letztlich sinnlos erscheinen lassen (siehe noch 8.2.2. und 8.4.2). 7.4.3 Bilder von Politik Es geht aber nicht nur um die Existenz des Ortes, entscheidend ist auch seine Gestaltung. Der britische Politiker Winston Churchill hat dies in seinem Plädoyer für den Wiederaufbau des Parlamentsgebäudes in London nach dem 2.  Weltkrieg so zusammengefasst  : »First we shape our buildings and then they shape us.« Hier wird zunächst angesprochen, welches Bild Gebäude und Räume vermitteln, an welche Geschichte sie anknüpfen. Dann geht es um den Aufbau  : Wie sitzen Abgeordnete und Regierung  ? Wird am eigenen Platz oder am Rednerpult gesprochen  ? Wo sitzen die BesucherInnen  ? Dies alles hat Auswirkungen darauf, wie man einander begegnet und welches Bild von Politik damit vermittelt wird.25 25 Dies kann für und gegen den Parlamentarismus eingesetzt werden. Berühmt wurde in diesem

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

Mit »Shaping us« kann aber auch gemeint sein, was viele PolitikerInnen erleben, wenn sie ein Amt antreten. Sie berichten, wie ihnen erklärt wurde, wie »es hier ablaufe«, und dass »man sich hier so zu verhalten habe«. Ebenso wie die Öffentlichkeit erleben sie Ritualisierung und Erstarrung. Während es in Gemeinden, Schulen oder in Unternehmen schon längst üblich geworden ist, neue Formen der Beratung und Entscheidungsfindung auszuprobieren, scheint dies an den zentralen Orten der Politik unmöglich zu sein.26 Wenn Regeln zu Ritualen erstarren, kann das Verständnis für ihre Potentiale und ihren Sinn verloren gehen, und sie werden auf Hindernisse oder taktische Spielereien reduziert. Ihre Grundintention, Emotionen zu mäßigen, Zeit und Möglichkeiten der Beratung zu sichern und die Kompromissfindung zu befördern, geht dann verloren (siehe noch 8.3.7).27 7.4.4 Bürgerferne und Bürgernähe Die singuläre Stellung von Parlamenten und Regierungen trägt (bei allen Vorteilen, die für sie ins Treffen geführt werden) das Risiko der Entfernung und Abschottung von den »täglichen« Erfahrungen in sich. Ähnliches wurde (und wird nach wie vor) mit Blick auf die Verwaltung behauptet. Dennoch gibt es hier einen wesentlichen Unterschied, denn der Staat ist durch die Verwaltung überall präsent. Diese Präsenz hat sich unter den Bedingungen des Ausbaus des Verwaltungs- und Leistungsstaats einerseits und jenen einer konsum- und serviceorientierten Gesellschaft andererseits signifikant gewandelt  : Unter dem Leitbild von Zusammenhang ein Bildband zur Weimarer Republik, der Fotos und Texte mit dem Ziel verband, die parlamentarische Demokratie zu diskreditieren und dessen Bild- und Textsprache teilweise bis heute weiterwirkt  : Jünger, Friedrich Georg/Schultz, Edmund (1931), Das Gesicht der Demokratie. Ein Bilderwerk zur Geschichte der deutschen Nachkriegszeit, Leipzig. 26 Ein Beispiel hierfür ist die Enquete-Kommission des Nationalrates zur Stärkung der Demokratie in Österreich 2014/2015. Daran haben acht zufällig ausgewählte BürgerInnen teilgenommen, die ihre Eindrücke in einer Stellungnahme zum Bericht geschildert haben. Siehe 791 BlgNR XXV. GP, Anlage A. Siehe dazu auch Konrath, Christoph (2016), Demokratiereformprojekte und nachhaltige Weiterentwicklung von Demokratie, in  : Diendorfer, Gertraud/Welan, Manfried (Hg.), Demokratie und Nachhaltigkeit, Innsbruck/Wien/Bozen, S. 59–79, hier 67 f. 27 Sie können damit eine Vorbildwirkung für politisches Engagement in der Gesellschaft haben und Verständnis und Wissen fördern. Dies wurde besonders am Beispiel der USA erforscht. Siehe Putnam, Robert (2000), Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York, oder Appelbaum, Yoni (2018), Americans aren’t Practicing Democracy Anymore, in  : The Atlantic Oct 2018, [https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2018/10/losing-the-democratic-habit/568336/], eingesehen am 06.10.2019.

179

180

| 

Christoph Konrath

Governance soll die Verwaltung zum Knotenpunkt von Staat, Markt und Gesellschaft werden und so Distanz auflösen. Aus bürokratischen Apparaten sollen bürgernahe Ansprech- und Servicestellen des Staates werden. Dies scheint vielen hoch an der Zeit, zumal wenn wir an das Bild verstaubter Amtsstuben denken, das im medialen und politischen Diskurs ständig präsent ist. Governance und Bürgernähe sind dabei jedoch ambivalente Konzepte. Wenn von vereinfachten Verfahrensabläufen, Erreichbarkeit und Digitalisierung die Rede ist, geht es in erster Linie um klassische Themen der Kundenorientierung und inneren Organisation. Damit werden die Kundenbeziehung und die Erfüllung der Kundenbedürfnisse zum Leitbild der Beziehungen zwischen Staat und BürgerInnen, und Effizienz- und Erfolgsorientierung zu jenem der internen Organisation. Dies steht jedoch in Spannung zu den Leitbildern demokratischer Bürgerschaft, die gerade nicht auf der Logik von Kundenbeziehungen aufbauen.28 Bürgernähe oder bürgernahes Entscheiden kann auch bedeuten, dass Verwaltung – im Sinne des Netzwerkgedankens von Governance – dialogisch vorgeht und den Austausch und Ausgleich mit BürgerInnen sucht. Damit entstehen aber wiederum Spannungen zur (unverändert bleibenden) hierarchischen, auf Durchsetzung angelegten Organisation und zu politischen Entscheidungsprozessen und politischer Verantwortung, auf die wir noch mehrfach zurückkommen werden (siehe vor allem 9.2). 7.5 Repräsentation 7.5.1 Was bedeutet Repräsentation  ? Moderne Parlamente haben sich aus den Ständeversammlungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit entwickelt (siehe 7.3). Hier war niemand Vertreter eines anderen, sondern es sprach jeder für sich selbst. Mit der Herkunft waren Erwartungen an Rollen und Verantwortung verbunden. Mit der Entwicklung des modernen Staats, die ab dem 16. Jahrhundert einsetzt und zunächst zum Absolutismus führte, brauchte es neue Vorstellungen. Am bemerkenswertesten sind sie im Titelbild des »Leviathan«, der 1651 erschienenen politischen Philosophie von Thomas Hobbes zum Ausdruck gebracht  : Ein König, dessen Leib und Glied­ maßen aus unzähligen Menschen besteht. Der König bildet nicht mehr (wie 28 Siehe dazu im Überblick  : Konrath, Christoph/Zleptnig, Stefan (2004), BürgerInnennähe, Transparenz und Vereinfachung. Leitbegriffe des Österreich-Konvents  ?, in  : Forum Parlament 2004 (2), S. 67–71.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

zuvor die Stände) das Land, sondern er handelt an dessen Stelle. Er repräsentiert oder vergegenwärtigt es. Damit wird ein Konzept aus der Philosophie übernommen, das die Auseinandersetzung mit Erkenntnis und Sprache maßgeblich prägt. Hierbei geht es um die Frage der Vergegenwärtigung und Abbildung von etwas, das nicht unmittelbar gegeben ist. Die damit verbundenen Probleme der Vermittlung und des Denkens in Metaphern verstärken sich, wenn das Konzept auf das Handeln eines oder vieler Menschen übertragen wird. Schon das Bild von Hobbes macht klar, dass es nicht um eine tatsächliche Vergegenwärtigung aller geht, sondern um die Erhebung eines Anspruchs, der – in einem festzulegenden Rahmen – in eigener Verantwortung ausgeführt wird. Die Komplexität nimmt zu, wenn Repräsentationsaufgaben auf ein Parlament übertragen werden, das aus einer Vielzahl an Menschen besteht. Handelt es sich bei diesen um Delegierte, also Personen, die bestimmte Interessen vertreten und durchsetzen sollen  ? Oder ist das Parlament (weitergedacht im Sinne des Bildes von Hobbes) etwas ganz Neues, das von den Personen, die es bilden, unterschieden werden muss  ?29 7.5.2 Ist Repräsentation nur eine Fiktion  ? Eine der Antworten darauf ist, dass Parlamentarismus eben auf eine hinreichend homogene Bevölkerung angewiesen sei (im Übrigen ein Argument, das auch heute gebraucht wird, um dem Europäischen Parlament seine Qualität als Parlament abzusprechen), um so dessen Willen unzweifelhaft wiedergeben zu können. Kelsen zählt zu jenen, die dieses Argument scharf zurückgewiesen haben, weil das Volk gar kein Organ bilde und über kein Verfahren verfüge, in dem ein solcher Wille formuliert werden könne. Das Parlament treffe vielmehr seine Entscheidung in Vertretung des Volkes. Repräsentation sei daher eine Zurechnung oder Fiktion, so Kelsen.30 7.5.3 Legitimation, Freiheit und Verantwortung Dennoch haben sich Kelsen und viele andere für die Beibehaltung dieses Konzepts ausgesprochen. Die Philosophin Hanna Pitkin hat die Funktion seiner Wi29 Dies ist die berühmte Frage, die der englische Autor und Politiker Edmund Burke 1790 gestellt und folgendermaßen beantwortet hat  : »You choose a member, indeed  ; but when you have chosen him he is not a member of Bristol, but he is a member of Parliament.« 30 Vgl. Kelsen, Hans (1929), Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen, S. 30 ff.

181

182

| 

Christoph Konrath

dersprüchlichkeit betont  :31 Die Paradoxien und der Bedeutungsüberschuss (also die Mehrdeutigkeit und die – auch unerfüllbaren – Ansprüche) seien das, was Repräsentation zu einem zentralen Element von Parlamentarismus mache. Sie sichert zunächst  – ganz formal  – die Berechtigung, ein Amt auszuüben. Dies drückt sich am stärksten darin aus, dass jemand in ein Amt gewählt wird und damit das Recht (oder die Erwartung verbunden ist), für sich und für andere zu sprechen. Repräsentation sichert zugleich die Autonomie des Repräsentanten, der Entscheidungen aufgrund seiner Vorstellung der Interessen anderer trifft  : Ebenso sichert sie aber die Autonomie der Repräsentierten, die die Tätigkeit der Repräsentanten anhand ihrer Präferenzen beurteilen. Damit wird deutlich, dass Repräsentation etwas anderes als ein Auftragsverhältnis ist. Wenn von Repräsentation gesprochen wird, kann das, so betont der Jurist Christoph Möllers, Demokratie davor bewahren, auf »Alternativlosigkeit«, Effizienz oder den Nachvollzug momentaner Stimmungslagen, also vermeintliche Eindeutigkeit reduziert zu werden.32 Repräsentation ist kein Spiegelbild, sondern ein wechselseitiges Verhältnis. Hier trifft sich die Theorie wiederum mit der historischen Entwicklung  : Offene Beratung und Entscheidung, der Anspruch, für allgemeine Interessen zu sprechen, konnten erst dann funktionieren, als alle Beteiligten über ein ausreichendes Maß an Freiheit dafür verfügten. Hieraus hat sich das Modell des freien Mandats (siehe Kasten) entwickelt. Und auch die Entwicklung des Parlamentarismus hätte nicht funktioniert, wenn Parlamente nicht ihren Anspruch auf Repräsentation gegenüber der Exekutive betont und eingefordert hätten.33 Repräsentation beschreibt eine durchaus riskante Beziehung, auf die nicht unmittelbar eingewirkt werden kann. WählerInnen können in der Regel Abgeordnete nicht einfach abberufen. Repräsentation ist daher auf Vertrauen in die RepräsentantInnen angewiesen. Dies setzt verantwortliches Handeln und Möglichkeiten der Kontrolle voraus. Von RepräsentantenInnen kann erwartet werden, dass sie eigenes Handeln begründen und offenlegen können. Repräsentation als eine besondere Form der Beauftragung ist auf Gesprächsbereitschaft und Kontrolle ausgelegt. Wenn sie als Beziehungsverhältnis Bestand haben will, kann sie auf Dauer nicht nur formal begründet werden (»Ich bin gewählt und mache jetzt.«), sondern ist auf eine ethische Grundhaltung angewiesen.

31 Vgl. Pitkin, Hanna (1972), The Concept of Representation, Berkeley. 32 Vgl. Möllers (2008) S. 34 f.. 33 Dies zeigt Rittberger, Berthold (2008), Building Europe’s Parliament. Democratic Representation Beyond the Nation-State, Oxford, am Beispiel der Entwicklung des europäischen Parlaments.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

Das freie Mandat Das freie Mandat der Abgeordneten zum Nationalrat und der Mitglieder des Bundesrates ist seit der Stammfassung des B-VG unverändert in Art. 56 Abs. 1 geregelt und lautet  : »Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.« Im Unterschied zum deutschen Grundgesetz, wo von Vertretern des ganzen Volkes und dem Gewissen die Rede ist, ist diese Formulierung nüchtern und pragmatisch. Das freie Mandat hat sich in den Ständeversammlungen und Delegationen der frühen Neuzeit entwickelt. Sie konnten nur dann zu einem Ergebnis gelangen, wenn die Vertreter die Vollmacht hatten, selbständig zu verhandeln und zu entscheiden. Die Formulierung der Grundsätze erfolgte im späten 18. Jahrhundert., als sich die modernen Parlamente entwickelten, und es ist heute in allen europäischen Demokratien verankert. Seine Entwicklung ist in einer Zeit geprägt worden, in der es noch keine politischen Parteien im modernen Sinn gab. Mit der Etablierung von Massenparteien und Listenwahlrechten hat sich die Frage gestellt, ob und wie das freie Mandat für Abgeordnete gelten soll, die nicht unmittelbar als Person gewählt sind, und die vielfach von der Zusammenarbeit innerhalb einer Partei oder Fraktion abhängen. Dabei ist auch zu beachten, dass das freie Mandat ebenso wie die starke Stellung der politischen Parteien auf derselben Stufe in der Verfassung geregelt sind. Das freie Mandat sichert die rechtliche Unabhängigkeit der Abgeordneten von Aufträgen des ganzen Volkes, einzelner Wählergruppen und Aufträgen der Partei (z. B. in Form eines Vertrags). Aus der verfassungsrechtlichen Regelung folgt, dass von staatlicher Seite keine rechtlichen Sanktionen vorgesehen werden dürfen, um eine/n Abgeordnete/n zum Gehorsam gegenüber Klub, Partei oder Dritten zu verpflichten. Der VfGH hat sich zwischen 1958 und 1970 in mehreren Entscheidungen mit dem freien Mandat befasst, die seither unangefochtene Grundsätze bilden. Demnach sind Abgeordnete vor dem Mandatsverlust geschützt, wenn sie aus der Partei ausgeschlossen werden. Ebenso sind Blankoverzichtserklärungen verboten, mit denen Abgeordnete sich verpflichten, bei Parteiausschluss ihr Mandat zurückzulegen. In Rechts- und Politikwissenschaft wird das freie Mandat vor allem in seiner Funktion als Sicherung innerparteilicher Opposition gesehen, da Widerspruch nicht automatisch zu Mandatsverlust führt. Zugleich gilt es als wesentliches Element dafür, Abgeordnete verantwortlich zu halten. Sie müssen für ihre Entscheidungen einstehen und können nicht darauf verweisen, dass ihnen jemand anderer den Auftrag erteilt hätte, so zu handeln.

7.5.4 Repräsentationsansprüche Repräsentationsansprüche können (im Unterschied zu formalen Gründen wie einer Wahl) von unterschiedlichen Organen und Gruppen erhoben werden. Sie sind nicht auf das Parlament beschränkt, auch die Regierung kann beanspruchen, die Mehrheit der BürgerInnen zu repräsentieren. Von allen wird dann verlangt, sich mit konkurrierenden Ansprüchen auseinanderzusetzen. Dies betrifft nicht nur

183

184

| 

Christoph Konrath

Überzeugungen einzelner Gruppen (in dem Sinn, dass auch sie repräsentiert sind), sondern es geht auch darum, den Anspruch zu stellen, repräsentativ für die Wahrung der Verfassung und des Gemeinwohls  – also für jene Angelegenheiten, auf die demokratisches Zusammenleben angewiesen ist, zu sprechen. Ebenso kann es darum gehen, den Repräsentationsanspruch über den eigenen politischen Verband zu erheben und z. B. im nationalen Rahmen europäische Anliegen zu formulieren.34 Wir dürfen an dieser Stelle nicht übersehen, dass die Rede von Repräsentation zu Zeiten geprägt wurde, als die Zahl politischer Vertreter klein war (und somit Wähler und Vertreter einander eher kannten) bzw. als die großen politischen Parteien Vertrauen, Zusammenhalt und Rückkopplung ermöglichen konnten. Wenn sich politische Beteiligung ausweitet oder einschränkt und damit auch das Parteiensystem verändert, dann kann es neuer Formen der Vermittlung, Kommunikation und Beteiligung bedürfen (siehe 8.5.4). Die Kritik hieran kann aber grundsätzlicher formuliert werden und fragen, ob Repräsentationsansprüche nicht auf geteilte Eigenschaften und Erfahrungen angewiesen sein müssen. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn Parlamente in ihrer Zusammensetzung die Bevölkerung widerspiegeln müssen. Ein solcher Zugang kann mit guten Gründen infrage gestellt werden, etwa wenn (unter praktischen Gesichtspunkten) auf dafür erforderliche komplexe Wahlverfahren hingewiesen wird, oder wenn eingewandt wird, dass damit Menschen auf einzelne Eigenschaften reduzieren werden. So ein Ansatz kann die Möglichkeit, dass Menschen über sich hinaus denken und handeln können, in Zweifel ziehen. Dies heißt jedoch nicht, dass dieser Einwand unberechtigt ist  : Parlamentarische Demokratie baut auf dem Versprechen allgemeiner Repräsentation auf. Dieses Versprechen wird in Frage gestellt, wenn (wie das im Übrigen für die meisten Parlamente typisch ist) bestimmte Gruppen besonders stark vertreten sind (z. B. Landwirtschaft, öffentlicher Dienst), wenn Männer dominieren (typisch sind 20–35 % Frauenanteil in Parlamenten)35, wenn deutlich wird, dass einzelne Interessen dominieren und andere unsichtbar und unhörbar bleiben. Dann fehlt nicht nur ein formaler Rahmen, um verschiedene Repräsentationsansprüche auszuhandeln. Dann besteht auch das Risiko, dass Kommunikation mit und Vertrauen in ein Parlament in signifikanten Teilen der Bevölkerung verlorengehen (siehe 4.3 und 6.3). 34 Dieser Frage geht etwa Kinski, Lucy (2017), Whom and how to Represent  ? National Parliamentarians and their Patterns of Representation in EU Affairs  : A Comparative Analysis, Dissertation an der Universität Wien, in umfassender Weise nach. 35 Vgl. Interparliamentary Union IPU (2018), Women in National Parliaments, Situation as of 1st December 2018, abrufbar unter [http://archive.ipu.org/wmn-e/classif.htm], eingesehen am 06.10.2019.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

7.5.5 Partizipation, öffentliche Interessen und alternative Legitimationsformen Repräsentation ist eng mit Wahlen verbunden. Dies schließt mit ein, dass eine (auch nur mittelbare) Einflussnahme der Repräsentierten nur sehr selten erfolgt. Daher ist repräsentative Demokratie mit der Forderung konfrontiert, mehr an Einbindung, Beteiligung und Mitbestimmung zu ermöglichen (siehe 4.). Parlamente reagieren darauf nur langsam, und entsprechende Ansätze werden praktisch und theoretisch oft in Frage gestellt (siehe 8.5). Im Zusammenhang mit Wahlen und Einflussmöglichkeiten stellt sich aber noch eine zweite Frage, nämlich ob Parlamente tatsächlich in der Lage sind bzw. sein können, Allgemeininteressen (»öffentliche Interessen«) wahrzunehmen, oder ob letztlich nur einzelne Partikularinteressen artikuliert werden. Beide Kritikpunkte haben vor allem seit den 1970er Jahren zu einer intensiven theoretischen und praktischen Diskussion von (parlamentarischer) Repräsentation geführt. Hierbei wird gefragt, wie demokratische Legitimation von Beratungs- und Entscheidungsprozessen abseits von Parlamenten erreicht werden kann. Dies geschieht auch im Hinblick auf die Verbesserung und Stärkung der Akzeptanz von Entscheidungen und den Ausbau der Wissensgrundlagen dafür (siehe 7.7). Objektive (evidenzbasierte) Faktenbasis kann damit parteilicher Auseinandersetzung gegenübergestellt werden. Ein weiterer (und praktisch besonders bedeutender) Grund für diese Entwicklung ist aber die zunehmende Übertragung von Gestaltungsbefugnissen, die zunächst (oder zumindest intuitiv) von politisch verantwortlichen EntscheidungsträgerInnen auf die Verwaltung übergehen (siehe 7.8). In solchen Prozessen werden (insbesondere dann, wenn Verfahrensregeln und Umgang mit Ergebnissen verbindlich festgelegt sind) große Potentiale zur Weiterentwicklung von demokratischer Beteiligung gesehen (siehe 4.4. und 9.5.3). Dabei ist jedoch das Spannungsfeld zu allgemeinen Formen der Beteiligung und Entscheidung, die durch Parlamente garantiert werden sollen, zu beachten. Das Risiko solcher Beteiligungsprozesse besteht darin, dass »eigene Öffentlichkeiten« geschaffen werden, in denen nur ausgewählte TeilnehmerInnen mitbestimmen und letztlich Entscheidungen bestätigen können, oder dass die Wahrnehmung allgemeiner Interessen auf Privatpersonen verlagert wird.36 36 Diese Entwicklung wurde intensiv im Zusammenhang mit dem Weißbuch der Europäischen Kommission »Europäisches Regieren« 2001 geführt. Vgl. dazu im österreichischen Kontext  : Eberhard, Harald, et al. (2006), Governance. Zur theoretischen und praktischen Verortung des Konzepts in Österreich, in  : Journal für Rechtspolitik 2006 (1), S. 35–60.

185

186

| 

Christoph Konrath

7.5.6 Identität Der dritte (und eigentlich älteste) Einwand spricht die Möglichkeit von Repräsentation überhaupt ab. Wahre Demokratie kann demnach erst bei Unmittelbarkeit und Identität von »Herrschern und Beherrschten« verwirklicht werden. Dieses Modell erscheint attraktiv, da es im Unterschied zum Parlamentarismus dem Ideal der Selbstherrschaft am nächsten zu kommen scheint. Der Preis dafür kann jedoch praktisch und theoretisch nur die Einschränkung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit (im Sinne rechtlicher Beschränkung des Staatshandelns  – siehe 7.3.7) und die Stärkung jener sein, die die Regierung bilden. Denn auch in identitären (und populistischen) Modellen ist nicht vorgesehen, über alles und durch alle abzustimmen. Im Zentrum steht eine Gruppe (i.d.R. die Regierung), die letztlich für sich in Anspruch nimmt, den Willen aller zu kennen.37 7.6 Demokratische Verfahren, demokratische Praxis 7.6.1 Argument und Gegenargument Das Nachdenken über Repräsentation konfrontiert uns mit der Offenheit dieses Konzepts. In der politischen Praxis wird es jedoch oft auf die Abbildung eines »vorhandenen« Mehrheits- oder Wählerwillens (bzw. in der Verwaltung ein feststehendes »öffentliches Interesse«) verengt. Damit können eigene Ansichten und Entscheidungen legitimiert werden. Wenn wir aber an das historische Vorbild des gerichtlichen Prozesses und daran denken, dass sich die Grundlagen des Parlamentarismus vor der Etablierung politischer Parteien entwickelt haben, dann wird der Verweis auf Abbildung von Vorhandenem problematisch. Parlamentarismus sollte ähnlich wie der Gerichtsprozess Debatten ermöglichen, die offen für Argument und Gegenargument sind, und in denen nicht automatisch eine Seite das Ergebnis (die Entscheidung) vorgibt. Eine solche (dialektische) Diskussion fragt nach Gründen für Entscheidungen und trägt somit einen Anspruch auf Sachlichkeit und Kritik in sich.

37 Siehe dazu ausführlich Mantl, (1975)  ; Kriele (2003), 257 ff. Diese Frage ist auch zentral für einen Populismus, der in Anspruch nimmt, für das wahre Volk zu sprechen, vgl. Müller, Jan-Werner (2016), Was ist Populismus  ?, Berlin.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

7.6.2 Willensbildung In politischen Prozessen geht es um Willensäußerung und Willensbildung. Damit ist die Frage angesprochen, ob und unter welchen Umständen es möglich sein kann, dass eine Gruppe einen gemeinsamen Willen findet. Die Frage nach dem »ob« wird in der Philosophie durchaus bejaht, und zwar mit einem Vergleich zur individuellen Willensbildung, die auch nicht einfach »da ist«, sondern aufgrund von Eindrücken, Meinungen und eigenen Überlegungen erfolgt. Wenn viele Menschen aufgefordert sind, einen Willen zu bilden, dann braucht es Kommunikation zwischen ihnen, in der es um die schon genannten Eindrücke etc. geht. Ihr Wille ist dann (vergleichbar mit individueller Willensbildung) aber nicht einfach die Summe aller Eindrücke, sondern das Ergebnis eines Verfahrens, einer gemeinsamen Praxis.38 Vor diesem Hintergrund sind die Regeln und Formalitäten parlamentarischen Regierens nicht bloß Traditionen, sondern sie schaffen (vergleichbar den Gebäuden) den Raum, in dem Willensbildung stattfinden und verbindliche Entscheidungen getroffen werden können. 7.6.3 Zeit Verfahrensregeln sind eng mit der zeitlichen Gestaltung des Verfahrens verbunden – wieviel Zeit ist für die Vorbereitung, die inhaltliche Auseinandersetzung und die Entscheidung da  ? Dies ist auch deshalb so wichtig, weil (trotz aller theoretischen Betonung der sachlichen Auseinandersetzung) parlamentarisches Regieren nicht auf umfassenden und abschließenden, gleichsam alle Fragen beantwortenden Diskurs setzt. Es ist darauf angelegt, Entscheidungen zu treffen, die wieder revidiert werden können. Ein wesentliches Merkmal parlamentarischen Regierens ist folglich auch seine Organisation auf Zeit. Die Funktionsperioden sind begrenzt und sollen eine regelmäßige Rückkopplung mit den WählerInnen zur Erneuerung von Parlament und Regierung ermöglichen. Wenn daher von Entscheidungen gesprochen wird, die sich wieder ändern können, hat das auch damit zu tun, dass sich Mehrheiten ändern. Parlamentarisches Regieren ist dadurch geprägt, dass langfristige Ziele (z. B. auf Umsetzung ideologischer Ziele oder bloß Machterhalt) und kurzfristige Perspektiven abgeglichen werden müssen.39 Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass es im parlamentarischen 38 Vgl. Waldron, Jeremy (1999), The Dignity of Legislation, Cambridge, S. 31 ff.; Möllers (2008) S. 28 f. 39 Vgl. Kriele (2003) S.  229. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des US-Kongress, wo das Mandat im Repräsentantenhaus zwei Jahre, im Senat aber sechs Jahre umfasst.

187

188

| 

Christoph Konrath

Regierungssystem unterschiedliche Funktionsperioden für Parlamente, Staatsoberhäupter, Verfassungsgerichte oder Rechnungshöfe gibt. Dazu kommt das (vor allem für Europa typische) Verständnis der auf Kontinuität ausgelegten Verwaltungsorganisation. Sie alle bilden damit ein Gegengewicht zur Dynamik von Regierung und Parlament. 7.6.4 Meinungsvielfalt und Textbezogenheit Das parlamentarische Verfahren wird durch weitere Besonderheiten ausgezeichnet  : Vielfalt und Textbezogenheit. Parlamente sind, wie bereits mehrfach betont wurde, Orte der Meinungsvielfalt und des geregelten Streits. Der Punkt ist, dass die Meinungsvielfalt durch eine Entscheidung nicht beendet wird. Sie bleibt dokumentiert. Alternativen und andere Lösungswege bleiben möglich. Daher ist auch die Textbezogenheit ein zentrales Element des Verfahrens.40 Sie erst ermöglicht Klarheit darüber, was besprochen und entschieden wird, und sie ermöglicht die verbindliche Bezugnahme auf die Aussagen der VerfahrensteilnehmerInnen.41 So können sie zur Verantwortung gezogen werden. Der Text ist auch entscheidend für den Abschluss des Verfahrens  : Mit Beschluss eines Gesetzes ist es nicht mehr der Text der konkreten AutorInnen, sondern der Willensausdruck des Organs Parlament. Auch das klingt banal, es ist aber ein entscheidendes Element der Gewaltentrennung im Staat  : Sobald es einen Beschluss des Organs gibt, kann nämlich nicht mehr direkt gefragt werden, wie denn etwas zu verstehen sei. Es kann nur mehr der Beratungsverlauf nachvollzogen werden. 7.6.5 Demokratie und Rechtsstaat Die Betonung von Verfahrensfragen ist zum einen wichtig, weil sie die Grundlagen der Institutionalisierung parlamentarischen Regierens schafft und damit Risiken und Gefahren, wie sie etwa Madison gesehen hat, beschränkt. Verfahrensfragen bekommen aber in Staaten wie Österreich, in denen die Entwicklung der Verwaltung und ihrer Begrenzung durch den Rechtsstaat der Demokratisierung vorangeht, besondere Bedeutung. Hier war die Frage zu klären, in welchem Verhältnis Parlamente, und damit die Gesetzgebung, zum Rechtsstaat und zu

40 Vgl. Waldron, Jeremy (1998), Law and Disagreement, Oxford, S. 69 ff. 41 Dadurch werden gerade Parlamentsprotokolle zu einer wesentlichen Grundlage politikwissenschaftlicher Forschung.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

einer hochentwickelten Theorie des Verwaltungsrechts und des rechtsgebundenen Staatshandelns stehen. Die Antwort war die Entwicklung der Stufenbaulehre durch Kelsen und Adolf J. Merkl. Ihr Grundgedanke ist, dass das Recht seine eigene Erzeugung und Vernichtung regelt, und dass dies auf verschiedenen Stufen geschieht. Sogenannte Ermächtigungsnormen legen die Bedingungen für die Erzeugung von Recht fest. Derogationsnormen bestimmen, wie dieses vernichtet oder aufgehoben werden kann. Sie geben somit den Rahmen vor, innerhalb dessen zu entscheiden ist – egal, ob es sich um ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Parlament handelt. Denn jedes dieser Organe kann nur innerhalb des (verfassungs-)gesetzlichen Rahmens agieren, der ihm vorgegeben ist. Damit enthält jede rechtliche Entscheidung ein (mehr oder weniger ausgeprägtes) politisches Moment, und jede politische Entscheidung wird auch zur Rechtsanwendung. So wird es möglich, Demokratie und Rechtsstaat zusammen (und nicht neben- oder übereinander) zu denken.42 Auf diese Weise können, wie Kelsen es ausgedrückt hat, alle Staatsorgane in ein »System rechtstechnischer Maßnahmen [eingegliedert werden], die den Zweck haben, die Rechtmäßigkeit der Staatsfunktionen zu sichern.«43 Damit wird deutlich gemacht, was das parlamentarische System von einer Autokratie unterscheidet  : Im Parlamentarismus muss die Regierung ein anderes Organ in Bewegung setzen, um sich die Grundlage ihrer Tätigkeit zu verschaffen. Sie wird dazu gezwungen, sich ins parlamentarische Verfahren zu fügen.44 Zugleich ermöglicht die Bindung an gesetzliche Grundlagen eine demokratische Rückbindung und Kontrolle allen staatlichen Handelns und macht dieses (einschließlich der Entscheidungen des Parlaments) einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich. 7.6.6 Formelle und informelle Verfahren Ein solcher, betont formeller und auf Zusammenwirken unterschiedlicher Organe ausgelegter Zugang kann gängigen Vorstellungen effizienten Entscheidens und Umsetzens entgegenstehen. Das wird besonders deutlich, wenn etwa Füh42 Vgl. zum Rechtsstaat auch Kapitel 3.; Öhlinger, Theo (1975), Der Stufenbau der Rechtsordnung. Rechtstheoretische und ideologische Aspekte, Wien  ; Konrath, Christoph (2014), Demokratie und Rechtsstaat. Zur Bewertung von Vorschlägen zum Ausbau direkter Demokratie, in  : Bußjäger, Peter, et al. (Hg.), Direkte Demokratie im Diskurs. Beiträge zur Reform der Demokratie in Österreich, Wien, S. 127–139. 43 Kelsen, Hans (1929), Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 5, Berlin/Leipzig, S. 30. 44 Vgl. Kelsen (1929), S. 80.

189

190

| 

Christoph Konrath

rungsmodelle aus der Industrie auf Politik und Verwaltung umgelegt werden. Dann wird gefragt, warum das, was »in der Wirtschaft schnell und unproblematisch funktioniere« (unabhängig davon, ob dem tatsächlich so ist), nicht auch im staatlichen Bereich gehe. An dieser Stelle müssen wir aber noch einen weiteren Aspekt bedenken. Die Erfahrung zeigt uns nämlich, dass wir Regeln in den seltensten Fällen »nach Punkt und Beistrich« anwenden (können). Es ist immer wieder erforderlich, die konkreten Umstände zu berücksichtigen, Menschen bilden Routinen aus, schaffen neue Regeln oder Konventionen, nach denen sie andere Regeln anwenden. In Parlamenten und Regierungen können diese Effekte noch verstärkt werden. Sie zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie sich (für ihre internen Abläufe) eigene Verfahrensregeln (Geschäftsordnungen) geben können. Hier sind Rechtssetzer, Rechtsunterworfene und Rechtsanwender also identisch. Dies bedingt auch, dass sich rechtliche Fragen des Verfahrens nicht so einfach von politischen trennen lassen. Verstärkt wird dieser Effekt in den allermeisten Staaten dadurch, dass es keinen Dritten gibt, der im Streitfall zur Entscheidung angerufen werden kann.45 Ein Weg, damit umzugehen, ist, dass die Beteiligten Regeln dafür finden, mit strittigen Fragen des formellen Verfahrens umzugehen, um Konflikte zu vermeiden oder zu lösen. Dies geht nur im Konsens und (um lange Gesetzgebungsverfahren zu vermeiden) informell. Solange die rechtlichen Grundregeln eingehalten werden, lässt sich alles andere konsensual vereinbaren. Mehrheit und Minderheit wissen hierum und sind in der Regel bereit, in der einen oder anderen Frage zurückzustecken, um sich dafür in anderen Fragen (wo der Konsens von ihnen abhängt) Verhandlungsmacht zu sichern. Der Preis dafür kann jedoch eine Erstarrung der Abläufe sein, da Änderungen in der Regel auf hohe Zustimmung angewiesen sind. Für Österreich hat der langjährige ÖVP-Klubobmann und Nationalratspräsident Andreas Khol die Ratio dahinter im Kontext der Zusammenarbeit in Regierungskoalitionen so beschrieben  : Im parlamentarischen Verfahren muss das Risiko minimiert werden, dass einmal gefundene Regierungskompromisse durch die Inanspruchnahme formeller Instrumente (und Idealen) des Parlaments wieder in Frage gestellt werden.46 45 Die große Ausnahme ist Deutschland, wo die Verfassungsgerichte auch in parlamentsinternen Streitigkeiten und in Konflikten zwischen Parlamenten und Regierung zur Klärung der Rechtsfrage angerufen werden können (Organstreitverfahren). In Österreich gibt es in Untersuchungsausschüssen des Nationalrates einzelne, strikt abgegrenzte Streitverfahren, in denen der VfGH entscheidet. 46 Vgl. Khol, Andreas (2007), Koalitionsabkommen in der Regierungspraxis 1994 bis 2007, in  : Kohl, Andreas, et al. (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2006, Wien/Köln/Weimar, S. 141–155, hier S. 154.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

Damit stehen wir vor den grundlegenden Dilemmata parlamentarischen Regierens, die es deutlich vom »schnellen Durchgreifen« durch Manager unterscheiden  : Es kann, wie unter anderem der Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch in seiner Bestimmung von Postdemokratie dargelegt hat, zur reinen Fassade werden, in der eben alle notwendigen formalen Schritte erfüllt werden.47 Es muss in einen Ausgleich mit anderen Formen von »Politik«, also von Verhandeln und Entscheiden, gebracht werden, die durch Flexibilität, Geheimhaltung oder Zurückhaltung von Informationen, Interessensabgleich und Einsatz von Vetomacht ebenso wie von hierarchischer Durchsetzung und Befehlsgewalt geprägt sind. Und wenn parlamentarisches Regieren unter dem Anspruch der Distanz und Sachlichkeit erfolgen soll, dann ist es sogar darauf angewiesen, dass nicht der gesamte politische Prozess unter dem Druck medialer Beobachtung und Bewertung steht. Somit braucht er auch Räume, in denen frei und offen gesprochen werden kann, und an Zeit, um über etwas nachzudenken und zu beraten, ohne dass gleich Anfragen von außen oder Vorwürfe kommen, »nicht dem Wählerwillen zu entsprechen«. 7.7 Wissen und Möglichkeiten 7.7.1 Weisheit der Vielen  ? In unserer Diskussion von Repräsentation und Verfahren sind wir mehrfach auf Fragen der Erfahrung, des Umgangs mit Informationen und des Könnens zurückgekommen. Auch hier sind wir mit einem grundlegenden Problem der Philosophie konfrontiert  : Wie können wir unsere Welt erkennen und auf Grundlage unserer Erkenntnis gestalten  ? Der antike Philosoph Aristoteles prägt mit seinen Überlegungen zur »Weisheit der Vielen« diese Frage bis heute. Er ging von der Feststellung aus, dass selbst ein noch so gebildeter Mensch nicht in der Lage sei, alles zu erkennen und zu beurteilen, was für die Lösung einer konkreten (in diesem Fall politischen) Frage notwendig sei. Demgegenüber könne eine Vielzahl an Menschen verschiedene Sichtweisen, Erfahrungen und Überlegungen einbringen, über die kein Einzelner verfüge. Für Aristoteles war dabei jedoch klar, dass ein solcher Austausch nicht ohne weiteres funktioniert und von vielen Faktoren – u. a. Bildung und Diskussionsregeln – abhängig ist.48

47 Vgl. Crouch, Colin (2015), Postdemokratie, Frankfurt am Main. 48 Aristoteles, Politik, Hamburg 2012, Buch 3, 11. Kapitel.

191

192

| 

Christoph Konrath

7.7.2 Debatten und Erkenntnis Diese Überlegungen hatten zentrale Bedeutung für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der bis heute Idealvorstellungen von Parlamenten prägt. Der Philosoph John Stuart Mill hat sie als Orte gesehen, die freie, umfassende und damit wohlfahrts- und fortschrittsorientierte Debatten ermöglichen. Ihre Öffentlichkeit soll Ansporn sein, die besten Eigenschaften der Abgeordneten, aber auch der BürgerInnen, die an den Debatten teilhaben, zu entfalten und an Wissen zu gewinnen.49 Parlamente sollten einen dynamischen Gegenpol zur Stabilität und Sachlichkeit der Bürokratie bilden (die Mill im Übrigen schätzte). Idealtypisch kann diese Auffassung etwa mit dem Bau des österreichischen Parlaments verbunden werden, vor dem eine Statue der Pallas Athene als Göttin der Weisheit steht, und in dem Bilder und Statuen an die von Mill geforderte Wohlfahrtsorientierung erinnerten. Seit Mill stellt sich die Frage, wie und ob Parlamente dies leisten können. Sie spitzt sich unter den Bedingungen des modernen Staats zu. Während Parlamente und Regierungen des 18. und 19. Jahrhundert noch mit einer – letztlich – überschaubaren Menge von Staatsaufgaben und Gesetzen zu tun hatten, sind diese seit dem 1. Weltkrieg massiv gewachsen. Dementsprechend hat sich die Verwaltung organisatorisch (also in ihren Abläufen und Techniken) und individuell (etwa durch Rekrutierung und Ausbildung von Fachleuten) professionalisiert. Dem stehen Parlamente und Regierungen gegenüber, für deren Angehörige es weder besondere Anforderungen noch besondere Unterstützung gab und gibt. Damit stellt sich die Frage, inwieweit diese in der Lage sein können, das alles noch zu erfassen oder gar zu regeln und zu steuern.50 7.7.3 Evidenzbasierte Politik Exemplarisch können wir dies am Beispiel evidenzbasierter Politik nachvollziehen. Vereinfacht gesagt meint dies, dass politische Entscheidungen auf Grundlage empirischer Evidenz (was in den meisten Fällen Daten, Kennzahlen und Prognosen meint) erfolgen soll. Der Anspruch besteht darin, die richtigen Maßnahmen zu setzen, um die richtigen Ergebnisse zu erzielen (siehe 9.2.3. und 9.2.4). Der damit verbundene Erfolg in der Problemlösung kann zum Element 49 Vgl. Mill, John Stuart (1867), Considerations on Representative Government, London. 50 Vgl. Lepsius, Oliver (1999), Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in  : Martin Bertschi, Martin, et al. (Hg.), Demokratie und Freiheit, Zürich, S. 123–180.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

der Rechtfertigung politischer Herrschaft werden. Ansätze wie diese (die es seit der Zwischenkriegszeit in unterschiedlichen Varianten und ideologischen Ausrichtungen gibt) können sachlich, neutral und lösungsorientiert dargestellt werden. Der Verweis auf wissenschaftliche Objektivität kann Lösungsvorschläge aus politischem Meinungsstreit herausnehmen oder diesem (z. B. durch Regierungen, Interessenvertretungen oder NGOs) entgegensetzen. An diesem Ansatz wird jedoch kritisiert, dass die Berufung allein auf Wissenschaftlichkeit nicht Neutralität bedeuten müsse, und dass wissenschaftliche Eindeutigkeit vorgegeben werde. Noch deutlicher wird aber betont, wie solche Ansätze den politischen Beratungs- und Entscheidungsprozess einseitig verkürzen würden. Denn in diesem geht es auch um Fragen der politischen und moralischen Selbstverständigung und Beurteilung, der Auseinandersetzung mit Mehrdeutigkeit und Kritik, die mehr ist als eine Diskussion wissenschaftlich-methodischer Fragen.51 7.7.4 Warum dann noch Parlamente  ? Eine Antwort auf diese Kritik sind die schon mehrfach erwähnten Beteiligungsprozesse und damit eine stärker auf Beratung und Partizipation ausgerichtete Tätigkeit der Verwaltung. Damit bleiben aber die ebenfalls schon angesprochenen Probleme der demokratischen Legitimation und Verantwortlichkeit. Insoweit können an dieser Stelle Parlamente und die mit ihnen verbundene Pflicht zur öffentlichen Auseinandersetzung gleichsam »zurück« ins Spiel gebracht werden. Sie können jene Institutionen sein, die Expertenmeinungen demokratisch legitimiert (also nicht nur unter dem Anspruch der Expertise) hinterfragen und prüfen und dabei zugleich ihren eigenen Umgang mit Daten, Fakten, Einschätzungen und Meinungen öffentlich zur Prüfung stellt.52 Im Englischen wird diese Aufgabe mit »scrutiny« umschrieben, was so viel wie genauer Blick oder genaues Hinterfragen bedeutet. Parlamente, die sich als starker »scrutinizer« sehen, erheben in der Regel nicht den Anspruch, alle Gesetze »selbst zu schreiben«, sondern die Vorschläge der Regierung genau zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern, um dann eine verantwortete Entscheidung für oder gegen ein Gesetz treffen zu können. 51 Vgl. Parsons, Wayne (2002), From Muddling Through to Muddling Up. Evidence Based Policy Making and the Modernisation of British Government, in  : Public Policy and Administration 2002 (3), S. 43–60. 52 Vgl. Voßkuhle, Andreas (2012), Demokratie, Europa und das Bundesverfassungsgericht, Vortrag vor der Oxford University German Society, Oxford.

193

194

| 

Christoph Konrath

7.7.5 Beurteilungsmaßstäbe und Wissensgrundlagen Hierfür sind Rahmenbedingungen erforderlich, die den Zugang zu Wissen und Informationen garantieren, Auswahl und Bewertung unterstützen sowie eine differenzierte Bewertung ermöglichen. Dies setzt zunächst (und dies ist ein wesentlicher Aspekt demokratischen Regierens) eine Auseinandersetzung mit der Frage, wann Wissen als gesichert gelten kann, und wann eine Aussage als wahr gelten kann, voraus. Wenn Parlamentarismus einen sachlichen und dialektischen Prozess der Auseinandersetzung sichern soll (siehe 7.6.4), dann muss er offen für Korrekturen und Veränderungen sein. Er ist auf Maßstäbe zur Überprüfung und Bewertung angewiesen, über die er nicht selbst verfügen können soll. Dies bedeutet, dass es nicht im Belieben der Mehrheit stehen kann, zu bestimmen, was »wahr« ist. In einer demokratischen Gesellschaft soll dies eine öffentliche Angelegenheit sein (die auch, und dies ist entscheidend, offen für Argumente und Kritik aus verschiedenen Disziplinen und Bereichen sein muss)53, in einem Rechtsstaat, der sich auf die Menschenrechte gründet, müssen diese und weitere Grundprinzipien der Verfügbarkeit durch eine bloße Mehrheit entzogen sein, da sonst ihr Schutz und ihre Maßstabsfunktion nicht mehr garantiert werden können.54 Die zweite, zentrale Frage, betrifft die Verfügbarkeit von Wissen und Infor­ mationen. In politischen Auseinandersetzungen werden (seit langem) Lebens­ erfahrung, »Hausverstand« und Geschick betont. Wenn wir nun aber an die Professionalisierung der Verwaltung (siehe 9.3.1. und 9.3.2), den Ausbau des Staatshandelns und die Notwendigkeit der Einschätzung und Beurteilung konkreter Fragestellungen denken, kann bloße Lebenserfahrung nicht als Grundlage für politisches Handeln und Entscheiden ausreichen. Dies gilt sowohl für die Seite der Regierung wie jene des Parlaments. Beide sind gefordert, relevante Informationen zu identifizieren und sie politisch, aber auch in rechtlicher und moralischer Hinsicht (z. B. bei Fragen technologischer oder medizinischer Entwicklungen oder sozialer Gerechtigkeit) zu bewerten. 53 Dies heißt also, dass Argumente nicht damit abgetan werden können, dass sie z. B. »moralisch« oder »wissenschaftlich« begründet und nicht »politisch« seien. Was jedoch eingefordert werden kann, ist, eine gemeinsame Argumentationsgrundlage zu finden, für die z. B. moralische, religiöse oder wissenschaftliche Argumente auch so »übersetzt« werden müssen, dass sie für alle Beteiligten anschlussfähig sind. Siehe zu den Debatten, die darüber seit den 1990er Jahren geführt werden, etwa die Beiträge in  : Wenzel, Knut/Schmidt, Thomas E. (Hg.) (2009), Moderne Religion  ? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas, Freiburg/Basel/Wien. 54 Vgl. Möllers (2008), S. 46 f.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

Die Auswahl, Aufbereitung und Verarbeitung von Informationen setzt bei Regierung und Parlament einen entsprechenden Hilfsapparat voraus. Dies geschieht durch unmittelbare (und damit politisch-wertende) Unterstützung bei PolitikerInnen, durch die (weisungsgebundene) Verwaltung und durch unabhängige oder parlamentarische (und damit in allgemeinem Interesse tätige) wissenschaftliche Einrichtungen. Die Regierung ist dabei aufgrund des Verwaltungsapparats, der ihr zur Verfügung steht und immer auch über Anwendungswissen verfügt, und durch ihre Möglichkeiten der Themensetzung im Vorteil. In diesem Zusammenhang spricht man allgemein von einer Informationsasymmetrie zwischen Regierung(sseite) und Parlament (bzw. Opposition), die sich nie vollständig ausgleichen lässt. Zugleich bestehen aber auch (allein schon durch die Größe) innerhalb der Verwaltung und zwischen Verwaltung und politischer Führung Informationsasymmetrien. Der Umgang mit diesen bildet die zentrale Herausforderung politischer Führung und demokratischer Kontrolle sowie der Herstellung von Transparenz, die durch Parlamente, Gerichte, unabhängige Einrichtungen und die Verwaltung selbst erfolgt (siehe 8.4.4 und 9.3.7). 7.8 Parlament und Regierung 7.8.1 Wer soll was machen  ? Die theoretische Reflexion ermöglicht uns, Funktionsbestimmungen im parlamentarischen Regierungssystem vorzunehmen und zu begründen. Sie lässt aber weitgehend offen, wie und in welchem Rahmen die Beziehungen zwischen Parlament, Regierung und Verwaltung konkret ausgestaltet werden können und sollen. Die verschiedenen Systemkomponenten und Theorien, die wir diskutiert haben, zeigen Ideale und Stärken des parlamentarischen Regierungssystems auf, die aber (wie bisweilen angeklungen ist) den Zielen politischer Gestaltung und Herrschaftsausübung entgegenstehen können. Ebenso machen sie deutlich, dass Vieles, das wir auf den ersten Blick mit dem Parlament assoziieren, auch auf den Regierungs- und Verwaltungsbereich übertragen werden kann. Damit tun sich Möglichkeiten auf, den Anspruch auf Öffentlichkeit und Beratung mit der als viel effizienter wahrgenommenen hierarchischen Steuerung der Verwaltung zu verbinden. In ähnlicher Weise kann argumentiert werden, dass eine professionelle Verwaltung weit besser und schneller als Parlamente in der Lage sei, komplexe Probleme zu bewältigen.

195

196

| 

Christoph Konrath

7.8.2 Entparlamentarisierung und Reparlamentarisierung Die Auseinandersetzung über diese Fragen wird heute unter den Schlagworten der Entparlamentarisierung und (Re-)Parlamentarisierung geführt. Entparlamentarisierung meint die Abgabe von Entscheidungskompetenzen eines Parlaments (durch Gesetz) an andere Organe wie Regierungen, unabhängige Behörden oder Gerichte. (Re-)Parlamentarisierung bezieht sich demgegenüber auf den sukzessiven Ausbau der Beratungs-, Kontroll- und Mitwirkungsmöglichkeiten von Parlamenten sowie die Entwicklung neuer parlamentarischer Rollenverständnisse, die z. B. auch Kommunikations- und Beratungsprozesse in den Mittelpunkt stellen. Welcher Fall vorliegt, kann zunächst formal beurteilt werden  : Wurden die Rechte des Parlaments in der Verfassung zurückgenommen  ? Wurden der Regierung neue Aufgaben zugewiesen  ? Eine solche Beurteilung ist beim Europäischen Parlament gut möglich, weil dessen Rechte seit den 1980er Jahren immer mehr ausgebaut wurden. Sie ist im »klassischen« Parlamentarismus viel schwieriger, weil (wie z. B. das österreichische Beispiel zeigt – siehe 8.1.2) in der Regel nichts, was schon einmal festgelegt war, abgeschafft wurde. Dennoch wird auch hier (und oft im Kontext eines formalen Ausbaus der Rechte) von Entparlamentarisierung gesprochen.55 Damit ist etwa gemeint, dass Parlamente zwar Kompetenzen haben, aber diese nur minimal nutzen, etwa indem sie Berichte einer Behörde nur zur Kenntnis nehmen, aber keine eigenständigen Schlüsse (und die hieraus folgenden Einflussmöglichkeiten) ziehen. 7.8.3 Ideale und Enttäuschungen Vor allem im deutschen Sprachraum ist diese Debatte bis heute durch theoretische Auseinandersetzungen der 1920er Jahre geprägt. Die großen Fragen waren, wie Staat und Gesellschaft zueinanderstehen, wie die Massen, die nun alle politischen Rechte hatten, politisch integriert oder auch gelenkt werden könnten, und wie die vielen neuen Staatsaufgaben, die der Verwaltungs- und Sozialstaat brachte, bewältigt werden könnten.56 Viele PolitikerInnen und DenkerInnen hatten auch 55 Von Bogdandy, Armin (2005), Parlamentarismus in Europa  : eine Verfalls- oder Erfolgsgeschichte  ? In  : Archiv des öffentlichen Rechts 130, S. 445–464. 56 Vgl. Müller (2013)  ; Lindseth, Peter (2014), The Paradox of Parliamentary Supremacy. Delegation, Democracy, and Dictatorship in Germany and France, 1920s–1950s, in  : Yale Law Journal 2014, S. 1341–1415.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

eine große Skepsis gegenüber politischen Parteien, deren Vielfalt die gewünschte Einheit(lichkeit) oder Integration von Staat und Gesellschaft infrage stellte.57 Parlamentarismus wurde von vielen als ungeeignet zur Bewältigung solcher Herausforderungen betrachtet. Ihr Argumentationsmuster war dabei stets, eine Idealvorstellung eines Parlaments – etwa in Anlehnung an den zuvor erwähnten Mill  – zu formulieren, und diesem ein »Bild der Realität« gegenüberzustellen, das all diese Ansprüche diskreditieren (musste).58 Dem entgegnete Kelsen mit einer nüchtern-funktionalen Betrachtung, die Unzulänglichkeiten und Pro­ bleme benannte aber zugleich herausarbeitete, dass diese für die Erreichung des Anspruchs größtmöglicher Freiheit und Gleichheit unvermeidlich seien. Dazu kam sein Plädoyer, wieder im Sinn der Freiheitssicherung, eine Prüfungs- und Konfliktlösungsmöglichkeit durch starke Verfassungsgerichte vorzusehen, um die Grenzen der politischen Auseinandersetzung zu definieren.59 7.8.4 Regierungsdemokratie Ein zentraler Kritikpunkt an der politischen Praxis der Zwischenkriegszeit war die mangelnde Konsens- und Kooperationsbereitschaft der politischen Parteien. Diese wurde in der Regel (dem Duktus der Parlamentarismuskritiker folgend) den Parlamenten angelastet, jedoch häufig ohne dass die Rolle der Parteien oder Regierungen kritisch hinterfragt wurde. Dies führte nach 1945 zum Leitbild eines »kontrollierten« oder »gebändigten« Parlamentarismus, wie es der Politikwissenschaftler Karl Loewenstein schon 1959 bezeichnete.60 Damit wurde die Entscheidung für eine klare Führungsrolle von Regierungen und Verwaltungen getroffen, und teilweise wurden Letztentscheidungskompetenzen auf starke Verfassungsgerichte übertragen.61 Mit der Verlagerung bestimmter Politikbereiche auf internationale und supranationale Organisationen wurde eine weitere Stabilisierung und nachhaltige Absicherung der Verhältnisse angestrebt. Dies führte zur Ausbildung und Weiterentwicklung der Rollenbilder von Regierun57 Ausführlich bei Hacke (2018). 58 Prägend hierfür wurde Schmitt, Carl (1923)  : Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus, München. Dieses Argumentationsmuster wird bis heute von linken und rechten KritikerInnen parlamentarischer Demokratie verwendet. Siehe dazu Müller, Jan-Werner (2007), Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, Darmstadt. 59 Siehe dazu Kelsen (1929) sowie ders. (1931), Wer soll Hüter der Verfassung sein  ? Berlin  ; Schmitt, Carl (1931), Der Hüter der Verfassung, Tübingen. 60 Vgl. Loewenstein, Karl (1959), Verfassungslehre, Tübingen, S. 91 ff. 61 Vgl. Müller (2013)  ; Loewenstein (1959).

