Handbuch Kritisches Kartieren 9783839459584

ten erzählen Geschichten und formen unser räumliches Verständnis von Welt. Sowohl das Lesen als auch das Erstellen von K

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Handbuch Kritisches Kartieren
 9783839459584

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Finn Dammann, Boris Michel (Hg.) Handbuch Kritisches Kartieren

Sozial- und Kulturgeographie  | Band 51

Finn Dammann, geb. 1987, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er forscht zur Entstehung neuer digitaler Geographien und zur sich verändernden Produktion geographischen Wissens im Kontext der Digitalen Transformation. 2018 war er als Gastwissenschaftler am Geographic Information Center der McGill University in Montreal tätig. Boris Michel, geb. 1977, ist Professor für Digitale Geographie am Institut für Geowissenschaften und Geographie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der geographischen Stadtforschung und der Kritischen Kartographie.

Finn Dammann, Boris Michel (Hg.)

Handbuch Kritisches Kartieren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Lamont-Doherty Earth Observatory and the estate of Marie Tharp«, Lamont-Doherty Earth Observatory, Columbia University, USA Übersetzung: Lektorat: Katrin Viviane Kurten  |  geo-lektorat Korrektorat: Elizabeth Neumann, Berlin Satz: Jan Gerbach, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5958-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5958-4 https://doi.org/10.14361/9783839459584 Buchreihen-ISSN: 2703-1640 Buchreihen-eISSN: 2703-1659 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Kritisches Kartieren – zur Einführung  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 9 Finn Dammann, Boris Michel

Gemeinsam Sichtbarkeiten schaffen – partizipatives Kartieren Kollektive kritische Kartierungen auf Papier, Pappe und Beton – kartographische Aktionsforschungen zwischen aktivistischer Praxis und geographischer Reflexion  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 25 Paul Schweizer, Severin Halder, Laurenz Virchow

Emotional Mapping und partizipatives Kartieren – ungehörte Stimmen sichtbar machen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 37 Luise Klaus, Mélina Germes, Francesca Guarascio

Psycho-geographisches Countermapping – Einsicht in Migrationshaft und andere opake Institutionen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 55 Julia Manek, Alethia Fernández de la Reguera Ahedo

Territoriale Analyse eines urbanen Raums der Gewalt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 71 GeoBrujas – Comunidad de Geógrafas

Reflexionen über das Politische im partizipativen Kartieren aus der Perspektive einer Philosophie der Object-Orientated Ontology � � � � � � � � � 83 Francis Harvey

Räume erzählen – narratives Kartieren Multiepistemisches Storytelling und kreativ-künstlerische Methoden – ein Dialog aus Wortspielen und Schattengestalten � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 99 Katrin Singer, Martina Neuburger

Gegenkartieren mit Storymaps – Werkzeug einer feministischen Betrachtung von Femi(ni)ziden in Deutschland � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 113 AK Feministische Geographien Frankfurt a.M.

Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadtforschung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 125 Monika Streule, Kathrin Wildner

Bikeability-Studien und Radwegplanung von unten – akademische und aktivistische Interventionen zur Verkehrswende� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 139 Christoph Haferburg, Tobias Kraudzun

Kritisches Kartieren als künstlerischer Forschungsmodus � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 157 Lea Bauer, Eva Nöthen

Ästhetisches Kartieren – Mapping als Praxis geographischer Forschung zu räumlicher Erfahrung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 169 Fabian Pettig

Comics und Relief Maps als feministische Kartographien der Positionalität � � 181 Katharina Schmidt, Katrin Singer, Martina Neuburger

Welt anders verstehen – Karten in Unterricht und Lehre Raumgeschichten – mit Karten erzählen: Anregungen zur universitären Methodenausbildung im Gelände� � � � � � � � � � � � � � � � � � � 205 Benedikt Orlowski, Klaus Geiselhart

Kritisches Kartieren in Bildungskontexten – zwischen Erkenntnismittel und politischer Kommunikation � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 223 Inga Gryl, Michael Lehner, Jana Pokraka

Kartieren mit Kindern – Alltagsräume erforschen und repräsentieren � � � � � � � � � 239 Paul Schweizer, Tuline Gülgönen

Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen – Räumlichkeit des Holocaust über Stolpersteine visualisieren� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 251 Isabelle Kollar, Jochen Laub

Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts – eine Gratwanderung zwischen kritischem Kartieren und institutionellen Verfügungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 265 Verena Schreiber

Geoinformationssysteme kritisch nutzen – digitales Kartieren Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode � � � � � � � � 281 Philip Boos

Digitale Ungleichheiten überwinden – kritisches Kartieren crowdbasierter Wissensproduktionen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 297 Finn Dammann, Boris Michel

Geodaten quantitativ, aber kritisch analysieren – die Methode der explorativen räumlichen Datenanalyse am Beispiel von COVID-19 in Brasilien� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 307 Dominik Kremer, Blake Byron Walker

Autor*innen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 325

Kritisches Kartieren – zur Einführung Finn Dammann, Boris Michel

Das Foto auf dem Einband dieses Buches zeigt die US-amerikanische Kartographin und Geologin Marie Tharp, wie sie den Boden des Indischen Ozeans kartiert. Die 1920 geborene Marie Tharp gilt heute als Entdeckerin des Mittelatlantischen Rückens und lieferte damit einen wichtigen Beitrag zur Plausibilisierung der Plattentektonik. Zudem ist sie eine wesentliche Wegbereiterin der Kartierung des Meeresgrundes. Wir haben dieses Foto gewählt, weil es einerseits eine Reihe konventioneller Erwartungen an Karten, Kartieren und Kartographie zeigt und erfüllt, andererseits aber auch Konventionsbrüche bereithält. Die hegemoniale Vorstellung von moderner Kartographie zeigt sich in der Darstellung einer exakten und von einer Vielzahl von technischen Geräten f lankierten Vermessung und Sichtbarmachung der Welt ebenso wie in der Versammlung dieses Wissens durch westliche Wissenschaftler*innen im globalen Zentrum – als dieses Bild aufgenommen wurde, saß Marie Tharp vermutlich im Norden Manhattans in einem Büro der Columbia University. Entgegen der konventionellen Erwartungshaltung jedoch sehen wir anstelle eines männlichen Wissenschaftlers eine weibliche Kartographin und eine der ersten Frauen, die in den Fachgebieten der Kartographie und Geologie wissenschaftliche Anerkennung erlangten. Zudem wird statt der sichtbaren Erdoberf läche ein Gebirge auf dem Boden des Ozeans kartiert – etwas bis dato Unsichtbares und Unbekanntes. Schließlich hat uns an dem Bild gefallen, dass es weniger die Karte als Objekt zeigt, sondern vielmehr den mühsamen Prozess des Kartierens. Insgesamt scheint uns das in diesem Bild angelegte Spannungsfeld ein passender Ausgangspunkt für ein Handbuch zu Methoden kritischen Kartierens zu sein.

Einleitung Es ist sicherlich keine Übertreibung zu sagen, dass sich die Rolle, Funktion und Präsenz von Karten seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts drastisch verändert haben. Ein naheliegendes Ereignis, das diese Veränderung markiert, ist die Veröffentlichung von Google Maps im Jahr 2005. Wie kaum eine andere digitale Karte symbolisiert Google Maps den Anfang vom Ende des klassischen Atlas, der gefalteten Straßenkarte und eventuell auch der Praxis des Nach-dem-Weg-Fragens (ältere Leser*innen werden sich erinnern). Seither können alle, die über eine zuverlässige Internetverbindung und die entsprechenden Endgeräte verfügen, auf dynamische Karten in großen Maßstäben

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und mit hoher räumlicher Auf lösung einfach und kostenlos zugreifen. Zudem hat sich auch die Rolle räumlicher Verortung verändert. Karten sind nicht nur präsenter, sie sind auch wichtiger geworden für die Orientierung im Raum und für die Sortierung von Wissen. Aktuell wird weit mehr auf Karten verortet als je zuvor, und alphabetische Indizes zu Diensten und Angeboten einer Stadt, wie etwa die »Gelben Seiten«, erscheinen heute als ein anachronistisches Instrument, das höchstens noch wissensgeschichtlich interessant ist. Mit der Veröffentlichung von Google Maps deutet sich zudem das Ende einer stark nationalstaatlich geklammerten Produktion von Karten an, auch wenn deren Geschichte nicht von staatlicher (Militär-)Forschung getrennt werden kann. Das Unternehmen nimmt heute in weiten Teilen der Welt die Rolle eines allgemeinen Kartenanbieters ein und hat den Staat als wichtigsten Akteur kartographischer Wissensproduktion vielfach ersetzt. Diese Verschiebung allein ist schon so bedeutsam, dass ausführlich über die damit verbundene Veränderung kartographischer Weltbeschreibung und Welterzeugung gesprochen werden könnte. Doch uns interessiert hier etwas noch Weitreichenderes: Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung hackte der kalifornische Softwareentwickler Paul Rademacher Google Maps und eignete sich die digitale Karte in einer Weise an, die von Google nicht intendiert war. Auf der Suche nach einer Wohnung in San Francisco nutzte Rademacher eine Schwachstelle in der Software von Google Maps, um die Karte mit den Immobilienangeboten einer Anzeigenwebsite zu verbinden. Das Resultat war ein sogenanntes Mashup – eine Verknüpfung der Basiskarte von Google mit externen Geodaten. Auch wenn hier lediglich zwei kommerzielle Dienste zusammengeschlossen und die Daten des einen auf die Karte des anderen gelegt wurden, so zeigt der Vorfall doch deutlich die neue Offenheit und dynamische Flexibilität des Kartierens, die neue und vielfältige Möglichkeiten bieten, bisher kartographisch Nichtrepräsentiertes sichtbar und verortbar zu machen. Rademacher sei aus diesem Grund, so der kritische Kartograph Jeremy Crampton, möglicherweise »the most inf luential cartographer of the twenty-first century« (Crampton 2010: 27). Was diese Anekdote über die Entstehung eines digitalen Mashups andeutet, ist eine Pluralisierung und Öffnung von Karten, Kartieren und Kartographie. Dabei ist es naheliegend, diesen Wandel sowohl mit neuen digitalen Möglichkeiten der Beteiligung und des interaktiven Feedbacks zu begründen als auch mit dem Wunsch ganz unterschiedlicher Akteure, Daten, Wissen und Geschichten anhand von Karten darzustellen und zu verräumlichen. Karten werden mit den verschiedensten Zielvorstellungen als attraktives und machtvolles Mittel der Produktion, Aneignung und Regierbarmachung von Welt eingesetzt. Zugleich wird der Status von Karten und Kartographie bereits seit den 1980ern gerade auch in der Geographie – einer universitären Disziplin, die die Karte vielfach als »ihr« Mittel proklamiert – herausgefordert und umfangreich kritisiert. Im Kontext dieser Kritik schreiben Martin Dodge und Chris Perkins aus gutem Grund davon, dass kritische Geograph*innen das Interesse am Kartenmachen verloren hätten, und diagnostizieren eine Krise der Verhältnisse von (kritischer) Humangeographie und Karten (Dodge/Perkins 2008). Doch neben diesen wichtigen dekonstruktiven, semiotischen oder ideologiekritischen Problematisierungen gab es auch immer wieder Ansätze einer kritischen Praxis des Kartierens: Künstler*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen und Kartograph*innen nutzen Karten schon seit langer Zeit dafür, neue,

Kritisches Kartieren – zur Einführung

alternative und gegenhegemoniale Sichtbarkeiten und Weltbilder zu verhandeln. Dabei fordern sie die tradierten Weisen kartographischer Weltbeschreibung und Weltaneignung heraus und entwickeln neue und andere Formen des Kartierens sozialer Wirklichkeiten. Gerade vor dem Hintergrund des skizzierten Wandels der Bedeutung und Funktion von Karten scheint es uns sinnvoll, in dieses Spannungsverhältnis zwischen Kritik und kritischer Aneignung mit einem Handbuch zu Methoden kritischen Kartierens einzutreten. Dabei verstehen wir kritisches Kartieren als eine Praxis, die sich immer auch kritisch mit dem Medium Karte auseinandersetzt. Kritisches Kartieren schließt damit vielfach an Arbeiten der Kritischen Kartographie an, steht aber zugleich in einem Spannungsverhältnis zu diesen. So bezeichnet Kritische Kartographie ein Forschungsfeld, das eine grundlegende Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Dimensionen von Karten, Kartieren und Kartographie angestoßen hat. Während diese Arbeiten in erster Linie im akademischen Feld angesiedelt sind und eine Kritik der apolitischen, ahistorischen und eurozentrischen Perspektive auf Karten, Kartieren und Kartographie formulieren, beschreibt kritisches Kartieren – so wie wir es in diesem Handbuch verstehen – ein heterogenes Feld akademischer, politischer, aktivistischer und künstlerischer Praktiken des Kartenmachens, des Kartierens und des Kartennutzens. Diese positionieren sich vielfach jenseits der etablierten Kartographie und oftmals in direkter Kritik an ihr. In unserer Einleitung möchten wir kurz diese beiden Perspektiven auf die »Macht der Karten« (Wood 1992) skizzieren und historisch verorten. Anschließend illustrieren wir an einem Beispiel die Möglichkeit eines integrativen Zusammenspiels beider Ansätze und stellen abschließend Konzept, Ziel und Inhalt des vorliegenden Handbuchs zu Methoden kritischen Kartierens vor.

Kritische Kartographie – die Problematisierung der Karte Kritische Kartograph*innen fassen Karten und Kartographie als Teil machtvoller Zeichensysteme, sozialer Texte, Diskurse und Ideologien. Sie betonen die Gemachtheit und Kontingenz der Karte und untersuchen ihre Bedeutung und Funktion für die Herstellung gesellschaftlicher Ordnung. Wegweisende und paradigmatische Arbeiten der Kritischen Kartographie sind Brian Harleys »Deconstructing the Map« (Harley 1989) und Denis Woods »The Power of Maps« (Wood 1992). Beide Werke zielten darauf ab, Karten und Kartographie ihren Anschein wissenschaftlicher Neutralität und Objektivität zu nehmen, und machten die Karte selbst zum Objekt kritischer Analysen. Dabei betonten die Autoren, dass die Aufgabe einer kulturtheoretisch informierten und kritischen Forschungsarbeit in einer Dekonstruktion, Dekodierung oder Ideologiekritik von Karten und Kartographie liegt. Es galt folglich, die diskursiven Regeln und die Rhetorik kartographischer Wahrheitsproduktion und Autoritätserzeugung herauszuarbeiten und Karten als Ausdruck und Verstärker gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu begreifen. Die Karte wurde daher als visuelles Zeichensystem problematisiert, das in hohem Maße eine Sedimentierung und Fixierung, eine Verdinglichung, Verräumlichung und letztlich Naturalisierung dynamischer sozialer Verhältnisse sowie ihre Übersetzung in starre räumliche Muster zur Folge hat. Karte und Kartographie standen so für die Annahme eines unmarkierten view from nowhere (Haraway 1988; Harding 1992). Indem sie nun als soziale Texte, Diskurse und Zeichen gelesen wurden,

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war es möglich, ihre Rolle und Funktion für die (alltägliche) Produktion von Welt und Weltverhältnissen zu untersuchen. Ein viel zitiertes Beispiel für diese Perspektive ist die Analyse der offiziellen Straßenkarte von North Carolina durch Denis Wood und John Fels in ihrem Aufsatz »Designs on Signs/Myth and Meaning in Maps« (Wood/Fels 1986). In diesem Artikel zeigen die beiden Autoren, dass auch ein Straßenatlas kein neutrales Navigationsinstrument ist, sondern immer auch eine sehr spezifische Geographie erzeugt, die Kultur in Natur umwandelt und Gesellschaft naturalisiert. Diese Analyse aufgreifend, schreibt Harley: »It also constructs a mythic geography, a landscape full of ›points of interest‹ with incantations of loyalty to state emblems and to the values of a Christian piety. The hierarchy of towns and the visually dominating highways that connect them have become the legitimate natural order of the world. The map finally insists ›that roads really are what North Carolina’s all about‹. The map idolizes our love affair with the automobile. The myth is believable.« (Harley 1989: 10) Während in der Kartographie nach wie vor die Selbsterzählung von einer Wissenschaft dominiert, die räumliche Beziehungen von Dingen auf der Erdoberf läche mathematisch korrekt und objektiv darstellt, beschreiben kritische Kartograph*innen die Praktiken und Produkte dieser wissenschaftlichen Disziplin nun als Instrumente zur Erzeugung staatlicher Territorien und zur (Re-)Produktion spezifischer sozialer Ordnungen. Dabei weisen sie auch auf die engen Verbindungen der Kartographie mit der Entstehung europäischer Nationalstaaten und dem europäischen Kolonialismus hin – und identifizieren die Kartographie als ein zentrales geographisches Instrument für nationalstaatliche und koloniale Herrschaft (vgl. Branch 2015; Edney 1997; Mundy 2000; Akerman 2009, 2017). Karten und Kartographie werden so als Bestandteil und Voraussetzung für zentralisierte räumliche Organisations- und Regierungsweisen von Bevölkerungen, Armeen und Warenzirkulationen erkannt (Scott 1998; Elden 2007; Hannah 2000, 2009). Diese kritische Perspektive auf die Macht der Karte hat in den frühen 1990er Jahren durch die Etablierung von computergestützten Geographischen Informationssystemen (GIS) und die daran anschließende Auseinandersetzung eine Erweiterung erfahren (vgl. für einen Überblick Glasze/Dammann/Bauer 2021): GIS wurden und werden seither von unterschiedlichen Akteuren für verschiedenste Zwecke verwendet – wie etwa im Geomarketing, in der Kriminalitätskartographie, im Naturschutz, in der Raumplanung und im Militär. Dieser Wandel von Karten als analogen Printmedien hin zu digitalen Medien hat neue Fragen nach den soziotechnischen Praktiken des Kartenmachens und -nutzens aufgeworfen. In den GIS and Society-Debatten – teilweise auch als GIS Wars bezeichnet – problematisieren kritische Sozialgeograph*innen die technokratische Rationalität von GIS und deren quantifizierende und reduktionistische Zurichtung und Übersetzung von Welt in die Leistung und Anforderung des Computers (vgl. Schuurman 1999; Wilson 2017; Sheppard 2005; Pickles 1995, 2004). GIS erscheint aus dieser Perspektive auch als ein Versuch, die gescheiterten Versprechen der quantitativen Revolution wiederzubeleben – oder, wie es Peter Taylor ausdrückt, als »positivist geography’s great revenge« (Taylor 1990: 211). Kritische Kartograph*innen betonen daher die sozialen, ökonomischen und militärischen Kontexte von GIS und die Effekte digitaler Kartographien auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse. Dabei rücken verstärkt die eigentlichen digitalen Techniken von GIS in den Fokus von Analysen, und die mit diesen verbundenen soziotechnischen Praktiken der

Kritisches Kartieren – zur Einführung

Aneignung und Regierbarmachung von Welt. Aktuelle Arbeiten der Kritischen Kartographie schließen vielfach an diese Perspektiven an und untersuchen etwa, wie Code, Software und Datenbanken die Produktion von Karten verändern und beeinf lussen (vgl. hierzu etwa Glasze/Plennert/Schlieder 2019; Bargués-Pedreny/Chandler/Simon 2019). Damit setzen kritische Kartograph*innen Impulse für Diskussionen um die »digitale« Produktion von Welt und Weltverhältnissen, wie beispielsweise den bias von Algorithmen oder die sowohl stabilisierende als auch verschleiernde Funktion technologischer blackboxes (siehe hierzu etwa Dalton/Stallmann 2018).

Kritisches Kartieren – die Konstruktion anderer Karten und neuer Weltbilder In vielen kritisch-kartographischen Arbeiten werden Forderungen nach alternativen Karten und anderen Formen kartographischen Wissens laut. So plädierte etwa Denis Wood bereits 1978 für eine humanistische Reformulierung der Karte – eine »Cartography of Reality« (Wood 1978) –, die ihren Ausgangspunkt weniger in einer vermeintlich mathematisch neutralen und objektiven Beschreibung von Welt sucht, als vielmehr in den alltäglichen menschlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen: »A cartography of reality must be humane, humanist, phenomenological, and phenomenalist« (ebd.: 207). In eine ähnliche Richtung weist auch das monumentale und bis heute nicht abgeschlossene Publikationsprojekt »The History of Cartography«, das John Brian Harley und David Woodward begannen, während Harley zeitgleich an seinen Grundlagentexten über dekonstruktive Perspektiven auf Karten und Kartographie arbeitete. Harley und Woodward definieren Karten hier als »graphic representations that facilitate a spatial understanding of things, concepts, conditions, processes, or events in the human world« (Harley/Woodward 1987: xvi) und fassen sie als eine allgemeine Kulturtechnik – ganz anders als die abbild- und modelltheoretischen Definitionen, die in der akademischen und professionellen Kartographie dominierten. Damit legen sie eine konzeptionelle Befreiung der Karte aus dem Rahmen der tradierten westlichen Kartographie nahe und entreißen diese so der eurozentrischen Fortschrittserzählung. Zugleich haben sich immer wieder Autor*innen auf offenere und experimentellere Konzepte von Karten bezogen, die eine Veränderung und Unabschließbarkeit betonen. Ein solches Konzept fanden kritische Kartograph*innen etwa bei den beiden Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari. In »Tausend Plateaus« (1992) steht die Karte gegenüber Fotografie und Zeichnung gerade als das Rhizomatische, als etwas, das »ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. […] Die Karte ist offen, sie kann in allen ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden.« (Deleuze/Guattari 1992: 24) Auch in den Geographic Information Sciences, die lange Zeit dominiert waren von Ideen einer formalen und mathematisch objektiven Modellierung der physischen Welt durch Karten und in Form abstrakter Geodaten, gab es schon in den 1990er Jahren erste Impulse für andere Formen der Kartierung sozialer Wirklichkeiten. Dabei wurde etwa im Umkreis der Debatten eines Critical GIS (vgl. hierzu Pickles 1995) gefordert, GIS stärker

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an sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten der Geographie zu orientieren. Erste konkretere Möglichkeiten für eine Repräsentation anderen räumlichen Wissens und für eine neue Formalisierung sozialer Wirklichkeiten wurden und werden in den Ansätzen eines »Participatory GIS« (vgl. etwa Elwood 2006), »Place-based GIS« (vgl. etwa Goodchild 2011, 2015) oder »Platial GIS« (vgl. etwa Westerholt/Mocnik/Zipf 2018) vorgelegt und diskutiert. Vielfach bleiben diese Arbeiten aber in den tradierten Paradigmen der GIS verhaftet und suchen nach den adäquaten Formalisierungen, Modellierungen und Ontologien von Individuum-Raum-Verhältnissen, anstatt die Dynamiken und Widersprüche gesellschaftlicher Raumproduktionen ernst zu nehmen und geographic information systems in »geographical imagination systems« (Bergmann/Lally 2021) zu überführen. Doch nicht nur im akademischen Rahmen finden sich Ansätze alternativer Kartographien. Karten werden seit langer Zeit von Künstler*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen und Kartograph*innen genutzt, um hegemonialen Weltbildern und Weltaneignungen alternatives Wissen entgegenzustellen. So nutzten beispielsweise in den späten 1960er und 1970er Jahren antirassistische Aktivist*innen rund um Bill Bunge und Gwendolyn Warren Karten, um rassistische Stadtpolitiken in Detroit sichtbar zu machen (Bunge 2011; Warren/Katz/Heynen 2019). Ebenfalls seit den 1970er Jahren verwenden indigene Gruppen in verschiedenen geographischen Kontexten Karten, um beispielsweise gegenüber postkolonialen Staaten ihre Ansprüche auf jenes Land geltend zu machen, das ihnen im Zuge von Kolonialismus und staatlicher Expansion geraubt wurde (Bryan/Wood 2015; Sletto et al. 2020). Zudem arbeiten zahlreiche Schriftsteller*innen und Künstler*innen mit Karten und verbinden diese vielfach mit radikalen Kunst-, Karten- und Gesellschaftskritiken (Bruno 2002; Obrist 2014; O’Rourke 2016; Wood 2010: 189ff.). Neben diesen Kontexten alternativer und gegenhegemonialer Praktiken kritischen Kartierens ließe sich eine lange Geschichte der »Gegenkartierung« und der kritischen Auseinandersetzung mit tradierten Weisen moderner, westlicher Kartographie und den damit verbundenen Formen von Weltaneignung schreiben – die explizit oder implizit Teil des Wissensarchivs von heutigen kritischen Auseinandersetzungen und Aneignungen der Karte sind. Dies können wir an dieser Stelle nicht leisten. Viel eher möchten wir anhand eines Beispiels die Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung mit kolonialer kartographischer Weltaneignung und hegemonialer Geschichtsschreibung durch die Produktion einer anderen Karte aufzeigen.

»Mapa de lo que ahora se conce como Las Islas Filipinas« – eine Skizze kritischen Kartierens 1734 wurde in Manila eine Karte der Philippinen veröffentlicht, die sich von allen vorherigen Darstellungen jener gut 7000 Inseln erheblich unterschied (vgl. Abb. 1). Die nach dem spanischen König Philipp II. benannten Philippinen waren knapp 200 Jahre zuvor spanischer Kolonialherrschaft unterworfen worden und dienten Spanien bis zu diesem Zeitpunkt in erster Linie als Stützpunkt für den Handel mit China. Anders als in den spanischen Kolonien in Lateinamerika erlangte Spanien über diese Inseln nur in begrenztem Maße territoriale Kontrolle. Bis ins 18. Jahrhundert hinein beschränkte sich die spanische Macht in erster Linie auf die Region um die Hauptstadt Manila sowie auf die Macht der katholischen Kirche.

Kritisches Kartieren – zur Einführung

Die durch den spanischen Jesuiten Pedro Murillo Velarde im königlichen Auftrag zusammengestellte und durch den indigenen Drucker Nicolás de la Cruz Bagay produzierte »Carta Hydrographica y Chorographica de las Islas Filipinas« stellte die bis dato genaueste Karte der Philippinen dar – und gilt vielfach als erste wissenschaftliche Karte des Landes überhaupt. Was sie auszeichnet, ist der Umstand, dass hier die Philippinen erstmals als eine geographische und politische Entität dargestellt werden. Es ist die erste Karte, die den »geo-body« (Thongchai Winichakul 1994) der Philippinen in jener territorialen Form zeigt, die den Referenzrahmen für spätere Kolonialpolitik, antikoloniale Befreiungsbewegungen und nachkoloniales nation building vorgibt. Alle heute noch bekannten älteren Karten, seien es vorkoloniale Karten aus China, Korea oder Europa (Quirino 1959), zeigen die Inseln als Teil größerer Regionen und nicht als eine geschlossene Einheit. Gerade auf spanischen Karten werden die Philippinen dabei meist als westlicher Vorposten des Kolonialreichs dargestellt und damit als ein vorgelagerter Teil Lateinamerikas. Diese Nähe zwischen Amerika und Asien und die damit einhergehende Darstellung des Pazifiks als ein Raum spanischer Macht, so der Historiker Ricardo Padrón, waren ein wichtiger Teil der kartographischen Ideologie des spanischen Kolonialismus und seiner Legitimierung (Padrón 2016: 29). Abbildung 1: Carta Hydrographica y Chorographica de las Islas Filipinas

Quelle: Pedro Murillo Velarde (1734), https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b5/Carta_ Hydrographica_y_Chorographica_de_las_Yslas_Filipinas_Dedicada_al_Rey_Nuestro_Se %C3 %B1or_ por_el_Mariscal_d._Campo_D._Fernando_Valdes_Tamon_Cavall %C2 %BA_del_Orden_de_ Santiago_de_Govor._Y_Capn.jpg (Stand: 30.08.2021)

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In den 2010er Jahren erlangte die Karte erneut Prominenz, nicht nur dadurch, dass eines der wenigen verbleibenden Exemplare nun erstmals der Öffentlichkeit auf den Philippinen zugänglich war, sondern auch, weil sie in einem neuen geopolitischen Konf likt mobilisiert wurde, um geographische Aussagen und territoriale Ansprüche zu formulieren. Die Karte verzeichnet – wenngleich etwas ungenau – am westlichen Rand eine Reihe von Inseln, wie die Spratly-Inseln und das Scarborough-Riff, die heute Gegenstand internationaler Rechtsstreitigkeiten zwischen mehreren Anrainerstaaten sind. Dabei nutzte die philippinische Regierung Velardes Karte aus dem 18. Jahrhundert, um sie als historischen Eigentumstitel zu mobilisieren (Garcia 2015; GMA News 2017). Die Konstruktion der Philippinen auf dieser Karte beschränkt sich nicht auf die Darstellung von Küstenlinien und Zugehörigkeiten. Am Kartenrand erzählen Zeichnungen eine Geschichte der Philippinen als Land unterschiedlicher Völker, die stets eng und harmonisch mit der katholischen Kirche und der spanischen Krone verbunden sind. Die spanische Macht und Legitimität werden dabei durch Insignien und die Sprache der Wissenschaften ebenso belegt wie durch Darstellungen der gebauten Umwelt, also spanischer Architektur und Baukunst, beispielsweise in Form eines Plans des kolonialen Zentrums in Manila. Die Karte enthält zudem eine kurze Darstellung der Geschichte des Landes als Geschichte der spanischen Herrschaft, beginnend im Jahr 1519 mit dem Auf bruch von Ferdinand Magellan und endend 1571 mit der Gründung Manilas als Kolonialstadt. Ein weiteres Element der Karte sind einige wirtschafts- und bevölkerungsgeographische Grundangaben der Kolonie und ihrer Reichtümer. Die auffällig gestalteten Schiffe und Schifffahrtsrouten sind nicht nur dekorativer Kartenschmuck, sondern verweisen auf die Rolle der Philippinen bzw. Manilas als Zentrum des transpazifischen Galeonenhandels, der Ostasien für die spanische Kolonialmacht mit dem mexikanischen Acapulco verband. Wie bei vielen Karten dieser Zeit, so wurde auch hier weit mehr verhandelt als die geographische Lokalisierung von Städten, Bergen und Küsten. Die Karte ist eine visuelle Manifestation kolonialer Herrschaftsansprüche. Velardes Karte, so Mirela Altić, unterstreicht und zelebriert auf der Ebene der Symbole, Texte und Bilder die Geschichte der Philippinen als eine spanische Geschichte und den Reichtum des Landes als einen, der durch die Leistungen des spanischen Kolonialismus geschaffen wurde (Altić 2019: 82). In diesem Sinne kann Velardes Karte als ein Beispiel für die vielfach betonte und mehrdimensionale Verbindung zwischen Kartographie, Nation und Kolonialismus gelten. Sie verweist auf die materielle und symbolische Rolle, die Karten bei der Kontrolle und Legitimierung kolonialer Herrschaft spielten, auf die Öffnung und Schließung von kolonisierten Territorien und auf das, was James Scott als »Lesbarmachung« (Scott 1998) bezeichnet – die Erzeugung eines »wissbaren«, kalkulierbaren und damit aus der Ferne regierbaren Territoriums. Dem setzte sich der philippinische Künstler Cian Dayrit 2018 in seiner Arbeit »Mapa de lo que ahora se conce como Las Islas Filipinas« (»Karte vom dem, was heute als Philippinen verstanden wird«, vgl. Abb. 2) entgegen: Auf einer Karte in Form eines Wandteppichs verzeichnete er die Ortsbezeichnungen nicht auf Spanisch, sondern in lokalen Sprachen. Die Geschichte der Philippinen erzählte er in einer historischen Version des Tagalog, der heutigen Verkehrssprache des Landes. Anders als auf Velardes Kolonialkarte wird die Geschichte der Philippinen dabei nicht als eine harmonische Fortschrittsgeschichte der spanischen Kolonialherrschaft dargestellt, sondern als eine

Kritisches Kartieren – zur Einführung

gewaltsame Kolonialisierung, gegen die sich vielfältige antikoloniale Kämpfe richteten (von der Tötung Ferdinand Magellans durch den lokalen Fürsten Lapu-Lapu 1521 über die gewaltsame Christianisierung des Landes bis zum Pariser Vertrag, mit dem 1898 die Philippinen für 20 Millionen US-Dollar in den Besitz der USA übergingen). In diesem Kontext stellt Dayrit der christlichen Symbolik der alten Kolonialkarte – die die Heiligkeit der spanischen Herrschaft bezeugen sollten – Elemente indigener Mythologie und Kultur gegenüber. Die Karte erzählt aber nicht nur inhaltlich eine andere räumliche Geschichte der Philippinen. Auch der Raum der Karte selbst ist verändert. Während Velarde die Philippinen als Entität im Kartenbild fixierte, hat Dayrit eine Öffnung und Dynamisierung des Kartenraumes vorangetrieben: Mithilfe von eingearbeiteten QR-Codes überschreitet die Karte die physische Begrenzung des textilen Materials und verweist auf Elemente jenseits des Kartenbildes und -randes. So wird beispielsweise eine Auktion verlinkt, bei der eines der letzten Exemplare der originalen Karten versteigert wurde. Über einen anderen Code wird Benedict Andersons »Imagined Communities« (Anderson 1991) aufgerufen, um eine Verbindung zwischen der Darstellung einerseits und Fragen der diskursiven und materiellen Erzeugung von Nation und Identität andererseits herzustellen. Zudem unterläuft die gestickte Karte immer wieder die konventionelle Sprache und Ästhetik von Karten und deren Versprechen von Exaktheit und Objektivität.1 Abbildung 2: Mapa de lo que ahora se conce como Las Islas Filipinas

Quelle: Cian Dayrit (2018)

1 Persönliche Kommunikation mit dem Künstler (2020).

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Mit seiner Karte wendet sich Dayrit gegen die Macht kolonialer Kartierungen, die das heutige Bild der Philippinen geprägt haben und es nach wie vor beeinf lussen. Er dekonstruiert dabei nicht nur auf künstlerische Weise spanische Kolonialerzählungen, sondern erarbeitet auch eine andere Form der kartographischen Produktion von Wissen. In seinem Werk erscheinen die Philippinen nicht als eine der spanischen Herrschaft unterworfene und räumlich fixierte Entität. Stattdessen wird eine Geschichte voller Widerstände, Selbstbehauptungen und kultureller Eigenständigkeiten erzählt. Damit zeigt Dayrits Karte auch, wie ein produktives Zusammenwirken von eher dekonstruktiven Ansätzen einer Kritischen Kartographie mit konstruktiven Ansätzen im Sinne des kritischen Kartierens möglich ist.

Zu diesem Buch Die Idee zu diesem Handbuch entstand angesichts der Beobachtung, dass ein wachsendes Interesse an Karten und Kartieren als Instrument und Methode kritischer Wissensproduktion und Forschung zu bestehen scheint. Dies drückt sich nicht zuletzt in zahlreichen Publikationen, Projekten und Veranstaltungen aus, in denen vielfältige Formen eines kritischen Kartierens entworfen und diskutiert wurden und werden (orangotango+ 2018; Dieckmann 2021; Solnit/Snedeker 2013; Mogel/Bhagat 2008; Anti-Eviction Mapping Project 2020). Dennoch fehlt es an einer systematischen Handreichung für verschiedene Ansätze eines kritischen Kartierens, die Studierenden, Forscher*innen und Aktivist*innen als methodischer und methodologischer Impuls für eigene Projekte und Ideen dienen könnte. An diesem Desiderat setzt das vorliegende Handbuch an und versammelt in vier thematischen Abschnitten unterschiedliche konzeptionelle und methodische Zugänge zur Kartierung sozialer Wirklichkeiten. Der erste Teil des Buches steht unter dem Titel »Gemeinsam Sichtbarkeiten schaffen – partizipatives Kartieren«. Partizipation spielt im kritischen Kartieren eine wichtige Rolle, denn aus der Kritik der Kritischen Kartographie, dass die Positionalität und Partikularität konventioneller kartographischer Autoritäten zu eindimensionaler, hegemonialer Wissensproduktion führt, resultiert die Forderung nach Pluralität und Vielstimmigkeit, um auch gegenhegemoniale Perspektiven sichtbar zu machen. Dabei wird die eigene Situiertheit von Wissen in zahlreichen Beiträgen ref lektiert. Der zweite Teil des Buches trägt der Forderung der Kritischen Kartographie Rechnung, dass Karten als Zeichen, Texte und Diskurse zu verstehen sind – und eben nicht als neutrale Abbilder einer Verteilung von Dingen auf der Erdoberf läche. Unter dem Titel »Räume erzählen – narratives Kartieren« sind konzeptionelle und methodische Beiträge versammelt, die andere Formen und Möglichkeiten des Erzählens sozialer Wirklichkeiten mithilfe von Karten vorstellen. Der dritte Teil ist der Lehre und Didaktik gewidmet. Hier stellen Karten nach wie vor ein wichtiges Werkzeug zur Vermittlung von räumlichem Wissen dar – häufig noch immer geprägt von tradierten Verfahren der Weltbeschreibung. Unter dem Titel »Welt anders verstehen – Karten in Unterricht und Lehre« stehen daher Beiträge, die einerseits neue und andere Möglichkeiten einer Vermittlung von räumlichem Wissen und sozialen Wirklichkeiten aufzeigen und die andererseits für einen kritischen Blick auf die Macht der Karte sensibilisieren.

Kritisches Kartieren – zur Einführung

Im vierten Teil, »Geoinformationssysteme kritisch nutzen – digitales Kartieren«, werden stärker quantitativ vorgehende Ansätze präsentiert – auch, um der Skepsis vieler kritischer Kartograph*innen gegenüber quantifizierenden und modellierenden Ansätzen zu begegnen. Die hier versammelten Beiträge betonen das kritische Potenzial von quantitativen Verfahren und Geoinformationssystemen. Die von uns vorgenommene Gliederung in diese vier Felder ist als grober Orientierungsrahmen gedacht – und nicht als einengendes Korsett. Schließlich ist es eine große Stärke der Beiträge dieses Bandes – und des kritischen Kartierens allgemein –, dass Grenzen gesprengt und Definitionen neu gedacht werden.

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Kollektive kritische Kartierungen auf Papier, Pappe und Beton – kartographische Aktionsforschungen zwischen aktivistischer Praxis und geographischer Reflexion Paul Schweizer, Severin Halder, Laurenz Virchow

Abstract Dieser Beitrag ist eine Handreichung für die Organisation, Durchführung und Reflexion von kollektiven Kartierungen, einer Methode der Aktionsforschung, die einen gemeinschaftlichen kritisch-geographischen Reflexions- und Gestaltungsprozess ermöglicht.

Die Bedeutung kollektiver kritischer Kartierungen Diese Handreichung basiert auf den praktischen Erfahrungen mit kollektiven kritischen Kartierungen, die wir, kollektiv orangotango, im Kontext von Aktionsforschung und Bildungsarbeit gesammelt haben. Im Sinne einer aktivistischen Geographie und eines geographischen Aktivismus begreifen wir Kartographie als pädagogisches Werkzeug zur emanzipatorischen Transformation (Halder 2018: 260). Sinn und Zweck dieses Beitrags ist es, aus dieser Perspektive heraus eine praktische Anleitung zu formulieren, die es Studierenden, Promovierenden und Lehrenden erstens ermöglicht, eine stimmige und situierte Forschungsmethodik im Dialog mit lokalen Akteur*innen zu entwickeln, die sich selbst organisierter oder partizipativer kartographischer Werkzeuge bedient. Zweitens möchten wir damit ein Verfahren vorschlagen, das die Kartierung durch kritische Ref lexion in den dialogischen Lernprozess der Aktionsforschung einbettet. Kollektive kritische Kartierungen sind ein niedrigschwelliges Werkzeug, das im Dialog mit Stadtteil- oder Dorf bewohner*innen, Basisgruppen oder sozialen Bewegungen sowie für die politische Forschungspraxis nützlich gemacht werden kann. Sie eröffnen einen räumlichen Bildungsprozess, der in der alltäglichen, lebensweltlichen Umgebung beginnt und sich über den gleichberechtigten Dialog entfaltet. Kollektive Kartierungen ermöglichen einen gemeinschaftlichen Prozess der Sensibilisierung, Ref lexion und Aktivierung. Dieser Beitrag stellt kollektives Kartieren als Methode der Aktionsforschung vor, ein Forschungsstil, der darauf abzielt, kollaborative Forschungsgemeinschaften zu bilden, um gemeinsam mit Mitforschenden etwas zu verändern (vgl. Reason/Bradbury 2008: 1). Dabei bezeichnet »Aktionsforschung« weniger eine kohärente Methodik als vielmehr eine Orientierung, um die persönlichen Beziehungen und methodischen

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Anpassungen im jeweiligen Kontext so zu gestalten, dass die Bedingungen für einen gemeinschaftlichen Forschungsprozess geschaffen werden (s. Kindon/Pain/Kesby 2007: 13). Ausgangspunkt für kollektive Kartierungen als Methode der Aktionsforschung ist der »geteilte Raum«, ob Kontinent, Region, Stadtteil oder Hinterhof, den die Kartierenden untersuchen und verändern wollen. Im Dialog werden die eigenen räumlichen Praktiken in Beziehung zu denen der anderen gesetzt. Dabei können verschiedene intersubjektive Perspektiven sowie verschiedene Wissensarten (z.B. alltägliches, akademisches und traditionelles Wissen) und Ausdrucksformen (u.a. Sprache, Zeichnung, Fotos, Musik) zusammenf ließen (s. Schweizer/Halder 2021, i.E.). Dies mündet oft in einer kollektiven kritischen Raumanalyse, die sich bildlich, mündlich oder schriftlich manifestiert. Im Idealfall eröffnen sich dabei individuelle und gemeinsame Handlungsspielräume, da während der Kartierung ein räumliches Verständnis für die dialektische Beziehung zwischen Individuen und ihrer alltäglichen Umwelt entsteht, die von Menschen verändert werden kann, was wiederum die Menschen verändert (s. Freire 2000: 88). Die Kartierungen stellen daher einen dialogischen Lernprozess dar, der das Politische in alltäglichen Räumen verortet und thematisiert, um die Beziehung zwischen dem Individuum und dem gesellschaftlichen Umfeld zu verändern. In Anlehnung an die Bildungsarbeit von Paulo Freire (2000) können kollektive kritische Kartierungen als ein Prozess der kollektiven geographischen Alphabetisierung in alltäglichen Lebens- und Aktionsräumen bezeichnet werden (Halder 2018). Dabei können – müssen aber nicht – kritische Karten entstehen.

Kollektives kritisches Kartieren im Rahmen einer Aktionsforschung Laut den Iconoclasistas (2013), einem argentinischen Künstler-/Forscher-/Aktivist*innen-Kollektiv, sind kollektive Kartierungen nur eines von vielen Werkzeugen. Ergänzend sollten andere visuelle und spielerische Elemente genutzt werden, um den Dialog und die Bewusstseinsbildung über die Problematisierung des alltäglichen Raums im Sinne Paulo Freires anzuregen. Im Zusammenspiel partizipativer Methoden, im größeren Rahmen einer Aktionsforschung und kritischen Bildungsarbeit, kann ein Raum der Diskussion und Kreation eröffnet werden, der eine kollektive Wissensproduktion ermöglicht und die Organisation sowie Entwicklung von emanzipatorischen Praktiken fördert. Die Methode ist daher als Bestandteil eines Methodenkoffers aktionsorientierter bzw. aktivistischer Forschung zu verstehen und sollte im Idealfall in/ mit sozialen Kämpfen Anwendung finden. Es handelt sich um eine selbstbestimmte Form der Zusammenarbeit, die in einem möglichst gleichberechtigten und selbst organisierten Zusammenspiel von Forschenden und Mitforschenden entsteht. Sie bricht damit mit dem Dualismus partizipativer Prozesse, in denen »Mächtige« Partizipation ermöglichen und »Betroffene« partizipieren dürfen (Halder 2018: 83). Kollektive Kartierungen haben das Potenzial, die Spannung zwischen Interpretation und Transformation aufzulösen. Im Sinne einer »Bildung von unten« können sie Teil von Prozessen horizontaler Wissensproduktion sein und damit zur Transformation unserer Realitäten beitragen: »Das Kartieren-Interpretieren-Transformieren wird zu ein und derselben Aufgabe und ist dabei immer in Bewegung.« (Iconoclasistas 2013: 60, eigene Übersetzung) Wie die Iconoclasistas hervorheben, sollte das mapeo co-

Kollektive kritische Kartierungen auf Papier, Pappe und Beton

lectivo1 nicht alleine stehen, sondern in einen größeren Prozess strategisch eingebettet sein (Iconoclasistas 2013: 7). Allgemein sind counter-cartographies immer nur ein Ausgangspunkt oder ein analytisches Hilfsmittel (Paglen 2007: 43), denn die Kartierung selbst produziert keinen Wandel, sie unterstützt nur einen Prozess. Daher sind auch kollektive Kartierungen stets nur ein Mittel zum Zweck und nie Selbstzweck. Für Kartierungen in Aktionsforschungen bedeutet dies, dass genau geplant werden sollte, zu welchem Zeitpunkt und mit welcher Erwartung die Kartierung eingesetzt wird.

Anleitungen für kollektives kritisches Kartieren Unabhängig von der jeweils angewandten Methodik bietet es sich an, mit der kartierenden Gruppe ein Vorbereitungstreffen zu veranstalten, bei dem die Kartierungsidee von den Initiator*innen an die gesamte Gruppe übergeben wird. Je nach Kontext und Gruppenkonstellation werden dabei zunächst Aktivitäten für das Kennenlernen und den Auf bau von Vertrauen innerhalb der Gruppe durchgeführt. Anschließend geht es an das Klären der Erwartungen, Möglichkeiten und Zielsetzungen zwischen Forschenden und Mitforschenden. Als erste kartographische Übung bietet es sich an, die Themensammlung bzw. Themenkonkretisierung anhand von individuellen mental maps zu gestalten, um die Vorstellungen der einzelnen Teilnehmer*innen zu visualisieren: im Sinne eines »Malt die Karte eurer Träume!«. Anschließend werden Ablauf und Materialien, wie etwa das Erstellen von Icons und Kartengrundlagen, gemeinsam erarbeitet. Für die Strukturierung des Vorbereitungstreffens schlagen wir vor, folgende W-Fragen gemeinsam zu klären und die Kartierung so tatsächlich in die Hand der Gruppe zu geben (s. Box).

Wer? Wer kartiert für wen? Handelt es sich um einen internen (Aktionsforschungs-) Prozess? Soll das Ergebnis öffentlich publiziert und geteilt/verbreitet werden? Wer ist genau das Zielpublikum und warum? Welche Art von Sprache und Ästhetik entspricht der Zielgruppe? Was? Was wird kartiert? Welches Thema hat welche (räumliche) Relevanz? In welche Unterkategorien könnte das Thema unterteilt werden? Welche Daten sollen in welcher Form erhoben werden? Warum? Was steht auf dem Spiel? Was genau ist die zugrunde liegende Herausforderung/Frage? Wie kann die Kartierung helfen, diese besser zu verstehen/zu überwinden? Welche Aktionen könnten auf die/aus der Karte (er-)folgen? Was sind Erwartungen, Potenziale und Ziele?

1 Neben dem mapeo colectivo der Iconoclasistas waren und sind das Projeto Nova Cartografía Social da Amazônia (Wagner Berno de Almeida/Borges Dourado/Bertolini 2018) und die autonomous cartography von 3Cs (Counter Cartographies Collective/Mason-Deese/Dalton 2012) wichtige Inspirationsquellen für unsere Arbeit.

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Wo? Welchen Raum zeigt die Karte? Welcher räumliche Ausschnitt und Maßstab entspricht den Zielen der Kartierung? Welche Karten/Informationen gibt es bereits über dieses Gebiet und Thema, die hilfreich sein könnten? Welche Ausschlüsse entstehen durch diese Setzung des »relevanten« Raums? Wie? Wie soll der Prozess gestaltet werden? Ist die Kartierung prozess- oder ergebnisorientiert, digital oder analog? Handelt es sich um einen kollektiven oder partizipativen Prozess? Welcher Partizipationsgrad soll erreicht werden? Welche Medien sind unter praktischen und ästhetischen Gesichtspunkten für diese Kartierung geeignet – digital oder analog; Papier oder Stoff, …? Mit welchen anderen Aktionen und Interventionsformen soll die Kartierung direkt verbunden werden? Wann? Wie ist der Zeitplan? Was sind (realistische) zeitliche Kapazitäten der Akteur*innen? An welchen Zeitpunkten könnten Probleme auftreten und wie könnten diese gelöst werden?

Eine gemeinsame vorbereitende Begehung durch das zu kartierende (Teil-)Gebiet, zu Fuß oder mit dem Rad, kann zur Klärung dieser Fragen beitragen und liefert oft entscheidende Inspiration für die Durchführung der Kartierung. Nach der gemeinsamen Konzeption und Planung geht es an die Durchführung der Kartierung. Dafür schlagen wir im Folgenden unterschiedliche Kartierungsmethoden vor. Alle sind hier exemplarisch beschrieben, können variiert, kombiniert und weiterentwickelt werden.

Kollektive Kartierung als Gruppenreflexion und Vernetzung Wird beispielsweise mit einer Fridays-for-Future-Ortsgruppe, einer Stadtteilinitiative oder einem antirassistischen Netzwerk geforscht, so lassen sich mit dieser Methode gemeinsam interne Prozesse ref lektieren, Informationen teilen, Ergebnisse und bestehende Netzwerke sichtbar machen oder Strategien für den gemeinsamen Aktivismus definieren. Für diese Kartierung bietet sich eine stark reduzierte Kartengrundlage an, die nur die nötigsten Informationen wie wichtige Straßen, Parks, Gewässer, zentrale Gebäude etc. enthält. Bei der Wahl des Kartenausschnitts sollte bedacht werden, dass bei nicht abgebildeten Stadtteilen auch die Personen und Gruppen ausgeschlossen bleiben, die in diesen aktiv sind. Ein breiter Rand kann nützlich sein für Notizen und Legende. Die Kartengrundlage kann von Hand gezeichnet oder digital entworfen werden (z.B. mit Onlinetools wie mapbox.com oder maps.stamen.com). Es lohnt sich, bereits im Voraus – zum Beispiel bei einem Vorbereitungstreffen – zu ref lektieren, in welche Kategorien sich das zu kartierende Thema gliedern lässt und wie diese graphisch darzustellen sind. Es können bereits bestehende Icons verwendet oder selbst Icons entwickelt werden, die das behandelte Thema noch besser fassen (Icons sind z.B. auf thenounproject.com, iconoclasistas.net und orangotango. info zu finden). Bestehende Icons können aufgegriffen, abgewandelt und mit eigenen Ideen erweitert werden. Das gemeinsame Erarbeiten von Icons vor der Kartierung

Kollektive kritische Kartierungen auf Papier, Pappe und Beton

Abbildung 1: Kollektive Kartierung mit dem Gemeinschaf tsgarten Düsselgrün in Düsseldorf (2017)

Foto: Carsten Heisterkamp (www.carstenheisterkamp.com)

kann einen wertvollen Raum für Austausch über und Aushandlung von Grundbegriffen, Faktoren und Zielen der gemeinsamen Arbeit öffnen. Auch Fotos, Flyer und andere visuelle Elemente können collagenartig in die Kartierung integriert werden. Dadurch lassen sich Elemente aus medialen Diskursen über das zu kartierende Thema einbauen, die so den Blick über die eigene Perspektive hinaus erweitern. Kokartierende werden eingeladen, dazu passende Fotos, Erinnerungen oder Zeitungsartikel zur Kartierung mitzubringen. Falls sich noch nicht alle Beteiligten kennen, bieten Aufstellungskartierungen einen guten Einstieg. Dabei werden der Boden zur Kartengrundlage und der Kartenausschnitt entsprechend dem Aktionsradius der Gruppe gewählt. Nun positionieren sich alle auf der Karte anhand von Fragen, die eine anleitende Person formuliert: Wo gestalten wir Stadt mit? Wo eignen wir uns öffentlichen Raum an? Aber auch: In welcher Region fühlen wir uns unwohl? Wo fehlen Freiräume? Nach jeder Aufstellung erklären alle, wo sie auf der Karte stehen und, entsprechend der jeweiligen Frage, was dieser Ort für die eigene Praxis bedeutet. Anschließend wird zu dem zu kartierenden Thema übergeleitet und das geplante Vorgehen erläutert. Es bietet sich an, in Kleingruppen vorzuarbeiten, Kategorien zu definieren, die für das Thema relevant sind, und diese Kategorien eventuell mittels Icons zu visualisieren. Sobald ein Konsens über die Kategorien und deren Darstellung als Icons gefunden wurde, können diese auf der Karte angebracht werden. Die dort markierten Informationen können Gebiete (Flächen), Verbindungen zwischen Orten (Linien) oder einzelne Orte (Punkte) betreffen. Wenn die relevanten Infos nicht auf die Karte selbst passen, lassen sie sich oft gut als Infokästen oder Grafiken auf dem Kartenrand anbringen und mit Linien oder durch Nummerierung zuordnen.

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Nicht die Kartierungsmethode, sondern das Interesse und die Bedürfnisse der Gruppe prägen den Prozess. Vielleicht ist der zu kartierende Inhalt gar nicht in vereinheitlichende Kategorien zu fassen und kann nur durch ausführliche Darstellung der einzelnen Gegebenheiten kartiert werden. In diesem Fall kann statt mit Icons mit detaillierten Zeichnungen und Collagen oder ausführlichen Textelementen gearbeitet werden. Zuletzt bleibt zu klären, welche Funktion die entstandene Karte nach dem Kartierungsprozess hat. Eventuell wird sie aufgehoben, um den Ref lexionsprozess fortzuführen; vielleicht wird sie nachbearbeitet, gelayoutet und sogar vervielfältigt oder als Onlinekarte zugänglich gemacht; oder es wird gemeinsam festgestellt, dass der Wert der Kartierung im kollektiven Prozess lag und die Karte selbst gar nicht mehr gebraucht wird. Je nachdem, wie sensibel die kartierten Informationen sind, kann es durchaus sinnvoll sein, die Karte nach Beendigung des Prozesses zu vernichten. Sie wirkt in der Praxis aller Beteiligten weiter.

Kartierungsinterventionen im öffentlichen Raum Diese Kartierungsmethode eignet sich, um eine größere Gruppe in den Dialog einzubeziehen, zum Beispiel Passant*innen, Stadtteilbewohner*innen und andere Nutzer*innen öffentlicher Räume, in denen geforscht wird. Sie eignet sich, um im Dialog mit Passant*innen deren Meinung, Raumnutzungen und -wahrnehmung zu diskutieren. Eine Kartengrundlage, die zum Kartieren einlädt, ist für diese Art der Kartierung besonders wichtig, da sie die Ansprache von Passant*innen erleichtert. Sie sollte stark vereinfacht sein und wichtige Orientierungspunkte enthalten, sodass die angesprochenen Personen sich in ihr leicht orientieren können. Große Karten erregen Interesse und bieten Platz für vielseitige Partizipation. Kartengrundlagen aus Papier lassen sich unkompliziert drucken und sind einfach zu gestalten, ob mit Stiften, Stickern oder als Collage. Kartengrundlagen aus Stoff dagegen lassen sich hervorragend transportieren, sind wasserfest und überzeugen durch eine einladende Haptik. Zur unkomplizierten Herstellung einer Stoff karte bietet es sich an, eine digitale Karte auf eine Stoff bahn zu projizieren und die Projektion nachzuzeichnen. Neben Filzstiften lässt sich auf Stoff karten auch mit bunten Schnüren und Bändern arbeiten. Icons können aufgenäht oder mit (Steck-/Sicherheits-)Nadeln angeheftet werden. Abgesehen von vorab entworfenen Icons, die das Thema abbilden, sollte auch Material vorbereitet werden, um vor Ort neue Icons mit jenen Inhalten zu machen, die in der Wahrnehmung der organisierenden Gruppe nicht auftauchen und deshalb spontan hinzugefügt werden müssen. Laminierte Icons sind stabil, wasserfest und lassen sich hervorragend anstecken. Es bietet sich an, vorab zu klären, wie Passant*innen angesprochen, mit welchen Fragen sie zum Kartieren eingeladen werden sollen und wie mit unerwarteten Reaktionen umgegangen werden soll. Da mit Menschen kartiert wird, zu denen noch kein Verhältnis besteht, muss bei dieser Methode eine gewisse Spontanität und Offenheit gegenüber unerwarteten Inhalten und Meinungen gezeigt werden. Wichtig ist, möglichst offen zu fragen, um Erfahrungen der Raumnutzer*innen nicht in vorab definierte Kategorien zu zwingen. Es lohnt sich, nach subjektiven Wahrnehmungen und Emotionen im Raum zu fragen, um Einblicke in die unterschiedlichsten menschlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen in dem untersuchten Gebiet zu erlangen. Diese

Kollektive kritische Kartierungen auf Papier, Pappe und Beton

Abbildung 2: Kartierungstisch vor dem Grazer Bahnhof in Kooperation mit den Iconoclasistas (im Rahmen des Festivals »Steirischer Herbst«, 2012)

Foto: kollektiv orangotango

Kartierung bietet das Potenzial, für jene unerwarteten und umso relevanteren Aspekte sensibel zu werden, die in der Konzeption und Planung der Forschung nicht bedacht wurden. Mehr Raum für subjektive Erfahrungen als Icons bieten Klebezettel, auf die Kokartierende zeichnen oder kurze Texte schreiben können. Alternativ kann die analoge Kartierung durch Audio- oder Videoaufnahmen ergänzt werden. Neben der Kartierung können die Begegnungen, die am Rande der Kartierung stattfinden, besonders bereichernd sein. Wichtig ist auch, Interessierten zu erklären, in welchen größeren (Aktionsforschungs-)Prozess die Kartierung eingebunden ist und wie sie sich in diesen einbringen können. Die Methode lässt sich außerdem optimal während öffentlicher Veranstaltungen wie Tagungen, Konferenzen, Netzwerktreffen, Demonstrationen, Straßenfesten oder anderen durchführen.

Raum als Karte, Karte als Spielfeld Die folgende Methode des Kartierens im öffentlichen Raum fordert aktives Eingreifen von Kokartierenden. Anstatt den Raum auf der Karte abzubilden, wird dabei die Karte im Raum selbst angebracht, um spielerisch zu erproben, welche Veränderungen sich alle Beteiligten im jeweiligen Dorf oder Stadtteil wünschen. So wird der öffentliche Raum zu einer begehbaren Karte und zum Spielfeld für transformative Visionen. Die Kartengrundlage für diese Kartierung kann ein Feld, ein Straßenabschnitt, ein Weg im Park oder eine Bushaltestelle sein und ist mit viel Bedacht zu wählen. Neben Oberf lächenbeschaffenheit und »Inventar« sollte vorab untersucht werden, wer diesen Raum gewöhnlich nutzt und mit welcher Beteiligung und welchen Reaktionen demnach zu rechnen ist. Nicht zuletzt sollte der Ort der Kartierung nach der

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Bedeutung, die dieser an sich für das Thema trägt, das in der Kartierung untersucht wird, ausgewählt werden. Auch für diese Form der Kartierung können Icons in einer geeigneten Größe vorbereitet werden, zum Beispiel aus Pappe, Pappmaché, Stoff oder Holz. Auf der Fläche, die zur Karte werden soll, können Markierungen angebracht werden, die wichtige Orte im auf der Karte abzubildenden Raum darstellen. Neben gemalten Symbolen können Abbildung 3: »Straßenkarte« vor dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin (im Rahmen des Projektes »Schools of Tomorrow«, 2018)

Foto: kollektiv orangotango

Kollektive kritische Kartierungen auf Papier, Pappe und Beton

dafür auch 3D-Gebäude aus Pappkartons nachgebaut werden. Diese können Kokartierenden helfen, sich mit der Karte zu identifizieren und sich in dieser zu orientieren. Zum Malen auf dem Boden eignen sich Kreide, Kreidespray oder andere Farben. Auch mit (bunten) Klebebändern lässt sich auf den meisten Oberf lächen gut arbeiten. Alternativ können Linien mit Schnüren, Bändern oder Seilen gelegt werden. Wichtige Flächen wie Parks oder Plätze lassen sich zum Beispiel durch Stoffe besonders hervorheben. Wenn Beteiligten die Möglichkeit gegeben werden soll, den Raum auch baulich (dreidimensional) umzugestalten, bieten sich Pappkartons (plus Klebeband und Teppichmesser) als Material an. Um die »Gebäude« auch farblich zu gestalten, sind Sprühdosen besonders geeignet. Außerdem kann alles, was vor Ort gefunden wird, zum Material für die Kartierung werden. Um die spielerische Kartierung zu beginnen, können Forschende sich zunächst selbst in die Karte begeben, ihre täglichen Wege gemeinsam nachgehen, Lieblingsorte besuchen und sich gegenseitig an die Orte im Stadtteil oder Dorf mitnehmen, die sie gerne verändern möchten. Anschließend wird die Karte umgestaltet. Dabei wird aufgemalt, was verändert werden soll, und gebaut, was noch fehlt, sowie die vorhandene bauliche Substanz nach Belieben bewegt. Nun können interessierte Passant*innen eingeladen werden, die Forschenden durch die Karte zu führen und ihre Erfahrungen und Wünsche zu teilen und selbst Änderungen vorzunehmen. Da dabei kaum alle Ideen in der Karte festgehalten werden, macht es Sinn, Vorschläge und Visionen zu protokollieren oder aufzunehmen. Außerdem lohnt es sich, genau zu beobachten und festzuhalten, welche Reaktionen diese Intervention im öffentlichen Raum provoziert, um diese in die folgende Ref lexionsphase der Aktionsforschung einzubeziehen.

Reflexion von kollektiven kritischen Kartierungen Nach der Kartierung gilt es, die gesammelten Erfahrungen zu dokumentieren und zu ref lektieren, um sie für den weiteren Verlauf der Aktionsforschung und für die Gruppe, mit der geforscht wird, sowie für deren Aktivitäten nutzbar zu machen. Deshalb sollte, nach einer kurzen Verschnaufpause, eine systematische kollektive Ref lexion durchgeführt werden. Zu Beginn sollten die mit der Nachbereitung verbundenen Absichten und Ziele geklärt werden. Die gemeinschaftliche Ref lexion wird erleichtert, indem die gesammelten Informationen auf bereitet, bestimmte Aspekte fokussiert sowie offene Fragen thesenartig formuliert und visuell dargestellt werden. Es bietet sich an, bei der Ref lexion den Blick sowohl zurück als auch nach vorne zu richten: »Wie war es?« – »Wie weiter?« Emotionalen, erfolgreichen und problematischen Momenten sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eine Dokumentation der Ref lexion ist dann sinnvoll, wenn mensch die daraus gezogenen Lehren als Grundlage für kommende Aktionen und Prozesse nutzen will. Diese Phase spielt eine zentrale Rolle für die Wissensproduktion und den Lerneffekt im Rahmen einer Aktionsforschung und sollte im Idealfall zum nächsten Zyklus von Analyse, Planung, Aktion und Ref lexion überleiten. Die gemeinsame Ref lexion sollte auch mögliche unerwünschte Auswirkungen der Kartierung problematisieren und gegebenenfalls gegensteuern. Der kritische Anspruch kollektiver Kartierungen schützt nicht davor, durch die Kartierung vorhan-

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Abbildung 4: Selbstref lexiver Kartierungsprozess mit verschiedenen Akteur*innen (auf Einladung von Bonn Postkolonial in der Alten VHS in Bonn, 2019)

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dene Probleme und Konf likte zu verstärken oder gar neue zu schaffen. Deshalb ist es stets geboten, vorsichtig und respektvoll zu kartieren. Bestimmte Informationen, Gruppen oder Phänomene können gerne darauf verzichten, durch eine Karte sichtbar gemacht zu werden. Der behutsame Umgang mit sensiblen Informationen ist unumgänglich, um zu vermeiden, dass Wissen missbraucht oder vereinnahmt wird. Die Faustregel lautet: Menschen entscheiden selbst, ob sie kartiert werden wollen! Daher möglichst frühzeitig mit Leuten reden und spätestens vor Veröffentlichung der Karte die Zustimmung aller Beteiligten einholen (s. Hirschmann et al. 2018). Im Rahmen der Kartierung kann es passieren, dass zwischen dem in der Konzeption des Forschungsprojekts formulierten Anspruch, nichthegemoniale Kartenbilder zu nutzen oder zu erschaffen, und einem pragmatischen Realismus abgewogen werden muss. Beispielsweise kann die Abbildung dominanter räumlicher Referenzen der Orientierung von Kokartierenden dienlich sein und so eine niedrigschwellige Beteiligung ermöglichen, während sie gleichzeitig hegemoniale Kartenelemente wie Staatsgrenzen reproduziert. Die Qualität des Prozesses und dessen Ergebnis variiert stark in Abhängigkeit von den zeitlichen Rahmenbedingungen der Kartierung. Je höher der Anspruch an den Partizipationsgrad ist, desto mehr Zeit wird wohl nötig sein, um auftretende Konf likte und Probleme gemeinsam mit Fingerspitzengefühl, angepasst an die Notwendigkeiten der Gruppe, zu lösen. Nur mit ausreichend Zeit wird ein kollektiver gesellschaftskritischer Ref lexionsprozess möglich, bei dem auch zum Beispiel biographische Erfahrungen und Emotionen ihren Platz haben. Zuletzt bleibt zu betonen, dass die Kartierung selbst als kreativer, ref lexiver und ermächtigender Prozess eine – von der Schaffung einer kritischen Karte unabhängige – Wirkmacht entfalten kann. Nichtsdestotrotz können eine sorgfältige Auswertung und gegebenenfalls die visuelle Fixierung und Reproduktion der Ergebnisse in Form einer gestalteten Karte die Ziele der kollektiven Kartierung befördern und weitertra-

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gen. Eine mangelhafte Dokumentation der Ergebnisse hingegen untergräbt oftmals die längerfristige Wirksamkeit der Kartierung. So hat die geringe Lesbarkeit handgezeichneter Kritzel-Kartierungen zur Folge, dass die Ergebnisse der Kartierung nach Beendigung des Prozesses unzugänglich bleiben. Nachbearbeitung und Layout dieser Kritzel-Karten können sie dagegen in Poster oder in digitale Karten verwandeln. Als solche bleiben sie für die Gruppe erhalten, können aber auch mit anderen Personen und Gruppen geteilt werden. So dienen sie als Medien des in der Aktionsforschung kollektiv produzierten Wissens und tragen dieses in andere Kontexte, wo es womöglich weitere dialogische Prozesse der Bildung und gesellschaftlichen Transformation inspiriert. Probleme und Grenzen sind Bestandteil einer solidarischen und sensiblen Kartographie, und die Auseinandersetzung damit ist Teil einer kollektiven kritischen Kartierungspraxis, die bei der Schaffung von Vernetzung, Begegnung und Dialog sowie bei der Sichtbarmachung von Widerstand zweifelsohne ihren Reiz und Wert besitzt.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur kollektiv orangotango+ (Hg.) (2018): How to Become an Occasional Cartographer – Insights into various mapping guides as a starting point for your practice. (The This Is Not an Atlas-Manual). Siehe https://notanatlas.org/atlas/this_is_not_an_atlas_ manual.pdf vom 08.03.2021. Halder, Severin (2018): »Vorschlag eines Leitfadens für Aktionsforscher*innen und forschende Aktivist*innen«, in: Halder, Severin, Gemeinsam die Hände dreckig machen – Aktionsforschungen im aktivistischen Kontext urbaner Gärten und kollektiver Kartierungen, Bielefeld: transcript, S. 339-360. Siehe www.dreckigehaende.de/media/kapitel_5_leitfaden_aktionsforschungen_dreckige_haende.pdf vom 08.03.2021. *** Counter Cartographies Collective/Mason-Deese, Liz/Dalton, Craig (2012): »Counter (Mapping) Actions – Mapping as Militant Research«, in: ACME 11 (3), S. 439-466. Freire, Paulo (2000): Pedagogy of the oppressed, New York: Continuum. Halder, Severin (2018): Gemeinsam die Hände dreckig machen – Aktionsforschungen im aktivistischen Kontext urbaner Gärten und kollektiver Kartierungen, Bielefeld: transcript. Hirschmann, Anna/Kiczka, Raphael/Ledermann, Florian/Participants of the Solidary Mapping Workshop in Vienna (2018): »A Guideline for Solidary Mapping«, in: kollektiv orangotango+ (Hg.), This Is Not an Atlas – A Global Collection of Counter-Cartographies, Bielefeld: transcript, S. 205-207. Iconoclasistas (2013): Manual de mapeo colectivo: recursos cartográficos críticos para procesos territoriales de creación colaborativa, Buenos Aires: Tinta Limón. Siehe https://iconoclasistas.net/4322-2/vom 08.03.2021. Kindon, Sara/Pain, Rachel/Kesby, Mike (2007): »Participatory action research – Origins, approaches, methods«, in: Kindon, Sara/Pain, Rachel/Kesby, Mike (Hg.): Par-

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ticipatory Action Research Approaches and Methods: Connecting People, Participation and Place, London u.a.: Routledge, S. 9-18. Paglen, Trevor (2007): »Mapping Ghosts. Visible collective talks to Trevor Paglen«, in: Mogel, Lize/Bhagat, Alexis (Hg.), An Atlas of Radical Cartography, Los Angeles: Journal of Aesthetics & Protest Press, S. 39-50. Reason, Peter/Bradbury, Hillary (Hg.) (2008): Handbook of Action Research: Participative inquiry and practice, London: SAGE. Schweizer, Paul/Halder, Severin (2021, i.E.): »Ref lections on the cartographic languages when collectively mapping possible worlds«, in: Schranz, Christine/Magrini, Boris (Hg.), Shifts in Mapping, Bielefeld: transcript. Wagner Berno de Almeida, Alfredo/Borges Dourado, Sheilla/Bertolini, Carolina (2018): »A New Social Cartography – Defending Traditional Territories by Mapping in the Amazon«, in: kollektiv orangotango+ (Hg.): This Is Not an Atlas – A Global Collection of Counter-Cartographies, Bielefeld: transcript, S. 46-53.