197

198

| 

Christoph Konrath

gen und Verwaltungen. Entscheidend (und vor allem durch die Zugänge der Rechtswissenschaft geprägt) war, dass immer eine demokratische Rückbindung der Regierungen an das Vertrauen gewählter Parlamente gegeben war. Wo dies nicht ausreichend schien bzw. scheint, kann durch (weitere) eigene Legitimationsformen wie z. B. öffentliche Partizipationsprozesse, Transparenzregeln oder die Bezugnahme auf evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen reagiert werden, wie es etwa in Governance-Ansätzen passiert. Demgegenüber ist eine (auch breitenwirksame) Aktualisierung der Rolle von Parlamenten lange unterblieben. Dies heißt nicht, dass Parlamente, ihre Aufgaben (vor allem in der Kontrolle des Regierungshandelns) und ihre Abläufe sich nicht verändert hätten. Gerade hier hat der Deutsche Bundestag, der als Gegenmodell zum »gescheiterten« Reichstag der Weimarer Republik gesehen wurde, eine starke Vorbildwirkung entfaltet. Doch die Referenzpunkte in der Auseinandersetzung um Funktionen und Leitbilder blieben die Texte der Vorkriegszeit. Sie prägen vor allem auch die im deutschen Sprachraum nach wie vor über hohe Deutungsmacht verfügenden Rechtswissenschaften. Dazu kommt, dass deren Zugänge weitgehend von individuell handelnden Organen wie einem Minister oder einer Richterin geprägt sind und diese sich mit der Erfassung und Einordnung pluralistischer und heterogener Organe schwertun. Impulse für eine Neu- und Weiterentwicklung des Parlamentarismus kommen jedoch seit längerem aus dem Kontext der europäischen Einigung, die in ihren Ursprüngen »parlamentslos« konzipiert war. Hier hat sich zum einen mit dem Europäischen Parlament ein ganz neuer Typ von Parlament entwickelt, der gerade nicht vom Gegensatz Parlament/Opposition–Regierung geprägt ist. Zum anderen hat sich mit den Debatten über die demokratische Legitimation der EU eine intensive Auseinandersetzung darüber entwickelt, ob und wie dies durch die nationalen Parlamente erfolgen kann.62 7.8 Literaturverzeichnis Appelbaum, Yoni (2018), Americans aren’t Practicing Democracy Anymore, in  : The Atlantic Oct 2018, [https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2018/10/losing-­thedemocratic-habit/568336/], eingesehen am 06.10.2019. 62 Vgl. Maurer, Andreas/Wessels, Wolfgang (Hg.) (2001), National Parliaments on their Ways to Europe. Losers or Latecomers, Baden-Baden  ; Sprungk, Carina (2013), A New Type of Representative Democracy  ? Reconsidering the Role of National Parliaments in the European Union, in  : Journal of European Integration 2013 (5), S. 547–563.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

Aristoteles, Politik, Hamburg 2012. Biegelbauer, Peter, et al. (2014), Die wissenschaftliche (Nicht-)Beschäftigung mit der Verwaltung und ihrem Verhältnis zur Politik in Österreich, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2014 (4), S. 349–365. Crouch, Colin (2015), Postdemokratie, Frankfurt am Main. Eberhard, Harald, et al. (2006), Governance. Zur theoretischen und praktischen Verortung des Konzepts in Österreich, in  : Journal für Rechtspolitik 2006 (1), S. 35–60. Geuss, Raymond (2008), Philosophy and Real Politics, Princeton. Hacke, Jens (2018), Existenzkrise der Demokratie – Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin. Hanisch, Ernst (1994), Der lange Schatten des Staates  : Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien. Interparliamentary Union IPU (2018), Women in National Parliaments, Situation as of 1st December 2018, abrufbar unter [http://archive.ipu.org/wmn-e/classif.htm], eingesehen am 06.10.2019. Jünger, Friedrich Georg/Schultz, Edmund (1931), Das Gesicht der Demokratie. Ein Bilderwerk zur Geschichte der deutschen Nachkriegszeit, Leipzig. Kelsen, Hans 2(1929), Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen. Kelsen, Hans (1929), Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 5, Berlin/Leipzig. Kelsen, Hans (1931), Wer soll Hüter der Verfassung sein  ? Berlin. Khol, Andreas (2007), Koalitionsabkommen in der Regierungspraxis 1994 bis 2007, in  : Kohl, Andreas, et al. (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2006, Wien/Köln/ Weimar, S. 141–155. Kinski, Lucy (2017), Whom and how to Represent  ? National Parliamentarians and their Patterns of Representation in EU Affairs  : A Comparative Analysis, Dissertation an der Universität Wien. Konrath, Christoph (2014), Demokratie und Rechtsstaat. Zur Bewertung von Vorschlägen zum Ausbau direkter Demokratie, in  : Bußjäger, Peter, et al. (Hg.), Direkte Demokratie im Diskurs. Beiträge zur Reform der Demokratie in Österreich, Wien, S. 127–139. Konrath, Christoph (2016), Demokratiereformprojekte und nachhaltige Weiterentwicklung von Demokratie, in  : Diendorfer, Gertraud/Welan, Manfried (Hg.), Demokratie und Nachhaltigkeit, Innsbruck/Wien/Bozen, S. 59–79. Konrath, Christoph (2017), Parlamentarische Opposition in Österreich, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2017 (3), S. 557–574. Konrath, Christoph/Zleptnig, Stefan (2004), BürgerInnennähe, Transparenz und Vereinfachung. Leitbegriffe des Österreich-Konvents  ?, in  : Forum Parlament 2004 (2), S. 67–71. Kriele, Martin (2003), Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart. Lepsius, Oliver (1999), Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in  : Martin Bertschi, Martin, et al. (Hg.), Demokratie und Freiheit, Zürich, S. 123–180.

199

200

| 

Christoph Konrath

Lindseth, Peter (2014), The Paradox of Parliamentary Supremacy. Delegation, Democracy, and Dictatorship in Germany and France, 1920s–1950s, in  : Yale Law Journal 2014, S. 1341–1415. Loewenberg, Gerhard (2007), Paradoxien des Parlamentarismus. Historische und aktuelle Gründe für Fehlverständnisse in Wissenschaft und Öffentlichkeit, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2007 (4), S. 816–827. Loewenstein, Karl (1959), Verfassungslehre, Tübingen. Mantl, Wolfgang (1975), Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt, Wien. Maurer, Andreas/Wessels, Wolfgang (Hg.) (2001), National Parliaments on their Ways to Europe. Losers or Latecomers, Baden-Baden. Mayer, Otto (1924), Deutsches Verwaltungsrecht, Berlin. Mill, John Stuart (1867), Considerations on Representative Government, London. Mitterauer, Michael (2004), Warum Europa  ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München. Möllers, Christoph (2008), Demokratie. Zumutungen und Versprechungen, Berlin. Müller, Jan-Werner (2007), Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, Darmstadt. Müller, Jan-Werner (2013), Das demokratische Zeitalter  – Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin. Müller, Jan-Werner (2016), Was ist Populismus  ?, Berlin. Öhlinger, Theo (1975), Der Stufenbau der Rechtsordnung. Rechtstheoretische und ideologische Aspekte, Wien. Parsons, Wayne (2002), From Muddling Through to Muddling Up. Evidence Based Policy Making and the Modernisation of British Government, in  : Public Policy and Administration 2002 (3), S. 43–60. Pitkin, Hanna (1972), The Concept of Representation, Berkeley. Redlich, Jose (1905), Recht und Technik des englischen Parlamentarismus, Leipzig. Rittberger, Berthold (2008), Building Europe’s Parliament. Democratic Representation Beyond the Nation-State, Oxford. Rosanvallon, Pierre (2016), Die gute Regierung, Hamburg. Schmitt, Carl (1931), Der Hüter der Verfassung, Tübingen. Seibel, Wolfgang (2016), Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin. Sprungk, Carina (2013), A New Type of Representative Democracy  ? Reconsidering the Role of National Parliaments in the European Union, in  : Journal of European Integration 2013 (5), S. 547–563. Stolleis Michael (2014), Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte, München. Von Bogdandy, Armin (2005), Parlamentarismus in Europa  : eine Verfalls- oder Erfolgsgeschichte  ? In  : Archiv des öffentlichen Rechts 130, S. 445–464. Voßkuhle, Andreas (2012), Demokratie, Europa und das Bundesverfassungsgericht, Vortrag vor der Oxford University German Society, Oxford. Waldron, Jeremy (1998), Law and Disagreement, Oxford.

Parlamentarisches Regierungssystem und Verwaltungsstaat 

|

Waldron, Jeremy (1999), The Dignity of Legislation, Cambridge. Weiler, Joseph (1999), The Constitution of Europe. »Do the New Clothes Have an Emperor  ?« and Other Essays on European Integration, Cambridge. Wenzel, Knut/Schmidt, Thomas E. (Hg.) (2009), Moderne Religion  ? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas, Freiburg/Basel/Wien. Wiederin, Ewald (2010), Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht. Österreich, in  : Von Bogdandy, Armin, et al. (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band 3, Verwaltungsrecht in Europa. Grundlagen, Heidelberg, S. 187–228.

201

Christoph Konrath1

8. Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis

8.1 Verfassungsrechtliche und politische Grundlagen 8.1.1 Hinten nach, radikal voran, im Abseits Im europäischen Vergleich gilt Österreich als Nachzügler in der Entwicklung des Parlamentarismus. Die Einrichtung eines Parlaments war eine der Hauptforderungen im Revolutionsjahr 1848, die nur kurz verwirklicht werden konnte. Die tatsächliche Entwicklung begann ab 1861 und dann mit dem sogenannten Ausgleich (mit Ungarn) 1867. Wenngleich sich viele Verfahren und Bezeichnungen an englischen Vorbildern orientierten, blieb man dem Modell des sogenannten Konstitutionalismus (siehe 7.3.3) treu  : Verfassungsgesetze wurden vom Kaiser gewährt und konnten zurückgenommen werden. Regierung und Parlament blieben von ihm abhängig und konnten jederzeit aufgelöst und entlassen werden. Dies knüpfte an die Tradition der Ständeversammlungen an. Dabei berief man sich auf den Philosophen Montesquieu und seine Lehre der Gewaltenteilung, die er im 18. Jahrhundert auf Grundlage der englischen Praxis entwickelt hatte. Während aber in England dem Parlament eine zentrale Stellung zukam, sollte in Österreich das Parlament nur beschränkt tätig sein, um »oligarchische Tendenzen« zu verhindern und effizientes Regieren zu ermöglichen.2 Mit der Gründung der Republik 1918 gab man dieses System auf und stellte hier – in noch radikalerer Weise als in England – das Parlament ins Zentrum. Das heißt, sämtliche Leitentscheidungen des Staates sollten hier getroffen werden, und alle Staatsorgane waren vom Nationalrat abhängig. Die klassische Gewaltenteilung wurde in Frage gestellt, und es war z. B. auch möglich, gleichzeitig Mitglied des Nationalrates und des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) zu sein. Die Bundesverfassung 1920 baut auf einer engen Verschränkung von Demokratie und Rechtsstaat, von Politik und Recht auf (siehe 7.6). Zugleich sieht sie  – bis heute  – vor, dass Konflikte innerhalb von Staatsorganen bzw. zwischen bestimmten Staatsorganen politisch gelöst werden müssen. Wenn sich nun aber (wie dies für die 1. Republik 1 Ich danke Alexandra Becker und Franziska Bereuter für die kritische Durchsicht des Textes und die Unterstützung bei der Erstellung des Anmerkungsapparats. 2 Vgl. Tezner, Friedrich (1912), Die Volksvertretung, Wien, S. 133.

204

| 

Christoph Konrath

typisch war) das Parteiensystem durch eine hohe Polarisierung auszeichnet, dann wirkt dies unmittelbar auf den Parlamentarismus zurück. Er verfügt in einer solchen Situation über keine geeigneten Instrumente zur Konfliktlösung. Eine kompromissorientierte Parlamentarismus- und Demokratietheorie, wie sie der Jurist Hans Kelsen in dieser Zeit entwickelt hat (siehe 7.6.5), hat unter diesen Bedingungen keine Chance auf Umsetzung oder wird auf ihren instrumentellen Kern reduziert. Die Antwort darauf war in der 2. Republik, die Konflikte auf einer anderen Ebene und nicht im öffentlichen Parlamentsstreit zu lösen. Der parlamentarische Aspekt des Regierungssystems wurde damit lange in den Hintergrund gedrängt und auf Formalfunktionen reduziert. Dies hatte auch zur Folge, dass in Österreich (durchaus im Unterschied zu anderen westeuropäischen Staaten und vor allem zur Bundesrepublik Deutschland) zwar eine intensive Auseinandersetzung mit politischen Parteien und der Sozialpartnerschaft (siehe 2.3 und 10.) stattgefunden hat, aber eine vergleichbare Diskussionsgrundlage für Bewertung und Perspektiven des Parlamentarismus weitgehend fehlt. 8.1.2 Verfassungsrecht und Verfassungsverständnis Die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung in Österreich ist (auf Bundesebene) durch vier große Phasen geprägt, von denen sich drei in unterschiedlichen Textstufen des B-VG zeigen  : Die Stammfassung des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920 (B-VG 1920) stellte das Parlament und hier den Nationalrat ins Zentrum, der die Bundesregierung wählte. Mit der Novelle 1929 wurde die Exekutive gestärkt, in dem der (nun) vom Volk gewählte Bundespräsident das Recht erhielt, die Bundesregierung zu ernennen und gemeinsam mit ihr den Nationalrat aufzulösen (siehe Kasten in Kapitel 8.3.3). Nach 1945 blieben die Teile des B-VG, die das parlamentarische Regierungssystem formten, weitgehend unverändert. Ihre Anwendung wandelte sich aber in grundsätzlicher Weise, da dem Parlament nun eine weitgehende formalisierte Rolle zukam. Dies änderte sich ab 1986, als die Oppositionsparteien begannen, an Stärke und Einfluss zu gewinnen. Ihnen stand – im Unterschied zu den Regierungsparteien – primär nur der Nationalrat als politische Tribüne zur Verfügung. Folglich begannen sie, dessen Möglichkeiten verstärkt zu nutzen, und zeigten damit auch Funktionsprobleme auf. Dies führte zur 4. Phase, in der Stellung und Rechte des Parlaments im B-VG in Einzelbereichen schrittweise und meist (um Bestand und Umfang zu sichern) sehr detailliert ausgebaut wurden.3 3 Vgl. Konrath, Christoph (2017a), Parlamentarische Opposition in Österreich  : Recht und Pra-

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Hier werden vier maßgebliche Problemfelder erkennbar  : (I) In der Gemengelage unterschiedlicher Textstufen kann immer wieder auf die ursprünglich zentrale Stellung des Parlaments Bezug genommen werden (im Sinne von Re-Parlamentarisierung). (II) Die »alten« Regeln beschränken sich auf einzelne Punkte, die vor allem die Bildung der Organe und die zentralen Teile des Gesetzgebungsverfahrens betreffen. Sie geben damit Parlament und Bundesregierung großen Raum für die autonome Gestaltung interner Verfahren und Prozesse. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass dies im parlamentarischen Bereich 2/3-Mehrheiten zur Änderung der Geschäftsordnung oder konsensuale Vorgangsweisen benötigt. (III) Ebenso ist zu bedenken, dass es in Konflikten keinen unparteiischen Dritten gibt. Sie sind grundsätzlich politisch oder in letzter Konsequenz mit Misstrauensvotum bzw. Auflösung des Nationalrates zu lösen.4 (IV) Der VfGH (siehe Kasten in Kapitel 8.4.3) kann nur unter ganz bestimmten Umständen angerufen werden. Seine Entscheidungen beschränken sich daher auf wenige Fälle aus fast 100 Jahren. Damit stellt sich auch hier das Textstufenproblem  : Ältere Entscheidungen5 geben tendenziell der Exekutive Vorrang (und stellen kaum Anforderungen an eine regierungsinterne Organisation), jüngere betonen Gestaltungsspielräume6 und parlamentarische Kontrollrechte.7 8.1.3 Inhaltsübersicht In der Auseinandersetzung mit der theoretischen Erfassung und Beschreibung des parlamentarischen Regierungssystems (siehe 7.1) habe ich die Pole Öffent­ lichkeit, Effizienz, Stabilität und Entwicklung als Rahmen gewählt. Darauf können wir auch bei Darstellung der institutionellen Wirklichkeit des parlamentarischen Regierungssystems in Österreich zurückgreifen. Den Ausgangspunkt hierfür bilden Organisation und Arbeitsweise von Parlament und Regierung (8.2). Sie definieren Handlungsmöglichkeiten und prägen das Selbstverständnis

4 5 6 7

xis in Zeiten eines fragmentierten Parteiensystems, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2017 (3), S. 557–574, hier S. 562 f. Vgl. Konrath, Christoph (2012), Parlamentarismus zwischen Recht und Politik, in  : Tamara Ehs Ehs et al. (Hg.), Recht und Politik. Spannungsfelder der Gesellschaft, Wien, S. 107–134, hier  : S. 124 f. Grundlegend ist die Entscheidung des VfGH VfSlg 1454/1932 zu Fragen der parlamentarischen Kontrolle und zum Erfordernis, jede Kompetenz von Nationalrat und Bundesrat in der Bundesverfassung eindeutig zu regeln. So etwa die Erkenntnisse zu den Anforderungen an parlamentarische Abstimmungen wie z. B. VfSlg 16.151/2001, 17.173/2004 oder 20.059/2016. Dies sind vor allem die Erkenntnisse zum Untersuchungsrecht des Nationalrates beginnend mit VfSlg 19.973/2015.

205

206

| 

Christoph Konrath

von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern (8.3). Vor diesem Hintergrund wird eine spezifische Auseinandersetzung mit Aufgaben und Funktionen möglich (8.4). In Auseinandersetzung damit können schließlich die unterschiedlichen Einschätzungen und Reformperspektiven von ParlamentarierInnen, Bundesregierung und der Bevölkerung diskutiert werden (8.5). 8.2 Organisation und Arbeitsweise Parlament und Bundesregierung zählen zu den obersten Organen des Bundes. Die Bundesverfassung garantiert ihnen, ihre Organisation und Arbeitsweise jeweils weitgehend selbst zu bestimmen und so die Verfahrensgrundlagen im parlamentarischen Regierungssystem zu regeln. 8.2.1 Das Parlament  : Gesetz, Konsens, Macht Die Organisation beider Kammern des Parlaments, des Nationalrates und des Bundesrates ist durch drei Bezugspunkte bestimmt  : Das freie Mandat, das Selbstorganisationsrecht des Parlaments sowie die rechtliche und faktische Dominanz der Klubs. Als vierter Punkt kommt die Beschränkung der Funktionsperiode (= Gesetzgebungsperiode) auf maximal fünf Jahre dazu. Die starke Rolle der Klubs bewirkt jedoch unabhängig von der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse eine hohe Kontinuität der Tätigkeit. 8.2.1.1 Die Geschäftsordnung

Die Verfahrensgrundlagen sind für den Nationalrat und den Bundesrat im B-VG und (im Detail) im Geschäftsordnungsgesetz 1975 (GOGNR) bzw. in der Geschäftsordnung des Bundesrates festgelegt. Nach deren Vorbild sind auch die Geschäftsordnungen der meisten Landtage gestaltet. Die Geschäftsordnung kann nur in der jeweiligen Parlamentskammer beschlossen und verändert werden. Im Sinne des Minderheitenschutzes braucht es dafür eine Zweidrittelmehrheit. 8.2.1.2 Individuelle Freiheit und effiziente Abläufe

Das freie Mandat sichert die Rede- und Abstimmungsfreiheit der Abgeordneten und ihren Status als MandatarIn (siehe Kasten im Kapitel 7.5.3). Alles, was darüber hinausgeht, ist mit dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments abzustimmen. Jedes Parlament braucht Organisationsprinzipien, Organe und Gremien sowie Verfahrensregeln. Zudem sind Mindesterfordernisse für parlamentarische

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Initiativen und zeitliche ebenso wie größenmäßige Beschränkungen für Verfahren und Gremien vonnöten, um handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben. Diese soll das Parlament selbst bestimmen können, um autonom zu bleiben und nicht von außen bestimmt zu werden. 8.2.1.3 Die Klubs als Dominante

Den dritten Faktor bilden die Klubs. § 7 GOGNR sieht vor, dass sich fünf Abgeordnete, die für dieselbe (wahlwerbende) Partei kandidiert haben, im ersten Monat einer Gesetzgebungsperiode zu einem Klub zusammenschließen können. Danach können Abgeordnete aus einem Klub austreten und in einen anderen aufgenommen werden. Sie können aber keinen neuen Klub gründen. Bis  2013 war hingegen eine Gründung jederzeit möglich. Die Neuregelung wurde mit dem Anspruch an einen möglichst stabilen Nationalrat und eine stärkere Rückbindung an das Wahlergebnis begründet. Diese steht jedoch im Spannungsverhältnis zum freien Mandat und der Handlungsfreiheit der Abgeordneten.8 Die starke Stellung der Klubs ergibt sich zuerst daraus, dass sie über eine eigenständige Finanzierung auf Basis des Klubfinanzierungsgesetzes verfügen und somit wesentliche materielle Voraussetzungen für die Tätigkeit der Abgeordneten garantieren. Nur Abgeordnete, die einem Klub angehören, können Mitglied von Ausschüssen werden, wovon zahlreiche weitere parlamentarische Mitwirkungsrechte abhängen. Eine Reihe von Minderheits- und Verfahrensrechten steht den Klubs zusätzlich zu den Rechten einzelner Abgeordneter bzw. exklusiv zur Verfügung. 8.2.1.4 Konsens als Leitprinzip

Die Klubobleute bilden – jeweils im Nationalrat und im Bundesrat – gemeinsam mit den drei PräsidentInnen die sogenannte Präsidialkonferenz. Das ist ein beratendes Gremium, das Organisations- und Rechtsfragen bespricht. Die Entscheidung dieser Fragen liegt rechtlich bei der Präsidentin/beim Präsidenten. Aber die rechtliche und faktische Stellung der Klubs hat dazu geführt, dass die Präsidialkonferenz  – auf informeller Ebene  – die parlamentarischen Abläufe prägt. Sie geht grundsätzlich nach dem Konsensprinzip vor.9 Dies kann Flexibilität in der Vorgangsweise ermöglichen, es gibt aber auch jedem Klub die Möglichkeit, die Verweigerung von Konsens und in bestimmten Fällen die »Vorgangsweise strikt 8 Vgl. Müller, Andreas (2018), Recht auf (nachträglichen) Klubzusammenschluss und freies Mandat, in  : Journal für Rechtspolitik 2018 (26), S. 49–65  ; Konrath (2017a), S. 573. 9 Dies wird ausführlich im Ausschussbericht zur Reform des GOGNR 1996 erläutert  : AB 284 BlgNR XX. GP, 2 f.

207

208

| 

Christoph Konrath

nach Gesetzeswortlaut« (z. B. durch einseitige Festlegung der Tagesordnung) als Druckmittel einzusetzen. Diesem Handlungsmodus entspricht auch, dass Protokolle der Präsidialkonferenz nicht veröffentlicht werden, und dass sie ihre »Entscheidungen« in der Regel nicht begründet. 8.2.1.5 PräsidentIn und Parlamentsdirektion

Die/Der PräsidentIn des Nationalrates wird üblicherweise vom größten Klub gestellt. Sie/Er gehört diesem weiter an, ist also nicht zur Unabhängigkeit verpflichtet. Zudem ist weder eine Abwahl vorgesehen noch kann sie/er rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie/Er hat damit eine außerordentliche Stellung, die jedoch – wohl auch mit Rücksicht auf die eigene Parteizugehörigkeit – selten in Anspruch genommen wird. Sie/Er entscheidet aber allein in allen Fragen, die die Verwaltung des Parlaments betreffen. Dazu zählen alle technischen, organisatorischen und rechtlichen Fragen ebenso wie die Parlamentskommunikation, die Bereitstellung von Fachexpertise und politische Bildung. Diese Aufgaben werden von der Parlamentsdirektion wahrgenommen, die aus öffentlich Bediensteten besteht. Die/Der PräsidentIn nimmt rechtlich die alleinige Vertretung des Nationalrates nach außen wahr. Angesichts der Organisationsform kann sich aber faktisch – und vor allem im Vergleich mit der Bundesregierung – die Frage stellen, wer für das Parlament und den Parlamentarismus spricht. Der Konsensdruck legt ein gemeinsames Vorgehen mit den Klubs nahe, Oppositions- und Regierungsparteien haben aber gerade hier sehr unterschiedliche Auffassungen. Die Parlamentsdirektion wiederum ist der Präsidentin/dem Präsidenten untergeordnet. Damit kann ein Dilemma entstehen, wenn es um die Frage der Durchsetzung und Verteidigung des Status, der Rechte und der Ressourcen des Parlaments und der dafür nötigen öffentlichen Unterstützung geht. 8.2.1.6 Auflösung des Nationalrates

Das Selbstorganisationsrecht des Nationalrates wurde seit jeher so verstanden, dass der Nationalrat mit Mehrheit über eine Verkürzung der Gesetzgebungsperiode und damit vorzeitige Neuwahlen beschließen kann. Dafür braucht es keine besonderen Gründe.10 Dies wird in missverständlicher Weise als »Selbstauflösung« bezeichnet. Der Nationalrat ist aber – wie auch im Normalfall – bis zum 10 Dies ist in Art. 29 Abs. 2 B-VG geregelt. Siehe dazu ausführlich Konrath, Christoph (2017b), Art. 29 B-VG, in  : Kneihs, Benjamin/Lienbacher Georg (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht 2017 (19. Lieferung), Rn. 33 ff.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Zusammentritt des neugewählten Nationalrates im Amt. Tatsächlich wurde die Mehrzahl der Gesetzgebungsperioden (19 von 26  ; Stand 2019) vorzeitig beendet, etwa wegen Konflikten innerhalb der Regierungskoalition oder aufgrund wahlstrategischer Überlegungen im gemeinsamen Interesse. Davon ist das Recht der Bundespräsidentin/des Bundespräsidenten, den Nationalrat aufzulösen, zu unterscheiden. Dies kann nur auf Vorschlag der Bundesregierung erfolgen, es setzt also ein enges Zusammenwirken beider Staatsorgane voraus. In diesem Fall wird der Nationalrat tatsächlich aufgelöst und besteht nicht mehr. Nur die ständig eingerichteten Unterausschüsse des Hauptausschusses und des Budgetausschusses bleiben bestehen und sollen ein Mindestmaß an demokratischer Mitwirkung in dieser Situation garantieren. Dieses Auflösungsrecht wurde traditionell als Gegenstück zur Abberufung der Bundespräsidentin/des Bundespräsidenten dargestellt. Im Unterschied zu dieser bestehen für die Auflösung des Nationalrates aber praktisch keine rechtlichen Hürden, was zu einem rechtlichen und faktischen Machtungleichgewicht führt Der Bundesrat kann nie aufgelöst werden.11 8.2.2 Die Bundesregierung  : Gestaltungsfreiheit und Verantwortung 8.2.2.1 Vorgaben der Bundesverfassung

Das B-VG sieht zwei Organisationsprinzipien für die Bundesregierung vor  : Ministerverantwortlichkeit und Kollegialität. Diese sind ausschließlich im B-VG normiert, eine Detailregelung, etwa in Form einer Geschäftsordnung, fehlt.12 Alle Mitglieder der Bundesregierung sind einander gleichgestellt und an keine Weisungen gebunden. Das heißt, kein Mitglied kann einem anderen Weisungen erteilen, und umgekehrt kann rechtlich keinem das Verhalten eines anderen vorgehalten werden. Damit ist jedes Mitglied der Bundesregierung für sich dem Nationalrat und dem Bundesrat politisch und rechtlich für seine gesamte Amtsführung verantwortlich. Das B-VG bestimmt, dass die Bundesregierung  – in ihrer Gesamtheit als kollegiale Verwaltungsbehörde – beschlussfähig ist, wenn die Hälfte ihrer Mitglieder anwesend ist. Mangels einer Regelung der Mehrheitserfordernisse wird davon ausgegangen, dass Beschlüsse nur einstimmig erfolgen können.13 Wie die Einigung erfolgt, lässt das B-VG offen. Anders als im 11 Ausführlich dazu Konrath (2017b), Rn. 10 f. 12 In den Ländern sind Geschäftsordnungen der Landesregierung hingegen üblich. Dies war insofern notwendig, als diese lange als »Versammlungs-« oder Proporzregierungen gebildet wurden. Die Regierungsmitglieder waren zur Zusammenarbeit verpflichtet. 13 Vgl. dazu Berka, Walter (2018), Verfassungsrecht, Wien, S. 711.

209

210

| 

Christoph Konrath

parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren werden nicht einmal Mindestanforderungen für die Verfahrensgestaltung festgelegt. Die Zusammenarbeit in der Bundesregierung ist somit weitgehend durch Informalität und Gestaltungsfreiheit geprägt. 8.2.2.2 Was kennzeichnet die/den BundeskanzlerIn  ?

Die/Der BundeskanzlerIn führt den Vorsitz in der Bundesregierung. Sie/Er hat jedoch grundsätzlich dieselbe Stellung wie die anderen Regierungsmitglieder. Folglich kann sie/er keine Richtlinien oder Weisungen erteilen. Sie/Er verfügt aber insoweit über Einfluss, als die Mitglieder der Bundesregierung auf ihren/ seinen Vorschlag hin ernannt oder entlassen werden. Im Bereich der Vertretung Österreichs in der EU kommen ihr/ihm ebenso wichtige Leitungsfunktionen zu, und einzelne Gesetze sehen eine Koordinationsfunktion vor.14 Davon zu unterscheiden ist der politische Führungsanspruch, der allgemein mit der/dem BundeskanzlerIn verbunden wird. Hier lassen B-VG, einzelne Gesetze und (informelle) Vereinbarungen in der Bundesregierung einen großen Spielraum zu, vor allem dahingehend, wie öffentliche Auftritte, Reisen oder ausgewählte Regierungsprojekte organisiert und kommuniziert werden. 8.2.2.3 Koordinationsaufgaben und Einfluss des Finanzministeriums

Im Unterschied zur/zum BundeskanzlerIn sieht das B-VG für die/den BundesministerIn für Finanzen eine ausdrückliche Führungsrolle vor.15 Ihr/Ihm obliegt die Vorbereitung des Budgets und die Koordination des Budgetvollzugs. Zustimmungs- und Genehmigungsrechte sichern einen entscheidenden Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Ministerien. Daher kann es in Regierungskoalitionen entscheidend sein, ob Bundeskanzleramt und Finanzministerium von derselben Partei geführt werden oder nicht. 8.2.2.4 »Die Bundesregierung hat beschlossen«

Die Bundesregierung tritt als Verwaltungsorgan im Ministerrat zusammen. Er wird – auch wenn dies früher schon anders gehandhabt wurde16 – grundsätzlich als Entscheidungsorgan verstanden. Ministerratssitzungen finden in der Regel 14 Vgl. Müller, Christoph (2012), Die Leitlinienkompetenz des Bundeskanzlers auf Basis des österreichischen Unionsverfassungsrechts als Ergänzung des Ressortprinzips, Wien. 15 Siehe dazu Lödl, Manfred Claus (2010), Bundeshaushaltsrecht  : Akteure, Kompetenzen, Prozesse, in  : Gerhard Steger (Hg.), Öffentliche Haushalte in Österreich, Wien, S. 209–252. 16 Ministerratsprotokolle der Monarchie, der 1. Republik und in der 2. Republik bis 1949 sind (teilweise) in Buchform veröffentlicht worden. Sie dokumentieren die Beratungen, die hier stattfanden.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

wöchentlich statt und dienen der Beschlussfassung in der Bundesregierung. Diese Entscheidungsfunktion ermöglicht es, Beschlüsse des Ministerrats in der politischen Kommunikation und Medienberichterstattung als definitiv darzustellen (zumal angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat nicht von Veränderungen ausgegangen wird). Im Unterschied zum Nationalrat und seinem – relativ fixen – Arbeitsplan und zu den Anforderungen an das Verfahren ist die Bundesregierung in der Festlegung ihrer Tagesordnung weitgehend frei. Schwerpunkte der Ministerratssitzungen sind Gesetzentwürfe, die als Regierungsvorlagen an den Nationalrat übermittelt werden, der Abschluss von (internationalen) Abkommen, der Erlass von Verordnungen und Personalentscheidungen. Es ist aber auch üblich, einzelne Projekte der Bundesregierung oder Maßnahmen im Bereich der Ministerialverwaltung, die nicht durch einen Rechtsakt geregelt werden (sollen), als »Ministerratsvortrag« zu präsentieren.17 Der Ministerrat wird durch den Ministerratsdienst im Bundekanzleramt formell vorbereitet. Die inhaltliche Vorbereitung und Abstimmung erfolgt innerhalb der Bundesregierung, sodass in der Sitzung selbst keine Beratung mehr erforderlich sein muss. 8.2.2.5 Ministerien, SprecherInnen und Kabinette

Die Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche der einzelnen Mitglieder werden im Bundesministeriengesetz geregelt. Dieses Gesetz wird mit einfacher Mehrheit beschlossen und kann jederzeit verändert und angepasst werden. Das B-VG sieht lediglich vor, dass es zwingend einen Bundeskanzler, einen Vizekanzler, einen Bundesminister für Finanzen und einen Bundesminister für Inneres geben muss. Alles Weitere wird mit dem Bundesministeriengesetz eingerichtet, das ansonsten (und weitgehend gleichbleibend) die Organisationsgrundsätze der Bundesministerien, also der Verwaltung selbst, regelt. Andere Bereiche und Funktionen wie z. B. der in der 26.  Gesetzgebungsperiode (2017–2019) tätige Regierungssprecher (ein Beamter) können gesetzlich geregelt werden. Allerdings besteht hierzu keine Verpflichtung. Ministerbüros, die in Österreich auch als »Kabinette« bezeichnet werden,18 sind rechtlich nur insofern »negativ« geregelt, als sie von dienstrechtlichen Bestimmungen ausgenommen werden. Alles andere wird weitgehend frei gestaltet. Wie die Entscheidungsfindung innerhalb der Bundesregierung stattfindet, wird unterschiedlich 17 Die Protokolle des Ministerrats werden seit 2016 auf der Website des Bundeskanzleramts veröffentlicht. Es handelt sich  – der Logik eines Entscheidungsgremiums entsprechend  – um Beschlussprotokolle. 18 International ist die Bezeichnung Kabinett eher für die Gesamtheit der Minister gebräuchlich.

211

212

| 

Christoph Konrath

festgelegt und in der Regel nur in Umrissen öffentlich gemacht.19 Längere Zeit war es üblich, dass in Regierungskoalitionen jeweils zwei Ministerien als »Spiegelministerien« ihre Vorgangsweise abstimmen mussten. Eine andere Möglichkeit stellen RegierungskoordinatorInnen aus den Reihen der MinisterInnen oder eine abgestimmte Kommunikationspolitik dar. 8.2.2.6 Staatssekretariate

Keine Mitglieder der Bundesregierung sind die StaatssekretärInnen. Die/Der BundeskanzlerIn schlägt (wie bei den MinisterInnen) ihre Ernennung durch die Bundespräsidentin/den Bundespräsidenten vor. Sie werden aber einer/einem MinisterIn zur Unterstützung beigegeben (z. B. zur Vertretung im Parlament oder in EU-Gremien oder zur Betreuung besonderer Themenschwerpunkte). Sie sind an die Weisungen der Ministerin bzw. des Ministers gebunden und haben weder ein Stimmrecht im Ministerrat, noch kann gegen sie ein Misstrauensantrag eingebracht werden. In Koalitionsregierungen wird ihnen traditionell auch die Aufgabe der Kontrolle in Schlüsselressorts, die der Koalitionspartner besetzt, zugewiesen.20 8.3 Abgeordnete und Regierungsmitglieder 8.3.1 Ansprüche und Aufgaben Eine demokratische Verfassung geht traditionell davon aus, dass sich alle BürgerInnen für ein politisches Amt bewerben oder dafür ausgewählt werden können. Damit ist der Anspruch verbunden, dass PolitikerInnen aus der Gesellschaft kommen und diese kennen. Zugleich sollen Bezüge und weitere materielle Ressourcen sicherstellen, dass Abgeordnete und Regierungsmitglieder über eine ma-

19 Eine Ausnahme bildet die ausführliche Beschreibung für die Zeit zwischen 2000 und 2006 in Khol, Andreas (2007), Koalitionsabkommen in der Regierungspraxis 1994 bis 2007, in  : Andreas Khol/Günther Ofner/Stefan Karner/Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik, Wien/Köln/Weimar, S. 141–155. 20 Besonders deutlich wird dies darin, dass 2007, anlässlich der Neuauflage der SPÖ-ÖVP-Koalition eine eigene Bestimmung in Art. 78 Abs. 2 B-VG geschaffen wurde, um diese »Kontrollmöglichkeit« bei der Vertretung von Bundeskanzler und Vizekanzler auszuschalten. Siehe dazu Muzak, Gerhard (2007), Die Neuregelung der Vertretung oberster Organe durch die B-VG-Novelle 2007 – Systemwechsel als Ergebnis einer Anlassfallgesetzgebung, in  : Zeitschrift für Verwaltung 2007 (5), S. 918–925.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

terielle Basis verfügen, die es ihnen ermöglicht, auch jene Distanz einzunehmen, die es braucht, um im allgemeinen Interesse tätig werden zu können. Dieses Modell wird spätestens seit den 1980er Jahren in westlichen Demokratien hinterfragt. Es geht darum, wie offen das Auswahlsystem tatsächlich sei und welche Effekte Ämterkumulation und wirtschaftliche Verbindungen und Interessen auf die politische Amtsführung haben. Gleichzeitig haben sich (etwa durch einen Ausbau der Kontrollrechte und den EU-Beitritt) die Aufgaben von und intellektuellen Anforderungen an PolitikerInnen geändert, und sie sind durch zunehmende Verfahrenstransparenz besser nachvollziehbar geworden. Der Kontakt zu ihnen wird einfacher, ihr Wissen und ihre Handlungen deutlich sichtbarer. Damit können Anforderungen an sie und Kritik an ihnen wachsen.21 8.3.2 Anforderungen an AmtsträgerInnen und Repräsentation Das B-VG und weitere Rechtsvorschriften gehen von einem traditionellen Demokratieverständnis aus. Demzufolge stellen sie mit Ausnahme der Wählbarkeit und der Vereidigung auf die Einhaltung von Verfassung und Gesetze keine Anforderungen an den Antritt eines Abgeordnetenmandats oder Regierungsamts. Dementsprechend gibt es weder rechtliche Vorgaben für die Repräsentation von Frauen oder Minderheiten in Parlament und Regierung noch eine rechtliche Verpflichtung auf die Sorge um das Gemeinwohl oder Ähnliches. Somit liegt es allein an den Parteien, KandidatInnen aufzustellen oder vorzuschlagen.22 Ähnliches gilt auch für die Fort- und Weiterbildung von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern. Dies ist (v.a. in politikfeldbezogener Hinsicht) eine Angelegenheit im eigenen Verantwortungsbereich bzw. in jenem des Klubs oder der Partei. Institutionalisierte staatliche oder parteiübergreifende Einführungskurse und Fortbildungsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen. 8.3.3 Ernennung der Mitglieder der Bundesregierung Die Mitglieder der Bundesregierung werden von der Bundespräsidentin/vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundeskanzlerin/des Bundeskanzlers er21 Siehe dazu Inter-Parliamentary Union/United Nations Development Programme (2012), Global Parliamentary Report  : The Changing Nature of Parliamentary Representation, [http://archive.ipu. org/dem-e/gpr.htm], eingesehen am 06.10.19. 22 Seit 2019 sieht § 4a Klubfinanzierungsgesetz eine Bonuszahlung für jene Klubs vor, deren Frauenanteil über 40 % liegt. Im Internetangebot des Parlaments finden sich im Bereich »Wer ist wer« personen-, alters- und berufsbezogene Auswertungen, die laufend ergänzt und aktualisiert werden.

213

214

| 

Christoph Konrath

nannt. Wenngleich bei der Bestellung darauf geachtet wird, dass die Bundesregierung über die Unterstützung einer Mehrheit im Nationalrat verfügt, ist die Bundespräsidentin/der Bundespräsident in der Entscheidung frei und rechtlich auch nicht an die Gesetzgebungsperiode des Nationalrates gebunden.23 Der Nationalrat hat folglich nur die Möglichkeit, der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder nach Ernennung das Misstrauen auszusprechen. Er verfügt – jedenfalls im Rahmen des Plenums – über keine Instrumente, mögliche Mitglieder der Bundesregierung vorab in einem öffentlichen Hearing zu befragen und so ihre Eignung zu prüfen. Die/Der BundespräsidentIn Die Zeit der Entstehung der Republik Österreich war in ganz Europa von intensiven Debatten über Parteiendemokratie und politische Führung geprägt. Die Parteienvielfalt sollte mit dem Wunsch nach starken, einheitlichen Staaten in Einklang gebracht werden. Ein Ausgleich bot sich in zwei vom Volk gewählten Organen an  : Einem Präsidenten, der für Einheit stand, und einem Parlament, in dem Vielfalt zum Ausdruck kam. Starke Rechte des Präsidenten sollten einen Führungsanspruch sichern und in den neuen Demokratien auch pädagogisch wirken. Bei der Erlassung des B-VG 1920 entschied man sich gegen ein solches Modell und sah stattdessen eine/n von der Bundesversammlung (Nationalrat und Bundesrat) gewählte/n Bundespräsidentin/Bundespräsidenten vor, die/der in seinen Kompetenzen stark eingeschränkt war. Die zentrale Gestaltungsmacht lag beim Nationalrat. Diese Lösung war von Beginn an umstritten. Vor allem die Heimwehren forderten eine starke Führung nach dem Vorbild des italienischen Faschismus. In der politischen Krisensituation 1929 präsentierte die Bundesregierung einen Verfassungsreformvorschlag, der einen vom Volk gewählten Bundespräsidenten vorsah, der nicht nur die Bundesregierung ernennen sollte, sondern vor allem über umfangreiche Not- und Ausnahmerechte verfügte, die eine Regierungsdiktatur ermöglichen konnten. Die Sozialdemokraten lehnten Letztere ab, sie zeigten sich aber in allen anderen Fragen kompromissbereit. Dies führte im Ergebnis dazu, dass die/der BundespräsidentIn in den meisten Fällen nur aufgrund eines Vorschlags der Bundesregierung handeln kann. Das heißt, BundespräsidentIn und Bundesregierung sind darauf angewiesen, zu kooperieren, wenn bestimmte Rechtsakte gesetzt werden sollen. Rechtlich völlig frei ist die Bundespräsidentin/der Bundespräsident in der Ernennung und Entlassung der Bundeskanzlerin/des Bundeskanzlers. Die Mitglieder der Bundesregierung werden auf Vorschlag der Bundeskanzlerin/des Bundeskanzlers ernannt. Die Bundespräsidentin/Der Bundespräsident ist jedoch nicht verpflichtet, den Vorschlägen zu folgen. Auf Vorschlag der Bundesregierung kann die/der Bundespräsident den Nationalrat (nicht 23 Siehe dazu Öhlinger, Theo/Eberhard, Harald (2019), Verfassungsrecht, Wien, Rn. 505 f. In der 2. Republik ist erstmals am 3.6.2019 die Situation eingetreten, dass der Bundespräsident nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die gesamte Bundesregierung eine neue Regierung ernannt hat, die unter der Leitung der (vormaligen) Präsidentin des VfGH aus aktiven und ehem. BeamtInnen bestand.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

aber den Bundesrat) auflösen. Daraufhin müssen Neuwahlen stattfinden. Die Absetzung der Bundespräsidentin/des Bundespräsidenten ist demgegenüber an weit höhere Hürden gebunden. Zunächst muss der Nationalrat mit 2/3-Mehrheit einen entsprechenden Antrag beschließen. Danach braucht es eine Mehrheit in der Bundesversammlung und in einer Volksabstimmung. Die österreichischen Bundespräsidenten haben von ihren Rechten bisher nur selten Gebrauch gemacht und ihr Amt mit großer Zurückhaltung ausgeübt. Für Diskussionen sorgt immer wieder die Aufgabe, das »verfassungsmäßige Zustandekommen« der Bundesgesetze zu beurkunden. Dabei geht es um die Frage, ob ausschließlich die Einhaltung der Verfahrensregeln kontrolliert werden soll, oder ob die Bundespräsidentin/der Bundespräsident auch eine besondere Verantwortung zur Sicherung der Verfassung und der Grundrechte hat.

8.3.4 Unvereinbarkeit und Verhaltensregeln Mit Antritt eines Abgeordnetenmandats oder Regierungsamts kommen Unvereinbarkeitsregeln und Meldepflichten zum Tragen, die eine von einzelnen Bereichen unbeeinflusste Amtsführung sicherstellen sollen (und so die Repräsentation verstanden als Vertretung einzelner Interessen einschränken). Dabei können rechtliche (bzw. politische), wirtschaftliche und sonstige Bereiche unterschieden werden.24 Die wichtigsten Bestimmungen finden sich in der Bundesverfassung25 und im Unvereinbarkeits- und Transparenzgesetz. Sie werden vom Nationalrat beschlossen und angewendet. Sie wurden seit den 1980er Jahren mehrfach angepasst und spiegeln somit die Veränderungen der Funktionsausübung wider. Eine unabhängige rechtliche Prüfung der Erfüllung dieser Pflichten ist nicht vorgesehen, jedoch wird seit 2013 ein Großteil der Daten und auch eine Zuordnung der Abgeordneten zu Einkommenskategorien (außerhalb der parlamentarischen Tätigkeit) veröffentlicht. 8.3.4.1 Gewaltentrennung und Unvereinbarkeit

Aufgrund der Gewaltentrennung und im Interesse unabhängiger Amtsführung dürfen etwa Mitglieder des Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtshofes, der/die PräsidentIn des Rechnungshofes oder die Mitglieder der Volksanwaltschaft kein politisches Amt ausüben. Auch die Bundespräsidentin/der Bundespräsident darf kein anderes politisches Amt innehaben. Keine Unvereinbarkeit besteht hinge24 Siehe dazu GRECO (2016), 4. Evaluierungsbericht Österreich »Korruptionsprävention bei Abgeordneten, Richtern und Staatsanwälten«, [https://www.coe.int/en/web/greco/evaluations/austria], eigesehen 10.05.19. 25 Für Mitglieder des Bundesrates können auch die Landesverfassungen besondere Regeln vorsehen.

215

216

| 

Christoph Konrath

gen zwischen der Mitgliedschaft in der Bundesregierung und dem Nationalrat bzw. dem Bundesrat. Dies ist eine Konsequenz des parlamentarischen Regierungssystems. Seit den frühen 1990er Jahren ist es aber nicht mehr üblich, Mitglied in beiden zu sein. 8.3.4.2 Berufsverbote und Interessenskonflikte

Die Bundespräsidentin/Der Bundespräsident, Mitglieder der Bundesregierung, StaatssekretärInnen, der Präsident/die Präsidentin  des  Nationalrates26 und die Klubobleute der Nationalratsklubs dürfen keinen (anderen) Beruf mit Erwerbsabsicht ausüben. Damit ist wirtschaftliche Erwerbstätigkeit gemeint. Für alle anderen Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates gelten keine solchen Verbote. Sie sind aber verpflichtet, leitende Tätigkeiten in Aktiengesellschaften, einer GmbH, Stiftungen oder Sparkassen zu melden. Der (jeweils zuständige) Unvereinbarkeitsausschuss muss dann entscheiden, ob eine Unvereinbarkeit besteht oder nicht. Ebenso sind jegliche sonstige Berufstätigkeit sowie leitende ehrenamtliche Tätigkeiten zu melden. Hier erfolgt nur eine Meldung und keine Entscheidung, selbst wenn ein viel größerer Einfluss auf die Mandatsausübung vermutet werden kann als z. B. bei einer Sparkassenfunktion. Es ist auch zulässig, dass ParlamentarierInnen im öffentlichen Dienst tätig sind. Dies gilt jedoch nicht für RichterInnen, die Staatsanwaltschaft, den Exekutivdienst o.ä. Hier soll eine unbeeinflusste Amtsführung gewährleistet sein, wobei der Unvereinbarkeitsausschuss im Einzelfall eine Ausnahme gewähren kann. 8.3.4.3 Verhaltensregeln

Von diesen Unvereinbarkeits- und Meldebestimmungen sind andere Anforderungen zu unterscheiden, die sich auf das »Wie« der Amtsführung beziehen. Solche »Verhaltenskodizes« oder »Codes of Conduct« gehen über rechtliche Bestimmungen hinaus und sind eine Selbstverpflichtung zum Umgang untereinander und mit der Öffentlichkeit, zu etwaigen wirtschaftlichen Vorteilen, die sich aus dem Umfeld der politischen Tätigkeit ergeben, usw. Solche Regeln bestehen in Österreich weder für das Parlament noch für die Bundesregierung.27 Damit in Verbindung steht auch die Frage nach Unvereinbarkeiten oder Verhaltensregeln nach Beendigung eines politischen Amtes. Dies ist im Hinblick auf mögliche Vorleistungen während der Amtsausübung oder die Nutzung von Wissen, das nur aufgrund eines Amtes erworben werden konnte, von hoher Re26 Nicht aber für den/die 2. und den/die 3. Präsidentin/Präsidenten. 27 Siehe dazu GRECO (2016).

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

levanz.28 Ähnliche Fragen können sich stellen, wenn jemand aus einem politischen Amt unmittelbar in eine hohe Verwaltungsfunktion oder in ein Richteramt wechselt. Aber auch dafür bestehen keine rechtlichen Regelungen.29 8.3.4.4 Informationssicherheit und Compliance

Die Frage nach dem Verhalten während der Amtsausübung ist insbesondere für den Umgang mit sensiblen Informationen etwa aus dem Sicherheitsbereich oder dem Finanzbereich von Bedeutung. Regierungsmitglieder haben Zugang dazu aufgrund ihrer Ressortverantwortung, ParlamentarierInnen im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle und der Mitwirkung in EU-Angelegenheiten. Die Folge des Ausbaus parlamentarischer Mitwirkungsmöglichkeiten ist hier, dass auch das Parlament mit Fragen der Informationssicherheit konfrontiert ist und demokratische Kontrolle in ein Spannungsfeld mit anderen Interessen gerät oder aber für eigene wirtschaftliche Zwecke gebraucht werden könnte. Hier sind seit 2000 eine Reihe von gesetzlichen Regelungen entstanden, die primär auf den sicheren Umgang mit solchen Informationen abstellen. Strafrechtliche Konsequenzen sind nur im Ausnahmefall vorgesehen. Eine Sicherheitsüberprüfung politischer AmtsträgerInnen findet nicht statt. 8.3.5 Beruf  : PolitikerIn In gesetzlichen Regelungen ist im Zusammenhang mit ParlamentarierInnen und Mitgliedern der Bundesregierung regelmäßig vom »Beruf« die Rede. Hier wird an ein älteres Verständnis angeknüpft, das Beruf von »Erwerb« abgrenzt und diesen noch eng mit »Berufung« (in/für ein Amt und damit wieder mit der Repräsentationsfrage) verbindet.30 Im Rechtssinn ist mit Beruf all das gemeint, was die Funktionsausübung im engeren Sinn umfasst, also bei Mitgliedern des Nationalrates und des Bundesrates die parlamentarische Tätigkeit in Sitzungen und in Ausübung von Kontroll- und Fragerechten. Nicht vom Begriff »Beruf« erfasst ist demnach die Tätigkeit in Partei und Gremien, im Wahlkreis usw., wenngleich 28 Vgl. dazu für Deutschland Bamberger, Matthias (2014), Nachamtliche Tätigkeitsbeschränkungen für politische Amtsträger, Berlin. 29 In Österreich gibt es nur die Regelung, dass die/der PräsidentIn des Rechnungshofes (Art. 122 B-VG), die/der PräsidentIn und VizepräsidentIn eines Verwaltungsgerichtes oder des Verwaltungsgerichtshofes (Art. 134 B-VG) sowie des VfGH (Art. 147 B-VG) in den letzten fünf Jahren vor Amtsantritt keiner Bundesregierung oder Landesregierung (alle Genannten) bzw. keinem Parlament (einschließlich EP) angehört haben (nur Gerichte). 30 Grundlegend dazu ist Weber, Max (1919), Politik als Beruf, München.

217

218

| 

Christoph Konrath

sie (vor allem in Österreich) einen Großteil der Zeit von ParlamentarierInnen in Anspruch nimmt. 8.3.5.1 Bezüge und Spesen

Abgeordnete und Regierungsmitglieder31 stehen in keinem Dienstverhältnis zur Republik. Sie erhalten dementsprechend kein Gehalt, sondern einen pauschalierten Monatsbezug, der ihnen 14-mal pro  Jahr zusteht und ihnen somit eine materielle Basis und eine (grundsätzliche) Freiheit von staatlichen Stellen und privaten Geldgebern sichert. Seit 1997 besteht dafür mit einer Bezügepyramide und der Begrenzung von Bezügen (aufgrund mehrerer Funktionen) eine Grundsatzregelung. Ausgangspunkt ist der Bezug der Abgeordneten zum Nationalrat (100 %), das eines Mitglieds der Bundesregierung beträgt das Doppelte, das eines Mitglieds des Bundesrates die Hälfte usw.32 Dies bedeutet, dass die Anhebung der Bezüge der Abgeordneten auch zu einer Anhebung anderer Bezüge führt, ein Aussetzen der (gesetzlich vorgesehenen) jährlichen Bezugsanpassung bewirkt, dass auch die anderen Bezüge nicht angepasst werden.33 Die Bezüge innerhalb einer Kategorie sind gleich. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob jemand länger oder kürzer im Amt ist oder ob jemand Funktionen wie z. B. einen Ausschussvorsitz ausübt. Ebenso sind keine Abschläge vorgesehen, etwa weil jemand (entschuldigt oder unentschuldigt) nicht an Sitzungen teilnimmt. Zusätzlich können ParlamentarierInnen bestimmte Spesen wie Fahrt- oder Bürokosten bis zu einem gesetzlich festgelegten Maximalbetrag pro Jahr geltend machen.34 8.3.5.2 Versicherungs- und Pensionsansprüche

Da Abgeordnete und Mitglieder der Bundesregierung keine DienstnehmerInnen sind, haben sie bloß aus dieser Tätigkeit auch keinen Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Sie haben (auf Bundesebene) auch keine Karenzansprüche, etwa für Eltern- oder Pflegekarenz. In einigen Landtagen bestehen solche hingegen, und eine andere Person rückt für die Dauer der Karenz als Mitglied nach.35 Für Abgeordnete und Mitglieder der Bundesregierung be31 Einschließlich der StaatssekretärInnen. 32 Dies ist in § 3 Bundesbezügegesetz geregelt. 33 In manchen Jahren wird daher nur die Erhöhung der Bezüge »über 100 %« ausgesetzt. Siehe z. B. BGBl. I 4/2019. 34 Dies regelt § 10 Abs. 1 Bundesbezügegesetz. 35 Vgl. Bußjäger, Peter (2010), Freistellung von Abgeordneten für Betreuungszwecke. Zeitgemäße Neuerung oder eine verpönte Form des Mandats auf Zeit  ?, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2010 (1), S. 42–49.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

stand bis 1997 ein eigenes Pensionsrecht. Nur jene, die bereits davor vier Jahre in einer Regierung (Bund oder Land) oder acht bis zehn Jahre in Nationalrat, Bundesrat bzw. Landtag verbracht haben, haben noch Anspruch auf die »alten« Politikerpensionen. Alle anderen unterliegen denselben Pensionsregelungen wie alle anderen ArbeitnehmerInnen. 8.3.6 Fachliche Unterstützung und Infrastruktur Abgeordneten zum Nationalrat steht ein bestimmter (am Gehaltsschema des Bundesdienstes ausgerichteter) monatlicher Betrag zur Verfügung, der zweckgebunden für die Anstellung von parlamentarischen MitarbeiterIinnen verwendet werden kann.36 Diese wurden 1996 (angesichts steigenden Arbeitsaufwands) eingeführt und sollen Abgeordnete in ihrer parlamentarischen (nicht parteipolitischen) Tätigkeit unterstützen. Die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind unterschiedlich und reichen von Expertentätigkeiten bis zur Wahlkreisbetreuung.37 Die Parlamentsdirektion stellt Abgeordneten Infrastruktur- und Informationsservices zur Verfügung, sie wird jedoch grundsätzlich nicht im Auftrag von Abgeordneten tätig. Inhaltliche Beratungsleistungen stehen nur begrenzt zur Verfügung. Die Erarbeitung von Gesetzentwürfen für einzelne Abgeordnete oder Klubs ist – nicht zuletzt im Sinne unparteilicher Aufgabenerfüllung – ausgeschlossen. Für alle weiteren Formen der inhaltlichen, politischen und organisatorischen Unterstützung stehen die Klubs zur Verfügung. Alle Klubs erhalten aufgrund des Klubfinanzierungsgesetzes einen Sockelbetrag für die hiermit verbundenen Aufwendungen, der je nach Klubgröße steigt. Während sich der parlamentarische Bereich durch relativ detaillierte Regelungen und Abgrenzungen auszeichnet, bestehen solche für die Bundesregierung nicht. Dort stehen zum einen die personellen und materiellen Ressourcen des jeweiligen Ministeriums zur Verfügung, zum anderen verfügt jedes Regierungsmitglied38 über einen eigenen Stab von MitarbeiterInnen (Kabinett) und ein Budget für den hiermit verbundenen Aufwand.39 36 Im Bundesrat besteht diese Möglichkeit seit 2019 nur für die Fraktionsführer (= »Klubobleute«)  : BGBl I 1/2019. 37 Vgl. Dolezal, Martin (2000), ExpertInnen oder SekretärInnen. Die Rolle der parlamentarischen MitarbeiterInnen der Nationalratsabgeordneten, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2000 (2), S. 201–218. 38 Ebenso wie die Staatssekretärinnen und -sekretäre. 39 Einen guten Überblick bietet Gratz, Wolfgang (2017), Symptomträger und Garanten des Bestehenden, Wiener Zeitung Online, [https://www.wienerzeitung.at/themen/stadt-und-land/908290-Symp

219

220

| 

Christoph Konrath

8.3.7 Handlungsmöglichkeiten und Rollenorientierung 8.3.7.1 Personalisierung und Professionalisierung

Der Fokus der bisherigen Darstellung lag im Bereich der Institutionen, die durch formelle (rechtliche) und informelle Regeln (z. B. Konsens) geprägt werden. Demgegenüber wird der Schwerpunkt politischer Kommunikation in zunehmendem Maße durch Personalisierung geprägt, also durch die Konzentration auf einzelne PolitikerInnen und deren Themen. Diese wird professionalisiert, in dem etwa Auftritte und Debatten detailliert geplant und mit einer spezifischen Dramaturgie versehen werden, zu der auch die Präsentation eigener (Umfrage-) Daten und Expertenanalysen zählen.40 Die institutionellen Rahmenbedingungen parlamentarischer Demokratie treten demgegenüber zurück, da sie  – vor allem im Parlament – einen hohen Koordinationsbedarf voraussetzen, stark ritualisiert scheinen und nur eingeschränkten Raum für persönliche Präsentation bieten. Dies wird etwa an den seit langem im Nationalrat geführten Debatten darüber deutlich, Sitzungen ansprechender und lebendiger zu gestalten.41 8.3.7.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

Der rechtliche Kontext ist, wie schon erwähnt wurde und noch bei der Funktions- und Aufgabenbeschreibung vertieft wird (8.4), in Österreich relativ weit gefasst. Er ist für ParlamentarierInnen im Hinblick auf Unvereinbarkeiten und Meldepflichten enger geworden, was ein Faktor dafür sein kann, dass politische Tätigkeit (und das Bemühen, diese fortzusetzen) zur Hauptbeschäftigung etwa eines signifikanten Teils der Mitglieder des Nationalrates (2018 ca. 25 %) wird. Dies hat sowohl Auswirkungen auf Wissen und Expertise, die von Abgeordneten eingebracht werden (können), als auch auf das Repräsentationsverständnis.42 tomtraeger-und-Garanten-des-Bestehenden.html], eingesehen am 06.10.19. Die Größe dieser Kabinette und die Kosten dafür sind regelmäßig Gegenstand parlamentarischer Anfragen, siehe z. B. zu »Aufwendungen für Kabinette« Anfrage 13226/J oder Anfrage 13994/J, 25. GP. 40 Anschaulich stellen Clarke, Nick, et al. (2018), The Good Politician. Folk Theories, Political Interaction and the Rise of Anti-Politics, New York, diese Entwicklung am englischen Beispiel dar. 41 Vgl. Konrath, Christoph (2008), (Erfahrungs)Bericht Geschäftsordnungsreform im Nationalrat in der 23.Gesetzgebungsperiode, in  : Bußjäger, Peter (Hg.), Die Zukunft der parlamentarischen Kontrolle, Wien, S. 47–65. 42 Die letzten Erhebungen dazu wurden 2001 veröffentlicht  : Müller, Wolfgang, et al. (2001), Die österreichischen Abgeordneten. Individuelle Präferenzen und politisches Verhalten, Wien. Neuere Daten und Analysen fehlen weitgehend. Die Berufsstatistik wird auf der Parlamentswebsite geführt.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

8.3.7.3 Sozialisation in den Klubs

Für die Handlungsmöglichkeiten der Abgeordneten ist aber vor allem die Stellung der Klubs im parlamentarischen Prozess von Bedeutung. Die parlamentarische Sozialisation der Abgeordneten findet seit langem primär über die Klubs statt, auf die (in den meisten Fällen) neue ParlamentarierInnen als Organisation und durch (wiedergewählte) KollegInnen treffen. Sie prägen, wie und in welchem Ausmaß parlamentarische Arbeit stattfindet. Die Klubleitungen treffen die wesentlichen organisatorischen und prozeduralen Entscheidungen. Sie legen fest, in welchem Ausmaß Ausschüsse und Plenum tagen. Sie bestimmen auch, in welchen Ausschüssen Abgeordnete tätig werden können, da nur den Klubs (und nicht den Abgeordneten selbst) das Recht zusteht, Mitglieder zu benennen. Damit ist auch die Letztentscheidung darüber verbunden, wer welche Themen vertreten kann bzw. muss. Im Nationalrat bestimmen die Klubleitungen grundsätzlich über die Redemöglichkeit und Redezeit der Abgeordneten, da die Gesamtredezeit proportional auf die Klubs verteilt wird. Auf diese Weise wird der weite Spielraum, den die Rechtsnormen lassen, letztlich beschränkt. 8.3.7.4 Klubmitgliedschaft und Handlungsmöglichkeiten

Ohne Klubmitgliedschaft verfügen Abgeordnete nur über sehr eingeschränkte Ressourcen, die sich im Wesentlichen auf eigene parlamentarische MitarbeiterInnen sowie Infrastruktur- und Informationsangebote der Parlamentsdirektion beschränken. Die parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten einzelner Abgeordneter sind auf (kurze) Reden im Plenum und Abstimmungen beschränkt. Für Anträge und Anfragen (siehe noch 8.4.4.6) brauchen sie die Unterstützung weiterer Abgeordneter. Erst die Klubmitgliedschaft bietet also Zugang zu materiellen und prozeduralen Ressourcen und damit zu Themensetzung und Kommunikation. Dies ist nicht zuletzt in Hinblick auf die zeitliche Inanspruchnahme durch ein Mandat und weitere (politische) Funktionen ein wichtiger Aspekt.43 Die Zusammenarbeit in einem Klub erfordert (in jedem Parlament) ein hinreichendes Maß an Abstimmung und koordinierter Vorgangsweise, um in parlamentarischen und öffentlichen Debatten nicht gegeneinander ausgespielt zu werden. Auf der anderen Seite schafft dies jedoch Handlungserwartungen und Abhängigkeiten, die umso größer werden, je enger die Verbindung zwischen Klub- und Parteileitung und je stärker deren Einfluss auf die Wahllistenerstellung und eine Wiederwahl ist.44 43 Diesen Themen ist ein wesentlicher Teil des Global Parliamentary Report 2012 gewidmet. 44 Vgl. Konrath, Christoph/Sully, Melanie (2014), Persönlichkeiten, Parteien und Parlamentarismus,

221

222

| 

Christoph Konrath

8.3.7.5 Klubdisziplin

Damit ergeben sich Erklärungsansätze für die im österreichischen Parlament außergewöhnlich hohe Klubdisziplin, die regelmäßig auch als Klubzwang bezeichnet wird. Bezeichnend dafür ist das Rede- und Abstimmungsverhalten, das nur in Ausnahmefällen nicht einheitlich ist. Dies führt dazu, dass in der Regel nur (einzelne) Abgeordnete ein eigenständiges parlamentarisches Profil entwickeln können. Ansonsten macht es die relativ starre Redeordnung und die fehlende Dokumentation der individuellen Abstimmung schwer, parlamentarische Tätigkeiten nachzuvollziehen und zu beurteilen.45 Dies wird ergänzt um ein durch Jahrzehnte geprägtes Rollenverständnis der Abgeordneten selbst, das nicht notwendigerweise auf parlamentarische Tätigkeit im engeren Sinn abstellt, sondern z. B. Parteiarbeit, Wahlkreis- und Interessensvertretung in den Vordergrund stellt und damit ein persönliches Profil schafft. 8.3.7.6 Regieren und Gestalten

Die Bundesregierung und ihre Mitglieder sind (auch wenn dies zunächst banal scheinen mag) schon aufgrund ihrer Zahl in einer ganz anderen Position als die ParlamentarierInnen. Die Handlungs- und Erscheinungsmöglichkeiten werden dadurch, dass grundsätzlich nur eine oder wenige Person(en) für einen Themenbereich sprechen soll(en), geprägt (im Unterschied zur Vielstimmigkeit des Parlaments). Auftrittsmöglichkeiten und Erscheinungsweise sind dabei nicht durch ein verfahrensrechtliches Regime, die Notwendigkeit zur Abstimmung innerhalb einer größeren Gruppe oder die Praktiken der VorgängerInnen gebunden. Der Zugriff auf personelle und materielle Ressourcen und Wissen kann unmittelbar durch den (persönlichen) Mitarbeiterstab und das (weisungsgebundene) Personal des jeweiligen Ministeriums erfolgen. Solange Handlungen nicht durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt sind, besteht durch Schwerpunktsetzungen im Bereich der Verwaltungsführung, in der Kommunikation nach außen und der Vergabe von Fördermitteln ein großes Handlungsfeld.46 Der Zugriff auf die (und die Erweiterung der) dafür notwendigen Mittel ist jedoch nicht in  : Andreas Khol/Helmut Ofner/Stefan Karner (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2013, Wien, S. 327–338. 45 Im Nationalrat und im Bundesrat gibt es keine elektronischen Abstimmungsanlagen. Namentliche Abstimmungen, bei denen das Stimmverhalten jedes Mitglieds erfasst wird, müssen verlangt werden und kommen nur selten vor. Mit Ausnahme einzelner, moralisch besonders umstrittener Fragen (z. B. im Bereich Fortpflanzungsmedizin) kommt es dabei praktisch nie zu abweichendem Stimmverhalten innerhalb eines Klubs sondern – eher im Gegenteil – zum Beweis der Loyalität und Disziplin. 46 Ausführlich dazu Feik, Rudolf (2007), Öffentliche Verwaltungskommunikation, Wien.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

unbegrenzt, sondern wird durch das Budget und den Personalplan des Bundes vorgegeben, auf dessen Erstellung der/die BundesministerIn für Finanzen entscheidenden Einfluss nimmt. 8.3.7.7 Regierungsamt und Verwaltungsleitung

Von diesen Aspekten der Personalisierung und des Außenauftritts ist das Handeln als oberstes Verwaltungsorgan zu unterscheiden, also all das, was mit dem Vollzug von Bundesgesetzen in der Zuständigkeit des jeweiligen Ministeriums zu tun hat. Ebenso (und damit im Zusammenhang) sind jene Handlungen zu unterscheiden, die nur ausgeführt werden können, wenn es eine (verfassungs-) gesetzliche Grundlage gibt. Für diese Bereiche unterliegen die Mitglieder der Bundesregierung jenen Handlungsvorgaben, die sich aus den Gesetzen ergeben und die – der österreichischen Rechtstradition entsprechend – oft sehr detailliert gestaltet sind (siehe 9.4.2.1). Unter der Maßgabe, dass ihnen die Letztentscheidung zukommt und (was in vielen Bereichen der Fall ist) keine nähere Bestimmung der Gesetzesauslegung durch Gerichte erfolgt ist, liegt hier jedoch ein großer Gestaltungsspielraum vor. 8.3.7.8 Regieren in Koalitionen

Damit bleibt die Frage, wie die jeweilige Bundesregierung intern Handlungsmöglichkeiten festlegt und begrenzt. Dies erfolgt nach außen erkennbar in Regierungs- oder Koalitionsabkommen. Dabei handelt es sich in Österreich um politische Vereinbarungen, für die es keine rechtlichen Vorgaben und Sanktionsmöglichkeiten gibt. Sie haben programmatischen Charakter und werden, was ihre politische Verbindlichkeit betrifft, unterschiedlich gehandhabt. Bezeichnend ist jedoch, dass seit den späten 1990er Jahren Auflösungsklauseln zu einem typischen Element solcher Vereinbarungen geworden sind. Sie definieren, welche Handlungen innerhalb der Bundesregierung zu einer Auflösung der Zusammenarbeit führen. Damit wird persönliche Abweichung von der Regierungslinie zu einem Risiko werden, das über individuelle Folgen weit hinausgeht.47 Was sich hingegen nur indirekt erschließen lässt, sind interne Vereinbarungen, die rechtliche Freiräume informell begrenzen. Dies können Schwerpunktsetzungen in der Kommunikation, die Akzeptanz parteiinterner Vorgaben oder die Beschränkung auf einzelne Themenstellungen sein.48 47 Vgl. Kohl (2007)  ; Konrath/Sully (2014). 48 In der ÖVP-FPÖ-Regierung 2017–2019 wurde dies etwa als »message control«, also zentrale Kommunikationsvorgaben bekannt.

223

224

| 

Christoph Konrath

8.3.7.9 Koordination von Regierung und Regierungsklubs

Für Österreich ist  – seit langem  – eine enge Verzahnung zwischen Bundesregierung und den Klubs der Regierungsparteien im Parlament typisch. Folglich kann auch die Vorgehensweise im Parlament, was Initiativen und Abstimmungen betrifft, zum Gegenstand von Koalitionsabkommen werden. Dies ist – mangels rechtlicher Bestimmungen – als politische Vereinbarung möglich. Im Gegenzug ist es immer wieder üblich, dass die Klubspitzen an Sitzungen der Bundesregierung und sogar an Ministerratssitzungen teilnehmen (jedoch ohne Stimmrecht).49 Durch die Verknüpfung des parlamentarischen Verhaltens mit Auflösungsbestimmungen wird die Klubdisziplin in den Regierungsparteien noch weiter verstärkt, da unter Umständen schon das abweichende Verhalten eines Abgeordneten zur Auflösung der Koalition führen kann. Über die Abstimmung mit den Klubs erhält die Bundesregierung jedoch ebenso bedeutende formelle Handlungsmöglichkeiten, wie die Einbringung von Gesetzesinitiativen der Bundesregierung (oder einzelner Mitglieder) durch Abgeordnete. Damit entfällt nicht nur die Durchführung eines Begutachtungsverfahrens (siehe 8.4.3.2). Ebenso kann auf diese Weise abweichendes Verhalten innerhalb der Bundesregierung (durch Verweigerung der Zustimmung im Ministerrat) umgangen werden. 8.3.8 Verantwortung und Haftung Wenngleich viele interne Angelegenheiten und Beziehungen unter Abgeordneten und Regierungsmitgliedern durch informelle Regeln geprägt sind, so muss klar sein, dass diese ihre Grenze an der Verfassung und den Gesetzen finden. Abgeordnete und Regierungsmitglieder sind daran gebunden. Und auch wenn in vielen Fällen keine unmittelbaren Sanktionen vorgesehen sind, hat der öffentliche Vorhalt des unrechtmäßigen Verhaltens Gewicht. In einem Bereich gibt es jedoch eine Privilegierung, und zwar bei der Meinungsfreiheit und somit der Sicherung der politischen Handlungsfähigkeit der Abgeordneten. 8.3.8.1 Indemnität und Immunität von Abgeordneten

Das B-VG garantiert das freie Mandat der ParlamentarierInnen (siehe Kasten im Kapitel 7.5.3). Damit ist die Indemnität oder – wie es in Österreich gebräuchlich ist – berufliche Immunität verbunden.50 Das bedeutet, dass ParlamentarierInnen rechtlich (also z. B. vor einem Gericht) niemals für ihr Abstimmungsverhalten 49 Siehe für die Zeit 2000–2006 wiederum Kohl (2006). 50 Sie ist in Art. 57 Abs. 1 B-VG geregelt.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

verantwortlich gemacht werden dürfen. Für ihre mündlichen oder schriftlichen Aussagen in »diesem Beruf«, also ihre parlamentarischen Reden, Anfragen oder Anträge, dürfen sie nur von der Parlamentskammer, der sie angehören, verantwortlich gemacht werden. Dafür steht der Ordnungsruf der Präsidentin/des Präsidenten zur Verfügung. Ausnahmen bestehen nur bei Verleumdung51 und bei der Veröffentlichung besonders geschützter Informationen.52 Abgeordnete dürfen (während ihrer Zeit als MandatarIn) wegen einer strafbaren Handlung nur dann verfolgt werden, wenn diese offensichtlich in keinem Zusammenhang mit ihrer politischen Tätigkeit steht (und diese weiter als die parlamentarische zu verstehen ist). Ansonsten ist ebenso wie bei einer Verhaftung die Zustimmung der jeweiligen Kammer erforderlich. Ausnahmen bestehen bei Ergreifung auf frischer Tat. Dies ist die Immunität, die historisch ein Recht des Parlaments gegenüber dem Zugriff von außen darstellt und auf diese Weise das Funktionieren des Parlaments sichern soll. Sie wird heute i.d.R. als (subjektives) Recht der Abgeordneten verstanden. In Österreich wird sie in etwas verwirrender Weise außerberufliche Immunität genannt, weil sie sich auf Handlungen außerhalb des Parlaments bezieht. 8.3.8.2. Politische und rechtliche Verantwortung der Bundesregierung

Mitglieder der Bundesregierung53 haben weder Indemnität noch Immunität. Das heißt, dass sie für sämtliche Handlungen (einschließlich ihrer Reden im Parlament) politisch und rechtlich verantwortlich sind. Die politische Verantwortlichkeit ist umfassend und betrifft alle Aspekte der Amtsführung ebenso wie diejenigen der persönlichen Integrität. Sie kann mit den Mitteln der politischen Kontrolle (siehe 8.4.4) geltend gemacht werden, indem Rede-und-Antwort-Stehen verlangt wird. Alle weiteren Mittel können nur mit parlamentarischer Mehrheit ergriffen werden. Sie könnten erst dann zur Geltung gelangen, 51 Dies ist gemäß § 297 StGB  : »Wer einen anderen dadurch der Gefahr einer behördlichen Verfolgung aussetzt, daß er ihn einer von Amts wegen zu verfolgenden mit Strafe bedrohten Handlung oder der Verletzung einer Amts- oder Standespflicht falsch verdächtigt, ist, wenn er weiß (§ 5 Abs. 3), dass die Verdächtigung falsch ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen, wenn die fälschlich angelastete Handlung aber mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.« 52 Dieser Straftatbestand ist in § 18 Informationsordnungsgesetz geregelt  ; bestraft werden soll, »wer entgegen den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes eine ihm aufgrund dieses Bundesgesetzes zugänglich gewordene, nicht allgemein zugängliche klassifizierte Information der Stufe 3 oder 4 offenbart oder verwertet, deren Offenbarung oder Verwertung geeignet ist, die öffentliche Sicherheit, die Strafrechtspflege, die umfassende Landesverteidigung, die auswärtigen Beziehungen oder ein berechtigtes privates Interesse zu verletzen.« 53 Einschließlich der StaatsekretärInnen.

225

226

| 

Christoph Konrath

wenn die Bundesregierung über keine mehrheitliche Unterstützung mehr verfügt. Womit sich auch erklärt, warum seit 1920 überhaupt erst ein Misstrauensantrag gegen die Bundesregierung erfolgreich war.54 Mit dem Misstrauensvotum kann der Nationalrat (aber nicht der Bundesrat) der Bundesregierung oder einem ihrer Mitglieder aus jedem Grund55 das Vertrauen versagen. Die Folge ist die Enthebung aus dem Amt durch die/der BundespräsidentIn. Letztere/r kann auch nach eigenem Ermessen die Bundesregierung oder die/den BundeskanzlerIn jederzeit entlassen.56 Die rechtliche Ministerverantwortlichkeit betrifft im Unterschied dazu ausschließlich die Rechtmäßigkeit der Amtsführung. Die Ministeranklage kann (wiederum nur) der Nationalrat beim VfGH wegen schuldhafter Rechtsverletzungen, die durch die Amtstätigkeit erfolgt sind, erheben. Dies können auch Verletzungen z. B. von Pflichten aufgrund der Bundesverfassung sein, für die keine eigenen Sanktionen vorgesehen sind.57 Eine Verurteilung führt zu Amtsverlust und in besonderen Fällen zum zeitlichen Verlust der politischen Rechte. Darüber hinaus können Mitglieder der Bundesregierung während ihrer Amtszeit und auch danach in vollem Umfang zivil- und strafrechtlich belangt werden. 8.4 Aufgaben und Funktionen 8.4.1 Formalitäten und Leitbilder Im parlamentarischen Regierungssystem sind Aufgaben und Funktionen von Regierung und Parlament in vielen Bereichen verschränkt. Manche Verfassungen (und ihre praktische Auslegung und Anwendung) legen bestimmte Anforderungen fest. Das Deutsche Bundesverfassungsgericht erinnert z. B. in vielen Entscheidungen daran, welche Verantwortung der Bundestag hat und wie diese substantiell zu erfüllen sei. Die österreichische Bundesverfassung ist hingegen sehr weit gefasst, und da der VfGH nur in Ausnahmefällen Konflikte zwischen Parlament und Bundesregierung entscheiden kann, gibt es auch von seiner Seite kaum Vorgaben. Auf dieser Grundlage kann ein bloß formales Verständnis der Funktionen und Entscheidungskompetenzen ausreichen. Demnach kommt es nur darauf 54 Entschließung des Nationalrates vom 27. Mai 2019 betreffend Versagen des Vertrauens gegenüber der Bundesregierung und der Staatssekretärin 75/E, XXVI. GP. 55 Art. 74 B-VG verlangt keine Begründung für einen Misstrauensantrag. 56 Dies ist in Art. 70 Abs. 1 B-VG geregelt. Siehe dazu Öhlinger/Eberhard (2019), Rn. 505. 57 Dies kann etwa der Fall sein, wenn ein Mitglied der Bundesregierung einem Beschluss des Nationalrates, vor ihm zu erscheinen (was als »Zitation« bezeichnet wird), nicht nachkommt.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

an, dass z. B. ein Gesetzentwurf ordnungsgemäß eingebracht und abgestimmt oder eine Anfrage beantwortet wird. Es ist, da von der Bundesverfassung nicht vorgeschrieben, nicht zwingend erforderlich, eine Debatte über den Entwurf zu führen oder die Fragen ausführlich zu beantworten. Allerdings darf der zweite Aspekt des weiten Rahmens nicht übersehen werden  : Die Bundesverfassung stellt es frei, ihn in der politischen Praxis substantiell zu füllen und dementsprechend etwa im Sinne von Idealbildern des Parlamentarismus zu gestalten. So könnten politische Mindeststandards für die ausführliche Beratung von Gesetzentwürfen und die Einbeziehung von ExpertInnen formuliert werden. Dafür wäre grundsätzlich nur Konsens über die Vorgangsweise und Leitbilder erforderlich. Wenn aber einzelne Parteien z. B. die Tätigkeit des Nationalrats nur formal verstehen, oder wenn es keine geteilten Leitbilder des Parlamentarismus gibt, sind Veränderungen schwer möglich. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, warum seit den 1990er Jahren neue Rechte des Parlaments und Pflichten der Bundesregierung wie z. B. die Mitwirkung in EU-Angelegenheiten oder die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen im B-VGsehr detailliert geregelt wurden. Mit dieser Verrechtlichung sollen nicht bloß Minderheitsrechte geschützt werden, sondern eine umfassende Information von Nationalrat und Bundesrat sowie die Verpflichtung zur Durchführung von Debatten und Abstimmungen möglichst eindeutig geregelt werden.58 8.4.2 Repräsentation und Tribüne Wenn wir die historische Entwicklung und die theoretische Begründung von Parlamentarismus (siehe 7.) zusammenfassen wollen, dann kommt der öffentlichen Information, Debatte und Entscheidung, die nach verbindlichen Regeln und an bestimmten Orten ablaufen, zentrale Bedeutung zu. In der Politikwissenschaft wird dies als ein Teil von Repräsentation verstanden und die Funktion des Parlaments in diesem Kontext als Tribüne bezeichnet. Die Bundesverfassung garantiert dies durch die Öffentlichkeit der Plenarsitzungen und die Sicherung der freien Rede ebenso wie durch die Verpflichtung der Bundesregierung, im Parlament Rede und Antwort zu stehen. Sie überlässt es jedoch dem Parlament, diese Abläufe in eigener Verantwortung auszugestalten.

58 Vgl. Konrath (2017a), S. 565 f.

227

228

| 

Christoph Konrath

8.4.2.1 Zeitliche und organisatorische Rahmenbedingungen  : Arbeitsplan und ­Ausschüsse

Nationalrat und Bundesrat legen hierfür einen Arbeitsplan fest, der im Wesentlichen zwei Wochen pro Monat für Ausschusssitzungen des Nationalrates reserviert, eine Woche für Plenarsitzungen des Nationalrates und eine Woche für Ausschuss- und Plenarsitzungen des Bundesrates. Dahinter steht das Anliegen, sowohl eine ausführliche Vorberatung in den Ausschüssen zu ermöglichen als auch den Abgeordneten ausreichend Zeit für Wahlkreis- und Parteiarbeit sowie sonstige Berufstätigkeit zu geben. Die Ausschüsse haben im Unterschied zum Plenum meist zwischen 10 (Unterausschüsse) und 30 Mitglieder und sind für einzelne Politikbereiche zuständig. Sie tagen grundsätzlich nicht öffentlich. Die Termine der Ausschüsse werden einzeln (und damit im Konsens) terminisiert und sind darauf ausgelegt, dass die jeweils zuständigen Mitglieder der Bundesregierung teilnehmen (was die Terminwahl abermals einschränkt und der Bundesregierung einen großen Einfluss auf die parlamentarische Planung sichert). Dies führt dazu, dass bislang ein Großteil der Ausschüsse tatsächlich selten (3–4-mal/Jahr) und nur für einige Stunden tagt. Schon von daher wird deutlich, dass in den Ausschüssen keine Verhandlungen im engeren Sinn stattfinden (können) (siehe noch 8.4.3). Zugleich bieten sich dann kaum andere Möglichkeiten solcher (nicht öffentlicher) Sitzungen  : Die Abgeordneten können sich nicht stetig (im parlamentarischen Rahmen) mit ausgewählten Themen befassen und vor allem nicht die Regierungsmitglieder und die Verwaltung informell befragen, um so an Wissen und politischen Profilierungsmöglichkeiten in einem Politikfeld zu gewinnen. 8.4.2.2 Fokus auf Plenarsitzungen

Da Ausschüsse in der Regel nicht öffentlich und noch dazu selten tagen, bleibt Abgeordneten nur das Plenum, um parlamentarisch nach außen in Erscheinung zu treten. Plenarsitzungen finden in der Regel nur an zwei Tagen pro Monat statt. Damit ist für jede Sitzung ein dichtes Programm vorgegeben, das von Haus aus wenig Raum für Debatten lässt. Die Tagesordnung wird von jenen Punkten dominiert, die von der Bundesregierung bzw. den Regierungsparteien eingebracht wurden. Initiativen der Oppositionsparteien können nur dann im Plenum behandelt werden, wenn der zuständige Ausschuss Bericht erstattet hat, was oft infolge von »Vertagungen« nicht passiert. Die einzige (aber begrenzte) Möglich-

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

keit von Minderheiten, die Agenda zu beeinflussen, besteht in der Durchführung von »Sonderaktionen«, z. B. Dringlichen Anfragen zu aktuellen Themen.59 Dies führt zu einer paradoxen Situation, auf die der frühere Nationalratspräsident Andreas Khol prominent hingewiesen hat (siehe 7.6)  : Einerseits konzentriert sich das öffentliche (und meist auch das persönliche) Interesse (der Abgeordneten) auf das Plenum, das oft als »Arbeitsplatz« verstanden wird.60 Dort kann aber schon aufgrund der großen Zahl von TeilnehmerInnen und der knappen Zeit aber nur eine Debatte in begrenztem Umfang stattfinden. Andererseits müssen die Regierungsklubs jedes Risiko eindämmen, erreichte Kompromisse in Frage zu stellen. Dies bewirkt im Zusammenspiel mit einer Redeordnung, die im Vorhinein festgelegt wird, dass Sitzungen einem relativ starren Ablauf folgen, der einzelnen Abgeordneten wenig Raum lässt. 8.4.2.3 Präsentationsmodus

Dieses Verständnis parlamentarischer Auseinandersetzung ist von der Tradition der österreichischen Konkordanzdemokratie (siehe 2.3) und ihren nicht-öffentlichen Verhandlungspraktiken geprägt  : Für das Parlament bleibt dann nur mehr die Präsentation und/oder Verteidigung der erzielten Ergebnisse, was wiederum dem Leitbild von Debatte und Auseinandersetzung entgegensteht. Diese Tradition wird im Übrigen auch als Grund für die »Vertagungen« im Ausschuss angeführt, wenn Abgeordnete der Regierungsparteien darauf verweisen, dass »ein Thema anderswo verhandelt werde und eine Fortsetzung der Debatte erst Sinn mache, wenn Ergebnisse vorliegen.«61 8.4.3 Gesetzgebung Im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre und dem Idealbild der Herrschaft des Gesetzes (siehe 7.3.5) wird Parlamenten die Funktion der Gesetzgebung zugeordnet. Das Verständnis davon reicht vom tatsächlichen Schreiben der Gesetze bis zur ausschließlichen Entscheidung darüber. Die Bundesverfassung sieht im Wesentlichen aber nur vor, wer den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess einleiten kann und wer die verbindliche Entscheidung zu treffen hat. Die Einleitungsmöglichkeit steht fünf Abgeordneten zum Nationalrat, der Bun59 Vgl. Konrath (2017a), S. 563 f. 60 Typisch sind in diesem Zusammenhang Zeitungsschlagzeilen, die in sitzungsfreien Zeiten von »Urlaub« oder »Nichtstun« sprechen. 61 Vgl. Konrath (2017a), S. 568 f.

229

230

| 

Christoph Konrath

desregierung, dem Bundesrat und BürgerInnen mittels Volksbegehren zu. Damit werden Abgeordnete und Bundesregierung faktisch gleichgestellt, und die Bundesverfassung gibt keinem den Vorrang. Nur die Entscheidung über ein Gesetz bleibt einzig dem Nationalrat vorbehalten. In Österreich gibt es keine Form der Regierungsgesetzgebung ohne Parlamentsbeteiligung. 8.4.3.1 Legistik und Politik

Eine Besonderheit in Österreich sind die traditionell hohen Ansprüche der Gerichte und der Rechtswissenschaft an die Rechtssetzung, die sich im Legalitätsprinzip ausdrücken (siehe 3.5). Damit dominieren technische Zugänge, die Fehler und Verfassungswidrigkeiten vermeiden sollen. Dies hat bewirkt, dass Gesetze zum einen immer detaillierter formuliert und folglich der Detaillierungsgrad von Mal zu Mal erhöht wurde und dass zum anderen Gesetzgebung mehr und mehr zur Expertenangelegenheit wurde, die öffentliche und parlamentarische Debatten über Inhalte und Regelungstechnik erschweren.62 Gleichzeitig gibt es in Österreich aber keine strukturierte Ausbildung in Rechtssetzungstechnik oder Legistik. Sie ist eine Fertigkeit, die man sich nur durch Praxis aneignen kann. Ebenso bemerkenswert ist, dass den hohen rechtlichen Ansprüchen nur wenige Vorgaben dafür gegenüberstehen, wie Gesetze sprachlich formuliert, begründet oder erklärt sein sollen. Lediglich für Vorlagen der Bundesregierung sind (teilweise) Angaben etwa zu den geplanten Wirkungen eines Gesetzes, vorgesehen.63 In der politischen Kommunikation entsprechen demgegenüber Gesetze (ihre »Lockerung«, ihre »Verschärfung« usw.) primär politischen Maßnahmen. Im Unterschied zur traditionellen juristischen, diffizilen Herangehensweise steht die rasche Umsetzung und das »Setzen von Signalen« im Vordergrund. VertreterInnen juristischer Berufe weisen seit längerem auf dieses Spannungsfeld und die damit verbundenen Probleme in der Gesetzesanwendung hin.64 62 Vgl. Öhlinger, Theo (1992), Stil der Verfassungsgesetzgebung – Stil der Verfassungsinterpretation. Einige undogmatische Reflexionen zur österreichischen Verfassungskultur, in  : Bernd-Christian Funk/Hans R. Klecatsky/Edwin Loebenstein/Wolfgang Mantl/Kurt Ringhofer (Hg.), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Wien, S. 502–514. 63 Ausführlich dazu Lienbacher, Georg (2012), Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, in  : VVDStRL, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, Berlin, S. 7–48. 64 Vgl. Österreichische Rechtsanwaltskammer (2018), Fieberkurve des Rechtsstaates 2018  – Ent­ wicklungen, Tendenzen, Stärken und Schwächen der österreichischen Rechtsstaatlichkeit, Bericht Rechtsanwaltskammertag, [https://www.rechtsanwaelte.at/kammer/aktuelles/news/veroeffentlich ung-­studie-­fieberkurve-des-rechtsstaates–2018/], eingesehen am 06.10.19.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

8.4.3.2 Antragstellung und Begutachtung

Im Unterschied zu anderen Staaten oder der EU, in denen im Stadium der Gesetzesvorbereitung und der parlamentarischen Beratung umfangreiche Konsultationen stattfinden, die die Formulierung allgemeiner Zielsetzungen und Kompromissfindung erlauben, fehlen solche in Österreich.65 Gesetzentwürfe werden zunächst angekündigt und dann – gleichsam fertig – präsentiert. Das heißt, die öffentliche Diskussionsgrundlage ist bereits ein juristisch ausformulierter und in entsprechender Technik dargestellter Text. Wenn Gesetzentwürfe von der Bundesregierung kommen, werden diese erst als Ministerialentwurf einem Begutachtungsverfahren unterzogen. Hier kann (grundsätzlich) jede/r Stellungnahmen zum Entwurf abgeben. Wenn diese an das Parlament übermittelt werden, findet eine Veröffentlichung statt. Dies macht sie zu einer wichtigen Informationsquelle medialer Berichterstattung und politischer Debatten. Faktisch sind Begutachtungen aus den genannten Gründen aber mit einem hohen Aufwand verbunden, und die Zeit für Stellungnahmen ist meist sehr knapp. Es gibt auch keine Vorgaben, wie und ob die Bundesregierung Stellungnahmen beachten muss, wenn sie den Gesetzentwurf als Regierungsvorlage an den Nationalrat übermittelt. Wenn fünf Abgeordnete einen Gesetzesantrag (Initiativantrag) einbringen, sind nur Formalanforderungen zu beachten. Es ist kein Begutachtungsverfahren vorgesehen, und der »offizielle« Aspekt dieses Verfahrens kann nicht zum Tragen kommen. Der Bundesregierung stehen (im übertragenen Sinn) durch die enge Abstimmung mit den Klubs der Regierungsparteien beide Varianten (Regierungsvorlage oder Antrag) offen (und damit die Möglichkeit, öffentliche Begutachtungsverfahren zu vermeiden). Demgegenüber gibt es nur wenige Initiativanträge der Oppositionsparteien, da für den damit verbundenen (fachlichen) Aufwand meist Ressourcen fehlen und ihr Einsatz angesichts von Vertagungen oder Ablehnung sinnlos scheinen kann. Stattdessen werden Anliegen der Oppositionsparteien in Entschließungsanträgen formuliert, mit denen die Bundesregierung zu einem bestimmten Handeln (einschließlich der Vorlage eines Gesetzentwurfs) aufgefordert werden soll. 8.4.3.3 Prüfung, Änderung, Beschlussfassung

In Österreich findet keine institutionalisierte Vorprüfung von Gesetzentwürfen z. B. auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung oder Europarecht statt 65 Vgl. dazu den Überblick in Uhlmann, Felix/Konrath, Christoph (2017), Participation, in  : Ulrich Karpen/Helen Xanthaki (Hg.), Legislation in Europe, Oxford, S. 73–95.

231

232

| 

Christoph Konrath

(z. B. durch eine unabhängige Stelle oder die Parlamentsverwaltung). Durch den VfGH ist erst eine nachprüfende (und damit zeitlich verschobene) Prüfung möglich (siehe Kasten). Die rechtliche und politische Prüfung bleibt damit allein dem parlamentarischen Verfahren überlassen. Dort ist sie eine Frage der Zeit, der zur Verfügung stehenden fachlichen Ressourcen und des politischen Willens. Dies begünstigt allgemeine Stellungnahmen gegenüber der Forderung nach eingehender Diskussion. Abänderungen können bis zur endgültigen Abstimmung eingebracht werden. Dies gibt zum einen die Möglichkeit, auf Änderungsvorschläge einzugehen oder Korrekturen vorzunehmen, was in der Regel im Nationalrat und unter Beteiligung von Abgeordneten erfolgt. Dies ist vor allem dann bedeutsam, wenn für die Zustimmung zu einer Sache eine 2/3-Mehrheit erforderlich ist. Zum anderen kann es ein Instrument dafür sein, der Regierung bzw. ihren Klubs die Möglichkeit zu geben, während des parlamentarischen Verfahrens andernorts weiter zu verhandeln und somit den Handlungsspielraum und den Zweck des öffentlichen parlamentarischen Verfahrens einzuschränken. Wie diese Verhandlungen erfolgen, bleibt in den meisten Fällen intransparent. Diese Situation spiegelt sich in den parlamentarischen Materialien, also der Dokumentation des parlamentarischen Verfahrens. Ausschussberichte sind formal gehalten und fassen im Wesentlichen nur zusammen, wer sich an der Debatte beteiligt hat und ob Änderungen am Gesetzestext vorgenommen wurden, Wortmeldungen in Plenarsitzungen nehmen oft nur wenig Bezug auf den Gesetzentwurf. Wenn jedoch Abgeordnete Änderungen bewirken, dann wird dies als Leistungsausweis und Zeichen eines aktiven Parlaments besonders betont.66 Der Verfassungsgerichtshof Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) wurde mit dem B-VG 1920 geschaffen und war das e ­ rste Gericht weltweit, dem die ausschließliche Kontrolle der Einhaltung der Verfassung und die Möglichkeit, Gesetze als verfassungswidrig aufzuheben, zugewiesen wurde. Als solcher wurde er zum Vorbild für die Schaffung vieler weiterer Verfassungsgerichte. Dem steht das durch die USA geprägte Modell gegenüber, wo jedes Gericht die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes beurteilen kann. Nach dem Verständnis der Bundesverfassung darf es keinen Rechtsakt geben, der der Verfassung widerspricht. Bei einer möglichen Verletzung von Verfassungsrecht durch staatliches Handeln (egal ob Gesetzgebung, Vollziehung oder Gerichtsbarkeit) entscheidet der VfGH endgültig, in dem er den Rechtsakt bestätigt oder aufhebt. Darüber hinaus kommen

66 Die Debattenbeiträge im Ausschuss werden von der Parlamentskorrespondenz zusammengefasst wiedergegeben.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

ihm weitere Aufgaben wie die Wahlgerichtsbarkeit (Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Wahlen), Staatsgerichtsbarkeit (Anklage gegen Mitglieder der Bundesregierung, BundespräsidenttIn., Landeshauptleute usw.), die Entscheidung von Kompetenzkonflikten im Bundesstaat oder von bestimmten Streitigkeiten im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen des Nationalrates zu. Der VfGH entscheidet aber nicht in sonstigen Streitigkeiten zwischen Parlament bzw. Opposition und Bundesregierung. Der VfGH besteht aus einer/einem PräsidentIn, einem/einer VizepräsidentIn und 12 RichterInnen sowie sechs Ersatzmitgliedern. Diese werden von unterschiedlichen Staatsorganen vorgeschlagen und von der Bundespräsidentin/vom Bundespräsidenten ernannt. Die Bundesregierung ernennt PräsidentIn, VizepräsidentIn, sechs ständige Mitglieder und drei Ersatzmitglieder. Der Nationalrat ernennt drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder, der Bundesrat zwei Mitglieder und ein Ersatzmitglied. Der VfGH entscheidet über Konflikte über Fragen, die bereits eine Mehrheit im Parlament klar beantwortet hat. Dies macht ihn (und seine Besetzung) zu einem politischen Akteur. Dies wird jedoch durch die lange Verfahrensdauer (die ihn aus der Tagespolitik nimmt), die strikte Formgebundenheit des Verfahrens, das Erfordernis, strikt rechtlich zu argumentieren und zu entscheiden, sowie die Bestellung der RichterInnen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres (ohne Möglichkeit der Abberufung von außen) abgemildert. Dennoch bleiben viele Entscheidungen (auch politisch geprägte) Wertungsfragen. Der VfGH begegnet dem durch große Zurückhaltung der Mitglieder nach außen und Entpersönlichung der Entscheidungen. Die Meinungen einzelner Mitglieder werden nicht bekanntgegeben.

8.4.4 Verwaltungsführung und -kontrolle 8.4.4.1 Steuerungs- und Führungsinstrumente

Das österreichische Regierungssystem ist dadurch geprägt, dass der Verwaltungsstaat dem Parlamentarismus historisch vorangeht. Wie wir noch in Kapitel 9.1. sehen, sind das Selbstverständnis der Verwaltung und die juristische Befassung mit ihr durch ein »Denken vom Recht« her geprägt. Damit ist gemeint, dass jede theoretische Grundlegung oder Bezugnahme auf Werte und Begriffe außerhalb des Rechtssystems skeptisch gesehen wird und das Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung (jedenfalls nach außen) nicht näher reflektiert wird. Dies hat große praktische und politische Konsequenzen  : Es ermöglicht ein Verständnis von Regieren als Verwaltungsführung, das den demokratisch-parlamentarischen Bezug auf die verfassungsmäßig vorgesehene Beschlussfassung durch den Nationalrat reduziert. Eine laufende parlamentarische Rückkopplung oder ein ausgeprägtes Verständnis demokratisch verantwortlicher Regierungsund Verwaltungsführung wurde vor diesem Hintergrund in Österreich (wie auch in Deutschland67) nicht entwickelt. 67 Siehe dazu Meinel, Florian (2019), Vertrauensfrage. Zur Krise des Parlamentarismus, München.

233

234

| 

Christoph Konrath

Dies gibt der Bundesregierung innerhalb des gesetzlichen Rahmens (dessen Änderung sie wiederum anstoßen und mit Unterstützung der Mehrheit umgestalten kann) einen relativ weiten Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Überall dort, wo gesetzliche Regelungen weit bleiben und keine bestimmten Handlungsformen vorschreiben, nimmt dieser Spielraum zu und ermöglicht flexible verwaltungsinterne und politische Schwerpunktsetzungen und Kommunikationsmaßnahmen.68 8.4.4.2 »Police Patrols« und »Fire alarms«

Die (nach wie vor starke) Orientierung am Recht schafft jedoch ebenso konkrete Ansatzpunkte für eine (möglichst) umfassende Kontrolle. Je präziser die Vorgaben sind, umso genauere Möglichkeiten bestehen, deren Einhaltung zu prüfen und eine Beurteilung staatlichen Handelns durch Öffentlichkeit und Politik zu ermöglichen. Parlamenten (und konkret den Oppositionsparteien) wird dabei eine zentrale Rolle zugewiesen. Angesichts des Umfangs des Staatsapparats, der institutionellen Eigeninteressen und Verfahren sowie der Fülle an Aufgaben wird jedoch seit langem gefragt, inwieweit Parlamente dies tatsächlich leisten können.69 Sie müssen in jedem Fall eine Auswahl treffen, die die Politikwissenschaftler Mathew McCubbins und Thomas Schwartz mit der Wahl zwischen »police patrols«, also der laufenden Beobachtung und Überprüfung eines Themas, und »fire alarms«, der raschen Reaktion auf etwas, das nahezu unvermutet kommt, verglichen haben.70 8.4.4.3 Kontrollaufgaben und Kontrollorgane

Eine möglichst umfassende Kontrolle des Staatshandelns liegt sowohl im Interesse der Regierungen (im Sinne ihrer Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit) als auch im Interesse der Verwaltung (im Sinne ihrer Aufgabenerfüllung, Stabilisierung und Verantwortlichkeit) und in jenem der demokratischen Öffentlichkeit. Insoweit soll ihre Wahrnehmung nicht nur von individuellen Schwerpunktsetzungen im Parlament abhängig sein.

68 Dies wird am Beispiel der Öffentlichkeitsarbeit und Informationstätigkeit von Bundesministerien besonders deutlich. Siehe dazu Feik (2007). 69 Siehe dazu Krause, Joachim (2018), Alle reden davon und keiner weiß, was es ist  ? Perspektiven für die Analyse und Gestaltung parlamentarischer Kontrolle, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2018 (4), S. 799–813. 70 Vgl. McCubbins, Mathew/Schwartz, Thomas (1984), Congressional Oversight Overlooked  : Police Patrols versus Fire Alarms, in  : American Journal of Political Science 28 (1), S. 165–179.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Nationalrat und Bundesrat sind folglich zwei Kontrollorgane unter mehreren in Österreich, die erst in ihrem Zusammenwirken eine (weitgehende) Kontrolle des Staatshandelns ermöglichen können. Kontrolle erfolgt nach der Bundesverfassung demnach (im Groben) auf fünf Arten  : Die rechtliche Kontrolle ist den Gerichten vorbehalten. Sie entscheiden ausschließlich in konkreten Anlassfällen und nur aufgrund rechtlicher Kriterien. Die Gebarungskontrolle nimmt der Rechnungshof vor. Er kann die gesamte Staatswirtschaft (teilweise aufgrund gesetzlicher Pflichten, teilweise von sich aus oder auf Ersuchen z. B. des Nationalrates) auf ziffernmäßige Richtigkeit, Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit prüfen. Sie wird durch verwaltungsinterne Kontrollmechanismen und Berichtspflichten an Nationalrat und Bundesrat, etwa im Kontext des Haushaltsrechts (siehe 8.4.5), ergänzt. Die Volksanwaltschaft prüft aus eigenem oder aufgrund konkreter Beschwerden, ob Missstände in der Verwaltung vorliegen, gegen die z. B. keine sonstigen Beschwerdemöglichkeiten verfügbar sind. Die politische Kontrolle durch Nationalrat und Bundesrat ist im Unterschied zu den anderen Kontrollformen weder thematisch noch anlassbezogen beschränkt. Sie hat die Möglichkeit, die Kontrollergebnisse der anderen Einrichtungen aufzugreifen, und so alle Handlungsbereiche der Bundesregierung und ihrer Mitglieder zu erfassen. Diese Stärke kann jedoch zugleich die größte Schwäche darstellen  : Fehlende Koordination und häufige Inanspruchnahme können dazu führen, dass parlamentarische Kontrolle ihre Wirksamkeit einbüßt und als ineffizient oder erratisch dargestellt werden kann. 8.4.4.4 Informationsgewinnung, Einflussnahme und öffentliche Debatte

Parlamentarische Kontrolle ist auf Informationsgewinnung und Veröffentlichung ausgelegt. Sie hat (anders als ein Gerichtsurteil) keine unmittelbaren rechtlichen oder politischen Folgen, kann jedoch Grundlage für die öffentliche Debatte eines Themas oder Verhaltens bilden. Kontrolle kann zum Anlass für einen Misstrauensantrag oder eine strafrechtliche Anzeige werden, was aber selten ist (nicht zuletzt, um eine Entwertung durch oftmaligen Gebrauch zu verhindern). Besondere Bedeutung kommt Kontrolle aber deshalb zu, weil sie das einzige (formelle) Mittel der ParlamentarierInnen darstellt, um an Informationen aus dem Bereich der Regierung zu gelangen. Damit wird sie zu einer primären Wissensressource in diesem Bereich. Kontrolle ist in Österreich grundsätzlich nachgängig ausgelegt. Das heißt, Kontrollgegenstand sind Prozesse, die bereits abgeschlossen sind. Im Sinne der Gewaltentrennung sollen Gerichte oder der Rechnungshof keine laufenden Prozesse beeinflussen. Dadurch könnte die Verantwortung für Handlungen nicht

235

236

| 

Christoph Konrath

mehr klar zugeordnet werden.71 Eine Ausnahme hiervon bilden parlamentarische Anfragen. Hier sind (nach langen Auseinandersetzungen in den 1960er Jahren) auch Fragen zulässig, die sich auf laufende Projekte und politische Einschätzungen und Absichten beziehen. Damit kann politischer Druck aufgebaut werden, durch den auch eine parlamentarische Minderheit die Chance bekommt, Einfluss auf die laufende Regierungstätigkeit zu nehmen. Allerdings besteht keine Pflicht der Bundesregierung, Anfragen in eingehender Weise zu beantworten (siehe dazu gleich 8.4.4.6).72 Angesichts des Umstands, dass in Österreich über keine Tradition einer allgemeinen Informationsfreiheit verfügt und Regierungs- bzw. Verwaltungsinformationen nur beschränkt in strukturierter Form zur Verfügung gestellt werden, hat sie als öffentliche Informationsquelle einen hervorgehobenen Stellenwert. Politische Kontrolle stellt ein zentrales Element parlamentarischer »scrutiny« dar, das ermöglicht, den Vollzug von Gesetzen und anderen Maßnahmen zu evaluieren und zu bewerten. Für ParlamentarierInnen aller Fraktionen sind Kontrollinstrumente angesichts der sonstigen Ausschuss- und Plenarpraxis oft die einzige Möglichkeit, kontinuierlich »ihre« Themen zu artikulieren und sich damit in einem Politikbereich zu profilieren. Dies führt zu einer hohen Inanspruchnahme dieser Rechte, die sich angesichts der Fülle an Informationen und deren wenig strukturierter Abrufbarkeit oft nur schwer kommunizieren lässt. 8.4.4.5 Opposition und Regierung

Parlamentarische Kontrolle wird in Österreich jedoch vorrangig im Gegensatz von Opposition und Regierung verstanden und kommuniziert. Dort, wo sie als Minderheitsrecht ausgestaltet ist (siehe sogleich 8.4.4.6), gibt sie den Oppositionsparteien die Möglichkeit der politischen Agendasetzung und das Recht, die Bundesregierung zu einer öffentlichen Reaktion zu verpflichten. Damit wird diese durch Konflikte geprägt, die einerseits die Art und den Umfang der Beantwortung, andererseits den Aufwand, den Kontrolle auslöst (der wiederum eng mit der mangelnden strukturierten Informationstätigkeit zusammenhängt), geprägt. Diese Konflikte können nur über eine politische Auseinandersetzung gelöst werden, oder sie bleiben offen. Die einzige Ausnahme bilden Untersu71 Dieses Grundverständnis geht auf eine Entscheidung des VfGH aus 1932 (VfSlg 1454/1932) zurück. Streitgegenstand war eine bis dahin bestehende laufende parlamentarische Kontroll- und Einsichtsmöglichkeit in Angelegenheiten des Bundesheers. 72 Siehe zu dieser Frage ausführlich Noll, Alfred/Szekulics, Udo (2018), Die Interpellation  : Das parlamentarische Kontrollrecht, Wien/Graz.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

chungsausschüsse, wo seit 2015 in bestimmten Fällen (etwa der Vorlage von Informationen) eine Streitentscheidung durch den VfGH vorgesehen ist. Dessen Entscheidungen stehen (anders als politischer Konsens) nicht zur Disposition der Konfliktparteien und ermöglichen schrittweise eine klare und verbindliche Abgrenzung der Rechte und Pflichten von Parlament und Bundesregierung ebenso, wie sie deren jeweilige Verantwortungsbereiche bestimmen.73 8.4.4.6 Parlamentarische Minderheitsrechte

Die Kontrollrechte sind weitgehend als Minderheitsrechte ausgestaltet, die im Fall von mündlichen Fragen bereits von einem und bei schriftlichen Fragen von fünf (Nationalrat) bzw. drei (Bundesrat) Mitgliedern eingebracht werden können. Bei einzelnen Minderheitsrechten (z. B. Dringliche Anfragen, Besprechung von Anfragebeantwortungen oder besondere Prüfungen durch den Rechnungshof ) ist die Inanspruchnahme der Rechte begrenzt.74 Als Minderheitsrechte können diese von allen Abgeordneten und Klubs genutzt werden. Dies schließt mit ein, dass die Regierungsfraktionen Kontrollinstrumente einsetzen können, um deren Nutzung durch die Opposition auszuschließen.75 Die Mehrzahl der Kontrollrechte stellen Fragerechte dar. Die Befragten sind zu einer Antwort binnen einer bestimmten Frist verpflichtet, aber sie bestimmen selbst, in welchem Ausmaß geantwortet wird.76 Aus der Perspektive des Parlaments ist dies ein Fremdinformationsrecht. Nur wenn der Nationalrat einen Untersuchungsausschuss einsetzt, haben die Abgeordneten das Recht, die unmittelbare Vorlage von Informationen zu verlangen. In diesem Fall verfügen sie über ein Selbstinformationsrecht, das ihnen umfassende Einsicht ermöglicht. Damit wird die Zurückhaltung von Informationen durch die Regierungsseite erheblich beschränkt. Im Gegenzug hat sie das Recht, Informationen zu klassifizieren. Dies bedeutet Einschränkungen oder das Verbot, Informationen zu veröffentlichen. Damit verändert sich der Charakter parlamentarischer Kontrolle  : Sie 73 Ausführlich dazu Parlamentsdirektion (Hg.) (2019), Handbuch zum Recht der Untersuchungsausschüsse im Nationalrat, Wien. 74 Siehe dazu Konrath (2017a), S. 564. 75 Dies passiert z. B. bei Prüfaufträgen an den Rechnungshof, von denen es gemäß § 99 GOGNR maximal drei gleichzeitig geben kann. 76 Dies ist ein Fall der oben (B.) angesprochenen verschiedenen Textstufen des B-VG. Als darin 1925 die Amtsverschwiegenheit verankert wurde, wurde in Art. 20 Abs. 3 B-VG eine Ausnahme »für die von einem allgemeinen Vertretungskörper bestellten Funktionäre« gegenüber diesem Vertretungskörper vorgesehen. Da aber seit 1929 die/der BundespräsidentIn die Bundesregierung bestellt, kam diese Ausnahme nicht mehr zum Tragen. Damit wurde die Berufung auf Verschwiegenheit gegenüber dem Parlament zur gängigen Praxis.