Emotional Mapping und partizipatives Kartieren – ungehörte Stimmen sichtbar machen Luise Klaus, Mélina Germes, Francesca Guarascio

Abstract Marginalisierte Personengruppen sind bisher oftmals nur Objekt von Wissenschaft und Politik. Kritisches Kartieren in Form von Emotional Mapping und partizipativem Kartieren ermächtigt die Betroffenen, ihren gelebten Raum und ihre ideale Stadtimagination darzustellen und somit für urbane politische Diskussionen sichtbar zu machen.

Wenn Kartieren ungehörte Stimmen sichtbar macht In neoliberalen Stadtdiskursen gelten marginalisierte Personen(-gruppen) wie Drogenkonsumierende, obdachlose Personen und andere als vermeintliches Sicherheitsrisiko. Ihre Anwesenheit im urbanen Raum wird als Störfaktor empfunden und anhand von vermeintlichen Verschmutzungen problematisiert; der Konsum von (illegalisierten) Drogen im urbanen Raum wird als Gefahr für die öffentliche Sicherheit gesehen. Die prekären Lebensrealitäten, in denen sich diese Menschen befinden, werden von vielen Anwohnenden oder Passant*innen als Bedrohung des eigenen Wohlstands wahrgenommen (Kammersgaard 2020; Cusick/Kimber 2007; Wehrheim 2019). So problematisieren die gesellschaftlichen Diskussionen die Sichtbarkeit marginalisierter Personen grundsätzlich als etwas Negatives, das es zu verhindern gilt. Es werden vor allem die Perspektiven von Polizei, Politik, Gewerbetreibenden und Anwohnenden wahrgenommen. Eine Perspektive bleibt dabei weitestgehend unbeachtet: die der Drogenkonsumierenden selbst (Kollektiv Kritische Straßensozialarbeit 2020). Sie sind Gegenstand dieser städtischen Drogen- und Sicherheitspolitiken, ohne dass ihr Alltagswissen, ihre Erfahrungen oder Sichtweisen gehört werden. Die Gründe, warum sich diese Menschen im urbanen Raum auf halten (müssen), bleiben unhinterfragt. Ebenso wie das Empfinden und das Erleben der betroffenen Personen selbst. Polizeiliche Kriminalstatistiken oder Kriminalitätskartierungen stellen beispielsweise »Rauschgiftkriminalität« dar, ohne offenzulegen, dass diese nur das sogenannte Hellfeld wiedergeben und somit in erster Linie Indikator der polizeilichen Ermittlungsarbeit sind. Zudem bleiben die gesellschaftlichen Ursachen von Drogenkonsum und -handel unhinterfragt (z.B. wenn Drogenhandel durch finanzielle Not oder mangelnde Arbeitserlaubnis bedingt ist). Somit sehen diese Erhebungen von gesellschaftlichen Verhältnissen und Prozessen ab und lassen ein verzerrtes Bild entstehen (Belina

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2009). Kritisches Kartieren stellt hierbei ein wichtiges Werkzeug dar, um die Perspektiven und Erfahrungen marginalisierter Personengruppen sichtbar zu machen und zu verstehen, wie diese Menschen urbanen Raum erfahren und produzieren. Im Kontext der Kooperation von zwei Forschungsstudien1 haben wir zwei Methoden des kritischen Kartierens von und mit Drogenkonsumierenden entwickelt, welche dazu beitragen, die Alltagswelt der Drogenszenen und deren marginalisierte Perspektiven und Erfahrungen sichtbar zu machen2: Die erste Methode, qualitative Mapping Interviews mit einzelnen Personen, bezeichnen wir als Emotional Mapping (EM). Alltagserfahrungen und -räume sowie Emotionen aus subjektiver Perspektive sind Gegenstand des Interviews. Die zweite Methode nennen wir Ideal-City-Workshop (ICW). Die Ideal-City-Workshops beruhen auf einem kollektiven Prozess, in dem die Teilnehmenden konkrete stadtplanerische Maßnahmen auf einer Grundkarte der jeweiligen Stadt bzw. des Viertels verorten. In diesem Beitrag erklären wir die zwei Methoden näher, um zu ermöglichen, dass sie weiter genutzt und angepasst werden sowie mit ihnen experimentiert wird – in unterschiedlichen Kontexten der Marginalisierung.

Situiertes Wissen über gelebte und geplante Stadträume Um das Wissen und die Praxis des hier vorgestellten Ansatzes kritischen Kartierens mit marginalisierten Gruppen und insbesondere marginalisierten Drogenkonsumierenden besser einordnen zu können, möchten wir uns zunächst kurz vorstellen und positionieren: In diesem Beitrag beschreiben wir die Ergebnisse einer kritischen und feministischen Sozial- und Stadtforschung, welche wir als ein unstrukturiertes Kollektiv weißer, europäischer und überwiegend weiblicher Mitarbeitenden an unterschiedlichen befristeten wissenschaftlichen Projekten durchgeführt haben. Wir weisen unterschiedliche fachliche Hintergründe auf (von der akademischen Wissenschaft der Geographie und Soziologie über Stadtplanungstätigkeiten und Sozialarbeit), teilen jedoch gleiche Perspektiven in Bezug auf unser (politisches) Selbstverständnis und unsere Arbeit.

Kartieren als Instrument der Wiederaneignung Praktiken des Kartierens werden oft als die Wiederaneignung eines Machtmittels zur Schaffung alternativer Repräsentationen, insbesondere in Kunst, Aktivismus und Wissenschaft, theoretisiert (Mogel/Bhagat 2008; Belina/Germes 2016; kollektiv 1 Beide Forschungsstudien befassen sich mit Drogenkonsum im öffentlichen Raum und daraus resultierenden Konfliktfeldern: Das Projekt DRUSEC (Drugs and Urban Security) ist ein deutsch-französisches Forschungskonsortium (gefördert von ANR/BMBF, Laufzeit 2017-2020/2021); das Projekt NUDRA (Netzwerk zum Umgang mit Alkohol und Drogen im öffentlichen Raum) untersucht die lokalen Bedingungen Berlins (gefördert vom Berliner Senat, Laufzeit: 2018-2020). 2 Wir beziehen uns in diesem Text auf eine Forschung, deren Ergebnisse in einer Online- und Wanderausstellung an der Schnittstelle zwischen kritischer Wissenschaft, sozialer Arbeit und politischem Aktivismus vorgestellt sind; siehe https://drogenalternativeplanung.wordpress.com/ (19.05.2021).

Emotional Mapping und partizipatives Kartieren – ungehörte Stimmen sichtbar machen

orangotango+ 2018; Wood 2010). Aus einem feministischen Verständnis heraus dient kritisches Kartieren jedoch nicht nur dazu, Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen und eine gesellschaftskritische und wissenschaftliche Analyse von Kartierungen vorzunehmen. Zugleich soll dieses Wissen auch für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der marginalisierten Teilnehmenden brauchbar gemacht werden (Bittner/ Michel 2018).

Situiertes Wissen vs. unmarkierte gesellschaftliche Positionen Demnach ist es unser Anspruch, Methoden zu entwickeln, welche die Beziehung zwischen Forschenden und Teilnehmenden – marginalisierte, ausgeschlossene Personengruppen – kritisch zu ref lektieren vermögen und das Alltagsleben, die Perspektiven und Ideen der marginalisierten Konsumierenden in den Mittelpunkt stellen. Dieser Anspruch verlangt ein hohes Maß an methodischer Ref lexion, Experimentier- und Diskussionsbereitschaft. Im Rahmen unserer Forschung beziehen wir uns deshalb auf feministische Erkenntnistheorien, die wir als eine Möglichkeit verstehen, Wissen und die Position des wissenden Subjektes zu ref lektieren (Haraway 1996; Sundberg 2003): Die Subjekte unserer Forschung sind marginalisierte Drogenkonsumierende, deren Wissen oftmals als unwichtig oder wenig beachtenswert gilt. Um die Konsumierenden als Subjekte in den Fokus zu rücken, ist es unser Ziel, mittels kritischen Kartierens deren Position als Wissensquelle zu betrachten und ihr Wissen sichtbar zu machen. Wissenschaft erhebt oftmals den Anspruch der Neutralität und Objektivität. Das durch die Forschung erhobene Wissen wird gemeinhin als das einzig mögliche dargestellt, als universelles Wissen, das nicht von der Person oder Position des*der Wissenden beeinf lusst wird, als ein »unmarkiertes« Subjekt (Haraway 1996: 224). Dem widerspricht die feministische Philosophin Donna Haraway, wenn sie von einer grundsätzlichen Bedingtheit allen wissenschaftlichen Wissens ausgeht. Haraway spricht von situiertem Wissen, um darauf aufmerksam zu machen, dass Wissen immer nur einen partiellen Ausschnitt bzw. eine spezifische Perspektive der Wirklichkeit aufzeigt. Dabei gibt es sogenannte unmarkierte Positionen, die gemeinhin einer weißen, männlichen und wohlsituierten Betrachtungsweise entsprechen, deren Wissen insbesondere als objektiv erachtet wird. Aus dieser Position heraus werden andere Identitäten in Bezug auf die eigene Selbstwahrnehmung als das »Andere« (Rose 1993) gesehen. Diese Anderen sind nicht nur Frauen, sondern alle, die nicht dem lange (oder immer noch) gültigen Konsens eines weißen und männlichen Wissens entsprechen, wie beispielsweise Menschen der Unterschicht, Schwarze, Behinderte und Drogenkonsumierende. Deren Positionen gelten per se als subjektiv: Sie werden als Wissensobjekte behandelt und als unfähig zu (objektivem) Wissen angesehen. Haraway betont, wie wichtig es ist, Wissen zu positionieren und somit anzuerkennen, dass es zwar keine universellen, wohl aber situierte Objektivitäten gibt (Haraway 1996). Die Subjekte unserer Forschung sind marginalisierte Drogenkonsumierende, deren Wissen auf vielfältige Weise situiert ist und im Gegensatz zum unmarkierten Wissen, welches zum Beispiel aus polizeilichen Statistiken entsteht, wenig behandelt wird. Im Gegensatz dazu soll der methodische Ansatz die Position dieser Subjekte als Wissensquelle über ihre alltäglichen Erfahrungen und Interaktionen mit Institutionen stärken. Dies ist die Teilperspektive des urbanen Alltags, mit der wir im Rahmen unserer Forschung arbeiten.

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Eine feministische kritische Kartierung ref lektiert sowohl die Positionen der Forschenden als auch der Teilnehmenden sowie die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Teilnehmenden (class, gender, race etc.). Sie produziert Methoden, die das situierte Wissen, das Erleben und die Bedeutung von marginalisierten bzw. nicht hegemonialen Subjekten hervorheben und sichtbar machen. Gerade deswegen ist eine offene Haltung notwendig, um den Teilnehmenden vorurteilsfrei zu begegnen. Dazu gehört es auch, die eigenen politischen Überzeugungen sowie tief verankerte Vorstellungen von »Normalität« hintenanzustellen. Unser Ansatz des kritischen Kartierens will dabei nicht soziale und räumliche Gegebenheiten objektivieren, sondern die Komplexität der Produktion des Raumes und der darin eingeschriebenen Aushandlungsprozesse erfassen (Klaus/Germes 2019: 59f.).

Methode 1: Emotional Mapping des gelebten Raumes: Stadtgefühle Die erste Methode, die wir für unser gemeinsames Forschungsvorhaben konzipiert haben, nennt sich Emotional Mapping (EM). Es handelt sich um eine individuelle, qualitative Interviewform und ist an mental mapping angelehnt, welches individuelles Erleben und Raumaneignungen visualisiert (Gieseking 2013; Downs/Stea 1982). Die Originalität des EM liegt in den Emotionen, die die Interviewpartner*innen mit bestimmten Orten verknüpfen – Orte werden den Emotionen entsprechend mit Farben versehen. EM basiert auf dem Postulat, dass Emotionen keine innewohnenden individuellen Erscheinungen, sondern soziale und politische Konstrukte sind. Wer sich wo wie fühlt, ist eine Frage von sozialen Positionen, Normen und Abweichungen, von gesellschaftlichen Skripten und Diskursen. Machtverhältnisse werden auch in Form von Emotionen ausgedrückt (Ahmed 2004). EM baut auf einem qualitativen Interview auf, in dessen Verlauf die Interviewpartner*innen eine subjektive Karte ihrer gelebten Räume auf Papier zeichnen und mit Farben verschiedene Emotionen in Bezug auf Orte und Situationen darstellen. EM umfasst ebenfalls die Auswertung der Ergebnisse in Form von Collagen. Diese Collagen dienen dazu, Visualisierungen der Stadt über die Perspektive der einzelnen Interviewpartner*innen hinaus kollektiv darzustellen. Dabei wird von den persönlichen Details jeder Person abstrahiert; stattdessen werden strukturelle Prozesse der Ausschlüsse sichtbar gemacht (s.u. »Ergebnisse auswerten, visualisieren und kommunizieren«). EM ermöglicht es, Stimmen marginalisierter Drogenkonsumierender zu deren städtischem Alltag zu sammeln und mehr über deren gelebte Stadt und ihre Gefühle in Bezug auf die Stadt zu erfahren. Für andere marginalisierte Personen und andere räumliche Kontexte kann der Interviewbogen kontextabhängig angepasst werden. Es handelt sich um ein leitfadengestütztes Interview, also um ein für beide Seiten spannendes Gespräch und keine Umfrage. Die Fragen müssen nicht in einer bestimmten Reihenfolge gestellt werden. Die besten Fragen sind kurz und appellieren an Anekdoten oder Erzählungen. Meinungsfragen sowie geschlossene oder suggestive Fragen sind im Leitfaden ausgeschlossen und sollten auch während des Interviews möglichst vermieden werden. Während Drogenkonsum in urbanen Räumen als Ursache einer legitimen Angst für die Zivilgesellschaft beschrieben wird, zeigen kritische Forschungsansätze, dass Menschen, die Drogen in urbanen Räumen konsumieren,

Emotional Mapping und partizipatives Kartieren – ungehörte Stimmen sichtbar machen

berechtigt Angst vor Aggressionen von Anwohnenden, Gewerbetreibenden und dem (gewalttätigen) Einschreiten der Polizei haben (Klaus/Germes 2019). Vielmehr werden Lebensumstände, Risiken und Ansichten der Drogenkonsumierenden selbst in den Hintergrund gestellt oder ganz vergessen. Aus einer kritischen Perspektive muss die Umsetzung der Begriffe von Sicherheit/Unsicherheit hinterfragt werden – indem Einzelinterviews mit marginalisierten Konsumierenden geführt werden, mit einem Fokus auf der Vielfalt von positiven und negativen Emotionen. Die Erzählungen und Zeichnungen von den Emotionen in Bezug auf Orte machen nicht nur Erlebtes, sondern auch Machtverhältnisse im Raum sichtbar: Dies ermöglicht eine ganz neue Visualisierung des »Drogenproblems im öffentlichen Raum«. Abbildung 1: Emotionslegende

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 1 zeigt eine Emotionslegende, die wir für das EM entwickelt und während der Interviews genutzt haben. Die Emotionslegende gliedert sich nicht in oben und unten: Es ist ein Rad, welches verschiedene Emotionen zeigt, ohne diese zu hierarchisieren oder in eine Rangfolge zu bringen. Zur Übersichtlichkeit ist die Legende auf sechs Emotionen und sechs Farben begrenzt, welche sorgfältig ausgewählt wurden. Zwar ist diese Anzahl eine Begrenzung der abbildbaren Emotionen; sie hindert die Interviewpartner*innen aber nicht daran, andere Emotionen zu nennen oder Farben umzudeuten. Empirisch hat sich gezeigt, dass schon sechs unterschiedliche Emotionen verwirrend für die Gesprächspartner*innen sein können, da es nicht immer einfach ist, das Empfundene in einen Begriff bzw. eine Farbe zu fassen und deutlich abzugrenzen. Daher sind die Farben in einem ineinander übergehenden kreisförmigen Kontinuum dargestellt. Drei Emotionen werden positiv, die übrigen drei negativ

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gewertet. An zwei Enden begegnen sich Emotionen geringerer oder höherer Intensitäten. Die Korrespondenz zwischen Emotion und Farbe ist beliebig und unterliegt keiner stringenten Theorie (vgl. Abb. 1). Im Folgenden wollen wir den Auf bau der EM-Interviews im Rahmen unseres Forschungsvorhabens Schritt für Schritt nachzeichnen:

Einleitung in das Interview Ich bin X. Ich arbeite am X im Kontext von einem Forschungsprojekt, in dem es um [Drogenkonsum im öffentlichen Raum] geht. Ich möchte Interviews führen, um den Alltag von [Drogenkonsumierenden] in der Stadt besser zu verstehen. Wenn du3 einverstanden bist, werden wir ein Interview führen. Also werde ich dir ein paar Fragen stellen und du erzählst mir alles, was dir dazu einfällt und was du erlebt hast; deine Erfahrungen, deine Geschichte oder Anekdoten, alles, was dir interessant erscheint. Das Interview wird ausschließlich für dieses Projekt verwendet. Es ist anonym und ich werde auch keine Informationen über dich an andere weitergeben. Während des Interviews werde ich dich bitten, eine einfache Karte zu zeichnen. Hierbei gibt es kein Richtig oder Falsch, und ich werde dich anleiten. Du hast das Recht, Fragen nicht zu beantworten und auch das Interview abzubrechen, wenn es zu lang oder zu viel für dich ist. Ich würde das Interview gerne aufnehmen, wenn du damit einverstanden bist. Hier sind die Informationen zum Datenschutz. Das Infoblatt ist für dich, die Einverständniserklärung behalte ich (lesen und unterschreiben lassen).

Eisbrecher des Interviews: Der gelebte Raum und die ersten Zeichnungen Der erste Teil des Interviews beinhaltet eine Einführung der Interviewpartner*innen in die Zeichenmethode und den Auf bau eines Vertrauensverhältnisses. Verschiedene Fragen dienen als Erzählstimulus über Alltagsräume und (emotional) bedeutsame Orte der Beforschten. Mit diesen Erzählungen einher geht die Bitte, diese Orte und Räume zu zeichnen und in der Karte zu verorten.

Leitfaden Teil 1: Gelebter Raum Wo kommst du hier unter? Wo lebst du? An welchen Orten hältst du dich in deinem Alltag regelmäßig auf? Welche Wege gehst du regelmäßig, um zu den verschiedenen Orten zu kommen? Welche Transportmittel benutzt du?

3 Wie es in der Drogenhilfe in der Interaktion zwischen Sozialarbeitenden und Konsumierenden generell üblich ist, haben wir uns ausschließlich geduzt. Unserer Auffassung nach trägt diese Ansprache zu einer vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre bei.

Emotional Mapping und partizipatives Kartieren – ungehörte Stimmen sichtbar machen

Diese allgemeinen Fragen sind wesentlich, weil sie Einblicke in den Alltag und die (Lebens-)Situation der Person geben. Die Interviewpartner*innen können entweder nach den jeweiligen Antworten, am Ende des Fragenkomplexes zum gelebten Raum oder während längerer Erzählpausen dazu ermuntert werden, die von ihnen beschriebenen Orte auf einem weißen Blatt Papier zu verorten (vgl. Abb. 2):

Leitfaden Zeichnen Wir können mit dem Zeichnen der Karte beginnen. Auf diese leere Seite kommen all die Orte deines Alltags: wohin du gehst, wo du lebst, wo du Zeit verbringst – wie auf einer Landkarte. Würdest du bitte den Ort, an dem du lebst (oder unterkommst) in dieser Stadt mit dem schwarzen Filzstift einzeichnen? »Wo auf der Karte soll ich das einzeichnen?« – Du kannst jeden Ort einzeichnen, wo du willst, dort, wo es für dich Sinn macht. »Was soll ich zeichnen?« – Du kannst zum Beispiel einen Buchstaben oder ein Wort zeichnen; ein Symbol wie ein Haus oder nur eine Nummer. Es ist wichtig, die Bedeutung jedes Zeichens (Buchstabe, Nummer etc.) und jeder Zeichnung in einem Interviewprotokoll festzuhalten. Manche Personen haben große Freude am Zeichnen und gehen detailliert und sorgfältig vor; andere sind zurückhaltender und zeichnen nur wenig. Wieder andere werden Listen von Begriffen zeichnen, ohne diese zu verräumlichen. Alles ist erlaubt, es gibt hier kein »Richtig« oder »Falsch«. Die Teilnehmenden haben Papier und Stifte zur Hand und machen damit, was ihnen passend erscheint, wie es für sie Sinn macht und wie sie sich die Gestaltung ihrer Karte wünschen. Abbildung 2: Die Orte der Drogenpraktiken

Quelle: Eigene Darstellung

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Erzählungen und Anekdoten vertiefen Dieser zweite Teil fokussiert auf die Praktiken und die Erfahrungen der Interviewpartner*innen. Ziel ist es, Erzählungen und Anekdoten, die mit Orten verbunden sind, zu sammeln. Die Formulierung der Fragen ist abhängig von den Themen der Forschung: hier beispielhaft für Drogenkonsum. Wenn neue Orte während des Interviews Erwähnung finden, werden diese in der Karte verortet (vgl. Abb. 2).

Leitfaden Teil 2: Über Praktiken reden Wir gehen über zum zweiten Teil des Interviews. Wie sieht es mit Drogenkonsum aus? An welchen Orten, an denen Drogen konsumiert werden, hältst du dich auf? Wie ist es für dich dort, möchtest du deine Erfahrungen erzählen? An welchen Orten konsumierst du selbst Drogen? Erweitern auf: offene und öffentliche Orte; private Orte und zu Hause; Orte, die gemieden werden

Über Emotionen reden und zeichnen Der dritte Teil des Interviews fragt nach Emotionen, die mit Orten verbunden werden – somit wird das Verständnis von der Komplexität der Stadterfahrungen und Stadtgefühle von einer marginalisierten Position zwischen Ressourcen, Organisation und Verletzlichkeit vertieft.

Leitfaden Teil 3: Emotionen mit Orten verbinden In diesem Teil des Interviews würde ich gerne erfahren, wie du dich fühlst an den Orten, die du gezeichnet hast. Ich habe eine Legende dabei, die sechs Gefühle mit Farben darstellt, sowie farbige Stifte. Möchtest du mir davon erzählen und die Orte entsprechend malen oder umkreisen? Ein Ort kann mit mehreren Emotionen verbunden sein. Die gezeichneten Karten enthalten diverse Darstellungsformen, die Inhalte können sowohl topographisch als auch chronologisch platziert sein oder nur aus einer Ansammlung von Wörtern bestehen. In den Interviews verweigerten vereinzelte Interviewpartner*innen das Zeichnen, auch das muss der oder die Forschende akzeptieren.

Ergebnisse auswerten, visualisieren und kommunizieren Nach ein paar Interviews sammeln sich die Protokolle, die Kartierungen und Transkripte. Es muss sehr sorgfältig mit ihnen umgegangen werden, da das Material in der Regel viele persönliche Daten enthält, welche die Identifizierung der Person ermöglichen könnten, und deshalb vor der Veröffentlichung einer zusätzlichen Anonymisierung bedarf. Eine Herausforderung stellt auch die Auswertung der sehr unterschied-

Emotional Mapping und partizipatives Kartieren – ungehörte Stimmen sichtbar machen

Abbildung 3: Emotionen in der Stadt

Quelle: Eigene Darstellung

lichen persönlichen Erzählungen und Zeichnungen dar: Es bedarf dieser Auswertung, um die Karten zu kontextualisieren, zu interpretieren und nicht fälschlicherweise als Ergebnis der Forschung zu fetischisieren, das heißt unhinterfragt als allgemeingültig darzustellen und somit überzubewerten. Das Kartieren ist ein Schritt im Forschungsprozess und nicht dessen Ende. Emotionen und Kartierung sind nicht unvermittelter Ausdruck einer Individualität – im Gegenteil, sie sind bedingt. Um die Situiertheit der Karten zu verdeutlichen und nicht in die Falle einer raumfetischisierenden Betrachtungsweise zu treten, beruht die von den Forschenden entwickelte Auswertungsmethode auf einer analogen Collagentechnik: Ausgewählte Auszüge aus den Interviewtranskripten und Kartenzeichnungen werden ausgeschnitten und in einer kollektiven Collage zusammengeklebt. So können Gemeinsamkeiten und Unterschiede der gelebten Stadt durch die verschiedenen Perspektiven einer sozialen Gruppe gezeigt werden. Um diese Collagen zu schaffen, wurden bis zu neun Hauptthemen identifiziert, die in den Interviews eine bedeutende Rolle spielen. Anschließend wurden Bild- und Textzitate zu jedem Thema ausgeschnitten, gesammelt und es wurde jeweils eine kleine Collage auf dunkelgrauem Hintergrund erstellt (vgl. Abb. 4). Außerdem wurden wichtige und relevante Orte identifiziert und daraus eine vereinfachte Topographie der Stadt bzw. der Nachbarschaft entwickelt. Diese Topographie der kollektiv gelebten Stadt entsteht auf hellgrauem Hintergrund, der sich von den dunkleren thematischen Inseln unterscheidet. Ein Format von 100 × 70 cm als Grundf läche ist sinnvoll, damit das Ergebnis gescannt und digitalisiert werden kann. Jede persönliche Information sowie zu genaue oder sensible Auskünfte über die marginalisierte Szene (wie z.B. konkrete, nicht öffentlich bekannte Ortsnamen) sollen aus Gründen der Anonymität nicht in der Collage erscheinen.

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Abbildung 4: Themeninsel »Konsum in der Öf fentlichkeit« (Berlin)

Quelle: Eigene Darstellung

Mit der Collage der EMs wird die Stadt aus einer marginalisierten, diskriminierten Perspektive dargestellt. Es ergibt sich eine alternative Repräsentation der Stadt, anknüpfend an kritisches Kartieren. Mittels der Collagen wird das »Problemfeld Drogen in öffentlichen Räumen« in eine Frage des Zugangs zu Privatsphäre, der Fürsorge und des Rechts auf Sicherheit für Drogenkonsumierende umgedeutet. Dabei sind die Collagen einfach zu lesen und zu verstehen und stellen gleichzeitig eine fast unvermittelte Wiedergabe der Wörter und Zeichnungen der Teilnehmenden dar.

Methode 2: Ideal-City-Workshop – partizipatives Kartieren Ziel der Ideal-City-Workshops (ICW) ist es, mit Fokusgruppen von marginalisierten Konsumierenden ihre ideale Stadt zu zeichnen und zu kartieren. Dabei werden (stadtplanerische) Maßnahmen für Stadtviertel, in welchen sich Drogenkonsumierende im urbanen Raum auf halten, erarbeitet. Entscheidend für die Durchführbarkeit der ICW ist die aktive Teilnahme von Personengruppen, die im Rahmen des Workshops ihr situiertes Wissen hervorbringen und damit den Prozess der Kartierung bestimmen. Im Rahmen von drei ICWs, welche von uns in Berlin und Frankfurt a.M. durchgeführt wurden, nahmen unterschiedliche aktive und substituierte Drogenkonsumierende teil (Klaus et al. 2020a). Zur Kontaktaufnahme und Anwerbung sind verschiedene Strategien denkbar: Sowohl in der organisa-

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torischen Phase als auch bei der Durchführung des Workshops kann die Einbeziehung von Einrichtungen der Suchthilfe (wie Kontaktstellen, Drogenkonsumräume usw.) hilfreich sein. Aushänge in den Einrichtungen und/oder eine Kooperation mit Sozialarbeiter*innen der Workshops können ebenfalls vorteilhaft sein, insbesondere dann, wenn die Veranstalter*innen bislang wenige Erfahrungen mit oder Berührungspunkte zu den Teilnehmenden aufweisen. Unabdingbar für das Gelingen des Workshops ist auch die Verfügbarkeit eines geeigneten Raumes: In den von uns durchgeführten ICWs wurden solche Räume sowohl von Drogenhilfsorganisationen als auch von lokalpolitischen Initiativen zur Verfügung gestellt. Der Standort der Räumlichkeiten spielt eine wichtige Rolle, und die verwendeten Kartenausschnitte sollten die entsprechende Umgebung detailliert abbilden, da davon auszugehen ist, dass vor allem Personengruppen aus der »Nachbarschaft« teilnehmen werden. Daher wurde in den ICWs mit unterschiedlichen Kartenausschnitten des jeweiligen Stadtraumes gearbeitet, um Lösungsvorschläge auf verschiedenen Maßstabsebenen berücksichtigen zu können. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass es ratsam ist, eine Fokusgruppe von maximal 8-10 Personen zu organisieren, um allen Teilnehmenden Raum zur Meinungsäußerung zu garantieren. Außerdem kann ihnen eine Aufwandsentschädigung angeboten werden, um sie zu unterstützen und ihnen die Teilnahme zu ermöglichen. Empfehlenswert ist die Durchführung von mehreren Workshop-Formaten in verschiedenen Sprachen, um möglichst vielfältige Lebensrealitäten unterschiedlicher Menschen einzubeziehen, die im Vergleich zu den Erfahrungen deutschsprachiger Konsumierender oft mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert und erschwert ansprechbar sind. Die ICWs wurden an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen und mit einer jeweiligen Länge von zwei Stunden zuzüglich einer Pause durchgeführt, um sicherzustellen, dass auch Menschen mit kürzerem Konzentrationsvermögen oder mit Bedarf an kurzen Konsumabständen teilnehmen können. Themen, die wir an den unterschiedlichen Tagen diskutiert haben, waren: Recht auf Wohnen, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit und Drogenkonsum. Die angewandte Methodik erlaubt die Diskussion und Ausarbeitung eines gesamten Themas pro Tag, wobei die Teilhabe an einem oder an mehreren Tagen möglich ist. Jedes Thema ist durch eine Farbe gekennzeichnet, um die Zusammenstellung der Ergebnisse auf einer zusammengefassten Karte zu ermöglichen.

Input und Diskussion Der Workshop gliedert sich in zwei Teile mit einer Kaffeepause: Im ersten Teil werden die Teilnehmenden begrüßt, nach einer Vorstellungsrunde die Regeln und der Ablauf des Workshops erläutert sowie das Thema des Tages vorgestellt. In einleitenden Ausführungen nehmen wir Bezug auf die Forderung nach einem »Recht auf Stadt« (Lefebvre 2016). Teilnehmende und Moderierende sitzen abwechselnd am Tisch, die Reihenfolge der Wortbeiträge wird moderiert. Nach einer Diskussion sind die Teilnehmenden eingeladen, konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Bedingungen bezüglich des angestrebten Tagesthemas zu formulieren, zu diskutieren und schriftlich festzuhalten. In der Pause überarbeiten die Forschenden das Material und bereiten es für die nächste Phase nach (Klaus et al. 2020a).

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Zeichnen und Verorten In der zweiten Phase zeichnen die Teilnehmenden auf farbigen Zetteln entsprechend dem Thema die oben formulierten Ideen in Form von Piktogrammen (vgl. Abb. 5). Das Zeichnen als partizipatives Instrument ermöglicht die Formulierung und den Austausch von Ideen durch einen kreativen Prozess. Nach der Fertigstellung der ZeichAbbildung 5: Zeichnen

Abbildung 6: Verorten

Quelle: Eigene Aufnahme

Quelle: Eigene Aufnahme

Abbildung 7: Foto der Themenkarte »Wohnen« nach dem Workshop (Berlin)

Quelle: Eigene Aufnahme

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nungen wird die Diskussion über die dargestellten Symbole und Ideen fortgesetzt bis zur begründeten Wahl des Ortes auf der Karte (vgl. Abb. 6), wo die Piktogramme zu positionieren sind. Pro WorkshopTag entsteht so eine thematische Karte mit Piktogrammen in je einer Farbe (vgl. Abb. 7).

Ergebnisse nachbereiten und präsentieren Die resultierenden Karten können zu Dokumentationszwecken digitalisiert und zu einer Übersichtskarte der idealen Stadt ohne zusätzliche Auswertung neu zusammengesetzt werden (vgl. Klaus et al. 2020b; Germes et al. 2020) (vgl. Abb. 8). Die Karten der idealen Stadt stellen sowohl den Prozess als auch das Ergebnis dar; sie verkörpern Wünsche und Bedürfnisse Abbildung 8: Auszug aus der digitalisierten Karte des Frankfurter Bahnhofsviertels (inkl. Legende)

Quelle: Eigene Erhebung

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Abbildung 9: Zusammenfassung der Ideal-City-Workshops

Quelle: Studio Achtviertel

und geben Vorschläge der Teilnehmenden wieder. Die Karte dient gleichzeitig als Instrument für Diskussion und Planung auf sozialräumlicher und politischer Ebene. Der kollektive und partizipatorische Kartierungsprozess soll dazu beitragen, hegemoniale, das heißt bislang oft unhinterfragte und als objektiv verstandene, Vorstellungen (von urbanen Räumen und Drogenkonsumierenden) herauszufordern und zu diskutieren. Die Ergebnisse der von uns durchgeführten Workshops sind in zwei Abschlussberichten4 sowie in der Onlineausstellung nachzulesen (siehe Fußnote 2). Für die Onlineausstellung haben wir gemeinsam mit Graphikdesigner*innen ein Konzept einer idealen Stadt erarbeitet, in dem die Denkanstöße und Ideale aus den drei Workshops zusammenf ließen (vgl. Abb. 9).

Reflexion Ethik und Reflexivität bei der Umsetzung In unserer Forschungspraxis hat es sich als hilfreich erwiesen, über die Mitarbeitenden von Drogenhilfeeinrichtungen Kontakt zu den Interviewpartner*innen und Workshop-Teilnehmenden aufzubauen und somit eine Vertrauensbasis zu schaffen. Eine finanzielle Entschädigung war in unserem Kontext nötig, um den Menschen, die 4 Frankfurter Workshop: https://drusec.hypotheses.org/1472; Berliner Workshops: https://drusec.hypo theses.org/1379.

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einen Großteil ihrer Zeit für das Beschaffen von Geld auf bringen müssen, eine Teilnahme zu ermöglichen. Auch kann es Sinn machen, die Methode zuvor zu erproben und beim Workshop klare Aufgaben zu verteilen (Moderation, Protokoll, Versorgung und Betreuung etc.), um so einen möglichst reibungslosen Ablauf zu ermöglichen und etwaige Unsicherheiten der Teilnehmenden bezüglich Workshop und Interview auffangen zu können. Insbesondere die Forschung und Zusammenarbeit mit vulnerablen und kriminalisierten Gruppen erfordert es, sich mit ethischen und datenschutzrechtlichen Grundlagen des eigenen Handelns auseinanderzusetzen. Interviewsituationen sind zumeist ein asymmetrisches Machtverhältnis: Fragen über das private Leben und zu sensiblen Informationen werden einseitig gestellt; oft werden dabei (bewusst oder unbewusst) gesellschaftliche Normen vorausgesetzt. Diese Umstände bedingen, dass mittels symbolischer Gewalt (vgl. Moebius/Wetterer 2011) Ungleichheiten fortgeschrieben werden. Zudem muss jede Forschungstätigkeit auf datenschutzrechtlichen und ethischen Grundlagen wie das informierte Einverständnis, die Wahrung der Anonymität und die Vermeidung von Schädigung bauen (Narimani 2014: 26). Interviewpartner*innen haben das Recht, anonym zu bleiben sowie Antworten auf Fragen jederzeit und ohne Konsequenzen zu verweigern. Aufgabe der Forschenden ist es, diese Grundsätze zu gewährleisten, indem zum Beispiel Interviewmaterialien (wie bspw. Karten, Interviewtranskripte, Audiodateien und Kontaktdaten) sicher auf bewahrt und Daten nur anonymisiert (d.h. nicht mehr auf das Individuum rückführbar) veröffentlicht werden (vgl. Narimani 2014).

Kartieren und Wissen Welches Wissen produziert die Darstellungsform der Karte? Für wen sind diese Informationen relevant und welches Vorgehen nach dem Kartierungsprozess ist denkbar? Wie müssen die Ergebnisse überarbeitet werden, um in öffentlichen Debatten eine Rolle spielen zu können? Die unmittelbaren Ergebnisse der beiden beschriebenen Kartierungsmethoden wurden von uns, den Forschenden, überarbeitet und auch verändert. Diese Überarbeitung ist notwendig, um das Material lesbar zu machen und aus sehr diversem und persönlichem Material eine kontingente Erzählung herzustellen und somit die Positionen der Menschen in den öffentlichen und stadtpolitischen Diskurs miteinf ließen zu lassen. Genauso, wie Publikationen in der Regel nicht vollständige Interviewtranskripte enthalten, müssen auch Karten zunächst interpretiert und lesbar gemacht werden. Damit wird zudem vermieden, die Karten als Objekt zu fetischisieren. Karten wie die des Emotional Mapping und Ideal-City-Workshops werden in spezifischen und individuellen Prozessen produziert. Im Sinne des kritischen Kartierens ist dieser Prozess ebenso wichtig wie das fertige Produkt und muss stets erläutert werden. Karten stehen niemals nur für sich selbst. Im Falle unserer Forschung sind wir der Überzeugung, dass die erstellten Karten zwangsläufig von uns überarbeitet werden müssen, um die Ergebnisse kontextualisiert und anonymisiert darstellen zu können – und diese somit für politische Interventionen handhabbar zu machen. Aus diesem Gedanken heraus sind die vorgestellten Collagen des EMs und die Abbildung einer idealen Stadt als Resultat der ICWs entstanden, welche ebenfalls in einer Wander- und Onlineausstellung präsentiert werden. Im Gegenteil zu linearen, argumentativen Texten ermög-

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lichen solche Visualisierungen den Betrachtenden eine selbstständige Aneignung des Dargestellten und lassen freien Raum für Interpretationen. Sie zeigen, wie die Stadt, die sonst durch Polizeistatistiken oder Stadtplaner*innen kartiert wird, von einer anderen Perspektive aussieht bzw. aussehen könnte. Emotional Mapping wird zurzeit in unterschiedliche Projekte mit Asylsuchenden, People of Color und von Gewalt betroffenen Frauen geführt – wir hoffen, dass daraus wissenschaftliche und aktivistische Erkenntnisse entstehen können.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Germes, Mélina/Klaus, Luise/Guarascio, Francesca (2020): Drogen und Stadt – Eine alternative Planung. Sichtweisen marginalisierter Drogenkonsument*innen auf ihre Stadt, Online-Ausstellung. Siehe https://drogenalternativeplanung.wordpress.com/vom 19.05.2021. Germes, Mélina/Klaus, Luise (2021): »When Marginalized Subjects Map Their City«, in: Bulletin of Sociological Methodology/Bulletin de Méthodologie Sociologique. 152 (1), S. 96-124. https://doi.org/10.1177/07591063211040234 *** Ahmed, Sarah (2004): »Affective economies«, in: Social Text 22 (2): S.  117-139. Siehe https://muse.jhu.edu/article/55780 vom 16.06.2020. Belina, Bernd (2009): »Kriminalitätskartierung – Produkt oder Mittel neoliberalen Regierens«, in: Geographische Zeitschrift 97 (4), S. 192-212. Belina, Bernd/Germes, Mélina (2016): »Kriminalitätskartierung als Methode der Kritischen Kriminologie?«, in: Kriminologisches Journal 48 (1), S. 24-46. Bittner, Christian/Michel, Boris (2018): »Partizipatives Kartieren als Praxis einer kritischen Kartographie«, in: Wintzer, Jeannine (Hg.), Sozialraum erforschen: Qualitative Methoden in der Geographie. Berlin/Heidelberg: Springer Spektrum. https:// doi.org/10.1007/978-3-662-56277-2_19 Cusick, Linda/Kimber, Jo (2007): »Public perceptions of public drug use in four UK urban sites«, in: International Journal of Drug Policy 18, S.  10-17. https://doi. org/10.1016/j.drugpo.2006.12.017 Downs, Roger M. & Stea, David (1982): Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen, New York: Harper & Row. Germes, Mélina/Guarascio, Francesca/Klaus, Luise/Herrgesell, Christian (2020): Berliner Partizipativer Mapping-Workshop: »Was ist unsere ideale Stadt als Drogennutzer_innen?«, 2. Bericht. Siehe https://f.hypotheses.org/wp-content/blogs.dir/4337/ files/2020/06/20200608_NUDRADRUSEC_Gesamtbericht.pdf vom 16.06.2020. Gieseking, Jack Jen (2013): »Where We Go From Here: The Mental Sketch Mapping Method and Its Analytic Components«, in: Qualitative Inquiry 19 (9), S.  712-724. https://doi.org/10.1177/1077800413500926 Haraway, Donna (1996): »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Scheich, Elvira (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit: feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition, S. 217-248.

Emotional Mapping und partizipatives Kartieren – ungehörte Stimmen sichtbar machen

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Psycho-geographisches Countermapping – Einsicht in Migrationshaft und andere opake Institutionen Julia Manek, Alethia Fernández de la Reguera Ahedo

Abstract Dieser Beitrag skizziert ein psycho-geographisches Countermapping als Forschungsmethode und Forschungshaltung, die Einblicke in opake Haftinstitutionen ermöglichen – durch das kritische und kollektive Kartieren von ehemals Inhaftierten. Der Ansatz begreift sich als Teil aktivistischer Forschung und orientiert sich an theoretischen Überlegungen zur Autonomie der Migration: Wie können den räumlich-infrastrukturellen und exekutiven Logiken der Institution (widerständige) subjektive Praktiken der Inhaftierten gegenübergestellt werden? Angesichts der repressiven Institution ist eine machtsensible und reflektierte Umsetzung notwendig, die den Stimmen der Betroffenen Ausdruck verleiht – ohne sie Repressionen auszusetzen oder sogar Wissen zu produzieren, das der Institution von Nutzen ist. Am Beispiel der mexikanischen Migrationsgefängnisse, der Estaciones Migratorias, wird dies praktisch nachvollzogen.

Wichtige Einblicke: Die Inhaftierung von Flucht_Migrant*innen als weltweite und repressive Praxis Das psycho-geographische Kartieren stellt eine Möglichkeit dar, von außen in geschlossene und »opake« Haftinstitutionen zu »blicken«, beispielsweise in Migration Detention: Auf diese Weise kann es institutionelle Abläufe und Formen von Machtausübung sichtbar machen. Zum einen ermöglicht es eine vorsichtige und selbstbestimmte Annäherung an die psychischen und physischen Erfahrungen der Betroffenen. Zum anderen erlaubt es den Betroffenen, ihre Stimme zu erheben und Gerechtigkeit zu fordern. Weltweit existieren mehr als 2000 offizielle Migration Detention Camps (Global Detention Project 2020), und (willkürliche) Inhaftierungspraktiken von undokumentierten Flucht_Migrant*innen werden zunehmend zur Norm. Dabei wird die Konjunktur von Migrationshaft explizit als eine Transformation von Grenzen im Zuge der Militarisierung und Externalisierung von Grenzen verstanden (Mezzadra/Neilson 2013): Migration Detention fügt sich in die Landschaften repressiver Migrationspolitiken ein. Dabei haben die Inhaftierungspraktiken drastische und langanhaltende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Inhaftierten (von Werthern et al. 2018). Berichte von Betroffenen unterstreichen schwere Rechtsverletzungen in Migrationshaft, die oft durch Straf losigkeit abgesichert sind (Andrijasevic 2010). Obwohl Inhaftierte

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dadurch vulnerabel gemacht werden, finden in diesem Rahmen zahlreiche sichtbare Akte des Widerstands statt, darunter Hungerstreiks oder Ausbrüche (Montange 2017). Es ist relevant, wo sich ein Gefängnis befindet. Migrationsgefängnisse sind oft entlegene Orte (Mountz 2017). Ihre geographische Abgeschiedenheit isoliert die Inhaftierten, unter anderem von lokalen Unterstützungsgruppen, und verringert den Zugang zu Rechten (Martin/Mitchelson 2009; Mountz 2012): Die Wahrscheinlichkeit von Abschiebungen und Menschenrechtsverletzungen wird größer. Es ist für Außenstehende nicht ersichtlich, was hinter den Mauern der opaken Institution geschieht – es sei denn, es gibt eine Möglichkeit, von außen in die Haft zu »blicken«.

Ein psycho-geographisches Countermapping von opaken Institutionen Mit dem Begriff der »opaken« Institution bezeichnen wir eine Institution, die sich der Schaffung von Transparenz systematisch entzieht. Das können Psychiatrien sein, Gefängnisse und eben Migrationsgefängnisse. Bei der Inhaftierung von Migrant*innen ist ausschlaggebend, dass der Person die Staatsbürgerschaft des Ankunftslandes fehlt. »Migrationshaft«, Migration Detention, ist nicht »Justizvollzugshaft« – Detention ist die Inhaftierung von Personen, die im Allgemeinen nicht rechtlich verurteilt wurden (Martin/Mitchelson 2009). Dadurch gibt es beispielsweise auch kein Gerichtsurteil, das die Haftzeit festlegt: Gefangene können theoretisch »endlos« inhaftiert bleiben. Das Einfordern von rechtlicher Unterstützung durch Jurist*innen hat damit nicht unmittelbar juristische Legitimation. Entscheidungen über Rechtsansprüche, wie zum Beispiel Asylanträge, können sich für unbestimmte Zeit in die Länge ziehen (Conlon/ Hiemstra/Mountz 2017; Martin/Mitchelson 2009). Auf subjektiver Ebene enden die Auswirkungen des Gefängnisses nicht am Gefängnistor: Inhaftierung kann eine traumatische Erfahrung darstellen, die weit über den Ort der Institution hinausreicht (Mountz 2017). Grenzen können verinnerlicht und zu emotionalen bzw. psychischen Grenzen werden (Volkan 2018). Die geographische und emotionale Isolation, die eine Gefangenschaft produzieren kann, gilt es, von innen und außen zu überwinden. Deirdre Conlon, Nancy Hiemstra und Alison Mountz (2017) schlagen hierfür eine Analyse der Haftinstitution vor, die abstrakte Scales – wie den Staat oder ökonomische Strukturen – mit der oft übersehenen Scale des Körpers, des Emotionalen und des Alltäglichen verknüpft. Dazu können auch Karten dienen: Mountz (2012) weist auf die koloniale und verschleiernde Geschichte von Kartographie hin. Dennoch unterstreicht sie, dass die Menschenrechtsverletzungen von Staaten durch ein kritisches Kartieren von Inhaftierungspraxen sichtbar gemacht und Staaten dadurch auch angeklagt werden können. Darüber hinaus kann aus einem solchen Countermapping auch eine emotionale und emanzipatorische Stütze für die Person entstehen, die kartiert (Colectivo Miradas Críticas del Territorio desde el Feminismo 2017). Generell sind Countermapping-Ansätze (Dalton/Mason-Deese 2012) mit dem expliziten Anspruch verbunden, Theoriebildung als politische Praxis zu begreifen: Unterdrückungsverhältnisse sollen nicht nur erforscht, sondern auch herausgefordert werden. Mit einem solchen Anspruch ist auch die Perspektive der Autonomie der Migration verbunden (u.a. Bojadžijev 2011; Moulier-Boutang 2007). Diese fordert unsere eigenen Intuitionen elementar heraus und ist ein ideeller »Anker« für unser psycho-geographisches Countermapping. Migrant*innen können damit eine andere Rolle einnehmen

Psycho-geographisches Countermapping

als jene der (vor allem) Vulnerablen: als Protagonist*innen globaler Transformation, als politisches Subjekt, von dem aus sich inmitten der postkolonialen Ausbeutungsverhältnisse eine gerechte Gesellschaft erkämpfen lässt (Mezzadra/Neilson 2003). Dabei ist es weniger die Frage, ob die dazugehörigen Subjekte politisch organisiert sind: Die Entscheidung von Menschen, massenhaft über (geschlossene) Grenzen zu gehen, ist ein politischer Akt, der das Recht auf Bewegungsfreiheit performativ einfordert. Autonomie bedeutet hier allerdings nicht, dass Migrant*innen an sich autonome Subjekte sind. Stattdessen bezieht sich der Autonomiebegriff auf die Eigensinnigkeit von Migrationsprozessen sowie auf neue Formen sozialer Kämpfe und Kooperationsformen (Bojadžijev 2011). In der Auseinandersetzung mit Grenzen im Sinne der Autonomie der Migration verändert sich der Blick auf diese: Grenzen sind umkämpft. Sie sind (auch) überwind- und durchf ließbar. Diese Denkbewegung kann anhand der Metapher der »Festung Europa« nachvollziehbar gemacht werden: Selbst die unüberwindbar erscheinende Festung Europa hat Risse in den Mauern. Diese Idee der Porosität von Grenzen ist zentral für das Countermapping: Die Haftinstitution wird demnach als eine Institution betrachtet, die unterwirft und reprimiert – aber herausgefordert werden kann. Ausbrüche stellen eine offensichtliche Form der Überwindung der Haftmauern dar. Aber auch weniger offensichtliche (Widerstands-)Praktiken können in den Fokus rücken: Das Schmieden von Zukunftsplänen oder das Denken an Beziehungen, die über die Mauern der Haft hinausreichen, kann ebenso gemeint sein wie die Nutzung von Korruption zum eigenen Vorteil. Dies gelingt insbesondere dann, wenn die Analyseebene wieder »hochskaliert« wird. Denn das Migrationsgefängnis existiert nicht in einem Vakuum, sondern funktioniert als Teil der bestehenden ökonomischen und staatlichen Verhältnisse.

Zur Forschungshaltung von psycho-geographischem Countermapping Das psycho-geographische Countermapping bildet die opake Institution und die Subjektivierung der Inhaftierten unter der Annahme der Autonomie der Migration ab. Dies bedeutet, sowohl die Entrechtung und das Leid anzuerkennen, das die Inhaftierung produziert, als auch die Existenz von widerständigen Möglichkeiten in einem institutionellen Raum zuzulassen, in dem sie nicht zu existieren scheinen. Das Countermapping zielt auf die subjektive Darstellung der Struktur von Haftinstitutionen und den Raum subjektiver Möglichkeiten (Campos-Delgado 2018) ab. Wir haben uns für die Benennung als psycho-geographisches Kartieren – und nicht für die Betitelung als kognitives Kartieren (Gieseking 2013) – entschieden, da die Verbindung von emotionalen und Beziehungsinhalten mit ihren jeweiligen geographischen Referenzen im Vordergrund stehen soll. Zugleich baut das psycho-geographische Kartieren auf einer kognitiven Karte auf. Der Kartierungsprozess wird durch ein Interview begleitet, das dem Kartieren einen Fokus auf physische und emotionale Erinnerungen hinzufügt. Die Wichtigkeit alltäglicher Praktiken und migrantischer Kämpfe innerhalb des Staatsapparates wird von der politischen Ethnographie (Fernández de la Reguera Ahedo 2020; Kubik 2013) und der ethnographischen Grenzregimeforschung (Hess/Kasparek/Schwertl 2018) unterstrichen. Kritische Kartierung ermöglicht die Analyse der materiellen und menschlichen Dimensionen der sozialen und symbolischen Interaktionen, die zwischen

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Gruppen von Menschen stattfinden: denen, die ihrer Freiheit beraubt sind, und denen, die das tägliche Leben der Gefangenen regulieren. Dazu kommt der Austausch mit (mindestens) einer Person, welche die Haftinstitution nie selbst betreten hat, nämlich der*dem Forschenden. Wir gehen davon aus, dass der Einbezug der Situiertheit der Forscher*innen (Haraway 1988; Jung 2014) ein wichtiges »Forschungswerkzeug« ist: zum einen, um eigene Wissensstände und die eigene Intuition infrage zu stellen, zum anderen, um den Erzählungen und dem Vertrauen der betroffenen Personen gegenüber angemessen reagieren zu können, statt sie emotional abzuwehren. Denn im Rahmen des Interview_Kartierens können Erzählungen entstehen, die emotional belastend, schockierend und nur schwer zu glauben sind. »Wir« haben die Realität der Migrationshaft selbst – höchstwahrscheinlich – nicht geteilt. Wir können also gar nichts anderes tun, als empathisch zuzuhören und den Narrationen derjenigen zu folgen, die die Institution erlebt haben.

Wer kartiert? Für das Kartieren ist es wichtig, dass die Kartierenden an einem sicheren Ort sind und die Zusammenarbeit mit den Forschenden sie keinerlei Repression aussetzt. Alle Teilnehmenden sollten so sicher wie möglich sein – und sich auch so fühlen –, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen und diese kartieren. Die Interview_Kartierungen sollten daher von ehemals inhaftierten Personen erstellt werden. In jedem Fall muss die Anonymität der Beteiligten gewährleistet sein: Es muss klar sein, dass keine Inhalte veröffentlicht, verarbeitet oder gespeichert werden, die es erlauben, die teilnehmenden Personen wiederzuerkennen. Vonseiten der Forschenden stellt das Unterschreiben von Ethikrichtlinien, das heißt einer Verpf lichtung zur Datenanonymisierung und der generellen Einhaltung von Datenschutzrichtlinien, ein offizielles Moment dar, das emotionale Sicherheit geben kann. Auch zwischen den Teilnehmenden kann ein solches Schriftstück aufgesetzt werden. Der Auf bau von Vertrauen ist zentral: Erfahrungsgemäß sprechen ehemalige Inhaftierte selten mit anderen über ihre Hafterfahrungen, da Außenstehende oft mit Skepsis und Abwehr reagieren. Dies hinterlässt einen sozialen Stempel, so als sei man automatisch »kriminell«. Gleichzeitig stellt die Inhaftierung einen belastenden Moment der Zwangsimmobilisierung dar, der die Migrationsgeschichte und das Selbstwirksamkeitsempfinden einer Person (zumindest temporär) aushebelt. Die Erinnerung an sie wird daher oftmals »motiviert vergessen«: Wichtig ist daher, dass der*die Interviewende das Erleben der Kartierenden als deren subjektive Realität unbedingt anerkennt. Es hat sich auch als stützend erwiesen, deutlich zu machen, dass man solidarisch ist und Praktiken der Inhaftierung und Kriminalisierung von Migrant*innen dezidiert ablehnt.

Wie wird kartiert? Für die Anfertigung der Karten werden die Teilnehmenden gebeten, eine mentale Karte ihrer räumlichen Erinnerungen an die Haftinstitution und ihrer besonderen Erfahrungen in den verschiedenen Räumen anzufertigen, so als ob sie deren Grundriss zeichnen würden. Benötigt werden Stifte und Papier, gegebenenfalls auch Radier-

Psycho-geographisches Countermapping

gummi und Lineal – je nach dem Genauigkeitsbedürfnis oder auch den ästhetischen Ansprüchen der Kartierenden. Generell ist es angemessen, zu betonen, dass es weder darum geht, eine besonders »schöne« noch eine möglichst genaue Karte zu erstellen. Vielmehr liegt der Fokus des Countermappings auf den (geteilten) Erfahrungen. Dafür ist es nicht ausschlaggebend, alle Orte und deren Dimensionen minutiös zu Papier zu bringen. Ohne diese Relativierung von scheinbaren Ansprüchen könnten Schamgefühle entstehen (»Meine Erinnerung ist ungenau«, »Ich kann nicht gut zeichnen« etc.). Beim kollektiven Kartieren kann es darüber hinaus leicht passieren, dass Personen mit einem größeren Bedürfnis nach Genauigkeit das Kartieren übernehmen und die Partizipation der anderen reduziert wird. Erfahrungsgemäß ist es vielversprechend, das Kartieren in ein Interview einzubetten. Die Fragen sollten an den Verlauf des Kartierens angepasst werden, sodass die Entscheidung, welche institutionellen Räume wie gezeichnet werden, der (ehemals) inhaftierten Person obliegt. Das Interview_Kartieren kann einer chronologischen Erzählung folgen, die meistens mit der Inhaftierung beginnt. Der Eintritt in das Gelände bzw. Gebäude der Haftinstitution fällt zumeist mit der »Registrierung« und der Abgabe des eigenen Besitzes zusammen. Beim Nachzeichnen der Erinnerungen an den Grundriss des Gebäudes werden die kartierenden Personen gebeten, verschiedene Erfahrungen und Gefühle (z.B. Hitze oder Kälte, Gefühle der Sicherheit oder Unsicherheit, Ekel, Ärger, Freude etc.) mit unterschiedlichen Farbcodes darzustellen. Der Ausdruck von Emotionen oder körperlichen Empfindungen wird dadurch systematisiert und macht verschiedene Kartierungen vergleichbar. Abbildung 1 zeigt exemplarisch die Farbcodes des Countermappings von Estaciones Migratorias. Abbildung 1: Beispiel-Farbcodes

Quelle: Eigene Darstellung

Über die Farbcodes hinaus kann auch eine eigene Bildsprache als »Ikonographie« entwickelt werden, um (Kategorien unterschiedlicher) Erlebnisse oder Empfindungen abzubilden: Sinnvolle Icons können beispielsweise aus eigenen explorativen Arbeiten oder vorhergehenden Arbeiten von anderen abgeleitet werden. Natürlich ist es wichtig, die Ikonographie des Kartierens (Iconoclasistas 2013) f lexibel erweitern zu können, wenn neue Narrative oder Impulse gegeben werden.

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Abbildung 2: Beispiel-Icons

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 2 zeigt Visualisierungen, die sich im Kontext des Countermappings von Estaciones Migratorias als sinnvoll erwiesen haben: Einerseits bilden sie physische oder psychische Unterdrückungsmechanismen ab, welche auch Sicherheitstechnologien einbeziehen. Andererseits werden Icons wichtig, die Subjektivierungen abbilden – wie Beziehungen, Akte des Sprechens, Bewegungsmöglichkeiten innerhalb der Institution oder gar über deren Mauern hinaus.

In der Praxis: Kartieren von Estaciones Migratorias in Mexiko Nachfolgend werden sowohl Beispiele für das Kartieren von Einzelpersonen als auch ein kollektives Kartieren vorgestellt. Die beiden Kartierungen von Einzelpersonen sind reale Beispiele des psycho-geographischen Countermappings. Das Beispiel des kollektiven Kartierens ist hingegen fiktiv. Es wurde an ein reales kollektives Kartierungsprojekt angelehnt, dessen »Geheimnisse« hier jedoch nicht preisgegeben werden sollen. Stattdessen werden die Ideen des kollektiven Kartierens strukturell nachvollzogen und in eine fiktive Karte übertragen, die Denkanstöße für die eigene Praxis geben soll. Die durchgeführten Interview_Kartierungen wurden ausschließlich von und mit ehemals inhaftierten Personen durchgeführt. Wichtig für die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftspolitischen Kontext des Kartierens ist, dass der mexikanische Staat Menschenrechtsverletzungen verdeckt: Die mexikanische Migrationsgesetzgebung ist progressiv. Sie entkriminalisiert eine undokumentierte Einreise. Diese wird nicht als kriminelle Handlung, sondern lediglich als administrativer Fehler definiert. Darüber hinaus existiert in Mexiko de jure keine Migrationshaft. Estaciones Migratorias sind per Gesetz keine Haftanstalten, sondern Unterbringungsorte, die vom Instituto Nacional de Migración (INM) lediglich verwaltet werden. De facto klagen Menschenrechtsaktivist*innen und kritische Migrationsforscher*innen seit Jahren Misshandlungen und Entrechtung in Estaciones Migratorias an. Sie kritisieren deren Zusammenhang mit bilateralen Abkommen zwischen den USA und Mexiko, in denen ökonomische und migrationspolitische Entscheidungen verknüpft sind (u.a. Colectivo Contra la Tortura y la Impunidad 2019; Fernández de la Reguera Ahedo 2020; Grupo Impulsor Contra la Detención Migratoria y la Tortura 2018). Rita Laura Segato (2019) nennt dies die »erste und zweite Realität« des Staates: Auf der »Vorderbühne« werden die Menschenrechte geachtet und gepf legt; in der zweiten Realität des Staates, der »Hinterbühne«, wird staatliche Herrschaft durch die Ausübung von Terror gefestigt und durch Unterwerfung ökonomisch verwertbar gemacht. Zum einen bedeutet dies,

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dass die Realität der Kartierenden dem offiziellen Narrativ des Staates substanziell widerspricht. Zum anderen beinhalten die Erzählungen mit großer Wahrscheinlichkeit auch Schilderungen institutioneller Gewalt.

Einzelkartierungen: Reale Beispiele Die hier vorgestellten Kartierungen bilden zwei Estaciones Migratorias in Mexiko ab: Siglo XXI an der Südgrenze bei Tapachula und Las Agujas in Mexiko-Stadt. Das kartierte Erleben von zwei ehemaligen Inhaftierten gibt sowohl Einblick in mögliche Narrative als auch in die emotionale und technische Dynamik des Kartierungsprozesses.

An der mexikanischen Südgrenze: Siglo XXI Die erste Einzelkartierung besteht aus Albertos Kartieren der Haftanstalt Siglo XXI. Das größte aller Migrationsgefängnisse wurde im Zuge der Versicherheitlichung von Migration und der Militarisierung der mexikanischen Südgrenze gebaut. Es stellt einen Knotenpunkt des Haftsystems dar, unter anderem zur Masseninhaftierung und als zentraler Ort für die Durchführung von Abschiebungen, insbesondere nach Zentralamerika. Alberto sagte, es sei das erste Mal gewesen, dass er seine »Verhaftungsgeschichte« erzählt habe. Abbildung 3: Kartierung von Siglo XXI

Quelle: Eigene Darstellung

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Albertos Erzählung öffnete die »Tür« zur undurchsichtigen Umgebung von Siglo XXI. Er begann eine lebendige Schilderung von (geistiger) Flexibilität und Solidarität, die beschrieb, wie Alberto die Grenze überquert hatte. Diese Erzählung hörte abrupt auf, als er von der gewaltsamen Verhaftung berichtete. Alberto zeichnete eine genau strukturierte Karte (s. Abb. 3), die uns viel über das System der Estación Migratoria erzählt: Busse voller Migrant*innen wurden auf den Hof des Geländes gefahren, das vollständig von Zäunen umschlossen ist, mit Wachen auf jeder Seite. Bereits vor dem Eintritt in den vorderen Teil des Gebäudes wurden die Ankommenden nach Geschlechtern getrennt. Sie wurden registriert und mussten ihre persönlichen Gegenstände abgeben. Der administrative Bereich umfasste nicht nur großräumige Büros des INM, sondern es gab auch einen winzigen Raum, in dem Menschenrechtspersonal arbeiten kann, dies oftmals aber nicht durfte. Der Bereich der Männerzellen bestand aus mehreren riesigen Zellen der Masseninhaftierung, die Población genannt werden. Alberto beschrieb, dass sie Häftlinge verschiedener Nationalitäten trennten und die Zellen überfüllt waren. Kleine Zellen wurden für die Einzelhaft verwendet. Im hinteren Bereich befand sich ein kleiner Fußballplatz, der vom INM offiziell als »Erholungsareal« bezeichnet wurde. Küche und Essräume waren vom Zellenbereich getrennt. Alberto zeigte die Orte, an denen er zusammengeschlagen wurde – nicht von den wachhabenden INM-Behörden, sondern von anderen Häftlingen, die zu denselben Banden gehörten, derentwegen er eigentlich aus Zentralamerika gef lohen war. Obwohl die INM-Agenten nicht physisch an den Schlägen beteiligt waren, skizzierte Alberto im Interview_Kartieren ein operatives Machtnetzwerk aus Behörden und Bandenmitgliedern: Das Prügeln von Mithäftlingen wird vom INM nicht verboten, sondern strategisch gefördert und gefordert. Nachdem er – angeblich zu seinem Schutz vor den Personen, die ihn geschlagen hatten – in Einzelhaft gesteckt wurde, war Alberto stattdessen dem kontinuierlichen Missbrauch durch dieselben Personen ausgesetzt: Ein offener Spalt, der sich quer durch die Zellenwand zog, erlaubte es ihnen, brennende Zigaretten und schmutziges Wasser auf ihn zu werfen. Die Einzelzelle, in die er gebracht wurde, um angeblich sicher zu sein, ist der am stärksten orange markierte Ort auf der ganzen Karte. Was wir darüber hinaus über die Siglo XXI erfahren, ist, dass die Inhaftierten nicht nur physischem und psychischem Missbrauch ausgesetzt sind, sondern auch den extremen Bedingungen des Ortes selbst. Die Kartierung ist fast vollständig orange gefärbt, was den Ort als unsicher kennzeichnet. Zusätzlich ist der Bereich der sanitären Einrichtungen sowie einiger Zellen violett gefärbt, was Ekel angesichts der unhygienischen Zustände ausdrückt. Es wurde auch deutlich, wie der institutionelle Raum Gruppen von Gefangenen trennt: Die riesigen Zellen der Masseninhaftierung trennen männliche Häftlinge verschiedener Nationalitäten. In Albertos Karte ist zum Beispiel der Bereich der Frauen konturiert, aber nicht vollständig skizziert – da er nie Zugang zu ihm hatte.

Im Zentrum Mexikos, mitten in Mexiko-Stadt: Las Agujas Oswaldo erreichte Mexiko auf dem Luftweg von Kuba aus und beantragte direkt bei den Migrationsschaltern am Flughafen von Mexiko-Stadt Asyl, wobei er eine gedruckte Version der Ley Nacional de Migración bei sich trug, um seine Rechte geltend zu

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machen. Statt sein Recht auf ein Asylverfahren anzuerkennen, wurde er für mehr als einen Monat ohne Informationen zu seinem juristischen Status inhaftiert. Die Karte von Las Agujas ähnelt in vielerlei Hinsicht jener von Siglo XXI: Es wird noch einmal deutlich, wie die Zellen als der unsicherste Ort im gesamten Lager angesehen wurden. Die Karte zeigt auch Räume, zu denen Oswaldo keinen Zugang hatte, und macht dadurch deutlich, wie ein solcher ihm physisch nicht bekannter Raum dennoch eine emotionale Wirkung auf ihn hatte: nämlich die sogenannte »Bestrafungszelle«, die orange konturiert ist (s. Abb. 4). Was Oswaldo am meisten erschreckte, war, wie das INM andere Häftlinge benutzte, um Menschen in der Bestrafungszelle zu verprügeln, die sich nicht an ihre – oft willkürlichen – Anordnungen hielten. Er sagte, er habe noch nie solche Grausamkeiten erlebt. Die Misshandlungen begannen generell dort, wo sie nicht offensichtlich waren. Oswaldo selbst traf auf eine absurde und missbräuchliche medizinische Behandlung: Er wurde in einer Art lang andauernder »Pingpong«-Schleife zwischen dem Haftarzt und der Apothekerin hin und her geschickt, die ihm zuerst Antibiotika verordneten und dann verweigerten. Sowohl die Apothekerin als auch der Arzt erniedrigten ihn verbal und behandelten ihn, als sei er ein Bittsteller, ohne berechtigten Anspruch. Erstaunlicherweise deutet im Gegensatz zu der Kartierung von Siglo XXI nichts auf Gefühle des Ekels hin, vielmehr sagte Oswaldo, dass die allgemeinen hygienischen und materiellen Bedingungen in Las Agujas »gut« seien. Stattdessen weist die blaue Abbildung 4: Kartierung von Las Agujas

Quelle: Eigene Darstellung

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Farbe auf ein ständiges Kältegefühl hin: Obwohl man als Gefangene*r scheinbar keinen entmenschlichenden, antihygienischen Bedingungen ausgesetzt ist, erinnert die Kälte immer daran, dass man inhaftiert und der Entscheidungsgewalt der Wachen unterworfen ist.

Reflexion und Zusammenfassung der Einzelkartierungen Für die Analyse der Kartierungen sind Momente zentral, in denen Überraschendes sichtbar wurde: Obwohl erwartet wurde, dass in den Interview_Kartierungen Misshandlungen vorkommen würden, überraschte die systematische Verknüpfung mit spezifischen Orten innerhalb der Haftinstitution: Die berichteten Vorfälle bzw. Zustände können als Form der Folter betrachtet werden (Pérez-Sales 2016; Vereinte Nationen 2004). Allerdings handelt es sich hier nicht nur um Misshandlungen durch staatliche Akteur*innen, wie im Istanbul-Protokoll definiert ist: Quälende Situationen sind bereits in den architektonischen und infrastrukturellen Besonderheiten des Gebäudes angelegt. Daher entstand aus den Kartierungen das Konzept des Torturous Space. Eine Weiterführung für nachfolgende Arbeiten besteht darin, das Konzept in einem dezidierten Menschenrechtskontext weiter auszuarbeiten und es ins Verhältnis zu den ökonomischen und politischen Strukturen zu setzen, in denen der folternde Raum entsteht. Letztendlich gilt es, nicht nur Einzelkartierungen nebeneinander zu betrachten, sondern Perspektiven durch ein kollektives Countermapping zu bündeln.