237

238

| 

Christoph Konrath

kann nicht direkt mit der Öffentlichkeit kommunizieren und muss dennoch das Vertrauen dieser in ihre Kontrolltätigkeit sicherstellen. Die ParlamentarierIn­nen müssen nun selbst beurteilen, welches Risiko (z. B. einer strafrechtlichen Verurteilung) sie eingehen, wenn sie etwas öffentlich machen, und wann das Interesse demokratischer Kontrolle und Verantwortung überwiegt. 8.4.5 Budgetverantwortung 8.4.5.1 Königsrecht des Parlaments  ?

Als Budget wird der Haushaltsplan eines Staates bezeichnet, also die Entscheidung über die jährliche Verteilung und den Einsatz staatlicher Mittel. Die Beschlussfassung über das Budget wird oft als »Königsrecht des Parlaments« tituliert. Historisch stimmt dies insoweit, als die Entwicklung moderner Parlamente eng mit Fragen der Staatsfinanzen verknüpft war. Bis heute kommt diese Macht in den USA am stärksten zum Ausdruck, wo der Präsident ohne Zustimmung des Kongresses zum Budget handlungsunfähig werden kann. Das österreichische Haushaltsrecht wurde von 2005 bis 2013 umfassend reformiert und ist durch das Anliegen effizienter Planung und ebensolchen Vollzugs geprägt.77 Ziele waren die Sicherung von Budgetdisziplin und größerer Planbarkeit, eine flexiblere Handhabung des Budgetvollzugs (z. B. Mittelverwendung) in den Ministerien, mehr Transparenz und die Umsetzung der Wirkungsorientierung. Letzteres bedeutet, dass die Zuweisung von Geldmitteln mit Wirkungen, die erzielt werden sollen und gemessen werden können, verknüpft wird. Alles, was mit dem Budget zu tun hat, ist folglich detailliert geregelt und erfordert hohes Fachwissen (siehe 9.2.3). Damit kommt zunächst der Verwaltung, die über dieses Wissen verfügen muss, und dann vor allem der/dem BundesministerIn für Finanzen eine zentrale Stellung zu. Die Bundesverfassung sieht daher (so wie viele andere in Europa) vor, dass die Formulierung und Vorlage des Budgetentwurfs ein Vorrecht der Bundesregierung ist. Nur in absoluten Ausnahmefällen haben Abgeordnete das Recht, einen Entwurf einzubringen. 8.4.5.2 Planungssicherheit

Die Ziele des neuen Haushaltrechts können nur dann erreicht werden, wenn hohe Planungssicherheit besteht. Daher verfügt der Nationalrat (nur er beschließt über das Budget) nur über sehr eingeschränkte Änderungsmöglichkei77 Siehe dazu den Überblick auf [www.bmf.gv.at] sowie die Beiträge in Steger, Gerhard (Hg.) (2010), Öffentliche Haushalte in Österreich, Wien.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

ten. Dies folgt internationalen Vorbildern, in denen klare Handlungsvorgaben und Transparenz eine demokratische Legitimation vermitteln sollen.78 Kontrollmechanismen bestehen folglich vor allem in der Verwaltung, etwa im Finanzministerium oder in der Wirkungscontrollingstelle.79 Dazu kommt der Rechnungshof, der (seit dem 18. Jahrhundert) als unabhängiges Organ die Staatswirtschaft, also die Verwendung öffentlicher Gelder, überprüft. 8.4.5.3 Kontroll- und Aufsichtsfunktion des Parlaments

Der Schwerpunkt in der staatlichen Haushaltsführung liegt damit klar im Bereich der Exekutive, und diese Seite wurde durch die Haushaltsrechtsreform noch einmal gestärkt. Im Gegenzug wurden ihre Informationspflichten gegenüber dem Nationalrat ausgebaut. Zur Unterstützung wurde in der Parlamentsdirektion der Budgetdienst eingerichtet, der für den Nationalrat und die Öffentlichkeit Informationen zum Budget in unparteiischer Weise analysiert und aufbereitet. Dieses Modell ist – internationalen Vorbildern folgend – auf ein Parlament ausgerichtet, das seinen Schwerpunkt im Bereich »scrutiny« (siehe 8.4.4.4) sieht. Damit ist ein Selbstverständnis als strategisch ausgerichtetes Aufsichtsorgan verbunden, das Berichte zum Anlass für Diskussionen, Empfehlungen an die Regierung und Adaptierung der eigenen Schwerpunkte heranzieht. In Österreich passiert dies kaum, was sich insbesondere an Budgetdebatten zeigt, die sehr allgemein gehalten sind, oder darin, dass Rechnungshofberichte bloß »zur Kenntnis genommen« werden. In dieser Situation wird auch im parlamentarischen Bereich der Fokus auf Experteninstitutionen wie den Budgetdienst verlagert, die faktisch zu »Scrutinizern« werden, deren Analysen über den Nationalrat kommuniziert werden. 8.4.6 Mitwirkung in der Europäischen Union 8.4.6.1 Legitimationsreserve und Demokratiedefizite

Österreich ist der EU 1995 beigetreten. 1993 war mit dem Vertrag von Maastricht der bis dahin größte Schritt der Vertiefung der europäischen Einigung vollzogen worden, der zu einer intensiven Debatte über die parlamentarische Mitwirkung auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten führte (»Demokratiedefizit«).80 Für 78 Siehe dazu ausführlich Wehner, Joachim (2010), Legislatures and the Budget Process  : The Myth of Fiscal Control, Basingstoke. 79 Diese war zunächst Teil des Bundeskanzleramts und wurde 2017 in das Bundesministerium für öffentlichen Dienst und Sport transferiert. 80 Vgl. Maurer, Andreas (2012), Parlamente in der EU, Wien.

239

240

| 

Christoph Konrath

den österreichischen Beitritt war eine Verfassungsmehrheit im Nationalrat und im Bundesrat erforderlich, was den Oppositionsparteien (Grüne und Liberales Forum) und dem Bundesrat große Verhandlungsmacht gab und die Verankerung parlamentarischer Beteiligungsrechte möglich machte.81 Von Beginn der Mitgliedschaft an wurde die Bundesregierung zu einer umfassenden Information des Parlaments in EU-Angelegenheiten verpflichtet und durch ein weitreichendes Stellungnahmerecht eine (rechtlich) starke Position des Nationalrates verankert. Da Stellungnahmen jedoch mit Mehrheit beschlossen werden müssen, war schon bald klar, dass diese nur zur Stützung bereits vereinbarter Regierungspositionen eingesetzt werden sollten bzw. dass überhaupt von einer parlamentarischen Befassung Abstand genommen werden sollte. Auch die Informationspflichten der Bundesregierung, die (im Sinne eines Selbstinformationsrechts) die Wissensbasis für die ParlamentarierInnen zur Verfügung stellen sollten, wurden durch verspätete und nur teilweise Übermittlungen weitgehend unterlaufen.82 8.4.6.2 Die nachholende Einbindung der Parlamente

Eine entscheidende Veränderung brachte erst die Reform der EU durch den Vertrag von Lissabon, der 2007 abgeschlossen wurde und 2009 in Kraft trat. Er stärkte durch die Aufwertung des Europäischen Parlaments und die (erstmalige) direkte Einbindung der nationalen Parlamente die parlamentarische Komponente der EU. Bis dahin waren Letztere nur mittelbar über die Beziehung zu ihren Regierungen in EU-Angelegenheiten eingebunden. Für die Annahme dieses Vertrags war in Österreich wiederum eine Verfassungsmehrheit erforderlich, die die Grünen nur unter Zusicherung umfangreicher Parlamentsbeteiligungsrechte bei Vertragsänderungen (nach dem Vorbild Deutschlands) und die Effektuierung der Informationsrechte des Parlaments ermöglichten.83 Darüber hinaus 81 Ausführlich dazu Öhlinger, Theo/Konrath, Christoph (2013), Art. 23e B-VG, in  : Karl Korinek/ Michael Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht (11. Lfg.), Wien, Rz 1–4. 82 Vgl. Pollak, Johannes/Slominski, Peter (2009), Zwischen De- und Reparlamentarisierung – Der österreichische Nationalrat und seine Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 38 (2), S. 193–212  ; Neuhold, Christine/Blümel, Barbara (2007), The Parliament of Austria  : A »Normative« Tiger  ?, in  : Olaf Tans/Carla Zoethout/Jit Peters (Hrsg), National Parliaments and European Democracy, Groningen, S. 141–158. 83 In ähnlicher Weise wurden 2012 auch eine parlamentarische Mitwirkung an Beschlüssen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) verankert. Siehe dazu Konrath, Christoph/Murer, Iris (2013), Die Mitwirkung des Nationalrates in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus, in  : Gerhard Baumgartner (Hg.), Öffentliches Recht. Jahrbuch 2013, Wien, S.  351– 395.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

machten die neuen Mitwirkungsrechte eine Intensivierung der parlamentarischen Behandlung von EU-Themen erforderlich.84 Nach den EU-Verträgen sind der Rat, der sich aus VertreterInnen der Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt, und das Europäische Parlament die maßgeblichen Entscheidungsorgane. Daraus folgt auch eine hervorgehobene Rolle des Regierungschefs. Die Bundesverfassung regelt, wen die Bundesregierung in Österreich informieren und bei bestimmten Entscheidungen (z. B. die Ernennung von Mitgliedern von EU-Institutionen) einbinden muss. Sie enthält jedoch keine näheren Vorgaben zur regierungsinternen Vorgangsweise. Nur das Bundesministeriengesetz überträgt der/dem BundeskanzlerIn die Koordination der EU-Angelegenheiten (ohne diese aber näher zu bestimmen). 8.4.6.3 Spezialisierung im Parlament

Im Nationalrat und im Bundesrat sind die Zuständigkeiten in EU-Angelegenheiten auf den Hauptausschuss bzw. den EU-Ausschuss übertragen. Dies soll gegenüber einer Zuständigkeit des Plenums eine flexible Vorgangsweise ermöglichen. Da für die jeweilige Kammer gehandelt wird, sind die Ausschusssitzungen grundsätzlich öffentlich, und es wird auch ein Protokoll erstellt, das Wortmeldungen und Verlauf wiedergibt. Die Bundesregierung ist jedoch nicht verpflichtet, z. B. vor Abstimmungen im Rat das Parlament zu befassen. Stattdessen liegt es (grundsätzlich) an den zuständigen Ausschüssen, zu entscheiden, ob und welche EU-Vorhaben behandelt und eventuell Gegenstand einer Stellungnahme werden. Allerdings besteht für EU-Vorhaben ein (beschränktes) Minderheitsrecht auf Einberufung von Sitzungen bzw. Behandlung einzelner Vorhaben. Die EU-Ausschüsse tagen öfter als andere Ausschüsse, weil jene Rechte, nach denen Parlamente unmittelbar in EU-Prozesse eingebunden sind (sich also direkt und ohne Zwischenschaltung der Regierung an die EU-Kommission richten), knappe Fristen für die Beteiligung vorsehen. Ein generelles Problem der Beteiligung nationaler Parlamente in EU-Angelegenheiten bildet die große Menge an Vorhaben und Informationen, das Erfordernis, laufend mitzuarbeiten, um an Einflussmöglichkeiten zu gewinnen, und der Anspruch an Fachwissen. Dies führt zum einen zur – auch für Österreich – typischen Verlagerung in spezielle Ausschüsse, zum anderen zur Übertragung

84 Vgl. Miklin, Eric (2015), The Austrian Parliament and EU Affairs. Gradually Living Up to its Legal Potential, in  : Claudia Hefftler/Christine Neuhold/Olivier Rozenberg/Julie Smith (Hg.), The Palgrave Handbook of National Parliaments and the European Union, Basingstoke, S. 389–405.

241

242

| 

Christoph Konrath

von Aufgaben an Parlamentsverwaltungen.85 Der Nationalrat und der Bundesrat haben unterschiedliche Initiativen gesetzt, um EU-Debatten (formell) zu fördern. Dazu gehören das Rederecht österreichischer Mitglieder des EP bei der Erörterung von EU-Themen in Ausschüssen und im Plenum sowie spezielle Debattenformate.86 Die Auseinandersetzung in (und Wahrnehmung von) Debatten steigt aber vor allem im Zusammenhang mit krisenhaften Ereignissen und der Durchführung von »Sonderaktionen« im Plenum. Dabei wird seit dem Vertrag von Lissabon erkennbar, dass einzelne Abgeordnete ein stärker EU-bezogenes Profil entwickeln und ihre Repräsentationsansprüche in einen Kontext stellen, der über Österreich hinausreicht.87 8.4.7 Gestaltung der Außenpolitik 8.4.7.1 Exekutives Vorrecht

Außenpolitik, also der Kontakt mit anderen Staaten, der Abschluss internationaler Vereinbarungen und die Mitwirkung in internationalen Organisationen war seit jeher ein Vorrecht der Exekutive, und sie war dementsprechend im innerstaatlichen Bereich wenig geregelt. Im Hintergrund steht der Anspruch, dass Staaten einander mit einheitlichen Positionen begegnen und dass Vereinbarungen längerfristig angelegt sind. Exekutives Handeln ermöglicht Flexibilität nach außen und schafft Sachzwänge nach innen – was einmal vereinbart wurde, soll nicht mehr geändert werden. In einer globalisierten Welt, in der viele Fragen nur grenzüberschreitend behandelt und gelöst werden können, stellt sich jedoch zunehmend die Frage der demokratischen Verantwortlichkeit, Information und breiten Einbindung. 8.4.7.2 Parlament und Außenpolitik

In diesem Sinn hat auch die Bundesregierung eine Vorrangstellung in der Außenpolitik Österreichs. Im Unterschied zur EU-Mitwirkung gibt es keine laufenden und vor allem frühzeitigen Informationspflichten gegenüber dem Parla85 Vgl. Miklin (2015). 86 Vgl. Konrath, Christoph/Liebich, David (2014), Interparlamentarische Zusammenarbeit in der EU, in  : Zeitschrift für öffentliches Recht 69 (3), S. 315–350, hier S. 335 f. 87 Vgl. Auel, Katrin et al. (2016), From Constraining to Catalysing Dissensus  ? The Impact of Political Contestation on Parliamentary Communication in EU Affairs, in  : Comparative European Politics 14 (2), S. 154–176  ; Kinski, Lucy (2018), Whom to Represent  ? National Parliamentary Representation During the Eurozone Crisis, in  : Journal of European Public Policy 25 (3), S. 346– 368.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

ment. Wenn die Bundesregierung einen internationalen Vertrag (in Österreich  : Staatsvertrag) zu verhandeln beginnt, muss sie den Nationalrat und den Bundesrat bloß in Kenntnis setzen. Das Parlament wird dann, wenn es (verfassungs-) rechtlich erforderlich ist, erst mit dem fertigen Vertragstext befasst, den es jedoch nicht mehr verändern kann. Anders als bei Gesetzen ist nur eine Genehmigung oder Ablehnung vorgesehen. Diese ist wiederum Voraussetzung dafür, dass die Bundesregierung bzw. die Bundespräsidentin/der Bundespräsident den Vertrag abschließen kann. Dies bedeutet aber nicht, dass das Parlament machtlos wäre. Außenpolitik ist zum einen von den parlamentarischen Kontrollrechten erfasst. Zum anderen kann der Nationalrat einen Vertrag mit Mehrheitsbeschluss um eine Erklärung oder einen Vorbehalt ergänzen, die für Österreich verbindlich werden.88 Im parlamentarischen Regierungssystem kann dies (wiederum wie in EU-Fragen) nicht bloß zur Kontrolle, sondern gerade auch zur Stärkung der Regierungspositionen eingesetzt werden. 8.4.8 Wahlen und Organbestellungen Nach dem B-VG 1920 war das Parlament (und hier vor allem der Nationalrat) als das Zentrum der parlamentarischen Republik konzipiert, das die obersten Organe von der Bundesregierung bis zu den Mitgliedern des VfGH bestellen sollte. Dies sollte demokratische Verantwortlichkeit und eine möglichst breite Einbindung in das Verfahren sicherstellen. Dies änderte sich mit der Verfassungsreform 1929, und seither kommt der Bundesregierung eine Vorrangstellung zu. Unverändert blieb jedoch, dass die Bestellungen für einen längeren Zeitraum als die Dauer der Gesetzgebungsperiode erfolgen und die Abberufung nicht oder nur in Ausnahmefällen möglich ist. Damit sind laufende Umgestaltungen weitgehend ausgeschlossen. Nationalrat und Bundesrat wählen ihre eigenen Funktionäre (PräsidentInnen usw.) selbst. Die Wahl anderer Organwalter ist zwischen Parlament und Bundesregierung aufgeteilt, wobei aber die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse faktisch zu einer koordinierten Vorgangsweise führen. Jede Kammer wählt einen Teil der Mitglieder des VfGH, der Nationalrat wählt auch die Präsidentin/den 88 Vgl. Ranacher, Christian (2017), Mitwirkung des Nationalrates und Bundesrates am Abschluss von Staatsverträgen, in  : Andreas Müller/Werner Schroeder (Hg.), Demokratische Kontrolle völkerrechtlicher Verträge, Wien, S. 9–24  ; Öhlinger, Theo (2011), Die Mitwirkung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge, in  : Michaela Wittinger/Rudolf Wendt/Georg Ress (Hg.), Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz. Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag, Berlin, S. 629–644.

243

244

| 

Christoph Konrath

Präsidenten des Rechnungshofes und die Mitglieder der Volksanwaltschaft. Die Bundesregierung wählt weitere Mitglieder des VfGH und schlägt die Ernennung österreichischer Funktionäre in der EU ebenso wie die zahlreicher RichterInnen oder LeiterInnen von Behörden und unabhängigen Organen wie z. B. der Bundeswettbewerbsbehörde vor. Die Ernennung erfolgt (in vielen Fällen) durch die Bundespräsidentin/den Bundespräsidenten. In einzelnen Fällen, etwa der Ernennung eines Mitglieds des Europäischen Gerichtshofes, muss die Bundesregierung das Einvernehmen mit dem Nationalrat herstellen. Im Unterschied zu allen anderen parlamentarischen (Mitwirkungs-)Rechten ist kein Verfahren näher ausgestaltet. Kandidatenhearings finden in der Regel nur dann statt, wenn sich die Klubs im Nationalrat informell einigen.89 In anderen Fällen, wo der Nationalrat nur Einvernehmen geben muss, bestehen (wenn) überhaupt nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, etwas über weitere Kandida­ tIn­nen zu erfahren.90 8.5 Diskussionen und Reformvorschläge 8.5.1 Theorie und Realität 8.5.1.1 Widersprüche  ?

Wenn wir diese Darstellung der institutionellen Wirklichkeit mit jener der theoretischen Erfassung und Beschreibung vergleichen, wie wir sie in Kapitel 7. vorgenommen haben, können große Diskrepanzen auffallen. Wir sind dort von vier Polen ausgegangen  : Öffentlichkeit und Auseinandersetzung im Parlament, politische Führung und Machtsicherung, Stabilisierung sowie Weiterentwicklung des politischen Systems. Das Ziel ihrer Abstimmung soll (im Idealfall) auf eine faire und möglichst breite Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen hinauslaufen. Die Einlösung dieser Ansprüche kann anhand von Konzepten wie Repräsentation, anhand von Verfahrensregeln oder im Lichte von Wissens- und Ressourcenfragen beurteilt werden. Wie wir gesehen haben, gehen die institutionellen Grundlagen der österreichischen Bundesverfassung von diesen Polen aus und sind offen für die formulierten Ansprüche. Offenheit bedeutet in diesem Fall jedoch auch, dass grundsätzlich keine substantiellen Anforderungen an Parlament (z. B. im Hinblick 89 Erstmals haben so im Juni 2016 informelle öffentliche Hearings der KandidatIinnen für das Amt der/des RechnungshofpräsidentIn stattgefunden. 90 Vgl. z. B. Parlamentskorrespondenz Nr. 1348, 23.11.2018.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

auf Repräsentativität oder die Verpflichtung zu einer inhaltlichen umfassenden Auseinandersetzung) oder Bundesregierung (z. B. im Hinblick auf das Zusammenwirken mit dem Parlament) festgesetzt sind. Damit steht, wie der Überblick gezeigt hat, einem einseitig auf die Zwecke effizienten Regierens ausgerichteten Verständnis des parlamentarischen Regierungssystems rechtlich nichts entgegen. 8.5.1.2 Realismus und Risiko

Die Frage der Diskrepanz können wir damit beantworten, dass die Bundesverfassung eben nicht eine Idealvorstellung umsetzen wolle, sondern dass ihr ein realistisches Politikverständnis zugrunde liege. Dieses sei durch Partei- und Elitenherrschaft charakterisiert, und die Verfassung garantiere aber, dass dafür ein Mindestmaß an allgemeiner Einflussmöglichkeit, Formgebundenheit und Handlungsbeschränkung bestehe. Allerdings sind die Bundesverfassung und vor allem die Grundrechte vom demokratischen Versprechen gleichen und freien Zusammenwirkens geprägt. Auf dieses Versprechen bauen Demokratie als Lebensform und die Vermittlung (ebenso wie die vermittelnde Rolle) von parlamentarischer Demokratie als öffentlicher Verständigungs-, Begründungs- und Lernform auf. Wenn dies nicht gegeben ist, wird Demokratie auf bloße Durchsetzung und Bestätigung reduziert. Wenn Parlamente diese Ansprüche nicht mehr zum Ausdruck bringen, wächst das Risiko, dass diese (in jeder Hinsicht) vermittelnden Funktionen auch ihre gesellschaftliche Vorbildwirkung verlieren und damit die Einstellungen und Verhaltensweisen, auf die ein demokratisches Gemeinwesen angewiesen ist, erodieren.91 8.5.1.3 Reformbedarf

Auf dieses Spannungsfeld kann auf mehrere Arten reagiert werden  : Die Bundesregierung oder der Nationalrat können so agieren und kommunizieren, dass diese Fragen nach den Idealen nicht – oder jedenfalls nicht von einer signifikant großen Zahl – gestellt werden. Ebenso kann aber angestrebt werden, die Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Anspruch und der Realität möglichst kleinzuhalten und das demokratische Versprechen möglichst zu erfüllen. Beides bildet Teilbereiche von Demokratie- und Verfassungsreformdiskussionen in Österreich. Allerdings nehmen die theoretischen und vergleichenden 91 Vgl. dazu am US-amerikanischen Beispiel Appelbaum, Yoni (2018), Americans Aren’t Practicing Democracy Anymore, The Atlantic (Oct 2018), [https://www.theatlantic.com/magazine/ archive/2018/10/losing-the-democratic-habit/568336/], eingesehen am 06.10.2019, und Putnam, Robert (2000), Bowling Alone  : The Collapse and Revival of American Community, New York.

245

246

| 

Christoph Konrath

Bezugspunkte, die den politikwissenschaftlichen Zugang prägen, dort nur eine untergeordnete Rolle ein. Dies liegt zum einen an der Rolle von Politikwissenschaft im öffentlichen Diskurs,92 zum anderen daran, dass solche Argumente in der Regel »von außen« eingebracht werden. Demgegenüber sind Demokratieund Verfassungsreformdiskussionen stark durch Teilnehmende »von innen«, also politische Parteien, Sozialpartner und einzelne juristische ExpertInnen geprägt, die in der Regel handlungsorientierte und damit auf die konkreten Erfahrungen der Beteiligten beschränkte Diskussionen führen.93 8.5.2 Effizientes Regieren Im Zusammenhang mit der Bundesregierung prägen Fragen der Handlungsfähigkeit und des Führungsanspruchs die Debatten. Ein Ansatzpunkt zur Stärkung wird in einer Neuregelung des Wahlrechts gesehen, die Mehrheiten fördert und so entweder Alleinregierungen oder mehr Koalitionsvarianten möglich macht (siehe 4.4.1). Wenngleich hier die Frage der Mehrheitsbildung im Nationalrat im Vordergrund steht, besteht das Hauptanliegen in der Schaffung der Möglichkeiten effizienten Regierens. Diese Ansprüche können aber nur dann eingelöst werden, wenn zuvor die Aufgaben- und Kompetenzverteilung neu gefasst wird. Denn die komplexe Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern macht Regieren mit einfachen Mehrheiten in Österreich schwierig. Reformen in zentralen Politikfeldern wie Sozialem, Gesundheit oder Energie sind i.d.R. nur mit Verfassungsmehrheit möglich (siehe 3.6). Vorschläge, die Bundesregierung direkt zu wählen, sind hingegen vereinzelt geblieben.94 Regelmäßig wird jedoch vorgeschlagen, die Landeshauptleute direkt zu wählen.95 Die Erfahrungen mit der Bürgermeisterdirektwahl und damit der Stärkung des Leitungsorgans gegenüber anderen Gremien dient dafür als 92 Siehe dazu die Beiträge im ÖZP-Schwerpunktheft »Cui Bono Scientia Politica« 4/2018. 93 Siehe dazu im Überblick Biegelbauer, Peter/Konrath, Christoph (2017), Die Pfadabhängigkeit von Demokratiereformen in Österreich, in  : Journal für Rechtspolitik 2017 (3), S. 171–181, und am Beispiel der Demokratiereformdebatten 2013–2015 Konrath, Christoph (2016), Demokratiereformprojekte und nachhaltige Weiterentwicklung von Demokratie, in  : Gertraud Diendorfer/ Manfried Welan (Hg.), Demokratie und Nachhaltigkeit, Innsbruck/Wien/Bozen, S. 59–79. 94 Vgl. Welan, Manfried (2012), Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems, in  : Alfred J. Noll (Hg.), Österreich auf dem Weg zur Demokratie  ? Manfried Welan. Zum 75. Geburtstag, Wien/ Köln/Weimar, S. 331–343. 95 Siehe etwa Der Standard (2018), Doskozil für Direktwahl der Landeshauptleute, Online-Ausgabe vom 28.12.2018, [https://derstandard.at/2000094960424/Doskozil-fuer-Direktwahl-der-Landes hauptleute], eingesehen am 06.10.2019.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Beispiel. Dazu kommt, dass ein Großteil der Aufgaben der Landeshauptleute (und Landesregierungen) im Verwaltungsbereich, und zwar in der mittelbaren Bundesverwaltung (siehe 9.2.5.1) erfolgt. Folglich ist man hier nur in Teilbereichen auf die Unterstützung des Landtags für Gesetzgebungsprojekte angewiesen. Allerdings könnte eine Direktwahl der Landeshauptleute nur nach Änderung der Bundesverfassung verwirklicht werden. Ein weiterer Themenbereich, der ebenfalls mit der Bundesverfassung zusammenhängt, betrifft das Legalitätsprinzip und damit den Grad der Determinierung von Regierungshandeln durch Gesetze. Reformvorschläge reichen von einer Lockerung dieses Prinzips hin zu einer Änderung der Gesetzestechnik, die einen größeren Gestaltungsspielraum (aber innerhalb der verfassungsmäßigen Grenzen) lässt.96 Dies führt drittens zur Frage des Ausbaus nicht-rechtlicher Formen der Verwaltungssteuerung und des Regierungshandelns. Diese sind im Bereich der wirkungsorientierten Verwaltungsführung und der Implementierung von Public Governance-Konzepten (siehe 9.2.4) im Ansatz vorhanden. Damit werden, und das ist entscheidend, Debatten-, Entscheidungs- und Kontrollstrukturen diskutiert und teilweise schon verwirklicht, die neben dem und ohne das Parlament funktionieren. Was die interne Koordination der Regierungsarbeit betrifft, wird seit längerem die Frage der Zentralisierung bestimmter Funktionsbereiche etwa in Form eines »Amts der Bundesregierung« diskutiert. Damit in Verbindung steht auch die Frage der Schaffung verbindlicher Koordinationsinstrumente und die Festschreibung der Vorrangstellung der Bundeskanzlerin/des Bundeskanzlers, in dem dieser eine Form von Leitlinien- oder Weisungskompetenz gegenüber anderen Mitgliedern der Bundesregierung erhält. 8.5.3 Lebendiger und effizienter Parlamentarismus Im Kontext des Parlaments gibt es zwei große Fragenbereiche, die praktisch von allen Abgeordneten geteilt und dementsprechend von den PräsidentIinnen kommuniziert werden.97 Sie betreffen das Vertrauen in das Parlament und die Wahrnehmung seiner und der jeweils eigenen Tätigkeit. Für den Bundesrat 96 Dies war eine der zentralen Diskussionen des Österreich-Konvents 2003–2005. Siehe dazu Stolzlechner, Harald (2004), Soll das Legalitätsprinzip geändert werden  ?, in  : Walter Berka/Heinz Schäffer/Harald Stolzlechner/Ewald Wiederin (Hg.), Verfassungsreform. Überlegungen zur Arbeit des Österreich-Konvents, Wien/Graz, S. 49–70. 97 Ein gutes Beispiel dafür sind die Antrittsreden der neugewählten Präsidenten des Nationalrates zu Beginn jeder Gesetzgebungsperiode.

247

248

| 

Christoph Konrath

kommt speziell die Auseinandersetzung mit der Frage des eigenen (Fort-)Bestands hinzu. Beides geschieht im Lichte der Tatsache, dass das Parlament hinter die Bundesregierung und die Klubs, die die Agenda dominieren, zurücktritt. Eine Antwort darauf ist der Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments, der die Tätigkeit der ParlamentarierInnen erklären und kommunizieren soll. Zum anderen sollen Schritte gesetzt werden, um den Parlamentarismus »lebendiger« und damit interessanter für Medien und interessierte Öffentlichkeit zu machen. Ansatzpunkt dafür ist in erster Linie die Gestaltung der Plenardebatten. Dazu wird seit 2006 im Nationalrat nahezu durchgehend über Reformen der Geschäftsordnung diskutiert, die dann in Einzelschritten umgesetzt werden. Diese Zugangsweise kann im Ergebnis jedoch dazu führen, dass sich die Diskussion auf eine technische Ebene verlagert, die sich wiederum nur schwer kommunizieren lässt und den Eindruck erwecken kann, dass es primär um eine Beschäftigung mit sich selbst geht.98 Eine zweite Gruppe von Reformforderungen kommt aus dem Spektrum der Oppositionsparteien und von ehemaligen Abgeordneten. Hier geht es neben der Verbesserung der Verfahrensabläufe um Fragen der Effektuierung parlamentarischer Rechte (z. B. die Qualität der Anfragebeantwortungen) und die Stärkung von Mitwirkungsmöglichkeiten (z. B. bei der Gesetzesberatung oder bei Wahlen). Ein weiterer zentraler Bereich ist die Frage der Ressourcen, die ParlamentarierInnen und dem Parlament als solchem (und dadurch vermittelt der Öffentlichkeit) zur Verfügung stehen. Dies betrifft insbesondere die wissenschaftliche Beratung und teilweise auch die Bereitstellung rechtstechnischer (legistischer) Expertise.99 An diesem und an weiteren Punkten treffen sich diese mit den Eindrücken (und impliziten Forderungen), die ehemalige Abgeordnete nach ihrem Ausscheiden aus dem Parlament formulieren.100 Genannt werden das enge Korsett der Sitzungen und deren geringe Frequenz, die Einzelnen praktisch keine selbständigen Entfaltungs- und Erscheinungsmöglichkeiten geben (etwa indem sie als BerichterstatterI/in Themenführerschaft übernehmen können). Sie fordern ein Parlament ein, das unabhängig von der Agenda der Bundesregierung zusammenkommt und selbst Themen setzt.  98 Vgl. dazu Schefbeck, Günther (1997), Der Nationalrat zwischen Rechtsetzungsorgan und Tribüne. Die Geschäftsordnungsnovelle 1996 in rechtspolitischer Perspektive, in  : Journal für Rechtspolitik 5 (1), S. 117–135  ; Konrath (2008)  ; Konrath (2016).  99 Siehe dazu den Bericht der parlamentarischen Enquetekommission »Stärkung der Demokratie« 791 BlgNR XXV. GP. 100 Vgl. dazu etwa die Beiträge in Broukal, Josef et al. (Hg.) (2009), Politik auf Österreichisch – Zwischen Wunsch und Realität, Wien.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Die Frage nach Effizienz kann aus der Position der Regierung(sparteien) auch dahingehend gestellt werden, dass parlamentarische Verfahren und Instrumente die Regierungs- und Gesetzgebungstätigkeit nicht (über Gebühr) behindern. Es geht darum, Verfahren zu verkürzen und vor allem die Nutzung von Minderheitsrechten einzuschränken. Dies muss (und das macht die Auseinandersetzung mit solchen Fragen besonders schwierig) nicht gegen parlamentarische Demokratie gerichtet sein. Unter Umständen kann dies auch dem Schutz demokratischer Institutionen vor Blockaden und damit vor ihrer öffentlichen Entwertung (z. B. als nutzlose, mit sich selbst beschäftigte Institution) dienen.101 Die Chancen auf die Umsetzbarkeit dieser Vorschläge hängen dabei regelmäßig davon ab, inwieweit die Unterstützung der Opposition für Regierungsvorhaben erforderlich ist oder großer Druck aus der Öffentlichkeit oder von außen kommt. Beispiele hierfür sind der Ausbau der parlamentarischen Informationsund Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten, der jeweils dann erfolgt ist, wenn für die Annahme von EU-Reformen eine 2/3-Mehrheit im Nationalrat erforderlich war.102 Ein Faktor für die Umsetzung der jahrzehntelangen Forderung nach einem Minderheitsrecht auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen des Nationalrates war die Unterstützung von entsprechenden Petitionen und parlamentarischen Bürgerinitiativen durch mehr als 200.000 Personen 2014, die einen Allparteienkompromiss über das Minderheitsrecht in Kombination mit einer zeitlichen Beschränkung des Verfahrens und einem neuen Verfahrensrecht beförderte. Unter bestimmten Umständen können auch der Vergleich mit internationalen Beispielen (wie dies etwa beim Ausbau der EU-Mitwirkung der Fall war) oder Berichte internationaler Organisationen, etwa von GRECO (Staatengruppe gegen Korruption) Reformen anstoßen. Letzteres zeigt sich etwa bei den Regelungen zur Parteienfinanzierung und zu Unvereinbarkeit, aber auch bei Transparenz und Konsultation von BürgerInne/n im Gesetzgebungsverfahren.103

101 Siehe zur Bedeutung dieser Frage in der Entwicklung des modernen Parlamentarismus Koß, Michael (2018), Parliaments in Time, Oxford. Siehe konkret zu Österreich Konrath, Christoph (2017c), Blockieren und Reformieren – parlamentarische Obstruktion in Österreich, in  : Parlamentsdirektion (Hg.), Mark Twain. Reportagen aus dem Reichsrat 1898/1899, Salzburg/Wien, S. 144–149. 102 Dies war etwa bei der Umsetzung des Vertrags von Lissabon zur Reform der EU oder im Zusammenhang mit der Gründung des Europäischen Stabilitätsmechanismus der Fall. 103 Vgl. GRECO (2016).

249

250

| 

Christoph Konrath

8.5.4 Offene Versprechen 8.5.4.1 Prozessoptimierungen oder Grundsätze  ?

Beide Gruppen von Reformvorschlägen, die hier kurz vorgestellt wurden, betreffen in erster Linie Prozessoptimierungen. Die Diskussion hierüber bleibt »unter sich«, denn es geht primär um die Interessenslagen der beteiligten Parteien, aber nicht um eine Gesamtsicht auf die Funktionsbedingungen des demokratischen Systems. Dessen Hauptprobleme, die wir in unserer Diskussion der theoretischen Grundlagen erörtert haben (siehe 7.5–7.7) werden jedoch nicht angesprochen. Kurz gefasst geht es darum, eine im 18. Jahrhundert entwickelte und auf Freiheitssicherung durch gegenseitige Mäßigung ausgelegte Debatten- und Herrschaftsform an die Bedingungen einer modernen Massen-, Medien- und Informationsgesellschaft anzupassen. Dieses Ideal ist dadurch geprägt, dass Debatten und Herrschaft nicht unmittelbar ausgeübt werden, sondern dass durch Repräsentation und besondere Verfahren sowohl ein Zusammenwirken als auch Vermittlung (zwischen Interessen und von diesen) notwendig werden. Damit sollen Freiheitsräume geschaffen und Widerstandsfähigkeit gegen Tendenzen politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Vereinnahmung gestärkt werden. Dieses Ideal wird, wie wir ebenfalls gesehen haben, seit Jahrzehnten in Frage gestellt. Es ist zeitaufwändig, nicht einfach zu erklären und verlangt den Beteiligten viel ab. Schwerer wiegt, dass die dahinterstehenden Versprechen von Beteiligung, offener und umfassender Debatte und Repräsentation (auch im Sinne eines Mindestmaßes an Repräsentativität) in Frage stehen. Gleichzeitig entstehen neue Formen von Beteiligung und Partizipation, Alternativen zur demokratischen Legitimation durch Parlamentarismus zu entwickeln (siehe 9.3.7). 8.5.4.2 Direkte Demokratie

In Österreich wird die (breitere) Auseinandersetzung hiermit bislang über Vorschläge zum Ausbau direkter Demokratie (siehe 4.4.3.2) oder zumindest zur Abgabe von Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren104 geführt. Direkte Demokratie durch Volksbegehren und (mögliche) Volksabstimmungen bleiben jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt, bedürfen eines hohen Ressourceneinsatzes und sind in Österreich wiederum stark mit politischen Parteien verbunden. Dazu kommt, dass kaum einer der Vorschläge zu ihrem Ausbau (ebenso wie jene zum Ausbau des Begutachtungsverfahrens) die Frage danach beantwortet, wie

104 Bericht der Enquete-Kommission »Stärkung der Demokratie« 791 BlgNR XXV. GP.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Debatten geführt und damit auf die zuvor beschriebenen Herausforderungen geantwortet werden soll(en). 8.5.4.3 Erneuerung parlamentarischer Instrumente und Kultur

Im internationalen Vergleich wird hingegen betont, dass die Erneuerung des Ideals nur durch Veränderungen im Verhältnis politischer EntscheidungsträgerInnen zu den BürgerInnen gelingen könne und dass dies eine aktive Einbindung voraussetze. Die Öffnung von Parlamenten, die auch in Österreich als Leitbild betont wird, müsse demnach zum einen auf eine Erhöhung der Durchlässigkeit von Parlamenten hinauslaufen, zum anderen sollten Parlamente die Möglichkeiten, über die sie verfügen, nutzen und so wieder eine zentrale Rolle für sich beanspruchen.105 Dies meint grundsätzlich, Reformen des demokratischen Systems in Kooperation von Politik und Öffentlichkeit zu erarbeiten und dann im Alltag die Möglichkeit, Anregungen »von außen« in politische Entscheidungsabläufe einzubringen, die eine verbindliche institutionalisierte Behandlung erfahren. Dazu zählen Formen und Verfahren, in denen ExpertInnen ebenso wie (interessierte oder zufällig ausgewählte) BürgerInnen in Beratungsprozesse einbezogen werden oder in denen sich parlamentarische Ausschüsse mit Experteninstitutionen und Interessensgruppen austauschen. Beides kann etwa in Form von Stellungnahmerechten, Hearings, Konferenzen oder partizipatorischen Ansätzen zur Beratung und Entscheidungsfindung institutionalisiert werden. Schon die Vielfalt der hier nur angesprochenen Möglichkeiten macht deutlich, dass direkte Demokratie in der weltweiten Praxis und deren wissenschaftlichen Reflexion nur einen Teilbereich in Hinblick auf die »Durchlässigkeit« von Parlamenten darstellt. Dort, wo dies konkret passiert, geschieht es im Bewusstsein, dass es sich um Praktiken handelt, die erst etabliert werden müssen. Beispiele hierfür finden sich etwa in Irland, wo seit 2012 mit verschiedenen Formen der Beratung wie Konventen, an denen ausgeloste BürgerInnen allein oder mit PolitikerInnen Lösungsvorschläge erarbeiten, oder der Einbindung in die parlamentarische Vorberatung politischer Projekte experimentiert wird.106 Dabei zeigt sich, dass sich die Initiativen nicht auf einzelne Organe, wie z. B. die PräsidentInnen von Parlamenten und die Parlamentsverwaltungen beschränken, die in deren Auftrag tätig 105 Vgl. dazu Leston-Bandeira, Cristina (2012), Studying the Relationship between Parliaments and Citizens, in  : Journal of Legislative Studies 18 (3–4), S. 265–274. 106 Vgl. Martin, Shane (2017), The impact of pre-legislative scrutiny on legislative and policy outcomes, Oireachtas Library and Research Service, Dublin.

251

252

| 

Christoph Konrath

werden. Entscheidend für Veränderungen scheint vielmehr die Übernahme dieser Ansätze in alle Tätigkeitsbereiche des Parlaments und der Regierung zu sein. In Österreich gibt es einzelne Ansätze dieser Art, die im Wesentlichen auf Privatinitiativen wie z. B. »Besser Entscheiden« beschränkt bleiben.107 In institutionellen Formaten wie einer 2014/15 durchgeführten Enquete-Kommission des Nationalrates zur »Stärkung der Demokratie« sind solche Ansätze jedoch Randthemen geblieben.108 Dabei könnten diese Vorschläge mit ihrem Fokus auf Diskussion und Beratung die kommunikative und expressive Funktion des Parlaments im und für die demokratische Legitimation und das Vertrauen in das parlamentarische Regierungssystem stärken. Neue Formen des Austausches von Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik könnten ein Ansatz sein, der Wissensproblematik im parlamentarischen System (siehe 7.7) im Wege von Austausch anstelle von Abwertung (im Sinne von  : »Diese Politiker haben ja keine Ahnung.«) zu begegnen. Damit könnten schließlich neue Erscheinungs- und Profilierungsmöglichkeiten von PolitikerInnen (die im derzeitigen System für viele fehlen) erschlossen werden. Dies alles würde sowohl den klassischen Ansätzen zur Beschreibung und Verteidigung dieses Systems entsprechen, wie sie John Stuart Mill oder Walter Bagehot in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts formuliert haben (siehe 7.2.4. und 7.7.2). Es könnte in das bestehende verfassungsrechtliche Gefüge eingebunden werden, und es könnte von dem vor allem für Österreich typischen Rechtsfokus (im Hinblick auf die Unmöglichkeit von Reformen) wegführen. Vieles hiervon ist nicht primär eine Rechtsfrage, und vieles würde hiermit nicht gleich zur Verfassungsreformfrage. Was aber zur Diskussion gestellt würde, wären die theoretischen Defizite und fehlenden Leitbilder sowie die mangelnde Verbindung zur politischen Praxis. Diese Aspekte würden an Bedeutung gewinnen und könnten, weil sie zu den Grundlagen politischer Bildung zählen, die Bedingungen für das Gelingen von Demokratiereformen im Speziellen und der laufenden Vergewisserung und Erneuerung von Demokratie schaffen.

107 Siehe Kovar, Andreas (o. J.), Besser entscheiden. Wandel und liberale Demokratie, [www.besserentscheiden.at], eingesehen am 06.10.2019. 108 Bericht der Enquete-Kommission »Stärkung der Demokratie« 791 BlgNR XXV. GP.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

8.6 Literaturverzeichnis Appelbaum, Yoni (2018), Americans Aren’t Practicing Democracy Anymore, The Atlantic (Oct 2018), [https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2018/10/losing-the-democratic-habit/568336/], eingesehen am 06.10.2019. Auel, Katrin et al. (2016), From Constraining to Catalysing Dissensus  ? The Impact of Political Contestation on Parliamentary Communication in EU Affairs, in  : Comparative European Politics 14 (2), S. 154–176. Bamberger, Matthias (2014), Nachamtliche Tätigkeitsbeschränkungen für politische Amtsträger, Berlin. Berka, Walter (2018), Verfassungsrecht, Wien. Biegelbauer, Peter/Konrath, Christoph (2017), Die Pfadabhängigkeit von Demokratiereformen in Österreich, in  : Journal für Rechtspolitik 2017 (3), S. 171–181. Broukal, Josef (Hg.) (2009), Politik auf Österreichisch – Zwischen Wunsch und Realität, Wien. Bußjäger, Peter (2010), Freistellung von Abgeordneten für Betreuungszwecke. Zeitgemäße Neuerung oder eine verpönte Form des Mandats auf Zeit  ?, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2010 (1), S. 42–49. Clarke, Nick, et al. (2018), The Good Politician. Folk Theories, Political Interaction and the Rise of Anti-Politics, New York. Der Standard (2018), Doskozil für Direktwahl der Landeshauptleute, Online-Ausgabe vom 28.12.2018, [https://derstandard.at/2000094960424/Doskozil-fuer-Direktwahl-der-Landeshauptleute], eingesehen am 06.10.2019. Dolezal, Martin (2000), ExpertInnen oder SekretärInnen. Die Rolle der parlamentarischen MitarbeiterInnen der Nationalratsabgeordneten, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2000 (2), S. 201–218. Feik, Rudolf (2007), Öffentliche Verwaltungskommunikation, Wien. Gratz, Wolfgang (2017), Symptomträger und Garanten des Bestehenden, Wiener Zeitung Online, [https://www.wienerzeitung.at/themen/stadt-und-land/908290-Symptomtraeger-und-Garanten-des-Bestehenden.html], eingesehen am 06.10.19. GRECO (2016), 4. Evaluierungsbericht Österreich »Korruptionsprävention bei Abgeordneten, Richtern und Staatsanwälten«, [https://www.coe.int/en/web/greco/evalua tions/austria], eigesehen 06.10.19. Inter-Parliamentary Union/United Nations Development Programme (2012), Global Parliamentary Report  : The Changing Nature of Parliamentary Representation, [http:// archive.ipu.org/dem-e/gpr.htm], eingesehen am 06.10.19. Khol, Andreas (2007), Koalitionsabkommen in der Regierungspraxis 1994 bis 2007, in  : Andreas Khol/Günther Ofner/Stefan Karner/Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik, Wien/Köln/Weimar, S. 141–155. Kinski, Lucy (2018), Whom to Represent  ? National Parliamentary Representation During the Eurozone Crisis, in  : Journal of European Public Policy 25 (3), S. 346–368. Konrath, Christoph (2008), (Erfahrungs)Bericht Geschäftsordnungsreform im Natio-

253

254

| 

Christoph Konrath

nalrat in der 23. Gesetzgebungsperiode, in  : Bußjäger, Peter (Hg.), Die Zukunft der parlamentarischen Kontrolle, Wien, S. 47–65. Konrath, Christoph (2012), Parlamentarismus zwischen Recht und Politik, in  : Tamara Ehs et al. (Hg.), Recht und Politik. Spannungsfelder der Gesellschaft, Wien, S. 107– 134. Konrath, Christoph (2016), Demokratiereformprojekte und nachhaltige Weiterentwicklung von Demokratie, in  : Gertraud Diendorfer/Manfried Welan (Hg.), Demokratie und Nachhaltigkeit, Innsbruck/Wien/Bozen, S. 59–79. Konrath, Christoph (2017a), Parlamentarische Opposition in Österreich  : Recht und Praxis in Zeiten eines fragmentierten Parteiensystems, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2017 (3), S. 557–574. Konrath, Christoph (2017b), Art 29 B-VG, in  : Kneihs, Benjamin/Lienbacher Georg (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht 2017 (19. Lieferung). Konrath, Christoph (2017c), Blockieren und Reformieren  – parlamentarische Obstruktion in Österreich, in  : Parlamentsdirektion (Hg.), Mark Twain. Reportagen aus dem Reichsrat 1898/1899, Salzburg/Wien, S. 144–149. Konrath, Christoph/Liebich, David (2014), Interparlamentarische Zusammenarbeit in der EU, in  : Zeitschrift für öffentliches Recht 69 (3), S. 315–350. Konrath, Christoph/Murer, Iris (2013), Die Mitwirkung des Nationalrates in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus, in  : Gerhard Baumgartner (Hg.), Öffentliches Recht. Jahrbuch 2013, Wien, S. 351–395. Konrath, Christoph/Sully, Melanie (2014), Persönlichkeiten, Parteien und Parlamentarismus, in  : Andreas Khol/Helmut Ofner/Stefan Karner (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2013, Wien, S. 327–338. Koß, Michael (2018), Parliaments in Time, Oxford. Kovar, Andreas (o. J.), Besser entscheiden. Wandel und liberale Demokratie, [www.besserentscheiden.at], eingesehen am 06.10.19. Krause, Joachim (2018), Alle reden davon und keiner weiß, was es ist  ? Perspektiven für die Analyse und Gestaltung parlamentarischer Kontrolle, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 2018 (4), S. 799–813. Leston-Bandeira, Cristina (2012), Studying the Relationship between Parliaments and Citizens, in  : Journal of Legislative Studies 18 (3–4), S. 265–274. Lienbacher, Georg (2012), Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, in  : VVDStRL, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, Berlin, S. 7–48. Lödl, Manfred Claus (2010), Bundeshaushaltsrecht  : Akteure, Kompetenzen, Prozesse, in  : Gerhard Steger (Hg.), Öffentliche Haushalte in Österreich, Wien, S. 209–252. Martin, Shane (2017), The impact of pre-legislative scrutiny on legislative and policy outcomes, Oireachtas Library and Research Service, Dublin. Maurer, Andreas (2012), Parlamente in der EU, Wien. McCubbins Mathew/Schwartz, Thomas (1984), Congressional Oversight Overlooked  : Police Patrols versus Fire Alarms, in  : American Journal of Political Science 28 (1), S. 165–179.

Regierung und Parlament  : Organisation und Praxis 

|

Meinel, Florian (2019), Vertrauensfrage. Zur Krise des Parlamentarismus, München. Miklin, Eric (2015), The Austrian Parliament and EU Affairs. Gradually Living Up to its Legal Potential, in  : Claudia Hefftler/Christine Neuhold/Olivier Rozenberg/Julie Smith (Hg.), The Palgrave Handbook of National Parliaments and the European Union, Basingstoke, S. 389–405. Müller, Andreas (2018), Recht auf (nachträglichen) Klubzusammenschluss und freies Mandat, in  : Journal für Rechtspolitik 2018 (26), S. 49–65. Müller, Christoph (2012), Die Leitlinienkompetenz des Bundeskanzlers auf Basis des österreichischen Unionsverfassungsrechts als Ergänzung des Ressortprinzips, Wien. Müller, Wolfgang, et al. (2001), Die österreichischen Abgeordneten. Individuelle Präferenzen und politisches Verhalten, Wien. Muzak, Gerhard (2007), Die Neuregelung der Vertretung oberster Organe durch die B-VG-Novelle 2007 – Systemwechsel als Ergebnis einer Anlassfallgesetzgebung, in  : Zeitschrift für Verwaltung 2007 (5), S. 918–925. Neuhold, Christine/Blümel, Barbara (2007), The Parliament of Austria  : A »Normative« Tiger  ?, in  : Olaf Tans/Carla Zoethout/Jit Peters (Hrsg), National Parliaments and European Democracy, Groningen, S. 141–158. Noll, Alfred/Szekulics, Udo (2018), Die Interpellation  : Das parlamentarische Kontrollrecht, Wien/Graz. Öhlinger, Theo (1992), Stil der Verfassungsgesetzgebung – Stil der Verfassungsinterpretation. Einige undogmatische Reflexionen zur österreichischen Verfassungskultur, in  : Bernd-Christian Funk/Hans R. Klecatsky/Edwin Loebenstein/Wolfgang Mantl/Kurt Ringhofer (Hg.), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Wien, S. 502–514. Öhlinger, Theo (2011), Die Mitwirkung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge, in  : Michaela Wittinger/Rudolf Wendt/Georg Ress (Hg.), Verfassung – Völkerrecht  – Kulturgüterschutz. Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70.  Geburtstag, Berlin, S. 629–644. Öhlinger, Theo/Eberhard, Harald (2019), Verfassungsrecht, Wien. Öhlinger, Theo/Konrath, Christoph (2013), Art. 23e B-VG, in  : Karl Korinek/Michael Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht (11. Lfg.), Wien, Rz 1–4. Österreichische Rechtsanwaltskammer (2018), Fieberkurve des Rechtsstaates 2018  – Entwicklungen, Tendenzen, Stärken und Schwächen der österreichischen Rechtsstaatlichkeit, Bericht Rechtsanwaltskammertag, [https://www.rechtsanwaelte.at/kammer/ aktuelles/news/veroeffentlichung-studie-fieberkurve-des-rechtsstaates–2018/], eingesehen am 06.10.19. Parlamentsdirektion (Hg.) (2019), Handbuch zum Recht der Untersuchungsausschüsse im Nationalrat, Wien. Pollak, Johannes/Slominski, Peter (2009), Zwischen De- und Reparlamentarisierung  – Der österreichische Nationalrat und seine Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 38 (2), S. 193–212. Putnam, Robert (2000), Bowling Alone  : The Collapse and Revival of American Community, New York.

255

256

| 

Christoph Konrath

Ranacher, Christian (2017), Mitwirkung des Nationalrates und Bundesrates am Abschluss von Staatsverträgen, in  : Andreas Müller/Werner Schroeder (Hg.), Demokratische Kontrolle völkerrechtlicher Verträge, Wien, S. 9–24. Schefbeck, Günther (1997), Der Nationalrat zwischen Rechtsetzungsorgan und Tribüne. Die Geschäftsordnungsnovelle 1996 in rechtspolitischer Perspektive, in  : Journal für Rechtspolitik 5 (1), S. 117–135. Steger, Gerhard (Hg.) (2010), Öffentliche Haushalte in Österreich, Wien. Stolzlechner, Harald (2004), Soll das Legalitätsprinzip geändert werden  ?, in  : Walter Berka/Heinz Schäffer/Harald Stolzlechner/Ewald Wiederin (Hg.), Verfassungsreform. Überlegungen zur Arbeit des Österreich-Konvents, Wien/Graz, S. 49–70. Tezner, Friedrich (1912), Die Volksvertretung, Wien. Uhlmann, Felix/Konrath, Christoph (2017), Participation, in  : Ulrich Karpen/Helen Xanthaki (Hg.), Legislation in Europe, Oxford, S. 73–95. Weber, Max (1919), Politik als Beruf, München. Wehner, Joachim (2010), Legislatures and the Budget Process  : The Myth of Fiscal Control, Basingstoke. Welan, Manfried (2012), Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems, in   : Alfred J. Noll (Hg.), Österreich auf dem Weg zur Demokratie  ? Manfried Welan. Zum 75. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar, S. 331–343.

Christoph Konrath1

9. Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik

9.1. Allgegenwärtig und unbekannt 9.1.1 Verwaltung als Rahmen und Instrument von Politik Die Entwicklung der Verwaltung und des rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahrens geht historisch, politisch und kulturell der Demokratie und dem parlamentarischen Regierungssystem in Österreich voraus.2 Den demokratischen Institutionen stand von Beginn an eine (auch zahlenmäßig) starke, gut ausgebildete und straff organisierte Verwaltung gegenüber, die das Staats- und Rechtsverständnis prägte. Dies wirkt bis heute nach, und wir können in vieler Hinsicht durchaus von einer demokratisch-parlamentarisch und einer administrativ geprägten Verfassung in Österreich sprechen. Faktisch wird dies in der Dominanz von Regierung und Verwaltung gegenüber dem Parlament erkennbar. Der Aufbau der Verwaltung und des Beamtenapparats ist in Österreich besonders eng mit der Staatsbildung verbunden. Er war das entscheidende Instrument für die Konsolidierung der Herrschaft der Habsburger im 18. Jahrhundert und für die Integration der Untertanen (und späteren StaatsbürgerInnen) im Vielvölkerstaat. Diese Entwicklung gewann nach den Revolutionen von 1848 an Dynamik. Mit umfassenden Verwaltungsreformen sollte der neoabsolutistische Staat etabliert und die Revolution »bewältigt« werden.3 Dies hatte vier Konsequenzen, die bis heute nachwirken  : (I) Verwaltung wurde primär als rechtliche Aufgabe definiert, um das bisherige, von der Aufklärung geprägte Verständnis zurückzudrängen, das einen umfassenderen (und damit potentiell »politischeren«) Zugang ermöglicht hätte. (II) Die Befassung mit Verwaltung wurde auf Rechtsfragen und -praxis konzentriert. (III) Unbeabsichtigt wurde so jedoch ein Ziel der Revolution von 1848 verwirklicht, nämlich die rechtliche Bindung und 1 Ich danke Franziska Bereuter für die kritische Durchsicht des Textes und die Unterstützung bei der Erstellung des Anmerkungsapparats. 2 Siehe zur Geschichte im Überblick Wiederin, Ewald (2010), Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht. Österreich, in  : Von Bogdandy, Armin, et al. (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band 3, Verwaltungsrecht in Europa. Grundlagen, Heidelberg, S. 187–228. 3 Vgl. Heindl, Waltraud (2013), Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich. Band 2  : 1848–1914, Wien, S. 47 ff.

258

| 

Christoph Konrath

Überprüfbarkeit der Verwaltung, was in Konsequenz zum Ausbau des Rechtsstaats führte. (IV) Schließlich wurden ihre Aufgaben vermehrt, und die Verwaltung wurde zu einem der prägenden Elemente der späten Habsburgermonarchie, das viele Entwicklungen von den modernen Wissenschaften über die Literatur bis zur Architektur beeinflusste.4 9.1.2 Strikter Vollzug und Politisierung In einem Rechtsstaat soll die Verwaltung unpolitisch in dem Sinn sein, dass Verwaltungsentscheidungen nicht von politischen Überlegungen geleitet werden (etwa der Parteizugehörigkeit oder der Herkunft eines Antragstellers). Im (vor allem nach außen artikulierten) Selbstbild der Verwaltung und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Verwaltungsrecht ist dies auch seit der Monarchie der Fall. Hier dominiert das Bild von Verwaltungshandeln als Garantie strikten Gesetzesvollzugs (und damit der Umsetzung der Herrschaft des Rechts – siehe 7.3.5). In Selbstbeschreibungen der Verwaltung war (und ist) es daher üblich, Politik und Gerichtsbarkeit in Österreich als mit »Wertungsfragen aller Art« befassten Einrichtungen zu charakterisieren.5 9.1.2.1 »Denken vom Recht her«

Der Jurist Ewald Wiederin hat folglich ein »Denken vom Recht her« als typisch für Österreich beschrieben. Ein solches Denken lehnt jede theoretische Grundlegung oder Bezugnahme auf Werte und Begriffe außerhalb des Rechtssystems, aber auch jede Form von Abwägung ab.6 Entscheidend ist, was die Verwaltung mit den Beschlüssen des Gesetzgebers tut, die entsprechend den Bestimmungen der Verfassung Geltung erlangt haben. Unter diesem Gesichtspunkt tritt die Frage, ob es darüber hinaus einen Unterschied zwischen einem parlamentarischen Gesetzgeber oder der autoritativen Setzung durch den Kaiser gebe, zurück. Dies ermöglichte freilich auch, dass die Verwaltung und ihre wissenschaftliche Reflexion fast nahtlos von der Monarchie in die Republik weitergeführt 4 Siehe dazu Bruckmüller, Ernst (1996), Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien. 5 Vgl. Jabloner, Clemens (2007), Rechtsstaatskonzepte. Gedanken zur Unabhängigkeit in Justiz und Verwaltung, in  : Österreichische Juristenkommission (Hg.), Rechtsstaat und Unabhängigkeit, Genf/Wien/Graz, S. 18–30, hier S. 18. 6 Vgl. Wiederin, Ewald (2007), Denken vom Recht her. Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre, in  : Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft. Die Verwaltung – Beiheft 7, Berlin, S. 293–317.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

werden konnte. Auch wenn es nach der Bundesverfassung eigentlich nur ein republikanisches (also an der öffentlichen Sache und nicht an Privat- oder Parteiinteressen) ausgerichtetes Verständnis von Verwaltung geben kann, so heißt dies noch nicht, dass es faktisch auch demokratisch-parlamentarisch ausgerichtet sein musste. Man konnte auch das josephinisch-obrigkeitliche Bürokratie- und Staatsverständnis der Monarchie in der Republik weiterführen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Kontinuität konnte sich die Bestandskraft und verantwortungsvolle Aufgabenführung der Verwaltung auch in Umbruchszeiten (etwa 1945) entwickeln. Ebenso konnten aber die Verwaltung und das Verwaltungsrecht nahezu bruchlos in den autoritären Ständestaat überführt werden.7 Besonders deutlich wurde das schwierige Verhältnis der Verwaltung und des Verwaltungsrechts zur Demokratie aber, als ab den 1970er Jahren auch in Österreich die Forderung nach öffentlicher Partizipation an Verwaltungsentscheidungen zunahm.8 9.1.2.2 Was hat Verwaltung mit Politik zu tun  ?

Der Rechtsfokus kann darüber hinwegtäuschen, dass vielfältige Beziehungen zwischen Verwaltung und politischen Beratungs- und Entscheidungsprozessen sowie politisch bestellten (also gewählten oder ernannten) AmtsträgerInnen bestehen.9 Schon mit der Übertragung von Aufgaben an die Regierung und die Verwaltung (bzw. mit der Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse) geht das Erfordernis parlamentarischer Verwaltungskontrolle einher (siehe 8.4.4). Wenn die Verwaltung ihr Selbstverständnis im demokratischen Verfassungsstaat definiert, muss sie politisch argumentieren. Wenn der Staat BürgerInnen einbinden und offen für ihre Anliegen sein soll, braucht es auch eine Verwaltung, die in der Lage ist, zu bewerten und zu kommunizieren (siehe 9.3.7). Verwaltungsangelegenheiten werden so auch zum Gegenstand politischer Debatten. Wenn die Verwaltung Vorhaben ihrer politischen Spitze umsetzen soll, muss sie sich mit diesen auseinandersetzen und kann gegebenenfalls gefordert sein, zu widersprechen. Dann stellen sich Fragen, inwieweit Angehörige der Verwaltung selbst 7 Vgl. dazu etwa Huemer, Peter (1975), Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie, Wien  ; Wiederin, Ewald (2014), Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934. Zugleich Mutmaßungen über die Gründe einer Begriffsrenaissance, in  : Parlamentsdirektion (Hg.), Staats- und Verfassungskrise 1933, Wien/Köln/ Weimar, S. 75–97. 8 Exemplarisch schildert dies Öhlinger, Theo (1982), Repräsentative, direkte und parlamentarische Demokratie, in  : Werner Krawietz/Ernst Topitsch/Peter Koller (Hg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Rechtstheorie, Beiheft 4, Berlin, S. 215–229. 9 Diese werden im Folgenden kurz als »Politik« bezeichnet.

259

260

| 

Christoph Konrath

politisch handeln können und inwieweit PolitikerInnen Einfluss auf die Zusammensetzung der Verwaltung ausüben können. Diese und weitere Themen10 machen deutlich, dass eine klare Trennung zwischen Politik und Verwaltung weder theoretisch formuliert noch praktisch vorgefunden werden kann. 9.1.3 Wissensstand und Diskussionspunkte Der Historiker Ernst Hanisch hat seine österreichische Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts mit »Der lange Schatten des Staates« betitelt, um das staatsund verwaltungszentrierte Denken in Österreich zu beschreiben.11 Umso auffallender jedoch ist, dass er praktisch nicht auf die Verwaltung selbst eingeht. Es zeigt, wie eingeschränkt die wissenschaftliche und praktische Befassung mit Verwaltung passiert und wie vergleichsweise wenige gesicherte Informationen über die Funktionsweise der Verwaltung in Österreich vorliegen. Die Auseinandersetzung mit Themen der Verwaltung wird nach wie vor von der Rechtswissenschaft dominiert, die sich mit gesetzlichen Regelungen und Gerichtsentscheidungen befasst. Dies betrifft allerdings nur einen (letztlich relativ kleinen) Ausschnitt der Verwaltungsorganisation und des Verwaltungshandelns, der formell-verfahrensrechtlich geprägt ist und sich in Verordnungen, Bescheiden und Urteilen äußert. Die (durchaus zahlreichen) Publikationen von PraktikerInnen der Verwaltung werden ebenso durch den juristischen Ansatz geprägt und geben kaum Einblick in konkrete Funktionsweisen und Abläufe. Diese werden vielmehr als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt, da sich die AutorInnen in erster Linie an ein informiertes Fachpublikum wenden. Ähnliches trifft auf betriebswirtschaftlich und managementorientierte Publikationen im Bereich der Verwaltung zu, die in der Regel einen stark reformorientierten Zugang verfolgen. Demgegenüber gibt es relativ wenig politik- und sozialwissenschaftliche Analysen, die sich mit Abläufen, Programmatik und Entscheidungsfindung in der Verwaltung beschäftigen.12 Über Veröffentlichungen der Verwaltungsbehörden, Berichte der Bundesregierung, des Rechnungshofes und der Volksanwaltschaft, Entscheidungen der 10 Siehe dazu Seibel, Wolfgang (2016), Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin, S. 110 ff. 11 Vgl. Hanisch, Ernst (1994), Der lange Schatten des Staates  : Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien. 12 Vgl. die Bestandsaufnahme in Biegelbauer, Peter, et al. (2014), Die wissenschaftliche (Nicht-)Beschäftigung mit der Verwaltung und ihrem Verhältnis zur Politik in Österreich, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2014 (4), S. 349–365.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

Verwaltungsgerichte und des Verfassungsgerichtshofs sowie über parlamentarische Anfragen und Untersuchungsausschüsse stehen in Österreich umfangreiche Daten und Informationen zur Verfügung. Sie sind jedoch meist nicht systematisch erschlossen und geben (teilweise abgesehen von Rechnungshofberichten und Sitzungsprotokollen von Untersuchungsausschüssen) in der Regel nur aus­gewählte Informationen wieder. Die starke Verankerung und Tradition der Amts­verschwiegenheit sowie die kaum vorhandene Reflexion des Verhältnisses von Politik und Verwaltung haben sozialwissenschaftliche Verwaltungsforschung immer zusätzlich erschwert. Vor diesem Hintergrund soll nun die österreichische Verwaltung in ihrer Funktion für den demokratischen Rechtsstaat und im Kontext des politischen Systems und der politischen Praxis dargestellt werden. Damit schließe ich an die Auseinandersetzung mit dem parlamentarischen Regierungssystem an, das den Schwerpunkt auf die Beziehungen zwischen Parlament und Bundesregierung gelegt hat. Folglich werde ich die Beschreibung der Verhältnisse zwischen Verwaltung und (vornehmlich) ihrer politischen Leitung ähnlich gliedern und mit den Handlungsgrundlagen und der Organisation beginnen (9.2). Darauf folgt als zentraler Teil eine Einordnung der Verwaltung in das politische System, die von den Personen, die die Verwaltung bilden, ausgeht, und nach den Beziehungen zwischen der Verwaltung, Politik, Gerichtsbarkeit und Öffentlichkeit fragt (9.3). Das Kapitel schließt mit einer Diskussion von Schwerpunkten der Verwaltungsreform, die einerseits die Agenda der politischen Parteien prägen, und die andererseits von entscheidender Bedeutung für Bestand und Weiterentwicklung des demokratischen Rechtsstaats stehen (9.4). 9.2 Handlungsgrundlagen und Organisation 9.2.1 Verwaltung als Institution Die Verwaltung ist durch eine lange Entwicklungsgeschichte geprägt und von ihrer Struktur her auf Dauer angelegt. Sie ist nicht bloß eine zweckrational eingerichtete Organisation, sondern eine institutionalisierte soziale Struktur oder Institution.13 Somit kann diese in ihren Grundlagen nicht einfach verändert oder neu ausgerichtet werden. Als Institution bietet sie für den Staat und dessen Bevölkerung Stabilität. Dabei werden vor allem ihre Rechtsgrundlagen und ihre Organisationsweise als Garantie für Beständigkeit wahrgenommen. Als Insti13 Vgl. dazu und zum Folgenden Seibel (2016), S. 31 ff.

261

262

| 

Christoph Konrath

tution muss Verwaltung jedoch darauf achten, den eigenen Bestand und damit die Personen und Beziehungen, die sie bilden, zu stabilisieren. Verwaltung kann daher nie bloßes Werkzeug sein, sondern sie führt auch ein Eigenleben, das u. a. durch Routine und Stetigkeit gekennzeichnet ist. Die große Herausforderung besteht darin, wann und wie weit die Institution (sich) an den gesellschaftlichen und politischen Wandel angepasst werden (anpassen) kann und soll (siehe 9.4). Ein wesentliches Element der Stabilisierung ist der Anspruch auf Trennung von Politik und Verwaltung, die einen von laufenden politischen Veränderungen unabhängigen Bestand und eine verfassungs- und gesetzmäßige Aufgabenerfüllung gewährleisten soll. Angesichts der vielfältigen Beziehungen und Überlappungen zwischen Politik und Verwaltung ist die Institution aber auf ein Management der Schnittstellen und Berührungspunkte angewiesen. Dies soll traditionell durch Rechtsnormen gewährleistet werden. Institutionen brauchen darüber hinaus Akzeptanz, Loyalität und geteilte Überzeugungen, um auf Dauer bestehen zu können. Beispiele hierfür sind die kulturprägende Tradition der österreichischen Verwaltung oder die (letztlich auch emotionale und ideologische) Betonung des Rechtsdenkens. Gerade diese Faktoren können aber auch hohen Anpassungsdruck erzeugen und opportunistisches Verhalten begünstigen. 9.2.2 Legalitätsprinzip und Weisungsgebundenheit Die Schnittstellen zwischen Politik und Verwaltung werden in Österreich vor allem in der Bundesverfassung geregelt. Das heißt, Organisation und Struktur der Verwaltung sowie einzelne Handlungsformen sind detailliert festgelegt und verfassungsrechtlich abgesichert. Dazu kommt die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und weiteren Selbstverwaltungskörpern. Reformvorhaben können so rasch zur Verfassungsfrage werden, was im internationalen Vergleich eher ungewöhnlich ist (siehe auch 3.9). Zentral sind vier Bestimmungen  : Art.  18 B-VG legt fest, dass die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden kann (Legalitätsprinzip). Diese Bestimmung wird als Anker- und Angelpunkt des demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzips der Bundesverfassung gesehen und schränkt die Setzung rechtlicher Normen allein durch die Bundesregierung oder nur die Verwaltung massiv ein (siehe 3.5). Art. 19 B-VG bestimmt die Bundespräsidentin/den Bundespräsidenten, die BundesministerInnen (nicht die Bundesregierung  – siehe dazu 8.2.2) und die Mitglieder der Landesregierungen als oberste Organe der Vollziehung. Unter ihrer Leitung führen nach Art.  20 B-VG »ernannte berufsmäßige« oder »ver-

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

traglich bestellte« Organe die Verwaltung. Damit werden die Weisungsgebundenheit und die hierarchische Gliederung der Verwaltung geregelt. Zugleich wird festgehalten, dass Weisungen abgelehnt werden können, wenn sie vom unzuständigen Organ erteilt werden oder die Befolgung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde.14 Auf diese Weise wird in der Verfassung ein Recht verankert, das entscheidend für die Frage politischer Einflussnahme und die Stabilisierung der Verwaltung (im positiven Sinn) ist (siehe noch 9.3.1). Des Weiteren regelt Art. 20 B-VG, wann unabhängige, also weisungsfreie Behörden eingerichtet werden können (siehe 9.2.5.2). Hierauf folgte seit 1925 die Amtsverschwiegenheit. Wenn international der Zugang zu Verwaltungsinformationen geregelt ist, dann im Sinne eines Regel-Ausnahme-Prinzips (Regel = Transparenz, Ausnahme = Verschwiegenheit für schützenswerte Informationen). In Österreich begann demgegenüber die Regelung mit der Verpflichtung zur Verschwiegenheit, und die Gründe, wann diese einzuhalten ist, treten dahinter zurück.15 Diese Bestimmung entfaltete eine immense Prägekraft für die Beziehungen zwischen Verwaltung und Öffentlichkeit sowie zwischen Regierung und Parlamenten. Daran vermochte auch die Betonung der Auskunftspflicht durch die Gerichte nichts zu ändern. 9.2.3 Management und Wirkungsorientierung Die Bundesverfassung stellt – ganz in der österreichischen und deutschen Tradition – auf Verwaltungssteuerung durch Recht ab. Dies eröffnet relativ präzise und vor allem genau kontrollierbare Handlungsvorgaben, wie sie etwa für den Bereich der Sicherheitsverwaltung (Polizei) von zentraler Bedeutung sind. Wenn Verwaltungsaufgaben zunehmen, erhöht sich aber ebenso der Regelungsbedarf. Dies schränkt pragmatisch-flexible Handlungen ein und erhöht den Aufwand von Anpassungen, die letztlich wieder in ähnlich detaillierter Form erfolgen. Mit dem Ausbau des Sozial- und Verwaltungsstaats seit den 1920er Jahren und dann mit den Bestrebungen zu seiner Begrenzung ab den 1980er Jahren haben die Diskussionen darüber, ob die neuen Aufgaben noch effektiv durch Recht gesteuert werden können, zugenommen. International wurden industrielle und betriebswirtschaftliche Steuerungsmodelle übernommen und z. B. KundIn14 In der Rechtswissenschaft wird davon ausgegangen, dass »können« hier als »müssen« verstanden werden muss. Siehe dazu Mayer, Heinz, et al. 11(2015), Bundesverfassungsrecht, Wien, S. 617. 15 Vgl. dazu Wiederin, Ewald (2018), Was hätte die Informationsfreiheit gebracht  ?, in  : Scrinium, Band 72, S. 9–19.

263

264

| 

Christoph Konrath

nenorientierung als Leitbild eingeführt. In ihrer Ausrichtung als (New) Public Management wurden sie (relativ spät) ab Mitte der 1980er Jahre auch in Österreich eingeführt.16 Der entscheidende Schritt in Österreich war jedoch die völlige Neuregelung des Budgetrechts, die ab Ende der 1990er Jahre begonnen und in zwei Schritten 2007 und 2013 umgesetzt wurde. Damit wurde die auf das 18. Jahrhundert zurückgehende Kameralistik als spezifisches staatliches System der Budgetierung und Buchführung auf ein wirkungsorientiertes Haushaltsrecht und eine betriebswirtschaftliche doppische Buchhaltung umgestellt.17 Das bedeutet, vereinfacht gesprochen, dass nicht mehr bloß Geldmittel zugeteilt werden, sondern dass definiert wird, welche Ziele und Wirkungen mit dem eingesetzten Geld erreicht werden sollen und dass jederzeit genau ermittelt werden kann, wie es um die Finanzlage des Staates steht. Mit der Wirkungsorientierung wurde ein betriebswirtschaftliches Steuerungsmodell neben der (weiterhin bestehenden) rechtlichen Steuerung der Verwaltung verbindlich eingeführt. Beide verfolgen unterschiedliche Ansätze  : Bei Ersterem geht es um optimalen Mitteleinsatz und Zielerreichung, bei Zweiterem besteht ein verbindlicher gesetzlicher Auftrag, dass etwas »genau so zu erfolgen hat«. Dahinter steht nicht nur ein unterschiedliches Verständnis von Aufgabenerfüllung. Wenn der Nationalrat nur mehr Globalbudgets (siehe 8.4.5) beschließt und Ziele vorgibt, dann gibt er auch maßgebliche Entscheidungskompetenzen und Verantwortung an die BundesministerInnen als sogenannte haushaltsleitende Organe und die Verwaltungsorganisation selbst ab. Dies klingt sehr technisch (und die Reformdiskussion wurde primär als technische Angelegenheit gesehen und kaum politisch debattiert18), aber es betrifft zentrale politische Fragestellungen. Nach ihrer ursprünglichen Intention sollten die Budgetregeln (und damit die BudgetexpertInnen) die Handlungsperspektiven politischer EntscheidungsträgerInnen mitbestimmen, indem sie eine mittel- bis langfristige Orientierung einforderten. Zugleich sollten diese Regeln Transparenz gewährleisten und so der (nun gestärkten) Verwaltung demokratische Legitimation vermitteln.19 In der Praxis zeigt sich jedoch, dass zentrale Instrumente wie die Planung von Regelungsvorhaben und die Abschätzung von Wirkungen 16 Vgl. Biegelbauer et al. (2014), S. 356 ff. 17 Vgl. Lödl, Manfred Claus (2008), Die Reform des Bundeshaushaltsrechts, in  : Journal für Rechtspolitik 16, S. 101–113. 18 Siehe dazu Steger, Gerhard (2010), Austria’s Budget Reform  : How to Create Consensus for a Decisive Change of Fiscal Rules, in  : OECD Journal on Budgeting 2010 (1), S. 7–21. 19 Diese Sicht legt Steger (2010), S. 20 ausführlich dar.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

vor allem zu nicht-monetären Aspekten (z. B. Umwelt, Soziales, Geschlecht) oder die regelmäßige Berichtslegung an Parlament und Öffentlichkeit nur oberflächlich eingesetzt werden. Mittelfristige Planung (durch die auf vier Jahre angelegten Finanzrahmengesetze) und parlamentarische Rückkopplung bei Budgetüberschreitungen wurden entweder auf Formalbeschlüsse reduziert oder gelangen gar nicht zur Anwendung.20 9.2.4 Governance und Verantwortung Die Übernahme betriebswirtschaftlicher Instrumente und unternehmerischen Denkens in der Verwaltung wird in dieser selbst, in Öffentlichkeit und Wissenschaft begrüßt, soweit sie Prozesse betreffen, die von vergleichbarer Art sind. Allerdings wurde von Beginn an in Frage gestellt, ob Managementansätze als zentrales Leitbild der Verwaltung taugen können. Diese hat ja gesetzliche Aufgaben im öffentlichen Interesse zu erledigen, hinter das bloß effizienzbezogene Aspekte zurücktreten müssen. Vor diesem Hintergrund hat ab Mitte der 1990er Jahre (in Österreich wiederum mit Verzögerung nach 2000) eine Veränderung hin zu (Public) Governance eingesetzt. Diese wird international und – dies ist ein Unterschied zum Public Management – auch sehr stark aus den Verwaltungen selbst entwickelt und propagiert.21 Governance ist sowohl eine Form der Beschreibung von Prozessen als auch ein normatives Reformprogramm.22 Sie geht von der Dynamik im Verhältnis von staatlichen und überstaatlichen Institutionen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen AkteurInnen aus und setzt auf eine Vielfalt an Steuerungsinstrumenten. Neben Recht und Betriebswirtschaft setzen diese stark auf individuelle Vereinbarungen, Förderungsprogramme, Anreize oder Design-Thinking. Entscheidend ist, dass nicht mehr ein zentral steuernder Staat im Zentrum steht. Damit soll das Wissens- und Expertiseproblem, das typisch für den modernen 20 Diese Entwicklungen werden ausführlich in den bisherigen Evaluierungen des neuen Haushaltsrechts besprochen  : Bundesministerium für Finanzen (2018), Externe Evaluierung Bundeshaushaltsrecht, [https://www.bmf.gv.at/budget/haushaltsrechtsreform/externe-evaluierung-bundeshaushaltsrecht.html], abgerufen am 29.04.2019. Siehe auch Österreichischer Budgetdienst (2015), Bericht des Budgetdienstes zur Evaluierung der Haushaltsrechtsreform 2015, abrufbar unter [https://www.parlament.gv.at/ZUSD/BUDGET/2015/BD_-_Evaluierung_der_Haushaltsrechtsre form.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. 21 Vgl. in diesem Sinne für Österreich Bauer, Helfried/Dearing, Elisabeth (2013), Bürgernaher aktiver Staat  : Public Management und Governance, Wien. 22 Vgl. dazu und zum Folgenden Eberhard, Harald, et al. (2006), Governance. Zur theoretischen und praktischen Verortung des Konzepts in Österreich, in  : Journal für Rechtspolitik 2006 (1), S. 35–60.

265

266

| 

Christoph Konrath

Leistungs- und Verwaltungsstaat ist (siehe 7.7), besser bewältigbar werden. Um weiterhin erfolgreiche und tragfähige Lösungen zu erreichen, sollen Wissen, Interessen und Erwartungen unterschiedlichster Akteure und Betroffener bewertet und in Beziehung gebracht werden. Die »Input-Legitimierung« (Wer ist dazu befugt, was und auf welcher Grundlage zu entscheiden  ?) tritt gegenüber der »Output-Legitimierung«, also der Erreichung eines Ziels, in den Hintergrund. So werden der Verwaltung letztlich politische Wertungs- und Entscheidungsfragen übertragen. Zugleich wird mit ihr der Anspruch (oder der Wunsch) verbunden, möglichst objektiv (also weder parteiisch noch durch parteipolitische Auseinandersetzungen geprägt) zu entscheiden. 9.2.5 Zuständigkeit, Organisation und Funktion Für Österreich ist empirisch fraglich, in welchem Umfang Governance-Ansätze Programm bleiben oder umgesetzt werden. Klar ist aber, dass die Betonung von Netzwerkdenken, partnerschaftlichem Verhandeln oder Partizipation bislang keinen Niederschlag in den rechtlichen Grundlagen der Verwaltung gefunden haben. Die Verwaltung bleibt hierarchisch und weisungsgebunden (und damit nur sehr bedingt Verhandlungsprozessen verpflichtet) und trifft letztlich mit Zwang durchsetzbare Entscheidungen. Aus rechtlicher Perspektive sind die zentralen Fragen nämlich nicht, wie Ziele erreicht werden, sondern wer auf Grundlage welcher Bestimmungen was entscheiden oder wie handeln kann. Es geht also um die Zuständigkeit für bestimmte Handlungen etc. und die Zurechenbarkeit von Verantwortung. Beide müssen (und dies macht die Integration von Management- und Governancekonzepten schwierig für das Recht) klar feststellbar sein. Vor diesem Hintergrund sind die konkrete Organisation und die Zuordnung von Funktionen in der Verwaltung entscheidende Aufgaben. 9.2.5.1 Bundesverwaltung, Landesverwaltung, Selbstverwaltung

In einem Bundesstaat wie Österreich ist Verwaltung ein sehr komplexes Gefüge aus Bundesverwaltung, Landesverwaltung und Selbstverwaltungskörpern.23 Organe der Bundesverwaltung sind der/die BundespräsidentIn (siehe Kasten im Kapitel 8.3.3), die Bundesregierung und die BundesministerInnen (siehe 8.2.2). 23 Siehe für einen (etwas älteren) Überblick Holzinger, Gerhart, et al. (Hg.) 3(2013), Österreichische Verwaltungslehre, Wien, sowie im Detail Raschauer, Bernhard 5(2016), Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

Letztere stehen den Bundesministerien vor, zu denen in vielen Fällen weitere nachgeordnete Bundesorgane wie etwa das Finanzamt oder Polizeibehörden kommen. Die Landesverwaltung steht unter der Leitung der Landesregierung. Anders als im Bund, wo unterschiedliche Bundesministerien bestehen, gibt es in den Ländern jeweils eine gemeinsame Dienststelle, das Amt der Landesregierung. Ihr sind die Bezirksverwaltungsbehörden, dies sind die Magistrate der Statutarstädte und die Bezirkshauptmannschaften, untergeordnet. Die dritte Ebene bildet die Selbstverwaltung, in der ein bestimmter Personenkreis seine eigenen Angelegenheiten regeln und verwalten soll (»eigener Wirkungsbereich«) und weitere Aufgaben für Bund oder Land übernimmt (»übertragener Wirkungsbereich«). Jede Gemeinde, aber auch die Kammern (siehe 10) bilden einen solchen Selbstverwaltungskörper. Die Bundesverwaltung ist für die Vollziehung der Bundesgesetze zuständig. Sie erfolgt in unmittelbarer Form durch Behörden des Bundes und (für einen großen Teil der Aufgaben) in mittelbarer Form durch Landesbehörden und Selbstverwaltungskörper. Anders als noch in der Monarchie sollen so Doppelgleisigkeiten vermieden werden. Das heißt, dass z. B. eine Bezirksverwaltungsbehörde in vielen Angelegenheiten, in denen der Bund für die Vollziehung eines Gesetzes zuständig ist, funktionell als Bundesbehörde tätig wird. Dieser Form der Verwaltungsorganisation kommt in Österreich große politische Bedeutung zu  : Österreich ist zwar ein Bundesstaat, es weist jedoch einen hohen Grad an Zentralisierung auf. Ein Großteil der Zuständigkeiten für Gesetzgebung und Vollziehung liegen beim Bund. Durch die mittelbare Bundesverwaltung kommt es jedoch auch innerhalb der Bundesangelegenheiten zu einer Form von Aufgaben- und Gewaltenteilung, die rechtlichen und politischen Abstimmungsbedarf schafft und Einfluss (ebenso wie Verantwortungsdelegation) ermöglicht. Dies trifft besonders auf die Landeshauptleute (nicht die Landesregierungen) zu, da sie und die ihnen unterstellten Behörden im Land die mittelbare Bundesverwaltung ausüben. Daraus erwächst ihre rechtliche Vorrangstellung im Land, die zusammen mit ihren parteipolitischen Funktionen erst ihre spezifischen Machtund Einflusspositionen sichert.24 Das heißt aber auch, dass bei Diskussionen über die politische Verantwortung für eine Verwaltungsentscheidung immer gefragt werden muss, ob Bund, Länder oder Gemeinden und in welcher Form (unmittelbar/mittelbar) zuständig sind. 24 Vgl. Konrath, Christoph (2005), Dann bleibt es eben so  : Föderalismus und Kompetenzverteilung als Themen des Österreich-Konvents, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 34 (4), S. 351–366.

267

268

| 

Christoph Konrath

9.2.5.2 Unabhängige Behörden und Ausgliederungen

Unter bestimmten Voraussetzungen sieht die Bundesverfassung die Einrichtung weisungsfreier Verwaltungsorgane vor. Dabei handelt es sich in der Regel um Aufsichts- und Regulierungsbehörden wie z. B. die Bundeswettbewerbsbehörde, aber auch um Ombudsstellen wie die Gleichbehandlungsanwaltschaft. Ihre Einrichtung erfolgte nicht zuletzt aufgrund europarechtlicher Vorgaben. Angesichts ihrer Bedeutung für freie und faire Wirtschaftsbedingungen oder für die umfassende Beratung Betroffener sollen diese (in mancher Hinsicht Gerichten vergleichbar) unabhängig und unbeeinflusst entscheiden können. Mit der Einrichtung solcher Verwaltungsorgane werden bestimmte Bereiche staatlichen Handelns der unmittelbaren politischen Einflussnahme entzogen. Die Weisungsfreiheit im fachlichen Verantwortungsbereich kann allerdings nicht mit institutioneller Unabhängigkeit gleichgesetzt werden. Insbesondere in den Bereichen Personal, Infrastruktur und Budget bleiben solche Organe abhängig von der sonstigen Bundes- bzw. Landesverwaltung. Von weisungsfreien Verwaltungsorganen sind ausgegliederte Rechtsträger zu unterscheiden. Damit sind selbständige, privatrechtlich, z. B. als Aktiengesellschaft oder GmbH organisierte Rechtsträger außerhalb der staatlichen Verwaltung gemeint. Dabei kann es sich, wie z. B. bei der Finanzmarktaufsicht, den Bundesbahnen oder den Bundestheatern, um Aufgaben handeln, für die zuvor die staatliche Verwaltung zuständig war. Solche Einrichtungen stehen ganz oder teilweise im öffentlichen Eigentum. Die Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten des Staates werden aber durch den jeweiligen Gesellschaftsvertrag begrenzt. Solchen Einrichtungen können (wie auch sonstigen privaten Rechtsträgern) hoheitliche Aufgaben durch Gesetze übertragen werden (»Beleihung«). Auch Ausgliederungen werden vorgenommen, um bestimmte Aufgaben außerhalb der Verwaltungsorganisation und der Vorgaben des Dienst- und Besoldungsrechts (siehe 9.3.2) flexibler organisieren zu können. In beiden Fällen kommt es zu einem Verlust an unmittelbaren Steuerungsmöglichkeiten durch politische AmtsträgerInnen. Österreich zählt zu jenen europäischen Staaten, in denen dieser Steuerungsverlust in besonders hohem Maß durch alternative Wege der Einflussnahme ausgeglichen werden soll. So zeigen empirische Untersuchungen, dass der Anteil an dort tätigem Führungspersonal, das einer Regierungspartei nahesteht, umso höher ist, je formal unabhängiger eine Stelle eingerichtet ist.25 25 Siehe dazu Ennser-Jedenastik, Laurenz (2013), Die parteipolitische Besetzung von Spitzenfunktionen in österreichischen Staatsunternehmen  : eine quantitative Analyse, in  : Österreichische

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

9.3 Verwaltung im politischen System 9.3.1 Ambivalente Verhältnisse Die Ambivalenzen, die bei Handlungs- und Organisationsgrundlagen deutlich werden, setzen sich fort, wenn wir versuchen, Verwaltung in ihren Beziehungen zu den verschiedenen Institutionen des politischen Systems darzustellen. Dabei geht es um gesetzliche Vorgaben, politische Ziele, Wissen übereinander und Eigeninteressen der verschiedenen Institutionen. Sie stellen jenes Ziel in Frage, das die rechtsstaatliche Bindung und die Professionalisierung der Verwaltung eigentlich hätten erreichen sollen  : Nämlich, dass wir uns nicht mehr auf konkrete Personen und deren individuelle Kompetenzen und Tugenden verlassen müssen, sondern dass wir Institutionen vertrauen können. 9.3.1.1 Handeln für und auch anstelle von Politik

In der Darstellung der Leitbilder und Handlungsgrundlagen wurden zwei Pole deutlich  : Einerseits die durch Rechtsnormen klar begrenzte und damit auch demokratisch verantwortliche Verwaltung, andererseits die Sicht auf Verwaltung als Werkzeug der Politik, das beherrscht werden muss. Beide Pole (und alles dazwischen) betreffen Fragen von Vertrauen, Motivation und Verantwortung. Dazu kommen jedoch weitere Herausforderungen, die vor allem darin bestehen, dass weder die politischen EntscheidungsträgerInnen und Kontrollorgane noch die Verwaltung selbst alle Verwaltungsaufgaben und die damit verbundenen fachlichen und rechtlichen Fragen überblicken können. Unter diesen Bedingungen kann Verwaltung in Teilbereichen anstelle von Politik tätig werden, etwa wenn Letztere untätig bleibt oder Entscheidungsgewalt abgibt. Dies spiegelt sich in vielen Leitbildern von Behörden wider, die sich als selbstbewusste Verwaltung gegenüber Politik und Öffentlichkeit verstehen wollen  : Sie bewältigt gleichsam neben und für politische Organe Aufgaben und wird im Sinne des Staatsganzen tätig. Dies kann so weit gehen, dass sie auch zur Alternative von (mit anderen Themen beschäftigter oder gar dysfunktional gewordener) politischer Entscheidungsfindung wird. Am deutlichsten wurde dies im Rahmen der Haushaltsrechtsreform (siehe 9.2.3), die vom Bild der Verwaltung, die die Politik zu verantwortungsvollem Handeln drängt, geprägt wurde.

Zeitschrift für Politikwissenschaft 42 (2), S.  125–143  ; Ennser-Jedenastik, Laurenz (2016), The Politicization of Regulatory Agencies  : Between Partisan Influence and Formal Independence, in  : Journal of Public Administration Research and Theory 26 (3), 507–518.

269

270

| 

Christoph Konrath

In dieser Sichtweise sollten Rahmenbedingungen, die die Bevölkerung als fair und erfolgreich verstehen kann, letztlich demokratische Legitimation sichern.26 9.3.1.2 Rückzug auf bürokratische Strukturen

Verwaltung kann auf solche Herausforderungen jedoch auch antworten, indem sie ihre bürokratischen Strukturen ausbaut. Das heißt, sie betont ihre regelgebundenen und hierarchischen Elemente und verstärkt diese, indem sie zusätzliche (interne) Regeln und Abläufe schafft. Damit entlastet sie ihre Mitglieder von Entscheidungsdruck und baut gleichzeitig Druck auf, eigenständiges und verantwortliches Handeln zu unterlassen. In diesem Sinne wird »Dienst nach Vorschrift« zur Drohformel nach außen. 9.3.1.3 Verantwortung und Kompetenz

In einer parlamentarischen Demokratie sollte Verwaltung ihren Ort zwischen diesen Polen finden. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel formuliert dafür ein Leitbild von Verwaltung, deren Angehörige sich bewusst sind, dass sie über Macht und Ressourcen lediglich im Namen Dritter verfügen. Sie müssen sich nicht nur gegenüber ihren Vorgesetzten, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit verantworten können. Um dies zu erreichen, muss sie gut organisiert sowie in der Lage sein, ihren Standort im rechtlichen und politischen System reflektiert bestimmen zu können.27 Für Menschen, die in der Verwaltung tätig sind (oder sein wollen), heißt dies, dass an sie der Anspruch gestellt wird, nicht als Individuen in Erscheinung zu treten, sondern durch und durch für die Institution zu handeln. Dies ist gerade deshalb von Bedeutung, weil sie nicht »bloß ihre Aufgaben erledigen«, sondern immer auch Herrschaft ausüben. Damit stellen sich die Fragen, wie sie das tun, was von ihnen erwartet wird und was sie brauchen, um gerade in schwierigen Situationen rechtstreu, aber auch pragmatisch handeln zu können. Es geht darum, 26 Siehe dazu vor allem die Beiträge von Gerhard Steger, allen voran Steger, Gerhard (2010), Austria’s Budget Reform  : How to Create Consensus for a Decisive Change of Fiscal Rules, in  : OECD Journal on Budgeting 2010 (1), 7–21. Steger war als Sektionschef im Finanzministerium für die Konzeption und Umsetzung der Reform zuständig. Seit dem Inkrafttreten der Reform wurden allerdings zahlreiche Elemente zurückgenommen, weil sie von Bundesregierung und Nationalrat als einschränkend erfahren wurden. So wurden die Anforderungen an Folgenabschätzungen reduziert (BGBl. I 144/2015) und die Beschlussfassung über den mehrjährigen Finanzrahmen (der eigentlich die Vorgaben für den jährlichen Budgetbeschluss setzen sollte) mit jenem über das Budget zusammengelegt (BGBl. I 50/2018). 27 Vgl. Seibel (2017), S. 20 f. Siehe spezifisch zu Österreich Raoul Kneucker (2019), Bürokratische Demokratie, demokratische Bürokratie.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

wer in der Verwaltung überhaupt tätig werden kann, wem man (und warum) vertrauen kann und wer im demokratischen Interesse tätig werden soll. 9.3.2 Menschen in der Verwaltung Österreich ist, in der für Europa typischen Weise, durch eine professionelle Ausbildung und auf Dauer ausgerichtete Dienstverhältnisse in der Verwaltung geprägt. Durch einen hohen Grad der Absicherung können sie (jedenfalls in unteren Hierarchieebenen) die Voraussetzung schaffen, um das von Seibel vorgeschlagene Verständnis zu fördern. Da Bund, Länder und Gemeinden zu den größten und wichtigsten Arbeitgebern Österreichs zählen und knapp 16 % der Erwerbsbevölkerung beschäftigen,28 könnten sie auch ein Potential dafür bilden, um Wissen und Bewusstsein für den demokratischen Staat in der Bevölkerung zu verankern. 9.3.2.1 Der öffentliche Dienst

In Österreich werden Verwaltungsstellen grundsätzlich öffentlich ausgeschrieben.29 Das Dienstverhältnis beginnt mit Ernennung durch einen Hoheitsakt (öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis  ; BeamtInnen) oder durch Vertrag (privatrechtlich  ; Vertragsbedienstete). Die Pflichten der BeamtInnen sind grundsätzlich auf Lebenszeit bestimmt, bei Vertragsbediensteten enden sie mit der Pensionierung. Beide Arten sind durch ein detailliertes Dienstrecht geregelt, das bei BeamtInnen Unkündbarkeit garantiert und bei beiden ein grundsätzlich hohes Maß an Schutz (z. B. vor Versetzung, Beendigung usw.) bietet. Daraus folgt jedoch, dass Organisationsänderungen in der Verwaltung einen viel höheren Aufwand als in Privatunternehmen bedeuten, da zwar umstrukturiert, aber nicht entlassen werden kann. 9.3.2.2 Universale Einsetzbarkeit und Spezialisierung

Mit der (historischen) Betonung des Verwaltungsrechts war in Österreich seit dem 19.  Jahrhundert eine zweite wesentliche Prägung des Verwaltungspersonals verbunden, die bis heute nachwirkt  : Das Bild des universal einsetzbaren Beamten, der entweder als Jurist in der Lage ist, jedes Gesetz zu beherrschen, 28 Siehe zu Struktur und Umfang der Verwaltung in Österreich  : BMÖDS (2018), Die Verwaltung des Bundes. Daten und Fakten, Wien. Vgl. dazu die kritische Evaluierung in Kneucker (2019), S. 68 ff. 29 Wobei es üblich geworden ist, Stellen zunächst verwaltungsintern bekannt zu machen, um individuelle Veränderungsmöglichkeiten zu schaffen und interne Mobilität zu fördern.

271

272

| 

Christoph Konrath

oder sich in anderen Tätigkeiten schnell und an jedem Ort aufgrund der immer gleichen Kanzleiordnung etc. einarbeiten kann. Die Vorstellung universaler Einsetzbarkeit trifft heute jedoch nur mehr auf wenige Bereiche zu, etwa in Teilen des polizeilichen oder militärischen Dienstes. Im Allgemeinen ist ein hohes Maß an Fach- und Spezialwissen gefordert, das vielfach auch nur im Laufe der konkreten Tätigkeit (z. B. in der Finanz-, oder Gesundheitsverwaltung, der Wasserversorgung oder der Vorbereitung von Gesetzen) erworben werden kann und über das in Folge oft nur wenige Personen innerhalb eines konkreten Organisationsbereichs verfügen. Was aber ebenfalls seit der Monarchie geblieben ist, ist der Anspruch auf eine einheitliche Sozialisation innerhalb der Verwaltung. Diese besteht aus einem formalisierten Kurs- und Ausbildungsprogramm und der impliziten Übernahme eines gemeinsamen Staatsverständnisses, nach dem der Verwaltung eine führende Rolle (auch gegenüber politischen Institutionen) zukommt.30 9.3.2.3 Größe und Umfang des öffentlichen Sektors

Beides, die Vorgaben des Dienstrechts und die Frage nach Wissen und Kompetenzen, bildet den Kontext für die in Österreich seit langem geführte Auseinandersetzung über die Größe und den Umfang des öffentlichen Sektors (siehe noch 9.4.1). Dabei steht jedoch nicht – wie oben angedeutet – der Gedanke im Mittelpunkt, dass die Verwaltung das Rückgrat des demokratischen Rechtsstaats bilde. In öffentlichen Auseinandersetzungen wird sie viel eher als Belastung dargestellt. Dabei zeigt sich aber eine paradoxe Situation, die »Beschränken« und »Aufgaben erfüllen« unter einen Hut bringen muss. Das Schlüsseldokument für diese Debatten ist nämlich der Personalplan, der jeweils Bestandteil des Budgets (siehe 8.4.5) und damit als Bundesgesetz in Geltung ist. Hier wird  – gegliedert nach Verwendungsgruppen (z. B. Hilfskräfte, ReferentInnen mit akad. Ausbildung, Leitungsfunktionen) – festgelegt, wieviele Stellen höchstens besetzt werden können. Dieser Personalplan korreliert aber nicht notwendigerweise mit den Aufgaben, die von der Verwaltung erfüllt werden müssen. Das heißt, es kann einen Mehrbedarf an Personal geben, der dort, wo dies gesetzlich möglich ist (also etwa keine besonderen Ernennungsvoraussetzungen bestehen), z. B. über Arbeitsleihverträge gedeckt wird. Dies wird im Budget aber nicht als Personal-, sondern als Sachaufwand verbucht.31 30 Vgl. Biegelbauer, et al. (2014), S. 351. 31 Siehe dazu etwa Österreichischer Rechnungshof (2017)  : Bericht des Rechnungshofes 2017/5  :

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

9.3.3 Leitungsfunktionen in und zwischen Verwaltung und Politik 9.3.3.1 Professionalität und Verwaltungskarrieren

Das geschulte Fachbeamtentum und die durch das Dienstrecht gewährleistete Trennung von Politik und Verwaltung wurde im späten 19.  Jahrhundert zum Leitbild der professionalisierten Verwaltung eines modernen Staats.32 Von Anfang an war man sich aber im Klaren darüber, dass weder der Einstieg in den Verwaltungsdienst noch das Erreichen von Leitungsfunktionen frei von politischer Einflussnahme gewesen wären. Es federte diese aber dadurch ab, dass der Karriereverlauf langfristig angelegt war und die Sozialisierung innerhalb der Verwaltung und damit ein Mindestmaß an Fachkenntnissen und Wissen über die Funktionsweisen vorausgesetzt wurden. 9.3.3.2 Management und Politik

Aus der Anforderung nach großem Fachwissen ergibt sich in vielen Bereichen ein faktisch starkes Hemmnis für ausschließlich »politische« Besetzungen. Anders sieht dies im Bereich von Leitungsfunktionen aus. Hier kann man unter Bezugnahme auf Public Management den Fokus auf (eine meist sehr allgemeine Vorstellung von) »Management« legen und diesen Vorrang gegenüber Fachexpertise und Verwaltungserfahrung geben. Dann kann die Rekrutierung von außerhalb der Verwaltung als Impuls für Erneuerung, Reorganisation usw. verstanden werden. Ein solcher Zugang wird in den Verwaltungswissenschaften nicht grundsätzlich in Frage gestellt. In Österreich hat er jedoch seit ca. Mitte der 1990er Jahre das Verwaltungsgefüge stark verändert. Seit damals wird die Leitung von Sektionen, das sind die größten Organisationseinheiten in Bundesministerien, nicht mehr unbefristet, sondern nur mehr auf fünf Jahre besetzt. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld zwischen institutionellen (gesetzlicher Auftrag und institutionelle Verantwortung) und politischen Handlungsorientierungen (Erwartungen der politischen Führung und persönliches Fortkommen mit Blick auf eine Weiterbestellung). Die Handlungsperspektiven, die in der Verwaltung langfristig ausgelegt waren (was ein wesentliches Element der Unterscheidung von Politik war), werden so tendenziell kürzer. Vor allem aber wurde es auf diese Weise möglich, Leitungsfunktionen zunehmend mit Personen zu besetzen, die Personalbewirtschaftung des Bundes mit dem Schwerpunkt Personalplan, [https://www.parla ment.gv.at/PAKT/VHG/XXV/III/III_00339/imfname_614148.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. 32 Vgl. Seibel (2017), S. 45 ff.

273

274

| 

Christoph Konrath

von außerhalb der Linienorganisation und zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus Ministerbüros (dazu sogleich 3.3.3) kommen. Damit wird das Moment der Politisierung der Verwaltung noch zusätzlich verstärkt.33 Diese Form der Personalpolitik setzt sich seit längerem auch auf unteren Leitungsebenen (die unbefristet besetzt werden) fort.34 Damit reduzieren sich interne Aufstiegsmöglichkeiten für sonstige Bedienstete zunehmend. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil im Dienst- und Besoldungsrecht nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten für Anreiz- und Motivationsinstrumente bestehen, wie sie aus privaten Unternehmen bekannt sind. Eine höhere »Bewertung«, wie es intern genannt wird, ist in der Regel an Leitungsfunktionen gebunden. Für eine höhere Bezahlung aufgrund der Fachkompetenz und Leistung besteht ansonsten nur wenig Spielraum. 9.3.3.3. Ministerbüros

Die Bundesverfassung und viele weitere Gesetze regeln Aufgaben, Verfahren und Personal der Verwaltung sehr detailliert. Demgegenüber bleiben die Berührungspunkte und Schnittstellen von politischer Führungsebene und Verwaltungsorganisation weitgehend ungeregelt. Vielmehr scheint die Bundesverfassung vorauszusetzen, dass ein/e BundesministerIn Leitungs- und Führungsaufgaben und insbesondere die Weisungsbefugnis (siehe 9.2.2) vollumfänglich und in enger Abstimmung mit den Verwaltungsbediensteten ausübt. Demgegenüber hat sich (vor allem seit den 1980er Jahren) der Schwerpunkt ministerieller Tätigkeit zunehmend auf die (partei-)politische Agenda im engeren Sinn verlagert und von der Verwaltungsführung distanziert. In diesen »Zwischenbereich« sind seither die Ministerbüros oder »Kabinette« eingetreten.35 Die Position der Ministerbüros und insbesondere der sogenannten »Kabinettschefs« ist rechtlich praktisch ungeregelt.36 Faktisch handelt es sich um die 33 Ausführlich dazu Gratz, Wolfgang (2011), Und sie bewegt sich doch. Entwicklungstendenzen in der Bundesverwaltung, Wien. 34 Die Karriereverläufe von MitarbeiterInnen der Ministerbüros sind häufig Gegenstand parlamentarischer Anfragen. Eine Zusammenfassung der Informationen daraus von 2008–2018 findet sich hier  : Addendum (2019), Politometer. Unsere Posten für unsere Leut, [https://www.addendum.org/ politometer/kategorie/verwaltung/unsere-posten-fuer-unsere-leut/], eingesehen am 06.10.2019. 35 Siehe zu Ministerbüros  : Österreichischer Rechnungshof (2007), Bericht des Rechnungshofes 2007/4, Band  2  : Teilgebiete der Gebarung des Bundes, [https://www.parlament.gv.at/PAKT/ VHG/XXIII/III/III_00049/imfname_076147.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Ausführlich setzen sich Gratz (2011) und Kneucker (2019) mit der Entwicklung von Ministerbüros auseinander. 36 Siehe dazu und zum Folgenden vor allem die Beiträge von Gratz (2011)  ; Gratz, Wolfgang (2017a), Symptomträger und Garanten des Bestehenden, Wiener Zeitung, Onlineausgabe 01.08.2017,

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

primären Ansprechpartner der BundesministerInnen, die zwischen Regierungsund Parteipolitik, Öffentlichkeit und schließlich auch der Verwaltung agieren. Somit kommt diesen eine zentrale Steuerungsfunktion zu, die sich empirisch jedoch nur schwer erschließen lässt. Aus rechtlicher Sicht wird die fehlende Weisungsbefugnis betont, die zu einer informellen Steuerung durch »Wünsche des Büros« führt. Aus organisatorischer Sicht wird seit längerem die mangelnde Kenntnis von Verwaltungsabläufen in den Ministerbüros, die damit verbundene Schaffung von Parallelstrukturen und Komplexität sowie die fehlenden Strategien der Verwaltungsführung betont. 9.3.3.4 Generalsekretariate

Als Lösung dieser Problematik wurde seit ca. 2000 über die Einführung von GeneralsekretärInnen oder »politischen SpitzenbeamtInnen« diskutiert, die gleichzeitig als Kabinettschefs agieren könnten. In einzelnen Ministerien gab es diese bereits, aber nur für Koordinationsaufgaben. In der 26. Gesetzgebungsperiode (2017–2019) wurde unter der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung für jedes Bundesministerium die neue Funktion einer Generalsekretärin/eines Generalsekretärs eingeführt und (im Unterschied zu Ministerbüros) als weisungsbefugte/r Vorgesetzte/r aller SektionsleiterInnen und Dienststellen eines Ressorts ausgestaltet. Die/Der GeneralsekretärIn wird ohne öffentliche Ausschreibung ernannt, was für die politische Rolle spricht. Bis 2020 hatte sie/er das Recht, in den Beamtenstand einzutreten, was sie unkündbar (und möglicherweise unabhängiger von Politik) machte. Die (fehlende) Organisation der Ministerbüros ist unberührt geblieben. Damit können zwei Leitungsgruppen unter der/dem BundesministerIn bestehen. Auch die regierungsinterne Koordination, die ebenfalls politisch über die Kabinette erfolgt, wurde durch eine Konferenz der GeneralsekretärInnen (ohne rechtliche Grundlage) ergänzt. Damit kann die Ministerialverwaltung insgesamt stärker in die Regierungskoordination einbezogen werden (was wiederum die Grenzen zwischen Politik und Verwaltung unklarer machen kann).37

[https://www.wienerzeitung.at/themen/stadt-und-land/908290-Symptomtraeger-und-Garan ten-des-Bestehenden.html], eingesehen am 06.10.2019   ; Gratz, Wolfgang (2017b), Türkis-­ blaue Generäle ohne Konzept, Der Standard, Onlineausgabe 27.12.2017, [https://derstandard. at/2000071095160/Tuerkis-blaue-Generaele-ohne-Konzept], eingesehen am 06.10.2019. 37 Die Generalsekretariate und ihre Arbeitsweise waren Gegenstand zahlreicher parlamentarischer Anfragen. Siehe z. B. die Anfragen 3255/J bis 3258/J sowie 3462/J bis 3475/J, XXVI. GP. Die gesetzliche Grundlage findet sich in den §§ 8 und 9 Bundesministeriengesetz (BGBl I 2017/164 und BGBl I 2020/8).