Kollektives Kartieren: Eine beispielhafte Anleitung Im Folgenden wird entlang des angekündigten fiktiven Beispiels dargestellt, wie ein kollektives Kartieren ablaufen kann. Die Checkliste (s. Abb. 5) bündelt relevante Planungsschritte und Fragestellungen. Abbildung 5: Checkliste für die eigene Praxis

Quelle: Eigene Darstellung

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Die Kartierungen der Einzelpersonen machen klar, dass Estaciones Migratorias nicht nur Inhaftierte von Nichtinhaftierten isolieren. Sie produzieren auch Unterschiede zwischen Inhaftierten – entlang von Rassismus, Gender oder Klassenzugehörigkeit. Ein Vorschlag ist daher, Personen zusammenzubringen, welche die Institution aus verschiedenen Rollen und Situiertheiten kennen (Inhaftierte vs. Menschenrechtsbeobachter*innen; afghanische vs. kamerunische Staatsbürger*innen, cis vs. trans Personen etc.). Das gemeinsame Kartieren bringt andere Dynamiken mit sich als die Einzelkartierungen: Je nachdem, wie gut sich die Personen kennen, können Scham, Unbehagen oder auch soziale Erwünschtheit den Verlauf des Kartierens und den Austausch zwischen den Teilnehmenden stark beeinf lussen. Die Klärung einer inhaltlichen Ausrichtung des Kartierens, mit der sich alle Teilnehmenden wohlfühlen bzw. identifizieren können, ist daher grundlegend. Erfahrungsgemäß werden beim kollektiven Kartieren weniger sensible und individuelle Erfahrungen geteilt. Stattdessen können institutionelle Strukturen auf einer abstrakteren Ebene diskutiert und bewertet werden. Das Erzählen konkreter Situationen oder Emotionen wird vor allem durch bereits angefertigte Icons erleichtert, gegebenenfalls kann ein gemeinsames Narrativ entstehen (bspw. eine kriminologische Analyse der Institution oder das »Tüfteln« an Escape-Strategien). Es sollte nicht vergessen werden, zu betonen, dass die subjektiven Erinnerungen, nicht aber die Genauigkeit der Abbildung im Vordergrund stehen. Im besten Fall fühlen sich alle wohl – auch untereinander –, und es gibt genügend Materialien, sodass sich jede*r an der gemeinsamen Karte beteiligen kann. Meistens fangen die Kartierenden bereits beim Zeichnen an, das Gezeichnete zu kommentieren und zu erzählen, welche Orte sie abbilden und was an diesen Orten geschah. Öffnende Fragen wie »Wie sind Sie/seid ihr in Haft gekommen?« führen tendenziell zu chronologischen Erzählungen. Wenn die Karte recht vollständig ist, ist ein guter Zeitpunkt, um nach Momenten von Unsicherheit, Sicherheit, dem Empfinden (extremer) Temperaturen etc. zu fragen. Oftmals wird dann deutlich, wie die Institution strukturiert ist: Wo verhalten sich Wärter*innen wie, welche Akteur*innen erzeugen Unsicherheit und gewaltvolle Situationen? Gibt es Akteur*innen, die eher zu Sicherheitsempfinden beitragen? Auch Momente von gegenseitiger Unterstützung, gemeinschaftlicher Organisation, um Rechte wider Missstände einzufordern, und »poröse Momente« können nun gut erfragt werden. (Wer konnte welchen Bereich einsehen? Wer oder was konnte wie frei passieren? Gab es offenen oder verdeckten Widerstand, haben sich Inhaftierte gegenseitig unterstützt?) In der fiktiven Beispielkarte (s. Abb. 6) stellen die Waffen-Icons Gewalt von Wachpersonal oder Mitgefangenen dar. Infrastrukturelle Gewaltförmigkeit wird durch den Stacheldraht oder die Kamera repräsentiert. Die Fußspuren machen Orte sichtbar, an denen Gefängnismauern von den Teilnehmenden oder von anderen Personen konkret überwunden wurden. Der Telefonhörer signalisiert Momente, in denen die Isolation nach außen durch ein Einfordern des Rechts auf Anrufe gemildert wurde. Auch das gemeinsame Organisieren und Einfordern von Rechten (dargestellt durch die Sprechblase) oder das Denken an und in emotional bedeutsamen Beziehungen (dargestellt durch die Denkblase oder die sich an den Händen haltenden Personen) können als widerständige Momente wider die Isolation verstanden werden. Außerdem werden in den Estaciones Migratorias Drogen eingeschmuggelt. Es scheint also durchaus Wege in die Institution zu geben, die eine hermetische Abriegelung unterwandern. Somit ist

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Abbildung 6: Kollektives Kartieren einer Estación Migratoria (fiktives Beispiel)

Quelle: Eigene Darstellung

nicht verwunderlich, dass Korruption vorherrscht (dargestellt durch das Geldstück), die es finanzstarken Einzelpersonen ermöglicht, die Institution schnell und jenseits offizieller Wege zu verlassen. Natürlich ist dies auch ein Hinweis auf die Einbettung der Estaciones Migratorias in größere Korruptionsnetzwerke der Kapitalakkumulation. Angesichts der Tragweite der Erlebnisse sollte zumindest der*die Forschende keinen Zeitdruck haben: Aus psychologischer Sicht ist das Kartieren auch daher eine so emanzipatorische Methode, weil die Betroffenen die Karte eigenmächtig abschließen

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können. Dies unterscheidet es von Interviews, in denen potenziell traumatische Erlebnisse wiedererzählt werden (sollen) und damit reaktiviert werden können, bei denen die Führung allerdings dem*der Interviewenden obliegt. Sicherlich erzeugt das Countermapping dennoch einen emotionalen Nachhall. Trotzdem entscheiden die Kartierenden, wann die Karte abgeschlossen ist. Damit wird es möglich, mit Abstand und »von oben« auf die Institution zu schauen. Sie ist damit quasi »eingehegt« und lässt sich emotional leichter verarbeiten. Wie geht es dann weiter? Die Hinweise zum Datenschutz und zur Anonymisierung sind den Teilnehmenden ausgedruckt und unterschrieben auszuhändigen. Sollten mehrere Kartierungen durchgeführt und die Ergebnisse zusammengeführt werden, möchten die Teilnehmenden diese Ergebnisse dann zurückgespielt bekommen und die Möglichkeit haben, sie zu korrigieren? Der*die Forschende kann bzw. sollte dazu bereit sein, einen Kontakt (bspw. eine E-Mail-Adresse) zu hinterlassen, sodass sich die Teilnehmenden melden können – aber nicht müssen. »Zurück am Schreibtisch« sollte zunächst das eigene emotionale Erleben, Empathie, Betroffenheit und Abwehr, ref lektiert werden. Wurden die eigenen Erwartungen vor dem Kartieren erfüllt, was wurde nicht verstanden und welchen Einf luss könnten eigene »Leerstellen« darauf haben? Wie kann das Countermapping weitergedacht werden? In welchem Kontext können die Erkenntnisse sinnvoll eingesetzt und Transparenz wider die opake Institution hergestellt werden?

Ausblick Das psycho-geographische Countermapping der Haftinstitutionen ist methodisch recht unkompliziert, dennoch fördert es komplexe Einsichten zutage. Die Anpassung der Methode an den spezifischen Forschungskontext ist unmittelbar notwendig: Wie sehen die Möglichkeiten für ein solches Countermapping aus, beispielsweise im Kontext von Abschiebehaft oder Asylunterkünften in Deutschland? Für welche »anderen« opaken Institutionen könnte das Countermapping verwendet werden? Wessen Erfahrungen werden repräsentiert, wessen Erfahrungen werden möglicherweise ausgeschlossen? Welche Möglichkeiten bestehen, das Countermapping darüber hinaus mit anderen Methoden beispielsweise zu einem Mixed Method Approach zu verbinden? Es lohnt sich, sich diesen Fragestellungen zu widmen: Der Blick hinter die opake Fassade der Haftinstitutionen kann die vielfältigen Isolationsmechanismen der Haftanstalt offenlegen.

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Territoriale Analyse eines urbanen Raums der Gewalt GeoBrujas – Comunidad de Geógrafas Wir sind ein Kollektiv von Geograph*innen, die sich um den Auf bau kooperativer Netzwerke unter Frauen* bemühen. Wir wollen andere Geographien auf bauen: inklusiv, dekolonial und kritisch gegenüber hegemonialer und patriarchaler Macht. Wir glauben, dass eine andere Geographie möglich ist – zwischen Theorie und Praxis, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen allen und für alle, ausgehend von verschiedenen Modi der gemeinsamen Organisation, Selbstverwaltung und vor allem der Autonomie unserer Territorien und Körper. Unsere Arbeit als Kollektiv ergibt sich aus unseren verschiedenen akademischen und aktivistischen Arbeiten sowie aus unserem täglichen Handeln. Unsere thematischen Interessen sind vielfältig. Sie reichen von emotionaler Gesundheit über kollektive (Selbst-)Fürsorge bis hin zur Stärkung gemeinsamer feministisch-körperlicher Territorien, die immer mit einer Perspektive vergeschlechtlichter Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verbunden sind. Der Kampf um Sichtbarkeit und die Analyse geschlechtsspezifischer Gewalt sind uns genauso wichtig wie Umweltkonf likte, die Auswirkungen von Megaprojekten und die Verteidigung indigener und Umweltterritorien. Abstract Territoriale-Analyse-Workshops sollen einen Raum erschaffen, um die verschiedenen Formen von Gewalt, die wir im städtischen Alltag erleben, sichtbar zu machen. Unser Ziel ist es, das Bewusstsein für die Präsenz dieser – facettenreichen – Gewalt in alltäglichen Räumen zu schärfen und weiter zu ermitteln, wie sie sich auf die sozialräumlichen Beziehungen auswirkt. Der Körper ist in diesem Zusammenhang ein grundlegender Ort der Untersuchung, da wir Gewalt als ein Phänomen betrachten, das uns in diesem Maßstab betrifft – in dem, was wir sind.1

Stadtlandschaften als Raum der Gewalt Unsere Arbeit – und der in diesem Beitrag dargestellte Workshop zur territorialen Analyse urbaner Räume der Gewalt – ist aus der Notwendigkeit heraus entstanden, von einer selbst verwaltenden, kritischen und emanzipatorischen Geographie ausgehend über die verschiedenen Formen und scales zu ref lektieren, mit denen Gewalt uns in der Stadt begegnet.

1 Übersetzung aus dem Spanischen durch den AK Feministische Geographien Frankfurt (Julia Manek und Jan Kordes).

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Feministische »Traditionen« kritischer Geographie ref lektieren und restrukturieren räumliche Analysen aus den historisch unsichtbaren Machtverhältnissen heraus. Diese Perspektive erlaubt es uns, Gewalt in einem spezifischen historischen Kontext zu verorten, aber auch in einem multiskalaren Rahmen, der verschiedene Territorien und Landschaften integriert: den Körper, den häuslichen Raum, die Nachbarschaft, die Stadt, die Region, den globalen Raum usw. In diesem Sinne verstehen wir den gegenwärtigen geographischen Raum als einen Ausdruck des Prozesses der kapitalistisch-neoliberalen Akkumulation. Gewalt ist ein inhärentes Element der Gestaltung des kapitalistischen Stadtraums, das sich in verschiedenen Alltagspraktiken ausdrückt und repräsentiert. Unser Workshop hat sich aus der Idee heraus entwickelt, akustische und visuelle Landschaften nachzubilden, wobei die sensorisch-körperliche Wahrnehmung ein Teil des Bewusstwerdens von Gewalt ist. Gewalt, die durch verschiedene Maßstäbe und Ansichten sowie aus verschiedenen städtebaulichen Blickwinkeln heraus dargestellt wird – unter anderem gegen ebendiese Körper. Die Stadtlandschaft wird von den WorkshopTeilnehmer*innen auf der Grundlage ihrer unterschiedlichen Erfahrungen abgebildet. Dabei beziehen wir Übungen der Körper- und Raumwahrnehmung im städtischen Umfeld genauso ein wie die Konfrontation verschiedener Modelle des Stadtverständnisses und des Lebens in der Stadt, die einander widersprechen und zu Spannungen und Gewalt führen können. Abschließend schlagen wir eine Form der gemeinsamen Ref lexion über diese Spannungen, Konf likte und Gewaltausdrücke vor – auch, um gemeinsam mit den Emotionen umzugehen, die die Spannungen und die Gewalt auf der körperlichen Ebene hervorrufen, und um diese Gewaltverhältnisse in der Praxis zu verändern.

Theoretisch-methodische Elemente Aktuelle humangeographische Konzeptionen beinhalten, dass Raum widersprüchlich, f ließend und instabil ist. Ein Ort wird dabei durch sozioräumliche Praktiken sowie durch die sozialen Macht- und Ausgrenzungsverhältnisse definiert. Räume überlagern und überkreuzen sich, ihre Grenzen sind vielfältig und beweglich (Massey 1991; Smith 1993, nach McDowell 2000). Räume entstehen aus Machtverhältnissen, bzw. legen Machtverhältnisse deren implizite und explizite Regeln fest. Diese »Regeln« sind sowohl auf sozialer als auch auf geographisch-räumlicher Ebene zu verorten und bestimmen, wer zu einem Ort gehört und wer ausgeschlossen wird. Sie bedingen bestimmte Erfahrungssituationen und konfigurieren die Orte, an denen diese Erfahrungen auftreten. Solche Orte entstehen im Schnittpunkt lokaler und globaler Prozesse (Massey 1991). Sie prägen soziale Beziehungen, und das übergreifend über mehrere scales: Körper, Nachbarschaft, Stadt, Region, Nationalstaat – bis hin zum Globalen. Planungen und Modelle, die der gegenwärtigen Gestaltung unserer Städte zugrunde liegen, haben bei vielen Gelegenheiten die spezifischen Bedürfnisse marginalisierter sozialer Gruppen (Frauen*, Minderjährige, ältere Menschen oder solche mit funktionaler Vielfalt, Minderheiten) bei ihrer täglichen Nutzung der Stadt und der Form der Beziehungen, die sie in ihr auf bauen, ausgeklammert (Genera Barri 2018). So beinhaltet bereits das konventionelle Design unserer Städte geschlechtsspezifische Vorurteile: Diese ausschließende Strukturierung stellt einen Grundpfeiler für die Entstehung der Gewalt dar, von der die durch sie ausgegrenzten sozialen Gruppen vielfach betroffen sind.

Territoriale Analyse eines urbanen Raums der Gewalt

Geschlecht ist eine mit symbolischen und soziokulturellen Bedeutungen aufgeladene Kategorie. Diese wird in feministischen Geographien »als eine soziale Konstruktion [betrachtet], die durch die Ideologien, Institutionen und täglichen Praktiken, die an verschiedenen Orten der Welt den Kontext definieren, reproduziert wird. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass mit der Kategorie Geschlecht nicht nur Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen, sondern auch Unterschiede zwischen Orten produziert werden« (Sabaté 1995: 35, eigene Übersetzung). Bei der Definition von Geschlecht müssen wir den kulturellen Kontext und die sozialen Konstruktionen einschließlich all jener Konfigurationen berücksichtigen, die sich aus den vielfältigen Interaktionen an verschiedenen Orten und in verschiedenen Situationen ergeben. In diesem Sinne sprechen wir von Geschlechterungleichheit und vergeschlechtlichter Gewalt. Beide Konzepte sind mit den verschiedenen Akteur*innen verwoben, die Städte bauen und bewohnen. Auf bauend auf der Arbeit von Linda McDowell (2000) schlagen Feminismen eine andere Art des philosophisch-politischen Denkens vor, um die Lebensbedingungen und Rechte von Frauen* zu verbessern – und ein politisches Engagement und soziale Veränderungen, eine Welt frei von Diskriminierung und Gewalt zu schaffen. Auf diese Weise schlagen verschiedenste Feminismen ein Engagement für die volle Wertschätzung dessen vor, was durch Frauen* in kulturelle Formen eingeschrieben, artikuliert und – utopisch oder konkret – von ihnen imaginiert wird. Feminismen sind ein politisches Projekt, das sich dem sozialen Wandel verpf lichtet fühlt. Insbesondere haben verschiedene feministische Kämpfe eine Redefinition dessen erreicht, was Politik ausmacht. Die Überwindung der Barrieren zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten gilt es auch in der Geographie mit ihren androzentrischen Dichotomien in Angriff zu nehmen: männlich/weiblich, öffentlich/privat, außen/innen, Arbeit/Heim, Kultur/ Natur, Vernunft/Emotion (Valcárcel 2000). Feminismen sind – mit ihren Verständnissen von und Vorschlägen neuer Konzepte für Kunst, Kultur, Frauen*, Subjektivität, Politik usw. – auch eine theoretische und methodologische Revolution. Dies impliziert jedoch keine Einheitlichkeit, weder in der eingenommenen theoretischen Perspektive noch in der politischen Position. Schließlich ist Feminismus, wie Griselda Pollock (1996, zitiert nach McDowell 2000: 22, eigene Übersetzung) feststellte, »sowohl eine politische Bewegung als auch ein theoretisches Analysefeld«. Feministische Geographien suchen Informationsquellen und Analysemethoden, die »die Erfahrungen der Frauen und ihre Sicht der Welt offenbaren« (Monk/García Ramón 1987: 150). »[Daher] hat die Entwicklung eines feministischen Diskurses in der Geographie vielfältige Ausprägungen [und] stellt eine kritische Analyse der Struktur der geographischen Gemeinschaft aus der Sicht der Macht dar.« (Valcárcel 2000: 449, eigene Übersetzung) Diese Diskurse durch populäre Pädagogik in die Praxis des täglichen Lebens zu bringen, ist ein grundlegendes Instrument für die soziale Interessenvertretung und das Bewusstsein der Geschlechter für die Gewalt, die uns im multiskalaren Charakter des öffentlichen und privaten Raums in der Stadt begegnet. Die populäre Pädagogik, die auf einem Prinzip der nicht hierarchischen Bildung basiert, behauptet, dass alle Menschen über nützliches Wissen im Lernprozess verfügen. Letzteres ist daher horizontal (Freire 2005, 2011).

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Workshop-Kontext Die Durchführung unseres Workshops hat zwei grundlegende Vorläufer: (I) eine Geländeübung, die 2018 mit Studierenden im ersten Semester des Studiengangs Sozialanthropologie der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) durchgeführt wurde und in der Ciudad Universitaria stattfand, dem zentralen Campus der Universität. Aus dieser ersten Erfahrung heraus wurde (II) der Workshop an der Escuela Nacional de Estudios Superiores (ENES) durchgeführt, die ebenfalls zur UNAM gehört. Dieser Workshop richtete sich an Studierende des Studiengangs Sozialwissenschaften und lokale Planung. Beide Aktivitäten basierten auf demselben Thema, jedoch mit methodischen Variationen, die an die Besonderheiten des Ortes, die Merkmale der jeweiligen Gruppe und die für die Aktivität vorgesehene Zeit angepasst waren und im Folgenden dargestellt werden.

Geländeübung in der Ciudad Universitaria: »Territoriale Analyse eines Gewaltraums in der Stadt« Die Geländeübung dauerte etwa sieben Stunden, und eine ihrer methodischen Varianten bestand aus der Entwicklung einer kritischen Kartographie: Zwei (konf ligierende) Gruppen interagierten miteinander und kartierten Konf likte um die Nutzung eines städtischen Raums, verbunden mit einer Führung durch verschiedene Bereiche der Ciudad Universitaria. Die Teilnehmer*innen wurden gebeten, vorher eine Recherche zu Texten und Nachrichtenmeldungen über den zu analysierenden Raum – den Campus der Universität – und zum Thema »Gewalt« durchzuführen. Dabei wurden neben Zeitungsartikeln auch Beiträge in sozialen Medien und weitere Internetquellen genutzt. Während der Geländeübung wurden die Teilnehmer*innen angeleitet, ihre Wahrnehmung von Sicherheit/Unsicherheit, die entweder selbst erfahrenen oder wahrgenommenen Gewaltformen sowie die räumlich-zeitlichen Zusammenhänge von Gefahr und Sicherheit kartographisch darzustellen, gemeinsam mit den Hauptakteur*innen der jeweiligen Situationen. Schließlich sollten diese Informationen mit dem Wissen um die zuvor recherchierten und untersuchten Fälle von Gewalterfahrung und -wahrnehmung nach der Tour durch die Ciudad Universitaria zusammengeführt werden. Die Erfahrungen aus dieser Geländeübung inspirierten die nachfolgende Arbeit an der ENES, da während der gesamten Veranstaltung der Sensibilisierungsprozess, der zusammen mit den Teilnehmer*innen rund um das Thema »Gewalt« entstand, deutlich zu beobachten war: Die ganze Gruppe identifizierte schließlich multiple Gewaltformen in ihrem täglichen Leben, die sie vorher nicht erkannt hatten – wie beispielsweise staatliche Gewalt.

Workshop an der ENES: Territoriale Analyse und Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Gewalt Auf Initiative von Marcela Morales Magaña, einer Professorin für Politische Ökologie und Gender-Perspektive im Studiengang Sozialwissenschaften und lokale Planung, wurde ein zweistündiger Workshop mit studentischen Gruppen aus dem Studiengang

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abgehalten. Ziel des Workshops war es, einen Raum zu schaffen, in dem die Gewalt, die wir in den Städten erleben, sichtbar gemacht werden konnte. Hieran nahmen etwa 30 bis 40 Personen teil, sowohl Dozent*innen als auch Student*innen. Der Workshop konzentrierte sich hauptsächlich auf folgenden Vorschlag, den das Theater der Unterdrückten – entwickelt von Augusto Boal (2000) – zur Darstellung von Situationen der Unterdrückung sowie zu deren möglicher Befreiung macht. Die »Bühne« wird dabei als ein Raum für Freiheit und Kreativität genutzt, der unter Einbeziehung aller Schauspieler*innen und Zuschauer*innen entsteht. Ausgehend von der Ausübung der menschlichen Maschine, wurden die Praktiken der täglichen Gewalt und ihre Analyse sowie mögliche Aktionen zu ihrer Transformation aufgedeckt. Der Strukturvorschlag und die sich daraus ergebenden Dynamiken wurden von den Studierenden sehr gut aufgenommen, da sie sich in den Übungen mit der Analyse ihrer täglichen Realität identifizieren konnten.

Workshop-Durchführung Der Workshop kann generell mit Gruppen von 6 bis 30 Teilnehmer*innen abgehalten werden, wobei der Raum, die Materialien und die Anzahl der Workshop-Moderator*innen immer angepasst werden sollten. Im Folgenden wird ein Workshop dargestellt, der sich explizit an Studierende richtete. Generell kann der Workshop auch mit generationenübergreifenden, interkulturellen und gemischten Gruppen durchgeführt werden. Es kann explizit entschieden werden, ob ein geschützter Raum im Sinne eines FLINT*-Safe-Space gewollt ist oder ob auch cis Männer am Workshop teilnehmen sollen.

Was braucht es für den Workshop? • • • •

Einen großen, gut beleuchteten Raum Flipcharts, weiße Blätter Papier oder Rollenpapier Farbige Stifte Audiodateien (zuvor von der Moderatorin* des Workshops aufgenommen) mit Geräuschen aus dem alltäglichen städtischen Raum, um über die städtische »Klanglandschaft« nachzudenken • Audioboxen, Computer oder Audioplayer • Ggfs. zusätzlich: ätherische Öle mit entspannenden Aromen

Dynamik der Konfliktinduktion und Konfliktlösung (3 Stunden) In der konkreten räumlichen Erfahrung werden mögliche Konf liktursachen erfahrbar und genauer beleuchtet: Sowohl die (sozialen, individuellen …) Unterschiede als auch die obligatorische Nutzung desselben Raums werden als mögliche Ursachen für Konf likte angesehen – man kann den Anderen und Konfrontationen mit ihnen nicht aus dem Weg gehen. Durch die Konfrontation werden im Workshop jedoch letztendlich gemeinsam verschiedene Lösungswege vorgeschlagen, die sowohl aus dem Unterschied zum Anderen als auch aus der Nutzung desselben Raums – der ja eigentlich als mögliche Ursache für Konf likte angesehen wird – heraus erarbeitet wurden. Sie zielen darauf ab, Konf liktkonstellationen aus der Perspektive der Anderen zu sehen und Em-

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pathie zu fördern. Konf likte um Raumnutzung könnten produktiv bearbeitet werden, indem Ähnlichkeiten zwischen den Beteiligten gesucht bzw. gefunden werden.

Stadtaudition und Bewegung im städtischen Raum (Biodanza) Die Auseinandersetzung um die Nutzung des urbanen Raums wird in dem Workshop durch eine auditive Stadtkulisse und den Fokus auf körperliche Erfahrung gerahmt. Unsere Intervention geht dabei auf die Arbeit des Anthropologen und Psychologen Rolando Toro Areneda zur sogenannten Biodanza zurück. Biodanza ist ein System der menschlichen Integration, der körperlichen Erholung und Erneuerung, der affektiven Veränderung von Wahrnehmung und des gemeinsamen Lernens essenzieller Funktionen des kollektiven sozialen Lebens: Seine Methodik besteht darin, integrierende Erfahrungen durch Musik, Gesang, Bewegung und Gruppenbegegnungen zu induzieren. Im Workshop werden Methoden von Biodanza durch die mitgebrachte auditive Stadtumgebung und das Sich-darin-Bewegen integriert. Die Teilnehmer*innen werden für die Verbindung der einzelnen Wahrnehmungsebenen sensibilisiert.

Körper, Beziehungen und Raum (Tanztherapie) Die Art der Tanztherapie, auf die wir uns beziehen, wurde 1964 in Argentinien von María Fux als eine Form der Tanzrehabilitation entwickelt. Sie hat die Exploration der Psyche durch Bewegung und Körperausdruck zum Ziel: Wir arbeiten mit Analogien der Natur, Analogien der Zeit, und von diesen aus repräsentieren und erforschen wir sie in der freien Bewegung (Fux 2005). Im Workshop geht es uns darum, dass Bewegungen (sowohl körperliche als auch emotionale) mit dem Erleben von sozialen Beziehungen – und Konf likten – verbunden werden. Dies bedeutet auch, dass das körperliche Erleben als eine Analyseebene in der sozialen Situation genutzt wird und durch wohltuende körperliche Erfahrungen auch der emotionale Gehalt von Situationen verändert werden kann.

Aktivitäten Vor Beginn des Workshops wird eine Reihe von Flipcharts an einer Wand oder auf dem Boden platziert, um eine durchgehende, große Fläche zu bilden, auf der die Hälfte der Workshop-Teilnehmer*innen bequem die von ihnen ausgedachte urbane Landschaft zeichnen kann. Der Workshop baut auf den nachfolgenden fünf zentralen Momenten auf:

1. Vorstellung: Wer sind wir (jede*r als Einzelperson)? Was wünschen wir uns von dem Workshop? Es wird davon ausgegangen, dass die Teilnehmer*innen, obwohl sie Student*innen desselben Kurses sind, aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stammen, unterschiedliche geographische Räume bewohnen und daher unterschiedliche räum-

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liche Erfahrungen machen können. Schon in dieser Phase werden Interessen, Neugierde und Ziele jeder Person untersucht.

2. Wahrnehmungsübung a) Entspannung des Körpers/Geistes mit Aromatherapie b) Erschaffen oder Nachstellen eines gewöhnlichen, aber beschleunigten Tages in der Stadt durch städtische Klanglandschaften

3. Unterschiede und Ähnlichkeiten Die Suche nach Unterschieden – aber auch Ähnlichkeiten – zwischen den Teilnehmer*innen erfolgt durch einen Dialog im Plenum. Unterschiede werden vor allem entlang sozialer Kategorien wie Geschlecht, sozialer Klasse und ethnischer Zugehörigkeit gesucht. Damit verbunden sind auch Fragen der Mobilität: So gibt es beispielsweise Student*innen, die mit dem Auto pendeln oder aber zu Fuß zum Campus kommen, weil sie ganz in der Nähe wohnen. Andere müssen mehrmals in der Woche, teils mehrere Stunden am Tag, öffentliche Verkehrsmittel benutzen – besonders, wenn sie in den marginalisierteren Vierteln in der Peripherie der Metropolregion leben. Wohnen wir im gleichen Viertel bzw. barrio? Haben wir die gleichen Wege? Teilen wir ähnliche Vorlieben? Mögen wir die gleichen Gerüche in der Stadt? Haben wir die gleichen Ängste? Welche Gewaltformen kennen wir bzw. erleben wir? Welche Formen des kollektiven Widerstands haben wir kennengelernt? Da es in dem Workshop auch darum geht, Konf likte auszutragen und sie anschließend gemeinsam zu analysieren und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen, ist es wichtig, dass wir einen vertrauensvollen Rahmen schaffen. Dies versuchen wir unter anderem durch die gemeinsame Vorstellung, das Erklären der konkreten Ziele der Übung und durch das Sichtbarmachen der Unterschiede zwischen Personen in einer wertschätzenden Art und Weise, sodass alle Teilnehmer*innen ihre geteilten Erfahrungen in der Diskussion wiederfinden.

4. Aktive Konfliktausübung für den städtischen Raum Die Einteilung in die Gruppen erfolgt eigentlich nach dem Zufallsprinzip. Trotzdem wird versucht, eine Form der »Repräsentativität der Verschiedenheiten« in jeder Gruppe zu erhalten. Das heißt, in beiden Gruppen sollen ähnlich heterogene Erfahrungen vorherrschen: Die Gruppen sind »gemischt«. Unterschiedlich positionierte Menschen (u.a. unterschiedlich positioniert qua Geschlecht) können somit ihre eigenen individuellen Erfahrungen darstellen. Gruppeneinteilung der Teilnehmer*innen in 2 Gruppen: a) Gruppe A: Erbauer*innen und Planer*innen einer Stadtlandschaft auf den Flipcharts b) Gruppe B: »Eingreifer*innen« und »Eindringlinge« (graphisch und körperlich) in den von Gruppe A geplanten städtischen Raum • Gruppe A ist eingeladen, gemeinsam eine Stadt zu entwerfen, die ihren Bedürfnissen und Erwartungen entspricht: Es geht darum, sich eine »ideale« Stadt vorzustellen, in der wir uns frei und sicher bewegen können. Wie funktioniert eine solche Stadt bzw. wie könnte sie funktionieren? Diese Stadt wird gemeinsam auf Flipchart-Papier abgebildet.

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• In der Zwischenzeit verlässt Gruppe B den Raum und erhält die Anweisung, dass sie nachfolgend auf verschiedene Weisen – graphisch und körperlich – in die Stadtplanung bzw. -zeichnung von Gruppe A eingreifen soll. • Gruppe B wird angeordnet, in den Klassenraum zurückzukehren, um ihre konfrontative Intervention zu beginnen (s. Abb. 1-3). Abbildung 1: Intervention der Gruppe B in die gezeichnete Stadtlandschaf t der Gruppe A

Foto: GeoBrujas (25.10.2018)

Abbildung 2: Reaktion der Gruppe A auf die Intervention

Foto: GeoBrujas (25.10.2018)

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Abbildung 3: Resultat der Intervention

Foto: GeoBrujas (25.10.2018)

• Gruppe B repräsentiert alle Hindernisse und Grenzen, mit denen Student*innen in ihrer räumlichen Erfahrung konfrontiert sind – beispielsweise auf dem Weg zum und auch innerhalb des Campus. Sie repräsentiert physische und nichtphysische Barrieren: Erstere sind zum Beispiel die Grenzen in der Infrastruktur der öffentlichen Verkehrssysteme, wie Zugänge zu den Gleisen oder auch die Kapazitäten von Zügen; letztere sind mögliche sexuelle Aggressionen, Diebstahl von Gegenständen während der Fahrt oder beim Umsteigen. Mit »Barrieren« meinen wir Aggressionen aller Art, die auf verschiedenen Formen von Diskriminierung auf bauen, zum Beispiel wenn jemand rassistisch als »Indianer« bezeichnet oder durch sexistische Bemerkungen und Blicke adressiert wird. Wir meinen aber auch Übergriffe, bei denen Menschen (grundlos oder aus vorgeschobenen »Gründen«) aus der U-Bahn geschubst werden.

5. Diskussion und Abschluss Die Gruppen diskutieren im Kreis die Übung auf kollektiver Ebene und konzentrieren sich dabei auf die Reaktionen beider Gruppen auf die erlebte Gewalt (Abb. 4). Der Moment der Diskussion zielt darauf ab, dieses Erleben gemeinsam zu analysieren: Welche (subjektiven) Empfindungen haben sie wahrgenommen? Wann und warum haben sie insbesondere Angst oder Bedrohung empfunden? Diese Übung hat den Sinn, verschiedene Erfahrungen »auf den Tisch zu legen« und aufzudecken, um gemeinsam über all diese Szenarien nachzudenken, die in der Stadt alltäglich passieren (können). Einerseits geht es darum, Mechanismen von Gewalt zu differenzieren und zu verstehen. Andererseits möchten wir ein Nachdenken über Formen des freien und sicheren kollektiven Zusammenlebens für alle anstoßen sowie kollektive Antworten auf Gewalt finden. Die Übung stellt die Realität in den städtischen Gebieten und der sozialen Akteur*innen dar, die an ihr teilnehmen bzw. aus verschiedenen Situiertheiten heraus in die Gewaltverhältnisse verwoben sind. Das Ergebnis der Diskussion wird in der kollektiven Realisierung eines Schemas derjenigen Arten von Gewalt festgehalten, die in der Stadt und im täglichen Leben der Workshop-Teilnehmer*innen auftreten (Abb. 5).

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Für einen emotionalen Abschluss des Workshops im Zeichen der Fürsorge und gegenseitigen Anerkennung schlagen wir eine Übung des »Zusammenhaltskreises« (durch Umarmungen und kollektive Massagen) vor, um die Empfindungen und Emotionen der vorherigen Diskussion und Erstellung des Gewaltschemas zu kompensieren (Abb. 6). Abbildung 4: Kollektive Ref lexion der Übung

Foto: GeoBrujas (25.10.2018)

Abbildung 5: Gemeinsame Erstellung des »Kreises der Gewaltförmigkeit«

Foto: GeoBrujas (25.10.2018)

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Abbildung 6: Wiederherstellung von Stabilität im »Zusammenhaltskreis«

Foto: GeoBrujas (25.10.2018)

Schlussfolgerungen zum Workshop der territorialen Analyse und Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Gewalt Die Moderation dieses Workshops hinterließ bei uns eine überraschend angenehme, positive Erfahrung des kollektiven Lernens und den Mut, weitere solcher gemeinsamen Konfrontations- und Analyseprozesse zu wagen. Nur durch aktive Teilnahme können wir uns derart in die andere Person – und damit in die verschiedenen Perspektiven des situierten Wissens – versetzen. Die Wahrnehmung von Gewalt war ein Diskussionsthema, das eine Ref lexion über den Ort ermöglichte, von dem aus wir schauen, bauen und die Stadt bewohnen. Das Schildern der geteilten und partikularen Wahrnehmung sensibilisierte auch für die individuellen Erfahrungen, die jede*r Teilnehmer*in im Verlauf seiner*ihrer Lebensgeschichte gemacht hat – obwohl aufgrund der Rolle, die sie*er im Workshop spielte, eine eigene Dynamik entstand. Die Schaffung und Zerstörung der Stadtlandschaft löste eine Reihe von Emotionen aus, die durch die Differenzen zwischen Teilnehmer*innen während der Intervention, des Eingreifens der einen in die Taten der anderen Gruppe, hervorgerufen wurden: Ungewissheit, Aggression und auch Sehnsucht wurden ausgelöst. Anders ausgedrückt: Diese Gefühle entstanden inmitten der Koexistenz widersprüchlicher Ansprüche an dieselbe Landschaft. Die vorgestellte Workshop-Struktur ermöglichte es der gesamten Gruppe, neben den Konf likten auch verschiedene Momente der Begeisterung und Ruhe zu erleben. Die konf likthafte Erfahrung konnte so gleichzeitig als ein fantasievolles Lernen begriffen werden, vermittelt durch die Klanglandschaft der Stadt und die Körper – in Wohnhäusern, auf der Straße, im Verkehr, in der Alltagsroutine und durch die verschiedenen Empfindungen, die im täglichen Leben der Stadt wahrgenommen werden. Der Workshop erreichte seinen Höhepunkt, als wir den abschließenden Ref lexionen der Gruppe zuhörten. Wir alle schufen einen Raum, um die Gewalt, die wir in den Städten erleben, sichtbar zu machen. Dieser Raum ermöglichte es, uns der Gewalt bewusst zu werden, die sich in Alltagsräumen verselbstständigt bzw. festgesetzt hat. In diesem Raum konnten wir feststellen, wie sich die von uns erlebte Gewalt emotional

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auf sozialräumliche Beziehungen auswirkt. Auf der körperlichen Ebene gab es eine kollektive Umarmungsübung am Ende des Workshops (nach dem verbalen, kollektiven Dialog). Es war sehr wichtig, das Zuhören zu üben und die Diskussion auf Emotionen, Gefühle und Empfindungen im Allgemeinen zu fokussieren. Wir diskutierten, welche Situationen oder Handlungen Angst, Furcht, Unbehagen erzeugen, aber auch, welche uns das Gefühl geben, sicher zu sein: frei in der Bewegung und im Denken, anstatt die ganze Zeit das Territorium/den Körper zu verteidigen. Vor allem wurde die Vielfalt der Situationen deutlich, in denen wir Angst oder Furcht empfinden und die sich vor allem für Männer und Frauen* nicht nur unterschiedlich »anfühlen«, sondern auch physisch verschieden sind. Im Rahmen der Überlegungen der Gruppe wurde der Dialog auch als ein Weg zur Lösung des Konf likts identifiziert, den wir anderen Konf liktstrategien gegenüber bevorzugen: in Anerkennung der Vielfalt und Freiheit jeder einzelnen Teilnehmerin* und jedes einzelnen Teilnehmers, die – auf die sozioräumliche Realität in größerem Maßstab übertragen – in Prozessen der Konstruktion von Territorien in selbst verwaltenden Formen, mit horizontaler Beteiligung und autonomer Natur entstehen kann.

Literatur Boal, Augusto (2000): Theater of the Oppressed, London: Pluto Press. Freire, Paulo (2005): Pedagogía del oprimido. Mexiko-Stadt: Siglo XXI. Freire, Paulo (2011): Pedagogía de la esperanza. Mexiko-Stadt: Siglo XXI. Fux, María (2005): Qué es la danzaterapia: preguntas que tienen respuesta, Buenos Aires: Lumen Humanitas. Genera Barri (2018): La ciudad con perspectiva de género: lo específico y lo diverso. Siehe www.generabarri.com/genero-urbanismo-y-ciudad/ vom 15.11.2018. Kreidler, William J. (2018): La resolución creativa de conf lictos. Manual de actividades, Organización de Estados Iberoamericanos. Siehe https://www.oei.es/historico/ noticias/spip.php?article273 vom 12.10.2018. Massey, Doreen (1991): »Flexible Sexism«, in: Environment and Planning D: Society and Space 9 (1), S. 31-57. McDowell, Linda (2000): Género, identidad y lugar. Un estudio de las geografías feministas, Madrid: Ediciones Cátedra. Monk, Janice/García-Ramon, M. Dolors (1987): »Geografía Feminista: una perspectiva internacional«, in: En Documents d’Análisi Geográfica 10, S. 147-157. Sabaté Martínez, Ana/Rodríguez Moya, Juana María/Díaz Muñoz, María de los Angeles (1995): Mujeres, espacio y sociedad. Hacia una Geografía del género, Madrid: Síntesis, S. 14-46. Toro, Rolando (2007): Biodanza y los 4 elementos, Santiago de Chile: Cuarto Propio. Valcárcel, José (2000): Las Geografías feministas, en Los horizontes de la Geografía, Barcelona: Ariel, S. 437-461.

Reflexionen über das Politische im partizipativen Kartieren aus der Perspektive einer Philosophie der Object-Orientated Ontology Francis Harvey

Abstract Um die Entfaltung des Politischen im partizipativen Kartieren besser zu verstehen, schlägt dieser Beitrag vor, Ansätze der Object-Orientated Ontology (OOO) aus der Philosophie aufzugreifen, um performativen Dimensionen des partizipativen Kartierens theoretisch und methodologisch nachgehen zu können. Die zunehmende Durchdringung des menschlichen Lebens durch Prozesse der Digitalisierung führt zu neuen Nutzungsweisen von Karten und kartenähnlichen Darstellungen. Dabei haben sich die Praxen des Kartenmachens sehr weit von den Praxen der tradierten Kartographie sowie den Möglichkeiten Partizipatorischer Geoinformationssysteme (Participatory GIS, auch PGIS genannt) entfernt (Kurgan 2013).

Eine hilfreiche Perspektive auf das Politische Die etablierten Theorien des partizipativen Kartierens können die politischen Dimensionen (Ghose/Elwood 2003) von webbasierten Mapping-Aktivitäten oftmals nicht mehr ausreichend erfassen. Dies erfordert die Suche nach theoretischen Ansätzen, welche die gewandelten Praxen in ihrer Spezifik und gesellschaftlichen Rolle verstehen können. Hier, so das Argument dieses Textes, kann Object-Orientated Ontology eine hilfreiche Perspektive auf das Politische im partizipativen Kartieren bieten. Aus Sicht der OOO, die in vielen Aspekten der Actor-Network Theory (ANT) ähnelt und dennoch eine grundlegend andere Perspektive einnimmt, entsteht die semantische und materiell-praktische Herstellung des Politischen durch die Verbindung von Betrachter*in/Nutzer*in mit dem ästhetischen Objekt Karte. Dabei bilden sich in der und für die Handlung neue hybride Objekte (Harman 2018). Der dialektische Charakter dieser Produktion von Objekten wird in diskursiven Aktivitäten erweitert, vertieft und multipliziert. Die politischen Dimensionen des partizipativen Kartierens entstehen durch zwischenmenschliche und nichtmenschliche Bindungen sowie vor allem durch sogenannte schwache Bindungen (Granovetter 1985), die weder direkt materiell noch kurzfristig ihre Wirkung zeigen. Diese Aspekte der Performance des partizipativen Kartierens aus einer OOO-inspirierten Perspektive zu erheben und zu analysieren, führt zu methodologischen Herausforderungen, die hier im Folgenden beschrieben werden.

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Der vorliegende Beitrag gliedert sich in vier Abschnitte und schlägt einige theoretische Ansätze der OOO-Philosophie für eine Untersuchung von partizipativem Kartieren vor, wobei der Fokus auf den politischen Dimensionen des Kartierens liegt. Im ersten Abschnitt wird die begrenzte Auseinandersetzung mit politischen Aspekten des partizipativen Kartierens in bisherigen Ansätzen eines Public Participation GIS (Sieber 2006) beleuchtet. Anschließend wird im zweiten Abschnitt erklärt, wie die OOO-Philosophie, anders als die ANT, eine analytische Auseinandersetzung mit Fragen der Politik ermöglicht. Hier werden die Hauptmerkmale der OOO-Philosophie für eine Analyse der partizipativen Kartographie näher beschrieben und Grundzüge der Methodologie dargestellt. Im methodologischen Abschnitt werden schließlich zwei Beispiele idealtypisch aufgezeigt, in denen es um eine dialektische Untersuchung der performativen Entstehung und Entfaltung von politischen Dimensionen im partizipativen Kartieren geht. Abschließend erfolgt eine kritische Diskussion dieses methodologischen Vorschlags, die sich mit den Grenzen dieser Ausarbeitung befasst und Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung einer Theorie und Methodologie des partizipativen Kartierens aufzeigt.

Die Schwierigkeit, das Politische in Participatory GIS zu erfassen Seit 2005, dem Jahr der Veröffentlichung von Google Maps, begeistert sich eine wachsende Zahl von Menschen und Institutionen an den Möglichkeiten des partizipativen Kartierens. Dabei wird auf die Erfahrungen mit Participatory Mapping und Participatory GIS der 1960er und 1980er bis -90er Jahre selten Bezug genommen (Aitken 2002; Plantin 2014; Calkins et al. 1991). Auf dem Nährboden von Participatory GIS signalisierte der Begriff Volunteered Geographic Information (Goodchild 2007) gleichzeitig die Hoffnung bzw. den Glauben daran, dass hiermit webbasierte Geoinformationen politisch wirksam werden können. Die offensichtliche Begrenztheit von Participatory-GIS-Ansätzen (Ghose 1999, 2007; Aitken 2002) wurde dabei durch die Vorstellung relativiert, dass die Erhebung und Verbreitung von Geoinformationen mit scheinbar einfach handhabbaren Formen des webbasierten Kartierens nun eine wirksame Partizipation ermögliche (Sieber 2006; Glasze 2009). In einem solchen »Geoweb« würden die produzierten Informationen für weitere Verwendungen frei zur Verfügung stehen (Elwood/Leszczynski 2011). Die tatsächliche Nutzung dieser leicht zugänglichen Formen des partizipativen Kartierens ist jedoch wesentlich komplizierter (Sui/Elwood/Goodchild 2012). So werden vielfach die Interessen hinter der Sammlung von freiwilligen Daten nicht offengelegt und die Daten häufig ohne Zustimmung der Freiwilligen weiterverwendet (Harvey 2012). Im Gegensatz zu einer »Schönen neuen Welt« des Kartierens (nach Warren 2004) erwuchsen aus den Participatory-GIS-Ansätzen der 1990er Jahre (Ghose 2007) solche Ansätze, die das partizipatorische Potenzial in der Erstellung von Karten gerade für jene Menschen mit Computerzugang sahen (Sieber 2006). Dennoch begrenzen die Möglichkeiten des einfachen Webkartierens ihre Kontrollierbarkeit, da durch die Softwareentwickler mehr Parameter vorbestimmt werden müssen. Paradoxerweise geschieht das aufgrund der Komplexität der Technologie, die sich lokale Akteur*innen oder Interessengruppen sonst erst aneignen müssten. So jedoch wird das partizipatorische Potenzial durch die Nutzungsmöglichkeiten der App sowie durch die Darstellungsmöglichkeiten stark eingeschränkt.

Reflexionen über das Politische im partizipativen Kartieren

Im Sinne des Endes der Geschichte (Fukuyama 1989) signalisierte Francis Fukuyamas Text auch das Ende der politischen Begrenztheit und Beeinf lussung hinsichtlich einer Idealvorstellung von partizipativem Kartieren. Viele sprachen von einer neuen Selbstbefähigung (Plantin 2014), obwohl grundlegende Probleme mit dem Kartieren im Rahmen von Kriseninterventionen schnell deutlich wurden (Zook et al. 2010). Die f luide und situative Zusammenarbeit von etablierten Institutionen vor Ort glückte eben nicht immer (Harvey et al. 2012; Rose-Redwood 2012), und auch die bekanntesten Plattformen waren der Schnelligkeit des Datentransfers im Internet am Ende nicht gewachsen, wie etwa am Beispiel von Kartierungen im Kontext humanitärer Katastrophen deutlich wurde (Zook et al. 2010). Die Realität blieb häufig weit hinter den Hoffnungen zurück, wofür es mehrere Gründe gab, doch wesentlich war die Vernachlässigung des Politischen in der performativen Nutzung und Erstellung von Karten, worauf der Geograph Lakshman Yapa schon vor Jahren hingewiesen hatte (Yapa 1991). Vor diesem Hintergrund geht es in vorliegendem Beitrag darum, einen Ansatz aufzuzeigen, der sich an Konzepten der Object-Orientated Ontology (OOO) orientiert und mit dem die vielschichtigen politischen Wirkungen sowie das Beeinf lussungspotenzial von gegenwärtigen Kartenpraxen in ihrer Entstehung untersucht werden können. Die damit hervorgerufenen epistemologischen Einschränkungen, die aus der weiten Nutzung eines essenzialistischen Begriffs des Politischen resultieren, sollen durch die Aufarbeitung der Philosophie der Object-Orientated Ontology und der postrepräsentationalen Kartographie empirisch erweitert werden können. Der Schwerpunkt der OOO liegt auf Themen, die vielen Lesenden aus der Literatur zur Actor-Network Theory bekannt sein dürften. Die OOO-Philosophie unterscheidet sich jedoch trotz Gemeinsamkeiten erheblich von der ANT, und gerade wegen dieser Unterschiede eignen sich meines Ermessens OOO-Konzepte und -Methoden für die Untersuchung des Politischen im partizipativen Kartieren. OOO-Analysen fokussieren auf die Prozesse und Aushandlungen der Qualitäten von Objekten, die das Politische in der Praxis ausmachen. Somit ermöglichen die Konzepte der OOO die politische Zielgerichtetheit von Objekten und deren Qualitäten im partizipativen Kartieren. Durch diese Handlungsorientierung sind OOO-Ansätze für die Analyse des Politischen in technologisch geprägten Situationen bestens geeignet. Die durch das Informationszeitalter bedingten Veränderungen der Medien und damit die Änderungen des Potenzials von geovisuellen Formen der Kommunikation beeinf lussen auch den politischen Diskurs. Anstatt Fronten von etablierten Institutionen und gegnerischer Öffentlichkeit zu bilden, folgen die Elemente des Diskurses subtileren, rhizomatischen Formen (Deleuze/Guattari 1987; Harvey/Chrisman 2004). Um sich mit den neuen Varianten des Politischen auseinandersetzen zu können, ist eine Klärung der Annahmen zum politischen Potenzial des Partizipativen nötig.

Partizipation Kritische Perspektiven auf Partizipation betonen, dass diese als politischer Prozess der Kollaboration betrachtet werden kann (Miessen 2011). Es geht in diesem Sinne nicht um die Unterwerfung und das Forcieren einer Position oder gar Handlung, sondern um eine gezielte Kompromissfindung. Im bekannten Muster staatlicher oder administrativer Akteure halten die Vertreter der etablierten Institutionen eine soge-

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nannte Opposition (z.B. aus der Zivilgesellschaft, eine Bürgerrechtsbewegung oder eine Interessenvereinigung) in einer »Umarmung«, die die nichtetablierten Vertreter zu Komplizen in einem diffusen System der Administration macht (ebd.). Manifeste Gegensätze und Widersprüche verkommen in der Partizipationsrhetorik leicht zu einer »Schmeichelei«, der die Umarmung bildlich nahekommt und die mit dem Verlust an Fähigkeiten einhergeht, auf die anhaltenden Prozesse der Partizipation einzuwirken. Partizipation erodiert dabei auch das politische und ethische Fundament der Opposition, weshalb solche Prozesse von Spannungen gekennzeichnet sind und teils in unlösbaren Konf likten enden. Vielfach führen sie dennoch zu einem Kompromiss, der die etablierten Gruppen und die Opposition schwächt, was dann zu weiteren Aktivitäten und Aushandlungen führt. So geht es beispielsweise in der Arbeit »Forensic Architecture« von Eyal Weizman (2017) darum, Praxen anzustoßen, die die Wahrheitsrhetorik solcher Kompromisse kritisch befragen und die politische Machtbasis der Autorität etablierter Partizipationsinstitutionen anfechten. Schritte in die Richtung der intensiven epistemologischen Auseinandersetzungen mit dem Kartieren können unter anderem in postrepräsentationalen Kartographien gefunden werden, welche die Artikulation der Bedeutung des Politischen der digitalen Medien und der gewandelten gesellschaftlichen Diskurse theoretisch untermauern (Thrift 2007). Die ontologischen und epistemologischen Aspekte und Debatten unter Akademiker*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen der letzten Jahre sind komplex. Aus dem Bedürfnis heraus, diesem Text im »Handbuch Kritisches Kartieren« einen klaren Rahmen für eine Methodologie zu geben, werden Nigel Thrifts Auseinandersetzungen mit Performativity (Thrift 2004) als Referenzposition für diesen Ansatz aufgegriffen, welcher den überwältigenden Reichtum der Welt über den Einbezug von Ästhetik fasst. Diese postrepräsentationale Perspektive nimmt als Basis OOO, um ein Verständnis des Objekts und seiner Qualitäten zu konkretisieren. Damit können die Debatten zur Objektwahrnehmung und -auslegung aus dem textlichen Materialismus vermieden werden. Der hier vorgestellte Ansatz greift somit auch Punkte auf, die Antje Schlottmann und Judith Miggelbrink (2009) unter dem Begriff der Visual Geographies thematisiert haben. Durch die theoretische Fundierung der postrepräsentationalen Perspektive mit der OOO als Basis weicht dieser Ansatz ab von einer neomaterialistischen Epistemologie zugunsten unmittelbarer Bezüge auf Objekte und deren Qualitäten kartographischer Praxen. Diese Wendung versteht sich als Auseinandersetzung mit dem Konzept des Bildes, erweitert um eine kritische Beschäftigung mit Begriffen, Inhalten und Kategorien, die über die einfache Untersuchung der Praxen hinausgeht. Nach Boris Michel (2017) erfolgt diese Änderung bereits in neuen Formen der Geovisualisierung in Aktivismus, Kunst und Forschung. Allerdings haben die neuen Formen mit dem Vorbehalt zu kämpfen, dass die Karten, wie alle visuellen Materialien, oft eher als bedenklich einzustufen sind (Blomley 2006). Diese Skepsis ist in Michels Analyse als die Verschleierung einer grundsätzlichen Kritik an der Technologie in der Geographie zu verstehen (Michel 2017). Mit dieser Perspektive geht eine weit verbreitete und grundsätzliche Kritik der Technologien der Moderne und der postmodernistischen Ansätze einher, in denen technologisch durchdrungene partizipative Methoden kritisch ref lektiert und für humanistische und progressive Ziele eingesetzt werden (Latour 2002). Um nun von den theoretischen Debatten zum methodologischen Fokus dieses Beitrags zu kommen, wird der Schwerpunkt auf die dialektische Methode im Sinne des histori-

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schen Materialismus sowie auf Wilhelm Diltheys und Hans-Georg Gadamers Hermeneutik als wissenschaftlich-kritisches Vorgehen gelegt. Das Konzept des hermeneutischen Zirkels stellt das Grundgerüst für die vorgeschlagene Methodik dar.

Grundkonzepte für eine Analyse des Politischen im partizipativen Kartieren Das Performative in den Praxen des partizipativen Kartierens ist zentraler Gegenstand, auf den sich der aus der OOO abgeleitete theoretische Rahmen und die hier präsentierte Methode beziehen. Dafür werden Thrifts Überlegungen von 2004 mit einem OOO-Ansatz fundiert, dessen Fokus auf Objekte und deren Qualitäten die Handlungsorientierung für die Untersuchung des partizipativen Kartierens hervorhebt. Die Handlungen sind dabei grundsätzlich in und aus den Praktiken heraus zu verstehen. Sie geben Hinweise auf die Qualitäten der Objekte und die Bindungen, die das Politische ausmachen. Manche Praktiken gehen Hand in Hand mit einer unmittelbaren Änderung, einer Symbiose eines Objekts einher. Dennoch sind sie weniger bedeutend als die schwachen Bindungen. Nach den theoretischen Überlegungen von Graham Harman (2018) zur Ambivalenz der Berücksichtigung von schwachen Bindungen in der ANT ist es äußerst wichtig, diese in den Praktiken zu identifizieren, um die politischen Aspekte zu erfassen. Ein Beispiel hierfür ist die scheinbar abgelehnte Karte, die nachher dennoch die Vorlage für die umgesetzte institutionelle Kartierung liefert, was die Eigendarstellungen sowie Erinnerungen und Beobachtungen zum Prozess verschleiert und indirekt zu Änderungen von Objekten führt. In diesem Sinne ist das Performative des partizipativen Kartierens als weder dramatisch noch theatralisch zu verstehen. Vielmehr zeigen sich die Qualitäten von und die Bindungen zwischen Objekten in profanen Geschehnissen. Das Politische kommt, in diesem Sinne, durch die Bündelung der Bindungen und Objekte in den Handlungen von Menschen und Nichtmenschen zustande.

Relevante OOO-Konzepte für die Methodologie Die OOO kann im Vergleich zur ANT gut dargestellt werden. Knapp zusammengefasst lassen sich Objekte, Qualitäten und Bindungen als Hauptaspekte der OOO ausmachen. Hier soll der Schwerpunkt auf der methodologischen Umsetzung liegen, weswegen fundamentale Aspekte der OOO-Theorie im Folgenden nur verkürzt vorgestellt werden. Erstens setzt die OOO, wie auch die ANT, eine f lache Ontologie voraus mit einer gleichwertigen Aufmerksamkeit hinsichtlich menschlicher und nichtmenschlicher Akteure sowie einem Interesse an der Bedeutung der stabilisierenden Arbeit, die Objekte leisten. Die OOO bezieht sich auf Objekte und unterscheidet sich insofern von der akteurszentrierten ANT, als Objekte Beziehungen ermöglichen, auch wenn die Beziehungen nicht immer reziprok und symmetrisch sind. Objekte sind »Dinge-an-sich« (nach Heidegger 1984), deren Qualitäten sich performativ durch die Qualitäten weiterer Objekte entwickeln. Im Gegensatz zur ANT sind Objekte in der f lachen Ontologie der OOO nicht vollständig determinierbar. Sie sind immer mehr als das, was sie tun,

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getan haben oder tun werden (Harman 2018: 134). Objekte müssen somit empirisch festgestellt werden. Zweitens liegt der Fokus der Analyse von Objekten daher auf schwachen Bindungen. Weil ein OOO-Objekt vergänglich ist und seine Qualitäten für dessen Wirkungen prägend sind, geht es bei der Untersuchung vor allem darum, die räumlichen und zeitlichen Grenzen des f lüchtigen Lebens eines Objekts zu ermitteln. Es ist zudem wichtig, die Phasen seiner Entwicklung festzustellen, da deren symbiotische Transformationen (Margulis 1998) besonders durch schwache Beziehungen geprägt werden. In den tatsächlichen und den gesehenen Änderungen sollte nach Zeichen von schwachen Beziehungen gesucht werden. Die Symbiosen haben unumkehrbare und qualitative Wirkungen und können Änderungen durch ihre Präsenz aufrechterhalten. Die Schwierigkeit der Differenzierung von Beziehungen mit und ohne Implikationen ist eine besondere Herausforderung von OOO-Ansätzen. Die Zeichen des Tuns oder der Aktivität können zunächst ähnlich wie Netzwerkelemente in der ANT aufgegriffen werden. Bei der OOO führt die Einsicht der Unvollständigkeit dieser Darstellung von Beziehungswirksamkeit aber zu einer Analyse, die stetig weiter zu verfeinern ist. Hier kann ein hermeneutischer Ansatz hinzugezogen werden, um eine Systematisierung und Prüfung der Analyseschritte zu ermöglichen. Wie bereits ausgeführt, entsteht das Politische der OOO-Objekte durch asymmetrische Beziehungen aus schwachen Bindungen, die durch die Qualitäten der Objekte und Bindungen verwirklicht werden. Die Bindung ist das Potenzial der Beziehung. Ein OOO-Ansatz beansprucht somit nicht, essenziell politisches Wissen zu definieren, sondern sieht das Politische in der Entstehung von Bündeln der Beziehungen und temporärer Ausgrenzungen. In der OOO wird das Politische in den Konf likten zwischen Beteiligten gesehen, die ihre Auf lösung durch eine Art von Entscheidung finden. Eine genaue Definition des Politischen kann deswegen nie abschließend bestimmt werden. Das Politische in der Performance der partizipativen Kartierung ist also erst mit der Zeit und in der Verwirklichung von Potenzialen durch Aktivitäten zu erkennen, die über eine Untersuchung kartographischer Praktiken festzustellen sind. Nach Harman (2018) können die schwachen Bindungen der Objektbeziehungen zusammen das Politische als Verkettung verwirklichen und eine gegenseitige Wirkung hervorrufen. Dabei sind nichtmenschliche Objekte ebenso bedeutend wie menschliche Objekte. Politik entsteht nur durch den Bezug, der mit Objekten und deren Bindungen ermöglicht wird.

Notizen zur methodologischen Umsetzung In doppelter Hinsicht kann diese Methodologie auf das Feld der menschlichen und nichtmenschlichen Objekte angewandt werden: einerseits auf erklärte oder explizite Objekte und Aktivitäten sowie andererseits auf ungeklärte oder implizit gegebene institutionelle Einf lüsse, Konventionen, bestehende und vorausgehende Aktivitäten. Dabei geht es um das Verfolgen der Objekte in ihren offensichtlichen Aktivitäten und Assoziationen sowie besonders um versteckte Objekte und Bindungen – die sich, wie Mark Granovetters schwache Bindungen, oft als entscheidender erweisen als die Nutzung einer offiziellen Kartierung oder die impliziten Annahmen der Kategorien der OpenStreetMap-Kartierung. Um schwache Bindungen erarbeiten zu können, sollen

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Prinzipien der Hermeneutik das Grundgerüst stellen. Bildlich gesprochen geht es methodologisch somit nicht darum, einfach jeden gefundenen Stein umzuwenden und das darunter Krabbelnde festzuhalten. Sondern es geht vielmehr darum, sich die Steine zu merken, sie erneut umzuwenden und durch kritische Ref lexionen über die klarer werdenden Konstellationen von Objekten und Qualitäten ein tiefergehendes Verständnis zur Beschreibung der Objekte und deren Bindungen in Beziehungen zu erarbeiten und zu verstehen. Damit können das Bündeln der Qualitäten in Kompromissen und das Politische des Kartierens performativ aufgezeigt werden. Auf diese Art kann das »Krabbelnde«, können die Aktivitäten der Praktiken in ihren Zusammenhängen und politisch besser verstanden werden. Im Sinne der Grounded Theory bestehen in diesem Ansatz methodologische Schwierigkeiten bezüglich der Menschen, da diese im OOO-Sinne als menschliche Objekte zu kennzeichnen sind. Ihr Tun liegt in der Bündelung und Schaffung von Beziehungen, aber dieses Tun erfordert bereits geschaffene Möglichkeiten. Mit den dazugehörigen nichtmenschlichen Objekten wird die Methodologie und Theorie noch komplexer. Hier lassen sich beispielsweise die Diskussionen um die Rechte und den juristischen Status von Pf lanzen und anderen Objekten der Natur (Stone 1972; Braun/Disch 2002) anführen sowie jene um deren rechtlichen Schutz, der in den vergangenen Jahrhunderten erweitert wurde. Neben dem eurozentrischen Ansatz von Christopher Stone gilt es, die ökologische Mitwirkung zu berücksichtigen. Demnach kann die Untersuchung der Qualitäten von Objekten (wie z.B. Karten und deren Inhalte) in einem hermeneutischen Zirkelprozess auch die undeutlichen, versteckten und potenzialen Wirkungen der Qualitäten und Bindungen identifizieren. Eine Dialektik der Performanz des partizipativen Kartierens – also auch die Anfertigung einer Karte – ist theoretisch endlos, ermöglicht aber auch bei einer zeitweiligen Analyse ein besseres Verständnis der politischen Dimensionen des partizipativen Kartierens. Damit können Handlungen im Interesse marginalisierter und gegenhegemonialer Kräfte verstanden und unterstützt werden.

Methodische Beispiele Überblick Dieser Abschnitt präsentiert exemplarisch die Anwendung der Methodik als einen Prozess und veranschaulicht anhand von zwei Beispielen, wie sie auch in der Analyse existierender Karten politische Dimensionen des Kartierens sinnvoll herausarbeiten kann. Die Beispiele zeigen Verfahrensschritte und deuten auf Grundelemente einer Methodologie hin, die im Sinne der Dialektik und des hermeneutischen Kreises das Politische im partizipativen Kartieren zugänglich und damit zu einem Teil der Debatten macht.

Herausforderungen für die OOO-basierte Methodik Zunächst müssen drei Einschränkungen erwähnt werden. Erstens stellt die OOO-basierte Methodik die Forschung vor schwierige methodologische Bedingungen, da die methodologische Aufarbeitung der schwachen Beziehungen und deren langfristiger Bindungen schnell den üblichen zeitlichen Rahmen von Forschungsprojekten sprengt.

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Abbildung 1: Idealisiertes Vorgehen für die Anwendung der OOO-basierten Methodik in einer Studie von Nutzungskonf likten einer städtischen Grünf läche mittels partizipativem Kartieren. Die Schritte strukturieren sich systematisch und im Detail nach hermeneutischer Methodologie.

Quelle: Eigene Darstellung

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Zweitens setzt die Identifikation der Objekte, die hermeneutisch in ihrer Geltung aufgenommen werden, eine selbstkritische Arbeitsweise und eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Untersuchungsmaterialien voraus. Drittens erfordert das Feststellen und Verstehen der Bindungen und auch der Beziehungen ein konsequent ethnographisches Vorgehen in der Arbeit mit allen Beteiligten. Der große zeitliche Umfang einer solchen Forschung wird hier besonders durch die intensive Methodologie bewirkt. Wie beispielsweise bei Grounded-Theory-Ansätzen ist hier vor allem eine umfangreiche und iterative Ref lexion sowohl in der Erfassung als auch in der Ausarbeitung relevant. Diese kurze Zusammenfassung kann nicht alle Herausforderungen der Methodik beschreiben, verweist jedoch auf die Bedeutung einer fundierten und dennoch f lexiblen Methodik, um diesen und weiteren Komplikationen in der Forschung begegnen zu können. Abbildung 1 stellt ein stark vereinfachtes Vorgehen für die ethnographische Arbeit nach dieser Methode dar. Die folgenden Beispiele wurden nicht ethnographisch beforscht, sondern dienen in ihrer begrenzten Aufarbeitung nur dazu, die Anwendung der OOO-basierten Methodik zu veranschaulichen.

Beispiel 1: Öffentlicher Zugang zur Obsternte Im Internetzeitalter, in dem Partizipation durchaus aus Klicks im Prozess der Vermittlung bestehen kann, sind Online-Karten wie die von mundraub.org eine sehr beschränkte Form der Partizipation mittels Karten im Plattform-Kapitalismus (Beverungen/Sprenger 2017). Abbildung 2 zeigt den Ausschnitt einer gegenwärtigen thematischen Online-Geovisualisierung (mundraub.org) mit Fokus auf Deutschland bzw. auf das Gebiet zwischen Utrecht im Westen und Prag im Osten sowie Verden im Norden und Stuttgart im Süden. Über die Zoomfunktion können auch einzelne Quartiere im Detail bis hin zu Gebäudegrundrissen angezeigt werden. Die Farben weisen verschiedene Obstgewächse, Kräuter, Nüsse, Gruppen, Aktionen, Mostereien und Nachwuchsbäume aus. In diesem Maßstab ist die genaue Zuordnung der Kartensymbole zur Legende aber zum Teil unsicher, da die Zahlen in den Kartensymbolen die Darstellung der Legendensymbole nicht zulassen. Aber eindeutig lässt sich sagen, dass jeder Fundort ein Objekt mit Qualitäten wie Standort, Obstart usw. performativ darstellt. Aus OOO-basierter Perspektive haben partizipierende Nutzer*innen von mundraub.org wenige Möglichkeiten, an der Gestaltung der Karte mitzuwirken, allerdings können sie nach der Erstellung eines Benutzer*innenkontos neue Fundorte angeben. Eine solche Benutzung kann breiten politischen Motiven folgen: von einfachen altruistischen Kollaborationen bis hin zu subversiven Meldungen. Welche Art der Politik und welche Formen der Aktivitäten, Aushandlungen und Prozesse könnten OOObasierte Ansätze durch eine hermeneutisch strukturierte Methodik bewirken, die die Nutzer*innen in ihrer Anwendung und die Anbieter*innen des Services sowie die betroffenen Grundstücksbesitzer*innen begleitet, um die Objekte und deren Qualitäten aus verschiedenen Perspektiven hermeneutisch zu erfassen? Nach dem dialektischen Vorgehen des hermeneutischen Zirkels werden sie auf schwache Bindungen und erwirkte Beziehungen sowie deren politische Wirkungen untersucht.

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Abbildung 2: Der Kartenausschnitt von mundraub.org stellt hier für ein auf Deutschland zentriertes mitteleuropäisches Gebiet stark vereinfacht die Standorte von unter anderem öffentlich zugänglichen Obstbäumen und -sträuchern dar. Die Abweichungen in der Symbolik sind Verzerrungen, die durch das Zoomen auf kleinere Gebiete minimiert werden können.

Quelle: https://mundraub.org vom 25.05.2021

Beispiel 2: Frontex-Karte zur Migration nach Europa Die im ersten Beispiel gegebene Illustration der OOO-Methode ließe sich für viele partizipative Karten auf ähnliche Weise darstellen. Interessant dabei ist, dass in diesem zweiten Beispiel hypothetisch aufgezeigt wird, wie Kartennutzer*innen eine Karte mit einer klaren, aber für viele eher subtil wirkenden politischen Aussage analysieren können. Die Prozesse der Herstellung lassen sich durch eine dialektische Analyse, die die semiotische Wirksamkeit über eine instrumentelle Analyse hinaus untersucht, beleuchten (Harvey/ Losang 2019). Die intensive Nutzung von Pfeil-Symbolen (vgl. Abb. 3) und die damit graphisch dargestellte Bedrohung von Europa bietet sich geradezu an, um eine OOO-basierte Beforschung der graphischen Performance bei Nutzer*innen der Karte durchzuführen. Nach den graphischen Variablen von Jacques Bertin (1967) lässt sich die graphische Wirksamkeit der Variablen bei verschiedenen Nutzer*innen samt deren Hintergrundwissen und politischen Einstellungen untersuchen. Wie verstehen die Nutzer*innen die Kommunikationsziele des Herstellers in ihren Ref lexionen über Aussagekraft und Bedeutung dieser Karte? Wie ändert sich dies im Prozess eines Diskurses zu Einwanderung nach Europa und wie verschieben sich die Interpretationen der graphischen Elemente? Wie wirkt die Karte nachträglich auf das Verständnis von Migration? Werden graphische

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Beziehungen, die auf schwache Bindungen zu Tatsachen verweisen, angesichts weiterer Überlegungen und Informationen geschwächt oder gestärkt? Wie ändert sich das politische Verständnis der Kartennutzer*innen über längere Zeiträume hinweg? Abbildung 3: Beispiel einer Infographik mit einer Frontex-Karte zur Migration nach Europa

Quelle: Frontex 2017; siehe auch van Houtum/Bueno Lacy 2020

Die Verwendung einer dialektischen Methode nach Konzepten des hermeneutischen Zirkels stärkt die Auseinandersetzung mit komplexen und wohl auch zum Teil widersprüchlichen Meldungen über einen längeren Zeitraum. Dabei muss sich die Forschung auf einen Zeitabschnitt fokussieren oder mehrere Interventionen mit Forschungsteilnehmer*innen durchführen, um die Entwicklung des politischen Verständnisses entsprechend vertiefend verfolgen zu können.

Reflexion: Kritische Betrachtung des OOO-basierten Ansatzes Die Kürze der Darstellung dieses OOO-basierten Ansatzes erfordert weitere vertiefende Ausarbeitungen des theoretischen Rahmens und methodologischen Vorgehens. Auch die Beispiele eignen sich höchstens, um das Potenzial des Ansatzes für eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Kartenpraktiken und dem Kartenlesen als partizipativem Akt (nach Bredekamp 2011) zu verstehen. Somit ist dieser Text zwar ein Anfang, aber die theoretischen und methodologischen Aspekte bedürfen weiterer und eingehenderer Auseinandersetzungen mit der Literatur des post-representational turn. Es geht um nichts weniger als darum, durch die vielschichtigen Diskussionen zum post-representational turn unsere Möglichkeiten für Interventionen in der Welt mittels eines erweiterten Verständnisses von Macht und Politik zu verbessern (Bryant 2014). Dazu gehören alle Formen der Geovisualisierung in ihrer Funktion zur Weiterentwicklung von Kommunikationsstrategien. Die methodologischen Aspekte bekämen auf diese Art auch ein solideres Fundament.

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Weiterhin methodologisch interessant sind narrative Ansätze (Ryan/Foote/Azaryahu 2016) in Zusammenhang mit dem performativen Schwerpunkt einer OOO-basierten Methode, um den Nutzen von Karten und dadurch ermöglichte Raumproduktionen zu analysieren. Nach Edward Segel und Jeffrey Heer (2010) können Narrative die performative Leistung der Leser*innen erhöhen und damit die Kartenwirkung stärker beeinf lussen als die jeweiligen Leistungen des Kartenerstellers. OOO-Ansätze können hier das Politische analysieren. In diesem Zusammenhang müssen wir notwendigerweise den tradierten Begriff der Kartographie kritisieren und prüfen. Die modernistischen Scheuklappen der graphischen Repräsentation und Sprache engen die theoretische Perspektive stark ein. Karten können nach OOO als graphisch-funktionierende Objekte oder als Akteure und assemblages verstanden werden, die in die Erstellung und Pf lege der Aktivitäten eingebunden werden. Dadurch machen sie die Welt aus. Dabei sind Prinzipien von Materialismus und f lachen Ontologien aus dem spekulativen Realismus in deren Abweichungen zu gängigen ontologischen und epistemologischen Positionen in der Geographie zu erfassen und aufzugreifen.

Danksagung An die Teilnehmenden des Workshops am 16.10.2020 für die vielen Impulse und Beispiele aus Projekten und Vorhaben.

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Multiepistemisches Storytelling und kreativkünstlerische Methoden – ein Dialog aus Wortspielen und Schattengestalten Katrin Singer, Martina Neuburger

Abstract Erzählte indigene Geschichten und gebaute Schattenkisten stellen multiepistemische Beziehungen zu Raum und Gemeinschaft her und visualisieren eine Kritik an postkolonialen Machtverhältnissen.

Räume erzählen und darstellen Dieser Beitrag widmet sich der Anwendung von kollaborativen Methoden der sogenannten K/Artographie mit indigenen, Quechua sprechenden Kindern, die ihre persönlichen, traditionellen oder auch fiktiven Geschichten im andinen Hochland in Form von Schattenkisten zu einem kreativ-künstlerischen Ausdruck gebracht haben. Wir diskutieren dieses Beispiel exemplarisch und zeigen daran methodische Umsetzungsschritte, Interpretationsmöglichkeiten und Fallstricke auf. Durch die Methode des Storytelling können Brücken zwischen westlicher und indigener Forschung entstehen, die jedoch bis heute äußerst labil sind und unter den kolonialen Vermächtnissen immer wieder zu zerbrechen scheinen. Um hegemoniale Raumvorstellungen in ihrer machtvollen und postkolonialen Wirkmächtigkeit zu dechiffrieren und zu markieren, braucht es mitunter eine Hinwendung zu »Unordnung und Abweichung« als methodische Haltung und Perspektive (Pinto Passos/Ribes Pereira 2012: 175). Die Grenzen dessen, was als kartographisch gilt und was nicht, müssen dabei neu verhandelt werden. Westlichen Kartenproduktionen (egal ob klassischen oder explizit kritischen Arbeiten) werden bei einer solchen Haltung die eigenen methodischen Grenzen und historischen Verstrickungen aufgezeigt. Indigenes Storytelling als eine performative Praxis und Erzählung von Raum vermittelt eine Vielzahl von räumlichen Repräsentationen und raumgebundenen Wissensarchiven, die durch den Raum als Interpretationsmöglichkeiten schwingen, ohne diesen festzuzurren und zu katalogisieren. Storytelling stellt also eine Möglichkeit dar, die aus den unendlichen Möglichkeiten schöpft, Raum zu erzählen. Wir möchten in diesem Beitrag die Chancen, Grenzen und Gefahren der Anwendung dieser Methode aufzeigen, die aus einer Indigenen Epistemologie entsteht, die Sein, Leben und Wissen generiert und, in Zusammenarbeit mit uns, kreativ-künstlerisch materialisiert wurde.

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Indigene Methodologien erweitern die Kartographie um Formen der Historiographie, die unter anderem Raum öffnet für Erinnerungen, Geschichten, Beziehungen, Gefühle und gemeinschaftliche Wissensproduktion, beispielsweise in Relation zu Land und Wasser. Doch sie werden immer wieder und ständig marginalisiert, denn ein Großteil der westlichen Gesellschaft benötigt eine multiepistemische Alphabetisierung, um die vielfältigen Kartenangebote als solche überhaupt erkennen, geschweige denn lesen und für sich in einen Sinnzusammenhang stellen zu können (Kuokkanen 2007). Die nun folgende Diskussion konzentriert sich auf indigenes Storytelling, jedoch werden Geschichten global erzählt und es wird um Bedeutungshoheit gerungen. Viele der Fragen und Überlegungen sind für andere Forschungskontexte relevant. Das Bedeutende an indigenem Storytelling ist die explizite Betonung der Interkommunikation mit dem und durch das Land, auf dem die Erzählenden leben, das als wechselseitiges Hervorbringen von Wissen verstanden wird. Mit diesem Vorgehen eröffnet sich ein methodisch und auch historisch begründetes Spannungsverhältnis zwischen westlich-kolonialer Forschung und kolonisierten Gruppen, dem wir in dem Beitrag mit ref lexiven Fragen immer wieder begegnen wollen und so auch koloniale Kontinuitäten im eigenen Tun markieren (Smith 2012).

Multiepistemisches Storytelling und kreativ-künstlerische Methoden »[…] [I]t matters what ideas one uses to think other ideas [with]« (Strathern 1992: 10). Für uns sind Kritische Kartograph*innen jene Menschen, die uns dekoloniale, machtkritische und multiepistemische Karten als kritische Interpretationen von Welt zur Verfügung stellen. Kritische Kartograph*innen beinhalten explizit in dieser Lesart die weltweit Kolonisierten, die über ihre Wissensproduktionen Kritik an der herrschenden Ordnung von Sein und Raum artikulieren, welche durch weiße Vorherrschaft und einen rassifizierten Kapitalismus diktiert wird. Dabei ist es wichtig, sensibilisiert zu sein, wie und in welchem Kontext welche intersektionalen Kategorien der Unterdrückung wirken (Crenshaw 2019). Es sind die intersektionalen Perspektiven von BIPoCKartograph*innen (Black, Indigenous und People of Color), die ins Zentrum gerückt und von denen gelernt werden sollte. Kartographie wird damit vom Herrschaftswerkzeug zu einer Methode des Widerstands, sodass die hegemoniale Perspektive auf Raum provinzialisiert, dekolonisiert und damit eine unter vielen wird (Rundstrom 2009; Johnson/Louis/Pramono 2005). Storytelling als Teil indigener Methodologie nimmt hier einen signifikanten Platz ein. Dabei verstehen wir in diesem Beitrag indigen, in Anlehnung an Mechthild Exo, »nicht als einen Begriff, der eine ›authentische‹, essenzialisierte Identität festlegt, sondern der seine Bedeutung aus der Erfahrung und der Notwendigkeit der Abwehr von Unterdrückung gewinnt« (Exo 2015: 282). Wissenschaftler*innen, die in diesem Setting und mit diesen Methoden arbeiten, haben gegenüber den involvierten indigenen Communitys eine Rechenschaftspf licht (accountability). Für die eigenen Forschungspraktiken und auch die Fehler, die sich daraus ergeben, Verantwortung zu übernehmen und Rechenschaft bei den sogenannten

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Beforschten darüber abzulegen, ist der Grundgedanke hiervon. Rechenschaftspf licht ist ein essenzieller und immer wiederkehrender Moment indigener Methodologien, ein Verständnis, das westlicher Forschung fremd ist und sie zugleich in ein Dilemma der Legitimation katapultiert. Das ist richtig und wichtig, denn nur so können die kolonialen Vermächtnisse in Forschungsprozessen markiert und verlernt werden. Indigene Methodologien lehren dabei, dass Prozessen der Wissensproduktion und wie wir zu Wissen gelangen eine inhärente Verantwortung zugrunde liegt. Es gilt zu verstehen, woher dieses Wissen kommt, wem es dient und wie es auf eine sozialökologische Transformation und auf die anhaltende Enteignung von indigenem Land und Wasser antworten kann (Smith 2012). Die Anwendung der Storytelling-Methode erfordert in diesem Sinne eine breite Ref lexion der eigenen Forschung, des gesellschaftlichen Kontextes und der forschenden Person im Ganzen (s. Schmidt/Singer/Neuburger 2022). Das kritische Befragen des eigenen methodischen Tuns mithilfe von postkolonialer Kritik ist dabei unausweichlich.

Storytelling als multiepistemische Brücke Geschichten spannen sich wie ein feines Spinnennetz über und durch den Raum, sie schaffen es, Bezüge untereinander herzustellen, reißen manchmal aber auch ab und haben doch alle ihren eigenen festen Punkt. Geschichten verbinden nicht nur im peruanischen Hochland die Menschen miteinander, sondern sind weltweit verbindend. Kinder sind oftmals hervorragende Geschichtenerzähler*innen. Können Sie sich an eine Geschichte erinnern, die Ihnen ein Kind erzählt hat und die Sie als gesellschaftlich relevant betrachtet haben? Ist es Ihnen ein Anliegen, dass diese ins kollektive Erinnern eingeschrieben wird? Dieses Gedankenspiel wird umso wirkmächtiger, wenn Sie weiterüberlegen, ob die Geschichten von indigenen, Quechua sprechenden Kindern festgehalten werden, ob diese als eine gesellschaftlich relevante Stimme angesehen werden, von und mit denen gelernt werden muss. Es geht an dieser Stelle darum zu hinterfragen, wie unser westlich geprägter gesellschaftlicher Umgang mit Kindern ist, aber auch wie sich eine erwachsene Gesellschaft immer wieder selbst überhöht (Cannella/Viruru 2004). Zu Beginn unserer Forschung hatten wir Quechua sprechende Kinder nicht als Träger*innen von gesellschaftlich relevantem Wissen für unser Forschungsprojekt angesehen. Schon hier vermischen sich auf subtile Art und Weise Formen von Rassismus und Adultismus und führen zur Marginalisierung einer ganzen Generation. Diese Erkenntnis führte dazu, dass wir uns mit dem Kindheitskonzept, das wir in unseren Köpfen trugen, auseinandersetzten und das Wissen der Kinder in das Zentrum unserer Forschung stellten. Die Quechua sprechenden Kinder spannen Brücken zwischen epistemologischen Welten auf. Diesen Raum auf der Brücke nennt Gloria Anzaldúa »Nepantla« (Anzaldúa 2009: 243), während Menschen, die diese epistemologischen Brücken überqueren, »Nepantleras« sind. Die Brücke ist ein Raum transformativer Kraft, der einem aber zugleich die epistemische Zugehörigkeit zur Normgesellschaft, die sich in den Uferbereichen der einen Brückenseite ansiedelt, versagt, und in die die Nepantleras niemals vollkommen eingelassen werden. Die Brücke ist somit auch ein Ort konstanter Verdrängung. Auf diesen Brücken-Orten entsteht kreatives, vielfälti-

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ges, komplexes und emotionales Raumwissen, das in der sogenannten westlich sich verortenden Kartographie und Geographie grundlegend ist für ein künftiges methodisches Suchen und Verlernen, sofern ihnen die Diversität von Raumvorstellungen ein Anliegen ist. Die Kinder haben uns unterschiedlichste Geschichten erzählt – partielle Einblicke, die Teile von kollektivem Erinnern, Emotionen, Wünschen, artenübergreifender Verbundenheit, Trauer und gesellschaftlichen Regelwerken aufzeigen und die dem Leben auf der Brücke einen sprachlichen Ausdruck geben. In den Kontexten, in denen wir die Geschichten hören durften, bedeutet das darin innewohnende Transformationspotenzial nicht, einen Raum zu kreieren, der frei von Machtverhältnissen ist oder per se widerständig, sondern einen, der sich den rationalen Fragen und Analysen westlicher Wissenschaften immer wieder entzieht und diese in ihrer Genese hinterfragt.

Eine methodische Anleitung Erster Schritt: Geschichten erzählen 1. Geschichten leben von der Performanz des erzählenden Moments. Der Raum, in dem die Geschichte erzählt wird, beeinf lusst und inspiriert maßgeblich mit, in welche Richtung die Geschichte geht. So ist es ein grundlegender Unterschied, ob die Kinder uns die Geschichten im schulischen Klassenraum erzählten oder mit uns entlang der Felder und des Flusses liefen, wo sich einige der Geschichten zugetragen hatten, oder ob man abends zusammen am Feuer in der Küche saß. Jeder Raum wird durch Machtbeziehungen formiert. Für die Kinder und auch für uns waren manche Räume starrer (wie in der Schule), andere eher f ließend und dynamisch (z.B. in der Natur oder in der Küche). Die Materialität von Räumlichkeit konstituiert den Moment der Erzählung mit und wirkt sowohl auf die Erzählenden als auch auf uns, die Zuhörenden. Es ist daher von großer Bedeutung, sich vorab Gedanken zu machen, in welchem Setting welche Geschichten erzählt werden (können) oder auch nicht. In unserem Beispiel baten wir die Kinder, ihre Familien nach Geschichten zu fragen, die auf dem und durch das Land erzählt und über Generationen hinweg weitergegeben wurden. Wichtig war uns dabei der generationenübergreifende Dialog und auch, dass Geschichten aus der andinen Quechua-Epistemologie in unserer Forschung einen Raum erhalten. Einige Kinder überlegten sich auch eigene Geschichten, ein Mädchen schrieb eine Walt-DisneyVersion von Aschenputtel nieder, andere brachten autobiographische Geschichten von alltäglicher Arbeit, aber auch Verlust, Trauer und Hoffnungen mit. So variierten die Geschichten in Form und Gestalt sehr, was der komplexen und multiepistemischen Lebensrealität der Kinder Rechnung trägt. 2. Die Kinder übersetzten zu Hause die Geschichten von Quechua ins Spanische und schrieben sie auf. In einem weiteren Schritt übersetzten wir die Geschichten vom Spanischen ins Deutsche. Durch die zweifache Übersetzung dieser Geschichten in unterschiedliche Wissens- und somit Verstehenshorizonte hinein sind inhaltliche Verluste und Momente, die nicht übersetzbar sind, Teil der Geschichten. Meist sind diese unsichtbar und schweigsam (Spyrou 2016), andere narrative Elemente

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Abbildung 1: Die Geschichte »Der säende Junge«

Quelle: Eigene Darstellung nach Victor Salvador

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können aufgrund des Fehlens linguistischer Verständnisse nicht übersetzt werden (Villari/Menacho López 2017). Die Idee eines sogenannten Originals ist damit eine unmögliche. Die nun folgende Geschichte des säenden Jungen ging bereits durch viele Zeitepochen, Ohren, Köpfe und kam durch viele Stimmen zum Ausdruck. Sie wurde gehört, festgehalten und vom Quechua ins Spanische übersetzt vom damals elf Jahre alten Victor Salvador aus Ichoca/Huaraz. Victor wollte mit seinem richtigen Namen genannt werden und gab sein Einverständnis, dass seine Geschichte und seine Schattenkiste für unsere wissenschaftlichen Zwecke abgedruckt werden dürfen. In wissenschaftlichen Arbeiten ist es oftmals Usus, Teilnehmer*innen zu anonymisieren. In unserem Kontext führt dies seit Jahrzehnten zur Ausradierung und Aneignung von indigenen Stimmen und indigenem Wissen und wird vonseiten der indigenen Bevölkerung in unserem Forschungskontext scharf kritisiert. Hier ist eine Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Kontexten wichtig. Victor las uns und den anderen Mitschüler*innen im Klassenzimmer der Grundschule von Ichoca die Geschichte, die seine Tante Aucha ihm erzählt hatte, vor. Sie finden diese Geschichte und die dazugehörige Schattenkiste in Abbildung 1. Wir bitten Sie, diese Geschichte zunächst zu lesen, bevor Sie mit dem Text fortfahren.

Anmerkung zum Verständnis des zweiten Teils der Geschichte: Die Oma möchte, dass der Junge der Frau auf dem Acker des Besitzers hilft. Hier ist möglich, dass sich Tante Aucha auf die Zeiten des Großgrundbesitzes bezog, in denen die indigene Bevölkerung für Großgrundbesitzer*innen (hacendadxs/patrón) unentgeltlich und wie Leibeigene in einem Herrschaftssystem arbeiten mussten. Da die Großmutter von der Frau Kartoffeln geschenkt bekommen hat, soll der Junge als Dank dafür der Frau auf dem Feld des*der Großgrundbesitzers*in bei der Ernte helfen. Dieses System des Großgrundbesitzes wurde durch den Militärputsch im Jahr 1968 durch Juan Velasco Alvarado in Peru zerschlagen und durch die von ihm initiierte Agrarreform in den folgenden Jahren abgeschafft.

Zweiter Schritt: Geschichten visualisieren 3. Zurück im Klassenzimmer: Nachdem Victor die Geschichte geteilt hatte, überlegten die Kinder in einem nächsten Schritt unter der Leitung von Victor, welcher Moment aus der Geschichte als Standbild festgehalten werden sollte (s. Abb. 1). Sie überlegten gemeinsam, welche Elemente auf schwarzen Karton gezeichnet und ausgeschnitten werden sollten. Das Ausschneiden der feinen Elemente mithilfe eines Cuttermessers übernahmen wir als Erwachsene. Alle Kinder zeichneten und schnitten gemeinsam aus. Die so entstandene Schattenkiste ist das Produkt ihrer Gemeinschaftsarbeit. Welche Elemente zentral in der Mitte oder am Rand positioniert werden sollten, entschieden sie in der gemeinsamen Diskussion. Sie klebten die Tonkartonelemente auf Transparentpapier, das wir vorab mit einem Rahmen aus schwarzem Karton stabilisiert hatten. Am Ende wurde das Bild mithilfe eines Tackers an die vorbereitete Holzkiste getackert. Die Materialien, die wir dafür benutzt haben, finden sich in Abbildung 2 wieder.

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Abbildung 2: Materialliste zur Erstellung der Schattenkiste

Quelle: Eigene Darstellung

Für den Arbeitsprozess vom Vorlesen der Geschichte bis zum Ende des Fertigstellens der Kiste benötigten wir ca. zwei bis drei Stunden. Die Zusammenarbeit mit den Kindern hat sich über mehrere Monate in einem wöchentlichen Turnus vollzogen, was sich als angebrachter Zeitraum erwies. Wichtig war für alle Kinder, eine eigene Kiste mit ihrer Geschichte zu erhalten, die sie dann mit nach Hause nehmen durften. 4. Nachdem alle Kisten fertiggestellt waren, luden wir die Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern zu einer abschließenden Storytelling-Veranstaltung ein. Wir dunkelten das gesamte Klassenzimmer ab, erleuchteten die Kisten mit einer Kerze, und die Kinder erzählten und teilten ihre jeweiligen Geschichten.

Dritter Schritt: Epistemische Übersetzungen Die Geschichte des säenden Jungen ist in unserer Interpretation eine narrative Auseinandersetzung mit den andinen gesellschaftlichen Pfeilern Arbeit – Gemeinschaft – Spiel – Kindheit. Die vorrangige moralische These, die uns diese Geschichte vermittelt, ist die Vernachlässigung individueller Wünsche zum Zwecke der Sicherstellung der gemeinschaftlichen Subsistenz. Der Junge, so die reduzierte Zusammenfassung, ist für das Stecken und die Ernte der Kartoffeln verantwortlich. Neben Weizen ist diese native Knollenpf lanze das wichtigste andine Grundnahrungsmittel in der Region. Der Junge widersetzt sich im Stillen der durch die Großmutter aufgetragenen Arbeit und wird am Ende vom Kondor für sein Verhalten bestraft. Durch diese Geschichte wird den Zuhörenden auf mehreren Ebenen vermittelt, wie sich ein sozialer und spiritueller andiner Raum autopoietisch, also sich immer wieder selbst erschaffend, verhält.

Arbeit Über die Geschichte wird ein Verständnis von Arbeit transportiert, das sich jenseits der kapitalistischen Logik der Kapitalakkumulation ansiedelt. Arbeit wird in der Subsistenzwirtschaft nicht in Form von monetärer Entlohnung gemessen, sondern einem differenten Bewertungssystem unterzogen. Anerkennung erfolgt über den Grad der Verantwor-

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tung, der für die Fürsorgearbeit in Bezug auf Tiere, Land und Familien/Freund*innen übernommen wird. Dem Protagonisten der Geschichte obliegt hier die anteilige Pf licht, über körperliche Arbeit die Subsistenz der Gemeinschaft sicherzustellen. Das wechselseitige Verständnis von Nehmen und Geben wird in zweierlei Momenten erkenntlich: 1. Die Großmutter bereitet im Glauben, dass der Junge auf dem Feld die Arbeit verrichtet, sein Mittagessen vor. 2. Eine Frau bringt der Großmutter frisch geerntete Kartoffeln vorbei, als Dank soll der Junge der Frau dabei helfen, die restlichen Kartoffeln auf dem Feld zu ernten. Reziprozität und Gemeinschaftssinn sind in diesen beiden Handlungen zentral. Auch fügt sich die landwirtschaftliche Arbeit in ein gemeinschaftliches Gesamtgefüge ein, in dem die Großmutter sich an den Arbeiten, die die Männer auf den Feldern bereits verrichtet haben, orientiert.

Spiel Der Junge geht keiner der ihm aufgetragenen Arbeiten nach und spielt stattdessen mit Steinen oder hält ein Nickerchen. Auf Nachfragen seiner Großmutter, ob er die Arbeit erledigt hat, beteuert er, die Arbeit verrichtet zu haben. In unserem Verstehens- und Interpretationshorizont wird das Spiel des Kindes in der Geschichte abgewertet. Die Entführung des Jungen durch den Kondor am Ende der Geschichte bringt dies als entscheidendes Bestrafungselement zum Ausdruck. Der Junge verhält sich in der Geschichte widerständig zu der ihm aufgetragenen Arbeit. Er nimmt sich durch das Spiel Raum für Individualität und Selbstbestimmung und durchbricht damit das aus einer erwachsenen Perspektive formulierte reziproke Verständnis, das eine wesentliche Säule in der Aufrechterhaltung der andinen Subsistenz darstellt. Vernachlässigt wird hierbei, dass der Junge durch das Spiel in eine differente reziproke Beziehung mit dem Land tritt, die einer Logik von freudvoller Fantasie folgt. Durch die spielerische Auseinandersetzung und auch durch den Schlaf werden spezifische emotionale und affektive Beziehungen jenseits von Nutzen, Arbeit und Ernährungssouveränität aufgebaut, die in der Geschichte jedoch keine Anerkennung erfahren und dennoch eine Beziehungsebene mit dem Land ermöglichen. Eine dialogische Aushandlung zwischen der Großmutter und dem Jungen sowie zwischen den unterschiedlichen Interessen findet nicht statt. In dieser Geschichte muss jedoch mitbedacht werden, dass die Erzählung in einem gesellschaftlichen Zwangssystem angesiedelt ist, in dem die freie Wahl, nicht arbeiten zu wollen, durch ein repressives Gewaltsystem, ausgeübt durch die Hand der Großgrundbesitzer*innen, negiert wird.

Kindheits- und Naturbild Über die Geschichte wird ein Kindheitsbild imaginiert, das den Zuspruch der Erwachsenen erfährt, wenn Kinder über Arbeit und Verantwortlichkeit dieses Bild bedienen. Binden wir die Geschichte in andine gesellschaftliche Verhältnisse ein, wird ersichtlich, dass die Kinder täglich einen multiepistemischen Spagat praktizieren müssen. Die Kinder bewegen sich zwischen einer mestizischen, individualisierten und auf persönlichem und monetärem Erfolg basierenden Idee von Gesellschaft und einer kol-

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lektiv und reziprok organisierten indigenen Gemeinschaft. Allerding wäre dies eine vereinfachende polarisierende Darstellung. Die Realität gestaltet sich hier jedoch eher hybrid: Die Arbeit der Kinder innerhalb der Subsistenzwirtschaft der Familien liegt bis heute oftmals im Widerspruch zur schulisch-modernen Ausbildung der Kinder. Die Lehrer*innen haben die alltägliche Eingebundenheit der Kinder im gemeinschaftlichen Gefüge im Blick, begreifen diese aber nicht als kulturell situierte Praktik des Lernens, sondern pauschalisieren sie oftmals als Kinderarbeit. Schule wird hier vorrangig als einziger Lernort anerkannt, was höchstproblematisch ist, denn es negiert die Weitergabe von indigenem Wissen und indigenen Praktiken an außerschulischen Orten. Das Spiel mit den Steinen in den Hügeln steht somit nicht nur für die Beziehung zum Land, die hier aufgebaut wird, sondern auch für einen Ort frei von Kontrolle und Diskriminierung, an dem der Junge abseits erwachsener und gesellschaftlicher, jedoch nicht abseits von göttlicher Deutungshoheit Sein anders definieren bzw. leben kann. Auch wenn der Großmutter die List des Jungen entgeht, gibt es eine höhere Macht, deren Wissen und Blick der Junge sich nicht entziehen kann. Der Kondor als Verkörperung des Sonnengottes Inti richtet und straft. Sein gesetzlicher Rahmen, innerhalb dessen er zu seinem Urteil gelangt, bezieht sich auf die getane oder unterlassene Arbeit, nicht auf das Alter einer Person. Der Junge gilt aufgrund seines Kindseins nicht als besonders schützenswert, sondern er steht in der Verantwortung, seine Arbeit im reziproken Gefüge leisten zu müssen. Die Geschichte, so wird es in der kurzgehaltenen interpretativen Analyse ersichtlich, bietet eine Orientierung im andinen gesellschaftlichen Raum an. Dieses Angebot basiert auf dem Verständnis, dass es viele unterschiedliche Formen gibt, um Wissen zu erlangen, und dass es genauso viele Wege gibt, aus diesen Wissensformen zu lernen. So vermittelt die Geschichte Wissen über Glaubenssysteme, Praktiken, Machtbeziehungen, Werte und über Mensch-Mensch- bzw. Mensch-Natur-Beziehungen immer in Relation mit und von indigenem Land. Die hier vorgestellte Erzählung ist ein Weg, wie die andine indigene Community ihre Geschichte und das Wissen ihrer Vorfahr*innen weitergibt. Das Festhalten an einem originalen narrativen Skript ist uns während unserer Forschung nicht begegnet. Geschichten werden an die Begegnungen, Zuhörer*innen und räumlichen Kontexte stets angepasst. Denn so individuell, wie die Zuhörer*innen und Erzähler*innen sind, so individuell ist auch der Weg, sich im Raum zu bewegen und darin nach Orientierung, Sinn und Aufgaben zu suchen. Die jeweilige narrative Karte wird auf die jeweils Zuhörenden angepasst und ist somit von höchst dynamischer Art. Ein profundes Verständnis und Kultivieren von Hören als dekoloniale Praxis ist in diesen Communitys genauso grundlegend wie die Praktik des Erzählens selbst. Indigene Geschichten sind hier wertvolle Wegweiser für alle Generationen, die jedoch verlangen, sich der Position als Zuhörer*in kritisch bewusst zu sein, das eigene epistemische Verständnis zu prüfen und die daran gebundenen Grenzen zu befragen. Eine der andinen Geschichten in diesem Band wiederzugeben, ist nicht frei von eben dieser epistemischen Gewalt und problematischen (Re-)Präsentation. Durch die Weitergabe an dieser Stelle wird sie aus ihrem räumlichen und kollektiven Kontext herausgenommen. Diese Geschichte hat uns dazu angehalten, über Reziprozität und die Kraft des Spiels zwischen Kindern und Natur nachzudenken und zu identifizieren, welch widerständiges Potenzial diesem innewohnt, um die auf klärerische Vernunft aus ihren

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dunklen Vermächtnissen zu emanzipieren. Doch auch das ist eine Geschichte, die an einer anderen Stelle weiter ausgeführt wird (Singer 2019: 373). Aufgrund dieses Potenzials an holistischem Lernen und des Einverständnisses der jeweiligen Geschichtenerzähler*innen, ihre Geschichten in einen westlich-europäischen Raum zu tragen, wurde sie nun hier weitergegeben. Die Verantwortung über diese Geschichte geht damit nicht verloren, sondern teilt sich und wird immer weitergereicht.

Licht in Schattenbereichen Durch die Visualisierung der Geschichte von Victor wurde das Licht auf die Perspektive der Quechua sprechenden Kinder gerichtet, denen innerhalb der peruanischen Mehrheitsgesellschaft wenig bis kein Raum für eigene Ausdrucksweisen eröffnet wird. Durch die Erstellung der Schattenkisten konnten die partizipierenden Schüler*innen ihre eigenen kollektiven Perspektiven auf die Geschichten zu einem künstlerischen Ausdruck bringen und nochmals neu verhandeln. Bei der Kiste von Viktor legten die Kinder die Betonung auf die Darstellung des Kondors, der durch Größe und Positionierung deutlich in den Vordergrund tritt (s. Abb. 1). Zudem stellten sie die Großmutter dar, die ihrem Enkel die Hacke reicht, um die Arbeit auf dem Feld zu erledigen. Für die Kinder spielte in der visuellen Darstellung die Aushandlung rund um das Thema »Arbeit« die wichtigste Rolle, das Spiel des Jungen haben sie nicht dargestellt. Und vielleicht ist das auch die Botschaft, die die Kinder erreichte und die sie weitertragen möchten: die Betonung auf Reziprozität und die Verantwortung des Eigenen in einem großen spirituellen Gefüge. Die methodische Symbiose von Storytelling und Schattenkiste ermöglichte verschiedene dialogische Zusammentreffen und Orte der Aushandlung. Zudem trug sie dazu bei, dominante Sichtweisen über methodische Darstellungsmöglichkeiten hinaus infrage zu stellen und andere Perspektiven darauf zu eröffnen. Vor allem für Quechua sprechende Kinder, die fortwährend eine Abwertung ihres eigenen indigenen Hintergrunds und ihrer Muttersprache erfahren, ist ein solch methodisches Vorgehen von politischer Bedeutung. Es gilt nicht nur, mit diesen Perspektiven zu lernen, sondern vor allem auch von und durch diese. Mittels der Schattenkisten war es uns möglich, einen Ausstellungsraum zu eröffnen, der über das Wort, das in diesem Zusammenhang auch ein gesellschaftlich kollektives ist, hinausgeht und den Kindern einen eigenen ästhetischkünstlerischen Ausdruck erlaubt.

Reflexion »Storytelling reconnects with land-based learning since Indigenous stories are connected to the land and defined by the land.« (Datta 2018: 43) Uns haben die vielen Geschichten, die wir in Peru gehört haben, gelehrt, die eigenen epistemologischen Grenzen und unser aufgeklärtes Denken kritisch zu befragen. Zudem haben sie in uns eine Verbindung zum Land und zu den Menschen hergestellt, auf dem und über die wir forschten. Wir schätzen Storytelling als eine Form, Wissen zu vermitteln, ohne es in Stein zu meißeln oder entlang von Koordinatensystemen anzupassen. Geschichten fordern in einem andinen Verständnis nicht nur die Erzählenden, sondern auch die Zuhörenden heraus: Ihnen obliegt die Verantwortung, Sinn daraus zu generieren. Vor allem antworten indigene Geschichten kritisch auf koloniale und kapitalistische Weltverständnisse.

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In der Zusammenarbeit mit den Kindern wurden uns immer wieder die eigenen Grenzen aufgezeigt. So war zum Beispiel die Abschlusspräsentation für die Kinder kein safe space. Der schulische Kontext stellt für sie einen Bewertungs- und Regelraum dar, in dem die Lehrer*innen immer auch Leistungsansprüche an die Kinder haben. Es oblag also unserer Verantwortung, die Kinder vor repressiven Bewertungen zu schützen. Indigene Geschichten in einem solchen Raum zu erzählen, ist und bleibt problematisch. Es wäre besser gewesen, mit den Kindern unabhängig vom schulischen Kontext zu arbeiten, was wir dann auch später bei der Erstellung eines murales (Wandgemälde) taten. Zudem sind es auch immer wieder die eigenen verinnerlichten Adultismen in der Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen, durch die wir stereotype Rollenbilder, mit der »Kindheit« oftmals ausgefüllt ist, immer wieder anriefen (Althusser 1977). Vor allem bei der Erstellung und Durchführung der Schattenkisten zeigte sich dies und erforderte eine kontinuierliche Hinterfragung unserer Kindheitsbilder. Mit Geschichten zu arbeiten und Schattenkisten zu bauen, war reich an freudvollen, verlangsamenden, verbindenden und empathischen Momenten (Mountz et al. 2015) und geprägt von holistischem Lernen, Fühlen und Sein für uns als forschende Geographinnen. Der räumliche Zugang über Storytelling eröffnete uns Möglichkeiten zu Formen von Raumerzählen in anderen Rastern als die kartesianische Kartographie. Das Besondere an diesen narrativen und dynamischen Rastern ist eine Sensibilität gegenüber räumlichen und zeitlichen Kontexten, die sich zugleich auch in einer radikalen Offenheit gegenüber allem, was als sogenanntes Andere gelabelt wird, zeigt. Dies proklamiert eine Erweiterung und ein Auf brechen kartographischen Denkens jenseits westlich-moderner Verständnisse und erweitert die Orientierungsangebote von Raum maßgeblich. Dennoch ist diese Forschung Teil eines politischen und machtvollen Raumes. Dabei bleibt die Repräsentation der sogenannten indigen Anderen lückenhaft, schwierig und unvollständig. Ein Ausweg ist das Offenlegen dieses Dilemmas und der darin innewohnenden grundlegenden Problematik, der sich Forschung als einstiger und heutiger Komplize von kolonialen Machtinteressen und neoliberalen Interessen stellen muss. Zudem geht eine Form der »Wissualisierung« (Schmidt/Singer 2017: 155) mit dieser Arbeit einher, wenn Deutungs- und Interpretationshoheit nicht nur von visuellem Material für die universitäre Wissensproduktion vereinnahmt wird.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Simpson Betasamosake, Leanne (2014): »Land as pedagogy: Nishnaabeg intelligence and rebellious transformation«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 3, S. 1-25. Leanne Simpson Betasamosake ist eine renommierte Michi Saagiig Nishnaabeg Wissenschaftlerin, Schriftstellerin und Künstlerin, die in ihrer Arbeit Storytelling, Kunst, Land, indigene Souveränität und Dekolonisierung auf kritische, intersektionale und facettenreiche Weise verbindet. Styres, Sandra (Kanien’kehá:ka) (2019): »Literacies of Land: Decolonizing Narratives, Storying, and Literature«, in: Smith, Linda T./Tuck, Eve/Yang, K. Wayne (Hg.), In-

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digenous and Decolonizing Studies in Education. Mapping the Long View, New York/London: Routledge, S. 24-37. In ihrer Interpretation von Raum stellt Sandra Styres Land als einen physikalisch-materiellen Raum dar, der ohne die damit verbundenen Epistemologien, die diesem Raum unterliegen, nicht gedacht werden kann. Sie bietet damit ein komplexes und dynamisches Verständnis an, wie Raum über Storytelling jenseits kolonialer Verständnisse erfahr- und erlebbar ist: »Land is spiritual, emotional, and relational; Land is experiential, (re)membered, and storied; Land is consciousness—Land is sentient.« (Styres 2019: 27, Herv. i.O.) *** Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg: VSA. Anzaldúa, Gloria (2009): »(Un)natural bridges, (Un)safe spaces«, in: Anzaldúa, Gloria/ Keating, AnaLouise (Hg.), The Gloria Anzaldúa Reader, Durham: Duke University Press, S. 243-248. Cannella, Gaile S./Viruru, Radhika (2004): Childhood and postcolonization. Power, education, and contemporary practice, New York: Routledge. Crenshaw, Kimberly (2019): »Das Zusammenwirken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken (1989)«, in: Kelly, Natasha A. (Hg.), Schwarzer Feminismus. Münster: Unrast, S. 145-187. Datta, Ranjan (2018): »Traditional storytelling: an effective Indigenous research methodology and its implications for environmental research«, in: AlterNative: An International Journal of Indigenous Peoples 14, S. 35-44. Exo, Mechthild (2015): »Indigene Methodologie als Stachel für die Friedens- und Konf liktforschung. Über Rechenschaftspf licht und das Erlernen dekolonialisierender Praktiken«, in: Bös, Mathias/Schmitt, Lars/Zimmer, Kerstin (Hg.), Konf likte vermitteln? Lehren und Lernen in der Friedens- und Konf liktforschung, Wiesbaden: Springer VS, S. 281-304. Johnson, Jay T./Louis, Renee P./Pramono, Albertus H. (2005): »Facing the Future: Encouraging Critical Cartographic Literacies in Indigenous Communities«, in: ACME 4, S. 80-98. Kuokkanen, Rauna J. (2007): Reshaping the university. Responsibility, indigenous epistemes, and the logic of the gift, Vancouver B.C.: UBC Press. Mountz, Alison/Bonds, Anne/Mansfield, Becky/Loyd, Jenna/Hyndman, Jennifer/Walton-Roberts, Margaret/Basu, Ranu/Whitson, Risa/Hawkins, Roberta/Hamilton, Trina/Curran, Winifred (2015): »For Slow Scholarship: A Feminist Politics of Resistance through Collective Action in the Neoliberal University«, in: ACME 14, S. 12351259. Pinto Passos, Mailsa C./Ribes Pereira, Rita M. (2012): »Rassismus und Identität in Brasilien: über Begegnungen und Freundschaften in der Forschung mit afro-brasilianischen Kindern«, in: Kaltmeier, Olaf/Corona Berkin, Sarah (Hg.), Methoden dekolonialisieren. Eine Werkzeugkiste zur Demokratisierung der Sozial- und Kulturwissenschaften, Münster: Westfälisches Dampf boot, S. 170-187. Rundstrom, Robert (2009): »Counter-Mapping«, in: Kitchin, Rob/Thrift, Nigel (Hg.), International encyclopedia of human geography, Amsterdam: Elsevier, S. 314-318.

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Gegenkartieren mit Storymaps – Werkzeug einer feministischen Betrachtung von Femi(ni)ziden in Deutschland AK Feministische Geographien Frankfurt a.M.1

Abstract In diesem Beitrag wollen wir anhand einer Storymap zu Femi(ni)ziden in Deutschland zeigen, dass Storymaps als ein Werkzeug des Gegenkartierens hilfreich sind, um Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheiten sichtbar zu machen und Gegennarrative zu formulieren. Wir zeigen auf, wie Wissen über geschlechterbasierte Gewalt möglichst differenziert und wirkmächtig dargestellt werden kann, indem eine Kombination aus kartographischen Darstellungen und unterschiedlichen Medien genutzt wird.

Kartieren als kritische Praxis Unter feministischem Gegenkartieren verstehen wir feministisches, gegenhegemoniales sowie kollektives Kartieren, das darauf abzielt, strukturelle Ungleichheiten innerhalb des kapitalistischen und patriarchalen Systems sichtbar zu machen, unseren Blick auf diese zu schärfen und zu einem kollektiven Verständnis dieser Verhältnisse beizutragen. Gegenkartieren ist also einerseits ein Werkzeug zur Analyse und andererseits auch Mittel, um Kritik sichtbar zu machen und Gegenerzählungen zu schaffen. Damit stellt Gegenkartieren eine Möglichkeit dar, zu einem Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Aktivismus beizutragen. Zur Umsetzung unseres Gegenkartieren-Projekts zu Femi(ni)ziden haben wir uns für Storymaps entschieden.2 Diese sind multimediale, webbasierte Anwendungen, die es ermöglichen, Inhalte erzählend zu vermitteln (Kerski 2020a: 156) und das dargestellte Thema in eine Narration einzubetten. Im Gegensatz zu konventionellen Karten, 1 Der AK Feministische Geographien Frankfurt a.M. ist eine Gruppe von Akademiker*innen und Studierenden, welche sich mit feministischer Theorie und Praxis auseinandersetzen. Als Gruppe positionieren wir uns an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Aktivismus. Dieser Artikel ist durch die aktive Mitarbeit von Joanna Bauer, Eva Isselstein, Luise Klaus, Jan Kordes, Julia Manek und Stella Schäfer entstanden. 2 Unsere Storymap mit dem Titel »Femi(ni)zide: Patriarchale Gewalt sichtbar machen« ist unter folgendem Link zu erreichen: https://storymaps.arcgis.com/stories/d5f0ca7d7436478a8883a00993b183e2 (12.11.2021).

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deren Erzählungen impliziter und versteckter sind, verwenden Storymaps Karten bewusst als Erzählmittel (Caquard 2013: 136). Außerdem wird damit ein Rahmen gesetzt, der weitere Informationen zugänglich macht und deren Ref lexion anregt. Storymaps erlauben es so, auch komplexere Sachverhalte verständlich zu präsentieren, und verknüpfen zudem verschiedene Maßstabsebenen. Ein weiterer Vorteil ist, dass Storymaps dank der entsprechenden Applikationen auch ohne kartographisches Vorwissen gut zu erstellen sind und die Handhabung relativ einfach ist. Das Endprodukt ähnelt optisch meist einem Blog und ist so für viele eine bekannte Darstellungsart. Je nach genauer Ausgestaltung sind Storymaps damit auch für Menschen verständlich, die nicht mit klassischen Kartendarstellungen vertraut sind. Gleichzeitig ist das Medium der Storymaps für Betrachter*innen online leicht – und vor allem kostenlos – zugänglich. Storymaps entsprechen somit dem Anspruch des Gegenkartierens, Wissen zugänglich zu machen und nachvollziehbar darzustellen. Im Folgenden werden wir zunächst klären, was wir unter einem feministischen Gegenkartieren verstehen. Im zweiten Teil werden wir die Hintergründe von Storymaps beleuchten, bevor wir in einem dritten Schritt unser Beispiel einer Storymap zu Femi(ni)ziden in Hessen vorstellen. Viertens möchten wir davon ausgehend einige Tipps, Arbeitsweisen und konzeptionelle Grundlagen für zukünftige Projekte ableiten. Im letzten Abschnitt diskutieren wir schließlich die Potenziale und einige Grenzen von Storymaps für das kritische Kartieren.

Feministisches Gegenkartieren als Mittel des Sichtbarmachens und Hinterfragens Gegenkartieren nutzt Karten als Werkzeuge, um auf Herrschaftsverhältnisse und soziale Ungleichheiten aufmerksam zu machen. In der Vergangenheit wurde Gegenkartieren in einer Vielzahl von politischen Entwicklungen genutzt. Bekannte Beispiele aus den 1970er Jahren sind die Karten von William Bunge (2011), der die rassistischen und klassistischen Muster in Detroit kartierte und soziale Gerechtigkeit forderte (für weitere Beispiele siehe Dalton/Mason-Deese 2012). In den vergangenen Jahren wurde die Methode des feministischen Gegenkartierens unter anderem in Lateinamerika und Südeuropa genutzt, um auf die Morde an Frauen, Mädchen, Lesben, Trans- und Interpersonen (FMLTI3) aufmerksam zu machen (Colectivo de Geografía Crítica del Ecuador 2018). In den meisten Fällen wurden die Karten gemeinsam mit Texten veröffentlicht, die den politischen Charakter der Morde thematisieren. Dabei kommen sehr unterschiedliche Strategien des Kartierens zum Einsatz.

3 Wir nutzen im Folgenden das Akronym »FMLTI«. Damit wollen wir die gemeinsame Betroffenheit von heterosexuellen und lesbischen cis Frauen, Mädchen, trans Menschen und intersexuellen Menschen von der tödlichen patriarchalen Gewalt unterstreichen. Gleichzeitig möchten wir aber auf die Unterschiedlichkeit der Gewaltverhältnisse hinweisen, in die femi(ni)zidale Tötungen gegen Personen der jeweiligen sozialen Gruppen verortet sind: Unter anderem soziale Dynamiken, (Beziehungs-)Strukturen zwischen Tätern und der getöteten Person und insbesondere die gesellschaftliche Sichtbarmachung unterscheiden sich massiv und strukturell (Dios 2020). Oftmals werden Femi(ni)zide gegen trans Frauen und intersexuelle Menschen (a) medial unsichtbar gemacht und (b) nicht in Gesetzgebungen berücksichtigt (Morales 2016).

Gegenkartieren mit Storymaps

Wir betrachten feministisches Gegenkartieren als ein Mittel, um patriarchale Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen und kritisch zu hinterfragen. Damit einher geht eine Auseinandersetzung mit Machtstrukturen wie Kolonialismus und Rassismus, die in konventionellen Karten vielfach reproduziert werden (Campos-Delgado 2018; Bridger 2013; Mountz 2012). Auch Prozesse und Ergebnisse des Gegenkartierens sind nicht frei von Machtverhältnissen, und so ist eine ständige Ref lexion der eigenen Positionierung unerlässlich. Hier sind feministische Theorien zu Intersektionalität (Crenshaw 1991) und situiertem Wissen (Haraway 1988) hilfreiche Ansatzpunkte, um Gegenkartieren tatsächlich machtkritisch und diskriminierungsarm zu gestalten (Colectivo Miradas Críticas del Territorio desde el Feminismo 2017). Das feministische kollektive Kartieren als eine Form des Gegenkartierens zeichnet sich daneben auch durch thematische Schwerpunkte aus. Insbesondere sollen so etwa Heteronormativität, Misogynie, Homo- und Transfeindlichkeit sichtbar gemacht werden. Zentral ist dabei auch die Thematisierung sich überschneidender Diskriminierungen, die mit einer intersektionalen Perspektive in den Fokus rücken. Zudem nehmen zahlreiche Beiträge feministischen Gegenkartierens den Körper als Maßstabsebene ernst, wenn etwa in Anlehnung an das Konzept des Cuerpo Territorio4 die Auswirkungen der Gewaltverhältnisse im Körper verortet werden (Manek et al. 2019). Für uns verbinden sich mit dem feministischen Gegenkartieren ein explizit politischer Anspruch sowie der Versuch, über die Grenzen der Akademie hinauszugehen: Es ist eine Wissensproduktion für soziale Bewegungen und damit als politische Intervention zu verstehen (Dalton/Mason-Deese 2012). Hierfür nutzen wir Wissen, aber auch Werkzeuge und Infrastrukturen, die für einen wissenschaftlichen Betrieb produziert und zur Verfügung gestellt werden. Diese Wissensproduktion findet an den Übergängen von wissenschaftlichen Institutionen und aktivistischen Spektren statt und geht mit einer Veränderung der Darstellung und Auf bereitung von Zusammenhängen einher. Wir plädieren dafür, dabei streng wissenschaftliche Sprech- und Präsentationsformen zu überdenken und auf eine Narration hinzuarbeiten, welche Elemente verbindet, Zusammenhänge sichtbar macht und dabei immer für viele Menschen zugänglich bleibt.

Hintergründe zu Storymaps Die Idee, Karten für Erzählungen zu verwenden und mit anderen Medien zu kombinieren, gab es schon vor der Möglichkeit einer digitalen Umsetzung: Vorläufer sind etwa erzählerische Karten, wie sie von der National Geographic Society schon ab den 1930ern veröffentlicht wurden (Carroll 2020: 2). Ein Beispiel ist die kunstvolle Karte »Reaches of New York« (1939), die mit Bildern von berühmten Persönlichkeiten und Orten umgeben ist.5 Analoge Versionen sind also prinzipiell möglich, auch wenn sie wesentlich weniger Möglichkeiten bieten. Mit der Digitalisierung eröffneten sich neue 4 Deutsch etwa »Körperterritorium«. Wir nutzen das Konzept, um zu verstehen, wie feminisierte Körper einerseits innerhalb von patriarchalen Verhältnissen unterworfen werden und sich andererseits auch gemeinsamer Widerstand dagegen formen kann – über Empathie und Körperlichkeit (Manek et al. 2019; Marchese 2019). 5 https://www.natgeomaps.com/hm-1939-reaches-of-new-york-city (01.03.2021).

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Optionen, von denen zunächst allerdings nur technisch versierte Menschen Gebrauch machen konnten. Dies änderte sich in den 2010er Jahren mit Webapplikationen, die ein Gestalten von Storymaps ohne Programmierkenntnisse und Wissen über Geoinformationssysteme möglich machten (ebd.: 2f.). Inzwischen bezeichnet der Begriff üblicherweise digitale Produkte. In den letzten Jahren sind Storymaps zu einem beliebten Mittel visuellen Erzählens geworden und kommen in verschiedenen Bereichen zum Einsatz (Kerski 2020b: 209-212). Sie werden unter anderem von Journalist*innen der New York Times6 oder Washington Post genutzt, um Reportagen eine räumliche Dimension zu geben (WashPost PR Blog 2015). Behörden machen mit ihrer Hilfe raumplanerische Maßnahmen nachvollziehbar (Bundesamt für Energie BFE 2020). Auch in der (akademischen) Lehre spielen Storymaps immer öfter eine Rolle (Dickinson/Telford 2020). Nicht zuletzt werden Storymaps auch für partizipative Forschungen eingesetzt, um ein gemeinsames Datensammeln zu ermöglichen (wie etwa Hunter et al. 2020) oder um Forschungsergebnisse anschaulich zu präsentieren (Datta/Ahmed 2020). Storymaps kombinieren verschiedene Medien wie Karten, Bilder, Videos, Texte und Audiodateien und können, im Gegensatz zu konventionellen Karten, Informationen erzählerisch zugänglich machen und gleichzeitig differenziert darstellen. Die integrierte multimediale Darstellung erweitert die Möglichkeiten, Zusammenhänge und Verschränkungen zu verdeutlichen. Außerdem müssen Nutzer*innen keiner linearen Erzählung folgen, sondern können mit dem Medium auf verschiedene Weisen interagieren. Die dynamische Darstellung unterschiedlicher Scales ermöglicht es zudem, die Mobilität von Wissen deutlich zu machen. Oft wird der Begriff »Storymap« mit der gleichnamigen Anwendung von Esri Inc.7, einem kommerziellen US-amerikanischen Softwareunternehmen, das auf Geoinformationssysteme spezialisiert ist, gleichgesetzt. Daneben gibt es aber eine ganze Reihe weiterer Anbieter sowie Möglichkeiten, selbst Storymaps zu erstellen. So hat das Knight Lab der Northwestern University in den letzten Jahren die OpenSourceAnwendung StoryMapJS entwickelt.8 Diese kann über einen Google-Account in einem Browser verwendet, aber ebenso von User*innen selbst gehostet werden. Auch Mapbox bietet mit Interactive Storytelling ein Tool zum Erstellen von Storymaps an, setzt aber einen persönlichen webfähigen Speicherort voraus.9 Daneben können Leaf let (eine JavaScript-Bibliothek zum Erstellen von Karten) und Google Spreadsheets zu Storymaps kombiniert werden,10 was allerdings technisch anspruchsvoller ist als die bisher erwähnten Optionen. Auch auf uMap11 oder Google Maps12 können eigene Layer und Informationen hinzugefügt werden, was bereits an eine Storymap herankommt, dabei aber im Vergleich weniger Optionen bietet und stark fokussiert auf die Karten bleibt. An den letzten Beispielen wird auch deutlich, dass Storymaps und konventio6 Zum Beispiel eine Storymap zu den US-Wahlen (2020): https://www.nytimes.com/interactive/2021/ upshot/2020-election-map.html (01.03.2021). 7 https://storymaps.arcgis.com (01.03.2021). Hinweise zur Gestaltung finden sich u.a. bei Kerski (2020b). 8 https://storymap.knightlab.com (01.03.2021). 9 https://www.mapbox.com/solutions/interactive-storytelling (01.03.2021). 10 https://handsondataviz.org/leaflet-storymaps-with-google-sheets.html (01.03.2021). 11 https://umap.openstreetmap.de (01.03.2021). 12 https://www.google.de/maps (01.03.2021).

Gegenkartieren mit Storymaps

nelle Karten nicht immer klar voneinander zu trennen sind und gerade mit digitalen Möglichkeiten die Grenzen zunehmend verschwimmen (Caquard 2013: 140). All diese Varianten haben Vor- und Nachteile, die bei der Auswahl berücksichtigt werden müssen. Insbesondere gehören dazu auch Anforderungen an den Datenschutz, die sich im jeweiligen Projekt stellen. Die Datenschutzregelungen können wir im Rahmen dieses Beitrags nicht im Einzelnen darstellen, weisen aber darauf hin, dass es aus unserer Sicht immer problematisch ist, wenn private Unternehmen große Mengen an Daten besitzen. In unserem Projekt haben wir uns dafür entschieden, die sogenannte ArcGISStorymap-Anwendung von Esri Inc. zu verwenden, da diese recht einfach zu bedienen ist und die Software einigen von uns bereits vertraut war. Gleichzeitig sehen wir die Monopolstellung von Esri Inc. kritisch, die es dem Unternehmen erlaubt, Maßstäbe für Geoinformationssysteme zu setzen und so auch Forschung und Lehre stark zu dominieren. Dabei werden positivistische Grundannahmen bestärkt und wenig Raum für kritische Ansätze gelassen – auch wenn hier ArcGIS Storymaps wesentlich besser abschneiden als andere Esri-Produkte. Die hohen Lizenzgebühren verunmöglichen es vielen, Zugang zur Software zu bekommen, die aber den Standard auf diesem Gebiet darstellt – demokratische, sozial gerechte und zugängliche Produkte liefert Esri Inc. damit zweifelsohne nicht (Gieseking 2018: 56).

Eine Storymap zu Femi(ni)ziden in Deutschland Unser feministisches Gegenkartierungsprojekt, welches im Frühjahr 2019 mit den ersten Überlegungen begann, befasst sich mit alternativen Formen der Datenerhebung, Aufarbeitung und Sichtbarmachung von Femi(ni)ziden in Deutschland. Femi(ni)zide definieren wir als Morde an FMLTI zur Absicherung oder Wiederherstellung patriarchaler Machtverhältnisse (Manek et al. 2019). Feministische Bewegungen, insbesondere in Lateinamerika, beziehen sich seit Längerem auf den Begriff des Feminizids13 und haben ihn unter dem Aufruf »ni una menos« (spanisch für »nicht eine weniger«) zum expliziten Fokus ihrer Kämpfe gemacht. Inzwischen greifen auch feministische Bewegungen in Deutschland das Thema vermehrt auf, wodurch die mediale Aufmerksamkeit steigt. Dennoch werden Femi(ni)zide als extremer Ausdruck geschlechtsbasierter Gewalt gegenwärtig immer noch unsichtbar gemacht, etwa indem sie als »Familiendramen« bezeichnet werden. Darüber hinaus wird die Wahrnehmung von Femi(ni)ziden rassistisch verzerrt, indem überproportional häufig die Täterschaft migrantischer Männer thematisiert und femi(ni)zidale Gewalt entweder in den Globalen Süden oder aber in migrantische Nachbarschaften verschoben wird (Wischnewski 2018). Dabei gibt es Femi(ni)zide auch in Deutschland, und die Täter sind oft weiße Deutsche. Es fehlt aber weitgehend an belastbaren und aussagekräftigen Daten. Zudem ist das Wissen um Femi(ni)zide, das vor allem in Lateinamerika entstand, wenig präsent. Auf bauend auf den von uns gesammelten Daten (s.u.) wollen wir an die Diskussionen in Lateinamerika anknüpfen und sie für den deutschen Kontext weiterführen. Dabei wollen wir die hiesigen Gewaltverhältnisse sichtbar machen, indem wir ihre Aus13 In Anlehnung an Pinelo (2018) nutzen wir eine Kombination aus Femizid (Radford/Russell 1992) und Feminizid (Lagarde 2006), um beiden Rechnung zu tragen und zu verhindern, dass die Diskussion um die Begrifflichkeit zu großen Raum einnimmt.

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wirkungen benennen und gleichzeitig Möglichkeiten zu ihrer Abschaffung aufzeigen. Wenn wir uns Femi(ni)ziden in Deutschland zuwenden, gilt es die Auswirkungen der Gewaltverhältnisse, sprich konkrete Fälle, in Beziehung zu setzen mit den materiellen Bedingungen und gesellschaftlichen Diskursen, ohne die sie nicht denkbar wären. Wir verbinden Scales der politischen Regulierung, wie beispielsweise internationale Resolutionen, nationale Gesetzgebungen oder lokale Praktiken, mit von Gewalt gezeichneten Körpern, um die Komplexität gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse sichtund verstehbar zu machen. Damit eröffnen wir einen möglichen Zugang zu der so dringend benötigten Diskussion um Femi(ni)zide in Deutschland. Um die Geschichte dieser multiskalaren Verf lechtungen und Verbindungen zugänglich zu erzählen, setzen wir, wie bereits erläutert, auf das Instrument der Storymap. Damit schließen wir an zahlreiche andere Karten an, die im Zuge der jüngeren Auseinandersetzung mit Femi(ni)ziden zu verschiedenen Regionen und Nationen hergestellt wurden. Diese Karten sollen anhand einer quantifizierbaren und georeferenzierten Informationsgrundlage die Gewalt gegen FMLTI sichtbar machen. Die Methode wurde von Feminist*innen in Mexiko14 entwickelt und verbreitete sich durch politischen Aktivismus zunächst in Lateinamerika und kam über Spanien15 und Italien nach Europa.

Datengrundlage der Storymap Ausgangspunkt unserer Recherche war die Auseinandersetzung mit der polizeilichen Kriminalstatistik und den zahlreichen Blindstellen bezüglich Femi(ni)ziden in Deutschland (Wischnewski 2018: 129), die nicht zufällig entstehen, sondern als Teil einer Politik des Zählens und Nichtzählens verstanden werden müssen (Marquardt 2016). In der Statistik werden Täter-Opfer-Beziehungen ausgewiesen, allerdings lässt sich aus diesen Daten nicht rekonstruieren, wie viele Femi(ni)zide es auch außerhalb intimer Beziehungen gab und in welchem Kontext sie geschehen sind. Gleichzeitig gehen Fälle verloren oder werden beispielsweise nicht als Tötungsversuche erfasst, wie aus Beratungsstellen für Gewaltbetroffene berichtet wird (Schröttle/Meshkova 2018). In der Statistik werden zudem bestehende, binäre Geschlechterverhältnisse reproduziert und spezifische Gewalt an trans Personen unsichtbar gemacht (Lüter/Riese/Sülzle 2020: 35ff.). Des Weiteren bilden Kriminalitätskartierungen auf Basis quantitativer polizeilicher Daten falsche Abstraktionen ab, indem gesellschaftliche Verhältnisse verräumlicht werden, ohne die zugrunde liegenden sozialen Prozesse zu hinterfragen. Diese (polizeilichen) Kriminalitätskartierungen dienen dem Zweck einer neoliberalen Polizeipraxis der technisch orientierten, präventiven Risikokalkulation, die fortan nicht mehr nach Ursachen fragt (Belina/Germes 2016; Belina 2009). Aufgrund dieser Kritikpunkte an bestehenden Statistiken entschieden wir uns für den alternativen Weg einer qualitativen Medienrecherche. Aus Kapazitätsgründen beschränkten wir uns auf Fälle in Hessen im Jahr 2018, die wir über Factiva recherchierten. Factiva ist eine Datenbank für Presseinformationen, die auch zur wissenschaftlichen Recherche verwendet wird. Für die einzelnen Fälle wurden anschließend weitere Artikel und Hintergrundinformationen zusammengetragen, sodass die Fälle schließlich codiert werden konn14 https://mapafeminicidios.blogspot.com/p/inicio.html (01.03.2021). 15 https://informes.feminicidio.net (01.03.2021).

Gegenkartieren mit Storymaps

ten. Diese Daten, gemeinsam mit bestehender Literatur und Wissen aus aktivistischen und künstlerischen Kontexten, bilden die Grundlage für das mehrere Ebenen verbindende Projekt einer Storymap zu Femi(ni)ziden (siehe Abb. 1). Dabei verstehen wir diese Storymap nicht als bloße »Karte« oder »Informationswebseite«, sondern als Teil unserer politischen Arbeit und unseres Aktivismus gegen patriarchale Gewalt. Abbildung 1: Auf bau der Storymap

Quelle: Eigene Darstellung , Arbeitsversion Juni 2021

Tipps zum Erstellen einer Storymap Im Folgenden wollen wir einige konkrete Hinweise zum Erstellen von Storymaps geben, die sich aus unseren Erfahrungen speisen. Oben haben wir bereits erläutert, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, analog wie digital verschiedene Medien und Karten zu kombinieren. Bei allen Varianten steht am Beginn aber die Auseinandersetzung mit einigen konzeptionellen Entscheidungen, die wir hier kurz skizzieren. Zur Veranschaulichung gehen wir dabei jeweils auch auf unser oben vorgestelltes Projekt ein.

1. Die inhaltliche Ausrichtung festlegen Zunächst sollte der kommunizierte Inhalt bzw. der Sachgegenstand bestimmt werden. Ideal ist es dafür, in wenigen Sätzen zusammenzufassen, welche Aussage bzw. welche Kritik formuliert werden soll. Anhand dieser Ausrichtung kann die Gliederung im Vorhinein verfasst werden.

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In unserem Fallbeispiel entschieden wir uns bewusst dafür, uns an eine breite und nichtakademische Öffentlichkeit zu wenden, um auf Femi(ni)zide auch als deutsches Problem aufmerksam zu machen und auf die komplexen, dahinterliegenden Strukturen zu verweisen. Deswegen war es unser Anspruch, möglichst genau zu erklären, welche Formen der Gewalt gegen FMLTI es gibt. Gleichzeitig wollten wir alternative Daten zu denen aus der oben kritisierten polizeilichen Kriminalstatistik nutzen und das Problem zudem in einen internationalen Kontext stellen. Das Sichtbarmachen von Femi(ni)ziden innerhalb patriarchaler Machtverhältnisse und der Kampf gegen sie sind globale Themen; insbesondere feministische Bewegungen in Lateinamerika haben anhaltend dafür gekämpft, dass die tödliche Realität für FMLTI überhaupt thematisierbar wurde. Besonders in den letzten Jahren haben sich in vielen lateinamerikanischen Ländern Widerstände und Kämpfe gegen die Gewalt an FMLTI formiert. Uns war es wichtig, diese Aspekte ebenfalls zu transportieren – »wir« lernen von den »dortigen« dekolonial-feministischen Kämpfen. Vor dem Hintergrund dekolonialer Kritik an Herrschaftsverhältnissen und deren Reproduktion – auch durch feministische und geographische Interventionen (Carvajal/Venegas/Velasco 2018; Giraldo 2016) – müssen wir uns dabei fragen, wie wir als in Mitteleuropa situierte Gruppe auf dieses erarbeitete und erkämpfte Wissen auf bauen können (Manek et al. 2019).

2. Die Veröffentlichung und Adressat*innen klären Anschließend muss entschieden werden, wie die Storymap veröffentlicht werden soll. Die Frage danach, an wen sich die Karte richtet, ist wichtig für die Wahl des Tools, der Veröffentlichungsform sowie der konkreten Ausgestaltung und sollte daher schon zu Beginn geklärt werden (Kerski 2020a: 167-170). Wird sie an einen Aufsatz angehängt oder auf einer Homepage einer Institution bzw. Organisation veröffentlicht? Je nach Medium muss überlegt werden, welche Kontextinformationen im Rahmen der Veröffentlichung ergänzt werden sollten. Wir haben uns entschieden, die angebotene Veröffentlichungsmöglichkeit von Esri Inc. zu verwenden und diese über verschiedene Kanäle, insbesondere unsere eigenen Internetauftritte, zu verbreiten. Storymaps lassen sich aber auch direkt in eigene Webauftritte, in Blogs oder an anderen Stellen einbinden und im jeweiligen Kontext rezipieren. Als Leser*innen unserer Storymap stellten wir uns Menschen vor, die sich bisher nicht ausführlich mit dem Thema befasst haben. Daher ist die Storymap explizit so konzipiert, dass sich auch nichtakademische oder -politische Leser*innen einen einfachen Überblick verschaffen können. Zugleich war es uns ein wichtiges Anliegen, die Komplexität des Themas darzustellen. Daher haben wir verschiedene Themenbereiche anhand kurzer erklärender Textabschnitte und vieler graphischer Darstellungen präsentiert. Zur Vertiefung sind an entsprechenden Stellen Publikationen der feministischen Bewegungen und Wissenschaften sowie Links zu weiteren Informationen hinterlegt.

3. Die Materialien aussuchen Ist der Rahmen gestaltet, kann geklärt werden, welche Karten genutzt werden sollen. Zur Auswahl stehen zum Beispiel topographische Karten, Satellitenbilder, Detailkarten, Übersichtskarten oder unkonventionelle Karten. Hierbei sollte kritisch bedacht

Gegenkartieren mit Storymaps

werden, wie beispielweise koloniale räumliche Darstellungen überwunden und welche Inhalte durch kartographische Darstellungen hinterfragt werden können. Zudem muss überlegt werden, welche medialen Inhalte wie Texte, Fotos, Abbildungen, Bilder, Animationen, Graphiken, Diagramme, Tabellen oder Videos notwendig sind, um die Geschichte zu erzählen. Welche Medien können genutzt werden? Sind die Eigentumsrechte geklärt? Da wir keine Datengrundlage vorfinden konnten, die ein Erfassen der Gesamtlage von tödlicher Gewalt gegen FMLTI ermöglicht, entschieden wir uns, selbst zu recherchieren und eine Karte in GIS zu erstellen. Die Storymap ermöglicht außerdem das Einbinden von im Netz verfügbaren Medien, Texten und weiteren Materialien. So lassen sich leicht Bezüge zu den Arbeiten und Kämpfen anderer Gruppen herstellen und die Verbindungen und Gemeinsamkeiten in den Auseinandersetzungen um Femi(ni)zide und patriarchale Gewalt betonen.

4. Redundanz vermeiden Wiederholungen von Informationen (anhand verschiedener Medien oder Darstellungsformen) sollten vermieden werden – außer sie bilden unterschiedliche Perspektiven und Diskurse um ein Themengebiet ab. Im Rahmen der Storymap sollen die zentralen Informationen prägnant dargestellt werden. Wird jedoch die Komplexität eines Sachverhalts geschildert, muss abgewogen werden, ob es sich lohnt, mehrere Medien hinzuziehen.

5. Gliederung prüfen Zuletzt sollte die Gliederung ein weiteres Mal geprüft werden. Die Storymap kann linear verfolgt werden oder die Nutzer*innen können zwischen den einzelnen Abschnitten frei wechseln. Welche Form der Narration die Informationen am besten wiedergibt, sollte vor Beginn geklärt sein.

Ausblick auf kartographische Geschichtenerzählungen Karten begleiten unseren Alltag und helfen uns, die Welt zu verstehen. Doch worin liegen die tatsächlichen Vorteile von kartographischen Darstellungen und was sind mögliche Tücken? Wieso haben wir Storymaps als eine feministische, kollektive Erzählweise gewählt? Storymaps sind unserer Auffassung nach ein geeignetes Werkzeug, um einer nicht ausschließlich akademischen Leser*innenschaft vielschichtige Informationen zugänglich zu machen. Die Daten können in eine multimedial erzählte Narration eingebettet werden. Gerade für das Gegenkartieren bieten Storymaps damit viele Möglichkeiten. Gleichzeitig wurden wir im Verlauf unseres Projektes mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, die auch durch die Verwendung von Storymaps nicht einfach aufgehoben werden konnten. Zum einen gestalteten sich die Auswahl und das Sammeln der Daten als komplex: Die polizeiliche Kriminalstatistik bietet Anhaltspunkte, hat aber auch Leerstellen, in der Presse wird nicht über alle Fälle berichtet. Mittels einer Storymap lassen sich solche Probleme nicht lösen, jedoch aber

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transparent machen. Zudem haben wir uns kritisch mit der Frage auseinandergesetzt, welchen Nutzen eine Verortung von Wissen bringt. Für uns hieß das speziell: Was erfahren wir Neues über Femi(ni)zide, wenn wir sie lokalisieren? Was für Gefahren gehen mit der Verortung von Femi(ni)ziden einher? Verstärken wir eventuell rassistische oder klassistische Diskurse über konkrete Sozialräume und wie könnten wir das verhindern? Kann eine Verortung auf einer Karte in diesem Kontext nützlich sein, da es doch immer auch darum geht, darauf aufmerksam zu machen, welch ein gewaltvoller Ort das Zuhause für viele ist? Wäre die Betrachtung der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit nicht die eigentlich wichtige räumliche Komponente? Storymaps bieten die Möglichkeit, das in der Karte vermittelte Wissen zusätzlich einzubetten und so zum Beispiel rassistischen Vereinnahmungen vorzubeugen. Dabei bleibt die Herausforderung, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen und dennoch nicht zu sehr zu vereinfachen. Storymaps ermöglichen uns, das Medium der Karte ebenso wie das Konzept des Femi(ni)zids zu übernehmen. Gleichzeitig nehmen wir dekoloniale Perspektiven ernst und möchten ihre Kritik an (post-)kolonialer Aneignung in unsere Arbeit einbinden. So können wir unsere Ref lexionsprozesse deutlich machen, auf politische Dimensionen in verschiedenen Ebenen eingehen und aufzeigen, dass wir auf vorangegangenen Arbeiten und Kämpfen vor allem im Globalen Süden auf bauen. Damit erkennen wir diese als Grundlage für unsere Arbeit an und machen sie sichtbar – anstatt sie zu negieren, wie es in der globalen Wissensproduktion so oft der Fall ist (Connell 2014). Inwieweit diese Vermittlung dann auch tatsächlich ein weites Publikum erreicht, hängt nicht zuletzt von deren Verständlichkeit ab; ebenso sind aber viele weitere Faktoren relevant, die sich nur teilweise beeinf lussen lassen. Dass wir mit digitalen Storymaps Menschen ohne Internetzugang nicht erreichen und mit einem kleinen Arbeitskreis nur eine geringe Reichweite haben – all das sind Einschränkungen, denen wir uns bewusst sind. Insgesamt betrachten wir Storymaps als ein gutes Werkzeug für feministisches kollektives Kartieren. Durch die Verwendung erübrigen sich aber selbstverständlich nicht die Ref lexion und das kritische Hinterfragen des eigenen Vorgehens. Auch eine Storymap ist eine mächtige Form der Wissensproduktion und -vermittlung und muss mit Bedacht verwendet werden: Welche Geschichten wir wie erzählen, macht einen Unterschied.