275

276

| 

Christoph Konrath

9.3.4 Regierung und Bürokratie 9.3.4.1 Aufgaben und Anerkennung

Nach dem System des B-VG steht die gesamte Bundes- und Landesverwaltung unter der Leitung der jeweils obersten Organe. Sie sind für die Erfüllung der (verfassungs-)gesetzlichen Aufgaben der Verwaltung zuständig und haben die interne Organisation zu leiten. In dieser Hinsicht sind sie eng mit dem Verwaltungsapparat verbunden und für diesen verantwortlich. Aus der internen Verwaltungsperspektive schließt das die Erwartung ein, dass sie mit den jeweiligen Behörden und Dienststellen zusammenarbeiten, und sich mit ihren Aufgaben identifizieren. Das wird nicht zuletzt als Form von Anerkennung, Wahrnehmung der Leistungen und Motivation erwartet. Die Amtsführung kann aus dieser Perspektive an Kriterien des Verfassungs- und Verwaltungsrechts gemessen werden (eine Sichtweise, die auch die Rechtswissenschaft in vieler Hinsicht teilt). 9.3.4.2 Gegenseitige Vorbehalte

Dem stehen jedoch Bürokratiekritik als zentrales Element politischer Rhetorik38 und von Regierungsprogrammen und der primäre Fokus von Regierungsmitgliedern auf die Umsetzung einzelner politischer Ziele sowie deren (partei-) politische Rolle und Kommunikation gegenüber.39 Das heißt, die Verwaltung (im Sinne von Gesetzen, Personen, Organisation), für die man selbst leitend verantwortlich und auf die man auch zur Umsetzung seiner politischen Ziele angewiesen ist, wird unter diesen Gesichtspunkten als Problem wahrgenommen. Sie sorgt für Belastungen von BürgerInnen und Unternehmen, sie hält Entwicklungen auf und scheint vorrangig mit sich selbst beschäftigt, sie muss reformiert werden usw. Dieses widersprüchliche Bild zeigt sich auch in der Verwaltung selbst. Führungskräfte sehen es dementsprechend als ihre Aufgabe an, das Personal vor politischer Einflussnahme und Einmischung »zu schützen«.40 Sie weisen auch darauf hin, dass viele Projekte dann gelingen, wenn sie weitgehend unterhalb der Wahrnehmungsschwelle politischer EntscheidungsträgerInnen abgewickelt werden können. Erst dies schaffe die Bedingungen für weitgehend »ungestörte« 38 Ein guter Überblick dazu findet sich bei Cancik, Pascale (2017), Zuviel Staat  ? – Die Institutionalisierung der »Bürokratie«-Kritik im 20. Jahrhundert, in  : Der Staat 56 (1), S. 1–38. 39 Dies bringen vor allem Beamte und Beamtinnen in qualitativen Befragungen zum Ausdruck. Siehe dazu die Interviews in Gratz (2011). 40 Siehe dazu wiederum Gratz (2011), S. 93 ff.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

Umsetzung und ermögliche Lernen und Innovation abseits kurzfristiger politischer Zyklen.41 9.3.4.3 Politik und Vertrauen

Diese Widersprüche werden vor allem in der zuvor (9.3.3.3. und 9.3.3.4) dargestellten Besetzung von Leitungsstellen und dem Ausbau der Ministerbüros und Generalsekretariate manifest. Mit ihnen wurde innerhalb der Verwaltungsorganisation eine Gruppe geschaffen, die primär auf persönlichen Vertrauensbeziehungen basiert und in der politische Programmatik zum entscheidenden Planungs- und Handlungskriterium wird. Damit kann faktisch eine Parallelorganisation innerhalb einer Verwaltungsorganisation entstehen, in der kaum oder gar keine direkte Kommunikation zwischen der politischen Spitze und den Verwaltungsbediensteten erfolgt. Ergänzend (und wenn man von fehlendem Vertrauen in die Verwaltung selbst ausgeht, auch konsequent) kommt dazu, dass Fach- und Organisationsexpertise von außerhalb der Verwaltung einen hohen Stellenwert erhält. Dies geschieht durch die Beauftragung von Beratungsunternehmen, GutachterInnen, Kommunikationsagenturen oder auch von Rechtsanwaltskanzleien, die Gesetzentwürfe erarbeiten.42 9.3.5 Parlament und politisches Handeln 9.3.5.1 Abgrenzung und Gewaltentrennung

Nach dem System des B-VG ist das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Vollziehung klar und (im Unterschied zur Regierung) auch sehr detailliert geregelt. Es bringt die Trennung von Politik und Verwaltung zum Ausdruck und sichert diese. Gesetzgebung meint dabei die gesamte Aufgaben- und Funktionserfüllung von Nationalrat und Bundesrat bzw. der Landtage, Vollziehung alles Handeln anderer staatlicher Organe auf Grundlage der Gesetze (einschließlich der Gerichte, siehe 3.7). Diese Abgrenzung gilt auch für das, was das B-VG als »Mitwirkung der Gesetzgebung an der Vollziehung« bezeichnet. Damit sind die parlamentarischen Kontrollrechte (siehe 8.4.4) und z. B. einzelne Zustimmungsrechte zu Verordnungen der Bundesregierung gemeint. Die unmittelbare Einflussnahme von Parlamenten auf die Verwaltungsorganisation und das Ver41 Vgl. Biegelbauer, Peter (2013), Wie lernt die Politik  ? Lernen aus Erfahrung in Politik und Verwaltung, Wiesbaden, S. 201 ff. 42 Diese Praktiken sind regelmäßig Gegenstand parlamentarischer Anfragen, z. B. Anfrage 3880/J, 23. GP, Anfrage 9143/J, 25. GP oder Anfrage 3403/J, 26. GP.

277

278

| 

Christoph Konrath

waltungshandeln durch formelle Weisungen oder auch nur informelle Wünsche ist in jedem Fall ausgeschlossen. 9.3.5.2 Der Gesetzgeber

In der institutionellen Wirklichkeit zeigt sich ein wesentlich komplexeres Bild, das aber wie schon das Verhältnis zwischen Regierung und Verwaltung nur punktuell fassbar wird. Wenn in der österreichischen Verwaltung auf Parlamente Bezug genommen wird, so geschieht dies vor allem im Verweis auf den (abstrakten) »Gesetzgeber«, dessen Wille auszuführen sei. Dies kann nach außen und innen im Sinne des demokratisch verantwortlichen Handelns (siehe 9.3.1.3) geschehen, das eine klare Trennung zu politischen Institutionen vornimmt. Gerade nach innen kann es deutlich machen, dass Verwaltung nie bloßes Werkzeug der politischen Ressortleitung sein kann. Ihre Handlungsgrundlagen sind das Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens, und daher ist der Wille des Gesetzgebers (siehe 7.6.4) und nicht eine politische Vorgabe Maßstab für die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben. Allerdings kann der Verweis auf den Gesetzgeber auch so gebraucht werden, dass er die Rolle der Verwaltung im Gesetzgebungsprozess und ihre (letztlich auch politischen) Schwerpunktsetzungen in der Auslegung und Anwendung von Gesetzen verschleiert. Dies betrifft die Frage nach dem Einfluss von ExpertInnen in der Verwaltung auf die Vorbereitung und Formulierung von Gesetzestexten (siehe 7.7.3 und 8.4.3.1). Zum anderen ist es Ausdruck der Tatsache, dass Auslegung und Anwendung in vielen Verwaltungsbereichen schon aus organisatorischen und auch aus fachlichen Gründen durch relativ wenige Personen geprägt werden. Dies kann dazu führen, dass entgegen des theoretischen Verständnisses von parlamentarischer Gesetzgebung (siehe 7.6.4) letztlich die konkreten AutorInnen gefragt werden können, wie etwas zu verstehen sei. Es zeigt sich auch nach außen in den Publikationen von Verwaltungsangehörigen (siehe 9.1.3), die das Verständnis bestimmter Gesetze und Abläufe prägen.43 9.3.5.3 Fehlendes Verständnis und Wissen

Für die Beschreibung des Verhältnisses von Parlament und Regierung ist die Frage von Wissen und Zugang zu Informationen aus dem Bereich der Verwal43 Am deutlichsten tritt dies im Bereich des Bundeshaushaltsrechts zutage, wo die Veröffentlichungen von (ehemaligen) Bediensteten des Bundesministeriums für Finanzen mit dem Anspruch präsentiert werden, nicht nur die komplexe Rechtslage darzustellen, sondern deren genaue Intention darzulegen. Siehe Lödl, Manfred, et al. 4(2019), Bundeshaushaltsrecht, Wien.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

tung zentral (siehe 8.4.4.4 und 8.4.4.6). Verwaltungsbedienstete können damit aufgrund ihrer Fachexpertise und ihrer organisatorischen Stellung in eine Position kommen, in der sie einerseits einen Wissens- und Handlungsvorsprung haben. Andererseits sind sie gefordert, die Entscheidung darüber, was davon an Parlamente mitgeteilt werden soll, vorzubereiten. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass der Großteil der ParlamentarierInnen die internen Abläufe und fachlichen Schwerpunkte in der Verwaltungsorganisation i.d.R. nicht kennen, können sie in der Verwaltung als uninformiert oder sogar inkompetent wahrgenommen werden. Parlamentarische Kontrolle (siehe 8.4.4), die sich mit Verwaltungshandeln im engeren Sinn (und nicht bloß der Regierungstätigkeit) befasst, erscheint unter diesem Gesichtspunkt als ineffizient und letztlich als Belastung der Organisation.44 Als Erklärungsansatz können dafür zumindest zwei Gründe ins Treffen geführt werden  : Der eine ist die mangelnde Transparenz von Verwaltungsabläufen und -informationen in Österreich. Der andere sind die fehlenden Möglichkeiten der (offiziellen) Begegnung zwischen ParlamentarierInnen und Verwaltungsbediensteten. Im internationalen Vergleich passiert das in Parlamentsausschüssen, wo in öffentlichen wie in nicht-öffentlichen Sitzungen ein direkter Austausch stattfinden kann.45 In Österreich ist das schon aufgrund der geringen Sitzungsfrequenz und Dauer der Ausschüsse schwierig (siehe 8.4.2.1). Ausnahmen sind der Rechnungshofausschuss und der Unterausschuss des Budgetausschusses des Nationalrates, in deren Sitzungen unmittelbar mit den ErstellerInnen der behandelten Berichte gesprochen werden kann. 9.3.5.4 Verwaltung und politische Tätigkeit

Parlamente und Verwaltung haben einen dritten, unmittelbaren Berührungspunkt, der aus dem traditionell hohen Anteil öffentlich Bediensteter unter den ParlamentarierInnen folgt. Im Nationalrat lag dieser bis 2000 in der Regel bei einem Drittel und ist seither gesunken. In der 26. Gesetzgebungsperiode (2017– 2019) betrug er nur mehr ca. 20 %.46 Die Frage, ob und in welchem Umfang sich öffentlich Bedienstete politisch betätigen können, war im Lichte der Skepsis gegenüber Demokratie und Parteien seit dem späten 19.  Jahrhundert umstrit-

44 Dies ist ein Vorwurf, der z. B. in Diskussionen auf Fachtagungen erhoben wird. 45 Siehe dazu etwa am Beispiel des Deutschen Bundestages Meinel, Florian (2019), Vertrauensfrage. Zur Krise des Parlamentarismus, München, S.179 ff. 46 Bericht der gemäß Art. 59b B-VG eingesetzten Kommission an dem Nationalrat für das Jahr 2017.

279

280

| 

Christoph Konrath

ten.47 In Österreich wurde es aber mit dem Erlass des B-VG  1920 unter der Maßgabe erlaubt, dass diese für die Dauer des Mandats außer Dienst gestellt wurden, aber ihr Gehalt unangetastet blieb. Erst ab den 1980er Jahren kam es zu einer Anpassung der Regelungen, allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt politischer Tätigkeit, sondern vielmehr im Hinblick auf die Frage von Mehrfachbezügen. Die heutige Regelung ermöglicht die Fortbeschäftigung im öffentlichen Dienst, sofern diese in einem realistisch-vertretbaren Ausmaß erfolgt und Unvereinbarkeitsbestimmungen (siehe 8.3.4) dem nicht entgegenstehen. Allgemein soll das Disziplinarrecht für den öffentlichen Dienst sicherstellen, dass die Trennung zwischen persönlicher politischer Tätigkeit und Amtsführung soweit wie möglich aufrechterhalten werden kann. Damit werden zum einen Privilegien ausgeschlossen und zum anderen wird die Anstellung im öffentlichen Dienst insoweit »normalisiert«, als damit keine Einschränkungen politischer Freiheit mehr verbunden werden. 9.3.6 Verwaltung und Gerichtsbarkeit Für die Verortung der Verwaltung im politischen System Österreichs ist eine Verhältnisbestimmung zur Gerichtsbarkeit von besonderer Bedeutung. Der Grund dafür ist, dass es seit den Verwaltungsreformen des 19.  Jahrhunderts eine Gleichordnung von Justiz und Verwaltung in Österreich gab. Das heißt, es gab einen »Verwaltungsrechtsweg« in Verwaltungsangelegenheiten, in dem höhere Verwaltungsbehörden die Entscheidungen der niedrigeren überprüften. Es gab jedoch keine Entscheidung »von außen« durch unabhängige Gerichte. Der Verwaltungsgerichtshof nahm dabei eine Ausnahmerolle ein. Das bedeutete, dass sonst in der Landesverwaltung und der mittelbaren Bundesverwaltung der jeweils zuständige Landeshauptmann und in anderen Bereichen das zuständige Mitglied der Bundesregierung in Streitigkeiten über Entscheidungen der Eingangsbehörden entscheiden mussten. Damit war (trotz detaillierter Regeln und hoher verwaltungsrechtlicher Ansprüche) in jeder Entscheidungsebene politische Einflussnahme möglich, als die vor allem als für die Machtposition der Landeshauptleute entscheidend wahrgenommen wurde. Diese Organisationsform stand seit langem zur Diskussion. Eine erste Reaktion darauf war die Einführung der Volksanwaltschaft 1977, mit der eine un47 Vgl. dazu und zum Folgenden Kucsko-Stadlmayer, Gabriele (1999), Art.  59a B-BVG, in  : Karl Korinek/Michael Holoubek (Hg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und Kommentar, 1. Lieferung, Wien.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

abhängige Kontrolleinrichtung der Verwaltung geschaffen wurde, die auf Missstände mit Empfehlungen an Parlament und Bundesregierung reagieren und in konkreten Fällen vermittelnd tätig werden kann.48 Sie kann allerdings keinen Streit verbindlich entscheiden, und sie konnte auch nicht die zentralen Defizite z. B. im Sicherheitspolizeirecht und Verwaltungsstrafrecht ausgleichen  : Hier gab es nämlich kein Recht auf Entscheidung durch ein unabhängiges Gericht, wie es die Europäischen Menschenrechtskonvention verlangt. 1991 wurden für bestimmte Verfahren sogenannte Unabhängige Verwaltungssenate eingerichtet, auf deren Besetzung die Landeshauptleute aber weiterhin großen Einfluss ausübten.49 Ausgehend vom Österreich-Konvent50 wurde schließlich von 2005 bis 2012 über die Einführung einer echten Verwaltungsgerichtsbarkeit in Bund und Ländern verhandelt. Diese wurde 2014 umgesetzt.51 Mit der Reform wurden in den Ländern und auf Bundesebene Verwaltungsgerichte geschaffen, die für sämtliche Beschwerden52 gegen Verwaltungsentscheidungen zuständig sind. Das heißt, dass nicht mehr eine höhere Verwaltungsbehörde, sondern sofort ein unabhängiges, jedoch auf Verwaltungsangelegenheiten spezialisiertes Gericht entscheidet. Damit wird das Verwaltungsverfahren (im Unterschied zu früher) bei jeweils einer Behörde konzentriert. Damit sind drei zentrale politische Fragen angesprochen, nämlich (I) wie weit (vor allem in umstrittenen) Verwaltungsangelegenheiten politische Einflussnahme noch möglich ist, (II) unter welchen Maßgaben Entscheidungen getroffen werden, und (III) wer die öffentlichen Interessen einbringen und wahrnehmen soll. Vor allem die erste Frage wird seit der Einrichtung der Verwaltungsgerichte immer wieder diskutiert, gerade wenn es um die Ernennung der PräsidentInnen der Verwaltungsgerichte in den Ländern und die Einflussnahme der Landeshauptleute darauf geht.53 Allerdings können diese Debatten auch sichtbar machen, ob und inwieweit die verfassungsrechtliche Absicherung 48 Einen guten Überblick hierzu bietet die Website der Volksanwaltschaft  : [www.volksanwaltschaft. gv.at]. 49 Vgl. Öhlinger, Theo/Eberhard, Harald (2019), Verfassungsrecht, Wien, Rn. 645 ff. 50 Der Österreich-Konvent war ein großangelegter Beratungsprozess zur Erneuerung der Bundesverfassung. Er ist unter [www.konvent.gv.at] dokumentiert. 51 Vgl. Eberhard, Harald (2012), Die Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, in  : Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Blätter 2012 (3), S. 2–5. 52 Nur bei Gemeinden sind Ausnahmen hiervon möglich. 53 Ein Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen um das Landesverwaltungsgericht Burgenland 2018/19, zusammengefasst in ORF Burgenland (2019), LVwG  : Krumböck zieht Bewerbung zurück, Onlineausgabe 09.01.2019, [https://burgenland.orf.at/news/stories/2957603/], eingesehen am 06.10.2019.

281

282

| 

Christoph Konrath

des Richteramts und die Erwartungen, die mit diesem verbunden werden, eine unabhängige Amtsführung ermöglichen und Widerstandsfähigkeit gegenüber politischer Einflussnahme stärken. Aber auch die zweite und dritte Frage sind von großer Bedeutung, weil sie fachspezifisches Wissen (neben Rechtswissen), pragmatische Vorgehensweisen und demokratische Verantwortung in der Verwaltung auf die Eingangsbehörden konzentrieren und danach den Fokus ausschließlich auf Rechtsfragen legen.54 9.3.7 Öffentlichkeit und Verwaltung Für die meisten Menschen erfolgt die unmittelbare Begegnung mit dem Staat in der Verwaltung. Verwaltung wiederum schafft die Rahmenbedingungen für das Zusammenleben im Staat, in dem sie wesentliche Sicherheits- und Versorgungsleistungen gewährleistet und damit die Grundlagen für das Vertrauen in staatliches Handeln schafft. Zugleich bleibt Verwaltung in vieler Hinsicht aber eine abgeschlossene und für viele unverständliche Institution. Historisch lässt sich ihre Abschottung damit erklären, dass sie sich unter nicht-demokratischen Bedingungen entwickelt hat. Geheimhaltung war somit im Sinne der Herrschaftssicherung erforderlich. Sie lässt sich auch im Lichte des Verständnisses von Verwaltung als Werkzeug erklären, das Gesetze vollzieht, aber sich nicht dafür rechtfertigen muss. Bezeichnend ist dafür in Österreich, dass das Staatsgrundgesetz zwar jedermann ein Petitionsrecht zugestanden hat, mit dem Eingaben und Beschwerden auch an die Verwaltung erfolgen konnten, dass aber keine Verpflichtung seitens staatlicher Organe bestand, darauf auch zu reagieren.55 Demokratie setzt jedoch ein ausreichendes Maß an Offenheit und Transparenz voraus. Erst dieses ermöglicht es den BürgerInnen, die Handlungen des Staats (im Hinblick auf sie persönlich und im allgemeinen Interesse) nachvollziehen und verstehen zu können und sich so eine eigene Meinung zu bilden. 54 Siehe etwa die kritische Stellungnahme des Consultative Council of European Judges (CCJE), wonach die rechtliche Position des/der PräsidentIn des Landesverwaltungsgerichts Wien von europäischen Standards abweiche. CCJE (2019), Opinion of the CCJE Bureau following a request by the Association of European Administrative Judges (AEAJ) as regards the legal setting of the position of the president (vice-president) of the Administrative Court of Vienna, Austria, Onlineausgabe 29.03.2019, [https://www.coe.int/en/web/ccje/-/opinion-of-the-bureau-of-the-ccjeas-regards-the-legal-setting-of-the-position-of-the-president-vice-president-of-the-administrative-court-of-vienna], eingesehen am 06.10.2019. 55 Siehe zum Petitionsrecht Korinek, Karl (1977), Das Petitionsrecht im demokratischen Rechtsstaat, Tübingen.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

Dies meint demokratische Verantwortung und Kontrolle, die wiederum die Voraussetzung für das Verständnis des demokratischen Rechtsstaats und die Mitbestimmung in diesem sind. Beides, Transparenz und Verantwortlichkeit, nimmt an Bedeutung zu, wenn Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse von politischen Organen (insbesondere Parlamenten) auf die Verwaltung übertragen werden (siehe 7.8). Daraus folgt, dass auch gegenüber der Verwaltung der Anspruch auf Offenheit und Beteiligung steigt. Wiederum ist die Bundesverfassung einerseits klar, andererseits widersprüchlich  : Kontrolle und Beteiligung sollen über die dafür vorgesehenen Organe wie das Parlament oder den Rechnungshof erfolgen. Allerdings liegt es (mit Ausnahme von Untersuchungsausschüssen) in der Regel an der Verwaltung, den Umfang der Auskunft zu bestimmen. Zugleich scheint es faktisch unmöglich, dass Parlamente oder Rechnungshof eine tatsächlich umfassende Kontrolle ausüben (siehe 8.4.4.3). Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Verwaltung gegenüber der Öffentlichkeit verschließen kann. Gerade unter dem Gesichtspunkt von Management sowie der Anforderung, Leistungen zu erbringen und Erfolge zu präsentieren (siehe 9.2.4 und 9.4.3), ist sie gefordert, sich öffentlich zu engagieren und Interessensgruppen einzubinden. Aber das geschieht primär so, dass die Verwaltungsseite allein bestimmt, wie und in welchem Rahmen sie dabei vorgeht. Dementsprechend stehen vor allem Kunden- und Serviceorientierung im Fokus. Beides ist notwendig für eine moderne Verwaltung, aber unter demokratischen Gesichtspunkten nicht hinreichend. Die weitergehenden Forderungen nach Öffnung und Beteiligung begegnen Verwaltung und Politik in Österreich seit vielen Jahren mit Zurückhaltung bis Ablehnung. Der Widerstand aus der Verwaltung selbst wird nicht zuletzt mit Arbeitsaufwand und Einmischung gerechtfertigt, was auf eine Sicht der BürgerInnen, die Verwaltungsabläufe mutwillig stören und aufhalten zu wollen, schließen lässt.56 Diese Einstellung steht in doppeltem Widerspruch zu den Entwicklungen in der EU und im Europarecht  : In der EU-Grundrechtecharta wurde 2000 ein Recht auf eine gute Verwaltung verankert, und in den EU-Verträgen bilden Öffentlichkeit, Beteiligung und Zugang zu Informationen zentrale 56 Aufschlussreich sind dazu die Auseinandersetzungen mit neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren und die Konflikte über große Infrastrukturprojekte. Siehe dazu Schaller, Christian (1997), Demokratie- und Verfassungs(reform)-Diskussionen in Österreich, Wien. Ähnliche Muster zeigen sich in den Debatten über die Aufhebung des Amtsgeheimnisses in den Jahren 2014 bis 2017. Siehe dazu die Stellungnahmen zur Regierungsvorlage 395 BlgNR 25. GP auf der Website des Parlaments sowie Wiederin (2018).

283

284

| 

Christoph Konrath

Handlungsgrundlagen.57 Ein aktives Zur-Verfügung-Stellen wird damit nicht als Belastung, sondern  – ganz im Gegensatz  – als Entlastung der Verwaltung verstanden, die sich dann eben nicht mehr mit jeder Anfrage einzeln befassen muss, und die sie auch nutzen kann, um ihre Leistungen sichtbar zu machen. Dies hatte insofern unmittelbare Auswirkungen auf Österreich, als es z. B. möglich wurde, Verwaltungsinformationen, die hierzulande nicht erlangt werden konnten, über EU-Institutionen zu erhalten.58 Ebenso hat es vielfach erst das Europarecht notwendig gemacht, sich mit der Beteiligung der Öffentlichkeit an Verwaltungsentscheidungen zu befassen und weitergehende Beteiligungsrechte umzusetzen.59 Vor allem Länder und Gemeinden greifen die sich hiermit bietenden Möglichkeiten auf.60 Allerdings zeigt sich dabei auch, dass bei individuellen Akteuren Bereitschaft und Kompetenzen, verbindliche Beteiligungsprozesse durchzuführen, oft fehlen, und dass es vielfach an Unterstützung in der Umsetzung fehlt.61 9.4 Verwaltungsreform 9.4.1 Dauerbrenner Verwaltungsreform Verwaltungsreformdiskussionen beherrschen die innenpolitische Agenda aller modernen demokratischen Rechtsstaaten. Ihre Verwaltungsapparate gehen auf das 19. Jahrhundert zurück und sind kontinuierlich ausgebaut worden. Sie waren (und sind) Impulsgeber für gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische, 57 Art 41 EU-Grundrechtecharta. 58 Vgl. Schulev-Steindl, Eva, et al. (2019), Partizipation im Umweltrecht – Gegenwart und Zukunft, Wien  ; Wagner-Reitinger, Marie Sophie (2019), Änderung der Öffentlichkeitsbeteiligung in Verfahren nach dem AWG. Was bringt das Aarhus-Beteiligungsgesetz 2018  ?, in  : Österreichische Juristen Zeitung 6, S. 246–251. 59 Welche Konflikte hiermit verbunden sind, zeigen die jahrelangen Auseinandersetzungen über die Umsetzung der sogenannten Aarhus-Konvention (Übereinkommen von Aarhus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten samt Erklärung, BGBl III 2005/88), obwohl es bereits seit 2008 mit den Standards für Öffentlichkeitsbeteiligung ein Bekenntnis der Bundesregierung zur Förderung von Beteiligungsprozessen in der Verwaltung gab. 60 Beispiele hierfür finden sich insbesondere in Vorarlberg. Vgl. dazu Nanz, Patrizia/Leggewie, Claus (2018), Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin  ; und die Beispiele auf [www.partizipation.at]. 61 Diese Schwierigkeiten zeigen am Beispiel von Infrastrukturprojekten Biegelbauer, Peter/Kapeller, Sandro (2017), Mitentscheiden oder Mitgestalten  : Direkte Demokratie versus Deliberation in lokalen Entscheidungsfindungsprozessen, in  : SWS-Rundschau 57 (1), S. 32–55.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

technologische usw. Veränderungen und werden umgekehrt von diesen beeinflusst, was ständige Anpassungsleistungen erfordert. In öffentlichen Debatten werden Reformen aber vor allem mit Fragen der Effizienz von Abläufen, der Vereinfachungen für BürgerInnen und Unternehmen oder mit Einsparungen in Zusammenhang gebracht. Sie betreffen jedoch ebenso die Handlungsspielräume, die der moderne Verwaltungsstaat PolitikerInnen lässt, indem er sie mit umfangreichen Institutionen und Regelungen konfrontiert, die Handlungspfade und Begrenzungen vorgeben. Reformen und Veränderungen sind erforderlich, wenn PolitikerInnen ihre Ziele umsetzen wollen, weil sie dafür auf die Verwaltung als Werkzeug angewiesen sind. Reformen können aber auch selbst das Ziel sein, wenn es darum geht, bestimmte Vorstellungen von Aufgabe, Funktion und Umfang »des Staats« und damit staatlicher Institutionen umzusetzen. Alle diese Fragen prägen die politische Geschichte Österreichs seit der Monarchie und werden als Verwaltungsreform, Aufgabenreform, Modernisierung, Deregulierung, Entflechtung etc. verhandelt.62 Auffallend ist jedoch, dass die Umsetzung solcher Forderungen, also die Durchführung und der Abschluss großer Reformprojekte nicht breit (politisch) kommuniziert wird. Besonders deutlich wird dies an der Totalreform des Bundeshaushaltsrechts (siehe 9.2.3) oder der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit (siehe 9.3.6). In beiden Fällen wurden mehr als hundertjährige Regelungen und Praktiken völlig verändert und  – nicht zuletzt im Sinne der Nachvollziehbarkeit und der Ablauforganisation – modernisiert. Nun kann argumentiert werden, dass beides keine unmittelbaren Auswirkungen auf die BürgerInnen habe, was letztlich zählen würde. Aber gerade die Einführung der Verwaltungsgerichte hat die Rechte der BürgerInnen in Verwaltungsverfahren gestärkt und wurde dennoch nicht weiter als Erfolg dargestellt oder beworben. 9.4.2 Reformdilemmata 9.4.2.1 Rahmenbedingungen

Die Beobachtung, wie über Reformen diskutiert wird, führt zu den Bedingungen, unter denen Verwaltungsreformen verhandelt werden.63 Auch hier kann die Prägung durch das Recht als Ausgangspunkt dienen. Sie betreffen zunächst die 62 Im Überblick Fuchs, Kristina, et al. (2010), Verwaltungsreform in Österreich, in  : Gerhard Steger (Hg.), Öffentliche Haushalte in Österreich, Wien, S. 273–302. 63 Siehe dazu im Überblick (und aus der Sichtweise persönlicher Erfahrungen) Thienel, Rudolf (2017), (Verwaltungs-)Reformen in Österreich – warum sind sie so schwierig  ?, in  : Zeitschrift für Verwaltung 2017 (1), S. 6–20.

285

286

| 

Christoph Konrath

Rahmenbedingungen, die sich zum einen aus der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ergeben und in den verschiedenen Formen von Zuständigkeiten manifest werden. Zum anderen sind die Vorgaben des Dienstrechts (und der damit verbundenen individuellen Rechtspositionen der Verwaltungsbediensteten) und des Organisationsrechts zu beachten. Das Verwaltungsrecht im engeren Sinn, also die verschiedenen Verfahrensvorschriften und inhaltlichen oder materiellen Regeln, sind in Österreich sehr detailliert und komplex miteinander verflochten. Dafür werden viele Gründe vorgebracht, von denen zwei besonders herausragen  : Für Österreich ist typisch, dass auf konkrete Missstände, Unglücksfälle oder Straftaten unmittelbar mit der Forderung nach neuen gesetzlichen Vorschriften reagiert wird. Dies geschieht auch dann, wenn eine Analyse des Anlassfalls zum Schluss gelangen könnte, dass eine Wiederholung unwahrscheinlich sei oder dass mit den bestehenden Instrumenten das Auslangen gefunden werden könne. In der Folge wird eine Zurücknahme der Maßnahme schwierig, weil die Erinnerung an den Anlassfall die Beibehaltung rechtfertigt oder zwischenzeitlich erlassene Regeln daran anknüpfen. Der zweite, für Österreich typische Aspekt, steht damit in engem Zusammenhang und betrifft die hochgradige Spezialisierung im Bereich des Verwaltungsrechts. Die enge Verflechtung vieler Bestimmungen, die vielfältige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofes und der hohe Detailgrad der Regelungen führen dazu, dass jeder Reformansatz an diesen Maßstäben gemessen wird und zu noch detailreicheren und einzelfallbezogenen Änderungen führt. 9.4.2.2 Recht und Politik

Unter diesen Voraussetzungen gerät jede Debatte über Verwaltungsreformen in eine rechtlich-politische Gemengelage, in der die Interessen aller Beteiligten mit rechtlichen Argumenten kommuniziert (und auch verschleiert) werden können. Damit entsteht aber das Risiko, dass berechtigte juristische, fachliche oder verwaltungsorganisatorische Einwände als bloßes Blockademittel abgetan werden. Weil aber die Grundlagen und Bezugspunkte der Auseinandersetzungen so komplex sind, können sie nur schwer nach außen hin vermittelt werden, was wiederum eine Beurteilung der Vorgänge durch Medien und Öffentlichkeit erschwert. 9.4.2.3 Außen und innen

Dazu kommen noch weitere Aspekte  : Die Betonung der juristischen Aspekte von Verwaltungsreformen führt dazu, dass ein Großteil der bisherigen Reformkommissionen mit RechtsexpertInnen besetzt war. Wenn diese aber (wie meist üblich)

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

von Universitäten oder Gerichten kommen, verfügen sie nur über eingeschränktes Wissen über die internen Abläufe der Verwaltung. Externe Beratungsunternehmen, die sich unter der Managementperspektive als Alternative anbieten (siehe 9.2.3), stehen vor der Schwierigkeit, weder über das rechtliche Spezialwissen noch über Kenntnis der Organisationsformen und vor allem des spezifisch staatlichen (und republikanischen) Selbstverständnis der Verwaltung zu verfügen. 9.4.2.4 Politische Zeitvorgaben und Umsetzung

Verwaltungsreformen brauchen in der Vorbereitung und in der Umsetzung sehr viel Zeit. Dies zeigen nicht nur die »großen Beispiele«, auf die ich hier hingewiesen habe. Es bedarf der Analyse und Problemaufbereitung, der Entwicklung von politischen Konzepten und Gesetzentwürfen, des parlamentarischen Verfahrens, der Implementierung usw. Wenn Reformen das Dienstrecht betreffen, kommt es in der Regel zu längeren Übergangszeiten, bis z. B. Lenkungs- und Einsparungseffekte auftreten.64 Das bedeutet, dass eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass Verwaltungsreformen (und dabei vor allem jene, die Strukturfragen betreffen) nicht innerhalb einer Gesetzgebungsperiode initiiert und umgesetzt werden können. In Folge bestehen nur wenige Möglichkeiten, die Auswirkungen der Reform unmittelbar zu beurteilen oder auch als (eigenen) Erfolg zu kommunizieren.65 9.4.3 Lösungsmöglichkeiten und Risiken 9.4.3.1 Problemlösung und Verantwortung

Aus Sicht von Beteiligten an verschiedenen Verwaltungsreformprojekten, wie dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes Rudolf Thienel, können diese Dilemmata nur aufgelöst werden, wenn es zu Änderungen der politischen Kultur und der institutionellen Rahmenbedingungen komme.66 Dazu zählen für ihn mittelfristige Planungsperspektiven, die Begrenzung von Vetomöglichkei64 Siehe das Beispiel der Vorarlberger Dienstrechtsreform  : Landes-Rechnungshof Vorarlberg (2009), Prüfbericht über die Gehaltsreform des Landes Vorarlberg,[http://www.lrh-v.at/wp-content/uploads/ 2013/04/2070.Endbericht.pdf ], eingesehen am 06.10.2019  ; Rechnungshof (2017), Bericht des Rechnungshofes  : Pensionsstand und -ausgaben der Landesbeamtinnen und –beamten [https://www. parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/III/III_00339/imfname_614148.pdf ], eingesehen am 06.10. 2019. 65 Der Ökonom William D. Nordhaus hat in diesem Zusammenhang das Konzept des »political business cycle« eingeführt. Siehe Nordhaus, William (1975), The Political Business Cycle, in  : Review of Economic Studies 42, S. 169–190. 66 Vgl. Thienel (2017), S. 14 ff.

287

288

| 

Christoph Konrath

ten und die Zurücknahme von engen bis angsterfüllten juristischen Zugängen. Die Überlegungen von Thienel sind vom »Stückwerksansatz« oder »piece-meal-approach« des Philosophen Karl Popper geprägt.67 Dieser setzte sich kritisch mit Idealvorstellungen in Wissenschaft und Politik auseinander und wies eindringlich darauf hin, wie umfassende und utopische Vorstellungen und Ansprüche Freiheit gefährden können. Stattdessen plädierte er für ein schrittweises Vorgehen sowie für die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und aus Fehlern zu lernen. Der entscheidende Punkt ist, eine konstruktive, inhalts- und auch ergebnisoffene Herangehensweise an Herausforderungen zu entwickeln und dabei politische und institutionelle Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Ein solcher Ansatz setzt (konsequenterweise) voraus, über unmittelbare Erfolge und Gesetzgebungsperioden hinauszudenken. 9.4.3.2 Überforderte Politik  ?

Poppers Überlegungen sind im Kontext der Verteidigung einer liberalen Demokratie nach dem 2. Weltkrieg formuliert worden. Dem kann entgegnet werden, dass solche Ansätze unter gegenwärtigen Herausforderungen nicht mehr ausreichen. Wenn sich die Probleme, die Gesellschaften und Staaten unter den Bedingungen von Globalisierung, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Klimakrisen und technologischen Entwicklungen zu bewältigen haben, verschärfen, könne nicht darauf gewartet werden, bis sich PolitikerInnen auf etwas einigen und Institutionen sich zu bewegen begännen. Dieser Einwand ist nicht neu und hat schon die Diskussionen über das Verhältnis von Regierungen, Verwaltungen und Parlamenten in der Zwischenkriegszeit geprägt (siehe 7.8). Popper selbst hat darauf geantwortet, indem er (von der Wissenschaftstheorie kommend) betont hat, dass Problemlösen Pluralität und Diskussion voraussetze. Angesichts technischer Entwicklungen, vor allem was die Sammlung und Auswertung großer Datenmengen betrifft, wird auch dies heute in Frage gestellt.68 Stattdessen wird vorgeschlagen, mithilfe von IT-Lösungen Verwaltungsangelegenheiten (und auch Verwaltungsreformen) zu jenem Werkzeug zu machen, als das man sie schon lange versteht. Denn nun bestünde das Potential, Abläufe und Entscheidungsprozesse tatsächlich zu standardisieren 67 Siehe dazu vor allem Popper, Karl (1987), Das Elend des Historizismus, Tübingen. 68 Anschaulich zeigt dies Lobe, Adrian (2018), Welches politische System verarbeitet die Daten der Bürger für die Bürger besser  : Demokratie oder Diktatur  ?, Neue Zürcher Zeitung, [https://www. nzz.ch/feuilleton/welches-politische-system-verarbeitet-die-daten-der-buerger-fuer-die-buerger-besser-demokratie-oder-diktatur-ld.1382462], eingesehen am 06.10.2019.

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

und unabhängig von konkreten Personen einheitliche Vorgangsweisen und ein optimales Informationsmanagement zu gewährleisten. Alternativ (aber durchaus in Ergänzung zu technologischen Lösungen) kann darauf verwiesen werden, dass auch andere Formen der Beteiligung von Betroffenen und Öffentlichkeit zur Verfügung stehen würden. Dann würde von politischer Konfliktaustragung auf das gemeinsame Lösen von Problemen und Bewältigen von Herausforderungen umgestellt (siehe 7.7.3–7.7.5).69 Damit entsteht eine neue Form der Trennung von Politik und Verwaltung, in der sich Letztere als apolitische Alternative präsentiert, die für oder anstelle von politischen Organen tätig wird. Bezeichnend ist dabei, dass viele Netzwerke oder Stellen, die sich mit Innovation im Verwaltungsbereich befassen, Beispiele und Handlungsempfehlungen ohne Unterschied präsentieren, ob diese in liberalen, demokratischen Rechtsstaaten, autoritären Staaten (oder Hybrid- bzw. defizitären Formen) entwickelt wurden. Damit wird auch zur Diskussion gestellt, ob es ausreicht, dass Verwaltung erfolgreich und effizient im Interesse des Staates und zur Zufriedenheit seiner Bewohner/innen tätig ist, oder ob und in welchem Ausmaß es eines besonderes Verständnisses demokratischer Verantwortlichkeit bedarf.70 Unter diesen Gesichtspunkten zeigt sich eine große Nähe von Verwaltungsreformdiskussionen zu den Debatten über die Zukunft des parlamentarischen Regierungssystems (siehe 8.5.4). In beiden Fällen geht es um die Bestimmung der Verhältnisse zwischen Prozessoptimierung und demokratischer Einbindung und Verantwortlichkeit. Damit kann deutlich werden, dass Vergewisserung und Erneuerung von Demokratie letztlich nicht ohne Auseinandersetzung mit der Verwaltung geschehen kann und dass Verwaltungsreformdiskussionen nicht ohne Diskussion des Demokratie- und Freiheitsverständnisses, das ihnen zugrunde liegt, geführt werden können. 9.5 Literaturverzeichnis Addendum (2019), Politometer. Unsere Posten für unsere Leut, [https://www.addendum. org/politometer/kategorie/verwaltung/unsere-posten-fuer-unsere-leut/], eingesehen am 06.10.2019. 69 Solche Diskussionen befassen sich etwa mit Wissensnutzung und Wissensgenerierung für den öffentlichen Bereich. Siehe z. B. Pečarič, Mirko (2017), Can a group of people be smarter than experts  ?, in  : The Theory and Practice of Legislation 5 (1), S. 5–29. 70 Siehe dazu etwa die Lernplattform für Regierungen [https://apolitical.co], wo sich dieser Zugang schon im Namen ausdrückt.

289

290

| 

Christoph Konrath

Bauer, Helfried/Dearing, Elisabeth (2013), Bürgernaher aktiver Staat  : Public Management und Governance, Wien. Biegelbauer, Peter (2013), Wie lernt die Politik  ? Lernen aus Erfahrung in Politik und Verwaltung, Wiesbaden. Biegelbauer, Peter/Konrath, Christoph/Speer, Benedikt (2014), Die wissenschaftliche (Nicht-)Beschäftigung mit der Verwaltung und ihrem Verhältnis zur Politik in Österreich, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2014 (4), S. 349–365. Biegelbauer, Peter/Kapeller, Sandro (2017), Mitentscheiden oder Mitgestalten  : Direkte Demokratie versus Deliberation in lokalen Entscheidungsfindungsprozessen, in   : SWS-Rundschau 57 (1), S. 32–55. BMÖDS (2018), Die Verwaltung des Bundes. Daten und Fakten, Wien. Bruckmüller, Ernst 2(1996), Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien. Budgetdienst des Parlaments (2015), Bericht des Budgetdienstes zur Evaluierung der Haushaltsrechtsreform 2015, abrufbar unter [https://www.parlament.gv.at/ZUSD/BUDGET/2015/BD_-_Evaluierung_der_Haushaltsrechtsreform.pdf ], eingesehen am 06. 10.2019. Bundesministerium für Finanzen (2018), Externe Evaluierung Bundeshaushaltsrecht, [https://www.bmf.gv.at/budget/haushaltsrechtsreform/externe-evaluierung-bundeshaushaltsrecht.html], eingesehen am 06.10.2019. Cancik, Pascale (2017), Zuviel Staat  ? – Die Institutionalisierung der »Bürokratie«-Kritik im 20. Jahrhundert, in  : Der Staat 56 (1), S. 1–38. CCJE (2019), Opinion of the CCJE Bureau following a request by the Association of European Administrative Judges (AEAJ) as regards the legal setting of the position of the president (vice-president) of the Administrative Court of Vienna, Austria, Onlineausgabe 29.03.2019, [https://www.coe.int/en/web/ccje/-/opinion-of-the-bureau-of-theccje-as-regards-the-legal-setting-of-the-position-of-the-president-vice-president-ofthe-administrative-court-of-vienna], eingesehen am 06.10.2019. Eberhard, Harald (2012), Die Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, in  : Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Blätter 2012 (3), S. 2–5. Eberhard, Harald, et al. (2006), Governance. Zur theoretischen und praktischen Verortung des Konzepts in Österreich, in  : Journal für Rechtspolitik 2006 (1), S. 35–60. Ennser-Jedenastik, Laurenz (2013), Die parteipolitische Besetzung von Spitzenfunktionen in österreichischen Staatsunternehmen  : eine quantitative Analyse, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 42 (2), S. 125–143. Ennser-Jedenastik, Laurenz (2016), The Politicization of Regulatory Agencies  : Between Partisan Influence and Formal Independence, in  : Journal of Public Administration Research and Theory 26 (3), 507–518. Fuchs, Kristina, et al. (2010), Verwaltungsreform in Österreich, in  : Gerhard Steger (Hg.), Öffentliche Haushalte in Österreich, Wien, S. 273–302. Gratz, Wolfgang (2011), Und sie bewegt sich doch. Entwicklungstendenzen in der Bundesverwaltung, Wien. Gratz, Wolfgang (2017a), Symptomträger und Garanten des Bestehenden, Wiener

Verwaltung und Politik  : Stabilität und Dynamik 

|

Zeitung, Onlineausgabe 01.08.2017, [https://www.wienerzeitung.at/themen/stadtund-land/908290-Symptomtraeger-und-Garanten-des-Bestehenden.html], eingesehen am 06.10.2019. Gratz, Wolfgang (2017b), Türkis-blaue Generäle ohne Konzept, Der Standard, Onlineausgabe 27.12.2017, [https://derstandard.at/2000071095160/Tuerkis-blaue-Generaele-ohne-Konzept], eingesehen am 06.10.2019. Hanisch, Ernst (1994), Der lange Schatten des Staates  : Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien. Heindl, Waltraud (2013), Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich. Band 2  : 1848–1914, Wien. Holzinger, Gerhart, et al. (Hg.) 3(2013), Österreichische Verwaltungslehre, Wien. Huemer, Peter (1975), Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie, Wien. Jabloner, Clemens (2007), Rechtsstaatskonzepte. Gedanken zur Unabhängigkeit in Justiz und Verwaltung, in  : Österreichische Juristenkommission (Hg.), Rechtsstaat und Unabhängigkeit, Genf/Wien/Graz, S. 18–30. Kneucker, Raoul (2019), Bürokratische Demokratie, demokratische Bürokratie. Ein Kommentar zu Gestalt und System der Bürokratie in Europa, Wien-Köln-Weimar. Konrath, Christoph (2005), Dann bleibt es eben so  : Föderalismus und Kompetenzverteilung als Themen des Österreich-Konvents, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 34 (4), S. 351–366. Korinek, Karl (1977), Das Petitionsrecht im demokratischen Rechtsstaat, Tübingen. Kucsko-Stadlmayer, Gabriele (1999), Art. 59a B-BVG, in  : Karl Korinek/Michael Holoubek (Hg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und Kommentar, 1. Lieferung, Wien. Landes-Rechnungshof Vorarlberg (2009), Prüfbericht über die Gehaltsreform des Landes Vorarlberg, [http://www.lrh-v.at/wp-content/uploads/2013/04/2070.Endbericht. pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Lobe, Adrian (2018), Welches politische System verarbeitet die Daten der Bürger für die Bürger besser  : Demokratie oder Diktatur  ?, Neue Zürcher Zeitung, [https://www.nzz. ch/feuilleton/welches-politische-system-verarbeitet-die-daten-der-buerger-fuer-diebuerger-­besser-demokratie-oder-diktatur-ld.1382462], eingesehen am 06.10.2019. Lödl, Manfred Claus (2008), Die Reform des Bundeshaushaltsrechts, in  : Journal für Rechtspolitik 16, S. 101–113. Lödl, Manfred, et al. 4(2019), Bundeshaushaltsrecht, Wien. Mayer, Heinz, et al. 11(2015), Bundesverfassungsrecht, Wien. Meinel, Florian (2019), Vertrauensfrage. Zur Krise des Parlamentarismus, München. Nanz, Patrizia/Leggewie, Claus (2018), Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin. Nordhaus, William (1975), The Political Business Cycle, in  : Review of Economic Studies 42, S. 169–190. Öhlinger, Theo (1982), Repräsentative, direkte und parlamentarische Demokratie, in  :

291

292

| 

Christoph Konrath

Werner Krawietz/Ernst Topitsch/Peter Koller (Hg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Rechtstheorie, Beiheft 4, Berlin, S. 215–229. Öhlinger, Theo/Eberhard, Harald (2019), Verfassungsrecht, Wien. ORF Burgenland (2019), LVwG  : Krumböck zieht Bewerbung zurück, Onlineausgabe 09.01. 2019, [https://burgenland.orf.at/news/stories/2957603/], eingesehen am 06.10.2019. Pečarič, Mirko (2017), Can a group of people be smarter than experts  ?, in  : The Theory and Practice of Legislation 5 (1), S. 5–29. Popper, Karl (1987), Das Elend des Historizismus, Tübingen. Raschauer, Bernhard 5(2016), Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien. Rechnungshof (2007), Bericht des Rechnungshofes 2007/4, Band 2  : Teilgebiete der Gebarung des Bundes, [https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIII/III/III_00049/ imfname_076147.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Rechnungshof (2017)  : Bericht des Rechnungshofes 2017/5  : Personalbewirtschaftung des Bundes mit dem Schwerpunkt Personalplan, [https://www.parlament.gv.at/PAKT/ VHG/XXV/III/III_00339/imfname_614148.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Rechnungshof (2017), Bericht des Rechnungshofes  : Pensionsstand und -ausgaben der Landesbeamtinnen und –beamten [https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/ III/III_00339/imfname_614148.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Schaller, Christian (1997), Demokratie- und Verfassungs(reform)-Diskussionen in Österreich, Wien. Schulev-Steindl, Eva, et al. (2019), Partizipation im Umweltrecht – Gegenwart und Zukunft, Wien. Seibel, Wolfgang (2016), Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin. Steger, Gerhard (2010), Austria’s Budget Reform  : How to Create Consensus for a Decisive Change of Fiscal Rules, in  : OECD Journal on Budgeting 2010 (1), S. 7–21. Steger, Gerhard (2010), Austria’s Budget Reform  : How to Create Consensus for a Decisive Change of Fiscal Rules, in  : OECD Journal on Budgeting 2010 (1), 7–21. Thienel, Rudolf (2017), (Verwaltungs-)Reformen in Österreich  – warum sind sie so schwierig  ?, in  : Zeitschrift für Verwaltung 2017 (1), S. 6–20. Wagner-Reitinger, Marie Sophie (2019), Änderung der Öffentlichkeitsbeteiligung in Verfahren nach dem AWG. Was bringt das Aarhus-Beteiligungsgesetz 2018  ?, in  : Österreichische Juristen Zeitung 6, S. 246–251. Wiederin, Ewald (2007), Denken vom Recht her. Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre, in  : Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft. Die Verwaltung – Beiheft 7, Berlin, S. 293–317. Wiederin, Ewald (2010), Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht. Österreich, in  : Von Bogdandy, Armin, et al. (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band 3, Verwaltungsrecht in Europa. Grundlagen, Heidelberg, S. 187–228. Wiederin, Ewald (2014), Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934. Zugleich Mutmaßungen über die Gründe einer Begriffsrenaissance, in  : Parlamentsdirektion (Hg.), Staats- und Verfassungskrise 1933, Wien/Köln/Weimar, S. 75–97. Wiederin, Ewald (2018), Was hätte die Informationsfreiheit gebracht  ?, in  : Scrinium, Band 72, S. 9–19.

Tobias Hinterseer

10. Sozialpartnerschaft und Verbändestaat  : Baustein oder Problem der Demokratie  ?

10.1 Warum dieser Beitrag  ? Die Sozialpartnerschaft ist ein so zentraler Bestandteil Österreichs, dass sich sogar die Literatur damit beschäftigt. So heißt etwa ein Buch von Robert Menasse  : »Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik  : Essays zum österreichischen Geist«.1 Wenn man sich also mit dem politischen System Österreichs beschäftigt, stößt man rasch auf den Begriff der Sozialpartnerschaft. Für dieses Buch bietet sich daher ein demokratiepolitischer Blick auf ihre Grundlagen, Wirklichkeit und ihre Zukunft an.2 10.2 Was ist die Sozialpartnerschaft nun eigentlich  ? 10.2.1 Unterschiedliche demokratische Systeme Gesellschaften sind immer von Konflikten geprägt. Demokratien bilden unterschiedlichste Formen für den Umgang damit aus. Oder wie es der österreichische Verfassungsjurist Karl Korinek3 formuliert  : »Die Wege der Konfliktlösung sind vielfältig«. In den anglo-amerikanischen Systemen (Großbritannien, USA) haben sich vorwiegend konkurrenzdemokratische Modelle entwickelt. Hier herrschen Wahlsysteme vor, die meist klare Mehrheiten beim Regieren und 1 Menasse, Robert (1990), Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik  : Essays zum österreichischen Geist, Wien. 2 Die Sozialpartnerschaft befindet sich seit 2017/2018 in einer Phase der deutlichen Zurückdrängung. Dies hat natürlich weitreichende Auswirkungen auf Abläufe und Einbindungen in das politische System. Dieser Text nimmt die jahrzehntelange Bedeutung und Relevanz der Sozialpartnerschaft in der 2. Republik in den Blick. Die Auswirkungen der aktuellen politischen Situation sind für die langfristige Entwicklung nur abzuschätzen. Siehe hier vor allem  : Tálos, Emmerich/ Hinterseer, Tobias (2019), Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor der Zweiten Republik am Ende  ? Innsbruck. 3 Korinek, Karl (1980), Das System der österreichischen Sozialpartnerschaft  – Skizze der Bedingungen, der Prinzipien und der Grenzen des Systems, in  : Phänomen Sozialpartnerschaft, hg. v. Gerald Schöpfer, Wien, S. 9 ff.

294

| 

Tobias Hinterseer

auch klare Rollen in der Oppositionsarbeit hervorbringen. In Kontinentaleuropa verbreiteten sich hingegen eher Konkordanzdemokratien.4 Koalitionsregierungen sind verbreitet, und der Ausgleich unterschiedlicher Interessen zu einem gemeinsamen Ziel steht im Vordergrund. Die Sozialpartnerschaft in Österreich steht hierfür exemplarisch  : Das gesellschaftliche Gemeinwohl wird über die Verhandlung und Konsensfindung und weniger durch einen ständigen offenen politischen Konflikt ausgetragen. 10.2.2 Verschiedene Zugänge In der Vergangenheit hat es verschiedene Zugänge zur Einordung der Sozialpartnerschaft in das demokratische politische System Österreichs gegeben (siehe Infobox 1).5 Infobox 1  : Zugänge zur Sozialpartnerschaft im demokratischen politischen System 1. Untersuchungen zur verfassungsrechtlichen Bestimmtheit der Selbstverwaltung – im Speziellen der Kammern und der Sozialpartnerschaft im Allgemeinen. Zu lesen etwa bei Korinek, Pernthaler, Saluman, Öhlinger. 6 2. Analysen zur Demokratiequalität der Sozialpartnerschaft finden sich zum Beispiel bei Tálos, Kopp, Pelinka, Nullmeier/Reichenbachs.7 4 Siehe Lijphart, Arend (1999), Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-six Countries, Yale. 5 Allgemein sei hier vor allem auf die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema der Sozialpartnerschaft durch Emmerich Tálos hingewiesen. 6 Korinek (1980)  ; Korinek, Karl (2014), Die staatsrechtliche und staatspolitische Bedeutung der gesetzlichen Arbeitnehmervertretungen, Festvortrag anlässlich des 90-jährigen Bestehens der Arbeiterkammern in Österreich, gehalten am 20.10. 2011, in  : Selbstverwaltung. Gestaltungsfaktor für ein demokratisches und soziales Gemeinwesen, hg. v. Gstöttner-Hofer u. a., Wien, S. 27–36  ; Pernthaler, Peter (1994), Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich aus der Sicht des öffentlichen Rechts, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich, hg. v. Pernthaler u. a.; Schriftenreihe Arbeit-Recht-Gesellschaft, Wien, S. 19–91  ; Saluman, Michaela (2010), Der Begriff der Sozialpartnerschaft nach der verfassungsrechtlichen Verankerung in Art 120a Abs 2 B_VG, in  : Journal für Rechtspolitik 18, S. 33–42  ; Öhlinger, Theo (2008), Die Verankerung der Selbstverwaltung und Sozialpartnerschaft in der Bundesverfassung, in  : Journal für Rechtspolitik 16, S. 186–192. 7 Tálos, Emmerich (1996), »Zwangskammerstaat«  ? Zur Demokratiequalität der Sozialpartnerschaft, in  : Reihe Politikwissenschaft, 29, hg. v. IHS  ; Kopp, Ferdinand (1980), Die Sozialpartnerschaft als Element einer modernen rechtsstaatlichen Demokratie, in  : Phänomen Sozialpartnerschaft, hg. v. Gerald Schöpfer, Graz, S. 43–63  ; Pelinka, Anton (1979), Demokratie in Gewerkschaften und Arbeiterkammern, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1979, Wien, S. 361–375  ; Pelinka, Anton (1994), Kammerstaat und politische Erosion – Verbände und Sozialpartnerschaft in der Defensive, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich, hg. v. Pernthaler u. a., Schriftenreihe

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

3. Plaimer ordnet die Sozialpartnerschaft in den Diskurs der Post-Demokratie ein.8 4. Für kritische essayistisch-literarische Zugänge zur politisch-kulturellen Rolle der Sozialpartnerschaft empfiehlt sich Menasse. 9 5. Marxistische und politisch-ökonomische Auseinandersetzungen mit dem institutionalisierten Klassenkonflikt finden sich zum Beispiel bei Wimmer.10

10.2.3 Austro-Korporatismus  : Die Kunst des Konsenses Dieses spezielle Muster ist auf Kooperation, Konsensfindung und auf einen Ausgleich von stark unterschiedlichen Interessen ausgerichtet. Diese Art der Interessenseinbindung wird in der Politikwissenschaft als Neo-Korporatismus beschrieben. Für Österreich wird der Begriff des »Austro-Korporatismus« verwendet (siehe auch Infobox 2 Korporatismus). Österreich zeichnet sich durch einen ausgeprägten Tripartismus aus  : der Staat kooperiert mit großen Interessensgruppen, um gesamtwirtschaftliche beziehungsweise gesamtgesellschaftliche Ziele zu realisieren.11 10.2.4 Demokratiepolitische Verortung Eine demokratiepolitische Einordnung bereitet Schwierigkeiten  : Es lassen sich gemeinsame Strukturen neo-korporatistischer Systeme beschreiben und mit dem Stand der Demokratietheorien in Verbindung bringen12. Doch es gibt keine eigenständige Demokratietheorie des Korporatismus.13 Dieser Text hat nicht den Anspruch, eine »demokratietheoretisch überzeugende normative Rechtfertigung Arbeit-Recht-Gesellschaft, Wien, S.  95–107  ; Reichenbachs, Mauricio/Nullmeier, Frank (2016), Korporatismus und Demokratie, in  : Zeitgenössiche Demokratietheorie, Band 2  : Empirische Demokratietheorien, hg. v. Rembcke/Ritzi/Schal, S. 80–102.   8 Plaimer, Wolfgang (2012), Postdemokratie in Österreich  ? In  : Momentum 2012, [http://momentum-kongress.org/cms/uploads/PAPER_Plaimer.pdf ], eingesehen am 06.10.2019.   9 Menasse (1990)  ; Menasse, Robert (2000), Erklär mir Österreich, Frankfurt am Main  ; Menasse, Robert (2005), Das war Österreich, Frankfurt am Main. 10 Wimmer, Ernst (1979), Sozialpartnerschaft aus marxistischer Perspektive, Wien. 11 vgl. etwa Lehmbruch, Gerhard (1983), Neokorporatismus in Westeuropa  : Hauptprobleme im internationalen Vergleich, in  : Journal für Sozialforschung 23, Heft 4, S. 407–420. 12 Etwa neben Lehmbruch auch Schmitter, Philippe C. (1974), Still the century of Corporatism  ?, in  : The Review of Politics 36, Heft 1, S. 85–131, Lehmbruch (1983)  ; Czada, R. (2004)  : Konjunkturen des Korporatismus  : Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung, in  : Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 25, hg. v. W. Streeck, S. 37–63. 13 Reichenbachs/Nullmeier (2016).

295

296

| 

Tobias Hinterseer

des Korporatismus«14 zu entwickeln. Vielmehr werden Grundlagen, Wirklichkeit, Weiterentwicklungen der Sozialpartnerschaft vor dem Hintergrund ihrer demokratiepolitischen kritischen Rolle im politischen System besprochen. 10.2.5 Pluralismus und Korporatismus Der Pluralismus erklärt soziales Geschehen durch die Handlungen, Entscheidungen und Präferenzen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Verbände und Gruppen sind demnach auf Freiwilligkeit basierende Zusammenschlüsse dieser einzelnen Interessen. Das heißt, wenn viele BürgerInnen eine Sache anstreben, entscheidet sich die Durchsetzung dieser Präferenz an der relativen Mehrheit im Wettbewerb mit konkurrierenden Anliegen. Die Interessen, ob auf individueller oder aggregierter Ebene, stehen in Konkurrenz zueinander. Im Korporatismus geht es nun vor allem um einen Ausgleich der Interessen und dessen gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Steuerung auf einer Makroebene. Das bedeutet  : es geht nicht um die Interessen Einzelner, sondern um einen Ausgleich zwischen großen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb eines wirtschaftlichen und politischen Systems. Trotz unterschiedlicher Interessen stehen hier immer die Konsensfindung und ein Interessensausgleich im Vordergrund. Anders formuliert, Streiks, Aussperrungen oder gar Konflikte, die sich auf der Straße abspielen, gilt es zu verhindern und sind für den Korporatismus Anzeichen, dass etwas systemisch nicht funktioniert. In der Pluralismustheorie bestehen Konflikte aufgrund unterschiedlicher Interessen und sind systemimmanent. Sie sind ein unvermeidliches politisches Problem, entscheiden aber nicht über die Grundlagen und Ausrichtungen des Systems an sich. Der Staat ist Arena und Schiedsrichter für diesen offenen Konflikt um Interessen. Hingegen ist der Korporatismustheorie15 folgend der Staat ein handelnder Akteur und Teil dieser Steuerung und des Ausgleichs.16 Wie Lembcke, Ritzi und Schaal17 zeigen, wird »gesellschaftliche Pluralität (…) nicht nur über Parteien und 14 Reichenbachs/Nullmeier (2016), S. 94 15 Schmitter (1974) arbeitet fünf gemeinsame Merkmale des Pluralismus und des Korporatismus heraus, spannend ist dabei jedoch einer der zentralen Unterschiede  : Bei korporatistischen Verbänden geht es nicht nur um »interest representation« (Interessensrepräsentation) sondern auch um »interest intermediation (Interessensvermittlung) an ihre Mitglieder. 16 Prisching, Manfred (1991), Bestandsaufnahme der Sozialpartnerschaft, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 17, Heft 1, S. 9–36. 17 Lembcke, Ritzi/Schaal, Gary S. (2016) (Hg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Band 2  : Empirische Demokratietheorien, Wiesbaden, S. 7–20.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

gewählte Repräsentanten abgebildet (…)«, sondern auch durch die Koordination verschiedener Interessensgruppen in sogenannten »Verhandlungsdemokratien«.18 In Verbänden werden zum Teil auf Basis von Gesetzen und staatlicher Förderung Interessen (mittels Pflichtmitgliedschaften und privilegierter Einbindung in Gesetzgebungsprozesse sowie in staatliche Verwaltungsaufgaben) zusammengefasst. Infobox 2  : (Neo-)Korporatismus Korporatismus meint die Beteiligung und Mitwirkung gesellschaftlicher Interessens(-gruppen) an politischen Entscheidungsprozessen. Grundlegende Elemente sind die Freiwilligkeit und die Ausbildung eines auf Beständigkeit ausgelegten Verhandlungs- und Aushandlungsmusters. Der neue Korporatismus grenzt sich von »alten«, faschistischen und ständestaatlichen Spielarten des Korporatismus ab.19 »Neokorporatistische Austauschbeziehungen und ihre Mitgliedschaftslogik beruhen vornehmlich auf materiellen Legitimationen  : Nur wenn die Beteiligten mit den Ergebnissen von Aushandlungsprozessen zufrieden sind, ist deren Stabilität gewährleistet.«20 Das in Österreich etablierte korporatistische System (Austro-Korporatismus) war aufgrund seiner im internationalen Vergleich einzigartigen Beschaffenheit und der daraus resultierenden Erfolge seit Jahrzehnten im Fokus der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung.21 Globalisierungsprozesse, die Europäische Integration, internationale ökonomische Interdependenzen wie auch Änderungen der politischen Rahmenbedingungen (zum Beispiel Erosion der Großparteien) trugen Herausforderungen an die nationalen politischen und ökonomischen Handlungsspielräume der Sozialpartnerschaft heran22 Trotzdem zeigte das 18 Siehe auch  : Hinterseer, Tobias (2018), Begrenzte Anzahl vs. Vielfalt. Zwischen Korporatismus und Pluralismus in der politischen Interessensvermittlung in Österreich, in  : WISO 1/2018, 185–197. 19 Czada (2004), Schmitter (1974). 20 Czada, Roland (1994), Konjunkturen des Korporatismus. Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung, in  : Staat und Verbände, hg. v. Wolfgang Streeck, Opladen, S. 37–64. 21 Siehe Katzenstein, Peter. J. (1984), Corporatism and Change- Austria, Switzerland, and the Politics of Industry, London  ; Gerlich, Peter/Grande, Edgar/Müller, Wolfgang. C. (1988), Corporatism in crisis  : stability and change of social partnership in Austria, in  : Political Studies 36, Heft 2, S. 209–223  ; Sweeney, Jim/Weidenholzer, Josef (Hg.) (1998), Austria  : A Study in Modern Achievement, Avebury, Aldershot  ; Luther, Kurt. R./Müller, Wolfgang. C. (1992), Politics in Austria  : Still a Case of Consociationalism, London  ; Heinisch 1999  ; Pernicka, Susanne (2018), Sozialpartnerschaft in der Lohnfindung – europäische und globale Herausforderungen, in  : WISO 4/2018, S.35–48  ; Pernicka, Susanne/Hefler, Günter (2015), Austrian Corporatism  – Erosion or Resilience  ?, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 44, Heft 3, S. 39–56  ; siehe vor allem auch Publikationen von Tálos. 22 Dachs, Herbert u. a. (Hg.) (2006), Politik in Österreich  : Das Handbuch. Wien  ; Gerlich, P. (1992), A Farewell to Corporatism, in  : Politics in Austria  : Still a Case of Consociationalism, hg. V. K. R. Luther/W. C. Müller, Frank Cass, London, S. 132–146  ; Tálos, Emmerich (2001), Ende

297

298

| 

Tobias Hinterseer

österreichische neo-korporatistische System eine überraschende politische und ökonomische Stabilität. Aus diesem Grund stellte Katzenstein im Jahr 1984 die noch immer aktuelle Frage  : »How can this political management of the economy and the institutionalization of political conflict work so smoothly without sanctions  ?«23 Wenn auch nicht von einer Omnipräsenz des Austro-Korporatismus gesprochen werden kann,24 spielte die Sozialpartnerschaft als Verhandlungsmodus zwischen den divergierenden Interessensgruppen Kapital und Arbeit in der 2. Republik eine wichtige Rolle.

10.2.6 Grundlagen Die Sozialpartnerschaft ist eine spezifische Form der Interessensdurchsetzung und -politik in Österreich. Sie ist gesetzlich nicht verankert und beruht auf Freiwilligkeit.25 Den klassischen Konfliktparteien der Arbeitsbeziehungen von Kapital und Arbeit sind einflussreiche und privilegierte Verbände zugeordnet  : Auf der einen Seite stehen die Wirtschaftskammer und die Landwirtschaftskammer,26 auf der anderen Seite der Gewerkschaftsbund und die Arbeiterkammer. Die Kammern sind durch die Selbstverwaltung27 gesetzlich bestimmt und gerahmt, der ÖGB ist ein Verein mit einer quasi-monopolartigen Stellung.28 Diese Dachverbände sind eng mit der Regierung und den einzelnen Ressorts beziehungsweise den Ministerien verzahnt. In einigen wichtigen Politikfelder Sozialpartnerschaft  ? Zäsuren in österreichischer Interessenpolitik, in  : Anlassfall Österreich. Die EU auf dem Weg zur Wertegemeinschaft, hg. v. Ferdinand Karlhofer u. a., Baden-Baden, S. 35–45  ; Tálos, Emmerich (2005), Vom Vorzeige- zum Auslaufmodell  ? Österreichs Sozialpartnerschaft 1945 bis 2005, in  : Sozialpartnerschaft. Österreichische und Europäische Perspektiven, hg. v. Ferdinand Karlhofer/Emmerich Tálos, Wien/Münster, S. 185–216  ; Tálos, Emmerich (2006), Sozialpartnerschaft  : Austrokorporatismus am Ende  ?, in  : Politik in Österreich  : Das Handbuch, hg. v. Herbst Dachs u. a., Wien S. 425–444  ; Tálos/Stromberger (2005). 23 Katzenstein (1984), S. 70. 24 Tálos (2006)  ; Tálos/Kittel (2001). 25 Die Verfasstheit, Aufgaben, Aufträge, Kontrollen der Kammern sind gesetzlich verankert. 26 Die Industriellenvereinigung ist kein Sozialpartner. In einigen wenigen Bereichen ist sie ein Teil einer auf Konsens orientierten Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen. 27 Die Sozialpartner – und allen voran die Kammern – übernehmen eine Reihe von Staats- und Verwaltungstätigkeiten. Dies betrifft in etwa das Arbeitsmarktservice (AMS) und den Hauptverband der Sozialversicherungsträger, verschiedene Aufsichtsräte- und Gremien, aber auch Bereiche wie LKW- Führerscheinprüfungen. Neben politischer Grundlagenarbeit ist eines der Hauptaufgabenfelder die umfangreiche Servicedienstleistung für die Mitglieder. Mehr zu Selbstverwaltung. 28 So führt nicht nur die gesetzlich vorgeschriebene Pflichtmitgliedschaft zu einer Konzentration der Mitglieder, sondern auch die Monopolstellung des ÖGB, die nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, siehe  : Tálos, (1996).

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

dern nimmt die Sozialpartnerschaft Einfluss auf die gesetzliche Willensbildung. Diese sind Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik sowie Einkommens-, beziehungsweise Lohnpolitik. Das Verhältniswahlrecht stellt eine wichtige Rahmenbedingung für die Sozialpartnerschaft dar  : Es begünstigt im Gegensatz zum Mehrheitswahlrecht die Bildung von Koalitionen. Die lange Dominanz der beiden Großparteien förderte daher eine konsensorientierte Politik zwischen den beiden Parteien und den Interessensgruppen. 10.2.7 Unterschiedliche Interessen Teilen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen noch das Interesse der Existenzsicherung von Unternehmen, so unterscheiden sich ihre Interessen sonst in vielen Punkten stark. Vereinfacht gesprochen sind ArbeitnehmerInnen an leistungs- und bedarfsgerechten Löhnen und sozialer Absicherung, an der Aufteilung der Zeit zwischen Beruf und Privatleben sowie an dauerhaften Beschäftigungs- und Einkommenssicherheiten interessiert. Wenn man es überspitzt formuliert, dann haben, wie bereits die MarxistInnen bemerkten, ArbeiterInnen nur ihre Arbeitskraft »zu verkaufen«, was diese im Selbstinteresse so teuer wie möglich tun müssten. Die Interessen der ArbeitgeberInnen sind diesem Anliegen naturgemäß entgegengesetzt. Diese orientieren sich an der Senkung der Lohn- und Beschäftigungskosten sowie an flexiblen Anpassungsmöglichkeiten der Produktion oder der Dienstleistung an die Markterfordernisse. Die Lösung dieser Konfliktsituation von Arbeitsbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit, die in einen offenen Arbeitskampf ausarten könnte, wurde in Österreich in der 2.  Republik durch die Sozialpartnerschaft institutionalisiert. Trotz der »Partnerschaft« handelt es sich hier um politisch deutlich unterschiedliche Interessensgruppen. Zum Beispiel zeigen sich im wichtigen Bereich des Arbeitsrechts starke Differenzen und Konfliktlinien.29 Diese sind unter anderem  : • Ausmaß der Arbeitszeit (Wochenarbeitszeit, Urlaub) • Flexibilisierung der Arbeitszeit • Reichweite betrieblicher Mitbestimmung • Kodifizierung des Arbeitsrechtes • Gleichstellung der ArbeiterInnen und Angestellten im Arbeitsrecht 29 Tálos, Emmerich/Christian Stromberger (2005), Zäsuren in der österreichischen Verhandlungsdemokratie, in  : Sozialpartnerschaft, hg. v. Ferdinand Karlhofer/Emmerich Tálos, Wien, S. 79–108.

299

300

| 

Tobias Hinterseer

10.2.8 Hochphase Die Sozialpartnerschaft erlebte ihre Hochphase in den 1960er und 1970er Jahren. Diese war gekennzeichnet durch noch größere nationale (wirtschafts-)politische Handlungsspielräume als heute, verstaatlichte Betriebe in wirtschaftspolitisch wichtigen Bereichen, eine politische Stabilität durch »Große Koalitionen« und eine lang anhaltende SPÖ-Alleinregierung (1970–1983) mit Sozialpartnerbindung und Sozialpartner-Einbindung. Ansätze dieses System zeigten sich in der Nachkriegszeit, als der Wiederaufbau und die Belebung des Wirtschaftswachstums einerseits moderate Lohnforderungen der ArbeitnehmerInnen erforderte, damit die Inflation nicht die Erträge auffressen würde. Im Gegenzug forderten die ArbeitnehmerInnen Preisstabilität und soziale Absicherung. Aus 5 Lohn-Preisabkommen zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden entwickelte sich ab den 1950er Jahren ein durchgängiges, aber sehr flexibles System der wirtschaftlichen Koordination. Dieses erwies sich als sehr effizient, um auf Wirtschaftsabschwünge, vor allem externe Schocks, zu reagieren und diese abzufedern. In den Zeiten der sogenannten Ölkrise in den 1970er Jahren war die österreichische im internationalen Vergleich eine der am erfolgreichsten Volkswirtschaften im Hinblick auf Beschäftigungsquote und relatives Wachstum. Auch in der Banken- und Finanzkrise ab den Jahren 2007 und 2008 stach die korporatistische koordinierte Krisenpolitik durch eine beachtenswerte Performance hervor30. Die Popularität der Sozialpartnerschaft war also nicht nur ihrer Konfliktvermeidung geschuldet, sondern sie lieferte auch wirtschaftliche Stabilität und Lösungen gegen Krisen. Ein wichtiges Asset war auch die Lohnpolitik. Sie orientierte sich an den gesamtwirtschaftlichen Zielsetzungen (Export- und Konsumnachfrage). Die sozialpartnerschaftlich koordinierte Lohnpolitik schafft einen wichtigen Wettbewerbs- und Standortvorteil.31

30 Rocha-Akis, Silvia/Mayrhuber, Christine/Leoni, Thomas (2018), Sozialpartnerschaft, Institutionen und Wirtschaft. Entwicklungen seit der Krise, WIFO, Juni 2018, Wien  ; Leibrecht, Markus/ Rocha-Akis, Silvia  : Sozialpartnerschaft und makroökonomische Performance, WIFO-Monatsberichte 8/2014, 555–567, Flecker, Jörg/Hermann, Christoph (2015), Mastering the crisis but not the future  : the Austrian model in the financial and economic crisis, in  : Divisive integrational – The triumph of failed ideas in Europe – revisited, hg. Steffen Lehndorff, Brussels, S. 195–208. 31 Siehe  : Tálos/Hinterseer (2019).

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

10.2.9 Zäsur Seit den 1990er Jahren hat eine Reihe von Änderungen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die »Blütezeit« der Sozialpartnerschaft beendet. In der Politikwissenschaft wird hier auch von Zäsuren der Sozialpartnerschaft gesprochen. Die wichtigsten sind  : • Ende der zwei machtpolitischen Pole Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ)-Österreichische Volkspartei Österreichs (ÖVP) • sozioökonomische Gründe (Stichworte sind  : Globalisierung, EU-Binnenmarkt, Währungsunion) • Entscheidungsverlagerungen auf eine supranationale, europäische Ebene • ein Wandel der politischen Kultur in Österreich (mehr Parteien, neue politische Bewegungen, schwächere Milieubildung) • Weniger Verteilungsspielräume durch wirtschaftliche Rezession Diese Entwicklungen führten zu einem deutlichen Verlust der politischen Einflussnahme der Sozialpartner. Einstmals politisch zentrale und informelle Gremien (zum Beispiel die Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen) verloren an Bedeutung. Dies hat die Politikwissenschaft in Österreich vielfach analysiert.32 Die Bildung der Mitte-Rechts-Regierung von ÖVP und Freiheitlicher Partei Österreichs (FPÖ) im Jahr 2000 stellt den größten Einschnitt der Sozialpartnerschaft dar  : Gerade in den ersten Jahren kam es zu einer deutlichen Zurückdrängung der politischen Einflussnahme und zu einem Rückgang der Gestaltungs32 Siehe vor allem  : Karlhofer, Ferdinand/Tálos, Emmerich (2000), Sozialpartnerschaft unter Druck. Trends und Szenarien, in  : Die Zukunft der österreichischen Demokratie. Trends, Prognosen und Szenarien, hg. v. Anton Pelinka/Fritz Plasser/Wolfgang Meixner, S. 381–402  ; Karlhofer, Ferdinand/Tálos, Emmerich (2006), Sozialpartnerschaft am Abstieg, in  : Schwarz-Blau. Eine Bilanz des »Neu-Regieren«, hg. v. Emmerich Tálos, Wien, S. 102–116  ; Tálos/Stromberger 2005, 2004, Traxler, Franz (1996), Sozialpartnerschaft am Scheideweg  : Zwischen korporatistischer Kontinuität und neoliberalem Umbruch, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 22, Heft 1, S. 13–33  ; Karlhofer, Ferdinand (2005), Verbände  : Mitgliederorientierung und strategische Neuausrichtung, in  : Sozialpartnerschaft. Österreichische und Europäische Perspektiven, hg. v. Ferdinand Karlhofer, Emmerich Tálos, Wien/Münster, S. 7–35  ; Karlhofer, Ferdinand/Emmerich Tálos (2006), Sozialpartnerschaft am Abstieg, in  : Schwarz-Blau, hg. v. Emmerich Tálos, Wien, S. 102–116  ; Tálos 2006, 2015  ; Tálos, Emmerich/Stromberger, Christoph (2004), Verhandlungsdemokratische Willensbildung und korporatistische Entscheidungsfindung am Ende  ? Einschneidende Veränderungen am Beispiel der Gestaltung des österreichischen Arbeitsrechtes. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 33 (2), S. 157–174  ; Tálos/Stromberger (2005) und Infobox 2.

301

302

| 

Tobias Hinterseer

potentiale der Sozialpartnerschaft. Bekannte Muster des »Politikmachens« der 2. Republik in Österreich lösten sich auf. 10.2.10 Wiederaufschwung und erneute Zäsur Nach dieser Phase der Zurückdrängung kam es ab 2002 zu einem Wiederaufschwung und zu einer Stärkung der sozialpartnerschaftlichen Macht- und Einflussmöglichkeiten. Gerade im Zuge der Banken- und Finanzkrise positionierte sich die Sozialpartnerschaft als wichtiger Player und aktiver Akteur  : Es gelang eine in Europa vergleichsweise gute Abfederung der Rezession durch eine Reihe von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Initiativen, wie etwa die Einführung der Kurzarbeitsmaßnahmen.33 Diese Maßnahmen wurden von der Sozialpartnerschaft angestoßen, verhandelt und auch zum Teil koordiniert. Mit der neuen ÖVP-FPÖ Regierung ab Ende 2017 tritt das traditionelle sozialpartnerschaftliche System erneut in eine Phase der massiven Zurückdrängung. Die Sozialpartnerschaft bleibt auf die Lohnfindung beschränkt – und selbst hier zeigt sich ein gestiegenes Konfliktpotential.34 10.3 Totgesagte leben länger. Oder  : Warum ist die Sozialpartnerschaft noch da  ? Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Sozialpartnerschaft. Schon seit den 1980er Jahren wird darüber diskutiert, ob sie in einer Krise, am Abstieg oder sogar am Ende sei.35 Trotzdem ist die Sozialpartnerschaft noch immer ein wichtiger Faktor des politischen Systems in Österreich  : Warum ist das so  ?

33 Eichhorst, Werner/Weishaupt, Timo. J. (2013), Mit Neo-Korporatismus durch die Krise  ? Die Rolle des Sozialen Dialogs in Deutschland, Österreich und der Schweiz.IZA Discussion Paper, Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, IZA DP No. 7498  ; Flecker/Hermann 2015. 34 Tálos/Hinterseer (2019). 35 Traxler, Franz (1987), Klassenstruktur, Korporatismus und Krise. Zur Machtverteilung in Österreichs »Sozialpartnerschaft« im Umbruch des Weltmarktes, in  : Politische Vierteljahresschrift 28, 59–79  ; Peter Gerlich, et al. hg. v. Sozialpartnerschaft in der Krise, Wien.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

10.3.1 Akkordierungs- und Koordinierungsmuster Damit die Sozialpartnerschaft ihren Aufgaben nachkommen kann, braucht es eine Reihe von stabilen Abstimmungs- und Koordinierungsmustern. Sozialpartnerschaftliche Akteure folgen Pfadabhängigkeiten und orientieren sich in ihrem Handeln stark an Erwartungssicherheiten. Was heißt das  ? Politische Entscheidungsprozesse sind für alle Akteure (Ministerien, Parteien, Regierung, Sozialpartner) weitgehend planbar. Dabei haben sich spezielle Spielregeln, Abläufe, Identitäten und Mentalitäten herausgebildet, um die politischen Einflussnahmen zu erhalten. Begünstigt wurde dies durch die langen, politisch stabilen Phasen der Großen Koalition zwischen den Sozialdemokraten und der Volkspartei in der 2. Republik. Doch die Hochphase der Sozialpartnerschaft erstreckte sich auch über eine 13jährige Alleinregierung unter einem SPÖ-Kanzler in den 1970er Jahren. Noch immer bestehen große Einfluss-Spielräume für die Sozialpartner.36 So verabschiedete die Große Koalition in Abstimmung mit den Sozialpartnern eine Reihe von Gesetzen, die in einem europäischen Kontext von Rezession, Sparpolitik und Sozialabbau zu beurteilen sind  : Etwa die Verabschiedung von Konjunkturpaketen, die Einführung einer bundesweit geregelten »Bedarfsorientierten Mindestsicherung«, einer Steuerreform oder die Verabschiedung des »Sozial-und Lohndumpinggesetzes«. 37 10.3.2 Politische Verflechtung Dafür sind personelle Verflechtungen von Sozialpartnern, NationalrätInnen sowie und MinisterInnen38 eine wichtige Bedingung. So sind etwa in der XXVI.  Gesetzgebungsperiode rund ein Fünftel der Abgeordneten zum Natio36 Karlhofer, Ferdinand (2007), Filling the Gap  ? Korporatismus und neue Akteure in der Politikgestaltung. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 36, Heft 4, S.  389–403  ; Tálos, Emmerich (2015), Austrokorporatismus zwischen Kontinuität und Veränderung – EU-Beitritt als ein Bestimmungsfaktor für Veränderungen, in  : Politische Ökonomie Österreichs – Kontinuitäten und Veränderungen seit dem EU-Beitritt, hg. v. BEIGEWUM, Wien, S. 176–197  ; Tálos, Emmerich (2008), Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor in der Zweiten Republik, Wien  : Studienverlag. 37 Hinterseer, Tobias (2017), Totgesagte leben länger  : Stabilität und Kontinuität der Sozialpartnerschaft in Österreich, in  : Momentum Quarterly 6, Heft 1, S. 28–46. 38 siehe hierfür etwa  : Ennser-Jedenastik, Laurenz (2017), Die personelle Verflechtung zwischen Sozialpartnern und Bundesregierung in Österreich, 1945–2015, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 45, Heft 3, S. 29–44.

303

304

| 

Tobias Hinterseer

nalrat einem der vier Sozialpartnern zuzuordnen.39 Dies garantiert eine hohe Beständigkeit (Kontinuität) und Stabilität des sozialpartnerschaftlichen Einflusses. Durch diese politische Verflechtung der Kammern und der Gewerkschaft, der Parteien und dem Parlament haben die wichtigsten Interessensgruppen einen zentralen Zugang zur Gesetzgebung und zur Staatstätigkeit, was als Erklärungsansatz für den ausgeprägten sozialen Frieden in Österreich gesehen werden kann. Diese Verflechtung40 führt aber auch zu einer Vermischung von Interessen beziehungsweise kommt es zu Interessenkonflikten  – etwa zwischen Nationalratsmandat und Kammerinteresse. 10.3.3 Starke Verbände, schwaches Parlament  ? Mit der finanziellen Unabhängigkeit und Stabilität der Verbände (hier vor allem der Kammern) wurde und wird die schlechte finanzielle Ausgestaltung des Parlaments beziehungsweise der Nationalratsklubs ausgeglichen. Dies darf man sich nicht so vorstellen, dass hier finanzielle Zuschüsse zu den Klubs, den Mandatarinnen und Mandataren und den Ausschüssen fließen. Der Ausgleich findet durch die Bereitstellung von fachlicher und politischer Expertise für die Arbeit im Parlament statt. Die Verbände  – allen voran Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer – »kompensieren« hier also eine Schwäche des Parlaments in Österreich. Daran hängen aber Probleme  : Die große Koalition war die dominierende Koalitionsform in der 2. Republik. Und über viele Jahrzehnte waren SPÖ und ÖVP stimmenmäßig die wichtigsten Parteien. Durch die Verbindungen zu den jeweils nahestehenden Verbänden entwuchs auch kein großes Interesse, diese Schieflage in der finanziellen Ausgestaltung des Parlaments zu ändern. Dies half mitunter, den politischen Einfluss stabil zu halten.41 Die abnehmende Stärke der Großparteien42 führte  – zumindest vorübergehend  – auch zu einer stärkeren Abhängigkeit dieser von den Verbänden be39 Siehe Tálos/Hinterseer (2019). 40 Ennser-Jedenastik (2017). 41 Auch jene Parteien, die für ein Ende der jetzigen Gestaltung der Kammern eintreten, fordern keine finanzielle Aufwertung des Parlaments. 42 Die Dominanz und Festigung der politischen Machtbasis der beiden Großparteien wurde auch durch den Proporz auf vielen Ebenen des politischen Systems – vor allem auf Bundesländerebene – verfestigt. Mit der größeren Vielfalt der Parteienlandschaft und durch Druck der immer stärker und wichtiger werdenden Oppositionsparteien wurde dieses Proporzsystem aus einer demokratiepolitischen Sicht als nicht mehr zeitgemäß definiert und ist nun größtenteils abgeschafft.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

ziehungsweise den Sozialpartnern  : Sie sind finanziell abgesichert, machen politische Grundlagenarbeit und genießen, verglichen mit den Parteien und der Regierung, eine hohe Anerkennung in der Bevölkerung43. 10.3.4 Warum greifen Regierungen auf korporatistische Strukturen zurück  ? Dafür gibt es mehrere Gründe  : • Die Sozialpartner genießen einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft.44 Dies geht über die typischen (partei-)politischen Trennlinien hinweg. Die Sozialpartner scheinen von der in den letzten Jahren feststellbaren Anti-Establishment- und Anti-System-Haltung kaum bis wenig davon betroffen gewesen zu sein. Die Regierungen und die Parteien leiden aber sehr stark unter diesem Vertrauensverlust. Daher wurden heikle und streitbare Themen den Sozialpartnern »übergeben«. Damit räumt man den Sozialpartnern eine starke Rolle beim politischen Willensbildungsprozess ein und gibt dabei gleichzeitig politische Macht ab. • Die Sozialpartner verfügen über die nötigen finanziellen und persönlichen Ressourcen, um brauchbare Lösungen auszuarbeiten. • Die Sozialpartner haben über Jahrzehnte Problemlösungskompetenzen entwickelt  : Unterschiedlichste Interessenslagen können zu einem konsensualen Abschluss gebracht werden. • Die Sozialpartner sind zur Sicherung ihres Einflusses sehr stark an der Planbarkeit von politischen Entscheidungsprozessen interessiert. Kurzfristige »Gewinne« beziehungsweise Erfolge gegenüber dem politischen Gegner werden mittel- und langfristig als negativ angesehen. • Die Sozialpartner  – allen voran die Wirtschaftskammer und der Gewerkschaftsbund – haben durch die Aushandlung der Kollektivverträge eine starke Stellung für das politische System  : Lohnpolitik wird nicht auf einer politischen Ebene gemacht. Mit anderen Worten  : Es gibt keinen gesetzlich geregelten Mindestlohn außerhalb kollektivvertraglicher Vereinbarungen. Somit ist der Mindestlohn relativ unabhängig von den jeweiligen Regierungsmehrheiten. • In Zeiten von unpopulären politischen Maßnahmen als Folge von Sparpolitiken bietet eine Abstimmung mit Sozialpartnern den Regierungen Legitimationshilfen, und Regierungen sind eher an einer Zusammenarbeit mit 43 OGM (2012–2016). Vertrauensindex, Wien. 44 Siehe SWS Rundschau (2005–2015).

305

306

| 

Tobias Hinterseer

sozialen Gruppen interessiert. Beispiele sind etwa die Sparpakte nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und im Jahr 2012 als Folge der europäischen Banken- und Finanzkrise.45 10.4 Sozialpartnerschaft in der Praxis  : Realverfassung Die Politikwissenschaft in Österreich hat in Bezug auf das politische System Österreichs immer wieder auf das Problem des Auseinanderklaffens zwischen Realund Formalverfassung verwiesen.46 Was hat die Sozialpartnerschaft damit zu tun  ? 10.4.1 Sozialpartnerschaft als Nebenregierung Ein zentraler Teil des sozialpartnerschaftlichen Einflusses liegt in der Gesetzgebung beziehungsweise im Gesetzgebungsprozess. Die Sozialpartnerschaft wird daher oft als »Nebenregierung«47 bezeichnet. Was ist damit gemeint  ? Gerade in den sozialpartnerschaftlichen Hochblütephasen (späte 1960er bis Mitte 1980er Jahre) entstand der Eindruck einer »Allmacht« der Sozialpartnerschaft  : Österreich wurde aus dieser Sichtweise nicht von demokratisch gewählten Orangen regiert, sondern in Hinterzimmern von den Präsidenten der Kammern und des ÖGB. Damit ist die Sozialpartnerschaft ein Teil der viel zitierten Realverfassung, die von der formalen Ausgestaltung abweicht (siehe auch Kapitel 7 in diesem Band). 10.4.2 Formale und reale Gesetzgebung In der formalen Gesetzgebung in Österreich spielt der Nationalrat eine zentrale Rolle. Gesetzgebung muss in Österreich über das parlamentarische Stadium hinaus analysiert werden. Hierbei zeigt sich, dass die Regierung in Verbindung mit 45 Baccaro, Lucio/Simoni, Marco (2008), Policy Concertation in Europe  : Understanding Government Choice, in  : Comparative Political Studies 56, Heft 3, S. 1323–1348  ; Afonso, Alexandre (2013), Social Concertation in Times of Austerity. European Integration and the Politics of Labour Market Reforms in Austria and Switzerland, Amsterdam University Press, Amsterdam  ; Afonso, Alexandre/Papadopoulos, Yannis (2013), Europeanization or Party Politics  ? Explaining Government Choice for Corporatist Concertation, in  : Governance 26, Heft 1, S. 5–29  ; Heinisch, Reinhard (1999), »Modernization Brokers–Austrian Corporatism in Search of a New Legitimacy«, in  : Current Politics and Economics of Europe 9, Heft 1, S. 65–94. 46 Stromberger 2005, Konrath, Christoph (2012), Parlamentarismus zwischen Recht und Politik, in  : Politik und Recht, Spannungsfelder der Gesellschaft, hg. Tamara Ehs u. a., Wien, 107–133. 47 vgl. z. B. Plasser, Fritz im ORF-Report Spezial »Geschichte der Sozialpartnerschaft«, 15.03.2015.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

den Ministerien eine zentrale Rolle einnimmt.48 Stellenweise verschwimmen die Grenzen zwischen Exekutive (Regierung) und Legislative (Nationalrat). Ein Beleg dafür ist die hohe Anzahl von Regierungsvorlagen im Vergleich zu Gesetzesinitiativen aus dem Nationalrat. Diese gelebte Realverfassung hängt durch das Einwirken auf den Gesetzgebungsprozess stark mit der Sozialpartnerschaft zusammen  : »Grundsätzlich lässt sich das Spezifikum der österreichischen Realverfassung mit dem lange Zeit hohen realpolitischen Stellenwert der sozialpartnerschaftlich involvierten Dachverbände erklären«.49 Die Verbände besitzen das Recht auf die Begutachtung von Gesetzesvorlagen, zur Einbringung von Vorschlägen in gesetzgebenden Körperschaften und zur Formulierung von Gesetzesentwürfen in ihren zentralen sozialpartnerschaftlichen Interessensbereichen. Dies sind vor allem das Arbeits- und Sozialrecht. 10.4.3 Sozialpartnerschaft in der Gesetzgebung Es gibt Gesetzesvorschläge, die von den Sozialpartnern (mit-)entwickelt werden. Bevor diese Vorschläge an die Regierung gehen, werden sie unter den Verhandlungspartnern abgestimmt (ein Beispiel ist etwa das sogenannte Anti-Lohnund Sozialdumping-Gesetz). Diese Gesetze kommen dann in der Regel als Regierungsvorlage aus dem Ministerrat in den Nationalrat. Hierfür wird oft der Begriff »Akkordierung« verwendet. Oft wurden strittige, komplexe Themenbereiche, bei denen die Regierungsparteien keine Einigung erzielen können, an die Sozialpartner »ausgelagert«. Sie erarbeiten dann eine konsensuale Lösung. Diese ist dann im Idealfall schon mit der Regierung und den Ministerien abgestimmt (ein Beispiel ist etwa das Gesetz zur »Abfertigung Neu«). Durch die Möglichkeit der Begutachtungen von Gesetzesvorschlägen auf nationaler Ebene als auch Landesgesetzen finden die Standpunkte der Sozialpartner dann über politische Netzwerke in unterschiedlicher Ausprägung Eingang ins Parlament (etwa in die Ausschüsse). Die sozialpartnerschaftliche Einbindung kann aber auch stark zurückgedrängt werden. Möglichkeiten sind Initiativan­träge,50 die 48 Sickinger, Hubert (2002), Zur Demokratiequalität des österreichischen Parlamentarismus, in  : Demokratiequalität in Österreich. Zustand und Entwicklungsperspektiven, hg. v. D ­ avid F. J. Campbell/ Christian Schaller, S. 47–67. 49 Tálos/Stromberger (2005). 50 Ein Initiativantrag ist ein Selbständiger Antrag von Abgeordneten, der einen Gesetzesvorschlag beinhaltet. Er muss von mindestens fünf Abgeordneten unterschrieben sein und bestimmte for-

307

308

| 

Tobias Hinterseer

Festsetzung äußerst knapper Begutachtungsfristen und eine Nicht-Berücksichtigen der Sozialpartner in der vorparlamentarischen Interessensabstimmung. Ein prägendes Beispiel ist die Pensionsreform im Jahr 2003. Aktuelle Beispiele sind etwa die Novelle zum Arbeitszeitgesetz sowie die Reformierung der Sozialversicherung im zweiten Jahr der Regierung Kurz. 10.4.4 Der vorparlamentarische Raum Viele Entwürfe werden in den Ministerien ausgearbeitet, wobei Interessensverbände die Möglichkeit der Stellungnahme haben. Bevor diese Ausarbeitungen in den Ministerrat kommen, finden im vorparlamentarischen Raum vielfältige und vielschichtige Abstimmungspraktiken zwischen den Sozialpartnern, den Ministerien und den politischen Parteien im sogenannten vor- oder außerparlamentarischen Raum statt. Die Positionen sind durch den interessenspolitischen Auftrag meist bekannt, das Zustandekommen der (konsensualen) Entscheidungen und vor allem der Einfluss auf den Gesetzesentwurf sind schwieriger nachzuzeichnen. Die Abstimmung der Inhalte passiert auch nicht immer gleich  : Manchmal koordinieren sich nur die Verbände untereinander (bipartistisch) oder aber die Verbände mit der Regierung beziehungsweise den Ressorts (tripartistisch).51 Der Mythos der Allmacht (»Ohne Sozialpartner geht in Österreich nichts«, »es gibt kein Gesetz, das nicht die Sozialpartner beeinflusst haben«) kann hier nicht bestätigt werden.52 Fachlich spezialisierte Abgeordnete, BereichssprecherInnen, Klubobleute sowie Ministerialbeamte nehmen hier auch eine wichtige Rolle ein.53 10.4.5 Kritik am vorparlamentarischem Raum Die Kritik am vorparlamentarischen Raum lautet  : Sozialpartner entwickeln Gesetze informell in Hinterzimmern, die einfach von der jeweiligen Regierung (beziehungsweise im Ministerrat und dann über die Ausschüsse ins Plenum des male Voraussetzungen erfüllen (parlament.gv.at., Glossar). 51 Tálos, Emmerich/Bernhard Kittel (1999), Sozialpartnerschaft und Sozialpolitik, in  : Zukunft der Sozialpartnerschaft, hg. v. Ferdinand Karlhofer/Emmerich Tálos, Wien, S. 136–164. 52 Siehe auch  : Tálos/Hinterseer (2019). 53 Tálos/Kittel (2001)  ; Sickinger, Hubert (2000), Die Funktion der Nationalratsausschüsse im Prozess der Bundesgesetzgebung, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 29, Heft 2, S. 157–176.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

Nationalrats) »blind« übernommen würden. Dies führe zu einer Aushöhlung der parlamentarischen Kompetenzen. Trotz des unbestrittenen Spielraums politischer Einflussnahme außerhalb des parlamentarischen Protokolls durch die Sozialpartner bleibt es doch noch immer der Regierung und den parlamentarischen Gremien frei, dies zu verwerfen oder abzuändern.54 Die Politikwissenschaftler Bernhard Kittel und Emmerich Tálos55 haben in ihrer umfangreichen Analyse von Gesetzgebungsprozessen gezeigt, dass es diesen Beschluss-Automatismus und die Allmacht der Sozialpartner in dieser Form nie gegeben hat. Ein nachweislicher Einfluss zeigt sich in den zentralen Politikbereichen Wirtschaft, Arbeit (vor allem Arbeitsrecht und Arbeitszeit) und Soziales. Doch auch hier ist dieser Einfluss unterschiedlich stark ausgeprägt und verschiedenen politischen Rahmenbedingungen geschuldet  – oder manchmal auch kaum oder gar nicht vorhanden. »Der bisherige Befund über die Rolle des Nationalrats als Gesetzgeber ist unter dem Gesichtspunkt der Demokratiequalität zumindest im Grundsatz nicht wirklich problematisch  : In politisch wichtigen Materien können die Abgeordneten und Parlamentsklubs der Regierungsparteien durchaus ihre Führungsaufgabe wahrnehmen.«56 10.4.6 Sozialpartnerschaftliche Super Power 1  : Konsensfindung Verbände bewegen sich ständig im Spannungsfeld zwischen Interessensvertretung und Verhandlungszwängen. Mit anderen Worten  : Sie vermitteln laufend zwischen einer Verbändelogik und Mitgliederlogik  : Bei der ersten spielt die Aufrechterhaltung eines planungssicheren Raumes für politische Prozesse die zentrale Rolle. Bei der Mitgliederlogik hingegen orientiert sich die Verhandlungsstrategie daran, ein Maximum an Forderungen der eigenen Mitglieder durchzusetzen. Dabei zeigt sich  : Je mehr die Verbände öffentliche Aufgaben erfüllen, desto schwieriger wird die Bindung an ihre Mitglieder. Doch Verbände sind in der Lage, durch bekannte Muster der Kooperation Konflikte zwischen unterschiedlichen (sozialen) Gruppen beizulegen und gemeinsame Interessen herausauszuarbeiten.57 54 Sickinger (2002). 55 Tálos/Kittel (2001). 56 Sickinger 2002, S. 5. 57 Streeck, Wolfgang (1999), Verbände als soziales Kapital  : Von Nutzen und Nutzung des Korporatismus in einer Gesellschaft im Wandel, in  : MPlfG Working Paper, 99 (2).

309

310

| 

Tobias Hinterseer

Diese beiden Logiken machen die schwierige und vielschichtige Rolle von Verbänden deutlich  : Verbände sind doppelt eingeschränkt  : nach innen müssen die Mitglieder mit den Ergebnissen zufrieden sein, nach außen muss mit dem wirkmächtigen Gegenübern einen Konsensfindung erzielt werden. Dieses Spannungsfeld gewährleistet einen ständigen internen und externen Austausch der PartnerInnen, der die Konsenslösungen aller Beteiligten zum Ziel hat, ohne dabei jedoch die Interessensgegensätze zu vergessen. Die Sozialpartnerschaft besitzt somit eine (für die vorparlamentarische Arbeit) zentrale Fähigkeit  : Bei oft weit auseinanderliegenden Präferenzen der einzelnen AkteurInnen sind kollektive Handlungen und Entscheidungsfindungsprozesse möglich. Die Sozialpartnerschaft besitzt eine Klammerfunktion, diese politischen Konflikte in eine Logik kollektiver, konsensorientierter Entscheidungsfindung zu führen. Mit anderen Worten  : Sie ist eine Art Schiedsrichterin und Mediatorin zwischen weit auseinanderliegenden Interessen. 10.4.7 Sozialpartnerschaftliche Superpower 2  : Verpflichtungsfähigkeit Die Sozialpartnerschaft folgt also einem Grundkonsens  : Unterschiedliche Interessen sollen einer gemeinsamen Lösung zugeführt werden. Mitunter genauso wichtig ist die Verpflichtungsfähigkeit der Verbände und der AkteurInnen  : Durch die Einbindung der AkteurInnen in die Verhandlungen, werden sie verpflichtet, diese auch einzuhalten. So gibt es etwa kein Interesse der Verbände, aus geschlossenen Kompromissen auszuscheren  – etwa um mediale Präsenz zu erlangen. Beispiele sind Kollektivvertragsverhandlungen oder arbeitsrechtliche Gegenstände wie etwa Abfertigungsregelungen oder Arbeitszeitflexibilisierungen. Bei geschlossenen Aushandlungs-Ergebnissen wird Einigkeit gezeigt. Auch wenn intern nicht immer alle eingebundenen Akteure mit dem Ergebnis zufrieden sind. In den zentralen Politikfeldern ist ein Politikmachen ohne die Einbindung des Gegenübers nur erschwert möglich und oft auch gar nicht erwünscht. Die Planungssicherheiten für politische Entscheidungsprozesse liefern ein starkes Argument dafür, lieber Zugeständnisse zu machen, als ohne konsensuelle Konsens-Basis Interessen durchzusetzen. Dazu kommt die Verflechtung der Sozialpartner mit den Parteien SPÖ und ÖVP  : Dies garantiert auch die Umsetzung der Übereinkünfte. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Verlagerung des Klassen- beziehungsweise Interessenkonflikts weg von der Straße in die Gremien. So wird in Österreich durchwegs nicht gestreikt, sondern verhandelt. Diese Form des konsens- und verhandlungsorientierten Arbeitskonflikts wurde internalisiert. Das

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

heißt  : Hieraus erwachsen Muster, Mentalitäten und Traditionen, die das politische Handeln zentraler politischer Akteure prägen. 10.5 Legitimität der Sozialpartnerschaft Die Mitwirkung an der Gesetzgebung beziehungsweise dieser Einfluss auf die Gesetzgebung führte und führt immer wieder zur Diskussion über die rechtliche Verfasstheit der Sozialpartnerschaft und über ihre demokratische Legimitation. Die hierbei gestellte Frage lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen  : Passiert politische Einflussnahme außerhalb der verfassungsrechtlichen Legitimität  ? 10.5.1 Keine gesetzliche Verankerung der Sozialpartnerschaft In Bezug auf die Sozialpartnerschaft lässt sich vorneweg festhalten  : Es gibt keine gesetzliche Verankerung der Sozialpartnerschaft. In den 1950er Jahren gab es Bestreben, ein Wirtschaftsdirektorium als wirtschaftspolitisches Koordinierungsinstrument zu bilden. Damit wäre die Sozialpartnerschaft rechtlich verankert gewesen. Nach dem Scheitern dieses Vorhabens – auch aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken – gab es in der 2. Republik lange keine weiteren Initiativen mehr in diese Richtung.58 10.5.2 Gesetzliche Verankerung der Selbstverwaltung Erst im Rahmen des Verfassungskonvents (2003–2005) lebte die Diskussion um eine Verankerung der Sozialpartnerschaft in der Verfassung wieder auf. Nach langen Diskussionen wurde in einer Verfassungsnovelle (2008) festgehalten  : »Die Republik anerkennt die Rolle der Sozialpartner. Sie achtet deren Autonomie und fördert den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern«.59 Für den Verfassungsjuristen Korinek60 ist diese Entscheidung eine konsequente Fortsetzung jahrzehntelanger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes. Somit ist verfassungsmäßig klar festgestellt, dass der Gesetzgeber Selbstverwaltungskörper schaffen kann. Sie können weisungs58 Tálos/Hinterseer (2019). 59 Siehe Tálos (2015)  ; Tálos/Hinterseer (2019). 60 Korinek (2014).

311

312

| 

Tobias Hinterseer

frei auf Basis verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung Satzungen erlassen. Dies sichert die nötigen Autonomien, setzt aber auch Regeln  : So kann etwa die Arbeiterkammer nicht selbst die Höhe der Pflichtbeiträge festsetzen. Weitere Vorgaben sind (anlehnend an Korinek)  :61 • alle Organe müssen nach demokratischen Grundsätzen gebildet werden und • eine sparsame Aufgabenerfüllung aufweisen • es gilt das Legalitätsprinzip (staatliche Verwaltung darf nur aufgrund von Gesetzen ausgeübt werden) und sie müssen • dem Staat Aufsichtsrechte zugestehen (zum Beispiel Überprüfung durch den Rechnungshof ) 10.5.3 Sozialpartnerschaft und Verfassung Die Sozialpartnerschaft muss ein »besonderes Demokratiesystem«62 aufweisen, um verfassungskonform zu sein. Die demokratischen Wahlen der Organe und eine Reihe von Kontrollmechanismen der Verbände genügen diesem Prinzip. Diese Bedingungen für die Verbände unterscheiden sie von klassischen Lobbygruppen. Durch die Anerkennung der Sozialpartnerschaft in der Verfassung wird die oft beklagte vom »Verfassungstext abweichende Realverfassung, in der die Sozialpartner eine besondere Rolle übernommen hätten«63 festgeschrieben. Mit anderen Worten  : Die Verfassungsnovelle erkennt die von der Sozialpartnerschaft geschaffene Verfassungswirklichkeit an – bestehende Judikatur wurde also kodifiziert.64 Diese Änderungen im Verfassungstext bedeuten aber keineswegs eine Verankerung der Sozialpartnerschaft. Festgeschrieben wurde nicht das sozialpartner61 Die Selbstverwaltung der Kammern ist verfassungsrechtlich vorgesehen und klar begrenzt. Jede abweichende Auslegung würde demnach das parlamentarische Regierungssystem »im Kern treffen« (Pernthaler 1994, S.  41). Somit stellt die Selbstverwaltung beziehungsweise die »Repräsentation organisierter Interessen« ein verfassungsmäßiges Demokratiesystem dar und ist unter folgenden zentrale Voraussetzungen mit der »repräsentativen Staatsdemokratie« vereinbar  : (i) Gesetzesbindung der Selbstverwaltung, (ii) Staatsaufsicht, (iii) Beschränkung des autonomen Wirkungsbereichs auf die Besorgung der eigenen Aufgaben der Mitglieder. (Pernthaler, Peter (1994). 62 Pernthaler, Peter (1994), Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich aus der Sicht des öffentlichen Rechts, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich  ; Schriftenreihe Arbeit-Recht-Gesellschaft, hg. v. Pernthaler u. a. Wien, S. 19–91. 63 Korinek (2014). 64 Korinek (2014)  ; Öhlinger (2008).

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

schaftliche Muster, sondern nur »eine seiner Voraussetzungen«65. Die Freiwilligkeit der Sozialpartnerschaft bleibt also weiterhin eine zentrale Grundbedingung. Dafür ist eine hohe und beständige öffentliche Akzeptanz der Verbände im Speziellen und der Sozialpartnerschaft im Allgemein notwendig. Wenn die Verfasstheit der Pflichtmitgliedschaft einen Austritt nicht möglich macht, dann ist die Wahlbeteiligung66 laut Karlhofer »einziger Indikator für eine Bewertung der Legitimität«.67 Die formale Struktur sowie die Größe (Anzahl der Mitglieder) wirken sich positiv auf die äußere demokratische Legimitation aus. 10.5.4 Gesetzliche Mitgliedschaft Alle Beschäftigten68 leisten einen verpflichtenden Beitrag zu den Kammern. An dieser Verpflichtung entzünden sich immer wieder politische Diskussionen, um eine Umstellung auf eine freiwillige Mitgliedschaft oder um eine Kürzung der Kammerbeiträge. Letzteres betrifft vor allem die Arbeiterkammer, die aktuell 0,5 Prozent69 des Bruttolohns der Beschäftigten einhebt. Die Selbstverwaltung der Kammern ist eine zentrale, demokratisch legitimierte Voraussetzung der Sozialpartnerverbände. Die Grundlage dieser Selbstverwaltung ist die Pflichtmitgliedschaft (durch eine Reihe von Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs bestätigt)70. Damit ist gewährleistet, dass nicht einzelne Interessen unter Androhung des Austritts andere gemeinsame Interessen verdrängen. Diese Berücksichtigung von Teilinteressen findet sich also in der österreichischen Verfassung durch die Selbstverwaltung wieder. Dafür ist die Pflichtmitgliedschaft eine Grundbedingung. Durch die Wahrnehmung öffentlicher 65 Tálos, Emmerich (2012), Sozialpartnerschaft  : ein rechtlich nicht verankerter Mitgestaltungsfaktor österreichischen Rechts, in  : Politik und Recht, Spannungsfelder der Gesellschaft, hg. v. Tamara Ehs u. a., Wien, 195–215. 66 Für die Entwicklungen der Wahlbeteiligungen in den Kammern siehe auch  : Tálos/Hinterseer (2019)  ; Zu den Arbeiterkammerwahlen siehe zum Beispiel  : Oberhuber, Florian u. a. (2014), Arbeiterkammerwahlen in Österreich 1949–2014, in  : SWS-Rundschau, 4/2014, S. 385–401. 67 Karlhofer, Ferdinand (1994), Dienstleistungsbetrieb oder kollektive Interessenvertretung  ? Probleme der Loyalitätssicherung am Beispiel der Arbeiterkammern, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich, hg. v. Pernthaler u. a.; Schriftenreihe Arbeit-Recht-Gesellschaft, Wien, S. 109. 68 Ausgenommen sind vor allem Beamte und einige kleinere Beschäftigungsgruppen. 69 Dies erfolgt bis zur jeweils aktuellen Höchstbemessungsgrundlage. Die Wirtschaftskammern haben in den letzten Jahren unterschiedliche Senkungen der Beiträge vollzogen. 70 siehe zum Beispiel Korinek (2014).