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Gegenkartieren mit Storymaps

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Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadtforschung Monika Streule, Kathrin Wildner

Abstract Während in der heutigen Stadtforschung ausführlich über das Karten-Machen geschrieben wird, spielt das Karten-Lesen bei der kritischen Analyse kaum eine Rolle. Das Karten-Lesen selbst – gerade in einer Gruppe – ist jedoch ein zentraler Schritt im Prozess der (kollektiven) raumbezogenen Wissensproduktion. Am Beispiel des Workshops »Poner las cartas sobre la mesa« (dt. »Die Karten auf den Tisch legen«) in Mexiko-Stadt möchten wir diesen methodischen Ansatz im Umgang mit Karten diskutieren und weiter einsetzbar machen.

Einleitung Kartieren ist ein allgegenwärtiges Instrument der interdisziplinären und kritischen Stadtforschung, das nicht nur in der Architektur, den Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern auch im Rahmen von künstlerischen und/oder aktivistischen Forschungsprojekten auf Interesse stößt. Aus zahlreichen Publikationen über Möglichkeiten und Grenzen des Kartierens geht hervor, dass der Prozess des Karten-Machens nicht neutral ist (u.a. Wood 1992; Crampton 2001). Dies gilt sowohl für die etablierte georeferenzierte Kartographie als auch für das qualitative Kartieren (vgl. Sletto 2009). Karten sind wirkungsmächtige Instrumente. Sie lenken unseren Blick auf bestimmte Fragen und bringen ausgewählte Phänomene zum Vorschein, während andere verborgen bleiben. Karten beinhalten immer eine Auswahl und Hierarchisierung bestimmter Datensätze und Erzählungen. Die Reflexion dieser den Karten inhärenten Eigenschaften eröffnet allerdings auch Möglichkeiten, einen Beitrag zu einem Gegenentwurf zur hegemonialen Stadt zu erarbeiten, wie zahlreiche Countermapping-Projekte anschaulich belegen (vgl. kollektiv orangotango+ 2018). Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung post- und dekolonialer Ansätze im Bereich der Stadtforschung befasst sich dieser Beitrag mit methodischen Konsequenzen, die dieses kritische Engagement mit sich bringt (Smith 1999; Schramm 2005; Kaltmeier/Corona Berkin 2012; Robinson 2016; Streule 2017; Daigle/Ramírez 2019). Wir verlagern den Fokus weg von partizipativen Verfahren kritischen Kartierens hin zum gemeinsamen Karten-Lesen als eine Methode, um situiertes räumliches Wissen zur Stadt herzustellen und über kollektive und experimentelle Wege der kartographischen Wissensproduktion in der Stadtforschung nachzudenken. Die hier vorgestellte Methode ermöglicht einen inklusiven Diskussionsraum, um verschiedene

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Formen von Wissen auszutauschen: Beim gemeinsamen Lesen und Diskutieren bestehender Karten hinterfragen wir unseren eigenen Blick, generieren Erzählungen und erzeugen (kollektives) Wissen. Wir schlagen demnach vor, sowohl das Produkt »Karte« als auch Prozesse des Kartierens nicht nur als Werkzeuge zu fassen, um Urbanisierung zu verstehen und darzustellen, sondern auch als einen konzeptuellen Raum, um Methoden der Stadtforschung in einer post- und dekolonialen Perspektive zu überdenken und zusammen weiterzuentwickeln. Dieser Beitrag liefert demzufolge weniger eine fertige Anleitung des Verfahrens, sondern stellt Ansätze der Methode des Karten-Lesens vor. Dazu beziehen wir uns auf das Beispiel des Workshops »Poner las cartas sobre la mesa«, den wir im Januar 2019 in Mexiko-Stadt durchgeführt haben. Im Zentrum des Workshops stand das Nachdenken über die Wissensproduktion durch gemeinsames Karten-Lesen. Insbesondere interessierte uns dabei, die Position als Expert*in bzw. Wissenschaftler*in, Aktivist*in und Bewohner*in zu verschieben und in einen dialogischen Prozess der Aushandlung von Interessen und Rollen einzutreten. Es zeigt sich: Eine kritische Ref lexion der eigenen Situiertheit und struktureller Machtverhältnisse ist sowohl in der Wissensproduktion als auch in der sozialen Praxis des Workshops unerlässlich. Anhand der gemeinsamen Lektüre aktueller Kartierungsprojekte entwickeln wir in dieser Mischung aus Forschung, Lehr- und Lernformat neue Fragen zur Methode des kritischen Kartierens, die über das vorgestellte Projekt hinaus für urbane Kartierungsverfahren eingesetzt werden können.

Gemeinsam Karten lesen Seit den späten 1980er Jahren werden Karten als Machtinstrumente verstanden, die kritische Forscher*innen ähnlich wie einen Text dekonstruieren können, um innewohnende, aber oft unausgesprochene Interessen, Machtstrukturen und Hierarchien offenzulegen (u.a. Harley 1989; Pickles 1991; Glasze 2009; Wildner/Tamayo 2004). Diese Kritik an der historisch verankerten hegemonialen Repräsentation der Karte und der imperialistischen Methode des Kartierens legt nahe, das Kartieren grundsätzlich abzulehnen und andere Formate zu finden (u.a. Goeman 2013). Andererseits schlagen Forscher*innen – wissend um die Kritik und damit um die Widersprüchlichkeit des Werkzeugs – einen aktiven Umgang mit den Prozessen des Kartierens vor, der vor allem im partizipativen Kartieren als Praxis einer Kritischen Kartographie auch im deutschsprachigen Raum zunehmend auf Interesse stößt (u.a. Kitchin 2002; Crampton/Krygier 2005; Mogel/Bhagat 2007; Bittner/Michel 2018). Wobei auch – und gerade – in diesen Projekten die Ambivalenz der Karte einer ständigen Ref lexion bedarf, denn Countermappings sind ebenfalls mit Intention besetzte Karten. Das Karten-Lesen, gefasst als Textrezeption ein zentraler Schritt der Wissensproduktion, wie aus der Linguistik längst bekannt, wird bislang in der Kritischen Kartographie kaum berücksichtigt.1 Gerade hier verorten wir jedoch eine mögliche Methode, um eine dezentrierte Form der Wissensproduktion in der Praxis umzusetzen. Mit dieser Methode knüpfen wir an zentrale Perspektiven und Debatten in der Stadtforschung an: die feministische, post- und dekoloniale Stadtforschung, die dialogische

1  Eine der wenigen Ausnahmen ist Eileen Reeves’ Text »Reading Maps« von 1993.

Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadtforschung

und kollektive Wissensproduktion einer kritischen Pädagogik und das Verstehen von Urbanisierung als gesellschaftlichen Prozess.

Feministische, post- und dekoloniale Stadtforschung Die aktuelle und theoretisch fundierte Dringlichkeit, Wissenschaft und Wissensproduktion weiter zu dezentrieren, ist vielen bewusst – doch oft bleibt die Frage: Wie kann das in die Praxis umgesetzt werden (Husseini de Araújo/Kersting 2012; Schuster 2016)? Feministische und post- sowie dekoloniale Ansätze zeigen kollektive und dialogische Methoden als einen möglichen Weg auf für neue Formen der Forschung und politischer Praxis (Rivera Cusicanqui 2012; Caretta/Riaño 2016; Zwischenraum Kollektiv 2017). Zentral dabei ist das Schaffen von Räumen, in denen Begegnungen möglich sind, denn dadurch entstehen Schnittstellen zwischen verschiedenen raumbezogenen Wissensbeständen (Askins/Pain 2011). Im Zuge einer feministischen Wissenschaftskritik seit den 1980ern wird dabei die Autorität der »Forschenden«, Fachexpert*innen und Wissenschaftler*innen, gegenüber »Beforschten« infrage gestellt. Stattdessen schlägt in diesem Zusammenhang gerade die Feminist Participatory Action Research vor, Forschungsfragen, Inhalte und Ziele gemeinsam festzulegen (Schurr/Segebart 2012; Oldfield 2014; Caretta/Riaño 2016). Damit einher geht das Auf brechen von Hierarchien sowie die Abgabe von Kontrolle und Definitionsmacht. Konkret bedeutete dies in der Anwendung der Methode in unserem Workshop, dass die jeweiligen Autor*innen ihre Karte im Vorfeld nicht erklärten oder über sie sprachen, sondern die Karten »allein sprechen« mussten und somit lediglich auf ihre Graphik und Legende zurückgeworfen waren. Die Karte liegt auf dem Tisch, und so wird das Zuhören zu einer zentralen Praxis in diesem Verfahren, bestimmt dadurch, was andere in der Karte lesen und wie sie ihr Wissen darin verorten oder nicht finden. Dies bedingt eine Offenheit der Kartenautor*innen und eine Bereitschaft, Kritik auszuhalten, ohne sofort erklärende Ergänzungen anzubringen, die die Karte vielleicht verständlicher machen würden. Durch diese dezentrierte Wissensproduktion erarbeitet die Gruppe nicht nur ein ausführliches Feedback zur gelesenen Karte selbst, sondern beginnt zugleich, gemeinsam über die Methode des Karten-Lesens sowie die Positionalität aller Workshop-Teilnehmenden nachzudenken. Dieser Moment des Verfahrens kann wissenschaftliche Ref lexivität als gemeinschaftlichen Prozess erlebund erfahrbar machen und eine soziale Praxis ermöglichen, die weit über ein konventionelles Zugeständnis hinausgeht (vgl. Pillow 2003).

Dialogische und kollektive Wissensproduktion einer kritischen Pädagogik Karten-Lesen ist nicht nur ein Mittel, um zusammen mit diversen Gruppen von Beteiligten über (alltägliche) Raumnutzung, (individuelle) Raumwahrnehmung und (kollektive) Bedürfnisse ins Gespräch zu kommen, sondern wird zur Methode kollektiver Wissensproduktion (Montoya Arango/García Sánchez/Ospina Mesa 2014). Ein Rückgriff auf Ideen der kritischen Pädagogik 2 (Freire 1971; Freire/Macedo 1987; hooks 2010) hilft, das Lesen der Karte in der Gruppe als epistemische Praxis zu verstehen: Der ge2 Hier ist besonders die Critical Literacy zu nennen, die im Sinne des kritischen Lesens von Medien ursprünglich den Zusammenhang zwischen Alphabetisierung und Politik dahingehend analysierte, ob

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meinsame Leseprozess ermöglicht ein kritisches kollektives Nachdenken und einen dialogischen Austausch über alltägliche Erfahrungen. Dadurch werden verschiedenste Perspektiven, interdisziplinäre Expertisen und diverses Alltagswissen in die Wissensproduktion miteinbezogen (Olesen/Pedersen 2013; Streule 2014).3 Die Metapher von Stadt als Text, wenn ein*e Betrachter*in also Stadt lesen kann wie ein offenes Buch, ist weit verbreitet (vgl. Barthes 1976; Butor 1992; Döring/Thielmann 2008). Eine Lektüre der Stadt ist außerdem auch anhand von Karten möglich, wie wir es in der Methode vorschlagen. Dabei steht das dialogische In-Beziehung-Setzen von körperlichem Wissen aller Teilnehmenden mit einer räumlichen Abstraktion mittels der Karte im Zentrum (Massey 2004; Pedersen 2013; Iconoclasistas 2018). Der Workshop generierte dadurch neues räumliches Wissen, das mit anderen Methoden kaum erfasst werden kann, und unterstützte zudem die Entwicklung kollektiver Handlungsfähigkeit. Durch diesen gemeinschaftlichen Leseprozess von Stadt anhand einer Karte, im Sinne des Dekodierens oder Verstehens, entsteht nicht zuletzt eine Möglichkeit der aktiven Verortung und eine soziale Praxis, die raumbezogenes Wissen über Stadt anwendungsorientiert macht und auf sozialen Wandel zielt.

Urbanisierung als gesellschaftlicher Prozess Die Methode entwickelten wir im Feld der Stadtforschung, in dem wir beide als Wissenschaftlerinnen tätig sind. »Stadt« ist ein komplexes Gefüge, das wir als ein gesellschaftliches Produkt und Urbanisierung demnach als dynamischen Prozess verstehen (Lefebvre 1974; Massey 2005). Die Stadtkarte wird somit zur Repräsentation des urbanen Raums, die jedoch nicht ein neutrales Abbild der »wirklichen« Stadt ist, sondern vielmehr Wirklichkeit produziert (vgl. Harley 1989; Glasze 2009). Dieser Grundsatz der Kritischen Kartographie eröffnet einen Möglichkeitsraum und stellt die Frage: Wie können wir Karten einsetzen, um »Stadt« anders zu verstehen und zu gestalten? Diese Frage interessiert uns besonders auch im Hinblick auf unsere eigene mehrjährige Forschungspraxis in Mexiko-Stadt (siehe u.a. Wildner 2003, 2007; Streule 2018, 2020). Karte, das heißt Werkzeug und Praxis, nutzen wir dementsprechend als ein Analyseinstrument gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. Wildner/Tamayo 2004). Mexiko-Stadt, wie viele andere Städte auch, wird in einer Vielzahl kartographischer Abbildungen auf unterschiedlichste Weisen repräsentiert. Diese Repräsentationen sind dabei nicht nur Verweise auf wissenschaftliche Disziplinen ihrer Autor*innen sowie wissenschaftlich, künstlerisch oder aktivistisch gewählte Ausdrucksformen, sondern auch der zugedachten Funktion der Karte sowie ihrer Rolle im Rahmen der Wissensvermittlung oder -produktion zuträglich. Eine kleine Auswahl solcher Karten haben wir im Rahmen des Workshops zusammengetragen und diskutiert. bestehende ungleiche soziale Beziehungen bzw. Diskriminierungen reproduziert oder aber neue kulturelle Praktiken ermöglicht werden, die den demokratischen und emanzipatorischen Wandel fördern. 3 Vergleiche hierzu auch »metroZones – Schule des Städtischen Handelns«, die zum Ziel hatte, auf eine Politisierung städtischer Verhältnisse hinzuwirken (Wildner 2018). Die metroZones-Schule versuchte dementsprechend u.a. anhand der Vermittlung diverser Kartierungsverfahren, neben einer kritischen Wahrnehmung und dem politischen Eingreifen auch ein neues Verständnis von Stadt zu befördern: also davon, wie städtische Räume und Konfigurationen wirken und funktionieren, welche Akteure und Prozesse den urbanen Alltag prägen und wie individuelle und kollektive Handlungen zur Produktion von Stadt beitragen. Siehe https://schoolbook.metrozones.info (08.11.2021).

Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadtforschung

Das engagierte Rauschen im Raum: Workshop »Poner las cartas sobre la mesa« in Mexiko-Stadt Im Januar 2019 führten wir gemeinsam mit der Universidad Autónoma Metropolitana – Azcapotzalco (UAM-A) in Mexiko-Stadt einen Workshop zum gemeinsamen KartenLesen durch. Initiiert von uns, den Autorinnen dieses Textes, konnten wir Jesús López und Maiqo Escamilla von ATEA (s.u.) sowie Christof Göbel zusammen mit María Esther Sánchez Martínez vom Postgraduierten-Fachbereich Área de Estudios Urbanos der UAM-A gewinnen, diesen Workshop mit uns zu veranstalten. Für den Workshop luden wir vier unterschiedliche Gruppen ein, ihre Karten zu zeigen. Bei der Auswahl der Forschungsprojekte ging es uns darum, unterschiedliche Parameter der kartographischen Auseinandersetzungen mit Mexiko-Stadt zu zeigen. Vor allem die Kontexte der Gruppen als politisch aktivistische Initiative, als akademisches Forschungsprojekt oder als künstlerische Intervention war uns wichtig, wie im Folgenden kurz dargelegt: GeoComunes ist ein Kollektiv aus Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen, deren Kartographie auf die Verteidigung von Gemeingütern ausgerichtet ist. Für den Workshop wählten sie die Karte »Expansión urbana 1968-2018«, die unter anderem in Zusammenarbeit mit städtischen Organisationen wie dem Movimiento Urbano Popular entstand. Ihre kartographische Forschung bezog die Stadtentwicklungspläne, die Kartierung neuer Wohnungs-, Büro- und Einkaufszentren sowie den Mechanismus der Finanzierung durch die Fibras (Real-Estate-Investment-Trusts, REITs) mit ein, um deren Zusammenhang mit der Zunahme von Zwangsräumungen sichtbar zu machen. Eine zweite Karte bezog sich auf das Lehr- und Forschungsprojekt der Área de Estudios Urbanos der UAM-A zum urbanen politischen Raum in Mexiko-Stadt, vorgestellt von Christof Göbel, Consuelo Córdoba Flores, Juan Carlos Caballero Martínez und Wenceslao Melgarejo Ramos. Hier wurden neben anderen Forschungsmethoden Kartierungen als Werkzeug zur Analyse der Abschlusskundgebungen im Rahmen des mexikanischen Präsidentenwahlkampfs von 2018 eingesetzt. Als Beitrag für den Workshop stellten sie die Karte »Cartografía y apropiación simbólica del espacio público« zur Diskussion, eine Kartierung der Abschlusskundgebungen der drei größten Parteien auf zentralen öffentlichen Plätzen in Mexiko-Stadt. ATEA (Arte Taller Estudio Arquitectura), ein junges, in Mexiko-Stadt verortetes, aber auch international ausgerichtetes Künstler*innenkollektiv, zeigte eine Reihe von Karten zur Auseinandersetzung mit lokalen Stadtteilen, so beispielsweise eine Kartierung von Tlacoyo-Straßenverkäufer*innen im Stadtteil Santa María la Ribera. Für den Workshop wählten sie die Karte »(Re)Acción 19S« von Jesús López zu den Folgen des Erdbebens am 19. September 2017. Die Karte stellt eine Mikrokartierung der Umgebung eines stark beschädigten Gebäudes dar und markiert die materielle Situation des Zusammenbruchs sowie Regeln der Sicherheitsvorkehrungen, vor allem aber spontane Handlungen der Stadtbewohner*innen – eine Art improvisierte Pop-up-Architektur um das Gebäude herum als Reaktion auf die Katastrophe. Als vierte Karte diente schließlich die »Thesenkarte Mexiko-Stadt 2013« zu großräumigen Urbanisierungsprozessen von Mexiko-Stadt, die Monika Streule als zentrale Methode in ihrem Forschungsprojekt eingesetzt hatte. Die Thesenkarte entstand im Rahmen ihrer Dissertation und ist darüber hinaus Teil des Projekts »Planetary Urbanization in Comparative Perspective« an der ETH Zürich und am Future Cities Lab Singapur. Die Karte zeigt urbane Konfigurationen von Mexiko-Stadt, die jeweils durch

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bestimmte Urbanisierungsprozesse dominiert werden, und ist eine thesenartige Momentaufnahme urbaner Transformation. Die Karte basiert auf einer ethnographischen Untersuchung mittels Interviews und Wahrnehmungsspaziergängen und hat zum Ziel, zu einem anderen Schauen auf die soziale Produktion von Mexiko-Stadt beizutragen.

Gruppe der Teilnehmenden Die UAM-A stellte uns nicht nur ihre Räume im Zentrum der Stadt für den Workshop zur Verfügung, vor allem unterstützte sie uns in der Findung von Teilnehmer*innen. Über die Universität wurde ein Aufruf versandt, sich mit ein paar wenigen Sätzen zur Motivation für die Teilnahme am Workshop zu bewerben. Darüber hinaus konnten wir über Social-Media-Kanäle, vor allem der Gruppe ATEA, interessierte Aktivist*innen und Künstler*innen gewinnen. Unser Ziel war es, eine möglichst gemischte Gruppe an Stadtexpert*innen aus Theorie und Praxis zusammenzustellen, die sich im weitesten Sinne forschend oder intervenierend mit Stadt beschäftigen und sich auf das methodische Experiment des Karten-Lesens und dessen Ref lexion einlassen würden. Schließlich wählten wir 20 Teilnehmer*innen aus: Einige kamen aus der Geographie, Geschichte, Stadtplanung oder Kunstgeschichte sowie aus dem Industriedesign, andere aus der Soziologie, Architektur oder den bildenden Künsten. Der Großteil der Teilnehmer*innen lebte in Mexiko, einige kamen aber auch aus Argentinien, Chile, den Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich und Australien. Mehrere arbeiteten in unabhängigen Organisationen oder außerhalb eines institutionellen Rahmens, wieder andere waren in ein Masterprogramm involviert, einige waren Doktorand*innen oder Dozent*innen an Universitäten. Zusätzlich zu den Studierenden und Mitarbeitenden unterschiedlicher Universitäten, die hier zu einem gemeinsamen Workshop zusammenkamen, war auch diese Diversität der Ausbildungsgrade in Mexiko relativ unüblich und wurde dementsprechend als eine Besonderheit wahrgenommen. Diese diversen Hintergründe der Stadtexpert*innen, kombiniert mit dem jeweiligen Alltagswissen, den eigenen Erfahrungen und Geschichten, kamen im Lesen der Karten zum Tragen.

Ablauf des Workshops Zunächst stellten sich die Autor*innen der vier eingeladenen Forschungsprojekte kurz vor. Im Anschluss organisierten sich die Teilnehmenden mehr oder weniger zufällig beziehungsweise nach ihren Interessenlagen in Arbeitsgruppen rund um vier Tische, auf denen die hochskalierten ausgewählten Karten ausgelegt waren. Die Autor*innen der jeweiligen Karte saßen nicht am selben Tisch. Ein Teil der Dynamik bestand darin, dass die Gruppen mit dem Dokument der Karte konfrontiert wurden, von dem sie keine Details über seine Urheberschaft, sein Anliegen, seinen Verwendungszweck, seine Verbreitung oder seinen Entstehungsprozess wussten. Ein weiterer zentraler Aspekt war, dass die Karten nicht, wie sonst üblich, an der Wand als Präsentationsobjekt hingen, sondern auf Tischen lagen, die Beteiligten sich um sie herum bewegten und verschiedene Perspektiven eingenommen werden konnten (vgl. Abb. 1). Die Karten konnten somit verschiedene Erzählungen generieren. Zur Unterstützung der Diskussion hatten wir einen Leitfaden vorbereitet, in dem Fragen nach den verwendeten Daten, aber auch nach gestalterischen Elementen wie der Farbgebung sowie nach Hinweisen auf die Autor*innenschaft oder eine Art von Legen-

Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadtforschung

Abbildung 1: Gemeinsames Karten-Lesen. Workshop »Poner las cartas sobre la mesa«

Quelle: Monika Streule, Mexiko-Stadt, 2019

de gelistet waren. Der Leitfaden war für alle Teilnehmer*innen offen auf den Tischen ausgelegt. Zunächst ging es darum, die Karte buchstäblich zu lesen, in sie einzutauchen, ihre visuellen und inhaltlichen Elemente zu dekodieren und mit dem eigenen Wissen zu kontextualisieren. Während dieses kollektiven Prozesses wurde deutlich, dass eine Karte akribisch analysiert werden muss, um den Blick auf ihre Aussage zu schärfen. So wurden beispielsweise in der gemeinsamen Lektüre der Karte von GeoComunes, wie es María Esther Sánchez Martínez in ihrer Ref lexion zum Workshop beschreibt, aus anfänglichen Farbf lecken nach und nach vielfältige Informationen über die urbanen räumlichen Veränderungen oder die städtische Politik herausgelesen, die innerhalb von 50 Jahren umgesetzt worden war (Sánchez Martínez 2019). Jeder Tisch wurde von einer Gesprächsleitung betreut, mit der wir im Vorfeld sowohl den Leitfaden als auch das Ziel des Workshops erörterten. Diese Personen sollten nicht die Diskussion im Sinne einer Ergebnisorientierung dominieren, aber doch nachfragend Sorge tragen, dass alle Beteiligten in den Fluss des Gesprächs integriert wurden und die unterschiedlichen Expertisen und Ansätze Raum erhielten. Eine erste Lektüre sollte die Karte selbst in den Blick nehmen, wie sie gestaltet und komponiert ist, was ihre kartographischen Signaturen und Symbole beschreiben. Im Weiteren sollten gegebenenfalls fehlende Aspekte notiert oder auch eingezeichnet werden. Dazu lagen verschiedene Materialien wie Stifte und Klebezettel bereit (vgl. Abb. 2). Hierbei war es wichtig, dass die Karte auf dem Tisch nicht einfach durch zusätzliche Informationen erweitert wurde, sondern dass sie vielmehr durch Hinzufügen von Elementen deutlicher als eine (zeitliche und räumliche) Momentaufnahme, als ein Prozess gekennzeichnet wurde. Die gedruckte, geschlossene und glatte Oberf läche der Karten als scheinbar fertiges Produkt transportierte jedoch zunächst so viel Respekt, dass »Eingriffe« auf der Karte nur zögerlich passierten. Die Gesprächsleitung konnte jedoch immer wieder darauf aufmerksam machen, die Karte auch durch eigene Einschreibungen zu dekodieren,

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Monika Streule, Kathrin Wildner

Abbildung 2: Wissen kontextualisieren. Workshop »Poner las cartas sobre la mesa«

Quelle: Kathrin Wildner, Mexiko-Stadt, 2019

die gegebene hermetische Repräsentation durch das gemeinsame Lesen und die Versammlung des kollektiven Wissens zu durchbrechen oder gar zu verändern (vgl. Abb. 3). Nach der etwa dreistündigen Arbeit an den jeweiligen Tischen präsentierte jede Gruppe ihre Arbeitsprozesse und Diskussionen. Dabei ging es zunächst vor allem um eine kritische Ref lexion der generierten Erzählungen und der Inhalte der Karte wie Urbanisierungsprozesse, Bedingungen der Selbstorganisation oder politische Machtverhältnisse; die Autor*innen der Karten hatten im Anschluss die Möglichkeit einer kurzen Replik. Den Schluss des Workshops bildete eine gemeinsame Ref lexion, die über die konkreten Inhalte der einzelnen Karten hinausging und die Möglichkeiten und Grenzen der Methode des gemeinsamen Karten-Lesens umfasste. Wichtig war hier auch die Anordnung der Sprechenden im Raum: Noch mehr oder weniger verortet in den Gruppen um die jeweiligen Tische, doch als Plenum konzipiert, ergab sich eine dezentralisierte, sehr dynamische Sprechweise der einzelnen Personen, wobei sich die Sprechenden nicht etwa nur an uns Workshop-Organisator*innen – die auch verteilt im Raum saßen –, sondern an die gesamte Gruppe richteten. Die wichtigsten drei Punkte dieser Ref lexion greifen wir zum Abschluss unseres Beitrags nochmals zusammenfassend auf. Da die hier vorgestellte Methode des Karten-Lesens auf einen experimentellen Zugang baut und kein gefestigtes Verfahren ist, möchten wir an dieser Stelle sowohl das Objekt der Karte als auch die Praxis und den Prozess des Lesens in unsere Ref lexion mit einbeziehen.

Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadtforschung

Abbildung 3: Einschreibungen. Workshop »Poner las cartas sobre la mesa«

Quelle: Monika Streule, Mexiko-Stadt, 2019

Reflexion Die Karte, selbst temporär und prozesshaft, kann verkörpertes Erfahrungswissen aktivieren. Eine Karte wird so während der gemeinsamen Lektüre zum Ausgangspunkt für weitere Interpretation und Selbsteinschreibung. Zum Beispiel erzeugte jede besprochene Karte im Workshop unterschiedliche Diskussionen. Besonders die Karte zum Erdbeben von 2017 in Mexiko-Stadt der Gruppe ATEA löste unter den Teilnehmenden aus, dass alle ihre eigenen Erfahrungen während dieser Tage der Zerstörung und Selbsthilfe teilten. Die Karte zur Stadtausdehnung von 1968 bis 2018 der Gruppe GeoComunes dahingegen öffnete den Raum für Testimonios, die ungeschriebene Erinnerung an urbane Kämpfe und politische Repression in Mexiko von den 1960ern bis heute. Die Grundidee der Methode liegt darin, und das wurde auch in den Ref lexionen der Workshop-Teilnehmenden deutlich, dass die Erzählung der Karte (subjektive und kollektive) Erzählungen produziert. Damit schließt die Methode an die feministische Methode des Storytelling aus der kritischen Pädagogik an (hooks 2010; Nagar 2012), in der Alltagswissen und persönliche Erfahrungen als Ausgangspunkt der Theoriebildung verstanden werden. Dabei handeln die Teilnehmenden verschiedene Themen aus, die während des Karten-Lesens auftauchen. Diese Form kollektiver situierter räumlicher Wissensproduktion kann allerdings auch zu Reibungen führen (vgl. Caretta/Riaño 2016: 260), da die Methode des Karten-Lesens Hierarchien und Differenz zwischen den

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Teilnehmenden nicht auf löst. Widersprüche bleiben bestehen, müssen aber nicht per se konf liktiv sein, sondern können produktiv werden (vgl. Lowenhaupt Tsing 2005). Des Weiteren wurde auch die Karte selbst als visuelles Moment diskutiert. Die Karte ist ein Objekt, das nicht zuletzt durch seine Gestaltung immer auf inhärente Interessen verweist, dabei aber nicht allein aus der Analyse seiner graphischen Elemente zu dekodieren ist. Durch den Fokus der Methode auf das Karten-Lesen findet eine entscheidende Schwerpunktverschiebung von der ausschließlichen Konzentration auf die Karte, ihre Merkmale und die Rekonstruktion der Intention des*der Kartierenden beim Karten-Machen hin zu den Leser*innen und deren Rezeptionsleistungen statt. Die Vorstellung, dass einer Karte der eine Sinn bereits inhärent sei und Leser*innen diesen nur noch herauslesen müssen, gerät im Zuge dieser Fokusverschiebung ins Wanken. Vor allem das kollektive (Vor-)Wissen der Leser*innen beeinf lusst das Verstehen einer Karte, da es dazu beiträgt, in der Karte enthaltene Informationen und Thesen mit solchen des eigenen Wissens zu verknüpfen und kritisch einzuordnen. Mit der Methode des Karten-Lesens können sich Teilnehmende des Workshops also auch ein Wissen über unterschiedlichste Formen und Konsequenzen des Karten-Machens aneignen. Diese Ref lexion beschreibt eine zentrale Ambiguität, die nicht nur durch die Eigenschaft der Abstraktion der Karte selbst bedingt ist, sondern auch durch die Grenzen der Kartographie, die bloß mit beschränkten graphischen Mitteln, Kurztext und Legende auf ihren Kontext verweisen kann. Weiter müssen Kartograph*innen immer Entscheidungen treffen, sind gezwungen, bestimmte Objekte gegenüber anderen hervorzuheben und Aspekte wegzulassen, da der Platz begrenzt ist. Durch eine gemeinsame Lektüre können parallele oder sogar divergierende Lesarten des kartographischen Diskurses offengelegt und eine Vielzahl von Informationen und deren Verknüpfungen dechiffriert werden, die den Autor*innen der Karte selbst unter Umständen verborgen geblieben sind. Solche vielzähligen Möglichkeiten der Interpretation einer Karte geben Aufschluss über die (gewollten oder ungewollten) langen Schatten der gewählten kartographischen Darstellungsform. Schließlich zeigen Karten Verbindungen auf, die erst in der räumlichen Visualisierung sichtbar werden. Eine solche Verräumlichung von Wissen ermöglicht nicht zuletzt ein anderes Verstehen von Stadt und ein Nachdenken über eine andere mögliche urbane Zukunft (Awan 2017). Eine andere Ebene, gerade auch eine theoretische, öffnet sich durch das Einschreiben der eigenen Geschichte in die Karte. Bei der vorgestellten Methode wird die Karte zum Auslöser für einen Erfahrungsaustausch, für Diskussionen gemeinsamer oder auch widersprüchlicher Zuschreibungen und Narrative. Das Karten-Lesen als epistemologische Praxis verortet entstehendes Wissen und ist die Grundlage für ein mögliches situiertes kollektives Handeln. Die Methode schafft demnach die Voraussetzung für eine kollektive Wissensproduktion: Das gemeinsame Lesen von Karten zeigt nicht nur, was ist, sondern auch, was man kollektiv verändern könnte – und damit mögliche Wege in eine widerständige Praxis. Für eine WorkshopTeilnehmerin handelt es sich dabei um eine politische Frage: »Eine andere Vorstellung des Politischen, des Politischen als individuelle oder vielmehr als kollektive Erfahrung des Lesens; gemeinsam etwas diskutieren, zusammen die Stadt anders sehen, etwas Politisches schaffen … in den Diskussionen.«4 4 Eigene Übersetzung einer Rückmeldung aus der Abschlussreflexion des Workshops. Im spanischen Original: »Otra noción de lo político, lo político como experiencia individual, o mas bien, colectivo de

Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadtforschung

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Bikeability-Studien und Radwegplanung von unten – akademische und aktivistische Interventionen zur Verkehrswende Christoph Haferburg, Tobias Kraudzun

Abstract Bei der fahrradgerechten Umgestaltung urbaner Mobilität spielen zwei kartographische Ansätze eine wichtige Rolle: Bikeability-Studien sowie kritisches Kartieren von Verkehrssituationen und Stadtraum. Sie unterscheiden sich in ihrer Vorgehensweise (analytisch vs. aktivistisch), in den Datenarten und Argumenten, verfolgen aber ähnliche Ziele. Die Gegenüberstellung beider Zugänge zeigt, dass die jeweils erstellten Karten erst dann als Interventionen funktionieren, wenn sie als Instrumente verkehrspolitischen Gestaltens wirkmächtig (gemacht) werden.

Von der Stadtraum- und Mobilitätsdokumentation zur verkehrspolitischen Disruption An der Diskussion über die Ausgestaltung der vor allem klimapolitisch motivierten Verkehrswende beteiligen sich nicht nur staatliche und privatwirtschaftliche, sondern auch wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure. Gerade die letztgenannten beiden Gruppen stützen sich dabei verstärkt auf kartographische Methoden, die jedoch unterschiedliche Daten heranziehen und auch hinsichtlich Darstellung, Karteninhalt, Zielsetzung, Argumentation und Rezeption divergieren. Beide Ansätze stoßen aktuell auf erhebliche Resonanz. Ein großer Erfolg der zivilgesellschaftlichen Mobilitätsaktivist*innen kommt im Berliner Mobilitätsgesetz von 2018 zum Ausdruck. Aus der Kritik an weitgehend unhinterfragter, autozentrierter Verkehrspolitik entstand – unterstützt von kartographischen Veranschaulichungen – die Initiative für einen Berliner »Volksentscheid Fahrrad« (im Folgenden »Radentscheid Berlin«). Diese entfachte so viel öffentlichen Druck, dass der 2016 neu gewählte rot-rot-grüne Senat ein Wahlversprechen einlöste und rechtliche Rahmenbedingungen schuf, die alle Mobilitätsformen des Umweltverbunds (zu Fuß, ÖPNV, Rad) stärken sollen. Im Fokus stehen nicht nur klima- und gesundheitsschädliche Emissionen, sondern auch das Unfallrisiko vor allem für Radfahrende sowie der Flächenbedarf des motorisierten Individualverkehrs (MIV). Schadstoffausstoß, die Opferzahlen von Verkehrsunfällen und die dem Auto gewidmeten Flächen sollen reduziert werden. Gleichzeitig sollen für aktive Fortbewegungs-

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arten mehr Platz, eine bessere Infrastruktur und attraktive Verkehrsnetze entstehen. Die von den Aktivist*innen während der Kampagne eingesetzten Kartierungsverfahren dokumentieren daher nicht nur Missstände (wie etwa Gefährdungs- oder Unfallschwerpunkte), sondern visualisieren auch Utopien bzw. konkrete Projekte des Stadtumbaus. Beispiele sind Grassroots-Entwürfe für autoarme Stadtquartiere oder verkehrsplanerische Entwürfe leistungsfähiger Radverkehrsnetze, die der politisch angestrebten Zunahme des Radverkehrs gerecht werden. Karten sind hier in erster Linie Mittel zum Zweck und haben (ohne besondere Berücksichtigung wissenschaftlicher Ansprüche oder klassischer kartographischer Konventionen) nicht unerheblich zum Erfolg der Initiativen beigetragen. Dies wird dadurch deutlich, dass sich die spezifische Verknüpfung von Sachkenntnis und kreativer kartographischer Visualisierung derselben mit der politischen Organisationsform des »Radentscheids Berlin« inzwischen in vielen anderen deutschen Städten verbreitet hat (Changing Cities o.J.a). Parallel dazu und oft weitgehend unverbunden mit aktivistischen Interventionen existiert eine wissenschaftliche Mobilitätsforschung zur Fahrradtauglichkeit konkreter Städte bzw. dazu, wie sich deren unterschiedliche Velo-Befahrbarkeit kleinräumlich differenziert darstellt (im Unterschied zum ADFC-Fahrradklima-Test und ähnlichen populären Darstellungen, die nur auf gesamtstädtische Vergleiche zielen). Diese »Bikeability«-Studien erleben in den letzten Jahren einen enormen Boom – zum Teil mit einem transformationsorientierten Impetus, der dekarbonisierte Mobilität anstrebt, aber auch als methodische oder kommerzielle Fingerübung1, die zeigen will, wie klassische statistische Sekundärdaten und neuartige Primärdaten aus der crowd (crowd-sourced data) anwendungsbezogen ausgewertet und genutzt werden können (vgl. Jestico/Nelson/Winters 2016; Winters et al. 2016). Die Verkehrswende und insbesondere die politische Stärkung des Radverkehrs werden argumentativ in erheblichem Maße von kartographischer Kommunikation unterstützt, die sowohl im akademischen als auch im aktivistischen Bereich von vielfältigen Innovationen der Datensammlung, -auswertung und -auf bereitung gekennzeichnet ist. Sowohl methodisch als auch in Bezug auf die Analyse konkreter Fallbeispiele, aber ebenso aus den Befunden abgeleitete Veränderungsbedarfe betreffend, ist das Thema längst nicht ausgereizt. So wird beispielsweise hinsichtlich der Bewertungen von bestimmten Merkmalen unterschiedlich argumentiert – ist eine hohe Zieldichte (Einzelhandel, Arbeitsstätten, Standorte öffentlicher Einrichtungen, ÖPNV-Knotenpunkte) unmittelbar auf der Route wünschenswert (Winters et al. 2016) oder nicht (vgl. Changing Cities 2018b, s.u.)? Wie ist Schnelligkeit gegenüber einer attraktiven Wegführung zu gewichten? Ist eine bauliche Trennung der Radwege oder eine Verkehrsberuhigung mit Fahrradstraßen und Tempolimits höher zu bewerten? Und nicht zuletzt: Besteht ein Unterschied darin, ob sich die kartographischen Ergebnisse (im aktivistischen Sinn) eher an die Stadtplanung bzw. die breite Öffentlichkeit richten oder (klassisch akademisch) an die scientific community?

1  Solche Untersuchungen werden z.B. für die Erstellung von Navigationssoftware nachgefragt.

Bikeability-Studien und Radwegplanung von unten

Akademische und aktivistische Radverkehrskarten – verschiedene Wege zum gleichen Ziel? Im Spannungsfeld von aktivistischer Kartographie als zivilgesellschaftlicher Governance-Intervention und der teilweise ebenfalls progressiven akademischen Bikeability-Forschung fällt auf, dass sich die sozialtheoretischen und epistemologischen Voraussetzungen, die in den beiden Strömungen jeweils zum Ausdruck kommen, unterscheiden. Die Bikeability-Studien, die etwa seit dem Jahr 2000 vermehrt im angloamerikanischen Raum entstanden und erst in jüngster Zeit auf kontinentaleuropäische oder lateinamerikanische Beispiele übertragen werden, sind einem quantitativ-positivistischen Vorgehen verpf lichtet. Typischerweise werden mit multivariaten Indikatorensystemen Bikeability-Indizes konstruiert, die dann mit GIS-Anwendungen zellenbasiert kartographisch dargestellt werden (vgl. Winters et al. 2013). Als Grundlage dienen vor allem Sekundärdaten über Radwege und Raumstruktur. Die methodologische Handschrift lässt sich auf den Entstehungskontext in den Gesundheitswissenschaften sowie in der technischen Verkehrsforschung zurückführen – entsprechend dominieren Veröffentlichungen in Fachzeitschriften dieser beiden Disziplinen. Welche Indikatoren in die Indizes eingehen, wie diese am besten gewichtet werden und welche räumliche Auf lösung bzw. Darstellung gewählt wird, ist Gegenstand von fachbezogenen Debatten. Als Gütekriterium gilt die möglichst »realitätsnahe« Abbildung der Situation, analog zum klassischen Paradigma der wissenschaftlichen Kartographie (vgl. Glasze 2009). Bemerkenswert ist daher, dass die theoretisch berechnete »Radfahrfreundlichkeit« bislang kaum mit eigenen empirischen Erhebungen abgeglichen – also validiert – wurde.2 Dabei eignet sich der Forschungszusammenhang der Bikeability-Studien aufgrund seiner relativ einfachen Replizierbarkeit (dank GIS) sehr gut, um inhaltlich nachzuvollziehen, wie die Radverkehrssituation vor Ort über die kleinräumig differenzierte Erfassung von Stärken und Defiziten wissenschaftlich dokumentiert, methodisch mit anderen Studien verglichen und überdies auch gesellschaftskritisch (etwa mittels der Einbeziehung von Indikatoren zur sozialräumlichen Ungleichheit) anschlussfähig gemacht werden kann. Kartographische Repräsentationen aus dem Kontext des Radverkehrsaktivismus sind bezüglich der Datenquellen und der Darstellungsformen vielfältiger, allerdings weniger komplex, weil sie keine aufwendig berechneten Indizes abbilden, sondern auf konkrete Missstände (z.B. Unfallhäufigkeiten, Autoverkehrsbelastungen) hinweisen oder positive Forderungen (z.B. sichere Radwege) vorbringen. Die dargestellten Indikatoren sind also in der Regel (anders als bei den aggregierten Index-Darstellungen) als Einzelmerkmale erkennbar. Als Vorläufer dieser interventionistischen, vor allem im Critical-Mass-Kontext3 entstandenen Karten können die »Radfahrerstadtpläne« gelten, die in der alten BRD von Umweltinitiativen veröffentlicht wurden und in deren 2 Eine Ausnahme stellt folgende Untersuchung von Ray Pritchard, Yngve Frøyen und Bernhard Snuzek (2019) dar: »Bicycle level of service for route choice – A GIS evaluation of four existing indicators with empirical data«, in: ISPRS International Journal of Geo-Information 8 (5), S. 214f. Bei Meghan Winters et al. (2016) werden die Index-Ergebnisse lediglich mit auf Stadtebene aggregierten Modal-Split-Daten in Beziehung gesetzt (vgl. auch Winters et al. 2013: 867). 3 Regelmäßige, aber informelle innerstädtische Fahrrad-Konvoifahrten mit verkehrspolitischer Motivation.

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Kontext Ende der 1970er Jahre unter anderem die Partei Die Grünen und der ADFC entstanden (vgl. König 1984). Diese Stadtpläne begleiteten die »Wiederentdeckung« des Fahrrads als Verkehrsmittel4, sollten zum Radfahren motivieren und durch geeignete Darstellung existierende attraktive Routen (glatter Belag, wenig MIV, Ampeln und Steigungen) kommunizieren, hatten aber noch keine explizit anprangernde oder gar planerische Intention.5 Dagegen geht es den neuen aktivistischen Karten – ganz im Sinne einer Kritischen Kartographie, die sowohl die Effekte ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse zeigen als auch letztere verändern will (vgl. Glasze 2009) – darum, die Forderungen eines radverkehrsgerechten bzw. sozialökologisch nachhaltigen Stadtumbaus durchzusetzen. Die öffentlichkeitswirksame Publikation verkehrlicher Defizite im Tagesspiegel (u.a. über die Website »Radmesser«: sehr geringe Überholabstände, Radwegabdeckung, vgl. Tagesspiegel 2018; sowie über das Projekt »Gefahrenmelder«: konkrete Risiken z.B. durch Baustellen, Schlaglöcher, gefährliche Kreuzungen, vgl. Jacobs 2018), die als publizistische Begleitung der Initiative »Radentscheid Berlin« gelten kann, ist ein Beispiel für die anprangernde »Faktensammlung«, die das Augenmerk auf Missstände richtet (vgl. Abb. 1). Allerdings werden die Visualisierungen konventioneller, wenn die bottomup-Initiativen stärker in den Planungsprozess einbezogen werden – siehe unten. Nachdem das Thema Radverkehr 2016 erfolgreich im Berliner Senatswahlkampf platziert worden war und infolgedessen das Mobilitätsgesetz die dortige Verkehrspolitik auf den Umweltverbund fokussierte, erweiterten die Aktivist*innen ihren politischen Aktionsraum unter dem Dach des neu gegründeten Vereins Changing Cities e.V. auf die Verkehrswende auch jenseits von Radverkehrsförderung sowie generell auf zukunftsfähigen Stadtumbau (vgl. Changing Cities o.J.b). Die Skepsis der Verwaltung gegenüber der praktischen Machbarkeit der Vorgaben des Mobilitätsgesetzes erforderte außerdem, die Umsetzung des Gesetzes kritisch zu unterstützen. Auch hier spielen kartographische Instrumente eine wichtige Rolle der politischen Kommunikation nach außen und der planerischen Abwägung nach innen. Weiter unten wird dies am Berliner Beispiel gezeigt, bei dem es darum geht, die Routenführung von stadtweiten Fahrradverbindungen auf Grundlage des Erfahrungswissens von Alltagsradler*innen zu optimieren. Die bisher angesprochenen Aspekte zeigen in konzeptioneller Hinsicht, dass innerhalb der »aktivistischen Radverkehrs-Kartographie« einerseits Subjektivität herausgestellt wird (»gefühlte Sicherheit«), andererseits zugleich mit quantitativ-objektiven Daten argumentiert wird (Unfallzahlen, Überholabstände) bzw. an rational-choice-Vorstellungen der klassischen Stadtplanung angedockt wird (autofreie Quartiersplanung, Radwegtypenvergleiche). In beiden Fällen werden in der Bildsprache etablierte kartographische Praktiken stark variiert, sodass sowohl subjektive Wahrnehmungen fallweise »objektiviert« dargestellt als auch quantitative Daten kreativ-innovativ visualisiert werden (z.B. https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/alle-unfaelle-berlins-aufeiner-karte/). 4 Auch der erste Fahrradboom überhaupt brachte bereits zum Ausklang des 19. Jahrhunderts Bikeability-Karten hervor, die schon damals die detaillierte Darstellung der physischen (und legalen) Befahrbarkeit mit Fahrrädern zum Ziel hatte (vgl. Straube 1899). 5 Einer ihrer Nachfahren ist der vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) herausgegebene und bis in jüngste Zeit aktualisierte BUND-Fahrradplan (Schütz 2013).

Bikeability-Studien und Radwegplanung von unten

Abbildung 1: Kartierung selbst gemessener Überholabstände im aktivistischen Projekt »Radmesser«

Quelle: Tagesspiegel 2018 (leicht modifizierter Ausschnitt)

Von der Dokumentation des Unbehagens zum Gestalten konkreter Utopien – wie aus Beobachtungen Karten und dann Pläne werden Im Feld der wissenschaftlichen Studien, die Radfahrfreundlichkeit bzw. Fahrradtauglichkeit untersuchen, können drei Teilbereiche unterschieden werden: (1) Bikeability-Studien im engeren Sinn, die zum Teil aus dem größeren Forschungsbereich der (oft gesundheitswissenschaftlich motivierten) Walkability-Studien hervorgegangen sind und sich zumeist auf die Auswertung von Sekundärdaten stützen, wobei typischerweise Indikatoren der (gebauten) Umwelt sowie gegebenenfalls Daten zur Verkehrsbelastung und zur Unfallhäufigkeit herangezogen werden; (2) bicycle-level-ofservice-Studien, die aus den ingenieursbasierten Verkehrswissenschaften stammen und die bauliche Radverkehrsinfrastruktur detailliert bewerten, sowie (3) Studien, die tatsächliches oder kommuniziertes Verhalten sowie Einschätzungen von Radfahrer*innen erfassen und interpretieren – insbesondere mit Blick auf Streckenwahl und zugrunde liegenden Präferenzen (sowohl um Routenplanungssoftware zu optimieren als auch um nachhaltige Stadtplanung zu promoten bzw. zu informieren). Die Zielsetzungen der Studien variieren also ebenso wie die verwendeten Indikatoren. Dennoch

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werden die Bikeability-Studien meistens mit progressiven verkehrspolitischen Motiven begründet, die teilweise explizit die Bedeutung kartographischer Darstellungen betonen: »Mapping bikeability provides a powerful visual aid […] for identifying zones that can be improved to support sustainable travel. This is an evidence-based tool that presents data in a user-friendly way for planners and policy makers.« (Winters et al. 2013: 880)

Die Wahrheit liegt auf der Straße – und Bikeability-Studien zeigen sie? Wir thematisieren im Folgenden den Ansatz der Bikeability-Studien im engeren Sinn, die sich dadurch auszeichnen, dass sie evidenzbasierte Bewertungen von räumlichsozialen Einzelindikatoren urbaner Radfahrmöglichkeiten kartographisch zusammenführen – in der Regel, um Verbesserungsbedarfe zu identifizieren. Anhand eines der meistzitierten Beispiele aus diesem Bereich (vgl. ebd.) kann gezeigt werden, wie man hier mit Sekundärdaten relativ einfach GIS-Karten erzeugen kann, mit deren Hilfe fahrradaffine von fahrradaversen Stadträumen unterschieden werden können. Winters et al. stützen sich hierzu auf fünf (aufwendig hergeleitete, aber leicht verfügbare) Indikatoren (vgl. 2013: 870ff.): Radwegdichte, bauliche Trennung der Radwege, Verknüpfungsgrad der Radverbindungen, Zieldichte und Topographie (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Fünf-Komponenten-Bikeability-Karte für Vancouver

Quelle: Winters et al. (2013: 874)

Bikeability-Studien und Radwegplanung von unten

Das Ergebnis – eine Bikeability-Karte, die durch das rechnerische »Übereinanderlegen« der fünf Indikatoren zustande kommt – spricht für sich: Mit eingängiger Farbgebung wird am Beispiel Vancouvers kleinräumig differenziert, wie gut es sich wo radelt. Dank der fünf Einzelkarten ist ersichtlich, wo Politik und Planung an welchen Stellschrauben drehen müssten – sofern das möglich ist (die letztgenannten Indikatoren Zieldichte und Topographie sind sicher weniger gut zu beeinf lussen). Bei diesem Beispiel stehen städtebauliche bzw. Stadtentwicklungsfaktoren klar im Vordergrund der Bewertung. Andere häufig verwendete Indikatoren der Bikeability-Forschung, wie Unfallzahlen oder der Straßenbelag, werden hier zugunsten der ausgewählten, für Vancouver bzw. für kanadische und US-amerikanische Städte leichter verfügbaren Daten weggelassen. Auch die Radnutzungsintensität wurde wegen fehlender Daten nicht einbezogen. Die Verkehrsmittelwahl potenzieller Radfahrender wird allerdings zu einem höheren Maß auch von anderen Faktoren beeinf lusst, etwa der MIV-Belastung bzw. den (wahrgenommenen) Unfallgefahren sowie der kleinräumigen baulichen Situation inklusive des Straßen- bzw. Radwegezustands. Entsprechend bot diese Art von Bikeability-Index nur eine beschränkte Vorhersagegenauigkeit für den Anteil von Arbeitspendler*innen mit dem Fahrrad, wie eine vergleichende Anwendung der Methodik in 24 Städten zeigte (vgl. Winters et al. 2016). Verkehrspolitisch wirkt dieses Beispiel einer Bikeability-Karte wenig konfrontativ. Ähnlich wie in der Klimaforschung lange üblich, werden besorgniserregende Befunde vorgestellt, ohne dass zu politischen Entscheidungen aufgerufen wird. Es ist aber leicht möglich, im Anschluss an diesen Forschungskontext im Sinne eines lokal-basierten »Realitätsabgleichs« eigene Bikeability-Kartierungen durchzuführen. Das Beispiel in Abbildung 3 zeigt eine solche Kartierung, die als studentisches Projekt in einem Methodenseminar zur Mobilitätsforschung am Institut für Geographie in Hamburg entstand (vgl. Kemper et al. 2020). Abbildung 3: Bikeability-Kartierungsbeispiel Veloroute 6

Quelle: Aus einer Lehrveranstaltung der Uni Hamburg (Januar 2020)

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Hier sollte mit einem abgewandelten Indikatorenset streckenbezogen geprüft werden, inwieweit die vom Hamburger Senat ausgewiesenen und als Beitrag zur Verkehrswende deklarierten Velorouten (VR) die Ansprüche einer modernen Radinfrastruktur erfüllen. Dazu wurde zunächst die Wegbeschaffenheit (Breite, Belag) und die Routenführung (Durchgängigkeit, Trennung vom MIV) mit einem Kartierbogen abschnittsweise selbst erhoben. Zusätzlich wurden als sekundärstatistische Daten Unfallzahlen einbezogen. Anschließend wurden die wiederum fünf einzelnen Merkmalsausprägungen ebenfalls »übereinandergelegt«, sodass eine Gesamtbewertung vorgenommen werden konnte (vgl. Abb. 4). Abbildung 4: Gedrehter Routenabschnitt Veloroute 6: Einzelnoten und kombinierte Gesamtbewertung

Quelle: Aus einer Lehrveranstaltung der Uni Hamburg (Januar 2020)

Im vorliegenden Fall der Veloroute 6 (VR6) ist das Ergebnis ernüchternd – die hohen Erwartungen, die diese Hamburger »Vorzeigeradwege« in den letzten Jahren geweckt haben, werden eindeutig noch nicht erfüllt. Mit dieser Darstellung wäre ein politisches Argument gegeben, das die Notwendigkeit weiterer drastischer Verbesserungen sowohl der baulichen Strukturen als auch der Verkehrssicherheit aufzeigt. In diesem Sinne würde es sich anbieten, zwischen Forschungsprojekten, Hochschullehre, direkten studentischen Aktionen und verkehrspolitischem Engagement außerhalb der Unis einen stärkeren Austausch und intensivere Interaktionen herzustellen. Um diesen Brückenschlag zu ermöglichen, fokussiert das folgende Beispiel kartographische Interventionen aus dem Bereich des zivilgesellschaftlichen Aktivismus in Berlin.

Bikeability-Studien und Radwegplanung von unten

Von der Diagnose zur Intervention – der Beitrag der aktivistischen Kartographie zum Relaunch der Berliner Verkehrspolitik Verbesserte Rahmenbedingungen für den Radverkehr werden von der Berliner Senatsverwaltung seit bald zwei Jahrzehnten zumeist nur proklamiert. So benennen die Radverkehrsstrategien von 2004 und 2013 zwar Maßnahmenkategorien, aber keine Fertigstellungstermine für eine Umsetzung in konkreten Straßen. Da die Maßnahmen nicht auf der Straße bzw. auf dem Radweg ankamen, fand sich eine neue Generation von Aktivist*innen zusammen, die sehr systematisch eine Kampagne für fundamentale Änderungen der Berliner Verkehrspolitik entwickelte und diese per Volksentscheid durchsetzen wollte. Aufgrund des Wahlausgangs 2016 kam es nicht zu dieser Abstimmung, stattdessen akzeptierte die neue rot-rot-grüne Landesregierung einen Großteil der Forderungen und integrierte das für den Volksentscheid von den Aktivist*innen erarbeitete Radgesetz als gesonderten Abschnitt in ein neu erarbeitetes Berliner Mobilitätsgesetz (MobG Berlin 2018a). Zwar hatte der Entwurf der Aktivist*innen versucht, neben den ambitionierten Zielen auch möglichst exakte planerische und technische Details von Radverkehrsanlagen im Gesetzestext zu verankern, aber zur Übernahme in ein homogen strukturiertes Mobilitätsgesetz für den gesamten Umweltverbund wurde die Regelung solcher Details in nachfolgenden Dokumenten versprochen. So wurde auch die Erstellung eines konkreten Radverkehrsnetzes (anstelle von pauschalen Vorgaben anzulegender Radweg-Kilometer) auf ein Jahr nach Inkrafttreten des MobG Berlin terminiert – Netzdichte und die Lage der Segmente blieben somit noch auszuhandeln. Grundsätzlich sieht das MobG Berlin Interventionen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs sowie des ÖPNV vor. In seiner Regelungstiefe beschränkt es sich allerdings darauf, Ziele, Aufgaben und Akteure für die Stärkung dieser drei Mobilitätsformen des Umweltverbunds zu benennen. Konkrete Projekte und räumliche Netzfestlegungen, Qualitätsstandards und Zeitpläne wurden damit in die korrespondierenden Rechtsverordnungen – Nahverkehrs-, Radverkehrs- und Fußverkehrsplan – verschoben. An zwei Beispielen alternativer Netzentwürfe zeigt sich das unterschiedliche Potenzial kritischer Kartographien, sowohl die Planungshoheit der (politischen) Bürokratie herauszufordern als auch ihre reaktive Macht auszutesten. Da die Erstellung des Nahverkehrsplans bereits vorab veranlasst worden war, stand dieser mit Inkrafttreten des MobG Berlin inhaltlich bereits weitgehend fest. Hierzu waren angestrebte Qualitäten und Erschließungsstandards des ÖPNV-Netzes (das künftig noch stärker als Rückgrat urbaner Mobilität dienen soll) von externen Verkehrsplaner*innen definiert worden – Zivilgesellschaft, Politik bzw. Verwaltung wurden lediglich kommentierend beteiligt. So fanden sich die im Aktivist*innen-Entwurf geforderten umfangreichen Netzerweiterungen nicht im beschlossenen Nahverkehrsplan wieder.6 Der Erstellungsprozess des Pendants für den Radverkehr – einschließlich der Festlegung des gesamtstädtischen Vorrangnetzes – gestaltete sich deutlich schwieriger, aber auch interaktiver. Für attraktive Fahrradrouten ebenso wie für die einladende Gestaltung von Radwegen ist, das zeigten bereits die Bikeability-Beispiele, die physische oder sogar räumliche Trennung vom MIV ein wesentlicher Faktor. Es ist 6 Das Initiativenbündnis »Pro Straßenbahn« hatte ein umfangreiches Zielnetz 2050 gefordert, vgl. https://www.berlin.de/senuvk/verkehr/politik_planung/oepnv/nahverkehrsplan/de/downloads. shtml (20.10.2020).

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daher höchst relevant, welche Bedeutung diesem Aspekt in der Radwegenetzplanung zukommt – und in diesem Bereich stellt die Expertise der Alltagsradler*innen eine wichtige Ressource dar, die aber in der Vergangenheit kaum einbezogen wurde. Die bisherigen Berliner Radverkehrsstrategien hatten sich auf allgemeine Aussagen zu Verbesserungen für den Radverkehr beschränkt, auf der Straße kamen fast keine Verbesserungen an. Der neue Radverkehrsplan soll nun aber nach dem Willen des MobG Berlin »konkrete Ausbauvorgaben insbesondere zur Errichtung des Radverkehrsnetzes unter Angabe von Jahresausbauzielen (Quantitäten) und Schritten zur Verwirklichung der Ziele (Ausbaupfade) sowie zu den Qualitäten der geplanten Radverkehrsanlagen« (MobG Berlin 2018b: §40[2]) enthalten. Sowohl mit der Erstellung eines qualitativ hochwertigen Radverkehrsnetzes als auch mit Angaben zur technischen Qualität der zu bauenden Radverkehrsanlagen (RVA)7 betrat die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (SenUVK) nun Neuland. Die planerische Verunsicherung bot also einerseits eine große Chance für aktivistische kartographische Interventionen, zum Beispiel in Form von Routenvorschlägen, verhinderte aber gleichzeitig trotz zeitintensiver Diskussionen die Generierung belastbarer Ergebnisse. Selbst nach Inkrafttreten des MobG Berlin im Juli 2018 deutete nichts auf zügige Umsetzungsschritte hin. Die SenUVK wirkte überfordert mit dem Versuch, die ambitionierten Gesetzesziele in Zuständigkeiten und Verwaltungshandeln zu übersetzen. Aktivist*innen, die seit der gemeinsamen Erarbeitung der Gesetzesvorlage genaue Vorstellungen von deren Umsetzung hatten, erstellten nun sogar Entwürfe für die Konkretisierungsdokumente des Radverkehrsplans, dessen zentraler Bestandteil ein Radverkehrsnetz sein muss (MobG Berlin 2018c). Als Beispiel aktivistischen kritischen Kartierens soll der Prozess für die kooperative Erstellung dieses Radverkehrsnetzes vorgestellt werden. Aktivist*innen veranlassten die ersten Schritte für den Entwurf eines Radverkehrsnetzes bereits Anfang 2018, als das Berliner MobG sich auf der Zielgeraden des parlamentarischen Prozesses befand. Üblicherweise werden Verkehrsnetze unter Beachtung von Richtlinien mithilfe standardisierter Verfahren von Fachfirmen der Verkehrsplanung erstellt, die etwa in entsprechender Dimensionierung und Gestaltung von Straßen für den MIV resultiert. Für Radinfrastruktur existieren aber lediglich »Empfehlungen für Radverkehrsanlagen« (FGSV 2010) mit geringerer Verbindlichkeit als Richtlinien. Zwar hatte die steigende Zahl Radfahrender seit den 1980er Jahren in Berlin dazu geführt, dass Haupt- und Ergänzungsrouten definiert wurden. Außer auf der Karte waren diese jedoch allenfalls durch sporadische Beschilderung am Straßenrand sichtbar (vgl. SenUVK o.J.). Somit sind die Segmente von Radrouten mit schwer verständlichen Führungen des Radverkehrs in den für maximalen Kfz-Durchsatz gestalteten Straßenabschnitten kaum durch entsprechende Infrastruktur auf der Straße als Bestandteil eines (rudimentären) Radverkehrsnetzes zu erkennen. Radfahrende meistern trotzdem sehr zeiteffizient ihre täglichen Wege. Ihr Erfahrungswissen kompensiert die wechselnde Qualität von RVA (als Bestandteile inhomogener Rad-

7  R  adverkehrsanlagen umfassen als Sammelbegriff bauliche Radwege oberhalb der Bordsteinkante, Sonderwege unabhängig von bestehenden Straßen, Radfahrstreifen auf der Fahrbahn und Fahrradstraßen mit Vorrang für Radfahrende.

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verkehrsnetze), wenn sie ihre Routen für häufig benötigte Verbindungen fortlaufend optimieren.8 Die kooperative Kartierung geeigneter Routen für ein optimales Radverkehrsnetz setzt genau dort an. Anfang 2018 bildete sich pro Stadtbezirk eine »AG Radnetz« aus insgesamt mehreren Dutzend Aktiven von vier verkehrs- und umweltpolitischen Verbänden (ADFC, Changing Cities, BUND Berlin und VCD Nordost), um ein solches Radnetz zu erstellen. Hierbei wurde subjektives, implizites Alltagswissen im Kreis der beitragenden Radfahrenden diskutiert und in Form optimierter Routen als Radnetz kartiert. Vertreter*innen aus den Stadtbezirken synchronisierten in einer berlinweiten AG diese bezirklichen Subnetze miteinander. Das Ergebnis wurde als »Radnetz der Zukunft« (Changing Cities 2018a) der Öffentlichkeit präsentiert und auch der SenUVK als Grundlage zur Verfügung gestellt. Es folgte in seiner Aufgliederung exakt den Vorgaben in den §§42-45 des MobG Berlin (vgl. Changing Cities 2018b). Anschließend übergab die SenUVK eine von den oben genannten vier Verbänden weiterentwickelte zweite Version dieses »Verbändenetzes« (vgl. Changing Cities 2019) dem zwischenzeitlich beauftragten externen Verkehrsplanungsdienstleister zur Begutachtung. Dieser stellte – nach Vergleichen mit dem Vorrangnetz für den ÖPNV und dem Hauptverkehrsstraßennetz für den MIV – dem Radnetzentwurf der vier Verbände ein positives Zeugnis in puncto Dichte und Gesamtlänge aus und versprach, ihn bei der Erstellung des letztendlich zu verabschiedenden offiziellen Netzes zu berücksichtigen. Abbildung 5: Durch kooperative Kartierung entstandener Entwurf für ein optimales Radverkehrsnetz

Quelle: https://umap.openstreetmap.fr/de/map/radnetz-berlinpresse-18122019_254441 (20.10.2020). Der Radnetzentwurf der vier Verbände legte im Gegensatz zur Führung der bisherigen Fahrradhauptrouten das Radvorrangnetz (hellblau) bevorzugt durch Nebenstraßen. Die stark mit Kfz frequentierten, aber nur mit lückenhaf ter Radinfrastruktur versehenen Hauptverkehrsstraßen (rot) werden gemieden, um den angestrebten Radvorrang nicht von häufigen Ampelstopps und konkurrierenden Ansprüchen des dort geführten ÖPNV-Vorrangnetzes aufzuweichen. 8 Darüber hinaus lässt sich implizites Radfahrwissen auch für die Routenplanung nutzen. So hatte ein Berliner Informatiker zunächst Methoden für eine Fahrrad-optimierte Routenführung entwickelt (vgl. Rezic 1999). Im nächsten Schritt erhob er dann in seinem Projekt bbbike.de mit viel Aufwand die Fahrradeignung aller Berliner Straßen, um dann passend zu individuellen Ansprüchen Radfahrender (Verkehrsbelastung, Ampelstopps, Straßenbelag) passende Routen berechnen zu können, vgl. bbbike.de (20.10.2020).

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Wird Zuarbeit durch kritisches Kartieren positiv von professionellen Akteuren bewertet, garantiert das aber noch nicht, dass Optimierungsvorschläge auch berücksichtigt werden. Der externe Verkehrsplanungsdienstleister legte nämlich in der Folge einen eigenen Entwurf vor, der die partizipativ aus dem Alltagswissen generierten Routenvorschläge der Verbände häufig ignoriert. Darüber hinaus folgt dieser im September 2020 vom externen Planungsbüro erstellte – und von der SenUVK akzeptierte – Entwurf vielerorts Designprinzipien, die denen des Verbändeentwurfs zuwiderlaufen. Am deutlichsten wird dies beim Aspekt der Routentrennung: Schon die seit Jahrzehnten veröffentlichten Fahrradstadtpläne empfehlen durchgängige Radroutenabschnitte im Nebenstraßennetz, denn Radfahrende auf den Hauptverkehrsstraßen sind Lärm und Schadstoffen der Kfz sowie Rücksichtslosigkeit und Regelmissachtung der Kfz-Lenkenden ausgesetzt. Höhere Ampeldichten bedingen häufigere Stopps, Konzentrationen von Handel, öffentlichen Einrichtungen und Büros bedeuten mehr Konf likte Abbildung 6: Der Entwurf des Radverkehrsnetzes der SenUVK im Vergleich zum Verbändeentwurf

Quelle: Screenshot der GIS-Darstellung des SenUVKRadverkehrsnetz-Entwurfs im Rahmen des Beteiligungsverfahrens im Oktober 2020. Der SenUVK-Entwurf des Radverkehrsnetzes ignoriert vielerorts lokales Wissen. Zum Beispiel wird der Radverkehr im Vorrangnetz (rot unterlegt) bei der Durchquerung des Ortsteils Schöneberg von NO nach SW erst über einen Kfz-freien, für Aufenthalt gestalteten Stadtplatz in der Crellestraße und im Anschluss dann auf der MIV-belasteten Hauptstraße mit zusätzlich starkem und bevorrechtigtem Busverkehr (blau schraf fiert) geführt. Der Vorschlag der vier Verbände (hellblaue Linie) einer alternativen Führung durch die verkehrsarme Belziger Straße als Fahrradstraße wurde ignoriert. Ähnlich verhält es sich bei der NW-SODurchquerung mit der belasteten Dominicusstraße (SenUVK-Netz) im Gegensatz zur ruhigen Eisenacher Straße (Verbändenetz).

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mit Zu-Fuß-Gehenden und häufige Behinderungen durch regelwidrig abgestellte Kfz. Vor diesem Hintergrund hatte der Verbändeentwurf konsequent verkehrsarme Nebenstraßen zur Grundlage des Netzentwurfs gemacht. Der von der SenUVK akzeptierte externe Entwurf schlägt dagegen ein Netz vor, das vielerorts entlang der Hauptverkehrsstraßen geführt wird. An den Differenzen zwischen beiden Netzentwürfen zeigt sich der Gegensatz zwischen technokratischer Verkehrsplanung und individueller Routenoptimierung. Während die Richtlinien der Ersteren nichts als die Minimierung der gesamten »Raumwiderstände« als Zielsetzung eines Verkehrsnetzes anerkennen, basieren individuelle Routenoptimierungen auf subjektivem Sicherheitsempfinden und komplexen Alltagserfordernissen. Attraktive Mobilität für Individuen weist eben mehr Dimensionen als nur die Reisezeitminimierung auf. (vgl. dazu Boos 2022 in diesem Band). Die Missstände des SenUVK-Entwurfs zeigen sich noch gravierender, wenn man die Zielsetzung des Radvorrangnetzes als qualitativ hochwertigster Stufe der Radverkehrsverbindungen berücksichtigt. Das MobG Berlin formuliert in §42 für diese »Verbindungen von gesamtstädtischer Bedeutung« unter anderem, dass »die Lichtzeichenanlagen für einen f ließenden Radverkehr koordiniert werden« (MobG Berlin 2018d). Zwar ließe sich gemäß der verkehrspolitischen Zielsetzung dieser Vorrang vor dem MIV vertreten, mit dem ÖPNV jedoch entsteht dadurch auf den Hauptverkehrsstraßen ein kaum lösbarer Zielkonf likt, denn als Teil des Umweltverbundes soll diesem dort ja ebenfalls Vorrang eingeräumt werden. Wo der Verbändeentwurf deshalb Routenalternativen im Nebenstraßennetz suchte, müsste der SenUVK-Entwurf bei der Straßenumgestaltung den Vorrang entweder des ÖPNV oder des Radverkehrs hintanstellen (vgl. Abb. 6). Die ursprüngliche und lobenswerte Zusage der SenUVK, den Entwurf auf Basis kritischen Kartierens zu berücksichtigen, wurde leider nur teilweise und entsprechend des gängigen Partizipationsverständnisses der Verwaltung eingelöst. Zwar wurden einzelne Elemente des Verbändeentwurfs in den SenUVK-Entwurf übernommen, doch blieb das anschließende formelle Beteiligungsverfahren auf »Kritikmanagement«9 reduziert. Die Verkehrsverwaltung fragte detailliertes Feedback zum Netzentwurf ab, und so legten die Radnetz-AGs der Stadtbezirke am Beispiel von insgesamt Hunderten Netzsegmenten nochmals detaillierte Argumente für die ursprünglichen Vorschläge als optimale Alternativlösungen vor. Parallel dazu nutzten auch die Verwaltungen der Stadtbezirke in großem Umfang diese erstmalige Möglichkeit, den Netzentwurf vor dem Hintergrund eigener Planungen und Maßnahmen für Radinfrastruktur zu bewerten.10 Die SenUVK bedankte sich zwar für die zahlreich eingereichten Verbesserungsvorschläge sowohl der Verbände als auch der Bezirksverwaltungen, diese sollen jedoch bis auf wenige Ausnahmen nicht eingearbeitet, sondern lediglich dokumentiert werden. Dies verwundert umso mehr angesichts des Faktums, dass die SenUVK beim Radverkehrsplan selbst drei Jahre nach Inkrafttreten des MobG immer noch 9  G  emeint ist hier ein oberflächliches Verständnis von einer Partizipation der Zivilgesellschaft, die Rückmeldungen von Kritiker*innen zu deren Beruhigung zwar dokumentiert, aber bei der Überarbeitung von Entwürfen nicht ernsthaft berücksichtigt. 10 Die Weigerung der SenUVK, die Stadtbezirksverwaltungen nicht frühzeitig an der Entwicklung des Radverkehrsnetzes zu beteiligen, ist unverständlich – denn bei der Umsetzung wird ihnen als Straßenbaulastträger eine wichtige Rolle zuteil.

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keinen diskussionsfähigen Entwurf des Radverkehrsplans als Senatsvorlage erstellt hat, sodass für die Überarbeitung des beizufügenden Radverkehrsnetzes noch Zeit zur Verfügung stehen würde.11 Die Tatsache, dass hier offenbar weder zeitliche noch personelle Ressourcen für Optimierungsvorschläge vorgesehen wurden, unterschätzt einerseits den Mobilisierungsgrad und die Determiniertheit der Aktivist*innen und ist andererseits ein treffendes Beispiel dafür, welch geringen Stellenwert die Berliner Verwaltung zivilgesellschaftlicher Beteiligung beimisst.

Das verkehrspolitische Puzzle – mehr als eine Karte, trotz fehlender Teile Beide vorgestellten Kartierungsansätze beziehen sich auf eine Objektivität des »besseren Arguments«, die prinzipiell von Optimierungsbedarf beim Stadtverkehr ausgeht. Bikeability-Studien versuchen dabei, überhaupt erst empirische Grundlagen zu schaffen, die als Argumente für verkehrspolitische Entscheidungsprozesse dienen können. Sie sind per se wenig konfrontativ, können aber politische Entscheidungen beeinf lussen und ermöglichen mithilfe allgemein verfügbarer Sekundärdaten einfache Vergleiche zwischen Stadträumen bzw. konkreten Routen sowie auch räumlich differenzierte Vergleiche verschiedener Städte miteinander. Sie verbleiben aber leicht in einer »sta(a)tistischen« Perspektive, da sie zumeist auf staatlichen Datensammlungen basieren. Außerdem fehlt häufig ein echter gesellschaftsverändernder Anspruch (über die verkehrlichen Optimierungen hinausgehend) – unter anderem aufgrund der disziplinären Nähe zu den Gesundheits- und Ingenieurswissenschaften dominiert ein positivistisches Wissenschaftsverständnis. Aktivistische Kartierungen setzen demgegenüber stärker auf selbst erhobene Daten und Erfahrungswissen. Betrachtet man Kritik als Auseinandersetzung von Visionen mit dem Status quo, bilden die visionären Darstellungen eines »Radnetzes der Zukunft« eine Kritik an dem unbefriedigenden aktuellen Zustand des Flickenteppichs von Radverkehrsanlagen verschiedenster Zeitphasen, Zielsetzungen und Qualitäten. Konkret zeigt der kooperativ »von unten« erstellte Initiativen-Radnetzentwurf, dass die Berücksichtigung komplexer Alltagserfahrungen attraktivere Routen hervorbringt, die mehrere Dimensionen optimieren. Der offizielle Entwurf der Berliner Verkehrsverwaltung auf Basis technokratischer Verkehrsplanung mit dem singulären Ziel einer Reisezeitenminimierung kann hier nicht mithalten. Bestenfalls könnte mit dem Mittel der Methodentriangulation beider Ansätze ein gemeinsames Optimum erreicht werden. Wahrscheinlich müssen aber die impliziten Konf likte ausgetragen werden. Diese verlagern sich hierbei von der Forderung nach einer Beseitigung kartierend an11  D  ieses auf den ersten Blick unentschlossen wirkende Zögern der SenUVK dürfte seine Ursache in Verzögerungstaktiken von Teilen der Verwaltung haben, die die geplanten Umverteilungen von Straßenraum zugunsten des Fahrrads verhindern wollen. Mittlerweile existieren einige Beispiele konkreter Straßenplanungen, bei denen Entscheidungsträger*innen der Verwaltung die Erhaltung von Flächen für den MIV höher gewichten als eine sichere Radverkehrsanlage. Obwohl ihre Aufgabe, ist es den politischen Verwaltungsspitzen bisher nicht gelungen, von der Verwaltung einzufordern, einen ausreichenden Beitrag zur Erreichung politischer Ziele beizutragen bzw. wenigstens die gesetzlichen Vorgaben des MobG Berlin einzuhalten.

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geprangerter Missstände hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Ziel kokreativer Verkehrspolitik durch kooperative Erstellung von Planungskarten. In dem Maße, in dem die Realitätsabbilder Anschluss an konkrete politische verkehrsplanerische Verfahren suchen und sich von der skandalisierenden Kampagnenkarte hin zu partizipativen Planungskarten bewegen, werden jedoch auch die kartographischen Darstellungen der Aktivist*innen konventioneller – obgleich dies nicht immer ausreicht, wie gezeigt wurde, um als kartographisch bzw. planerisch satisfaktionsfähig betrachtet zu werden. Abschließend sollen die vorgestellten Ansätze kritischer Verkehrskartierung beispielhaft im Ablauf eines idealtypischen mobilitätspolitischen Prozesses verortet werden. Aktivistische Faktensammlungen wie »Radmesser« und »Gefahrenmelder« (siehe Abb. 7: A) dokumentieren ebenso wie Bikeability-Studien (B) spezifische Mobilitätsprobleme in kartographischen Darstellungen. Diese »Abbilder der Realität« werden zur Begründung von Forderungen (z.B. in Kampagnen [1]) in gesellschaftliche Debatten eingespeist. Noch effektiver ist ihre Aggregation zu Analysen (2), die politische Entscheidungen begründen können (2a). Abbildung 7: Kartographische, politische und planerische Praktiken der Verkehrswende

Quelle: Eigene Darstellung

Dabei muss hervorgehoben werden, dass diese Entscheidungen fast immer Kompromisse (2b) zwischen innovativen Forderungen und gängigen politischen Meinungen sind. Aushandlungsprozesse sind auch bei der planerischen Umsetzung nötig. Die Entsprechung politischer Forderungen findet sich hier in visionären Stadtentwürfen (I) – einer Gattung kritischer kartographischer Praxis, die allerdings nicht das zeigt, was ist (bzw. was wahrgenommen wird), sondern das, was sein sollte –, zum Beispiel ein konsequent Kfz-verkehrsarm geführtes Radnetz. Während solche Utopien in ihrer Ra-

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dikalität von politischen Gegner*innen meist abgelehnt werden, bieten sie Befürworter*innen der Verkehrswende eine Projektionsf läche, die aufgrund ihrer Abstraktion manifeste Interessengegensätze innerhalb der kritischen Planung überstrahlt. Auch die detaillierte planerische Ausgestaltung der Verkehrswende geht auf die Diversität objektiver und subjektiver Mobilitätsanforderungen nicht immer ein. Zwar nimmt die ingenieurstechnische Planungspraxis (III) für sich in Anspruch, durch »mathematische« Optimierung des Abwägens aller Belange Konf likte aufzulösen. Letztlich beruhen die Entscheidungen der »Expert*innen« aber auf Richtlinien (als Ausdruck vergangener Paradigmen) und auf modellhaften Annahmen (z.B. zu idealtypischem Verhalten im Straßenverkehr) – sie tendieren zum effizienzorientierten Schematismus. Beide Idealtypen progressiver Planung weisen blinde Flecken auf. Visionen, die von aktivistischen Kollektiven entworfen werden, wecken zwar oft positive Assoziationen, doch korrespondiert die Diversität verschiedener Bedürfnisse nicht immer mit denen der Aktivist*innen. Und die Abwägungsentscheidungen der progressiven technischen Planungspraxis mögen zwar versuchen, alle Anforderungen zu antizipieren – dadurch geht aber schnell der eigentliche Transformationsimpuls verloren. Hinzu kommt, dass viele Konf likte erst im realen Interagieren konkreter Praktiken entstehen bzw. Bedürfnisse nur dann sichtbar werden. Vor diesem Hintergrund kann die These formuliert werden, dass erst durch eine partizipative Visualisierung konkreter Entwürfe (II) eine praktische Erfahrung als Bindeglied entsteht, die eine Diskussion diverser Mobilitätsbedürfnisse ermöglicht. Eine solche Diskussion zwischen Vertreter*innen diverser Nutzergruppen dürfte die Akzeptanz sowohl gebauter Utopien als auch planerischer Kompromisse befördern. Die oben genannten Interessenkonf likte können damit zwar nicht aufgelöst, aber immerhin bearbeitet werden.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Deffner, Jutta (2018): »Fuß- und Radverkehr«, in: Schwedes, Oliver (Hg.), Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre Einführung, Wiesbaden: Springer VS, S. 415-444. Eine kompakte Einführung in die Fallstricke unter anderem der Radverkehrspolitik. Hoor, Maximilian (2021): »Öffentliche Mobilität und eine neue Mobilitätskultur – Grundlagen, Entwicklungen und Wege zur kulturellen Verkehrswende«, in: Schwedes, Oliver (Hg.), Öffentliche Mobilität. Voraussetzungen für eine menschengerechte Verkehrsplanung, Wiesbaden: Springer VS, S.  165-194. https://doi. org/10.1007/978-3-658-32106-2_7 Diese Studie fächert aktuelle gesellschaftstheoretische Perspektiven auf Mobilität auf. Winters, Meghan/Brauer, Michael/Setton, Eleanor M./Teschke, Kay (2013): »Mapping bikeability: a spatial tool to support sustainable travel«, in: Environment and Planning B: Planning and Design 40 (5), S. 865-883. Eine der meistzitierten Studien der Bikeability-Forschung – hier werden die Auswahlverfahren zur Festlegung der Bewertungskriterien der Fahrradtauglichkeit ebenso detailliert dargestellt wie die Methodik der Index-Berechnung und der kartographischen Darstellung. ***

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Boos, Philip (2022): Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als ›Place‹-basierte Methode, in: Dammann, Finn/Michel, Boris (Hg.), Handbuch Kritisches Kartieren. Bielefeld: transcript, S. 281-295. Changing Cities (2018a): Presseeinladung: Das Berliner Radverkehrsnetz der Zukunft. Siehe https://changing-cities.org/presseeinladung-das-berliner-radverkehrsnetzder-zukunft vom 08.10.2018. Changing Cities (2018b): Ein Radnetz für Berlin. Siehe https://changing-cities.org/einradnetz-fuer-berlin vom 12.10.2018. Changing Cities (2019): Verbände schenken Senat fertiges Radnetz. Siehe https://changing-cities.org/verbaende-schenken-senat-fertiges-radnetz/vom 18.12.2019. Changing Cities (o.J.a): Radentscheide. Siehe https://changing-cities.org/radentscheide/vom 20.10.2020. Changing Cities (o.J.b): Verein. Siehe https://changing-cities.org/verein/vom 20.10.2020. FGSV – Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V., AG Straßenentwurf (2010): Empfehlungen für Radverkehrsanlagen, Köln: FGSV-Verlag. Glasze, Georg (2009): »Kritische Kartographie«, in: Geographische Zeitschrift 97 (4), S. 181-191. Jacobs, Stefan (2018): »Gefahrenmelder-Karte: Das sind die größten Gefahren auf Berlins Straßen«, in: Tagesspiegel vom 12.07.2018. Siehe https://www.tagesspiegel.de/ berlin/gefahrenmelder-karte-das-sind-die-groessten-gefahren-auf-berlins-strassen/22791552.html vom 20.10.2020. Jestico, Ben/Nelson, Trisalyn/Winters, Meghan (2016): »Mapping ridership using crowdsourced cycling data«, in: Journal of Transport Geography 52, S. 90-97. Kemper, Marius/Mohr, Simon/Postel, Rico/Romeyke, Katja (2020): Bikeability Veloroute 6. Studentische Projektstudie im Rahmen der Übung »Methoden der Mobilitätsforschung« am Institut für Geographie der Universität Hamburg, WiSe 2019/2020, unveröffentlichte Ergebnispräsentation am 27.01.2020. König, Dieter (Hg.) (1984): Radfahrer-Stadtplan Bremen: Maßstab 1:25000. Bremen: Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club. MobG Berlin (2018a): Berliner Mobilitätsgesetz, Fassung vom 05.07.2018. Siehe https:// gesetze.berlin.de/bsbe/document/jlr-MobGBEpIVZ vom 20.10.2020. MobG Berlin (2018b): §40: Berliner Mobilitätsgesetz, Fassung vom 05.07.2018: §40 Aufstellung und Fortschreibung Radverkehrsplan. Siehe https://gesetze.berlin.de/ bsbe/document/jlr-MobGBEpP40 vom 20.10.2020. MobG Berlin (2018c): §41: Berliner Mobilitätsgesetz, Fassung vom 05.07.2018: §41 Berliner Radverkehrsnetz. Siehe https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/jlr-MobGBEpP41 vom 20.10.2020. MobG Berlin (2018d): §42: Berliner Mobilitätsgesetz, Fassung vom 05.07.2018: §42 Vorrangnetz und prioritärer Umsetzungsbedarf. Siehe https://gesetze.berlin.de/bsbe/ document/jlr-MobGBEpP42 vom 20.10.2020. Pritchard, Ray/Frøyen, Yngve/Snuzek, Bernhard (2019): »Bicycle level of service for route choice – A GIS evaluation of four existing indicators with empirical data«, in: ISPRS International Journal of Geo-Information 8 (5), S. 214. Rezic, Slaven (1999): Entwicklung eines Informationssystems für die Fahrradstreckenplanung. Diplomarbeit im Fachbereich Informatik an der Technischen Universität Berlin. Siehe http://docplayer.org/73831443-Entwicklung-eines-informationssystems-fuer-die-fahrradstreckenplanung.html vom 20.10.2020.

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Schütz, Tilo (2013): BUND-Fahrradplan, Berlin: Edition Gauglitz. SenUVK (o.J.): Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz: Radrouten. Siehe https://www.berlin.de/sen/uvk/verkehr/verkehrsplanung/radverkehr/radverkehrsnetz/radrouten vom 20.10.2020. Straube, Julius (1899): Straube’s Neuer Radfahrer-Plan von Berlin: Graphische Darstellung der Pf lasterungsarten unter Mitwirkung des Schutzverbandes Berliner Radfahrer. Berlin: Straube-Verlag. Siehe https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN1012660281&PHYSID=PHYS_0023&DMDID=DMDLOG_0005 vom 20.10.2020. Tagesspiegel (2018): Projekt Radmesser. Siehe https://interaktiv.tagesspiegel.de/radmesser/index.html vom 20.10.2020. Winters, Meghan/Brauer, Michael/Setton, Eleanor M./Teschke, Kay (2013): »Mapping Bikeability: A Spatial Tool to Support Sustainable Travel«, in: Environment and Planning B: Planning and Design 40 (5), S. 865-883. Winters, Meghan/Teschke, Kay/Brauer, Michael/Fuller, Daniel (2016): »Bike Score®: Associations between urban bikeability and cycling behavior in 24 cities«, in: International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity 13 (18), S. 1-18.

Kritisches Kartieren als künstlerischer Forschungsmodus Lea Bauer, Eva Nöthen

Abstract Anliegen dieses Textes ist es, einen methodischen Ansatz künstlerisch-kartographischer Erkenntnisgewinnung zu entwickeln und an Beispielen zu illustrieren. Aus konzeptioneller Perspektive eines künstlerischen Forschungsmodus werden drei Aspekte von Praktiken des kritischen Kartierens herausgearbeitet, womit Kartieren (1) als Mittel zur Sammlung vielfältiger Wahrnehmungen von Dingen, (2) als Mittel für spielerisch-experimentelles In-Beziehung-Setzen dieser und (3) als Mittel zur Herstellung visueller Re-Imaginationen verstanden werden kann. Diese Perspektive ermöglicht eine Anerkennung der Systematik, Ergebnisoffenheit und re-imaginativen Kraft künstlerisch-kartographischer Erkenntnisprozesse. Eine Neuausrichtung von Projekten des kritischen Kartierens entlang dieser drei Aspekte könnte deren gesellschaftliche Möglichkeiten bzw. sozialräumliche Implikationen stärken. Insofern wird mit der vorgestellten Perspektive dazu aufgerufen, raumbezogene Forschung durch künstlerisch-kartographisches Engagement transdisziplinärer, prozesshafter und politischer zu machen.

Kartieren im künstlerischen Forschungsmodus: Konzeptionelle Überlegungen und Verfahren Die Auseinandersetzung mit künstlerischen und kartographischen Praktiken und Prozessen der Wissensproduktion knüpft an verschiedenen Debatten an, von denen hier nur exemplarisch zwei Felder angesprochen werden: Als wissenschaftliche Methode der Exploration und Erkenntnisgewinnung werden zum Beispiel epistemisches Zeichnen (vgl. Dickel/Keßler 2019) und qualitatives Kartieren im Rahmen transdisziplinärer Forschungsstrategien (vgl. Streule 2020) thematisiert. Zudem kann an empirische Auseinandersetzungen mit wissenschaftlich-aktivistisch-künstlerischen Praktiken geovisueller Wissensproduktion (vgl. Michel 2017) und künstlerisch-kartographischen Ref lexionspraxen (vgl. Mesquita 2018; Arbeitsgruppe Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten 2018) angeknüpft werden. Auch wenn einige dieser Beiträge an ein Verständnis von »art as mode of critical exploration« (Hawkins 2013: 53) anschließen, scheinen theoretische Perspektiven künstlerisch-kartographischer Forschungspraxis bisher weniger ausgearbeitet zu sein. Die Grundzüge des hier vorgestellten Konzepts knüpfen an zwei Beiträge an, die im Feld der bildenden Künste (vgl. Klein 2018) und der aktivistischen Stadtforschung (vgl. Sachs Olsen/Tödtli 2016) bereits ausgearbeitet wurden.

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Das hieraus entwickelte Konzept versteht kritisches Kartieren als künstlerische Forschungspraxis, die sich erstens einer möglichst systematischen Erfassung und Sammlung der widersprüchlichen Vielfalt sinnlicher und semiotischer Wahrnehmungsweisen von sozialräumlichen Gegebenheiten widmet. Zweitens fokussiert die Perspektive darauf, wie diese Vielfalt spielerisch-experimentell in eine Kopräsenz gebracht werden kann. Drittens liegt der Blick auf den in spielerisch-experimenteller Praxis geschaffenen künstlerischen Re-Imaginationen, in denen die Vielzahl von Wahrnehmungsweisen sozialräumlicher Angelegenheiten erfahrbar gemacht und somit potenziell neu gedacht, praktiziert, mitgestaltet werden kann. Relevant für die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung ist diese Perspektive dann, wenn sie trotz ihrer begriff lichen Komplexität einen praktikablen Zugang bietet, um erkenntnisbezogene Aspekte kritischen Kartierens beschreib-, analysier- und anwendbarer zu machen. Die Perspektive kann als methodischer Ansatz genutzt werden für wissenschaftliche und aktivistische Praktiken, die sich mit künstlerischen Mitteln einsetzen für eine partizipatorische, eingreifende, »antizipatorisch utopische Praxis« (Sachs Olsen/Tödtli 2016: 199). Eine anschauliche Hinführung1 zum konzeptionellen Verständnis von künstlerischer Praxis als Mittel der Erkenntnisgewinnung bietet die Beschreibung künstlerischer Tätigkeit durch den Künstler und Designer Patricio Dávila: »I draw a diagram that f loats between my concept of a thing and the actual thing […]. I draw it for myself to help me think and to help me communicate to others.« (Ebd. 2019: 4) In seinem Verständnis sind die Entstehungsprozesse von Visualisierungen also sowohl durch Konzeptionen von Dingen als auch durch die sinnliche Wahrnehmung verdinglichter (Re-)Präsentationen strukturiert. Er ergänzt, dass eine sinnliche Wahrnehmung hierbei nicht auf Praktiken des Sehens begrenzt ist: »[…] a diagram also describes a non-visual thing. It describes an arrangement of things that are felt.« (Ebd.) In diesem Zitat wird künstlerische Praxis beschrieben als Auseinandersetzung mit Dingen, die einerseits von sinnlicher (auch: ästhetischer) Wahrnehmung und andererseits von Deutungen (auch: semiotischen Konzepten) geleitet ist. Ausgehend von dieser Beschreibung wird im Folgenden zuerst ein Begriff von Dingen aufgegriffen, der unter anderem in kunsttheoretischen Beiträgen (vgl. z.B. Klein 2009: 106; Borries 2016: 16) verwendet wird, die sich mit erkenntnisbezogenen und partizipatorischen Möglichkeiten künstlerischer Praxis befassen. Anschließend wird ein konzeptionelles Äquivalent zu Dávilas Beschreibung von künstlerischer Praxis entwickelt. Versteht man den im Zitat verwendeten Begriff things im Rückgriff auf einen weiten Dingbegriff, umfasst dieser »ebenso das sinnlich Bemerkbare, als [auch] das Übersinnliche, das Gedachte« (Grimm/Grimm 2021 [1860]: o.S., eigene Einfügung). Aus einer im weiteren Sinne sozialkonstruktivistischen Sicht liegt das Interesse an diesen bemerkbaren und gedachten Dingen unter anderem darin, sie als matters of concern (vgl. Latour 2004) zu verstehen, also als »Dinge von Belang[, als] komplexe und kontroverse öffentliche Angelegenheiten« (Stephan 2014: 118, eigene Einfügung). Analysiert 1 Die Hinführung zu den konzeptionellen Aspekten des Abschnitts basiert hinsichtlich des Zitats von Dávila und der Ausführung zum Dingbegriff von Grimm/Grimm auf einem Textabschnitt, der zu einem früheren Zeitpunkt für einen anderen, noch unveröffentlichten Beitrag geschrieben, hier jedoch weiterentwickelt wurde (vgl. Bauer/Langer, i.E.).

Kritisches Kartieren als künstlerischer Forschungsmodus

werden diese Dinge dann dahingehend, wie sie alltäglich wahrgenommen, konstruiert und produziert werden – beispielsweise auch in Praktiken kritischen Kartierens. Liest man das Zitat von Dávila mit dem Verständnis eines solchen Dingbegriffs, so lässt sich erstens feststellen, dass sich Kunstpraxis mit komplexen Angelegenheiten auseinandersetzt, indem in ihr sowohl sinnliche Wahrnehmungen (how things are felt) als auch individuelle oder kollektiv geteilte Perspektiven (my concepts) mit künstlerischen Mitteln angeeignet, ref lektiert und visualisiert werden. Zweitens kann, unter der Voraussetzung einer Betrachtung künstlerischer Auseinandersetzung mit kontroversen öffentlichen Angelegenheiten, Kunstpraxis somit auch verstanden werden als eine »partizipatorische politische Praxis, die Brüche, Meinungsverschiedenheiten, Antagonismus und Wertepluralismus fördert« (Sachs Olsen/Tödtli 2016: 189) und so ein »Zusammenleben […] in Koexistenz« (ebd.: 191) vordenkt. Kritisch ist eine solche Praxis insbesondere dann, wenn sie »den [t]eilnehmenden [Dingen] Arenen bietet, wo sie sich versammeln können« (Latour 2007 [2004]: 55, eigene Einfügung), wenn sie also durch systematische (Ver-)Sammlung eine Kopräsenz von kontroversen Sichtweisen und Wahrnehmungen komplexer Angelegenheiten erlaubt. Eine Theoretisierung, die sich an die Beschreibung Dávilas anknüpfen lässt, hat der Komponist und Theaterregisseur Julian Klein in seinem Ansatz künstlerischer Forschung ausgearbeitet. Er befasst sich mit künstlerischer Praxis, die ein Erkenntnisstreben verfolgt bzw. aus einer systematischen Arbeitsweise heraus neues Wissen zur Interpretation von Dingen schafft (vgl. Klein 2018: 82). Sein Ansatz fasst den künstlerischen Forschungsmodus als eine Praktik der Aufarbeitung und Verfügbarmachung vielschichtiger ästhetischer und semiotischer Wahrnehmungsweisen. Auf bauend auf seinen Ausführungen lassen sich drei Schritte eines künstlerischen Forschungsmodus herausarbeiten. Die drei Schritte umfassen (1) die (Ver-)Sammlung vielfältiger Wahrnehmungen, (2) das spielerisch-experimentelle In-Beziehung-Setzen dieser versammelten Wahrnehmungen und (3) die künstlerische Re-Imagination von Dingen bzw. sozialräumlichen Angelegenheiten. Während Klein (2018) die ersten beiden Schritte anhand konkreter Beispiele beschreibt, bleibt der dritte Aspekt abstrakt. Hier lässt sich an einen Beitrag der Geographin Cecilie Sachs Olsen und der Urbanistin Sabeth Tödtli (2016) anknüpfen, welcher künstlerische Re-Imaginationen in raumtheoretische Debatten einbindet und an Interventionen aus dem Umfeld künstlerischer Stadtforschung illustriert. Der erste Schritt, hier als (Ver-)Sammlung vielfältiger Wahrnehmungen bezeichnet, fokussiert darauf, sich die Vielzahl eigener und fremder, sinnlich-ästhetischer und semiotisch-deutender Wahrnehmungsweisen von Dingen anzueignen und zu versammeln (vgl. Klein 2018: 81f.). Dies erfordert, so Klein, eine Fähigkeit des SichHineinversetzens in Wahrnehmungsweisen aus verschiedensten Kontexten wie zum Beispiel alltägliche ästhetische Erfahrungen und wissenschaftliche Deutungen/Konzepte. Diese Fähigkeit ist laut Klein besonders im künstlerischen Ausbildungs- und Kompetenzbereich zu finden (vgl. Klein/Tröndle 2011: 140). Der zweite Schritt, hier als In-Beziehung-Setzen vielfältiger Wahrnehmungen bezeichnet, fokussiert darauf, sich mit den im ersten Schritt versammelten Wahrnehmungen auseinanderzusetzen, indem mögliche Beziehungen zwischen diesen Wahrnehmungen spielerisch-experimentell mit künstlerischen – also unter anderem auch kartographischen – Techniken erkundet werden. Ziel dieser Experimente ist die Zusammenstellung der versammelten Ding-Wahrnehmungen in einem Arrangement,

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in welchem »mehrere Wirklichkeitsebenen gleichzeitig aktiviert sind und sich durch Rahmungen […] voneinander abgrenzen lassen« (Klein 2015: 43). Dieses Arrangement in Form einer künstlerischen Re-Imagination umzusetzen (z.B. in Form einer kartographisch inspirierten Darstellung), welche den spielerisch-experimentellen Prozess nachzuempfinden ermöglicht, ist Fokus des nächsten Schrittes. Der dritte Schritt, hier als Re-Imagination sozialräumlicher Angelegenheiten bezeichnet, fokussiert auf künstlerisch-schöpferische Umsetzungen. Diese zielen darauf, die Vielfalt von Wahrnehmungsweisen erfahrbar zu machen, indem sie in Kopräsenz gebracht und ausgewählte Beziehungen zwischen ihnen genauer analysiert und hinterfragt werden. So werden grundsätzlich unterschiedliche, scheinbar inkommensurable Wahrnehmungsweisen (vgl. Klein 2018: 84) nebeneinandergestellt. Diese Arrangements zielen mit Sachs Olsen und Tödtli nicht auf eine konsensorientierte Überwindung von Sichtweisen, Brüchen, Meinungsverschiedenheiten und Antagonismen, sondern darauf, Einstiege zu bieten, welche deren Koexistenz (vgl. ebd. 2016: 189) erfahrbar, denkbar, praktizierbar und umsetzbar machen (vgl. ebd.: 202) bzw. plurale Sichtweisen auf Angelegenheiten ermöglichen. Künstlerische »Re-Imagination« (ebd.: 197) bzw. »artistic knowledge« (Klein 2018: 84) trägt in diesem Verständnis dazu bei, neue Formen des Partizipierens zu etablieren, die sich dann ergeben, wenn über angebotene Neu-Rahmungen ein Einstieg in die Auseinandersetzung folgt, der dann gegebenenfalls zu einer Veränderung von Sichtweisen und Alltagspraktiken führen kann (vgl. Sachs Olsen/Tödtli 2016: 202). Bezogen auf Karten könnten solche Re-Imaginationen zum Beispiel Karten sein, welche die Differenz überbrücken zwischen etablierten Darstellungsformen mit einem kartesisch konditionierten Blick von oben und anderen Darstellungsweisen, welche die komplexen Relationen von Zusammenleben innerhalb der kritischen Zone2 des Planeten Erde visualisieren. Insgesamt wird der künstlerische Forschungsmodus hier als eine erkenntnisorientierte Praktik verstanden, in der eine Vielzahl an Wahrnehmungsweisen von Dingen/sozialräumlichen Angelegenheiten (1) versammelt, (2) experimentell in Kopräsenz gebracht und (3) in Form künstlerischer Re-Imaginationen erfahrbar gemacht wird (vgl. Tab. 1).

2 Der Begriff der kritischen Zone wurde in mehreren (geo-)wissenschaftlichen Disziplinen geprägt. Er bezeichnet die nur wenige Kilometer dünne Oberfläche der Erde (vgl. Arènes/Latour/Gaillardet 2018: 121). Hier wird der Begriff verwendet, um in Anschluss an Bruno Latour die Relevanz eines Perspektivwechsels von einer Gallilei’schen Draufsicht auf die Erde hin zu einem terrestrischen Fokus auf das Zusammenleben von Lebensformen innerhalb der kritischen Zone zu betonen. Latour legt dies u.a. im performativen Vortrag »Moving Earths« dar, vgl. http://zonecritique.org/moving-earths/ (zuletzt aufgerufen am 29.03.2021).

Kritisches Kartieren als künstlerischer Forschungsmodus

Tabelle 1: Drei Schritte der künstlerischen Forschungspraxis Schritt

(1)

(2)

(3)

Fokus

Systematische Erfassung vielfältiger (sinnlicher und deutender) Wahrnehmungsweisen

Ergebnisoffenes, spielerischexperimentelles In-Beziehung-Setzen von (1)

Re-Imagination von raumbezogenen Angelegenheiten mittels (2)

Ziel

(Ver-)Sammlung vielfälti- Kopräsenz entwickeln ger Wahrnehmungsweisen

Kopräsenz erlebbar machen, Koexistenz denkbar machen

Quelle: Eigene Darstellung

Nicht in jedem kritischen Kartenprojekt sind die drei genannten Schritte präsent. Vielmehr geht Klein davon aus, dass »the artistic mode can be employed in different phases and for different aims during the research process. For example, it can play a role in the initial motivation of a research topic, problem or question. It also can occur during the development and design of a project, or in phases of investigation, discussion, experimentation, data collection or interaction with people. It may shape some of the products of the project, or the dissemination of the knowledge gained. […] There exist research projects where the artistic mode is only employed in a comparably limited, defined phase (which may not even necessarily be connected to a published product). And there are examples where the artistic mode permeates the whole process.« (Klein 2018: 84) Die soziale Organisation des Prozesses knüpft er nicht an spezifische, beispielsweise intra- und transdisziplinäre Konstellationen oder Formate (wie z.B. Workshops und/ oder webbasierte crowd-Funktionen). Jedoch scheinen ihm kollaborative und transdisziplinäre Momente nützlich, um die Vielfalt von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Expertisen zu einer Angelegenheit zusammenzuführen (vgl. Klein 2015: 48f.).

Beispiele künstlerisch-kartographischer Forschungspraxis: Deep Mapping und »Mapping Postkolonial« In diesem Abschnitt werden die konzeptionellen Aspekte künstlerischer Forschung an zwei ausgewählten künstlerisch-kartographischen Praktiken nachvollzogen. Beide Beispiele durchlaufen die drei Schritte auf unterschiedliche Weise. Das erste Beispiel beschreibt die Praktik des Deep Mappings. Es wurde ausgewählt, da es sich besonders zur Illustration des ersten Schrittes eignet, also deutlich macht, wie in Praktiken des Deep Mappings und auf einer Deep Map vielfältige Wahrnehmungsweisen angeeignet und versammelt werden. Als zweites Beispiel wird das Projekt »Mapping Postkolonial« vorgestellt. Auch an diesem Beispiel lassen sich alle drei Schritte nachvollziehen, besonders eignet es sich jedoch zur Illustration des dritten Schrittes, der vielschichtigen Re-Imagination einer sozialräumlichen Angelegenheit. Mittels interaktiver (karto-)graphischer

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Darstellung erzeugt »Mapping Postkolonial« eine visuelle Kopräsenz von Drauf- und Innensichten (post-)kolonialer Verhältnisse. Der zweite Schritt, also das spielerischexperimentelle In-Beziehung-Setzen vielfältiger Wahrnehmungsweisen, wird hier als empirisch nur ansatzweise rekonstruierbare Schnittstelle zwischen Schritt 1 und 3 begriffen und thematisiert, jedoch nicht ausführlich am Beispiel dargestellt.

Fallbeispiel 1: Künstlerisch-kartographische Forschung als (Ver-)Sammlung vielfältiger Wahrnehmungen Wie im Rahmen von Praktiken kritischen Kartierens vielfältige Wahrnehmungen zu einer Angelegenheit angeeignet und auf einer Karte versammelt werden, veranschaulicht der Ansatz des Deep Mappings (vgl. Bloom 2018: 300ff.). Anliegen dieser ethnographisch orientierten Praktik ist es, »dichte Beschreibungen« (Bloom/Sacramento 2017: 24) von Orten zu erarbeiten. Dabei wird angestrebt, die Erfordernisse oder Bedürfnisse marginalisierter menschlicher Individuen und Gruppen und anderer Lebensformen (z.B. bedrohte Tier- und Pf lanzenarten) sowie verwüsteter, beispielsweise postindustrieller Landschaften aufzuarbeiten und sichtbarer zu machen (vgl. ebd.: 11). In diesem Prozess werden auch (karto-)graphische Visualisierungen erstellt – allerdings weniger im Verständnis topographischer Kartographie als vielmehr im Sinne von concept maps, deren graphische und textliche Elemente im kollaborativen Prozess erarbeitet werden. Im Gegensatz zu konventionellen »flat maps [that] were to represent the territory-as-property, […]. Deep Maps […] restore the grit and the friction of everyday life. […] Deep Mapping is about doing things differently from ordinary cartography, shifting away from large expanses of territory. Rather, it is about the small, the subjective, the embodied, the thick, and the porous. It is about digging deeply rather than gazing widely.« (Ebd.: 23, eigene Einfügung) Beim Deep Mapping geht es also – anders als in den topographischen Generalisierungsverfahren der Kartographie – darum, sich mit einem Ort vertiefend auseinanderzusetzen und die dort auffindbaren alltäglichen Konf liktlinien von Zusammenleben innerhalb der kritischen Zone (s.o.) sichtbarer zu machen: »Making a Deep Map is a way to be conscious of a place in such a manner as to hold multiple layers of understanding of the present moment in a non-reductive and robust manner.« (Bloom 2018: 301) Um dieses Orts-Bewusstsein zu erarbeiten, wurden zum Beispiel für einen Deep-Mapping-Workshop zu De-Industrialisierung und »post-oil-culture« (ebd.) Orte ausgewählt, die durch eine Vielfalt geologischer, ökologischer und postindustrieller Einf lüsse geprägt sind. Diese Orte wurden über mehrere Zugänge und Aktivitäten erschlossen (vgl. Abb. 1). So fanden, wie in Abbildung 1 mit den Fotos in der obersten Reihe illustriert, Übungen zur Schulung der Sinne, Diskussionen, Vorträge durch externe Referent*innen und Wanderungen, beispielsweise mit Ökolog*innen und Bodenkundler*innen, statt (vgl. Bloom 2018: 301). In diesen Formaten wurden ästhetische Wahrnehmungen, Erinnerungen, emotionale und psychische Verständnisse, Eindrücke von Geologie, Landschaft, Fauna und Flora, Witterung, Wissen über und Deutung von historischen und aktuellen Nutzungsweisen, modernen Infrastrukturen usw. zum Ort gesammelt (vgl. ebd.).

Kritisches Kartieren als künstlerischer Forschungsmodus

Insgesamt lassen sich die genannten Praktiken des Deep Mappings als Beispiel für einen künstlerisch-kartographischen Forschungsmodus verstehen, bei dem ein sehr breiter Zugang zur (Ver-)Sammlung von vielfältigen sinnlich-ästhetischen und semiotisch-deutenden Wahrnehmungen gelegt wird. Abbildung 1: Deep Mapping als künstlerischer Forschungsmodus in drei Schritten

Quelle: Eigene Abbildung auf Basis von Bildquellen zu Deep-Mapping-Workshops

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Fallbeispiel 2: Künstlerisch-kartographische Forschung als Re-Imagination sozialräumlicher Angelegenheiten Wie unterschiedliche Wahrnehmungsschichten zu einem Themenfeld in Beziehung gesetzt, künstlerisch-kartographisch re-imaginiert und erfahrbar gemacht werden, lässt sich am Beispiel des Projekts »Mapping Postkolonial«3 zeigen. »Die [Webs]eite [des Projekts] ist […] auf den ersten Blick fast leer. Scheinbar ohne bestimmte Ordnung verteilen sich blasse Kreuze auf einer weißen Fläche. Nähert [man sich ihnen mittels Mauszeiger], verdunkeln sich die Kreuze und kurze Titel erscheinen […]. Ein Klick und weitere Informationen erscheinen. Nach einiger Zeit wird deutlich, dass es sich um eine Karte handelt, die Spuren der kolonialen Vergangenheit und postkolonialen Gegenwart in München verortet.« (Bahl et al. 2015: 104, eigene Einfügung) Das Projekt visualisiert (post-)koloniale Spuren im Münchner Stadtraum, verknüpft sie zu Erzählungen und Schichten, welche – sichtbar oder unsichtbar – die (post-)koloniale Stadt prägen (vgl. ebd.). Entsprechend werden vier Perspektiven zur Erkundung von (Post-)Kolonialismus angeboten: (a) »Spuren« von (Post-)Kolonialismus im Stadtbild, (b) »Erzählungen«, die einzelne »Spuren« miteinander verknüpfen, (c) »Schichten«, in denen »Spuren« als Beispiele für theoretische Debatten zu (Post-)Kolonialität gerahmt werden, und (d) »Gespenster«, die auf alltäglich auffindbare und normalisierte Schatten kolonialer Denk- und Handlungsweisen verweisen (vgl. Abb. 2). Die webbasierte interaktive Visualisierung knüpft in reduzierter Form an kartographische Darstellungskonventionen an, indem »Spuren« von (Post-)Kolonialismus georeferenziert und in genordeter Ausrichtung auf weißem Untergrund verzeichnet werden. Diese topographische Logik wird aufgebrochen, indem bei Aktivierung mehrerer »Spuren« die Umrisslinien von Polygonen, »Erzählungen«, interaktiv eingeblendet werden, welche einen Teil der aktivierten und weitere »Spuren« einschließen. Diese Polygone erscheinen, wenn ein Teil der aktivierten »Spuren« personen- oder gruppenbezogen ähnliche Aspekte aufweist (z.B. wird eine »Spur«, die das Denkmal eines Kolonialbildhauers markiert, mit seinen anderen Werken verknüpft und eine »Erzählung« zur Person eingeblendet). Wenn mehrere »Spuren« Bezüge zu einem bestehenden theoretischen Diskurs über Kolonialismus und Rassismus aufweisen, wird eine weitere »Schicht« eingeblendet. Zudem tauchen hin und wieder hörbare, unscharf gezeichnete Schemen zwischen den »Spuren« auf: »Gespenster« des Kolonialismus. Hier werden weitere kulturell normalisierte bildliche und begriff liche Kolonialismen aufgezeigt, welche sich potenziell auch als »Spuren« verorten und zu neuen Kombinationen von »Erzählungen«, »Schichten« oder anderen Perspektiven verknüpfen lassen. Das temporäre, unscharfe Erscheinen dieser »Gespenster« hält davon ab, die Visualisierung mit ihren interaktiv angelegten Explorationspfaden als abgeschlossenes Ergebnis zu verstehen. Vielmehr ermöglicht es einen offeneren Blick auf die Dynamik und Vielschichtigkeit des Themas. Die spezifisch in Beziehung gesetzten »Spuren« bilden zusammen eine Kopräsenz von Weisen des Auffindens, Erzählens, Theoretisierens und des alltäglichen (Re-)Produzierens von (Post-)Kolonialität. Diese Kopräsenz wird erfahrbar gemacht, indem sie 3 Vgl. Webseite des Projekts »Mapping Postkolonial«: https://mapping.postkolonial.net/ (zuletzt aufgerufen 16.03.2021).

Kritisches Kartieren als künstlerischer Forschungsmodus

einerseits an etablierte kartographische Darstellungsweisen anknüpft (»Spuren«) und andererseits durch nichtgeoreferenzierte graphische, textliche und bildliche Elemente (»Erzählungen«, »Schichten«, »Gespenster«) ergänzt wird. Während in der klassischen Kartographie aus topographischer Perspektive Vielfalt über Ebenen und Kategorien gerahmt wird, so erfolgt dies im vorliegenden Beispiel über gleichzeitige Verfügbarmachung mehrerer Perspektiven: topographisch, narrativ, theoretisch und gespenstisch. Folgendes Zitat verdeutlicht dies: »›Die im kartografischen Blick angelegte Darstellung jenseits einer definitiven Perspektive erlaubt es, Inhalte und Erfahrungen von unterschiedlichen Akteuren auf eine gemeinsame Ebene zu übersetzen, an- und umzuordnen und so temporäre Konstellationen zur Darstellung zu bringen.‹ Mapping stellt somit den Versuch dar, ›über andere Abbildung 2: »Mapping Postkolonial« als künstlerischer Forschungsmodus, hier mit Fokus auf Schritt 3

Quelle: Eigene Abbildung auf Basis von Bildquellen aus dem Projekt

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Erzählungen auch neue Perspektiven zu eröffnen‹ und ermöglicht eine kontinuierliche und kollektive Erweiterung des bestehenden Wissens.« (Pfeiffer/Zölls 2010: 48 mit Zitaten von Labor K 3000/Spillmann 2010: 283, 287) Somit geht es in dem Projekt auch explizit darum, »in den öffentlichen Diskurs zu intervenieren« (Pfeiffer/Zölls 2010: 46). Jedoch baut diese Intervention weniger auf die Macht der Karte als Repräsentation, als einem »fertigen Stadtplan« (ebd.: 47). Vielmehr ist es das Anliegen, den »offenen und fortlaufenden Prozess des Schreibens und Überschreibens« (ebd.) von (post-)kolonialen Spuren und Denkmustern für die Webseite-Besucher*innen erfahrbar zu machen. Das Projekt »Mapping Postkolonial« kann somit insgesamt als Beispiel für einen künstlerisch-kartographischen Forschungsmodus verstanden werden, bei dem als Methode der Teilhabe an Erkenntnisprozessen zu einer sozialräumlichen Angelegenheit eine Re-Imagination entwickelt wird, die den Fokus auf die Darstellung unabgeschlossener Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse legt und dafür eine Kopräsenz vielfältiger Perspektiven präsentiert.

Perspektiven für ein Kartieren im künstlerischen Forschungsmodus: »Macht Karten und Kunst!« Die beiden Beispiele illustrieren jeweils mit spezifischem Fokus, wie künstlerisch-kartographische Erkenntnisprozesse genutzt werden können, um (1) systematisch Wahrnehmungsweisen aus unterschiedlichen Erfahrungsfeldern zu versammeln, (2) diese in ergebnisoffenen, kollaborativen Prozessen in Beziehungen zu setzen und dabei zum Beispiel hinsichtlich materieller und sozialer Voraussetzungen und Möglichkeiten zu hinterfragen sowie (3) Re-Imaginationen zu entwickeln, welche Zusammenleben in einer Koexistenz von Sichtweisen denk-, erleb- und gestaltbar machen. In diesem Sinne ist dieser Text auch als Aufforderung zu verstehen, kritisches Kartieren mithilfe der drei vorgeschlagenen Aspekte als Projekt künstlerischen Forschens zu konzipieren, zu optimieren, zu praktizieren. Ein Fokus auf diese prozesshaften Aspekte könnte dem partizipatorischen Anspruch kritischen Kartierens eine Basis schaffen. Zur stärkeren Ausgestaltung von Forschungsprozessen entlang der drei Aspekte des künstlerischen Forschungsmodus mittels kritischem, künstlerischem Kartieren liefern die Fallbeispiele Ansatzpunkte für weitere Ref lexionen. So weist das Fallbeispiel zu Praktiken des Deep Mappings darauf hin, dass die Sammlung vielfältiger Wahrnehmungsweisen immer auch hinsichtlich der Selektivität ref lektiert werden muss, die durch die zur Verfügung gestellten Impulse, Zugänge, Aktivitäten und Erfahrungshintergründe der Teilnehmenden vorgegeben ist. Beide Beispiele verweisen auf die Notwendigkeit weiterer Ref lexionen darüber, wie und inwieweit die Präsentationsformen künstlerisch-kartographischer Re-Imaginationen tatsächlich Einstiege in ergebnisoffene Erkenntnisprozesse ermöglichen, um kontroverse Angelegenheiten plural denken, praktizieren und mitgestalten zu können. Hierfür ist, wie der Ansatz des Deep Mappings nahelegt, eine Teilnahme an den Workshops oder eine aktive Auseinandersetzung mit der vornehmlich textlich gefassten Workshop-Dokumentation erforderlich. Das Projekt »Mapping Postkolonial« zeigt hier eine weitere, raumzeitlich entkoppelte Möglichkeit zur spielerischen Erkundung vielfältiger Sicht- bzw. Wahrnehmungsweisen. Die kartenorientierte interaktive Darstellung sowie die temporä-

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ren, unscharfen Erscheinungen dienen als Mittel zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit einer dynamischen und vielschichtigen Angelegenheit. Das mögliche Spektrum pluraler Sichtweisen ist hier vordergründig begrenzt durch die Erarbeitung und interaktive Visualisierung bestimmter »Spuren«, »Erzählungen«, »Schichten« und »Gespenster«. Durch einen Einstieg in den Auseinandersetzungsprozess wird jedoch deutlich, dass die interaktiv vorstrukturierten Möglichkeiten eher exemplarisch angelegt und zumindest theoretisch offen für Erweiterungen sind.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Klein, Julian (2018): »The Mode is the Method Or How Research Can Become Artistic«, in: Jobertová, Daniela/Koubová, Alice (Hg.), Artistic Research: Is There Some Method? Prag: Academy of Performing Arts, S. 80-85. Der Text von Klein bietet einen knappen, theoretisch anspruchsvollen Einstieg in eine Konzeptualisierung künstlerischer Forschungspraxis. Sachs Olsen, Cecilie/Tödtli, Sabeth (2016): »Re-Imagination des Urbanen: Stadtforschung mit sozial-artistischen Methoden«, in: Oehler, Patrick/Thomas, Nicola/ Drilling, Matthias (Hg.), Soziale Arbeit in der unternehmerischen Stadt. Wiesbaden: VS Springer, S. 187-203. An Beispielen künstlerisch-geographischer Annäherungen verdeutlichen Sachs Olsen und Tödtli Potenziale von Kunstpraxis als kollektive und partizipatorische Stadtforschung. *** Arbeitsgruppe Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten (2018): »C/Artographies of Positionality. Or how we try to situate ourselves as a Working Group in Academia«, in: kollektiv orangotango+ (Hg.), This Is Not an Atlas, Bielefeld: transcript, S. 296-301. Arènes, Alexandra/Latour, Bruno/Gaillardet, Jérôme (2018): »Giving depth to the surface: An exercise in the Gaia-graphy of critical zones«, in: The Anthropocene Review 5 (2), S. 120-135. Bahl, Eva/Goeke, Simon/Pfeiffer, Zara/Zölls, Philip (2015): »mapping.postkolonial.net. Spuren | Schichten | Gespenster«, in: Bahl, Eva/Bergh, Sarah/Della, Tahir/Pfeiffer, Zara S./Rühlemann, Martin W. (Hg.), Decolonize München. Dokumentation und Debatte, München: Edition Assemblage, S.104-105 Bauer, Lea/Langer, Marcel (i.E.): »Künstlerische Auseinandersetzungen mit der ›Sorbischen Lausitz‹«, in: Piňosová, Jana/Hose, Susanne/Langer, Marcel (Hg.), Minderheiten – Macht – Natur. Verhandlungen im Zeitalter des Nationalstaats, Bautzen: Spisy Serbskeho instituta 69, o.S. Bloom, Brett (2018): »Deep Maps«, in: kollektiv orangotango+ (Hg.), This Is Not an Atlas. Bielefeld: transcript, S. 302-305. Bloom, Brett/Sacramento, Nuno (2017): Deep Mapping, Auburn: Breakdown Break Down Press. Borries, Friedrich von (2016): Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin: Suhrkamp.

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Dávila, Patricio (2019): »Visualizing, Mapping, and Performing Resistance«, in: Dávila, Patricio (Hg.), Diagrams of Power and Performing Resistance, Eindhoven: onomatopee, S. 4-9. Dickel, Mirka/Keßler, Lisa (2019): »Zwischen sinnlichem Erleben und sprachlich-rationalem Begreifen: zur Ref lexion der ästhetischen Dimension der Forschung in der Geographie«, in: Europa Regional 26.2018 (1), S. 49-61. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (2021 [1860]): Deutsches Wörterbuch, Band 2, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21. Siehe https://www.woerterbuchnetz.de/DWB vom 25.03.2021. Hawkins, Harriet (2013): »Geography and art. An expanding field: Site, the body and practice«, in: Progress in Human Geography 37 (1), S. 52-71. Klein, Julian (2009): »Zur Dynamik bewegter Körper. Die Grundlage der ästhetischen Relativitätstheorie«, in: Klein, Julian (Hg.), per.SPICE! – Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen, Berlin: Theater der Zeit, S. 104-134. Klein, Julian (2015): »Künstlerische Forschung gibt es gar nicht Und wie es ihr gelang, sich nicht davor zu fürchten«, in: Jürgens, Anna-Sophie/Tesche, Tassilo (Hg.), LaborARTorium, Bielefeld: transcript, S. 43-51. Klein, Julian (2018): »The Mode is the Method Or How Research Can Become Artistic«, in: Jobertová, Daniela/Koubová, Alice (Hg.), Artistic Research: Is There Some Method? Prag: Academy of Performing Arts, S. 80-85. Klein, Julian/Tröndle, Martin (2011): »Wie kann Forschung künstlerisch sein?«, in: Tröndle, Martin/Warmers, Julia (Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld: transcript, S. 139-150. Labor K 3000/Spillmann, Peter (2010): »Der kartografische Blick versus Strategien des Mapping«, in: Hess, Sabine/Kasparek, Bernd (Hg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 281-287. Latour, Bruno (2004): »Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern«, in: Critical Inquiry 30 (2), S. 225-248. Latour, Bruno (2007 [2004]): Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich: diaphanes. Mesquita, André (2018): »Politics, Art and the Insurrection of Maps«, in: kollektiv orangotango+ (Hg.), This Is Not an Atlas, Bielefeld: transcript, S. 26-30. Michel, Boris (2017): »Forensische Blicke und Praktiken Kritischer Geovisualisierung. Ein Besprechungsessay«, ACME: An International Journal for Critical Geographies 16 (4), S. 687-712. Pfeiffer, Zara/Zölls, Philip: (2010): »Mapping postcolonial positions. Spuren kolonialer Geschichte in München«, in: Hinterland. Vierteljahresmagazin für kein Ruhiges 15, S. 44-49. Sachs Olsen, Cecilie/Tödtli, Sabeth (2016): »Re-Imagination des Urbanen: Stadtforschung mit sozial-artistischen Methoden«, in: Oehler, Patrick/Thomas, Nicola/ Drilling, Matthias (Hg.), Soziale Arbeit in der unternehmerischen Stadt (= Quartiersforschung), Wiesbaden: Springer VS, S. 187-203. Stephan, Peter Friedrich (2014): »Matters of Concern – Designaufgaben der Next Society«, in: Revue – Magazine for the Next Society 16, S. 118-123. Streule, Monika (2020) »Doing Mobile Ethnography: Grounded, Situated and Comparative«, in: Urban Studies 57 (2), S. 421-438.

Ästhetisches Kartieren – Mapping als Praxis geographischer Forschung zu räumlicher Erfahrung Fabian Pettig

Abstract Das künstlerisch-kartographische Forschungsrepertoire Mapping ermöglicht die Berücksichtigung der leiblichen Dimension räumlicher Erfahrung in sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsprojekten.

Forschungsrepertoire zwischen Wahrnehmung und Darstellung »Acts of mapping are creative, sometimes anxious, moments in the coming to knowledge of the world.« (Cosgrove 1999: 2) Unter Mapping wird in diesem Beitrag ein intermediales Verfahren der Auseinandersetzung mit Räumlichkeit verstanden, welches zwar kartographisch organisiert ist, aber zugleich die Konventionen traditioneller Kartographie überschreitet. Mapping ist eine ästhetische Forschungspraxis und »Recherchemethode für ortsspezifisches Arbeiten« (Möntmann 2004: 17). Damit lösen sich die über künstlerische Mapping-Verfahren entstehenden Kartographien von der Idee einer vermeintlich exakten Wiedergabe des geographischen Realraumes. Vielmehr streben künstlerische Kartographien »die Lesbarkeit der heutigen Stadt an, […] als Möglichkeit der Erfahrungserweiterung des urbanen Lebensalltags« (Cosgrove 2004: 45). Es geht darum, sich den Spezifika von Orten und Räumen anzunähern und sich selbst zu diesen in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise »produzieren [Mappings] Begriffe eines sozialen Raums, der an den Rändern offen ist – für subjektive und subversive Aneignungen, die gesellschaftliche Realitäten widerspiegeln und neue schaffen können« (Möntmann 2004: 22). Vor diesem Hintergrund schafft Mapping vielfach Möglichkeiten, sich Sinn- und Erfahrungsschichten an Orten und in Räumen zu erschließen, die sich konventioneller kartographischer Verfahren verweigern. Mapping-Verfahren umfassen entsprechend auch kreative und multimediale Formate der Darstellung und organisieren sich als fortlaufender Prozess des explorativen Sich-Einlassens auf Orte, des experimentellen und absichtsvollen Aufzeichnens sowie des Suchens nach Darstellungsmöglichkeiten für das vor Ort räumlich Wahrgenommene, Gespürte und Erlebte.

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In Forschungsprojekten ist der Einbezug der Methode einerseits in Studien möglich, welche die räumlichen Erfahrungen des Forscher*innensubjekts ins Zentrum stellen. Hier ergeben sich auch Bezüge und Verbindungsmöglichkeiten zu anderen qualitativen Ansätzen, beispielsweise phänomenologischen oder mikrologischen Methoden (vgl. Hasse 2017). Andererseits ist auch der Einsatz von Mapping-Verfahren als Datenerhebungsmethode im Rahmen von Studien möglich, in denen räumliche Erfahrungen von Teilnehmer*innen sowie deren Darstellung in Forschungsprojekten adressiert werden sollen (vgl. Pettig 2019). Dabei ergeben sich methodische Synergien zur ref lexiven Fotografie (vgl. Dierksmeier 2007, 2013) oder auch zu prozessbegleitenden Forschungstagebüchern (vgl. Sabisch 2015). Die Auswertung erfolgt der Methodologie entsprechend rekonstruktiv, das heißt beispielsweise dokumentarisch oder mittels Grounded-Theory-Methodologie.

Kartographien räumlicher Erfahrung: Eckpunkte und Begriffe Seinen Ursprung hat diese Form des Mappings im Kunstprojekt »Atlas Mapping. Künstler als Kartographen, Kartographie als Kultur« (Bianchi/Folie 1997). Ein Schwerpunkt der in diesem Kontext entstandenen Arbeiten lag darauf, über ästhetische Kartographien die Grenzverläufe zwischen Kunst und Geographie auszuloten und neu zu bestimmen. So wurden kartographisch verzeichnete Ordnungsmuster von Welt künstlerisch befragt und der repräsentationale Charakter der Kartographie ästhetisch herausgefordert. Im Kern zielten die Arbeiten darauf ab, etablierten Lesarten der Welt künstlerisch-kartographische Gegenentwürfe, das heißt selbstgemachtes Mapping, zur Seite zu stellen und hierüber tradierte Kartographien zu hinterfragen (vgl. Bianchi 1997). Seither fand der Begriff »Mapping« Einzug in eine Reihe unterschiedlicher Kontexte, seine begriff liche Verwendung ist heute entsprechend diffus. Hier wird eine genuin geographische Lesart des ästhetischen Forschungsrepertoires Mapping verfolgt. Nachfolgend wird diese Lesart entlang von zwei methodologischen Horizonten entfaltet und zugleich deren Relevanz für geographische Fragestellungen herausgestellt. Mapping wird dabei als performative Praxis zwischen der Begegnung mit Orten und der Erkundung von Räumen verstanden. Anschließend wird ein Handlungsrahmen für die Planung, Durchführung und Ref lexion von Mapping-Projekten in kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive entworfen, der auch für fachdidaktische Fragestellungen Relevanz besitzt (vgl. Pettig 2016, 2019). Anhand des Fallbeispiels einer von Schüler*innen im Rahmen eines Unterrichtsprojekts erarbeiteten Atmosphärenkartierung wird dieser Handlungsrahmen im letzten Teil methodisch ausgeführt.

Über Ort und Raum Den ersten methodologischen Horizont stellt die einer geographischen Lesart künstlerischer Mapping-Verfahren zugrunde liegende Beziehung von Ort und Raum dar. Mapping-Projekte zielen nicht auf die Abbildkartierung des Containerraumes, sondern auf die forschend-explorative Analyse räumlicher Erfahrungen an Orten des Alltags. Hierin drückt sich ein anthropologisches Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Raum aus, welches zugleich das epistemologische Fenster von Mapping-

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Verfahren rahmt. Mensch und Raum sind in diesem Verständnis unauf lösbar aufeinander bezogen: »Der Mensch befindet sich nicht im Raum, wie ein Gegenstand sich etwa in einer Schachtel befindet, und er verhält sich auch nicht so zum Raum, als ob zunächst etwas wie ein raumloses Subjekt vorhanden wäre, […] sondern das Leben besteht ursprünglich in diesem Verhältnis zum Raum und kann davon nicht einmal in Gedanken abgelöst werden.« (Bollnow 1963: 23) Vor diesem Hintergrund macht Mapping einerseits Raum erfahrbar und bringt ihn andererseits immer auch hervor, indem er erkundet und kartographisch verzeichnet wird. Den Sozial- und Kulturwissenschaften steht ein raumtheoretisch mehrsprachiger Fundus zur Verfügung, solche Prozesse des Erfahrens und Verzeichnens in Sprache zu bringen (vgl. die Pluralisierung der Raumbegriffe im Zuge des Cultural Turn). Das, was während eines Mapping-Projekts an Orten auffällig wurde, wofür bislang aber eine Sprache fehlt, lässt sich raumtheoretisch unterschiedlich in den Blick nehmen. In diesem Sinne ist das Mapping Medium der Hervorbringung räumlicher Erfahrungen und wird über die raumtheoretische Ref lexion der Auffälligkeiten vor Ort fachlich perspektiviert. Ort meint dabei mehr als die topographische Verortung. Jeder Ort zeichnet sich auch immer durch seine Historizität und gewachsene Bedeutungen aus, denn Orte verkörpern Sehnsüchte und Erfahrungen von Menschen (vgl. Tuan 1979: 387). Infolgedessen sind Orte untrennbar mit dem Erleben verschränkt (Hasse 2014: 51). Zwar sind Orte für Jürgen Hasse im Raum lokalisierbar, aber erst über das konkrete sinnliche Erleben entfalten sie ihre vielschichtigen räumlichen Implikationen. Der Ortsbegriff zielt für ihn damit im Unterschied zum Raumbegriff auf das konkrete Erleben einer bestimmten Situation an einem spezifischen Ort ab: »Während der Begriff des Raumes aufgrund seiner wissenschaftstheoretischen Heterogenität und ontologischen Vielschichtigkeit, vor allem aber aufgrund seiner Abstraktheit, in einem eher verdeckten als unmittelbar spürbaren Verhältnis zum individuellen Umgebungserleben steht, hat der Begriff des Ortes den methodologischen Vorzug seiner unmittelbaren Verflochtenheit mit der Situation einer sich ›verortenden‹ Person. […] Jeder Ort hat Raumcharakter, der sich im Erleben individuell aktualisiert.« (Ebd.: 50) Es lässt sich festhalten, dass das abstrakte Konzept Raum an Orten einen Ausdruck für jemanden finden kann, indem Raum über jemanden in der konkreten Begegnung vor Ort zuallererst hervorgebracht wird. Damit ist gemeint, dass räumliche Bedingungen an Orten spür- und erlebbar werden: über die Sinne, als Gefühle, in Perspektiven und Strukturen. Orte entfalten räumlich Wirkung und werden von jemandem leiblich erfahren. Während sich mit dem Ortsbegriff also Erfahrungsweisen und Erfahrungen an Orten und in Begegnung mit Orten beschreiben lassen, lassen sich mit dem Raumbegriff Bedeutungszuschreibungen, Narrationen, Praktiken usw. thematisieren, die Räumlichkeit fortwährend und immer wieder neu produzieren. Beide Begriffe sind komplementäre Bezugspunkte räumlicher Erfahrungen. Mapping-Projekte finden ihren Ausgang im konkreten Erleben, sie öffnen Orte und erschließen Räume.

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Zur Performativität der Karte Der zweite methodologische Horizont einer geographischen Lesart des Mappings fokussiert die Prozessualität der Kartenproduktion. Gegenüber einem Verständnis, welches die Karte allein als repräsentationales Medium begreift – also deren Verweischarakter betont –, wird damit der Prozess des Werdens der Karte – und hierüber das schöpferische Potenzial des Kartierens – hervorgehoben. Leichter verständlich wird diese Akzentverschiebung mit Mikki Muhr, die betont, dass anfangs noch gar nicht klar ist, was alles bei künstlerischen Mapping-Verfahren aufgezeichnet wird, »denn die Karte entsteht beim Zeichnen« (Muhr 2014: 2). Allerdings gibt es aufgrund der für Mapping-Verfahren konstitutiven Intermedialität zwangsläufig Übersetzungsprozesse von einem Format in ein anderes, also zum Beispiel von der Zeichnung in den Text, wenn eine Darstellungsweise an ihre Grenzen gerät. So kreist die künstlerische Kartographie »zwischen nach außen gerichteter Aufmerksamkeit (exkursieren, perzipieren), nach innen gerichteten Verarbeitungsprozessen (zeichnen, schreiben, erinnern) und austauschorientierten Verhandlungen (Karten zeigen, befragen, erläutern, thematisch überarbeiten)« (Muhr 2012a: 426, 2012b: 103). Insofern können Unstimmigkeiten und Fragwürdiges an den Grenzen der jeweiligen Ausdrucksform sichtbar werden. Die Ref lexion und das Neu-Denken der eigenen Aufzeichnungen – auch im Austausch mit anderen – erlauben es, das Fragwürdige aufzuspüren. Das, was eingangs nur als Auffälligkeit spürbar war, scheint dann zwischen den Formaten auf und wird, in Form von Fragen, thematisierbar. Der Mehrwert von Mapping-Projekten in der Forschung ist dann, es zu ermöglichen, Fragen zu räumlichen Bedingungen an spezifischen Orten über das Erleben zu finden. Denn indem vermeintlich bekannten Orten mit forschendem Blick begegnet wird, kann Raum auf vielfältige Weise entdeckt, zum Thema gemacht sowie gängige Lesarten und Deutungshoheiten hinterfragt werden. Der Erkenntnisgewinn stellt sich dann nach dem Mapping in der Ref lexion des Projekts auf Grundlage der Entdeckungen während des Aufzeichnens ein (Busse 2008: 18). Es geht also immer auch um das Erkunden des Anderen, bislang Verborgenen im Bekannten und um das Erkennen und Strukturieren von vormals »weißen Flecken« (Schnurr 2010: 29). Insofern wird auch deutlich, inwieweit die künstlerische Kartographie performativ ist, denn über das Mapping tritt etwas zutage, was zuvor vielleicht spürbar, aber nicht konkret ausdrück-, fass- bzw. bestimmbar war. Mapping muss damit als performativer Vollzug verstanden werden, welcher Erfahrungen nicht schlicht repräsentiert, sondern vielmehr an deren Genese immer auch beteiligt ist. Im Zuge eines Mappings entstehen »neue Gedanken, Assoziationen und Ref lexionsmöglichkeiten, die es ohne diese Aufzeichnungs- und Präsentationsform so nicht gegeben hätte« (Heil 2008: o.S.). Für Klaus-Peter Busse (2007: 163) ist die künstlerische Kartographie in diesem Sinne »poietisch, weil sie etwas hervorbringt, was zuvor als Sinn oder konstituierende Bedeutung nicht sichtbar ist.« Auch Paolo Bianchi unterstreicht diesen Aspekt: »Künstler erzeugen die Wirklichkeit, die sie kartieren, indem sie sie kartieren.« (Bianchi 1997: 16) Die individuelle Auseinandersetzung mit dem vor Ort Affizierenden im Mapping gleicht einem Ordnungsprozess, über welchen Erfahrungen an bestimmten Orten entlang deren räumlicher Implikationen sichtbar und damit thematisierbar gemacht werden. Diese Form der Kartographie kreist damit um die Fragen, »wie man das zu

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Tage fördert, was noch nicht bekannt oder gefunden ist, und wie man das darstellen kann, was man beim Suchen wahrnimmt und dann gefunden hat« (Busse 2007: 193).

Methodik und Fallbeispiel: Die Atmosphärenkartierung von Sümmern Die Erarbeitung eines geographisch informierten Mappings lässt sich als mehrphasiger iterativer Prozess konzeptualisieren, der Planungs-, Durchführungs- und Ref lexionsmomente umfasst. In der Praxis gehen die einzelnen Teilschritte der Durchführungsphase – Ortsbegegnung, sichten und strukturieren, Raumerkundung – häufig f ließend ineinander über, und so ist eher ein spiralförmiger als ein sequenzieller Forschungsprozess zu erwarten. Denn Raum wird mittels Mapping-Verfahren zugleich »als Forscher, Flaneur, Entdecker oder Tourist« (Busse 2007: 153) erkundet. Im Folgenden werden die einzelnen Verfahrensschritte ausgeführt, Impulsfragen zur Durchführung eigener Mapping-Projekte formuliert und die Schritte exemplarisch anhand eines Fallbeispiels aus einer geographiedidaktischen Studie1 nachvollzogen. Im Rahmen der hier zur Verdeutlichung herangezogenen Studie wurde ein stadtteilbezogenes Mapping im Rahmen einer Projektwoche mit Schüler*innen einer neunten Klasse realisiert. Mehrere Arbeitsgruppen forschten zu unterschiedlichen Schwerpunkten und eigenen Fragestellungen an der künstlerisch-geographischen Erschließung sowie der Ergründung kollektiver und der Artikulation subjektiver Bedeutungszuschreibungen von Teilen ihrer Heimatstadt.

Planung 1. Vorbereitung Zu Beginn des Projekts werden – allein oder in einer Arbeitsgruppe – erste Ideen für die Arbeit vor Ort gesammelt und es wird ein möglicher Fokus für das Projekt fixiert. Es ist wichtig, den Fokus nicht zu eng zu setzen, sodass es möglich bleibt, sich für Überraschendes und Plötzliches im Forschungsprozess offenzuhalten. Dabei ist es hilfreich, die eigenen Erwartungen an den Arbeitsprozess zu formulieren, um im weiteren Verlauf auf diese zurückkommen zu können und Ref lexion zu ermöglichen, beispielsweise indem Unerwartetes oder Abweichendes bestimmt wird. In dieser Phase sollten auch technische Aspekte geklärt sowie Hilfsmittel für multimediale Aufzeichnungen bereitgestellt werden. Impulsfragen zur Durchführung: • Was ist mir für dieses Forschungsprojekt wichtig? • Welcher Ort wird/welche Orte werden warum einbezogen? • Welche ersten offenen Fragen leitet die Begehung des Ortes bzw. der Orte?

1 Pettig, »Kartographische Streifzüge«, 2019.

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Im Fallbeispiel findet sich eine Arbeitsgruppe aus vier Schüler*innen zusammen und hält im ersten Schritt Erwartungen an den zur Kartierung festgelegten Stadtteil ihrer Heimatstadt in einer Mindmap fest. Dieser wird unter anderem als »unbekannt« und als »Industriegebiet« attribuiert, aber auch als Teil ihrer »Kindheit« bestimmt. Die Gruppe legt als Ziel für ihr Projekt fest, eine detaillierte Flächennutzungskartierung einer zentralen Straßenachse im abgesteckten Gebiet anzufertigen.