313

314

| 

Tobias Hinterseer

Aufgaben (etwa Mitwirkung an der Gesetzgebung, Mitwirkung an den Sozialgerichten und auch an der Staatsverwaltung) handeln die Sozialpartner im Sinne eines gesellschaftlichen Gemeinwohls. Dafür braucht es auch einen demokratisch legimitierten internen Interessensausgleich. Hier bietet die Pflichtmitgliedschaft eine wichtige Funktion  : Einzelinteressen müssen integriert werden, können aber nicht durch einen Austrittsdruck das Ganze aushebeln. Daneben ist das Trittbrettfahren der erzeugten »Kollektivgüter« nicht möglich. Gerade bei der Lohnpolitik haben Sonderinteressengruppen (Lobbyverbände) keinen Anreiz, nach gesellschaftlichen Gemeinwohlprinzipien zu agieren. So machen Verbände begreifbar, dass Verhandlungen keine Nullsummenspiele sind. Verhandlungsergebnisse mit langfristigen Planungsperspektiven können sichergestellt werden.71 Die Pflichtmitgliedschaft kann einerseits demokratieproblematisch angesehen werden, da hierdurch ein Zwangscharakter und quasi eine Nichtaustrittsmöglichkeit vorherrscht. Außerhalb der Sozialpartnerschaft agierende Parteien (etwa NEOS und FPÖ) kritisieren in diesem Kontext die starke Verflechtung der Verbände mit einigen wenigen politischen Parteien und drängen stark auf eine Abschaffung der Pflichtmitgliedsbeiträge der Kammern.72 Demokratietheoretisch gesehen kann diese hingegen auch gerechtfertigt werden, da in Analogie zu den Gebietskörperschaften auch hier verpflichtende Beiträge den Selbstverwaltungskörper überhaupt erst möglich machen.73 10.5.5 Selbstverwaltung als demokratisches Prinzip Demokratie kann somit als Verhältnis zwischen den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern und dem einheitlichen Staatswillen gesehen werden  : Daneben gibt es aber auch die schon angesprochenen legitimen Teilinteressen in Gesellschaften, wie etwa die Interessen von Bewohnern bestimmter Regionen oder eben Berufsgruppen.74 Verbände sind somit Mittler zwischen Staat und Gesellschaft. Mit 71 Mesch, Michael (2002), Pflichtmitgliedschaft in den Arbeiterkammern, in  : Wirtschaft und Gesellschaft, 28/2002, S. 63–82. 72 Zum Thema Kritik an der Pflichtmitgliedschaft siehe  : Tálos/Hinterseer (2019). 73 Pelinka (1994). 74 Brünner verwendet für die Akteure der Sozialpartnerschaft den Begriff »intermediäre Gruppen«  : Brünner, Christian (1980), Die Rolle der Interessensverbände im politisch-administrativen Entscheidungsprozeß. Grundriss einer Verbändelehre, in  : Phänomen Sozialpartnerschaft, hg. v. Gerald Schöpfer, Graz, S. 163–197.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

anderen Worten gibt es in Demokratien nicht nur den Gegensatz zwischen Individualität und Staat, sondern dazwischen liegen auch »(…) legitime Teilinteressen (…), deren Verfolgung und Integration eine Staatsaufgabe ist«.75 Aus dieser Sichtweise heraus ist die Sozialpartnerschaft und sind vor allem die Verbände sowie die Selbstverwaltung ein wichtiger Bestandteil einer pluralen Demokratie. 10.6 Sozialpartnerschaft  : Wie hast du’s mit der Demokratie  ? Die Sozialpartnerschaft ist trotz vieler Veränderungen noch immer ein wichtiger Teil des politischen Systems in Österreich  : Die Sozialpartner verweisen vor allem auf folgende Leistungen  :76 • Hohe Standards beim Arbeitsrecht • Schaffung des Arbeitsverfassungsgesetzes • Stark ausgebauter Sozial- und Wohlfahrtsstaat • stabiles Kollektivvertragssystem • Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit beziehungsweise starker sozialer Frieden • Übernahme vieler Verwaltungstätigkeiten des Staates • Bereitstellung von Kollektivgütern • Faktor für Verteilung, Ausgleich und Gerechtigkeit Bei all diesen Aspekten zeigt sich ein hohes Maß an Zweckmäßigkeit und Effizienz77 im Sinne einer Gemeinwohlorientierung. Diese basieren auf einem freiwilligen und informellen Zusammenschluss von Verbänden. Aus einer demokratiepolitischen Perspektive ergibt sich eine Reihe von Problemfeldern (»Dysfunktionalitäten«). Diese werden nun diskutiert. 10.6.1 Demokratiedefizite im Korporatismus  !  ? Für den Pluralismus sind durch Verbände organisierte Interessen Barrrieren des politischen Fortschritts. Sie entsprechen nicht einem fairen Wettbewerb unterschiedlicher Interessen in einem demokratischen und liberalen Aushandlungsprozess. Fehlende Konkurrenz führe aus einer pluralistischen Sichtweise 75 Korinek, Karl (2018), Die Kammern im staatsrechtlichen Ordnungsgefüge. Wiederabdruck aus WISO 2/1991, in  : WISO, 4/2018, S. 51–61. 76 Siehe Homepage der Sozialpartner  : sozialpartner.at. 77 Kopp (1980).

315

316

| 

Tobias Hinterseer

demnach zu Postenschacherei, Intransparenz und Demokratiedefiziten.78 In Österreich wird dies an der Sozialpartnerschaft und der Großen Koalition festgemacht. Die Frage nach der Definition und vor allem der Messung von Demokratie und Demokratiequalität ist ein schwieriges Unterfangen. So ist das Feld »(…) der Demokratietheorie ein pluralistisches und heterogenes« und kann als »multiparadigmatisch« begriffen werden.79 So zeichnet sich auch in der vergleichenden Demokratieforschung keine korporatistische Demokratietheorie ab. Vielmehr werden hier demokratiepolitische Probleme des Korporatismus diskutiert  : Verstöße gegen das Prinzip der politische Gleichheit aufgrund der Privilegierung bestimmter Verbände und daran hängende Schieflagen bei der Repräsentation und Partizipation.80 Auf der anderen Seite sind korporatistische Strukturen und die hierin agierenden Verbände überschaubar, die Interessen sind transparent und die meisten Handlungen sind nachvollziehbar. Kapital und Arbeit agieren annähernd auf Augenhöhe. Des Weiteren setzt Korporatismus immer die Verhandlungen mit den Kontrahentinnen und Kontrahenten voraus, Alleingänge sind quasi unmöglich. Ganz anders bei pluralistischen Systemen der Interessensdurchsetzung  : Hier zeigen sich augenblicklich die ungleichen Startvoraussetzungen zwischen Kapital und Arbeit.81 In einem rein pluralistischen System der Interessensdurchsetzung beeinflussen starke und finanziell gut ausgestattete Interessensgruppen auf intransparenten Kanälen Politik. Sie haben keine Verhandlungsverpflichtung mit dem politischen Gegenüber. Die Kosten und die Arbeitsweise pluralistischer Interessensartikulation sind um ein Vielfaches intransparenter als die des Korpora­tismus.82

78 Laut Reichenbachs und Nullmeier (2016) verstößt der Korporatismus gegen die Prinzipien politischer Gleichheit, Repräsentation und Partizipation  : Nicht alle Bevölkerungsgruppen werden im gleichen Ausmaß eingebunden, und die Interessensvermittlung erfolge durch Staat und Verbände, in deren Interaktion die einfachen Verbandsmitglieder ausgeschlossen sind. 79 Campbell, David F. J. (2012), Die österreichische Demokratiequalität in Perspektive, in  : Die österreichische Demokratie im Vergleich, hg. v. Ludger Helms/David M. Wieneroither, Baden-Baden, S.293–315, hier S. 294. 80 Siehe hier etwa  : Reichenbachs/Nullmeier (2016). 81 Dieses Ungleichgewicht findet auch im Arbeitsrecht seinen Ausdruck. 82 Czada (2004) anerkennt das Problem, in dem er den Korporatismus als »zweitbeste Lösung« sieht  : Czada, Roland (2004), Konjunkturen des Korporatismus  : Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung, in  : Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 25, hg. v. W. Streeck, S. 37–63  ; siehe auch Hinterseer (2018).

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

10.6.2 Korporatismus als Ausgleich In der öffentlichen politischen Debatte werden dem korporatistischen Modell der Sozialpartnerschaft oft Eigenschaften wie starr, reformverhindernd, antiquiert, die Wirtschaft bremsend zugeschreiben. Man kann die Sozialpartnerschaft aber auch als Pfeiler gegen die Kapitalisierung der Gesellschaft und den »neuen Liberalismus«83 sehen. Der Korporatismus schafft aus dieser Betrachtungsweise ein stabiles Gleichgewicht in den Arbeitsbeziehungen sowie eine starke politische Teilhabe von sonst benachteiligten und schlecht vertretenen Gruppen. Korporatismus wird so als ein mögliches Gegenmodell zum Neo-Liberalismus gesehen.84 Die Bewältigung von wirtschaftlichen Krisen – etwa nach den bereits erwähnten Ölpreisschocks in den 1970er Jahren als auch bei der Abfederung der Auswirkungen der letzten Finanz-, Banken-, und Eurokrise – funktioniert in korporatistisch orientierten politischen Systemen sozial verträglicher als in liberalen/ pluralen.85 Ein Stichwort hierzu sind die Kurzarbeitsmaßnahmen (2008/2009). 10.6.3 Sozialpartnerschaft als Modernisierungs-Brokerin Nicht nur die gute Krisenbewältigung ist ein Feature des Korporatismus, sondern auch die hohe Transformationskompetenz des neoliberalen Mainstreams in Österreich. Anders formuliert  : Liberalisierung, Deregulierung, Flexibilisierung und Sparmaßnahmen finden auch in Österreich statt. Sie wurden und werden jedoch gefiltert und gemanagt von der Sozialpartnerschaft, und die negativen Auswirkungen konnten besser abgebremst werden als in anderen abgebremst werden. Reinhard Heinisch hat dies mit dem Begriff »modernization broker« beschrieben.86 So gibt es etwa keinen Niedriglohnsektor und Einschnitte im Sozialstaat wie etwa in Deuschland. Ein Beispiel hierfür sind etwa da Anti-Lohn- und Sozialdumping Gesetz (2011). So konnte trotz intensivem externen Drucks ein vergleichsweise hoher sozialer Standard sowie politischer Frieden erhalten bleiben.

83 Streeck (1999). 84 Der Neo-Korporatismus ist aus dieser Sichtweise dann keine Herrschaft nicht-legitimierter politischer Institutionen, sondern »(…) eine erwünschte Option sozialer und politischer Steuerung«  : Czada (2004), S. 38. 85 Zur Banken- und Finanzkrise und Korporatismus  : Siehe Eichhorst/Weishaupt (2013). 86 Siehe zum Beispiel  : Heinisch (1999).

317

318

| 

Tobias Hinterseer

10.6.4 Sozialpartnerschaft als Koordinatorin Für kleine Staaten geht es wirtschaftspolitisch darum, sich auf Marktnischen zu spezialisieren und Bereiche hoher Wertschöpfung zu bedienen. Dies bedarf der Organisation einer Wertschöpfungskette und der Zusammenarbeit öffentlicher Stellen und privater Firmen. Die Sozialpartnerschaft übernimmt hier eine entscheidende Koordinationsrolle, wenn es etwa darum geht, Spezialistinnen und Spezialisten auszubilden (Stichwort duale Ausbildung) und ein gegenseitiges Übervorteilen zu verhindern.87 Innerhalb des Rahmens der Europäischen Union sind den formalen Steuerungselementen der Regierung enge Grenzen gesetzt. Die Sozialpartnerschaft kann hier verdeckter agieren, etwa bei der Lastenverteilung innerhalb regionaler Wirtschaftscluster – ein Beispiel ist das Autocluster in der Steiermark. 10.6.5 Informell, eigenständig, intransparent Durch die beschriebenen Rahmenbedingungen entwickelten sich in den Verbänden Expertisen und Kompetenzen, welche die eigenständige Macht stärken und den Grad des politischen Einflusses erhöhen. Die einigen exklusiven Mitgliedern vorbehaltene sowie auf Freiwilligkeit und Informalität basierende Elitenkooperation wurde aus einer demokratiepolitischen Sicht oft kritisiert88. Diese Spezialisierungen und Wissensstände entlasten die Verwaltung und staatliche Behörden massiv. Gerade in der Gesetzwerdung in schwierigen Materien kann die Sozialpartnerschaft so dazu beitragen, dass Konflikte erst gar nicht entstehen. Falls doch, besteht dann die Möglichkeit, dass sie von Betroffenen eigenständig gelöst werden können.89 10.6.6 Staatstheoretische Demokratiekritik Demokratiepolitische Kritik an der Sozialpartnerschaft wurde sehr stark aus einer staatstheoretischen Sichtweise formuliert. Hier geht es um kritische Bewertungen des Verhältnisses des sozialpartnerschaftlichen Einflusses auf politische Entschei87 Traxler nennt dies Angebotskorporatismus, siehe  : Traxler, Franz (1993), Vom Nachfrage- zum Angebotskorporatismus  ? in  : Tálos, Emmerich Sozialpartnerschaft- Kontinuität und Wandel eines Modells, Wien, S. 103–116. 88 Siehe etwa Pelinka (1979)  ; Pelinka (1994)  ; Tálos (1996)  ; Knoll, Reinhold/Mayer, Anton (1976), Österreichische Konsensdemokratie in Theorie und Praxis. Staat, Interessensverbände, Parteien und die politische Wirklichkeit, Wien. 89 Kopp (1980), S. 49.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

dungen und vor allem auf Gesetzwerdungsprozesse. So wurde etwa auf den Unterscheid zwischen realer und formaler Verfassung hingewiesen. Vor allem auf die Gefahr einer Instrumentalisierung des Staates durch die Interessensverbände wurde aufmerksam gemacht. Dies hat sich aber gewandelt  : Die ansteigende Komplexität der Regierungs- und Verwaltungsaufgaben hat die staatliche Autorität veranlasst, teilweise vielschichtige und vor allem auch unangenehme Materien und Politikinhalte an Verbände und korporatistische Strukturen auszulagern. So zeigt sich nicht nur in Österreich ein Comeback korporatistischer Strukturen90. In dieser Lesart wird die Verfassung als »Rechtswegestaat« definiert, der einen formalen Rahmen der Staatswillensbildung vorgibt  : »D(d)ie Frage aber, welche gesellschaftlichen Gruppen und zu welchen Zwecke sie die Rechtswege nützen, wird von der Verfassung nicht beantwortet«.91 Korporatismus wird so als Garant zur Aufrechterhaltung der staatlichen »Problemlösungskapazität« definiert.92 Es sind nicht mehr die Verbände, welche die staatliche Autorität untergraben, sondern sie werden für die Interessen des Staates instrumentalisiert.93 10.6.7 »Keine radikale Demokratie demokratischer Utopisten« Die österreichische Demokratie ist »keineswegs die radikale Demokratie demokratischer Utopisten«94. Gekennzeichnet ist sie durch verfassungs- und rechtsstaatliche Elemente und das liberale Prinzip. Dies beinhaltet den Schutz der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger. Um dies zu garantieren, braucht es ein kompliziertes System der Trennung und Aufteilung von Kompetenzen auf unterschiedliche Träger.95 Für den Verfassungsjuristen Korinek ist die Sozialpartnerschaft der »evolutionär-konservative Versuch«,96 dies zu erreichen. 10.6.8 Mittlerin zwischen Bürger und Staat Die Sozialpartnerschaft ist eine Mittlerin zwischen Bürgerinnen, Bürgern und dem Staat. Sie ist daher ein Faktor der politischen Willensbildung. »Wenn es Aufgabe des politischen Systems ist, Interessen, Forderungen und Unterstützun90 Hermann/Flecker (2015). 91 Korinek (1980). 92 Korinek (1980). 93 Prisching (1991). 94 Kopp (1980). 95 Kopp (1980). 96 Korinek (1980, 2014).

319

320

| 

Tobias Hinterseer

gen in Politik umzusetzen, (…) so bedingt dies Parteien und Verbände, welche (…) die unterschiedlichen Interessen vorsortieren, »bündeln«, organisieren und in geordneter Weise in den politischen Willensbildungsprozeß einführen. (…)«.97 Aus dieser Perspektive erfüllen Verbände wichtige Aufgaben moderner Demokratien  : Sie sind ein zentraler Gegenpol zu staatlicher Allmacht und reduzieren somit die Gefahr von tyrannischen Tendenzen.98 Die einzelnen Sozialpartnerverbände vertreten die Interessen von Gruppen. Hierbei orientieren diese sich zum einen an gesamtgesellschaftlichen Zielen wie etwa Wohlstand. Zum anderen stehen sie hier zwischen Zivilgesellschaft und Staat. So werden sie durch gewisse staatlich garantierte Rechte bevorzugt, sind aber von diesem unabhängig. Dieses Spannungsfeld zeigt sich etwa bei der Lohnpolitik  : Österreich kennt keinen gesetzlichen Mindestlohn, der Kollektivvertrag wird aber von Wirtschaftskammer und ÖGB autonom für rund 98 Prozent der Beschäftigten in Österreich verhandelt.99 10.6.9 Interessensgegensätze als Basis Ein Strukturelement des demokratischen politischen Systems in Österreich sind Interessensgegensätze, die es gilt auszugleichen. Die Sozialpartnerschaft zeichnet hier das »Kommittent« der Akteure, diesen Ausgleich gemeinsam zu verwirklichen. Diese Zusammenarbeit und der Kompromiss ist aber nicht die vorrangige Ordnung  : Dies ist vielmehr eine verbandsmäßige, durch gesetzliche Beschlüsse legitimierte (Stichwort Selbstverwaltung) Vertretung der Mitgliederinteressen gegenüber anderen Verbänden. Sie können die Interessenswahrnehmung gemeinsam wahrnehmen, müssen aber nicht. Mit anderen Worten  : Scheitert der Versuch der Konkordanz, ist auch Konkurrenzdemokratie möglich.100 10.6.10 Klassenlogik der Sozialpartnerschaft Die Sozialpartnerschaft entspringt einer Klassenlogik zwischen Kapital und Arbeit, deren immanenten Konflikte institutionalisiert beziehungsweise bürokratisiert wurden. Die starke Auslegung auf Kompromissfähigkeit und die Verla 97 Kopp (1980), S. 50.  98 Kopp (1980). 99 Für nähere Beschreibung sieh Tálos/Hinterseer (2019). 100 Korinek 1980).

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

gerung des Konflikts auf einen informellen Rahmen »hinter dem Schreibtisch« kann dem wichtigen Aspekt der Konkurrenz in demokratischen politischen Systemen entgegenstehen.101 Aus einer klassenkämpferischen beziehungsweise marxistischen Sichtweise102 führe dies zur Auflösung des Klassenbewusstseins und zu einem Akzeptieren des kapitalistischen Systems und der Herrschaft des Kapitals. Aus dieser Leseart ist die niedrige Streikrate kein Erfolg sozialpartnerschaftlichen Konsens, sondern eine negative Auswirkung. Diese Verlagerung zentraler gesellschaftlicher Konflikte »auf den Schreibtisch« wird für eine fortschreitende Entpolitisierung und Entideologisierung mitverantwortlich gemacht. (Neo-)korporatistische Systeme können aber auch als Klasseverhältnisse gelesen werden –sozusagen als Ersatz für eine Wirtschaftsdemokratie. In kaum einem anderen demokratischen politischen System findet sich eine ähnlich starke Vertretung von Arbeitnehmerinteressen. Tripartismus ist dann keine »Elitenherrschaft«. Vielmehr ist es ein soziales Gegenwicht zu Kapitalinteressen und ein Ansatzpunkt einer sozialen Demokratie. 103 10.6.11 Legitimationsqualität Betrachtet man die Legitimationsqualität, kann zwischen materialer und formaler Legimitation unterschieden werden.104 Bei letzterer stehen die formalen Rahmenbedingungen im Vordergrund, während es bei der materialen, und für die Sozialpartnerschaft zentralen, materialen Legitimation, »(…) auch um die Akzeptanz der sozialpartnerschaftlichen Spielregeln, (…) die von geläufigen demokratisch-repräsentativen Verfahrensweisen (…) z.T. deutlich abweichen«105. Beide Legitimationsebenen richten sich an unterschiedlichste Adressaten.106 10.6.12 Demokratiequalität Neben Fragen der Legitimationsqualität ist der Blick auf die Demokratiequalität spannend  : Wie schon angesprochen, ist vor allem eine mangelnde Kon101 zb Pelinka, Anton (1971), Technokratie und Staat, in  : Quartalshefte der Girozentrale, 2/1971. 102 Z. B. Wimmer (1979). 103 Siehe auch Demirovic, Alex (2007), Demokratie in der Wirtschaft. Positionen-Probleme-Perspektiven  ; Münster und Meyer, Thomas (2009), Soziale Demokratie  : Eine Einführung, Wiesbaden. 104 Tálos (1996). 105 Tálos (1996), S. 15. 106 Tálos (1996).

321

322

| 

Tobias Hinterseer

kurrenz als demokratiepolitisches Problem skizziert. Dabei geht es um wichtige Grundbedingungen der Sozialpartnerschaft, nämlich Konzentration, Zentralisation und politische Privilegierung. So gewinnt die demokratische Binnenstruktur mehr an Bedeutung. Trotz aller Problemfelder kann der Formalstruktur der Kammern ein »Democratic Audit«107 ausgestellt werden. Die Informalität und Freiwilligkeit der Sozialpartnerschaft als gemeinsames System der einzelnen Verbände schneidet bei einer solchen demokratiepolitischen »Überprüfung« schlechter ab.108 10.7 Sozialpartnerschaft  : Baustein oder Problem der Demokratie  ? Bisher hat sich gezeigt  : Die Sozialpartnerschaft und dazugehörigen Verbände sind ein wichtiger Bestandteil des politischen Systems in Österreich. Dabei geht es nicht nur um Verwaltungsaufgaben (Stichwort Selbstverwaltung) und das Kollektivvertragssystem. Das Einwirken auf Gesetzgebungsprozesse  – sowohl im parlamentarischen Raum als auch im vorparlamentarischen – macht die Sozialpartnerschaft zu einer wichtigen Akteurin der Demokratie. Der Literat Menasse109 hingegen spitzt kritisch zu  : »Seiner Verfassung nach ist Österreich eine parlamentarische Demokratie. Das ist es allerdings nicht in Wirklichkeit. Denn alle wesentlichen Entscheidungen wurden nicht von den gewählten Volksvertretern im Hohen Haus getroffen, sondern von demokratisch nicht legimitierten Funktionären in den Gremien der Sozialpartnerschaft« Da stellt sich also abschließend die Frage  : Was ist die Sozialpartnerschaft nun, ein Problem oder ein Baustein der österreichischen Demokratie  ? 10.7.1 Gesamtwirtschaftliche und gemeinwohlorientierte Ziele Aus einer Output-orientierten Sichtweise geht es um die Realisierung von gesamtwirtschaftlichen, gemeinwohlorientierten Zielen  : Diese werden mit Hilfe eines Kompromisses der Interessensgegensätze erreicht. Die dafür nötige »Verpflichtungstätigkeit« der Verbände (Verbändelogik) würde darunter leiden, wenn auf Forderungen der jeweiligen Basis immer kurzfristig reagiert (Mitgliederlogik) werden müsste. Korporatistische Systeme, so auch in Österreich, zeigen eine 107 Tálos (1996). 108 Prisching (1991)  ; Tálos (1996). 109 Menasse (2005), S. 83.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

stärkere Ausprägung der Verbände (auch des ÖGB) zu einer Orientierung an der Verbändelogik. Virulent wird das dadurch benachteiligte Partizipationsprinzip vor allem, wenn es das korporatistische System nicht mehr schafft, die materielle Legitimation aufrecht zu erhalten. Mit anderen Worten  : Die Sozialpartnerschaft gerät weniger durch zu wenig Partizipationsmöglichkeit in die Kritik, als durch die Zuschreibung, keine Wohlstandssteigerung inklusive breitenwirksamer Verteilungseffekte garantieren zu können.110 10.7.2 Erosion der Großparteien Ein Erscheinungsmuster des postindustriellen Zeitalters ist die Auflösung oder massive Schwächung der Großparteien. Einerseits stärkt dieser Machtverlust die Stellung der Sozialpartner. Andererseits wird das sozialpartnerschaftliche Muster durch das Erstarken von Parteien mit einer Anti-Sozialpartnerschaftshaltung stark bedrängt. Es stellt sich dabei auch die Frage, ob es sich nur um eine »geliehene Stabilität«111 der Sozialpartnerschaft handelt, die bestimmten temporären politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen geschuldet ist  ? In einer pluraleren Parteienlandschaft fällt es schwerer, unterschiedliches Interesse zu bündeln und zu vermitteln. Einzelinteressen treten in den Vordergrund. Hier kann der Sozialpartnerschaft und vor allem den Verbänden eine wichtige Rolle zukommen  : Sie können diese nun diese Aufgabe übernehmen. 10.7.3 Mehr Transparenz  ? Die Arbeitsweise der Sozialpartnerschaft ist in wichtigen Bereichen informell und nicht öffentlich. Diese Intransparenz von Entscheidungen im außer- oder vorparlamentarischen Raum112 wird als Demokratiedefizit angesehen. Eine stärkere Formalisierung und eine damit einhergehende stärkere Öffentlichkeit der Entscheidungsfindung kann »(…) dysfunktional wirken und Legimitationsprobleme (…)«113 aufwerfen. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Verbände nicht intern stärker öffnen können  – beispielsweise neue Formen der Mitgestaltung und Kommunikation. 110 vgl. Czada (2004), Prisching (1991). 111 Pernicka/Hefler (2015). 112 Prybil spricht von einer »Intimität der Eliten«  : Prybil, Herbet (1991), Sozialpartnerschaft in Österreich, Wien. 113 Prisching (1991), S. 9.

323

324

| 

Tobias Hinterseer

10.7.4 Wandel Trotz der ausgeprägten Kontinuität und der Pfadabhängigkeiten können sich die Sozialpartnerschaft und die Dachverbände nicht vor einem gesellschaftlichen Wandel verschließen  : Die Sozialpartnerverbände repräsentieren durch die »exklusive« Vertretung von Kapital und Arbeit breite Teile der Gesellschaft. Diese Vielfalt spiegeln die Organisationsstrukturen nicht immer im gleichen Maße wider. Der Anteil der Jugend, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund in Führungsfunktionen ist nicht ausreichend repräsentativ. Somit muss es bei Funktionärinnen und Funktionären beziehungsweise auf Führungsebene zu einer Erhöhung der Quote der eben genannten Gruppe kommen. 10.7.5 Keine grundlegende Änderung der Struktur von innen Die Sozialpartnerschaft basiert auf einer spezifischen Funktionsweise. Daher scheint eine grundlegende strukturelle Veränderung dieses korporatistischen Musters der Interessensvertretung unwahrscheinlich. Eine Öffnung für andere Gruppen und Verbände – wie etwa der Industriellenvereinigung – scheint durch die ausgeprägte Exklusivität der Akteure und der über Jahrzehnte ausgebildeten Verhandlungs- und Ausgleichsstrukturen auch nicht plausibel. Ein Zerfall der auf Konsens ausgelegten Verhandlungskultur wäre zu erwarten. 10.7.6 … aber Druck von außen  ? Weitreichende Veränderungen der Sozialpartnerschaft in bekannter Form sind vor allem von außen möglich. So können die Pflichtbeiträge der Kammern gesenkt werden. Gleichzeitig könnten bestimmte Service-, Verwaltungs- und Konsumentenschutzaufgaben, vor allem der Kammern, als Kernaufgabe gesetzlich verankert werden. Damit würden die in der Bevölkerung angesehenen Verbände bestehen bleiben, die finanzielle Schwächung hätte weitreichende Folgen (etwa für die (interessens-)politische Grundlagenarbeit). Eine solche Entwicklung wäre keine Reform der Sozialpartnerschaft, sondern das Gefüge der Sozialpartnerschaft wäre nachhaltig geschwächt  : ein tatsächliches Ende der Sozialpartnerschaft ist so sehr realistisch. Eine Abschaffung der Kammern oder ein gänzliches Abschaffen der Pflichtbeiträge scheint aufgrund der verfassungsrechtlichen Realität als nicht plausibel.

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

Eine Analyse der Zäsurzeit zwischen den Jahren 2000 bis 2006 zeigt  :114 Es kann zu massiven Veränderungen der Sozialpartnerschaft bei gleichzeitiger institutioneller als auch inhaltlicher Kontinuität kommen.115 Letztendlich geht es darum, wie stabil – unabhängig von den einzelnen Politik- beziehungsweise Betätigungsfeldern – »altbekannte Handlungs- und Beziehungsmuster«116 sind und bleiben. 10.7.7 Problem für die Demokratie  ? Die Verbände beziehungsweise die Kammern wären ein ernstzunehmendes Problem für die Demokratie, wenn sie politische Macht beanspruchen würden, die außerhalb des Verfassungsrahmens und der Selbstverwaltung beziehungsweise den gesetzlichen Regelungen (etwa Arbeiterkammergesetz) agierten. Trotz des feststellbaren politischen Einflusses der Sozialpartner ist es den staatlichen Organen beziehungsweise dem Gesetzgeber immer möglich, einzugreifen, falls die Sozialpartner die Gemeinwohlerfordernisse nicht erfüllen. Damit ist ein wichtiges demokratisches Prinzip gewahrt.117 10.7.8 Baustein der Demokratie All diese Ausführungen haben die vielschichtige Rolle der Sozialpartnerschaft im demokratischen politischen System Österreichs deutlich gemacht. Die demokratiepolitisch relevanten Kritikpunkte wurden aufgegriffen und diskutiert. Behält man die dargestellten Aufgaben für das politische System im Blick – wie etwa die Bereitstellung von Kollektivgütern, die Selbstverwaltungsaufgaben, den politischen Frieden oder die wirtschaftliche Stabilität  – so kann die Sozialpartnerschaft als ein wesentlicher Baustein für die österreichische Demokratie angesehen werden. Unter der Regierungszeit von Türkis/Blau (2017-2019) wurden die Sozialpartnerschaft als politischer Mitgestaltungsfaktor weitgehende ausgeschaltet118 Diese Zäsur und ihre Auswirkungen auf das politische System 114 Hinterseer (2017). 115 Hermann, Christoph/Jörg Flecker (2009), Das »Modell Österreich« im Wandel. Die Dynamik des »österreichischen Modells«, in  : Brüche und Kontinuitäten im Beschäftigungs-und Sozialsystem, hg. v. Christoph Hermann/Roland Atzmüller, Berlin, S. 17–44.; Tálos (2015). 116 Haipeter, Thomas (2012), Sozialpartnerschaft in und nach der Krise  : Entwicklungen und Perspektiven, in Industrielle Beziehungen 19, Heft 4, S. 409. 117 Kopp (1980). 118 Siehe Tálos/Hinterseer (2019).

325

326

| 

Tobias Hinterseer

sollten auch aus einer demokratiepolitischen Perspektive analysiert und bewertet werden. 10.8 Literaturverzeichnis Afonso, Alexandre (2013), Social Concertation in Times of Austerity. European Integration and the Politics of Labour Market Reforms in Austria and Switzerland, Amsterdam. Afonso, Alexandre/Papadopoulos, Yannis (2013), Europeanization or Party Politics  ? Explaining Government Choice for Corporatist Concertation, in  : Governance 26, Heft 1, S. 5–29. Baccaro, Lucio/Simoni, Marco (2008), Policy Concertation in Europe  : Understanding Government Choice, in  : Comparative Political Studies 56 Heft 3, S. 1323–1348. Brünner, Christian (1980), Die Rolle der Interessensverbände im politisch-administrativen Entscheidungsprozeß. Grundriss einer Verbändelehre, in  : Phänomen Sozialpartnerschaft, hg. v. Gerald Schöpfer, Graz, S. 163–197. Campbell, David F. J. (2012), Die österreichische Demokratiequalität in Perspektive, in  : Die österreichische Demokratie im Vergleich, hg. v. Ludger Helms/David M. Wieneroither, Baden-Baden, S. 293–315. Czada, Roland (2004), Konjunkturen des Korporatismus  : Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung, in  : Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 25, hg. v. W. Streeck, S. 37–63. Czada, Roland (1994), Konjunkturen des Korporatismus. Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung, in  : Staat und Verbände, hg. v. Wolfgang Streeck, Opladen, S. 37–64. Dachs, Herbert u. a. (Hg.) (2006), Politik in Österreich  : Das Handbuch, Wien. Demirovic, Alex (2007), Demokratie in der Wirtschaft. Positionen  – Probleme  – Perspektiven. Eichhorst, Werner/Weishaupt, Timo. J. (2013), Mit Neo-Korporatismus durch die Krise  ? Die Rolle des Sozialen Dialogs in Deutschland, Österreich und der Schweiz. IZA Discussion Paper, Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, IZA DP No. 7498. Ennser-Jedenastik, Laurenz (2017), Die personelle Verflechtung zwischen Sozialpartnern und  Bundesregierung in Österreich, 1945–2015, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 45, Heft 3, S. 29–44. Flecker, Jörg/Hermann, Christoph (2015), Mastering the crisis but not the future  : the Austrian model in the financial and economic crisis, in  : Divisive integrational – The triumph of failed ideas in Europe – revisited, hg. v. Steffen Lehndorff, Brussels, S. 195– 208. Gerlich, P. (1992), A Farewell to Corporatism, in  : Politics in Austria  : Still a Case of Consociationalism, hg. V. K. R. Luther/W. C. Müller, Frank Cass, London, S. 132–146. Gerlich, Peter/Grande, Edgar/Müller, Wolfgang. C. (1988), Corporatism in crisis  : sta-

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

bility and change of social partnership in Austria, in  : Political Studies 36, Heft 2, S. 209–223. Haipeter, Thomas (2012), Sozialpartnerschaft in und nach der Krise  : Entwicklungen und Perspektiven, in  : Industrielle Beziehungen 19, Heft 4, S. 409. Heinisch, Reinhard (1999), »Modernization Brokers – Austrian Corporatism in Search of a New Legitimacy«, in  : Current Politics and Economics of Europe 9, Heft 1, S. 65–94. Hermann, Christoph/Jörg Flecker (2009), Das »Modell Österreich« im Wandel. Die Dynamik des »österreichischen Modells«, in  : Brüche und Kontinuitäten im Beschäftigungs- und Sozialsystem, hg. v. Christoph Hermann/Roland Atzmüller, Berlin, S. 17–44. Hinterseer, Tobias (2017), Totgesagte leben länger  : Stabilität und Kontinuität der Sozialpartnerschaft in Österreich, in  : Momentum Quarterly 6, Heft 1, S. 28–46. Hinterseer, Tobias (2018), Begrenzte Anzahl vs. Vielfalt. Zwischen Korporatismus und Pluralismus in der politischen Interessensvermittlung in Österreich, in  : WISO 1/2018, S. 185–197. Karlhofer, Ferdinand (1994), Dienstleistungsbetrieb oder kollektive Interessenvertretung  ? Probleme der Loyalitätssicherung am Beispiel der Arbeiterkammern, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich, hg. v. Pernthaler u. a., Schriftenreihe Arbeit-Recht-Gesellschaft, Wien, S. 109. Karlhofer, Ferdinand (2005), Verbände  : Mitgliederorientierung und strategische Neuausrichtung, in  : Sozialpartnerschaft. Österreichische und Europäische Perspektiven, hg. v. Ferdinand Karlhofer, Emmerich Tálos, Wien/Münster, S. 7–35. Karlhofer, Ferdinand (2007), Filling the Gap  ? Korporatismus und neue Akteure in der Politikgestaltung. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 36, Heft 4, S. 389–403. Karlhofer, Ferdinand/Emmerich Tálos (2006), Sozialpartnerschaft am Abstieg, in   : Schwarz-Blau, hg. v. Emmerich Tálos, Wien, S. 102–116. Karlhofer, Ferdinand/Tálos, Emmerich (2000), Sozialpartnerschaft unter Druck. Trends und Szenarien, in  : Die Zukunft der österreichischen Demokratie. Trends, Prognosen und Szenarien, hg. V. Anton Pelinka/Fritz Plasser/Wolfgang Meixner, S. 381–402. Karlhofer, Ferdinand/Tálos, Emmerich (2006), Sozialpartnerschaft am Abstieg, in   : Schwarz-Blau. Eine Bilanz des »Neu-Regieren«, hg. v. Emmerich Tálos, Wien, S. 102– 116. Katzenstein, Peter. J. (1984), Corporatism and Change  – Austria, Switzerland, and the Politics of Industry, London. Knoll, Reinhold/Mayer, Anton (1976), Österreichische Konsensdemokrtaie in Theorie und Praxis. Staat, Interessensverbände, Parteien und die politische Wirklichkeit, Wien. Konrath, Christoph (2012), Parlamentarismus zwischen Recht und Politik, in  : Politik und Recht, Spannungsfelder der Gesellschaft, hg. Tamara Ehs u. a., Wien, 107–133. Kopp, Ferdinand (1980), Die Sozialpartnerschaft als Element einer modernen rechtsstaatlichen Demokratie, in  : Phänomen Sozialpartnerschaft, hg. v. Gerald Schöpfer, Graz, S. 43–63. Korinek, Karl (1980), Das System der österreichischen Sozialpartnerschaft – Skizze der

327

328

| 

Tobias Hinterseer

Bedingungen, der Prinzipien und der Grenzen des Systems, in  : Phänomen Sozialpartnerschaft, hg. v. Gerald Schöpfer, Wien, S. 9 ff. Korinek, Karl (2014), Die staatsrechtliche und staatspolitische Bedeutung der gesetzlichen Arbeitnehmervertretungen, Festvortrag anlässlich des 90-jährigen Bestehens der Arbeiterkammern in Österreich, gehalten am 20.10.2011, in  : Selbstverwaltung. Gestaltungsfaktor für ein demokratisches und soziales Gemeinwesen, hg. v. Gstöttner-Hofer u. a., Wien, S. 27–36. Korinek, Karl (2018), Die Kammern im staatsrechtlichen Ordnungsgefüge. Wiederabdruck aus WISO 2/1991, in  : WISO, 4/2018, S. 51–61. Lehmbruch, Gerhard (1983), Neokorporatismus in Westeuropa  : Hauptprobleme im internationalen Vergleich, in  : Journal für Sozialforschung 23, Heft 4, S. 407–420. Leibrecht, Markus/Rocha-Akis, Silvia (2014), Sozialpartnerschaft und makroökonomische Performance, WIFO-Monatsberichte 8/2014. Lembcke, Ritzi und Schaal (2016) (Hg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Band  2  : Empirische Demokratietheorien, Wiesbaden. Lijphart, Arend (1999), Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-six Countries, Yale. Luther, Kurt. R./Müller, Wolfgang. C. (1992), Politics in Austria  : Still a Case of Consociationalism, London. Menasse, Robert (1990), Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik  : Essays zum österreichischen Geist, Wien. Menasse, Robert (2000), Erklär mir Österreich, Frankfurt am Main. Menasse, Robert (2005), Das war Österreich, Frankfurt am Main. Mesch, Michael (2002), Pflichtmitgliedschaft in den Arbeiterkammern, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 28/2002, S. 63–82. Münster und Meyer, Thomas (2009), Soziale Demokratie  : Eine Einführung, Wiesbaden. Oberhuber, Florian u. a. (2014), Arbeiterkammerwahlen in Österreich 1949–2014, in  : SWS-Rundschau 4/2014, S. 385–401. Öhlinger, Theo (2008), Die Verankerung der Selbstverwaltung und Sozialpartnerschaft in der Bundesverfassung, in  : Journal für Rechtspolitik 16, S. 186–192. ORF-Report Spezial »Geschichte der Sozialpartnerschaft«, 15.03.2015. Pelinka, Anton (1971), Technokratie und Staat, in  : Quartalshefte der Girozentrale, 2/1971. Pelinka, Anton (1979), Demokratie in Gewerkschaften und Arbeiterkammern, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1979, Wien, S. 361–375. Pelinka, Anton (1994), Kammerstaat und politische Erosion – Verbände und Sozialpartnerschaft in der Defensive, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich, hg. v. Pernthaler u. a.; Schriftenreihe Arbeit-Recht-Gesellschaft, Wien, S. 95–107. Pernicka, Susanne (2018), Sozialpartnerschaft in der Lohnfindung – europäische und globale Herausforderungen, in  : WISO 4/2018, S. 35–48. Pernicka, Susanne/Hefler, Günter (2015), Austrian Corporatism – Erosion or Resilience  ?, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 44, Heft 3, S. 39–56. Pernthaler, Peter (1994), Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich aus der Sicht

Sozialpartnerschaft und Verbändestaat 

|

des öffentlichen Rechts, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich, hg. v. Pernthaler u. a., Schriftenreihe Arbeit-Recht-Gesellschaft, Wien, S. 19–91. Pernthaler, Peter (1994), Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich aus der Sicht des öffentlichen Rechts, in  : Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich  ; Schriftenreihe Arbeit-Recht-Gesellschaft, hg. v. Pernthaler u. a. Wien, S. 19–91 Peter Gerlich, et al. (Hg.), Sozialpartnerschaft in der Krise. Wien. Plaimer, Wolfgang (2012), Postdemokratie in Österreich  ? In  : Momentum 2012, [http://momentum-kongress.org/cms/uploads/PAPER_Plaimer.pdf ], eingesehen am 06.10.2019. Prybil, Herbet (1991), Sozialpartnerschaft in Österreich, Wien. Reichenbachs, Mauricio/Nullmeier, Frank (2016), Korporatismus und Demokratie, in  : Zeitgenössische Demokratietheorie, Band  2  : Empirische Demokratietheorien, hg. v. Rembcke/Ritzi/Schal, S. 80–102. Risching, Manfred (1991), Bestandsaufnahme der Sozialpartnerschaft, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 17, Heft 1, S. 9–36. Rocha-Akis, Silvia/Mayrhuber, Christine/Leoni, Thomas (2018), Sozialpartnerschaft, Institutionen und Wirtschaft. Entwicklungen seit der Krise, WIFO, Juni 2018, Wien. Saluman, Michaela (2010), Der Begriff der Sozialpartnerschaft nach der verfassungsrechtlichen Verankerung in Art 120a Abs. 2 B_VG, in  : Journal für Rechtspolitik 18, S. 33–42. Schmitter, Philippe C. (1974), Still the century of Corporatism  ?, in  : The Review of Politics 36, Heft 1, S. 85–131. Sickinger, Hubert (2002), Zur Demokratiequalität des österreichischen Parlamentarismus, in  : Demokratiequalität in Österreich. Zustand und Entwicklungsperspektiven, hg. v. David F. J. Campbell/Christian Schaller, Opladen, S. 47–67. Sickinger, Hubert (2000), Die Funktion der Nationalratsausschüsse im Prozess der Bundesgesetzgebung, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 29 (2), S. 157–176. Streeck, Wolfgang (1999), Verbände als soziales Kapital  : Von Nutzen und Nutzung des Korporatismus in einer Gesellschaft im Wandel, in  : MPlfG Working Paper, 99(2). Sweeney, Jim/Weidenholzer, Josef (Hg.) (1998), Austria  : A Study in Modern Achievement, Avebury, Aldershot. Tálos, Emmerich (2005), Vom Vorzeige- zum Auslaufmodell  ? Österreichs Sozialpartnerschaft 1945 bis 2005, in  : Sozialpartnerschaft. Österreichische und Europäische Perspektiven, hg. v. Ferdinand Karlhofer/Emmerich Tálos, Wien/Münster, S. 185–216. Tálos, Emmerich (1996), »Zwangskammerstaat«  ? Zur Demokratiequalität der Sozialpartnerschaft, in  : Reihe Politikwissenschaft, 29, hg. v. IHS. Tálos, Emmerich (2001), Ende der Sozialpartnerschaft  ? Zäsuren in österreichischer Interessenpolitik, in  : Anlassfall Österreich. Die EU auf dem Weg zur Wertegemeinschaft, hg. v. Ferdinand Karlhofer u. a., Baden-Baden, S. 35–45. Tálos, Emmerich (2006), Sozialpartnerschaft  : Austrokorporatismus am Ende  ?, in  : Politik in Österreich  : Das Handbuch, hg. v. Herbst Dachs u. a., Wien S. 425–444. Tálos, Emmerich (2008), Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor in der Zweiten Republik, Wien.

329

330

| 

Tobias Hinterseer

Tálos, Emmerich (2012), Sozialpartnerschaft  : ein rechtlich nicht verankerter Mitgestaltungsfaktor österreichischen Rechts, in  : Politik und Recht, Spannungsfelder der Gesellschaft, hg. v. Tamara Ehs u. a., Wien, 195–215. Tálos, Emmerich (2015), Austrokorporatismus zwischen Kontinuität und Veränderung – EU-Beitritt als ein Bestimmungsfaktor für Veränderungen, in   : Politische Ökonomie Österreichs  – Kontinuitäten und Veränderungen seit dem EU-Beitritt, hg. V. BEIGEWUM, Wien, S. 176–197. Tálos, Emmerich/Hinterseer, Tobias (2019), Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor der Zweiten Republik am Ende  ? Innsbruck. Tálos, Emmerich/Bernhard Kittel (1999), Sozialpartnerschaft und Sozialpolitik, in  : Zukunft der Sozialpartnerschaft, hg. v. Ferdinand Karlhofer/Emmerich Tálos, Wien, S. 136–164. Tálos, Emmerich/Christian Stromberger (2005), Zäsuren in der österreichischen Verhandlungsdemokratie, in  : Sozialpartnerschaft, hg. v. Ferdinand Karlhofer/Emmeric Tálos, Wien, S. 79–108. Tálos, Emmerich/Stromberger, Christoph (2004), Verhandlungsdemokratische Willensbildung und korporatistische Entscheidungsfindung am Ende  ? Einschneidende Veränderungen am Beispiel der Gestaltung des österreichischen Arbeitsrechtes. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 33 (2), S. 157–174. Traxler, Franz (1987), Klassenstruktur, Korporatismus und Krise. Zur Machtverteilung in Österreichs »Sozialpartnerschaft« im Umbruch des Weltmarktes, in  : Politische Vierteljahresschrift 28, 59–79. Traxler, Franz (1993), Vom Nachfrage- zum Angebotskorporatismus  ?, in  : Tálos, Emmerich Sozialpartnerschaft – Kontinuität und Wandel eines Modells, Wien, S. 103–116. Traxler, Franz (1996), Sozialpartnerschaft am Scheideweg  : Zwischen korporatistischer Kontinuität und neoliberalem Umbruch, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 22, Heft 1, S. 13–33. Wimmer, Ernst (1979), Sozialpartnerschaft aus marxistischer Perspektive, Wien.

11. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin an der Universität Wien und selbständige Beraterin für Demokratieinnovationen in öffentlichen Institutionen, insb. Städten und Gemeinden. In ihrer Forschung und Lehre behandelt sie die sozialen Fragen von Demokratie und Verfassung sowie die politischen Aspekte der Verfassungsrechtsprechung. Sie engagiert sich in der politischen Bildung, insbesonders für ErstwählerInnen und in der LehrerInnenfortbildung. Nach ihrem Studium an der Universität Wien, Sciences Po Lille und European Academy of Legal Theory Brüssel forschte sie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie an den Universitäten Wien und Salzburg. Sie war Gastdozentin an der Hebräischen Universität Jerusalem, der Comenius Universität Bratislava, der Freien Universität Berlin, außerdem Gastforscherin an der Harvard Law School sowie an der New York Public Library. Kontakt  : [email protected] Claudia Fahrenwald studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Psychologie an den Universitäten Berlin, München und Augsburg  ; sie promovierte zur Dr. phil. an der Universität Augsburg und habilitierte sich dort im Fach Pädagogik. 2001–2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Universität Augsburg, 2011–2013 Vertretungsprofessorin für Schulentwicklung an der Universität Hamburg. Seit 2013 ist sie Hochschulprofessorin für Pädagogik mit Schwerpunkt Schulentwicklung und wissenschaftliche Leiterin von CEDI | Civic Education International – Forschungsstelle für zivilgesellschaftliche Bildung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, Linz. Ihre Forschungsinteressen und Publikationsschwerpunkte umfassen Organisationspädagogik/Schulentwicklung, Civic Education/Demokratiepädagogik, Community Based Learning/ Community Based Research sowie Leadership und Gender. Kontakt  : [email protected] Reinhard Heinisch ist Professor für Österreichische Politik in vergleichender Perspektive an der Universität Salzburg, wo er auch den Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie leitet. Von 1986 bis 2009 lebte und arbeitete Heinisch, der seinen M.A. (1986) an der Virginia Tech University und seinen Ph.D. (1994) an der Michigan State University erwarb, in den USA, wo er zuletzt die Professur für vergleichende Politik an der University of Pittsburgh innehatte. Infolge war

332

| 

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Reinhard Heinisch Leiter der Arbeitsgruppe Demokratie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft sowie Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Neben einer regen internationalen Publikations-, Vortragsund Lehrtätigkeit fungierte er auch als Konsulent (u. a. für das US-Außenministerium) und Kommentator in zahlreichen Medien (u. a. ORF, Washington Post, BBC, ARD). Seit 2014 ist er auch Lehrbeauftragter an der Renmin Universität in Peking. In seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sich Reinhard Heinisch mit der vergleichenden Demokratie-, Parteien- und Populismusforschung mit Publikationen in führenden Fachjournalen wie u. a. Democracy, Party Politics, Representation, West European Politics. Seine jüngsten Buchpublikationen sind The People and the Nation  : Populism and Ethno-Territorial Politics in Europe (Routledge 2019) sowie Political Populism, A Handbook (Nomos 2017). Reinhard Heinisch ist Träger des Wissenschaftspreises der M. Lupac Stiftung des österreichischen Parlaments. Kontakt  : [email protected] Tobias Hinterseer studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg (Doktorat 2014). Er hat an diversen Projekten mitgearbeitet und war zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zukunftsstudien der Fachhochschule Salzburg (2010–2014). Aktuell ist er Referent für den Arbeitsklima Index und Arbeitspolitik in der Kammer für Arbeiter und Angestellte Salzburg sowie Lektor an diversen Hochschulen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Sozialpartnerschaft, Korporatismus, Arbeitspolitik und Digitalisie­rung. Zuletzt hat er gemeinsam mit Emmerich Tálos das Buch »Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor der Zweiten Republik am Ende  ? (Studienverlag 2019) verfasst. Kontakt  : [email protected] Christoph Konrath studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Politische Theorie an der Universität Wien und der London School of Economics and Political Science. Er war Univ. Ass. am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien (2000–2004) und Referent in der Parlamentsdirektion (u. a. für den Österreich-Konvent 2003–2005). Seit 2010 ist er Leiter der Abteilung Parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit im Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftlichen Dienst der Parlamentsdirektion. Er publiziert, lehrt und forscht zu Verfassungsrecht, Demokratie, Parlamentarismus, Gesetzgebung und Verwaltungswissenschaft. Kontakt  : [email protected]

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 

|

Stefan Vospernik studierte Politikwissenschaft und Publizistikwissenschaft an den Universitäten Wien und Granada (Spanien) und promovierte 2015 an der Universität Wien zum Dr. phil.; seine Dissertation befasste sich mit dem Thema »Modelle der direkten Demokratie« (Baden-Baden 2014). Zu seinen beruflichen Stationen gehören Tätigkeiten für das Informationsbüro des Europäischen Parlaments in Wien (2001), die Austria Presse Agentur (APA) – Redaktion Außenpolitik in Wien (seit 2002), das EU-Büro der APA in Brüssel (2004) und die slowenische Nachrichtenagentur STA in Ljubljana (2007). Aktuell ist er stellvertretender Leiter der Redaktion Außenpolitik der Austria Presse Agentur in Wien. Zu seinen Forschungsinteressen und Publikationsschwerpunkten gehören direkte Demokratie im europäischen Vergleich (http://direktedemokratie. eu), politische Systeme der neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas sowie Konkurrenz- und Konsensdemokratie. Kontakt  : [email protected] Roland Winkler promovierte 1996 zum Dr. iur. und habilitierte sich 2005 für Verfassungs-, Verwaltungs- und Europarecht. Er ist ao.  Univ.  Prof am Fachbereich Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht der Universität Salzburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grundrechte, Hochschulrecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Kontakt  : [email protected] Mario Wintersteiger studierte Politikwissenschaft an der Universität  Salzburg (Diplom 2007, Doktorat 2011). Seit 2009 lehrt er dort regelmäßig, vor allem am FB  Politikwissenschaft und Soziologie  ; darüber hinaus ist er auch Lektor für diverse andere Studienprogramme (AIFS, AYA in Austria der Bowling Green State University). Von 2017 bis 2019 war er Managing Editor der Österreichischen  Zeitschrift  für  Politikwissenschaft (ÖZP). Er lehrt und forscht vor allem auf dem Gebiet der Politischen Theorie und Ideengeschichte  ; seine Publikationen befassen sich u. a. mit Fragen der Religionspolitologie und der politischen Anthropologie. Kontakt  : [email protected] Katharina Conceptión Zahradnik-Stanzel studierte Politikwissenschaft an der Universität  Wien und dem Institut  d’Etudes  Politiques  Aix-en-Provence (Frankreich). Danach absolvierte sie einen postgradualen Lehrgang am Institut für Höhere Studien in Wien und belegt aktuell ein Ph.D.-Studium am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie war wissenschaftliche Mit-

333

334

| 

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

arbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität  Wien, Scholarin am Institut für Höhere Studien in Wien, Lektorin an der Universität Wien und der Universität Salzburg sowie Visiting Researcher am Department of Government der University of Essex (Vereinigtes Königreich). Aktuell ist sie Lektorin an der Universität Wien, Junior Fellow am Institut für Höhere Studien in Wien und Generalsekretärin der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Ihre Forschungsinteressen umfassen Wahlforschung, politische Partizipation, Geschlecht und Ungleichheit, Politische Institutionen sowie Parteienforschung. Kontakt  : [email protected]

DIE NEUE GESAMTSICHT DER ÖSTERREICHISCHEN GESCHICHTE

Ernst Bruckmüller Österreichische Geschichte Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart 2019. 692 Seiten, mit 11 sw-Abb. und 11 Karten, gebunden € 45,00 D | € 47,00 A ISBN 978-3-205-20871-6 eBook: € 37,99 D | € 39,10 A ISBN 978-3-205-20872-3

Preisstand 1.8.2019

In Urgeschichte, Römerzeit und Frühmittelalter wurden Grundlagen für die Folgezeiten geschaffen. Im Hochmittelalter wuchs die Bevölkerung, neue Dörfer, neue Städte, Klöster, Burgen und neue Länder entstanden – die heutigen Bundesländer der Republik. Durch die jahrhundertelange Herrschaft der Habsburger wurden diese Länder miteinander und mit vielen anderen europäischen Regionen – Italien, Spanien, Belgien, Ungarn, Böhmen, Polen, Slowenien, Kroatien – verbunden. Die Monarchie der Habsburger ermöglichte „ihren“ Völkern trotz aller Kritik eine positive kulturelle und politische Entwicklung. Hingegen konnte die junge Republik Österreich das Erbe des kriegsbedingten Mangels nicht bewältigen, das nach dem Zerfall der Monarchie 1918 durch Bankenkrisen und politische Gegensätze verschärft wurde. Ein nationaler Konsens fehlte. Die Demokratie wich 1933 einer konservativen Diktatur. 1938 kam es zum vielfach bejubelten „Anschluss“ an Hitlers Deutschland. Doch 1945 erhielt diese Republik eine „zweite Chance“.

AUTORITÄRE TENDENZEN IN ÖSTERREICH SEIT 1945

Martin Dolezal | Peter Grand | Berthold Molden | David Schriffl Sehnsucht nach dem starken Mann? Autoritäre Tendenzen in Österreich seit 1945 Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien der Dr. WilfriedHaslauer-Bibliothek, Band 71 2019. 479 Seiten, mit zahlr. Tab., Graf. und 18 s/w und 11 farb. Abb., gebunden € 55,00 D | € 57,00 A ISBN 978-3-205-23195-0 eBook: € 44,99 D | € 46,30 A ISBN 978-3-205-23196-7

Auch in Österreich wird über die Gefahr eines neuen Autoritarismus gestritten. Das Buch knüpft an diese Debatte an, wirft aber einen Blick zurück und untersucht das Ausmaß und den Charakter autoritärer Tendenzen seit 1945.

Preisstand 1.8.2019

Worin bestehen die rhetorischen Codes autoritärer Politik? Wann und wo bestimmten sie sogar politisches Handeln? Wer hat sie verwendet oder sich ihnen entgegengestellt? Die vier Autoren, zwei Politikwissenschafter und zwei Historiker, befassen sich mit den Einstellungen der Bevölkerung, mit der Programmatik der Parteien, mit medialen Diskursen und mit der Wahrnehmung der österreichischen Innenpolitik durch das Ausland. Ihr mehrdimensionales Konzept von Autoritarismus ermöglicht den Autoren eine differenzierte Analyse ausgewählter Ereignisse und Entwicklungen der Zweiten Republik.