Durchführung 2. Ortsbegegnungen Die Durchführung findet ihren Anfang mit der Begehung, dem Probieren und Experimentieren vor Ort und der offenen multimedialen Dokumentation des Erlebten (Texte, Skizzen, Fotos, Audio- und Videoaufnahmen, Artefakte usw.). Es geht in diesem Schritt sowohl um das Flanieren als auch um das bewusste Sich-Einlassen auf den jeweiligen Forschungsort, um das Spüren besonderer Atmosphären. Denn Orte geben sich nicht allein ref lexiv, sondern im ersten Schritt leiblich preis. Sie sprechen uns als Wahrnehmende über alle Sinne an, nehmen uns unbewusst in Beschlag und evozieren Stimmungen (Arlt 1999: 216). Zugleich erlauben sie es uns so, mit ihnen auf vielerlei Weise in Beziehung zu treten, das Unbewusste zu explizieren und auf diese Weise der Forschung zugänglich zu machen. In diesem Sinne muss man sich als Forscher*in vor Ort offenhalten, um Neues im vermeintlich Bekannten aufspüren zu können. So kann es vor Ort möglich werden, »etwas von mir und meiner Planung Unabhängiges, das mir in der Begegnung überraschend entgegentritt, etwas Zufälliges und nicht Voraussehbares« (Bollnow 1955: 15) in Erfahrung zu bringen. Dies kann über die gezielte »Entkonventionalisierung« (Hobler 2013: 18) etablierter Wahrnehmungsmuster und Handlungsroutinen gelingen, indem etwa ganz gezielt neue Wege eingeschlagen oder Beobachtungs- und Aufzeichnungsmodi bewusst verändert werden, um Sehgewohnheiten zu verfremden. Ein Beispiel hierfür sind die Blickfeldkarten des Hamburger Künstlers Till Krause.2 Er kartiert die Sichtweiten auf seiner schnurgeraden Wanderung von Kiel nach Hamburg, ohne sich dabei an den vorgefundenen Straßen und Wegen zu orientieren. Indem gewohnte Routinen – hier: abgesteckte Pfade – verlassen werden, wird es möglich, neue Perspektiven auf bereits Bekanntes, Vertrautes und auch Fremdes aufzuspüren. Über Entkonventionalisierungen und den Versuch, Begegnungen wahrscheinlicher zu machen, werden Orte neu in Erscheinung gebracht und wird Fragwürdiges sichtbar, dem im Mapping nachgegangen und kartographisch Ausdruck verliehen werden kann. Impulsfragen zur Durchführung: • Was fällt vor Ort auf? Welche Muster, Strukturen, Abweichungen, Einzelphänomene werden auffällig? • Welche Geräusche, Gerüche, Lichtverhältnisse, Blickachsen usw. finde ich vor? • Welche neuen Perspektiven kann ich einnehmen? 2 Achse Kiel–Hamburg, Blickfeldkarte, 2001 (https://bonvoyage.ludwigforum.de/till-krause-achsekiel-hamburg-blickfeldkarte/).

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• Welche Eindrücke habe ich erwartet, welche nicht? Welche neuen Eindrücke gewinne ich vor Ort? Die Arbeitsgruppe begibt sich vor Ort, kartiert die Straßenzüge und f laniert durch den Stadtteil. Es werden Zeichnungen auffälliger Häuserfronten angefertigt, Symbole in eine Kartenskizze eingetragen, Gespräche mit Ansässigen geführt, Notizen gemacht. Beim Besuch der Grundschule wird auffällig, dass das Gelände unterschiedliche Assoziationen hervorruft. So wird der Schulhof gleichermaßen als unruhig und hektisch wie auch als vertraut und beruhigend wahrgenommen und gedeutet.

3. Sichten und strukturieren In einer anschließenden Phase werden die multimedialen Archive und Sammlungen gesichtet. Ziel hierbei ist es, Spuren im Material zu entdecken, denen im weiteren Verlauf nachgegangen werden kann. Einerseits ist es möglich, das Material an den eingangs formulierten Erwartungen zu spiegeln und gezielt Abweichungen herauszuarbeiten. Andererseits können auch Strukturen im Material gesucht werden, welche die weitere Arbeit in der Folge fokussieren können. In dieser Phase ist es überaus gewinnbringend, über das Material und über Auffälligkeiten im Material mit anderen Forschenden in einen Austausch zu gelangen und in die theoriegeleitete Ref lexion über die Fundstücke zu treten. Als Ergebnis dieses Arbeitsschrittes stehen die Formulierung einer tragfähigen Forschungsfrage sowie die Konkretisierung des weiteren Vorgehens im Vordergrund. In diesem Zusammenhang ist auch die Zuspitzung der Aufzeichnungspraktiken ratsam. Impulsfragen zur Durchführung: • Welche Strukturen, Muster und Abweichungen werden sichtbar? • Welcher räumlichen Spezifik möchte ich am Untersuchungsort nachgehen (Narrative, soziale Praktiken usw.)? Welche Ansätze sind zur Ref lexion und Durchdringung der Auffälligkeiten hilfreich? • Welche konkrete Fragestellung ergibt sich aus der bisherigen Arbeit, den ersten Eindrücken, der Sichtung und Strukturierung sowie der theoretischen Ref lexion? • Mithilfe welcher Aufzeichnungspraktiken kann ich dieses Anliegen verfolgen?

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Im Projekt nimmt die Arbeitsgruppe die unterschiedlichen Assoziationen mit der Grundschule zum Anlass, ihr Material nach den verschiedenen Bedeutungen zu sichten. Gibt es weitere »hektische« oder »vertraute« Orte im Forschungsgebiet? Wie werden weitere Orte wahrgenommen und gedeutet? Dabei werden auch räumliche Eindrücke thematisiert, welche die Stimmungen und Attribuierungen verstärken oder unterlaufen. Aus dem produktiven Austausch mit den anderen Arbeitsgruppen sowie der Lehrkraft ergibt sich für die Erkundungsphase die Zuspitzung auf die Kartierung unterschiedlicher Wahrnehmungen und Atmosphären ausgewählter Orte. Der ursprüngliche Plan, den Stadtteil mittels einer Flächennutzungskartierung zu verzeichnen, hält dem Erleben vor Ort nicht stand. Nun wird, wie die Gruppe selbst festhält, die Etablierung eines »neuen Blicks auf den Ort« über »bewusste Wahrnehmung« angestrebt. Neben einer »Verortung« unterschiedlicher Stimmungen ist die Gruppe dabei auch an der fotografischen Verdichtung atmosphärischer Eindrücke interessiert; hierfür wählt sie eine Fisheye-Linse und legt weitere Orte im Forschungsgebiet für die Erkundungsphase fest.

4. Raumerkundungen Im Unterschied zum Modus der Begegnung zielt die Erkundung auf das absichtsvolle Erforschen räumlicher Bedingungen an spezifischen Orten. Der Erkundung wird sowohl eine Forschungsfrage zugrunde gelegt als auch adäquate Dokumentationspraktiken zu deren Bearbeitung angewandt. Zugleich dient diese Phase dazu, Strukturen des Räumlichen offenzulegen und geeignete Möglichkeiten der Darstellung im Mapping zu finden. Über solche Ordnungsprozesse wird es möglich, räumliches Erleben an konkreten Orten der wissenschaftlichen Ref lexion zugänglich zu machen, oder anders: räumliche Erfahrungen zu dokumentieren und zu ref lektieren. Indem Strukturen des Räumlichen erkundet werden, können ebenso die diesen zugrunde liegenden Gestaltungsprinzipien Gegenstand der Erkundung bzw. des Mappings sein. Neben subjektivem Erleben geht es also auch um raumrelevante Fragen gezielter Inszenierung, diskursiver Raumproduktion oder verkörperter und materialisierter Machtverhältnisse. In der Erkundung werden derart polyvalente »Möglichkeitsräume« (vgl. Davy 2002) fokussiert und deren Analyse angestrebt. Diese zeichnen sich für Benjamin Davy durch ihre Mehrdeutigkeit, Unübersichtlichkeit oder auch Interpretationsbedürftigkeit aus (ebd.: 531). An konkreten Orten überlagern sich unterschiedliche Räumlichkeiten (vgl. Lefebvre 1991); Möglichkeitsräume verweigern sich daher klarer Grenzziehung. Wo Bekanntes auf Unbekanntes, Eigenes auf Fremdes trifft, bilden sich Möglichkeitsräume (Davy 2002: 531). Die Erkundungsphase unterstreicht Phänomene, die »am Rand der üblichen Wahrnehmung liegen« (ebd.: 530) und erlaubt das strukturierte Verstehen deren räumlicher Implikationen. Das heißt, dass sich über Mapping Schichten von Orten und Räumen medial in Erfahrung bringen lassen und zugleich kommunizierbar werden, die im Alltag häufig unbewusst bzw. unref lektiert bleiben, für das Verstehen der Besonderheiten eines jeweiligen Raumes aber unabdingbar sind. Es geht in der Erkundungsphase also beispielsweise um die gezielte Dokumentation von Wahrnehmungsmustern, Gefühlen, Stimmungen, Atmosphären und weiteren Charakteristika, die räumlich spürbar werden und Raum im Erleben hervorbringen und produzieren. Mapping wirft (und erlaubt) also auch einen

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Blick auf gesellschaftliche Raumproduktionsmuster und -mechanismen, macht diese vom Erleben her der Forschung zugänglich und wissenschaftlich ref lektierbar. Impulsfragen zur Durchführung: • Sind die Aufzeichnungspraktiken geeignet, um meine Forschungsfrage zu bearbeiten? • Welche Aspekte bleiben im Zuge der Erkundung ungeklärt? Die Erkundungsphase wird von der Arbeitsgruppe dazu genutzt, zielgerichtet Material zur Verarbeitung im Mapping zu generieren. Einen großen Stellenwert nehmen hierbei Fotos atmosphärisch dichter Orte ein, welche mittels einer auf einem Teleskopstab montierten GoPro-Kamera gemacht werden. Über den zusätzlichen Einsatz einer Fisheye-Linse beabsichtigt die Gruppe, ungewohnte Perspektiven bzw. ganz grundsätzlich »andere Blicke auf bereits Bekanntes« zu ermöglichen. Auch die Kartierung von Farbstrukturen dient der Bestimmung unterschiedlicher Atmosphären im Forschungsgebiet.

Reflexion 5. Räumliche Erfahrungen darstellen und reflektieren Die leitende Fragestellung bei der Gestaltung des fixierten Mappings lautet: Auf welche Weise lässt sich das, was in der Ortsbegegnung Gestalt gewann und dem in der Raumerkundung nachgegangen wurde, angemessen artikulieren? Hierzu ist es notwendig, das Erlebte nicht in gängige kartographische Konventionen zu gießen, sondern diese zu sprengen. Ein geographisch informiertes Mapping verschränkt daher in aller Regel klassisch-kartographische und künstlerisch-kreative Darstellungsweisen zu collagenartigen Formaten, die zwischen Genauigkeit und Offenheit oszillieren. Dabei zeigt die Bandbreite von Mapping-Verfahren auch, dass Reiz und Gewinn gerade im Suchen nach geeigneten Darstellungsformen und dem Experimentieren mit dem Material liegen. Fixierte Mappings sind dementsprechend vielgestaltig. Solch interpretationsbedürftige Neubewertungen von Raum mittels Mapping sorgen dann dafür, dass andere Sichtweisen auf vermeintlich alltägliche und scheinbar eindeutige Orte und Räume artikuliert werden und die Ref lexion über Räumlichkeit und die eigenen räumlichen Erfahrungen angeregt wird. Mittels Etablierung eigener Sichtweisen über den produktiven Austausch über diese mit anderen kann es auch möglich werden, eigene Erfahrungen zu ref lektieren und zu aktualisieren. Impulsfragen zur Durchführung: • Welche Formate erlauben eine angemessene Darstellung der Bearbeitung meiner Forschungsfrage? • Welche Blicke artikuliert das Mapping? Welche Perspektiven bleiben verborgen? • Welche Aussagekraft hat das Mapping? Welche Leerstellen werden sichtbar? • Welche Anschlussfragen eröffnet das Mapping?

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Das aus dem Material zusammengestellte Mapping wird von der Arbeitsgruppe als Atmosphärenkartierung bezeichnet. Entlang von im Projekt auffällig gewordenen Stimmungen werden einander überlagernde atmosphärische Eindrücke im Forschungsgebiet verortet und zusätzlich fotografisch exemplifiziert. Abbildung 1: Mapping »Die Atmosphärenkartierung von Sümmern«, Schüler*innenarbeit

Quelle: Pettig 2019: 199

In einer abschließenden Vernissage werden die fixierten Mappings aller Arbeitsgruppen der Schulöffentlichkeit vorgestellt und als Gesprächsanlass genutzt. Der Austausch ermöglicht die Etablierung und Kommunikation eigener Sichtweisen und des Erlebens von Stadt. Es zeigt sich, dass bestimmte räumliche Erfahrungen geteilt werden, auch wenn erst das Mapping und der dialogische Austausch diese geteilten Erfahrungen bewusst gemacht haben.

Dem großen Potenzial von Mapping-Verfahren für sozial- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen stehen einige methodische Schwierigkeiten und methodologische Grenzen gegenüber. In methodischer Hinsicht ist unter anderem auf den großen Zeitaufwand in der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Mapping-Projekten hinzuweisen. Der multimediale Materialkorpus, der im Zuge von Mapping-Projekten (sowohl bei Kartographien eigener räumlicher Erfahrungen als auch bei der Begleitforschung zu Kartographien räumlicher Erfahrung von Projektteilnehmer*innen) entsteht, verlangt darüber hinaus auch nach innovativen Formaten der Bearbeitung. In der Regel müssen methodenplurale Konzepte der Auf bereitung und Auswertung im jeweiligen Projekt gegenstandsadäquat entwickelt werden. In methodologischer Hinsicht stellen sich vor allem Fragen zur prinzipiellen Möglichkeit, Ortsbegegnungen und Raumerkundungen wie dargelegt durchzuführen. Ein einfaches und problem-

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loses Ablegen eingeschliffener, das heißt erfahrungsbezogener und theoretisch präformierter, Sehgewohnheiten ist forschungspraktisch kaum plausibel. Zwar tragen methodenimmanente Schritte wie zum Beispiel die Entkonventionalisierung oder die theoretisch ref lektierte Erkundung diesem Umstand Rechnung, eine Garantie dafür, dass »wirklich Neues« im Phänomen entdeckt und nicht lediglich bereits Gewusstes wiederentdeckt wird, lässt sich aber dennoch nicht geben. Das ist in gewisser Weise allerdings auch zu begrüßen, denn das Forscher*innensubjekt aus dem Forschungsprozess ausklammern zu wollen, ist kein Anliegen der hier diskutierten Methode kritischer Kartographie.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Möntmann, Nina/Dziewior, Yilmaz/Galerie für Landschaftskunst (Hg.) (2004): Mapping a City, Hamburg: Hatje Cantz. Der Sammelband vereint unterschiedliche Perspektiven auf Mapping-Verfahren und lässt dabei mehrere Disziplinen in fruchtbaren Dialog treten. Daneben werden auch Einblicke in das umfangreiche Mapping-Projekt »Hamburg-Kartierung« und die hier entstandenen künstlerischen Kartographien, unter anderem von Till Krause, gewährt. Busse, Klaus-Peter (2007): Vom Bild zum Ort: Mapping lernen (= Dortmunder Schriften zur Kunst, Band 3), Norderstedt: Books on Demand. Im kunstpädagogischen Band diskutiert der Autor Potenziale, Herausforderungen und Umsetzungsmöglichkeiten von Mapping-Projekten sowohl theoretisch als auch an praktischen Beispielen. Die schulnahen Überlegungen liefern auch Impulse für Mapping-Projekte im universitären Kontext. *** Arlt, Peter (1999): »Lästige Zonen – Gewöhnliche Orte«, in: Kunstforum International 27 (145), S. 213-223. Bianchi, Paolo (1997): »Das (Ent)Falten der Karte«, in: Bianchi, Paolo/Folie, Sabine (Hg.), Atlas Mapping. Künstler als Kartographen, Kartographie als Kultur, Wien: Turia + Kant, S. 14-19. Bianchi, Paolo/Folie, Sabine (1997): Atlas Mapping. Künstler als Kartographen, Kartographie als Kultur, Wien: Turia + Kant. Bollnow, Otto Friedrich (1955): »Begegnung und Bildung«, in: Zeitschrift für Pädagogik 1 (1), S. 10-32. Bollnow, Otto Friedrich (1963): Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer. Busse, Klaus-Peter (2007): Vom Bild zum Ort: Mapping lernen (= Dortmunder Schriften zur Kunst, Band 3), Norderstedt: Books on Demand. Busse, Klaus-Peter (2008): »Den Atlas öffnen«, in: Preuss, Rudolf (Hg.), Mapping Brackel (= Studien zur Kunstdidaktik, Band 7), Norderstedt: Books on Demand, S. 1522. Cosgrove, Denis (2004): »Karto-City. Kartografie und Stadtraum«, in: Möntmann, Nina/Dziewior, Yilmaz/Galerie für Landschaftskunst (Hg.), Mapping a City, Hamburg: Hatje Cantz, S. 32-57.

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Cosgrove, Denis (Hg.) (1999): Mappings, London: Reaktion Books. Davy, Benjamin (2002): »Wilde Grenzen – Die Städteregion Ruhr 2030 als Möglichkeitsraum«, in: Informationen zur Raumentwicklung 7 (9), S. 527-537. Dierksmeier, Peter (2007): »Der husserlsche Bildbegriff als theoretische Grundlage der ref lexiven Fotografie: Ein Beitrag zur visuellen Methodologie in der Humangeographie«, in: Social Geography 2 (1), S. 1-10. Dierksmeier, Peter (2013): »Zur Methodologie und Performativität qualitativer visueller Methoden – Die Beispiele der Autofotografie und ref lexiven Fotografie«, in: Rothfuß, Eberhard/Dörf ler, Thomas (Hg.), Raumbezogene qualitative Sozialforschung, Wiesbaden: Springer, S. 83-101. Hasse, Jürgen (2014): »Lernen aus Ortsbegegnungen«, in: Schneider, Maria/Pries, Michael (Hg.), Bildungsräume in Bewegung. Perspektiven aus Wissenschaft, Wirtschaft und Praxis (= In Bewegung, Band 2), Bielefeld: Bertelsmann, S. 49-64. Hasse, Jürgen (2017): Mikrologien räumlichen Erlebens, Freiburg: Karl Alber. Heil, Christine (2008): Kunstunterricht kartieren. Handlungsräume im Unterricht herstellen und erforschen, Kunstportal Didaktik-Archiv, Schroedel Verlag. Siehe: www.kunstlinks.de/material/peez/2008-04-heil.pdf vom 12.06.2021. Hobler, Theresa (2013): »›Ich habe mir Offenburg erlaufen‹. Mapping im Rahmen der Fortbildungstage für Jugendschuldozenten in Offenburg«, in: BDK Mitteilungen 49 (3), S. 17-20. Lefebvre, Henri (1991): The Production of Space, Oxford: Blackwell. Möntmann, Nina (2004): »Mapping. A Response to a Discourse«, in: Möntmann, Nina/ Dziewior, Yilmaz/Galerie für Landschaftskunst (Hg.), Mapping a City, Hamburg: Hatje Cantz, S. 14-31. Muhr, Mikki (2012a): »Die Performativität der Karte«, in: Reder, Christian (Hg.), Kartographisches Denken, Wien: Springer, S. 426-429. Muhr, Mikki (2012b): »Sich Verzeichnen – mit Karten sich im Zwischenraum orientieren«, in: Magazin erwachsenenbildung.at 6 (15), S. 99-108. Muhr, Mikki (2014): »Sich Verzeichnen – trotz und mittels Differenzen. Beim Kartieren Verhältnisse bilden und Reste lassen«, in: Art Education Research 5 (8), S. 1-5. Pettig, Fabian (2016): »Mapping – Möglichkeitsräume erfahren. An- und Aufsichten im Geographieunterricht am Beispiel Berlins«, in: Gryl, Inga (Hg.), Ref lexive Kartenarbeit. Methoden und Aufgaben, Braunschweig: Westermann, S. 194-198. Pettig, Fabian (2019): Kartographische Streifzüge. Ein Baustein zur phänomenologischen Grundlegung der Geographiedidaktik (= Sozial- und Kulturgeographie, Band 29), Bielefeld: transcript. Sabisch, Andrea (2015): Inszenierung der Suche. Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch, Bielefeld: transcript. Schnurr, Ansgar (2010): »Schutzräume – Erinnerungsräume: Ein Mapping-Projekt zum Verschwinden der Bunker«, in: BDK-Mitteilungen 46 (3), S. 27-33. Tuan, Yi-Fu (1979): »Space and Place: Humanistic Perspective«, in: Gale, Stephen/Olsson, Gunnar (Hg.), Philosophy in Geography (= Theory and Decision Library, Volume 20), Dordrecht: Reidel, S. 387-427.

Comics und Relief Maps als feministische Kartographien der Positionalität Katharina Schmidt, Katrin Singer, Martina Neuburger

Abstract Mappings von Positionalität in Form von Comics der Positionalität und intersektionalem Mapping machen die Komplexität, Nichtlinearität und Hybridität von Diskriminierungs- und Privilegierungsmechanismen entlang von intersektionalen Kategorien sichtbar und zeigen Wege und Strategien der Emanzipation auf.

Individuelle Positionen im Raum Karten bilden klassischerweise ein Instrument, mit dem Verortungen, Lagebeziehungen und Bewegungen von naturräumlichen, sozioökonomischen, politisch-kulturellen und weiteren Phänomenen der »realen Welt« dargestellt werden. Die scheinbare Eindeutigkeit solcher Darstellungen wird von Vertreter*innen der Kritischen Kartographie schon seit Langem hinterfragt. Sie weisen auf die Konstruiertheit von Karten hin und dekonstruieren den damit verbundenen machtvollen Herstellungsprozess, um eben diese Machtverhältnisse offenzulegen. Entsprechend versuchen Ansätze des kritischen Kartierens, entweder über die Wahl von spezifischen Themen, Daten und Materialien Inhalte darzustellen, die bestehende Machtverhältnisse aufdecken und hinterfragen, oder über die Verschiebung der Autor*innenschaft hin zu marginalisierten und subalternen Akteuren deren Perspektiven auf die Welt sichtbar zu machen. Besonders bei Letzteren stehen meist Gruppenperspektiven im Vordergrund, die in kollektiven Kartierungsprozessen herausgearbeitet und dokumentiert werden. Dabei geraten einerseits die eigene Positionalität und Emotionalität der forschenden Person sowie ihre Bedeutung für die Inhalte und Struktur von Forschungsergebnissen aus dem Blick. Andererseits werden Vielfältigkeit und Dynamiken von individuellen Perspektiven und Emotionen von Beforschten unsichtbar oder verschwimmen in kollektiven Prozessen. Diese Diskussionen rund um Positionalität sind bis heute vorrangig in feministischen Arbeiten zu finden und haben im breiten Wissenschaftskanon, so auch in der Kartographie, bisher wenig Beachtung und nur vereinzelte Versuche der methodischen Übersetzung erfahren. Kartographien der Positionalität, die auf feministischen Theorien, Perspektiven und Konzepten aufbauen, helfen, diese Lücken im Forschungsprozess zu schließen. Sie können Positionalität und Emotionalität von Forschenden sowie Beforschten sichtbar und zum Thema von Diskussionen und Veränderungsprozessen machen. Die Methode des

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Comics der Positionalität ermöglicht es der*dem Forschenden, die eigene Position entlang von identitätsstiftenden und/oder intersektionalen Kategorien zu thematisieren und sie aktiv und explizit in den Forschungskontext einzubringen. Damit gibt die forschende Person von sich etwas preis, was sie von den Beforschten ihrerseits einfordert, sodass beide Erfahrungshorizonte miteinander in Dialog treten können und ein gegenseitiges Verständnis entstehen kann. Die Methode der Relief Maps als Teil intersektionaler Mappings identifiziert darüber hinaus räumlich differenzierte Emotionalitäten entlang von Intersektionen und macht damit komplexe, nichtlineare und hybride Wirkungsmechanismen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen in unterschiedlichen räumlichen Kontexten deutlich. Die in Forschungspraktiken meist impliziten oder auch expliziten Solidaritäts-, Freundschafts- oder Vertrauensbekundungen enthalten häufig verdeckte Ungleichheiten, Diskriminierungsprozesse und Hierarchisierungen, welche durch ein solches Mapping sichtbar werden. Das Aufdecken solcher Dynamiken kann gleichzeitig emanzipatorische Wirkung haben, indem sie verhandelbar und damit veränderbar werden.

Feministische Kartographien der Positionalität »Situated knowledges are particularly powerful tools to produce maps of consciousness […].« (Haraway 1991: 111) Inspiriert von den machtkritischen Positionierungen von Schwarzen, Indigenen und PoC sowie queeren Wissenschaftler*innen (u.a. für die Geographie sind dies Laura Pulido, Sharlene Mollet, Caroline Faria, Katherine McKittrick, Margaret Marietta Ramírez, Michelle Daigle, Corinna Humuza und Emma Monama), verfolgen feministische Kartographien der Positionalität das Ziel, Räume, in denen und von denen aus spezifisches Wissen artikuliert wird, sicht- und damit verhandelbar zu machen. Dadurch wird nicht nur die Person, sondern auch ihre gesellschaftliche Stellung, von der aus sie ihr Wissen artikuliert, markiert und im jeweils spezifischen historischen, sozioökonomischen und politischen Kontext verortet. Kartographische Methoden sind tief verwurzelt in einem »geographischen Blick« auf das sogenannte Andere. Entsprechend erzählen Karten, egal ob klassisch oder kritisch, meist Geschichten über »woanders« und reproduzieren dabei häufig koloniale Kontinuitäten. Angeblich »leere« Räume – das kann ein Kontinent oder auch ein Körper sein – werden mit Zuschreibungen versehen, die in ihrer Ideengeschichte oftmals auf kolonial-modernem Denken über die Welt beruhen. Dabei bleibt das kartierende wissenschaftliche »Forscher*innen-Ich« unsichtbar als meist privilegierter Teil eines patriarchalen Systems (hooks 2004). So verwenden wir in diesem Artikel »kartieren« und »Kartographie« sowohl metaphorisch als Prozess des Nachzeichnens von Positionen als auch explizit als methodisches Instrument. Feministische Forderungen nach der Sichtbarmachung und Markierung der eigenen Machtposition in der Produktion von akademischem Wissen werden seit über drei Jahrzehnten formuliert (u.a. von Haraway 1988; England 1994; Kobayashi 1994; Faria/ Mollett 2016). Hingegen ist die methodische Erhebung und Analyse von Positionalität in der geographischen Auseinandersetzung relativ jung und vor allem Gegenstand feministischer Forschung (Baylina Ferré/Rodó-de-Zárate 2016; Kohl/McCutcheon 2015;

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Rodó-de-Zárate 2014; Katz 2013). Kartographische, visuelle, emotionale und kreativkünstlerische Zugänge sowie deren Verbindung mit feministischen und dekolonialen Fragen ermöglichen dabei Synergien in den verschiedenen Möglichkeiten der methodischen Erhebung. Entsprechend betonen Methoden ref lexiver und kritisch-feministischer K/Artographien die Verwobenheit von Kartographie, Visualität und künstlerischer Kreativität und eröffnen in diesem Spannungsverhältnis das Potenzial, die eigene Positionierung im »Mappen« von Wissen und Sein nicht nur gesellschaftlich sichtbar zu machen, sondern auch zu analysieren und zu dekonstruieren – sprich, die eigene Position zu kartieren und in Relation zu setzen. Feministische Kartographien verstehen Positionalität als relationale Dimension, die Individuen, Themen, Orte und Wissen in ihrem Zusammenwirken mit Machtverhältnissen denkt: In welchem Raum/Forschungskontext positioniere ich mich als forschende Person wie bzw. anhand welcher Kategorien in bestehenden Machtverhältnissen? Wie positionieren sich Beforschte in ebendiesem Kontext und relational zur forschenden Person und umgekehrt? Feministische Kartographien der Positionalität fragen danach, welche Position(ierung)en in Karten wirkmächtig sind und stellen diese explizit in den Vordergrund. Die Autor*innenschaft des Karten-Machens wird somit ref lektiert und legt offen, welche Positionen dort wie vertreten sind. Da eigene Positionierungen, Privilegierungen und Diskriminierungserfahrungen entlang von intersektionalen Kategorien bei allen Beteiligten in einem Forschungsprozess mit vielen Emotionen verbunden sind, eignen sich geschriebene und gesprochene Worte nicht immer dafür, das Gefühlte und Gedachte in seiner Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Fluidität in adäquater Form auszudrücken. Deshalb kann der Einsatz von kreativen Methoden ein Repertoire an weiteren Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen. Teil einer feministischen Kartographie der Positionalität ist es demnach auch, immer über die eigene Situiertheit in bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Kontexten zu ref lektieren. In Deutschland lebend, einem Land ehemaliger Kolonisator*innen, sind wir an unsere gesellschaftlichen Positionen und Privilegien gebunden, aus denen sich eine Vielzahl von Verantwortungszusammenhängen ergeben. So sind wir Teil einer kolonial und nationalsozialistisch geprägten Gesellschaft, in der bis heute diese Strukturen implizit und explizit wirkmächtig sind. Wir drei Autorinnen positionieren uns darin als Geographinnen der Arbeitsgruppe Kritische Geographien globaler Ungleichheiten am Institut für Geographie der Universität Hamburg und ref lektieren und bearbeiten mithilfe von Mappings (AG KGGU 2018) oder einer Ausstellung (AG KGGU 2019) unsere disziplinären geographischen, aber auch persönlichen Verwobenheiten mit diesen Strukturen. Um die Grundideen feministischer Kartographie der Positionalität in die Forschungspraxis übersetzen und selbst in einem konkreten Kontext anwenden zu können, stellen wir im Folgenden beispielhaft zwei Methoden aus diesem Themenkomplex vor: 1. Comics der Positionalität richten sich direkt an Forscher*innen, Studierende und Kartograph*innen. Mit dieser Methode wird ein individueller Ref lexionsprozess angestoßen, dessen Ergebnisse in Form eines Comics kreativ-künstlerisch festgehalten werden. Schritt für Schritt wird das kartiert, was hinter der Karte steckt, sodass die eigene beforschte Position sichtbar wird. Damit ermöglichen wir, die eigene Position in der Rolle als Forschende*r zu ref lektieren und gehen beispiels-

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weise folgender Frage nach: Wie können sich Forscher*innen mithilfe von künstlerisch-kreativen Methoden selbst in ihren jeweiligen Forschungskontexten transparenter positionieren und ihr Wissen situieren? 2. Intersektionale Mappings kartieren die dynamische Verortung einer Person innerhalb komplexer Machtverhältnisse, die in verschiedenen Räumen eine unterschiedliche Wirkmacht entfalten. Dabei wird das intersektionale Gewebe, durch das Raum konstituiert wird, sichtbar. Über emotionale Zuordnungen wird deutlich, wer sich aufgrund seiner Position, die immer auch von Privilegierungs- bzw. Marginalisierungsprozessen bestimmt ist, in welchen Räumen wie, wann und unter welchen gesellschaftlichen Regeln bewegt. Mithilfe dieser Methoden wird Positionalität zum Untersuchungsgegenstand und die Frage gestellt: Wie kann Positionalität innerhalb feministisch-intersektionaler Diskussionen methodischkonzeptionell und in Bezug zu Räumlichkeiten erhoben werden?

Methodologische Überlegungen und Beispiele zur Umsetzung Comics der Positionalität und die Idee der K/Artographie In einer kollaborativen Zusammenarbeit mit Künstler*innen und Geograph*innen entstehen geographies of creativity (Hawkins 2021). Als Methode erlauben solche Kollaborationen eine Aushandlung von Wissen, Emotionen und Körpern in Wechselwirkung zum Raum. Widerständige Brüche sowie sich manifestierende Kontinuitäten von gesellschaftlichen Prozessen können in einer dialogischen Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft zu einem kreativ-künstlerischen Ausdruck gebracht werden. Dass Geograph*innen selbst künstlerisch tätig werden, indem sie sich verschiedener Medien wie zum Beispiel Zine, Fotographie, Film, Illustration und Schattentheater (Thieme/Eyer/ Vorbrugg 2019; Singer 2019; Schmidt 2017; Bagelman/Bagelman 2016) bedienen, ist naheliegend, versuchen sie doch vielfältige Karten und unterschiedlichste Lesarten über und mit dem Raum zu produzieren. Was oftmals auf einen ersten Blick nicht als klassische Karte erscheint, entpuppt sich in der tieferen Auseinandersetzung als eine detaillierte Beschreibung des Raumes, der nicht nur über Straßennetze, Flüsse und Gebirge, sondern auch über Klänge, Körper, Gefühle, Visualität und soziale Kämpfe hergestellt werden kann. In diesem Unterkapitel widmen wir uns diesem Zugang als Wissenschaftler*in, Lehrende, Studierende oder Interessierte und arbeiten selbst mit der kreativen Methode des Comiczeichnens. Der Raum, der dabei genauer kartiert werden soll, ist das »forschende Ich«. Die zeichnende Person wird so zum »Gegenstand« der eigenen Analyse. Comic als methodisches Instrument, aber auch als graphische und textliche Form der Übersetzung von wissenschaftlichem Wissen, hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren (Fall 2021; Peterle 2017; Dittmer 2014; Sulmowski 2013). Über die Performanz des Schreibens, Zeichnens und wiederholenden Lesens werden bei den Comiczeichner*innen nicht nur ausschließlich rationale Ebenen in der Produktion von Wissen angestoßen, sondern diese auch erweitert. Demnach erlauben Comics einen Zugang zu Raum, der rationale, verkörperte und visuelle Perspektiven auf diesen transportiert und für die jeweilige Leser*innenschaft über den rein wissenschaftlichen Textkonsum hinaus erweitert werden kann. Comics, Karten und Zeichnungen sind keine Repräsentationen, sondern immer Interpretationen von Raum.

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Situiertes Zeichnen Ein methodisches Tool, um sich dem Anspruch einer situierten Forschung weiter anzunähern, ist die Erarbeitung eines Comics zum Thema. Die Erstellung eines solchen Comics ist eine graphisch-narrative Arbeit, die eine Selbstpositionierung von unter anderem verkörperten Erfahrungen erlaubt (McKinney 2017). Handgezeichnete Comics über sich selbst als Forschende*n zu kreieren, ermöglicht zunächst, sich selbst mit der eigenen Positionalität zu beschäftigen und sich mit Fragen vertieft auseinanderzusetzen, die als »normal« oder als »Gegebenheit« oftmals vorschnell hingenommen werden und damit unverhandelbar scheinen (Katz 2013; Abel/Madden 2012; Chute 2010). Das Zeichnen von Comics stellt ein experimentelles und zugängliches Feld dar, das einen Resonanzraum mit feministischen und postkolonialen Perspektiven eröffnen kann. »[G]raphic narratives can be used both to write stories differently and to write different stories.« (McKinney 2017: 86) Dies bedeutet, anders über (Feld-) Forschung zu schreiben und (Feld-)Forschung selbst anders zu praktizieren. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, in eine kritische Ref lexionsebene mit der eigenen Position und dem eigenen Forschungsprozess zu gehen (Singer 2019). Entsprechend erfordert ein Comic der Positionalität, der auf feministische, intersektionale und postkoloniale Perspektiven und Forderungen antworten möchte, die Einarbeitung in Themenkomplexe rund um Intersektionalität und Postkolonialismus. Positionierungen in den Bereichen race, Klasse, Gender, dis-/ability, Sexualität sind dabei essenziell. Dies umzusetzen ist viel Arbeit – sowohl körperlich als auch geistig –, die am besten noch vor Beginn des Forschungsprozesses erledigt werden sollte. Warum eine solche Einarbeitung unumgänglich ist, zeigt unter anderem die Lektüre »Charter of Decolonial Research Ethics« (Decoloniality Europe 2013) und die darin enthaltene Forderung der Bewegung »Decolonialty Europe« auf. Die Anfertigung des Comics selbst kann ein ganzes Semester in Anspruch nehmen, denn jede Seite öffnet eine Tür zu weiten Themenkomplexen rund um Positionalität und Forschung. Die Methode eignet sich aber auch als Einstieg in ein Thema sowie als erste Ref lexion dessen und kann in 90 Minuten durchgeführt werden. Sie wurde bereits in der Hochschullehre und für eigene Forschungsvorhaben umgesetzt. Der Comic beantwortet zunächst Fragen wie »Wer bin ich?« – »Woher bin ich?« – »Wie bin ich?«, die sich auf die eigenen Formen des Forschung-Machens beziehen. In einem zweiten Schritt kann dieser Comic den an der Forschung Teilnehmenden zur Verfügung gestellt werden, sodass Nachfragen beantwortet werden können bzw. Raum dafür eröffnet wird. Dies ermöglicht einen transparenteren Umgang mit den Teilnehmer*innen, da die forschende Person aus dem Schatten ins Licht rückt und damit eine eigene Geschichte erhält. Zudem stößt dies als ref lexive Methode eine nuancierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Forschungsvorhaben an. Verortet ist das methodische Vorgehen in der (auto-)ethnographischen Forschung sowie in der qualitativen, kreativ-künstlerischen Methodik und entstand in Zusammenarbeit mit dem peruanischen Erziehungswissenschaftler Leonel Alexander Menacho López und mit Quechua sprechenden Schüler*innen im andinen Peru (Singer 2019). Für einen Comic der Positionalität wurde die Methode methodisch-konzeptionell überarbeitet. Die Anleitung für den Comic findet sich auf den folgenden illustrierten Seiten »DIY: Comic der Positionalität«.

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Auf jeder einzelnen Seite werden sich wahrscheinlich verschiedene Dilemmata oder Legitimationsprobleme auftun. Das ist zum einen gut und wichtig, denn Forschung ist bis heute geprägt von kolonialen Denkmustern und Hierarchien. Deshalb liegt es an den Forscher*innen selbst, damit einen Umgang zu finden. Zugleich kann ein über Jahrhunderte gewachsenes Wissenschaftsverständnis und seine problematischen Vermächtnisse darin nicht durch eine einzelne Forschung aufgebrochen werden. Diesen Anspruch hat die vorgestellte Methode nicht. Vielmehr geht es darum, die »Autobahn« wissenschaftlichen Forschens zu verlassen und den Pfad zu wählen, auf dem sich jede*r die Notwendigkeit bewusst macht, Verantwortung für die eigene Wissensproduktion zu übernehmen und zu wissen, • • • •

in welchem Kontext der forschende Weg entlangführt, wer hier schon früher entlanggetrampelt ist, welche methodische Ausstattung welche Wirkung vor Ort hinterlässt und wie dieser Ort durch die eigene Arbeit ein Stück weit mehr Teil einer sozial-ökologischen Transformation werden kann.

Die Beziehungsebenen, die während Feldforschungen aufgebaut werden, sind geprägt von Emotionalität und Intimität und werden durch Macht beeinf lusst (McKinney 2017). Zu selten wird darüber gesprochen. Noch seltener sind methodische Hilfsmittel verfügbar, wobei das »althergebrachte« Feldtagebuch hier sehr viel Potenzial aufweist, um die Beziehungsebenen genauer zu analysieren. Es bedarf einer offenen und ref lexiven Haltung, um Bedingungen für eine Forschung zu konsolidieren, die sich ihrer Verantwortung und der Fußstapfen, in die sie tritt, bewusst ist. Fabienne Kaufmann formuliert für diesen Weg drei Schritte, die immer wieder auch den Takt der Forschung beeinf lussen sollten: »Erste Schritte zu diesen Bedingungen sind: a) das Bewusstsein seiner Position als (privilegierte) forschende Person, b) der Wille, die eigenen Privilegien zu hinterfragen, und c) der Wille, alternative Forschungswege zu suchen – mit dem Ziel, Hierarchie zu verlernen.« (Kaufmann 2018: 46) Sie sind zudem voraussetzend für die Anwendung der im folgenden Kapitel beschriebenen Methode der intersektionalen Kartierung.

Relief Maps als intersektionale Mapping-Methode Für Geograph*innen ist es keine neue Erkenntnis, dass Räume durch Machtverhältnisse geprägt sind. Je nach Positionierung von Subjekten innerhalb dieser Machtverhältnisse werden Räume unterschiedlich erlebt. So kann eine Person sich in einem Raum wohlfühlen, während zur selben Zeit derselbe Raum von einer anderen Person als ausgrenzend oder bedrohlich erlebt wird. Genau hier setzt die von der feministischen Geographin Maria Rodó-de-Zárate entwickelte Methode der sogenannten Relief Maps an. In einer intersektionalen Betrachtungsweise der Wahrnehmung von Kategorien wie race, class, gender, Nationalität, Religion, Alter etc. werden diese emotional im Raum verortbar (Rodó-de-Zárate 2014). Relief Maps ermöglichen so ein Mapping intersektionaler Machtverhältnisse sowohl in Relation zu eigenen als auch zu anderen Realitäten. Während Maria Rodó-de-Zárate zu Beginn ihrer Forschung die Mappings auf Basis von Interviewdaten aus der Position der Forscherin heraus selbst zeichnete und

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sie damit als Analysetool verwendete, entwickelte sie dieses Vorgehen als intersektionale Methode weiter, indem sie Interviewpartner*innen, Studierenden und Workshop-Teilnehmer*innen Koordinatensysteme vorlegte und sie dazu einlud, darin ihre Emotionen in Alltagsräumen selbst zu verorten (siehe Abb. 1). Diese Kartierungen zog sie dann als Basis für Interviews heran (Rodó-de-Zárate 2014, 2015). Der Name »Relief Map« geht darauf zurück, dass beim Mappen reliefartige Kurven entstehen, die durch ihr Auf und Ab auch immer Momente der Erleichterung (engl. relief) anzeigen. Mittlerweile sind Relief Maps auch als digitale Version mit open access zugänglich (https://reliefmaps.cat/en/). Neben Informationen und Tutorials zum Hintergrund und zur Anwendung der Methode bietet diese Plattform unter anderem für Forschungsprojekte den Zugriff auf Relief Maps als digitales data collection tool. Vorteil ist hier, dass so größere Samples gut strukturiert bearbeitet und analysiert werden können sowie auch in pandemischen Zeiten auf die Methode zurückgegriffen werden kann. Ein Nachteil ist jedoch, dass in der digitalen Variante die spontane persönliche emotionale Erinnerung an Orte, Themen und Aspekte oder auch Nachfragen nicht in einem Gespräch aufgefangen werden können. Ein persönliches Gespräch erzeugt hingegen ein anderes Forschungssetting, das im Prozess des Zeichnens und in der gemeinsamen Ref lexion eine andere Qualität von Ergebnissen hervorbringt als in der digitalen Version. Darüber hinaus erlaubt die Tätigkeit des Zeichnens eine deutlich größere Tiefe der emotionalen Auseinandersetzung, indem sich die Personen performativ malend positionieren. Der Verwendung von Relief Maps als intersektionales Mapping liegt ein Verständnis von Forschung zugrunde, das sich als transformativ versteht. Es geht nicht darum, Intersektionalität einfach zu kartieren, sondern vielmehr darum, Kritik an gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu üben und deren Wirkmacht zu entlarven. Gleichzeitig ermöglichen sie die Erfassung der Komplexität gelebter multipler Identitäten und die Anerkennung von Emotionalität im Raum. Mit der Anwendung der Methode geht unserer Meinung nach die Verpf lichtung und Verantwortung einher, diese nicht so einzusetzen, dass sie interviewten Personen Kategorien aufzwingt oder dass eine Sammlung von Unterdrückungserlebnissen erstellt wird, da hierdurch auf Kosten von Diskriminierungserfahrungen der Beforschten »Forschung« betrieben würde. Vielmehr ist die Ref lexion der jeweiligen Maps eine Möglichkeit, unterdrückende sowie privilegierende Machtstrukturen zu erkennen sowie eigene und andere Positionen als multipel, nicht festgeschrieben, sondern dynamisch in Relation dazu zu verstehen.

Das Vorgehen im Einzelnen In Relief Maps kann das gefühlte Erleben von Räumen anhand von drei Dimensionen kartiert werden. Sie funktionieren als eine Art relationales »Koordinatensystem«. Dieses setzt sich zusammen: 1. aus einer vertikalen Achse, auf der die psychologische/emotionale Dimension auf einer Skala eingetragen werden kann, die zwischen comfort (Wohlbefinden) und discomfort (Unwohlsein) verläuft, 2. aus einer horizontalen Achse, welche die geographische/räumliche Dimension anzeigt, indem die zu untersuchenden (Alltags-)Orte angegeben werden; Maria Rodó-de-Zárate schlägt hier eine Klassifizierung und Reihenfolge von Orten der

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Unterdrückung über ambivalente und neutrale Orte bis hin zu Orten der Entspannung (relief) vor; sowie 3. aus einer Legende, die mögliche soziale und identitätsrelevante Kategorien vorschlägt, welche einen Einf luss auf das Wohlsein oder Unwohlsein an bestimmten Orten haben können; diese Kategorien können vorgegeben, aber auch selbst entwickelt oder offengelassen werden. Abbildung 1: Mögliche Basisstruktur einer Relief Map

Quelle: Eigene Darstellung

Erster Schritt: Vorbereitung des Koordinatensystems Zur Vorbereitung des Koordinatensystems werden die am Forschungsprozess Beteiligten – hier können Beforschte und Forschende einbezogen werden – in die Identifikation von relevanten Orten und Kategorien eingebunden. Über verschiedene Interviewformen, Gruppeninterviews, semistrukturierte Interviews, standardisierte Interviews etc., werden gemeinsam mit den Beforschten deren Alltagsorte herausgearbeitet. In der Regel ergibt sich daraus eine Reihe von Orten (Zuhause, Schule, Arbeitsplatz, Shoppingcenter etc.), die von allen benannt werden. Meist nennen einzelne Personen zusätzlich weitere Orte, die nur für sie relevant sind. Möglich ist auch eine völlig freie Wahl von Orten durch die Teilnehmenden. Darüber hinaus können auch Bereiche, die nicht an einem konkreten Ort festgemacht werden können, einbezogen werden: Gesundheit, Bildung, Partner*innenschaft, Familie, Freundschaften etc. Ähnliches gilt für die Definition der zu dokumentierenden intersektionalen Kategorien. Zunächst wird über partizipative Prozesse geklärt, mit welchen Kategorien im konkreten Fall gearbeitet werden soll. Dabei bildet jede Kategorie eine Erfahrungsdimension, die in Bezug auf Diskriminierungen und/oder Privilegien für die an der Forschung beteiligten Menschen relevant ist. Verschiedene, bereits in zahlreichen feministischen Studien nachgewiesene Kategorien wie race, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, soziale Klasse, religiöse Identität oder Behinderung können schon zu Beginn vorgeschlagen werden. In nachfolgenden Gesprächen und Interviews können

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jedoch weitere Kategorien, zum Beispiel Sprache, Ideologie, Nationalität, definiert bzw. individuell festgelegt und in die einzelnen Koordinatensysteme einbezogen werden. Zu beachten ist bei der Definition von Orten und Kategorien, dass die Relief Maps umso komplexer werden, je mehr Orte oder Kategorien einbezogen werden. Das heißt, dass dadurch einerseits detailliertere Ergebnisse entstehen. Andererseits nimmt das Erstellen einer Relief Map damit sehr viel mehr Zeit in Anspruch. Dies muss bei der Planung der Methode berücksichtigt werden.

Zweiter Schritt: Befüllen der Relief Maps Nach der Definition von Orten und Kategorien werden die Forschungsteilnehmenden gebeten, ihre persönlichen Erfahrungen und Emotionen an den Orten hinsichtlich der einzelnen Intersektionen einzuzeichnen (s. Abb. 2). In der hier beispielhaft gezeigten Relief Map weisen die platzierten Punkte in den verschiedenen Farben den Grad des Wohlfühlens bzw. Unwohlseins an einem bestimmten Ort in Relation zur jeweiligen Machtstruktur auf. Dadurch wird das Unwohlsein der interviewten Person aufgrund ihrer Sexualität, ihres Genders und ihres Alters in ihrem Zuhause sowie auf der Straße sichtbar. Die eingezeichneten Pfeile geben mit ihrer Farbe zusätzlich an, dass eine bestimmte Kategorie sich verstärkend/abschwächend auf das erlebte (Un-)Wohlsein bzw. auf die anderen Kategorien auswirkt. Die Linien zwischen den Punkten zeigen auf, wie unterschiedlich Machtverhältnisse an verschiedenen Orten auf die Personen wirken können. Relationalität und Dynamik von Mehrfachdiskriminierungen ebenso wie Mehrfachprivilegierungen können so visualisiert werden.

Dritter Schritt: Beschreibung der Emotionen Die Bedeutung der unterschiedlichen Positionierungen innerhalb der Matrix wird allerdings erst deutlich, wenn die visuelle Darstellung mit den – mündlichen oder schriftlichen – Beschreibungen der Emotionen und Orte situiert wird. Die forschende Person kann dabei die Rolle der*des Nachfragenden einnehmen und SpezifikationsAbbildung 2: Relief Map – Beispiel einer jungen, lesbischen Marokkanerin, die in Barcelona lebt

Quelle: Gezeichnet von Maria Rodó-de-Zárate (2015: 418)

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fragen stellen, wenn aus der Erklärung heraus der Zusammenhang nicht deutlich wird: »Was meinst du damit?« – »Woran liegt es, dass …?« (Humuza 2018). Erst durch Gespräche mit den Autor*innen der Relief Maps zeigt sich, warum welche Emotionen an welchen Orten überwiegen. Relief Maps müssen also immer als kontextualisiert und situiert verstanden werden, bilden sie doch eine individuell gelebte Realität in durch Herrschaftsverhältnisse geprägten Räumen ab. Im deutschsprachigen Kontext wurden Relief Maps bereits in der Lehre (Carstensen-Egwuom 2016) sowie in verschiedenen Forschungskontexten und hier vor allem von Nachwuchswissenschaftler*innen eingesetzt. Zwei kurze Beispiele sollen aufzeigen, wie auf Basis von Maria Rodó-de-Zárates Relief Maps intersektionale Forschung, egal ob in einem Stadtteil oder auf einem Acker, umgesetzt werden kann.

Muslim girlhood in Hamburg In ihrer Masterarbeit untersucht Corinna Humuza mithilfe von Relief Mapping die »Alltagsgeographien jugendlicher muslimischer Mädchen und die Verräumlichung von Emotionalität aus intersektionaler Perspektive« (Humuza 2018). Hier finden die Relief Maps in Kombination mit Gruppeninterviews Anwendung. Zunächst werden in einem Gruppeninterview mit einer größeren Gruppe muslimischer jugendlicher Mädchen, die sich in einem Jugendzentrum in Hamburg regelmäßig treffen, erste thematische Schwerpunkte zu ihren alltäglichen Aufenthaltsorten in Hamburg gemeinsam festgelegt. Dabei lassen sich in den Diskussionen wichtige soziale Dimensionen dominanter Herrschaftskategorien – wie Geschlecht, Religion, Ethnizität, Alter, Fähigkeiten/Wissen und Klasse – im Alltag der Mädchen als Basis für die Relief Maps ermitteln, wodurch ein erster Eindruck von ihren Alltagsgeographien gewonnen werden kann. In einem zweiten Schritt kommen die Relief Maps in einem kleineren Gruppeninterview mit drei befreundeten muslimischen Mädchen zum Einsatz. In diesem vertrauteren Rahmen verwendet Corinna Humuza die Relief Maps als partizipative Forschungsmethode, die durch detaillierte Ref lexionen der räumlichen Erfahrungen ein vertiefendes Verständnis der komplexen Alltagsgeographien der Mädchen erlaubt. Alle drei Mädchen fertigen individuelle Relief Maps an, in denen sie Orte benennen, die in ihrem Alltag wichtig sind. Sie zeichnen auf Basis der oben beschriebenen Kategorien ihre individuellen, mit den Orten verbundenen Emotionalitäten in die Relief Maps ein, wobei auf Wunsch eines Mädchens die Kategorie »Aussehen« ergänzt wird. Nachdem alle, inklusive der Forscherin, ihre Maps angefertigt haben, stellen alle ihre eigenen Maps vor (ebd.: 80). Obwohl die drei Freundinnen nahezu dieselben Orte in ihren Maps aufgreifen, zeigen diese ein sehr unterschiedliches Erfahren von Muslim girlhood an diesen Orten auf. Dadurch wird bereits eine erste Qualität der Methode deutlich: (Stereo-)Typisierenden und universalisierenden Argumentationen kann entgegengewirkt und Intersektionalität herausgestellt werden. »Jedes der Mädchen scheint seine multiplen Identitätskategorien unterschiedlich zu erleben, auch wenn sie sich in Bezug auf die in den Relief Maps genannten Herrschaftskategorien ähnlich verorten.« (Humuza 2018: 124) Gleichzeitig zeigt das Interviewmaterial zu Relief Maps, wie sich einzelne Personen selbst durch eigene Strategien, Praktiken und Widerständigkeiten Freiräume schaffen, sich immer wieder über diese Einschränkungen hinwegsetzen und sich Raum aneignen. Muslim girlhood in Hamburg zeigt sich so als vielseitiges, komplexes und auch widerständiges Erleben von Raum. Die Wirkungsmacht von Unterdrückungsmechanismen wie antimuslimischen Rassismen in der Gesell-

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schaft, genderspezifischen Disziplinierungen durch Schule, Religion und Erwachsene, Körpernormen etc. kann durch die Methode des Relief Mapping offengelegt werden. Die Kombination der Relief Maps mit Gruppeninterviews lässt sich so als eine vertiefte und auch partizipativere Variante des Relief Mappings verstehen. Forschungstechnisch bedeutet dies einen höheren Zeitaufwand sowie ein größeres Engagement in und mit dem Forschungsfeld, was mit einer Ref lexion der Forscher*innen zur eigenen Positioniertheit im Feld einhergehen muss (siehe zu Beginn dieses Beitrags). Gleichzeitig sind gerade bei Gruppeninterviews, zusätzlich zu den Machtverhältnissen zwischen forschenden und beforschten Personen, Hierarchien, Dynamiken und Beziehungen zwischen den beforschten Personen zu berücksichtigen. Das kollektive An- oder Besprechen von Emotionen im Raum gerade in Verbindung mit Diskriminierungserfahrungen kann traumatisierend sein und erfordert von Forscher*innenseite aus eine hohe Sensibilität und Wissen im (selbst-)kritischen Umgang damit. Von Gruppeninterviews oder einem kollektiven Austausch über Relief Maps mit sehr unterschiedlich positionierten Teilnehmer*innen ist daher gegebenenfalls abzuraten, auch wenn Rodó-de-Zárate hier gerade für den Austausch in Seminarräumen über unterschiedliche Differenzen hinweg Lernpotenzial sieht, da Privilegien angesprochen werden können (Baylina Ferré/Rodó-de-Zárate 2016).

Diversität auf dem Acker: Das Klimacamp im Rheinland Als Forschungsvorhaben innerhalb eines universitären Studienprojekts zu Klimagerechtigkeit und Intersektionalität haben sich Lennard Brilling, Merlin Ferber, Nick Haimerl und Paula Riehm mit dem Erleben von Räumen auf dem Klimacamp 2019 im Rheinland beschäftigt. Als Aktionsforschung, die einen Beitrag zur Diversifizierung und Sensibilisierung der Klimagerechtigkeitsbewegung leisten soll, werden Relief Maps mit einer Spaziergang-Methodik sowie qualitativen Interviews kombiniert. Um herauszufinden, »an welchen Orten auf dem Klimacamp das Wohlbefinden von Teilnehmer*innen eingeschränkt oder gefördert [wird]« (Brilling et al. 2020: 57), führt die Projektgruppe einzeln mit Teilnehmer*innen des Klimacamps Wahrnehmungsspaziergänge über das Gelände durch, um einerseits die Idee der Forschung zu erklären und andererseits an konkreten Orten im Camp über Erfahrungen und Emotionen ins Gespräch zu kommen. Die Route sowie die Orte, die aufgesucht werden, bestimmen die Teilnehmer*innen selbst, die Aussagen zu den jeweiligen Orten werden protokolliert. Die aufgesuchten Orte und die damit verbundenen Erfahrungen stellen die Grundlage für die Relief Maps dar, die im Anschluss an die Spaziergänge von den Teilnehmer*innen selbst gezeichnet und auch gestaltet werden. Ebenso werden die Kategorien sozialer Machtstrukturen von diesen oder gemeinsam mit diesen entwickelt und anschließend in einem qualitativen Einzelinterview die Relief Maps detailliert besprochen, sodass die verschiedenen Aspekte von Identität an den eingezeichneten Orten aufgegriffen und damit Erfahrungen und Emotionen in ihrem räumlichen, aber auch strukturellen Verhältnis verdeutlicht werden können. Eine Ref lexion der Relief Map ermöglicht es, »die Beziehung zwischen den einzelnen Aspekten von Identität und sozialen Machtstrukturen herzustellen, um schließlich zu erfahren, in welchem spezifischen Verhältnis diese zum jeweiligen Ort« stehen (ebd.: 61). Trotz eines egalitären Anspruchs der Klimagerechtigkeitsbewegung, der darauf abzielt, mit den Camps einen zugänglichen Ort für kollektive Selbstorganisation und empowernde Wirkmacht zu erschaffen, zeigen die Relief Maps, wie auch in diesem

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Rahmen multiple Machtverhältnisse intersektional wirken. Dies gilt auch dann, wenn bestimmte Machtverhältnisse wie beispielsweise Sexualität oder Geschlecht bereits auf Klimacamps thematisiert wurden (z.B. FLINT*-Themen und -Räume). Andere Machtverhältnisse (dis-/ability, race etc.) sind bisher weniger präsent. Auf der Basis der Ergebnisse identifizieren Teilnehmer*innen des Forschungsprojekts mit ihren Relief Maps neben identitätsbezogenen Herrschaftskategorien wie Gender, Ethnizität, Alter und Klasse auch Dimensionen wie (Szene-)Zugehörigkeit, dis-/ability, Aussehen und Wissen/Sprache als wirkmächtige Kategorien, die das persönliche Erleben des Klimacamps beeinf lussen. In der folgenden Relief Map (s. Abb. 3) zeigt sich, dass neben Gender, Wissen, Alter und Klasse gerade das Gefühl der Zugehörigkeit an verschiedenen Orten auf dem Camp stark schwankt, an zwei Orten sogar als sehr unangenehm wahrgenommen und vor allem mit Klasse, Alter und Wissen in Verbindung gebracht wird. Ethnizität, hier im Sinne von Weißsein, zeichnet sich als einzige Konstante des Wohlfühlens an allen Orten in der Map ab. Auch erschließt sich der Kontext der Positionalität der Person auf dem Klimacamp durch die Relief Map nur durch ihr situiertes Wissen, das die Person im Interview mit der forschenden Person teilt. Abbildung 3: Beispiel einer Relief Map einer Teilnehmerin des Klimacamps

Quelle: Foto von Merlin Ferber (Brilling et al. 2020: 63)

Durch die Relief Maps wird deutlich, welche Machtverhältnisse auf dem Klimacamp (auch ungewollt) wie reproduziert werden und wie die unterschiedlich positionierten Teilnehmer*innen des Camps in diese eingebunden sind. Durch das studentische Forschungsprojekt werden einige dieser intersektionalen Machtverhältnisse auf dem Klimacamp 2019 im Rheinland sichtbar. Mithilfe des Relief Mappings geben die Forscher*innen damit einen Hinweis darauf, welche Erfahrungen an verschiedenen Orten im Camp wie mit den Wirkungsweisen bestimmter Machtverhältnisse in Ver-

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bindung stehen. Darüber hinaus zeigt sich, welche Positionen auf dem Klimacamp vertreten sind und welche ausschließenden oder empowernden Erfahrungen dort gemacht werden. Für eine Klimagerechtigkeitsbewegung, die sich divers und machtsensibel verhalten möchte, gehen daraus wichtige Anregungen hervor.

Comic der Positionalität und intersektionales Mapping: Fallstricke und Tricks Reflexionen zu situierten Comics Das Potenzial intersektionaler und/oder kreativ-künstlerischer Auseinandersetzungen für die Kartographie ist die hybride Erzeugung von Bedeutungen und Sinn, die für schwierige und komplexe Fragen keine linearen Antworten oder Karten vorschlagen, sondern eine von vielen möglichen Perspektiven auf die Welt mit unterschiedlichen Darstellungsformen eröffnen. Dennoch bleibt die Gefahr der Dekontextualisierung und Reduktion von Komplexität bestehen. Sie verlangt nach einem informierten und ref lexiven Umgang. Das kritische Hinterfragen der hier vorgestellten Methoden ist also von Relevanz, ebenso wie die stetige Ref lexion der Frage: »[H]ow exactly, and for whom, these methods are creative and critical?« (Hawkins 2015: 247) Denn auch Fragen nach der eigenen Positionierung, nach kreativ-künstlerischen Methoden innerhalb und an den Rändern der Kartographie sind niemals frei von Machtbeziehungen und post-/kolonialen Verhältnissen. Gleichzeitig verweisen Aushandlungen darüber, welcher Teil des Selbst und der Forschung in dem Comic sichtbar gemacht wird, auf machtvolle und oft verschwiegene Momente in der Forschung. So werden zum Beispiel oft Informationen von Teilnehmenden eingefordert, die die*der Forschende aber selbst im Comic nicht teilen bzw. nicht öffentlich machen möchte. Die Herstellung von Wissen bleibt oftmals einer sehr privilegierten (weißen) Gruppe vorbehalten, wodurch koloniale Kontinuitäten reproduziert werden. Es bleibt zu hoffen, dass das Sichtbarmachen der Forscher*innenposition erste Bruchstellen in sogenannten Normalitäten verursachen, die nie hätten so normal werden dürfen. Das große Potenzial der Relief Map besteht darin, dass sie eine der wenigen Methoden darstellt, die sowohl Positionen der Unterdrückung als auch der Privilegierung als dynamisch und mehrdimensional abbildet. Dadurch kann sie eine empowernde Wirkung entfalten sowie zu kritischer Ref lexion anregen. Darüber hinaus ermöglichen es Relief Maps, durch die Skalen in Spektren des Wohlfühlens/Unwohlseins zu arbeiten und binäre Interpretationen der Kategorien nicht zu bedienen. So wird zum Beispiel ein Wohlsein aufgrund von Gender verortet, zugleich aber nicht vorgeschrieben, welches Gender damit gemeint ist. Die kartierende Person kann ihr Gender in ihrem Verständnis und in Relation zu Machtverhältnissen im Raum verorten, ohne sich zwischen heteronormativen Optionen entscheiden zu müssen. Dennoch funktionieren die Mappings durch ein Verorten von Identitäten in Kategorien und Machtverhältnissen innerhalb eines Koordinatensystems. Hier gilt es gerade beim Lesen, Vergleichen und Interpretieren verschiedener individueller Maps, stets kontextgebunden zu argumentieren und nicht auf die Logik einer »Unterdrückungs- oder PrivilegienOlympiade« abzustellen.

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Grundlegend ist beim Einsatz von Comics der Positionalität und Relief Maps jedoch zu beachten: Die Thematisierung von Unterdrückung und Privilegierung gerade in Verbindung mit eigenen Erfahrungen und Emotionen stellt ein komplexes und sensibles Terrain dar. In der Anwendung und Diskussion der Methoden fällt dabei immer wieder auf, wie wichtig es ist, Machtverhältnisse und Positionierungen in der Durchführung und im Setting selbst zu berücksichtigen. Beide Methoden können trotz ihres vielfältigen Potenzials und Anwendungsspektrums lediglich eine Annäherung an die Komplexität von Intersektionalität und Positionalität ermöglichen. Die Mappings sind immer mit Vereinfachungen verbunden, denn nur diejenigen Aspekte von Identitäten, Emotionen, Themen und Orten werden erfasst, die die mappende Person in die Relief Map oder den Comic einbringt. Erfahrungen und Emotionen können niemals universal gedacht werden, da es sich um einen situativen Moment des Mappings handelt, der in Relation zur Fragestellung, zum*zur Forscher*in, zur emotionalen Tagesform etc. zu verstehen ist. Gleichzeitig können jedoch machtvolle Strukturen und ihre unterschiedliche Wirkmächtigkeit im Alltag erkannt und die entstandenen Karten so als relationale Positionen gelesen werden.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Fokus: Intersektionalität/Positionalität Crenshaw, Kimberly (2019): »Das Zusammenwirken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken (1989)«, in: Kelly, Natasha A. (Hg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster: Unrast, S. 145-187. Wer sich beim Lesen immer wieder gefragt hat, was es denn mit dem Begriff der Intersektionalität auf sich hat, sollte diesen Text aus dem Jahr 1989 lesen, der bis heute ausschlaggebend für aktuelle Debatten um race, class und gender – nicht nur in den USA – ist und nun dank Natasha Kelly endlich auch auf Deutsch zugänglich ist. Auf Basis der critical race theory und am Beispiel juristischer Auseinandersetzungen wird hier der Begriff »Intersektionalität« eingeführt und aufgezeigt, wie die Position Schwarzer Frauen am US-amerikanischen Arbeitsmarkt rechtlich marginalisiert und diskriminiert wurde.

Fokus: Comics McKinney, Kacy (2017): »Writing/drawing experiences of silence and intimacy in fieldwork relationships«, in: Moss, Pamela/Donovan, Courtney (Hg.), Writing intimacy into feminist geography, Abingdon/Oxon: Routledge, S. 86-95. Kacy McKinney ref lektiert in diesem Artikel die eigene Feldforschung und Positionalität mithilfe eines Comics. Sie eröffnet dabei einen nuancierten Blick auf Machtbeziehungen, Schweigen und Intimität im Forschungsprozess und leitet theoretisch und praktisch in ein feministisch-intersektionales Verständnis von Comics ein.

Comics und Relief Maps als feministische Kartographien der Positionalität

Fokus: Relief Maps Rodó-de-Zárate, Maria (2014): »Developing geographies of intersectionality with Relief Maps: ref lections from youth research in Manresa, Catalonia«, in: Gender, Place & Culture 21, S. 925-944. Maria Rodó-de-Zárate, die konzeptionelle und empirische Ideengeberin der Relief Maps, gibt in diesem einführenden Artikel einen Überblick über die Entwicklung der Methode und deren theoretische sowie empirische Einbettung bzw. Anwendung. *** Abel, Jessica/Madden, Matt (2012): Mastering comics. Drawing words and writing pictures continued, New York: First Second. AG KGGU (2018): »C/Artographies of Positionality – Or How We Try to Situate Ourselves as a Working Group in Academia«, in: kollektiv orangotango+ (Hg.), This Is Not an Atlas, Bielefeld: transcript, S. 294-299. AG KGGU (2019): geografisch post/kolonial. Wie aus Karten und Bildern Welt entsteht. eine Online-Ausstellung. Universität Hamburg. Siehe: https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/geografisch-postkolonial/#s0 vom 01.04.2021. Bagelman, Jennifer J./Bagelman, Carly (2016): »Zines: Crafting Change and Repurposing the Neoliberal University«, in: ACME: An International Journal for Critical Geographies 15, S. 365-392. Baylina Ferré, Mireia/Rodó-de-Zárate, Maria (2016): »New visual methods for teaching intersectionality from a spatial perspective in a geography and gender course«, in: Journal of Geography in Higher Education 40, S. 608-620. Brilling, Lennard/Ferber, Merlin/Haimerl, Nick/Riehm, Paula (2020): Intersektionalität und Raum. Klimagerechtigkeit? Ein Studienprojektbericht einer Aktionsforschung auf dem Klimacamp im Rheinland 2019. Studienprojektbericht, Hamburg. Carstensen-Egwuom, Inken (2016): »Die Methode der ›Relief Maps‹ von Maria Rodóde-Zárate: Intersektionalität mit Studierenden visualisieren«, in: Feministische Geo-Rundmail 68, S. 5-8. Chute, Hillary L. (2010): Graphic Women. Life Narrative and Contemporary Comics, New York: Columbia University Press. Decoloniality Europe (2013): Charter of Decolonial Research Ethics. Siehe: https://decolonialityeurope.wixsite.com/decoloniality/charter-of-decolonial-research-ethics vom 31.03.2021. Dittmer, Jason (Hg.) (2014): Comic book geographies, Stuttgart: Steiner. England, Kim (1994): »Getting Personal: Ref lexivity, Positionality, and Feminist Research«, in: The Professional Geographer 46, S. 80-89. Fall, Juliet J. (2021): »Worlds of Vision«, in: ACME: An International Journal for Critical Geographies 20, S. 17-33. Faria, Caroline/Mollett, Sharlene (2016): »Critical feminist ref lexivity and the politics of whiteness in the ›field‹«, in: Gender, Place & Culture 23, S. 79-93. Haraway, Donna (1988): »Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective«, in: Feminist Studies 14, S. 575-599. Haraway, Donna (1991): Simians, cyborgs, and women. The reinvention of nature, New York: Routledge.

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Raumgeschichten – mit Karten erzählen: Anregungen zur universitären Methodenausbildung im Gelände Benedikt Orlowski, Klaus Geiselhart

Abstract Es gibt zahlreiche kritische Forschungsarbeiten, die man nutzen kann, um Studierenden im Rahmen humangeographischer Lehrveranstaltungen die Kontingenz von Forschung und die Positionalität von Wissen verständlich zu machen. Insbesondere Karten als »Produkt« wissenschaftlicher Arbeit eignen sich hier. Anhand historischer Karten lassen sich z.B. dominante technische Bedingungen oder Konventionen des Kartierens aufzeigen und Hinweise auf die Produktion sozialer Wirklichkeit durch Karten geben. Doch reicht das aus, um die gesamte Tragweite des Suggestionspotenzials und der Gestaltbarkeit von Karten zu verstehen? Eine kritisch-kartographische Methodenlehre bleibt unvollständig, wenn sie nicht auch in praktische Seminare übersetzt wird. Wie erkennen Studierende, wie sehr sie selbst von ihren eigenen Wahrnehmungsprinzipien geleitet werden? Wie werden Studierende tatsächlich zu Gestalter*innen von Karten? Wie befähigt man sie zur Nutzung des gesamten Spektrums der Ausdrucksmöglichkeiten von Karten? Welche Termini der kartographischen Methodenlehre, wie etwa »Generalisierung« oder »Kartierschlüssel«, benötigen unter den Ansprüchen der Kritischen Kartographie eine veränderte Didaktik? Der Beitrag präsentiert praktische Übungen für die universitäre Methodenlehre.

Die Notwendigkeit einer praktischen kritischen Kartographielehre Mittlerweile ist der Zweifel der Kritischen Kartographie an der Vorstellung, Karten seien »Abbilder der Realität«, im Mainstream geographischer Forschung angekommen. Studienanfänger*innen aber bringen dieses überkommene Konzept oft mit in ihr Studium. Die Vorstellung, dass mit dem geographischen »Produkt« Karte etwas über die Welt, »so wie sie tatsächlich ist«, ausgesagt wird, ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Um diesen Überzeugungen entgegenzuwirken, gibt es mittlerweile eine Reihe von Lehrveranstaltungen und Einführungstexte. Fast schon zum Klassiker avanciert, zeigt »The Power of Maps«, wie sich aus Karten soziale und historische Wissensbestände ablesen lassen und wie man über Karten auf zeitgenössische gesellschaftliche Praktiken und Techniken der Kartographie schließen kann (Wood 1992). Am Beispiel von Symbolen religiöser Einrichtungen in topographischen Karten zeigt Georg Glasze (2009: 185), dass eine beschränkte Auswahl verfügbarer Signaturen zu Auslassungen und Doppeldeutigkeiten führen kann. Wenn es nur eine Signatur für

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»Kirchen« gibt, dann bewirkt das ein »Verschwinden« von Moscheen und damit eine Unsichtbarmachung wichtiger Stätten bestimmter Bevölkerungsgruppen. Interessant ist auch die Feststellung, dass sozialräumliche Differenzierungen selbst in kollaborativen Kartographieprojekten wie etwa OpenStreetMap eine einschränkende Wirkung entfalten, was ein Stück weit deren Intention als demokratische Beteiligungsinstrumente widerspricht (Bittner 2014). Trotz dieser wachsenden Aufmerksamkeit für die Reifikationsfunktion von Karten kann weiterhin beklagt werden, dass in Lehrbüchern die »gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen der Herstellung von Karten […] ebenso wenig thematisiert [werden] wie die sozialen Effekte der Kartographie« (Glasze 2009: 181). Solche konkreten Beispiele sind geeignet, um die soziale Relevanz Kritischer Kartographie zu verdeutlichen. Aber schon der Vergleich der Verzerrungseigenschaften verschiedener Kartenprojektionen (Flächentreue, Winkeltreue, Abstandstreue) hat in Einführungskursen zur Kartographie das Potenzial, die Gewissheit vieler Studierenden über die Wahrheitsleistung der Kartographie ins Wanken zu bringen. In der Kombination solcher Lehrinhalte und Diskussionen in Seminaren zu Wissenschaftstheorie können Studierende sehr erfolgreich an die aktuellen Diskussionen herangeführt werden. Dabei wird die Konstruiertheit von Wissen sowie Wissenschaft – und somit auch von Karten – als Produkt gesellschaftlicher Praktiken, Konventionen und Begründungsmuster (rationales) deutlich. Nicht selten jedoch führt diese erste Konfrontation mit der sozialen Konstruiertheit von Karten – und umgekehrt mit der Produktion sozialer Wirklichkeit durch Karten – bei manchen Nachwuchsgeograph*innen zu einem ausgewachsenen Kater. Denn mittels diskurstheoretischer oder sozialkonstruktivistischer Thesen lässt sich der »technische« oder »naturgetreue« Charakter der Karte auf intellektueller Ebene zwar sehr zielsicher exorzieren, die Vorstellung einer Karte als Abbild bleibt aber als Residuum alltäglicher Praxis in den Köpfen zurück und tritt spätestens beim Anfertigen einer eigenen Karte wieder zutage. Schließlich erfüllt sich der Sinn und Zweck von Karten ja auch gerade darin, dass mit ihnen Aussagen über die Welt getroffen und wissenschaftliche Beobachtungen untermauert werden können. Letztlich scheint vielen Studierenden der retrospektive kritische Blick auf die fertige Karte den Ansprüchen zu widersprechen, die sich beim Anfertigen einer Karte stellen. Daher kann die Auseinandersetzung mit der theoretischen Debatte nicht die essenzielle Erfahrung ersetzen, selbst Autorin oder Autor einer Karte zu werden. Doch wie werden Studierende zu erfolgreichen und selbstref lektierten Gestaltenden von überzeugenden Karten, ohne die Wirkungsmechanismen bei ihrer Erstellung und die möglichen sozialen Effekte ihrer Visualisierungen aus den Augen zu verlieren? Als Handreichung für eigene Lehrkonzepte möchten wir zeigen, wie Studierende praktische Erfahrungen machen können, anhand derer sie die Erkenntnisse der Kritischen Kartographie – oder der kritischen Wissenschaftstheorie allgemein – tiefgreifend verstehen können.

Raumgeschichten – mit Karten erzählen

Eine Kombination räumlicher Perspektiven Im Folgenden werden wir ein praktisches Seminar zur Kartographie beschreiben, das geeignet ist, allzu enge Vorstellungen von Karten und Kartographie didaktisch aufzubrechen. Es empfiehlt sich, verschiedene Arten des Kartierens in einer Lehreinheit zu verbinden. Bewährt hat sich die Verschneidung von Nutzungs(konf likt)kartierung, partizipativer Kartographie und Mindmap. Die Kombination dieser drei sehr unterschiedlichen Zugänge zu »räumlichen« Realitäten und Ordnungen ermöglicht es, die Studierenden für die Vielfältigkeit kartographischer Darstellungen und deren denkbare Kombinationen zu sensibilisieren. Bevor wir die Aufgaben für die Studierenden im Einzelnen beschreiben, hier ein kurzer Überblick über die Konzeption des Seminars anhand einer Kurzbeschreibung der drei unterschiedlichen Perspektiven auf Raum sowie der wichtigsten Lernziele. 1. Die Nutzungskartierung kommt der klassischen Vorstellung von Kartographie am nächsten. Eine Nutzungskartierung hat als thematische Kartierung große Ähnlichkeiten mit einer topographischen Karte: Jedes Element stellt einen räumlich ausgedehnten Gegenstand dar. In der topographischen Karte nehmen die Elemente ihren Platz im Raum exklusiv ein, denn wenn ein Platz einmal besetzt ist, kann er nicht mehr von etwas anderem eingenommen werden. Ebenso wirkt es auf den ersten Blick naheliegend, dass einem von Menschen gestalteten Raum und dessen Elementen eine klar definierte Nutzung innewohnt. Mit dem human- bzw. kulturgeographischen Aspekt der Nutzung kommt im Gegensatz zu einer topographischen Kartierung aber ein Unsicherheitsfaktor in den Kartierschlüssel. Zwar müssen auch hier standardisierte Signaturen wie Straßen, Laternen etc. den jeweiligen Platzbedarf anzeigen, doch können sich Nutzungsweisen eines Raumausschnittes auch überschneiden oder die Elemente gleicher Klassen unterscheiden sich auf ganz spezifische Weise, sodass ganz eigene Klassifikationen entwickelt werden müssen. → Lernziel: Der Kartierschlüssel, nicht die Karte, ist das Herzstück einer Kartierung. Darüber hinaus empfiehlt es sich, die Aufgabe der Nutzungskartierung um den Aspekt des Nutzungskonf likts zu ergänzen. Hiermit verschiebt sich der Fokus auf Elemente, welche sonst eher »das Bild stören« und entsprechend »weggeneralisiert« werden, wie etwa Unordnungen, konkurrierende Raumelemente oder anderweitige Irritationen und Widersprüchlichkeiten. Auf diese Weise kommt automatisch ein kritischer Blickwinkel in die Kartographie. Die gegebenen Örtlichkeiten werden auf deren Verbesserungsmöglichkeiten hin untersucht, und Mängel der Stadtraumgestaltung können deutlich gemacht werden. Es lassen sich aber nicht nur einfache Nutzungskonf likte kartieren, die sich aus widerstreitenden Interessen der Anlieger oder Besucher des Ortes ergeben. Auch Phänomene, die Ausdruck struktureller Problematiken sind, beispielsweise überquellende Fahrradstellplätze, resultierend aus einer den motorisierten Individualverkehr priorisierenden Stadtplanung, können in die Karte aufgenommen werden. Zudem sind Effekte politischer Steuerung, die im konkreten Einzelfall dysfunktional sein können, der Erhebung zugänglich, zum Beispiel Feuertreppen, die Fahrradwege behindern.

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Konf likte oder deren zugrunde liegende Raumansprüche verschiedener Akteure äußern sich mal mehr, mal weniger subtil (z.B. Allen 2006). Als Beispiel offensiver Raumgestaltung mit dem Ziel der Einf lussnahme auf das Verhalten im Raum eignet sich zur weiteren Veranschaulichung das Konzept der »Feindlichen Architektur«. Durch eine bewusste Gestaltung des öffentlichen Raumes oder einzelner Elemente können gezielt bestimmte Nutzer*innen und deren unerwünschte Nutzungsformen ausgeschlossen werden, wie etwa Obdachlose durch das Anbringen von Metallbügeln auf Parkbänken (Rosenberger 2017). → Lernziel: Räumliche Elemente nehmen nicht einfach Raum ein, sie erheben Anspruch auf Raum, indem sie Nutzer*innen, Nutzungsformen und Handlungsweisen ermöglichen oder ausschließen. 2. Um der Frage nach Nutzungskonf likten im Raum nachgehen zu können, lassen sich an die Nutzungskonf liktkartierung verschiedene Arten der partizipativen Kartographie anschließen. Vorstellbar wären beispielsweise Kartierungen in Fokusgruppen mit Ladenbesitzer*innen, die für sie jeweils notwendige oder wünschenswerte Platzbedarfe diskutieren und graphisch in einer Karte festhalten. Aber auch Go-along-Kartierungen, um die Bewegungsprofile von Nutzer*innen festzuhalten, sind denkbar. Dabei lassen sich auch Bezüge, die über den Kartenausschnitt hinausreichen, vermerken und somit die Konstruktion von Raum diskutieren. → Lernziel: Raum wird perspektivisch, entsprechend unterschiedlicher Interessen und Praktiken, wahrgenommen. 3. Darüber hinaus sollten die die Teilnehmenden des Seminars die Entwicklung ihres Erkenntnisprozesses auch graphisch in immer wieder neuen Mindmaps festhalten (Lloyd/Boyd/den Exter 2010). Bei einer Mindmap stellt man ein Themengebiet graphisch dar, indem man auf einem Blatt Papier Schlüsselkategorien ordnet und deren Beziehungen untereinander darstellt. Mindmaps scheinen zunächst keinen Bezug zum »Raum« im klassischen Sinne zu haben. Sie ähneln visuell eher Diagrammen als Karten, doch im Laufe des Forschungsprozesses kann mit ihrer Hilfe deutlich werden, wie Themen, die in Bezug zu den Beobachtungen im Raum stehen, kognitiv geordnet werden. Mit der Mindmap können Denkweisen visualisiert werden, und es zeigt sich, dass sich die »räumliche Nähe« von Begriff lichkeiten in unseren Köpfen nicht nur ändern kann, sondern dass sich aus unterschiedlichen Ordnungsweisen jeweils auch neue Beschreibungen ergeben. → Lernziel: Kognitive Ordnungen wandeln sich beständig und schaffen immer wieder neue Interpretationen. Diese stehen immer auch in Bezug zu unseren räumlichen Konzepten und (Ein-)Ordnungen. Soll Kartographie dem Zweck kritischer Wissenschaften dienen, dann ist es aus emanzipatorischer Sicht wichtig, dass Kartieren möglichst niedrigschwellig, also leicht einsetzbar, erlebt wird. Hierzu sollte es ohne technische Ressourcen erlernt werden. Diese Forderung scheint auf den ersten Blick banal, denn lässt sich eine Karte nicht mit ganz einfachen Hilfsmitteln anfertigen? In der Praxis stellt man aber fest, dass es

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eine ganze Reihe von technischen Hilfsmitteln wie etwa GPS-Geräte, Lasermessgeräte oder Tabletcomputer gibt, die die Arbeit deutlich bequemer machen und längst zum Standard geworden sind. Kritisch zu hinterfragen ist dabei, dass die Anschaffung oft enorme Geldmittel erfordert und meist noch weitere Investitionen notwendig macht wie etwa Akkupacks, um Laufzeiten im Gelände zu erhöhen. Unser Argument ist darüber hinaus, dass das händische und weitgehend hilfsmittelfreie Kartieren erlernt werden sollte, damit Kartieren den Studierenden überhaupt als eine ihnen voraussetzungsfrei und ohne Abhängigkeiten gegebene Möglichkeit erscheint. Hinter diesem Ziel steht das psychologische Konzept der Selbstwirksamkeit (Bandura 1977). In die Pädagogik übertragen, geht es bei der Idee darum, durch praktische Erfahrungen positive Erwartungshaltungen gegenüber eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und zu fördern – oder vereinfacht gesagt um »das Vertrauen in die eigene Kompetenz, auch schwierige Handlungen in Gang setzen und zu Ende führen zu können« (Schwarzer/ Jerusalem 2002: 39). → Lernziel: Kartographische Selbstwirksamkeit Gegenüber klassischen Kartographiekursen kommt dem Wort »Karte« innerhalb der hier vorgeschlagenen Lehreinheit eine erweiterte Bedeutungsbreite zu. Durch die verbindende Konzeption dreier sehr unterschiedlicher Perspektiven auf Raum und räumliche Ordnungen werden die Studierenden ermächtigt, sich kreativ mit der thematischen Kartierung eines Raumausschnittes zu beschäftigen. Nachdem nun ein genereller Überblick über die Konzeption des Seminars hergestellt ist, werden im Folgenden die konkreten Aufgaben für die Studierenden beschrieben. Diese bieten den praktischen Rahmen, innerhalb dessen die Studierenden sich Schritt für Schritt ein eigenes Bild von dem zu kartierenden Raumausschnitt erarbeiten.

Aufgabe 1: Nutzungs(konflikt)kartierung Der erste Schritt verfolgt ganz grundlegende Ziele: Die Studierenden sollen ein Verständnis dafür entwickeln, wie man zum einen Sachverhalte als »wichtige« Elemente einer Karte auswählt, und dafür, dass Karten zum anderen keinen reinen Abbildcharakter haben, sondern eine Geschichte erzählen. Beauftragen Sie die Studierenden, eine »Nutzungskartierung« anzufertigen. Dabei soll die Nutzung des Straßenraumes und der angrenzenden Erdgeschossf lächen (z.B. als Geschäft oder Büro) aufgenommen werden. Eine ohne technische Hilfsmittel aufgenommene Skizze des Raumes und seiner Nutzungen wird dann später (s.u.) in eine maßstabsgetreue Reinzeichnung überführt. Als zu kartierender Raumausschnitt eignen sich vielfältig genutzte Innenstadtbereiche, in denen sich verschiedene Nutzungen in kleineren Raumeinheiten (Plätze, Einkaufsstraßen etc.) abwechseln. Einführend können die Studierenden folgende Übung durchführen. Übung: Begeben Sie sich mit den Studierenden an einen öffentlichen Platz, beispielsweise in einen Park oder einen Innenhof der Universität. An diesem Ort sollte es möglich sein, verschiedene Elemente im Raum ausfindig zu machen (z.B. Laternen,

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Mülleimer, Poller, Sitzgelegenheiten, unterschiedliche Straßenbeläge, Bäume, Grünelemente oder sonstige abgrenzbare Einheiten). Lassen Sie die Studierenden zunächst Dinge der Umgebung benennen, die sie für eine Karte als wichtig erachten. Sprechen Sie über die Auswahl. Wählen Sie dann sukzessive immer kleiner werdende Elemente und fragen Sie jedes Mal, ob das auch aufgenommen werden sollte. Vermutlich werden sich die Studierenden ab einem bestimmten Punkt nicht mehr einig sein. Provozieren Sie diese Meinungsverschiedenheiten ein wenig, denn das gibt Ihnen Gelegenheit, den Begriff der Generalisierung zu diskutieren. Generalisierung wird in der Regel als ein »Weglassen« von Raumelementen in Abhängigkeit von der durch den verwendeten Maßstab möglichen Genauigkeit angesehen. Lehnen Sie diesen Begriff ab und verdeutlichen Sie den Studierenden, dass sie keineswegs etwas weglassen. Heben Sie das Blatt eines Baumes oder einen anderen kleinen Gegenstand vom Boden auf und fragen Sie, ob sie das weggelassen hätten. Machen Sie den Studierenden klar, dass sie das Blatt genau genommen gar nicht »weggelassen« haben können, weil sie es gar nicht wahrgenommen haben. Weglassen wäre nur dann eine Handlung, wenn sie bewusst ausgeführt würde. Demgegenüber ist das Einzeichnen in eine Karte unbestritten eine Handlung. Kartenzeichnen bedeutet demnach, Dingen einen besonderen Stellenwert zu geben, bestimmte Sachverhalte für wichtig zu erachten, ihnen einen besonderen Status zu geben, sie hervorzuheben. → Lernziel: Karten sind Erzählungen über Orte. Wählen Sie folgende Analogie: So wie ein Autor die Worte wählt, um damit eine Geschichte zu erzählen, so wählt der Kartograph Symbole und Signaturen, um damit eine Geschichte über einen Ort zu erzählen. Wichtig herauszustellen ist, dass nicht allein der Maßstab der Karte dafür verantwortlich ist, welche Dinge in einer Karte dargestellt werden, sondern vor allem der Zweck der Karte, genauer: die Geschichte, die eine Karte erzählen soll. Erschließen Sie zusammen mit den Studierenden, dass eine Karte keinesfalls eine reine Generalisierung oder Informationsreduktion gegenüber der »Wirklichkeit« darstellt, vielmehr wird durch das Auswählen bedeutsamer Elemente vor dem Hintergrund einer bestimmten Fragestellung eine bestimmte Botschaft durch die Autor*innen der Karte transportiert. Im Weiteren stellt sich aber die Frage, wie es gelingen kann, eine relevante Geschichte über einen Raumausschnitt zu erzählen. Aussagen über einen Raumausschnitt können sich je nach Wahl der Befragten bereits bei einer reinen Nutzungskartierung elementar unterscheiden, fragt man etwa nach der Nutzung oder Nutzbarkeit des Raumes aus Sicht von Studierenden oder aus Sicht von Eltern mit Kleinkindern. Wie lassen sich so unterschiedliche Perspektiven integrieren? Forschungsrelevant für die Sozialgeographie wird eine Thematik, wenn man das Augenmerk auf unterschiedliche Ansprüche auf oder Interpretationen von Raum richtet: So wird aus einer reinen Nutzungskartierung eine Nutzungskonf liktkartierung. Letztere fragt gezielt danach, ob sich aus der bisherigen Gestaltung des Raumes Konf likte zwischen verschiedenen Personen oder Gruppen ergeben können. Die Frage nach dem Sinn und Unsinn der Erfassung von Elementen bekommt auf diese Weise eine neue Bewertungsgrundlage. Eine Baustelle, auf Gehwegen parkende Autos, »wild« abgestellte Fahrräder oder Stra-

Raumgeschichten – mit Karten erzählen

ßenmusikant*innen, welche zunächst vielleicht als temporäre, kartierungsunwürdige Objekte erschienen, werden nun interessant. Wenn den Studierenden solche »konf liktträchtigen« Phänomene unmittelbar auffällig werden, können diese direkt in die Skizze der Karte mit aufgenommen werden. Oft bedarf es aber eines weiteren Schrittes (vgl. Aufgabe 2), um die Teilnehmer*innen des Seminars für diese Aspekte zu sensibilisieren, also einer Systematik, (räumliche) soziale Konf likte zu erschließen und zu visualisieren.

Aufgabe 2: Partizipative Kartierung Bei der Nutzungskartierung wird versucht, den physischen Raum möglichst sachlich darzustellen. Hierzu dienen gängige kartographische Konventionen. Ein Nutzungskonf likt aber lässt sich selten allein durch pure Vermessung feststellen. Nur selten lassen sich Konf likte tatsächlich beobachten, und nicht immer hinterlassen sie andauernde physische Hinweise. Gibt es keine äußeren Anzeichen eines Konf liktes, dann bedeutet das noch lange nicht, dass alles friedlich ist. Um Konf likte zu erfassen, müssen wir uns den Sichtweisen der Beteiligten zuwenden. Methoden der partizipativen Kartierung wenden sich daher der Raumwahrnehmung der Raumnutzer*innen bzw. der »Betroffenen« zu. Solche Ansätze haben sich unter anderem innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen des Participatory Rural Appraisal (PRA) entwickelt (Chambers 1994). Anwendung finden sie zum Beispiel in aktivistischen Zusammenhängen des Globalen Südens oder in der Katastrophenforschung. Oft geht es darum, das umfangreiche Wissen der lokalen Bevölkerung über örtliche Begebenheiten und Risiken mit in das Design von Katastrophenschutzmaßnahmen zu integrieren (bspw. Cadag/Gaillard 2012). Vermehrt wird ebenfalls in der Stadtforschung und Stadtplanung für den Einsatz partizipativer Methoden plädiert, auch die Gesundheitsforschung sieht hier großes Potenzial (Hartung/Wihofszky/Wright 2020). Methoden der partizipativen Kartierung lehnen sich an das breite Spektrum der visuellen Techniken der partizipativen Forschung an und können eine Vielzahl von Formen annehmen (Bradbury 2015; CARE 2019: 47ff.; Deinet 2009; Gangarova/von Unger 2020). Wichtigste Richtlinie ist, dass sich die Methodik an dem zu untersuchenden Sachverhalt und an der Zielgruppe orientiert. Vor allem muss die Ausgestaltung der Partizipation den Beforschten und deren Fähigkeiten gerecht werden. Ziel von Partizipation ist ein emanzipatorischer Effekt im Sinne der Ermächtigung (Empowerment). Dies kann zum Beispiel gelingen, wenn eine Karte angefertigt wird, welche in politische Prozesse eingebracht werden kann. Auch gelingt es, wenn die Beteiligten im Prozess Kompetenzen erwerben oder eine Selbstvergewisserung als eine Gemeinschaft mit geteilten Anliegen erfahren. Diskutieren Sie mit den Studierenden, dass es unterschiedliche Vorstellungen und Formen (bzw. Grade) von Partizipation gibt. Besprechen Sie ebenfalls notwendige gesellschaftliche und (forschungs-)ethische Voraussetzungen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere auch die Risiken partizipativer Forschung zu diskutieren, beispielsweise in Bezug auf die Privatsphäre, den Datenschutz und einen möglichen Missbrauch des Vertrauensverhältnisses bzw. die Instrumentalisierung der Teilnehmenden (Bergold/Thomas 2012: § 102f.). Um das nicht unproblematische Verhältnis zwischen Forschenden und Beforschten im Kontext partizipativer Kartierung zu thematisieren, schlagen wir nachfolgende Übung vor.

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Übung: Lassen Sie die Studierenden eine Forschungssituation entwerfen, in der ein klares Missverhältnis bzw. eine Überforderung der Forschungsteilnehmenden besteht. Es wäre beispielsweise unangemessen, von einer Gruppe Vorschulkinder zu verlangen, in eine reguläre Straßenkarte sämtliche gefährlichen Orte auf ihrem Schulweg einzuzeichnen. Diskutieren Sie, welche Annahmen die jeweiligen Szenarien über die Beforschten beinhalten und welches »Gefälle« sich darin ausdrückt. Die Studierenden sollen dafür sensibilisiert werden, dass die Beziehung zwischen akademischen Forscher*innen und Nichtakademiker*innen, vielleicht auch wenig gebildeten Beforschten, adäquat gestaltet werden sollte. Das projiziert sich bis auf die Ebene der Wortwahl bei Fragestellungen in klassischen Fragebögen: Die Befragten müssen die Fragen verstehen können! Die zu verwendende Form der partizipativen Kartierung sollte in dieser Übung nicht festgelegt werden, sondern offenbleiben. Sie sollte sich am Gegenstand der Untersuchung ausrichten. Zur Orientierung wollen wir hier exemplarisch nur drei partizipative Methoden unterscheiden. Die Aktionsraumkartierung eignet sich für die Aufgabe, die üblichen Bewegungen der Befragten in einer Karte festzuhalten. Sie kann in Einzel- oder Gruppengesprächen statisch in einem Raum oder an einem öffentlichen Ort stattfinden bzw. in einer gemeinsamen Begehung entstehen. Dabei nähert sie sich dann der Go-along-Kartierung an, die das Begleiten im Raum zum methodischen Ankerpunkt macht (Kusenbach 2003). Hierzu ist vor allem methodische Offenheit wichtig, um den Beforschten die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Interessen einzubringen. Auch zu Dokumentationszwecken sollte methodisch offen gedacht werden, so kann beispielsweise GPS, Fotografie oder Video eingesetzt werden. Bei der Methode der Mental Map (Lynch 2005) soll eine Interviewperson selbst eine Karte anfertigen. Dabei muss es nicht zwingend nur um subjektive Vorstellungen der räumlichen Umwelt gehen. Mit der Mental Map ist es möglich, das Interesse auf kognitive Ordnungen aller Art auszuweiten. Weisen Sie auf die Bedeutungsvielfalt des englischen Begriffes »map« und »to map« hin (s. Textbox). Das Interesse richtet sich nun darauf, wie eine Interviewperson den zur Debatte stehenden Sachverhalt in ihrem Darüber-Nachdenken ordnet. Mental Maps sind keine festen Entitäten, sondern entstehen in den Momenten ihrer Produktion immer wieder auf eine besondere Weise. Auch hier sollte das Interesse des Kurses an räumlichen Konf likten die wesentliche Orientierung zur Ausgestaltung der Methode geben. → Lernziel: Es geht nicht darum, eine Methode richtig auszuführen, sondern sie angemessen zu gestalten. Empirische Methoden sind keine Patentrezepte, sondern konventionalisierte Praktiken, die im Einzelfall angepasst werden müssen. Es soll den Teilnehmer*innen überlassen bleiben, eine dem Gegenstand der Untersuchung angemessene Methode zu entwickeln. Vielleicht ist eine Mental Map geeignet, Beziehungsgef lechte von Marktverkäufer*innen auf dem Wochenmarkt untereinander oder zu den Großhändler*innen zu untersuchen. Eine Go-along-Kartierung wird vielleicht eher Gefahrensituationen auf Fußgängerwegen erhellen können. Das Thema soll gemeinsam mit einer Interviewpartnerin oder einem Interviewpartner weiterentwickelt werden, um eine Karte hervorzubringen, die sich den Sichtweisen der Betroffenen annähert. Das di-

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Textbox 1: Bedeutungen des englischen Wortes »map« (Auswahl) map

die Abbildung

map

die Karte

map

die Landkarte

map

der Stadtplan

map

die Übersichtstafel

map

der Plan

to map

erfassen

to map

kartenzeichnen

to map

umsetzen

to map sth.

etwas kartieren/ausarbeiten/planen/vermessen/ zuordnen/entschlüsseln/auf etwas abbilden

Quelle: http://dict.leo.org

daktische Ziel ist hierbei weniger die handwerkliche Leistung der Kartierung als vielmehr die Erfahrung, dass die Haltungen und Meinungen der Befragten unerwartete Situationen und Erkenntnisse in den methodischen Forschungsprozess einbringen. Insbesondere die Tatsache, dass die eigentlichen Ursachen und Hintergründe räumlicher Konf likte manchmal auch außerhalb des zu kartierenden Ortes liegen können, ist eine wichtige Erfahrung. → Lernziel: Empirische Forschung ist die gemeinsame Hervorbringung von Ergebnissen durch die Forschenden und die Beforschten. Letztlich ist es der explorative Charakter einer solchen Kartierung, der abermals das klassische Verständnis von der »Wahrheitsleistung« von Karten überdenken lässt. Versuchen Sie, im Gespräch mit den Studierenden genau die Momente herauszuarbeiten, die sich unerwartet ergeben haben oder allein auf Impulse der Beforschten zurückzuführen sind.

Aufgabe 3: Mindmap Um die vielfältigen, aus der Kartierung und der Interaktion mit den Forschungsteilnehmenden gewonnenen Forschungseindrücke zu strukturieren, eignet sich eine Mindmap. In dieser Form der Visualisierung sollen die Kursteilnehmer*innen während des gesamten Forschungsprozesses wiederholt neue Eindrücke festhalten und graphisch in Bezug zu bisherigen Erkenntnissen setzen. Kartieren ist immer auch ein Erkunden der Welt, und schon das Begehen eines Raumausschnittes in Form einer interessiert durchgeführten »Ortsbegehung« eröffnet Möglichkeiten des Beobachtens und des Sammelns von Eindrücken. Die partizipativen Methoden des Kartierens vertiefen diese ersten Erkenntnisse durch das Interagieren mit den sich im Raum bewegenden Individuen. Im gesamten Prozess werden immer wieder Ideen und Konzepte

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über das zu bearbeitende Thema entstehen. In einer Mindmap werden diese Ideen als Beziehungsgef lecht abstrakter Begriffe dargestellt. So ergibt sich die Darstellung eines Bedeutungsraumes übergeordneter Bezüge. → Lernziel: Begriffe schaffen Bedeutungsräume. Gestalterische Vorgaben sind bei einer Mindmap nicht notwendig – allein die Maßgabe, dass die in Texten, Symbolen und Formen dargestellten Kategorien sinnhaft zueinander positioniert und miteinander verbunden werden sollen, kann ausreichen, um einen kreativen Schaffensprozess in Gang zu setzen. Durch das schrittweise visuelle An- und Umordnen der eigenen Gedanken und Eindrücke kann das Kerninteresse der Forschung herausgearbeitet und die Fragestellung der gesamten Forschungsarbeit kann präzisiert werden. So kommen die Studierenden beispielsweise von der Frage nach Nutzungskonf likten zu Fragen des Platzbedarfs verschiedener Mobilitätsformen. Das Visualisieren mittels Mindmaps sollte als iterativer Verstehensprozess begriffen werden, der die einzelnen Empirie- und Theoriefragmente wiederholt in neue Sinnzusammenhänge bringt. Grundlage eines solchen Vorgehens ist das Forschungskonzept der Grounded Theory, welchem die Idee innewohnt, den Forschungsprozess als ein kontinuierliches Wechselspiel zwischen Empirie und theoretischer Ref lexion zu gestalten. Zu Forschungsbeginn werden hier vor allem offene, explorative Methoden eingesetzt. Dies hat zum Ziel, Unerwartetes abseits eigener (Forschungs-)Überzeugungen aufzuspüren und Erwartetes zu hinterfragen. Durch eine enge Verknüpfung theoretischer Konzepte mit den empirischen Daten und einen ausreichenden kreativen Spielraum können die beobachteten Phänomene sowohl besser aus Perspektive der Beforschten verstanden als auch mittels neuer Konzepte umfassend interpretierbar werden (Geiselhart et al. 2012). Das Arbeiten mit Mindmaps kann den kreativen Funken im Forschungsprozess unterstützen und so zu einem tieferen Verständnis des untersuchten Phänomens beitragen. Didaktisch bietet es sich an, das Beispiel einer gelungenen Mindmap zu zeigen.

Das Endprodukt: Eine Karte mit Geschichte Seminarziel und Endprodukt aller drei Aufgaben ist eine reingezeichnete, formal vollständige Karte, die alle durch die drei sehr unterschiedlichen Zugänge gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse integriert. Neben einem Titel, der das Thema treffend benennt, muss die Karte mit einer eindeutigen Legende, dem korrekten Maßstab, einem Nordpfeil, einem Kartenrahmen, dem Aufnahmedatum und der Autor*innenschaft ausgestattet sein. Basis hierfür ist die in eine Reinzeichnung übertragene Skizze der Nutzungskartierung: Innerhalb der räumlichen Anordnung der Gebäude und Straßen ist die Nutzung der Geschossf lächen und des Straßenraumes durch eine sinnvolle Kategorisierung und Signatur (Schraffuren) eingezeichnet. Dabei sollen sowohl permanente als auch temporäre, planmäßige wie situative – das heißt eventuell auch regelwidrige – Nutzungen aufgenommen werden. Zur Visualisierung eines Nutzungskonf likts stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Neben einer Hervorhebung durch weitere Schraffuren können selbst entworfene Piktogramme (z.B. Punktsignaturen oder gestaltete Symbole in Anlehnung an Points of Interest) eingesetzt

Raumgeschichten – mit Karten erzählen

werden. Manchmal entwickeln die Studierenden aber auch weitere kreative Lösungen, die sich für ihr Thema am besten eignen. In Interaktion mit dem Untersuchungsraum und den Nutzer*innen des Raumes entwickeln die Seminarteilnehmer*innen ein Wissen über soziale Vorgänge an ihrem Untersuchungsort. Deshalb ist es wichtig, dass die resultierende Karte dies im Sinne einer »Geschichte über den Ort« möglichst nachvollziehbar, auch für Außenstehende, wiedergibt. Da eine Karte auch niemals alleine steht, sollen die Studierenden noch einen kurzen Text zu ihrer Karte verfassen, der die Aufmerksamkeit möglicher Leser*innen auf die verschiedenen Elemente der Karte lenkt. → Lernziel: Mit Karten kann man Geschichten erzählen.

Didaktische Maßnahmen und deren Reflexion Folgende allgemeinere Aspekte können, wenn sich gerade eine Möglichkeit dazu ergibt, f lexibel in die Lehreinheiten eingepasst werden. Auch sollten sie in einer anschließenden Runde zur Ergebnissicherung ref lektiert werden.

Die Sprache der Karte: Klassifizierung und Attributierungen Sprechen Sie mit den Teilnehmer*innen über das Zustandekommen ihres Kartierschlüssels. Dieser sollte sich aus verschiedenen Überlegungen heraus ergeben haben. Auf der einen Seite werden klassische Konventionen und Signaturen Eingang in die Karte gefunden haben. Diskutieren Sie deren Funktion im Sinne einer guten Lesbarkeit einer Karte, aber auch die potenzielle Selektivität, die sich durch die Reproduktion von Standards ergibt. Ferner werden sich einige Kategorien aus den partizipativen Beteiligungsverfahren entwickelt haben. Besprechen Sie, wie sich hierdurch der Charakter der Karte von der Repräsentation einer konventionalisierten Sicht auf den gewählten Raumausschnitt zur Repräsentation der Perspektive der Befragten verschiebt. An dieser Stelle können Sie eine Trias der Attributierungssysteme einführen: Attributierungsschlüssel können top-down vorgegeben sein, z.B. vom Landesvermessungsamt oder einer Bergbaugesellschaft; sie können aber auch bottom-up – beispielsweise von einer grassroots-Bewegung – als counternarrative entwickelt werden; oder aber sie entstehen als folksonomies in einem kollaborativen Prozess des Crowdsourcing (manchmal auch als collaborative sourcing oder social tagging beschrieben). Erörtern Sie zudem, wie die eigene Ref lexion mittels der Mindmaps die Kategorien des Kartierschlüssels geprägt hat. Wichtig klarzustellen ist, dass bei einer Kartierung eine Übersetzung stattfindet von den partikularen Perspektiven der Beforschten in eine vermittelnde, da sich die Karte an imaginierte Leser*innen richtet. Zur Integration der unterschiedlichen Einzelstimmen bedarf es zwingend einer gewissen Abstrahierung. Weisen Sie abschließend auf die zentrale Bedeutung des Kartierschlüssels hin und besprechen Sie auch die Wichtigkeit der Legende, die die zentrale Aufgabe hat, die Karte lesbar zu machen. → Lernziel: Der Kartierschlüssel ist das Vokabular einer Karte. Er bestimmt nicht nur, wie eine Karte zu verstehen ist, sondern auch, wer sie versteht.

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Die Karte als Handwerksprodukt Trotz der zunehmenden Digitalisierung unserer schriftlichen und bildgestalterischen Ausdrucksformen ist es weiterhin sehr sinnvoll, dass graphische Produkte wie Karten zumindest einmal während des Studiums ohne technische Hilfsmittel, sozusagen »von Hand«, angefertigt werden. Wir haben einleitend schon den emanzipatorischen Effekt von niedrigschwelligen Methoden der Sozialforschung betont. Darüber hinaus geben digitale Werkzeuge aber auch viele Details vor. Damit nehmen sie den Studierenden grundlegende kartographische Entscheidungen ab, beispielsweise wenn bestimmte Signaturen voreingestellt sind. Das händische Anfertigen erfordert, dass jedes einzelne Element der Karte in einem bewussten, kreativen Akt hergestellt werden muss. Wenn die Karten in Gruppen angefertigt werden, dann können all diese Entscheidungen diskutiert werden. In vielen kleinen Schritten des Scheiterns und des Erfolgs entsteht die Karte aus verschiedenen Skizzen als hochgradig ref lektiertes Handwerksprodukt. Das gemeinsame, schrittweise und langsame Gestalten einer Karte ohne Computerunterstützung ermöglicht somit eine produktive Lernsituation für die Studierenden. Dies sind genau die praktischen Erfahrungen, die eine positive Erwartungshaltung gegenüber den eigenen Fähigkeiten (der Kartographie) entstehen lassen. Eine Lernsituation mit einem fordernden Rahmen einerseits und einem großen kreativen Spielraum andererseits kann dem oben erwähnten pädagogischen Ziel der Selbstwirksamkeit gerecht werden. → Lernziel: Geographische Selbstwirksamkeit im Sinne eines »Kartieren kann ich immer und überall«. Verlangen Sie eine Reinzeichnung. Das Endprodukt muss nicht unbedingt den höchsten Standards einer technischen Zeichnung genügen, es sollte jedoch ein reproduktionsfähiges Werk entstehen, das den Qualitätsstandards eines externen Auftraggebers gerecht werden könnte. Sauberes Zeichnen mit geeigneten Stiften und Lineal sowie gestalterische Freiheit bei Farben und Signaturen sind eine große Herausforderung. Bei einigen Studierenden stößt dieser Anspruch daher erfahrungsgemäß auf starken Widerstand, insbesondere dann, wenn das Produkt wegen handwerklicher Defizite, wie etwa eines unsauberen Schriftbilds oder uneinheitlicher Schraffuren (klassischer Fehler), zurückgewiesen wird. Bleiben Sie in diesem Falle hart und berauben Sie die Studierenden nicht der vermutlich einzigen Möglichkeit, die Erfahrung zu machen, eine Karte vollständig von Hand anzufertigen. Zwar sind gute Stifte und gutes Papier ebenso wie digitale Hilfsmittel in der Anschaffung durchaus eine gewisse Investition, was auf den ersten Blick unserer Forderung nach Niederschwelligkeit zu widersprechen scheint. Das ist aber nur insofern richtig, als eine händische Reinzeichnung gegenüber einer Kartierungsskizze tatsächlich noch einmal höhere Ansprüche erhebt. Auch werden im späteren Arbeitsumfeld der Studierenden die Reinzeichnungen höchstwahrscheinlich immer am Computer entstehen. Wir vertreten jedoch die Auffassung, dass die gut ausgebildeten Fähigkeiten, händisch zu skizzieren und graphisch zu zeichnen, auch eine spontane unmittelbare Aufnahme im Feld erleichtern.

Raumgeschichten – mit Karten erzählen

Kartographische Genauigkeit und Einsatzbereitschaft Vermitteln Sie den Studierenden, dass kritisches Kartieren sich durch Unabhängigkeit und augenblickliche Einsatzbereitschaft auszeichnet. Übung: Lassen Sie die Studierenden sich mögliche Forschungssituationen ausdenken, in denen keine technischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen, etwa in Katastrophenfällen oder in weit abgelegenen Regionen – wenn es beispielsweise darum geht, aktuelle unmenschliche Bedingungen zu dokumentieren und eine erneute Anreise mit entsprechenden Materialien keine Option ist, weil sie vielleicht mehrere Tage dauern würde. Das Messen von Entfernungen ist uns derart zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir über dessen Möglichkeiten kaum nachdenken. Fordern Sie aber die Studierenden dazu auf, sich vorzustellen, wie sie mit einem Metermaß bewaffnet ein Flüchtlingscamp oder auch nur einen Wochenmarkt während des Betriebes ausmessen. Es ist leicht vorstellbar, dass es dabei augenblicklich zu Konf likten mit militärischen Autoritäten oder zu Streit mit den Verkäufer*innen kommen kann. Lassen Sie die Studierenden Ideen entwickeln, wie diese Problematik gelöst werden könnte. Übung: Stellen Sie die Frage, woran sich die notwendige Genauigkeit einer Karte bemisst. Es werden sicher viele Antworten genannt, etwa dass das kleinste Objekt die notwendige Auf lösung bestimmt. Fragen Sie gegebenenfalls nach, warum es denn notwendig ist, dass eine Karte maßstabsgerecht ist. Fragen Sie, ob das auch tatsächlich immer so ist. Lassen Sie die Studierenden Ideen entwickeln, wann es sinnvoll ist, eine Sache in der Karte zu überzeichnen, weil es von seiner tatsächlichen Größe her eigentlich sehr klein ist, seine Bedeutung für die Aussage der Karte hingegen von hoher Wichtigkeit. Beispiele können militärische Kontrollpunkte oder Überwachungskameras sein. Weisen Sie darauf hin, dass die Genauigkeit einer Karte durch den Maßstab bestimmt wird, den man selbst in die Karte einzeichnet. Aus einer Karte sollten niemals Entfernungen abgelesen werden, die genauer sind, als es die im Maßstab gewählte Unterteilung vorgibt. Machen Sie auch auf den in Bauplänen oft genutzten Zusatz »nicht zur Maßentnahme geeignet« aufmerksam. Stellen Sie dann die Doppelschrittmethode als geeignete Möglichkeit der Längenmessung vor. Da sie keinerlei technische Hilfsmittel benötigt, kann sie immer und überall spontan eingesetzt werden. Dabei wird das individuelle Schrittmaß einer Person als Maßeinheit zur Bestimmung einer Entfernung verwendet. Damit ist diese Methode zwar nicht besonders genau, sie hat aber den entscheidenden Vorteil, dass sie, anders als das Anlegen eines Maßbandes, sehr dezent und unauffällig durchgeführt werden kann. Man schreitet einfach die zu messende Strecke ab und zählt dabei die eigenen Schritte. → Lernziel: »Allzeit bereit« – Kritik bedarf der Unabhängigkeit und augenblicklichen Einsatzbereitschaft.

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Jede Person verfügt über ein individuelles Schrittmaß (vgl. Abb. 1). Wenn man sich das Gefühl, auf eine bestimmte Art zu gehen, merkt, dann lässt sich diese Gangart relativ zuverlässig reproduzieren, und das Schrittmaß ist entsprechend konstant.1 Das individuelle Schrittmaß muss allerdings gesondert bestimmt werden, zum Beispiel indem man eine Referenzstrecke abschreiten lässt. Dies kann entweder vor Beginn der Kartierung oder auch in dem Falle, dass die Kartierung spontan erfolgen soll, danach geschehen. Falls das Schrittmaß vorab nicht bestimmt werden konnte, wird in der Skizze zunächst die Anzahl der Doppelschritte als Streckenmaß festgehalten und später umgerechnet. Abbildung 1: Doppelschrittmaß

Quelle: Eigene Illustration

Fazit: Ebenen geographischer Repräsentation verdeutlichen und kartographische Selbstwirksamkeit stärken Ref lektieren Sie am Ende des Seminars noch, wie mit den verschiedenen Methoden unterschiedliche Abstraktionsebenen durchlaufen wurden. Abbildung 2 hilft Ihnen, diese zu veranschaulichen. Bei der klassischen Kartierung ist der materielle Raum, also Geometrien, Abstände und Formen, von großer Bedeutung. Es entsteht eine Straßenkarte, für die die Ausrichtungen, Anordnungen und Größenverhältnisse von Raumelementen wichtig sind. Methodisch wird das vor allem durch Messen erhoben. Die Nutzungskartierung ähnelt der Straßenkarte und kann trotz weiterer Hinweise zur Nutzung des Raumes nur wenig über soziale Prozesse aussagen. Erste Hinweise auf einen Konf likt bzw. auf die im Entstehen begriffene »Geschichte« gehen aber aus der empirischen Perspektive der Autor*innen hervor. Sie sind damit möglicherweise auch stark durch theoretische Annahmen, allgemeine Normen, Vorstellungen über die Welt, persönliche Werte und Alltagserfahrungen geprägt. Zum kritischen Kartieren gehört es, dieses situierte Wissen zu überwinden, indem systematisch die Perspektiven und Wahrnehmungen anderer Nutzer*innen erschlossen werden.

1 Einen inspirierenden Exkurs zu dieser traditionellen Vermessungstechnik bietet Jirō Taniguchi in seinem Manga »Der Kartograph« (erschienen bei Carlsen).

Raumgeschichten – mit Karten erzählen

Abbildung 2: Ebenen geographischer Repräsentation

Quelle: Eigene Illustration

In der Gruppenarbeit findet zwar schon eine erste Verschneidung verschiedener Wahrnehmungshorizonte statt, doch erschließen sich Konf likte in ihrer Natur als menschliche Beziehungsweisen nur durch die Sichtweisen der »Nutzer*innen« des Raumes bzw. der »Betroffenen«. Der »materielle Raum« ist bei partizipativen Kartierungen von deutlich geringerer Relevanz. Hier zählen vor allem Positionen, Richtungen und Raumbezüge, also die Relationen, die die Befragten zwischen den einzelnen Elementen der Karte herstellen, und die Position, die sie ihnen zuweisen. Es entsteht das Bild eines Aktionsraumes, innerhalb dessen sich eine sinnvolle Positionierung der Kartenelemente und ihrer Bezüge weniger aus ihrer materiellen Nähe zueinander ergibt. Positionen erfolgen vielmehr aus den Handlungsweisen und gesellschaftlichen Funktionen, die die Bedeutung der einzelnen Kartenelemente und deren Sinnbezüge untereinander herstellen. Die Sachverhalte werden in ihrer räumlichen (und zeitlichen) Verortung und in ihrer Funktion als Sinnesanker in die Karte aufgenommen. Funktionen, Bewegungen und Bedeutungen von Raumelementen werden methodisch vor allem durch Befragen und Zuhören erhoben. Raum und Zeit fungieren hier jedoch weiter als zugrunde liegende Form- und Taktgeber des entstehenden Bildes. Mit der Mindmap wird schließlich die abstrakteste Ebene einer Kartierung erreicht. Hier können sich die Inhalte auch ihrer letzten physisch-räumlichen sowie zeitlich-historischen Bezüge »entledigen«. Begriffe, Kategorien und Konzepte spannen allein in ihren gedanklichen Beziehungen zueinander einen Raum aus Ideen auf. Die kognitive Ordnung konstituiert die Relevanz, die die Kartierung haben soll. Ihre Methode ist die Interpretation. Sie bewegt sich in einem diskursiven Verständnis von sprachlicher und zeichnerischer Repräsentation als

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bedeutungsschaffendem Möglichkeitenraum. Es gilt, die Studierenden dazu zu befähigen, ihre gewonnenen Erkenntnisse über die verschiedenen Ebenen geographischer Repräsentation visuell und sprachlich zu vermitteln. → Lernziel: Kartograph*innen integrieren ihr Wissen über die komplexen Beziehungen zwischen vielschichtigen räumlichen und sozialen Dimensionen in einer Karte. Bei Studierenden besteht am Anfang ihres Studiums in der Regel eine Dissonanz zwischen dem kritischen Bewusstsein für die Konstruktion von Karten und der praktischen Befähigung, dieses Bewusstsein forschungspraktisch umzusetzen. Um einem kritischen Anspruch bei einzelnen methodischen Schritten der Erhebung, Aufzeichnung und Interpretation von Daten gerecht bleiben zu können, ist es notwendig, dass beständig der Rückbezug auf den Forschungskontext, etwa soziale Problematiken und die Beforschten, stattfindet. Darüber hinaus ist die Förderung der Selbstwirksamkeit der Studierenden ein Ziel des hier beschriebenen didaktischen Entwurfes. Sie sollen sich befähigt fühlen, auch ohne Hilfsmittel spontan zu kartieren, wann immer es notwendig sein sollte. Es sind keine kostspieligen Hilfsmittel notwendig, um eine Karte zu zeichnen. Ein Blatt Papier, ein Stift, ein Schrittmaß und Offenheit für die Sichtweise anderer reichen aus. Empowerment erfüllt sich im Bewusstsein von Unabhängigkeit und in der niederschwelligen Einsatzbereitschaft. Diese Faktoren sind für eine kritische Forschung von größter Bedeutung. Die durch Übungen entwickelte Überzeugung, eine Karte auch unter schwierigen Bedingungen anfertigen zu können, ist aber natürlich nur ein Aspekt »kartographischer« Selbstwirksamkeit. Im Weiteren geht es ja auch darum, Vertrauen in die eigene Fähigkeit zu entwickeln, die eigenen durch wissenschaftliche Forschungsmethoden gewonnenen Eindrücke überzeugend darstellen und erfolgreich zur Diskussion stellen zu können. Schaffen Sie daher den notwendigen (zeitlichen) Raum und eine motivierende Atmosphäre, in denen die Kartierungen präsentiert und unter den Studierenden diskutiert werden können. Eine (be-)wertungsfreie, kreative Seminarsituation, in der die Studierenden angstfrei und konstruktiv gegenseitige Kritik üben können, ist letztlich das entscheidende Setting, in dem zum einen »wohldosierte Erfolgserfahrungen« (Schwarzer/Jerusalem 2002: 42) gemacht werden können und zum anderen Scheitern nicht als Misserfolg, sondern als wichtiger Schritt zu einer größeren Selbstkompetenz erlebt werden kann. Die Erkenntnisse der Kritischen Kartographie in Kombination mit einer kritischen praktischen Methodenausbildung bieten das notwendige Rüstzeug, mit dem die Studierenden in ihrem späteren Arbeitsalltag wichtige Impulse setzen können. Dennoch werden sie dann immer wieder mit der Konstruiertheit des eigenen Schaffens und dem beharrlichen Festhalten anderer an tradierten Glaubenssätzen über die Kartographie konfrontiert sein. Zum verantwortungsvollen Kartieren gehört daher auch die Ambiguitätstoleranz, dieses Dilemma der Kartographie nicht vollständig auf lösen zu können.

Raumgeschichten – mit Karten erzählen

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Kritisches Kartieren in Bildungskontexten – zwischen Erkenntnismittel und politischer Kommunikation Inga Gryl, Michael Lehner, Jana Pokraka

Abstract Neokartographie ist eine wesentliche Bedingung, um kritisches Kartieren in der Schule als Kulturtechnik, die gesellschaftliche Partizipation in digitalen Kulturen eröffnet, zu definieren und dazu zu befähigen, bedarf aber der Ergänzung um kritische/reflexive Aspekte.

Kartieren in der geographischen Bildung Kartieren ist ein aktiver, im Idealfall ref lexiver Prozess, der im Sinne informativ-signifikativer Geographien (Werlen 1993), das heißt Geographien der gesellschaftlichen Kommunikation, zum Geographiemachen und damit zur Nutzung von alltäglichen Räumen und zur Gestaltung von Gesellschaft beiträgt. Durch Kartieren können vielfältige fachgeographische und interdisziplinäre Zusammenhänge erschlossen und bearbeitet werden. Zugleich ist Kartieren als durch Bildung zu vermittelnde Kulturtechnik zu verstehen (Strobl 2008). Digitalisierung wiederum treibt die Bereitschaft von Lehrkräften voran, »proaktives Lernen« (Stark-Verlag 2018: o.S., insbesondere im Sinne von Medien-Produtzung, ein Kofferwort aus »Produktion« und »Nutzung«; Bruns 2008) zu fördern, wo Schule zuvor durch ein gewisses Missverhältnis zugunsten konsumierender und rezipierender Praktiken geprägt war. Mit der – zeitlich deutlich nach der fachwissenschaftlichen Entwicklung auf kommenden – Rezeption Kritischer Kartographie in der schulischen Kartenarbeit einerseits und geomedialen Innovationen1 andererseits sind Transformationsprozesse auch in der geographischen Bildung angestoßen worden. Diese fundieren, wenn auch zögerlich, Kartieren als ref lexive Praxis geographischer Bildung. Dieser Beitrag lotet aus, wie eine solche Bildungspraxis eines kritischen Kartierens aussehen kann. Dazu werden zunächst theoretische Überlegungen zur Epistemologie und zum Kritikbegriff des schulischen Kartierens vorgestellt: Dekonstruktion 1 Digitale Geomedien bezeichnen nach Uwe Schulze und Inga Gryl (2021, i.E.) alle Repräsentationen von Raum, auch jenseits kartographischer Visualisierungen. Der Begriff »Karte« kann in diesem Aufsatz sowohl analog als auch digital gemeint sein und sich damit mit dem Geomedienbegriff überschneiden.

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Inga Gryl, Michael Lehner, Jana Pokraka

als Adaption aus der Kritischen Kartographie als Grundlage, Spatial Citizenship als Bildungsansatz der digital gestützten Kartenproduktion und immanente Kritik zur Vertiefung der gesellschaftlichen Problemorientierung von Kartierungsprozessen. Im Praxisbeispiel werden dann mit der Einbettung von Bildung in gesellschaftliche Zusammenhänge Machtbeziehungen in (u.a. unterrichtlichen) Kartierungsprozessen stärker ref lektiert. Abschließend werden vor dem Hintergrund der »Kultur der Digitalität« (Stalder 2017) neuere didaktische Entwicklungen wie virale Raumaneignung (Kanwischer/Schlottmann 2017) in Relation zur Kartierung angerissen. Vor alledem soll auf grundlegende Entwicklungsbedingungen für kritisches Kartieren in Bildungsprozessen eingegangen werden: Die angesprochene schleppende Implementierung einer aktuellen und kritischen Form des Kartierens ist in der begrenzten Innovationsgeschwindigkeit von Schule als Institution (Mäsgen 2020) einerseits und in der langen Tradition einer fest verwurzelten, etablierten wie eng geführten schulischen Kartenarbeit andererseits begründet. Schulische Kartographie wurde einst als Expert*innendisziplin gelehrt, die Schüler*innen begrenzte Einblicke gewährte – wie etwa grundlegende Kenntnisse der als gesetzt definierten technischen Bedingungen und Konventionen amtlicher Kartographie. Mit dem Auf kommen digitaler Kartographien fanden in Form stark vordefinierter Web GIS und in höheren Klassen mit komplexen professionellen Geoinformationssystemen (GIS) kartographische Visualisierungen in den Unterricht Eingang, die durch die Lerner*innen veränderbar waren – allerdings in den Grenzen der entsprechenden Ontologien, zumal die Systeme entweder von den Eingriffsmöglichkeiten sehr begrenzt oder von der Anwendungsfreundlichkeit her sehr komplex waren, was wiederum die Optionen der Gestaltung minimierte. Aufgrund von Komplexität notwendige Klick-Vorlagen betonten ihrerseits den rezeptiven Charakter von GIS in der Schule und ließen die Frage nach kreativer Bearbeitung geographischer Probleme und der Gestaltung von räumlichen Repräsentationen und Räumen durch Schüler*innen in den Hintergrund rücken (vgl. Milson/Kerski/Demirci 2012). Wenn neben Datenabfragen überhaupt Prozesse des Kartierens auf dieser Basis realisiert wurden, mussten diese eher basal bleiben. Parallel zur Arbeit mit vorgegebenen Karten und Systemen sind zudem Mental Maps/ Kognitive Karten (Downs/Stea 1982) in der Tradition der Perzeptionsgeographie seit Langem Bestandteil schulischer geographischer Bildung und markieren, neben händischen Kartierungen, einen Hauptteil der produktiven Kartenarbeit. Oft werden diese dichotom in ihrer offengelegten Subjektivität von Expert*innenprodukten abgegrenzt (vgl. Rinschede 2003). Im Idealfall werden sie im Sinne von »Subjektivem Kartographieren« (Daum 2010) als Anlass zur Ref lexion von Raumaneignung verstanden, im schlechtesten Fall als zu korrigierende Weltsichten oder gar als bloßes (mängelbehaftetes) topographisches Wissen (vgl. Rinschede 2003). Insbesondere seit den 2000er Jahren auf kommende Praktiken der »Kultur der Digitalität« (Stalder 2017) sowie der damit verbundenen geomedialen Gesellschaft geben aber verschiedene Impulse, schulische Karten- bzw. Geomedienarbeit zu innovieren und dabei dem Kartieren zu einer neu konnotierten wie auch bedeutungsvolleren Position zu verhelfen: • Digitalisierung als technologische und gesellschaftliche Entwicklung verändert Lebensbereiche so deutlich, dass Schule zu Handlungsfähigkeit in einer durch

Kritisches Kartieren in Bildungskontexten

Digitalisierung geprägten Welt verhelfen muss (KMK 2016). Mit Dokumenten wie dem DigCompEdu-Modell der Europäischen Kommission werden auch die Lehrer*innen als Multiplikator*innen adressiert. Durch eine zunehmende Berücksichtigung des produktiven Potenzials gegenwärtiger Medien und Technologien (das natürlich auch durch Intransparenzen wie nicht nachvollziehbare Algorithmen begrenzt ist) kann auch digitales Kartieren als produktiver Akt in Schulen Eingang finden. Bisher nimmt Schule allerdings eine eher reaktive denn gestaltende Position bezüglich Digitalisierung ein, weshalb auch Kartieren nicht unbedingt im Fokus steht. Es kann aber gerade auch Kartierung als Chance begriffen werden, Digitalisierung als Mittel gesellschaftlicher Gestaltung zu nutzen – vor dem Hintergrund und dem kritischen Wissen um die Nebenbedingungen und -effekte. • Geolokalisierungsdienste sind das Produkt technischer Innovationen, die den Alltag deutlich prägen. Während ein Gutteil davon im Hintergrund, ohne kartographische Visualisierung für Nutzer*innen, arbeitet, sind viele Dienste – insbesondere solche zur Navigation, aber auch solche zum Kuratieren von Informationen (vgl. Google Timeline) – durch anwendungsfreundliche Kartenanwendungen f lankiert und überprägen damit klassische Kartenarbeit und räumliche Orientierung. So werden beispielsweise Standorte automatisch identifiziert und zugehörige Informationen durch Algorithmen selektiert. Geolokalisierung und Kartenbilder werden zum Alltag, und durch mobile Endgeräte und nicht zuletzt Augmented Reality wird die Verbindung von Kartographie und physisch-leiblichem Raum anschaulicher. Diese Entwicklungen schaffen sowohl Optionen für Kartierungsexkursionen als auch Anforderungen, jene nahezu intuitiv nutzbaren Tools didaktisch in Wert zu setzen – und zugleich ihre Begrenztheit, die Selektivität ihrer Inhalte und Darstellungen, die wirkmächtig für alltägliche Handlungsentscheidungen ist, kritisch zu ref lektieren. • Mit dem Auf kommen des sozialen Netzes und seiner technischen Bedingungen wandelte sich auch die Kartographie hin zu interaktiveren Formen, der Neokartographie, die es kartographischen Lai*innen ermöglicht, mit geringem technischen Aufwand Karten zu erstellen. Diese markiert die maßgebliche Grundbedingung für Kartieren in Bildungsprozessen, weg von einem didaktisch limitierenden Einsatz von Web GIS und GIS im Unterricht. Es bieten sich Chancen, einen stärkeren Fokus auf fachliche wie alltagsweltlich angebundene geographische Probleme und ref lexive Kompetenzen jenseits technischer Anforderungen zu legen. • Kartieren – als durch Neokartographie ermöglichte, durch Geolokalisierung vereinfachte und durch Digitalisierung befeuerte Praxis – bedarf für den Einsatz in Bildungskontexten unter der Prämisse der Ref lexivität und Kritik weiterer theoretischer/konzeptioneller Überlegungen. Diese sind Gegenstand des folgenden Kapitels.

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Inga Gryl, Michael Lehner, Jana Pokraka

Kritisches Kartieren in Bildungskontexten – zwischen Erkenntnismittel und politischer Kommunikation Dekonstruktion – eine Grundlage für kritisches Kartieren aus Bildungssicht Eine kritische Ausrichtung der schulischen Kartenarbeit wurde mit einer Spezifizierung der etwa in der PISA-Studie getätigten Formulierung einer Ref lexion über die Karte (Schiefele et al. 2004), unter Bezug auf Harleys (1989) wegleitenden Aufsatz »Deconstructing the Map«, ergänzt durch punktuelle Betrachtungen der ebenfalls aus Kritischer Kartographie erwachsenen Critical GIScience (Schuurman 2000; Glasze 2009), möglich. Zugleich ist damit eine Ref lexion informativ-signifikativer Raumkonstruktionen angesprochen, die auf die Ref lexion von Raumkonstruktionen über das Medium hinaus (Jekel 2008) und damit auf einen im Kartieren angedeuteten Handlungsbezug verweist. Für eine kritische Karten- bzw. Geomedienarbeit, und damit im Folgenden auch für kritisches Kartieren, muss über Ref lexion als kritische Auseinandersetzung mit einem Gegenstand hinausgegangen werden, hin zu Ref lexivität als eine Metaperspektive auf das eigene Handeln (Schneider 2010). Diese Bedingung wurde auch empirisch untermauert (Gryl 2012). Eine passende ref lexive Praxis ist die Dekonstruktion, die über eine reine Kritik von Karten hinausgeht (vgl. Belyea 1992). Beim Dekonstruieren geht es um eine Suche nach Differenzen im Sinne von alternativen Sichtweisen. Dies stellt eine Grundlage für Countermapping (Turnbull 1998) dar – für die Produktion von Karten, die mit naturalisierten Raumproduktionen brechen. Dadurch ergibt sich eine Gegenüberstellung von Eingeschlossenem und Ausgeschlossenem, wobei die Grenze bei näherer Suche an ihren Rändern verschwimmt. Dies ist bereits in der paradoxen Bezeichnung der De-Konstruktion verankert, die gleichzeitig auf ein Zerlegen wie Auf bauen verweist und damit eine wertvolle Grundlage für kritische Kartierungsprozesse darstellen kann. Das Zusammenspiel aus Destruktion und Konstruktion läuft auf ein »Verschieben« (Feustel 2015: 65) einer vorgefundenen Sichtweise durch ein immer weiterführendes Einbinden von Ausgeschlossenem hinaus, immer in dem Wissen, dass die Dichotomie durch eine »gewaltsame Hierarchie« (Derrida 1986: 88) geprägt ist. Für die Anwendung in der schulischen Geomedienarbeit wurden hierzu methodische Leitfragen entwickelt und evaluiert (vgl. Lehner/Pokraka/Gryl 2019). Dekonstruktion hilft, einen ref lexiven Zugang zu den Bedingungen räumlicher Konstruktionen, zu ihren geomedialen Repräsentationen und zu den eigenen, darauf fußenden Handlungen zu schaffen. Zugleich kann Dekonstruktion eben diese Ref lexivität auch bezüglich des eigenen Kartierens eröffnen und ist damit eine wesentliche Grundlage und Komponente kritischen Kartierens.

Spatial Citizenship – ein Bildungsansatz kritischen Kartierens und seine Grenzen Auch wenn Ref lexivität, getragen etwa durch Dekonstruktion, essenziell für eigenes Kartieren ist, müssen weitere Fähigkeiten adressiert werden, um Kartieren in seiner Komplexität und potenziellen Wirkmächtigkeit zu stützen. Der Bildungsansatz Spatial Citizenship (Gryl/Jekel 2012) versucht diesen Bezug zu stärken, indem er zur Ent-

Kritisches Kartieren in Bildungskontexten

wicklung, Kommunikation und Aushandlung räumlicher Repräsentationen befähigt und damit alternative Narrationen über Räume und die Neu-Produktion von Räumen durch informativ-signifikante Geographien ermöglicht. Dazu werden einfache Neokartographie-Anwendungen verwendet (wobei Aspekte des Ansatzes auch bedingt im Analogen funktionieren). Als Bildungsansatz ist Spatial Citizenship normorientiert und einem emanzipatorischen Vermittlungsinteresse (Vielhaber 2000; in Anlehnung an Habermas 1970) sowie aktivistischen Bildungsansätzen (vgl. Elwood/Mitchell 2013) zuzuschreiben. Dabei fußt er auf folgenden Überlegungen und Intentionen: •







Technikbezug: Ausgangspunkt des Ansatzes ist, einen Kontrapunkt zur GIS-Bildung zu schaffen, um technische Anforderungen zu minimieren und damit Raum für inhaltliche Auseinandersetzung zu schaffen und die Alltagsorientierung von Neokartographie aufzugreifen. Zugleich wird Neokartographie als eine schulisch zu vermittelnde Kulturtechnik begriffen. Technologie wird, dem klassischen McLuhan’schen Ansatz »The medium is the message« (1964: 7) folgend, als Türöffner für neue Formen mündiger Raumaneignung und Kommunikation verstanden. Die Intuitivität der Handhabung aktueller Applikationen (Schröder 2016) kommt dem entgegen. Citizenship: Spatial Citizenship baut auf einem durch (informations-)technologische Entwicklungen gewandelten Bild von Citizenship auf: Lance W. Bennett, Chris Wells und Allison Rank (2009: 108) beschreiben hier den »actualized citizen«, der – anstatt Informationen lediglich zu rezipieren – sich auf vielseitigen Kanälen informieren und im Sinne des Web 2.0 selbst kommunizieren kann. Dies weitet Aushandlungskontexte von formalen Beteiligungswegen in festgefügten Verwaltungsgrenzen bis hin zu f luiden Gemeinschaften im Netz aus. Wirkung: Die Idee, kartographisch gestützt Kommunikation einzusetzen, beruht einerseits auf Möglichkeiten der adäquaten Gestaltung räumlicher Repräsentation und andererseits auf der Idee der »Macht der Karten« (Wood 1993). Diese ist im – sich mit Neokartographie aber zerfasernden – Expert*innenparadigma kartographischer Werke begründet, kann jedoch auch mit der weiterhin bestehenden Wirkung von dualer Kodierung (Paivio 1990) erklärt werden, nach der die Kombination bildhafter und textueller Elemente von Karten und Geomedien das Erinnerungsvermögen gegenüber Texten oder Bildern allein erhöht. Darüber hinaus kann die Glaubwürdigkeit der physisch-materiellen Existenz eines Ortes, der auf der Karte repräsentiert wird, unbewusst auf die daran in der Karte angebundene Bedeutung übertragen werden. Auf Basis all dieser Überlegungen hat Spatial Citizenship zum Ziel, das wirkmächtige Instrument kartographischer/geomedialer Kommunikation zu demokratisieren, indem wettbewerbsfähige Karten entstehen, die in der Kommunikation um räumliche Entscheidungsprozesse ernster genommen werden als reine Skizzen. Macht: Spatial Citizenship strebt eine teilweise Umverteilung von Macht an, basierend auf Michel de Certeaus (1988) Überlegungen, nach denen mächtige Akteur*innen in Räumen erfolgreich Strategien verfolgen, um ihre Deutungen durchzusetzen. Diese wiederum definieren handlungsleitende Regeln, welche dann durch die nur kurzfristig wirksamen Taktiken der Machtlosen unterminimiert werden, wenn dazu Gelegenheiten bestehen. Ein Beispiel ist die Umnutzung einer kommerziellen Fläche (Einkaufszentrum) zum Treffpunkt durch Jugendliche. Außer-

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dem erschließen sich Kinder und Jugendliche zunehmend nichtmaterielle (virtuelle, zugleich auf die Lebenswelt referierende) Räume im Netz jenseits der Aufsicht Erwachsener. Spatial Citizenship verdeutlicht, wie diese Praktiken eine Wirkung auf die Bedeutungszuweisung an physisch-materielle Räume entfalten, der Tradition des Countermappings folgend. Mündigkeit: Spatial Citizenship basiert auf der Idee, dass mündige Raumaneignung eine Zielsetzung geographischer Bildung ist (vgl. Daum 2006). Der Ansatz ist anschlussfähig an eine mündigkeitsorientierte Bildung (Dorsch 2019), die – aufbauend auf Adorno (1971) – Ref lexivität, Widerständigkeit und Handlungsfähigkeit verbindet. Kartieren im Sinne kritischen Kartierens ist mündigkeitsorientiert.

Auf dieser Basis wurde ein Modell für die Lehrer*innenbildung entwickelt, das einen Dreiklang aus Fähigkeiten (Kompetenzen) vorsieht (ausführlich bei Schulze/Gryl/ Kanwischer 2015): grundlegende technische Fähigkeiten zur Rezeption bestehender Raumproduktionen und zur Entwicklung von Neokartographie, ref lexive Fähigkeiten zur Ref lexion bestehender Raumkonstruktionen, eigener Produktionen und der Aushandlung mit anderen – und im Sinne von Dekonstruktion auch zur Entwicklung alternativer Konstruktionen – sowie kommunikative Fähigkeiten zur Gestaltung und Aushandlung von räumlichen Repräsentationen. Studien haben aufgezeigt, dass die Teilhabe an Neokartographie-Anwendungen auf eine abgegrenzte, akademisch gebildete, meist männliche Gruppe begrenzt sein kann (Leszczynski/Elwood 2015). Dies kann als Beleg verstanden werden, dass es dringend einer Bildung für Spatial Citizenship bedarf, um allgemein und unabhängig von sozialisierten Dispositionen zu Neokartographie zu befähigen. Allerdings weist der Ansatz auch Grenzen und Problempunkte auf, die in seiner Anwendung besonderer Aufmerksamkeit bedürfen: • Die Nutzung besonders beliebter Anwendungen im Sozialen Netz verspricht eine hohe Reichweite, allerdings sind diese auf Intuition und Anwendungsfreundlichkeit abzielenden Umgebungen häufig intransparent hinsichtlich der Nebenbedingungen und beruhen in der Regel auf kommerziellen Interessen (Schröder 2016). • Neokartographie im Netz kann mit einer Verringerung der (genutzten oder verfügbaren) Analyse- und Gestaltungsmöglichkeiten einhergehen. So sind Dot-Maps (Karten mit punktförmigen Verortungen als hauptsächliches Gestaltungsmittel), deren quantitative Auswertung erneut Expert*innenwissen erfordert, eine häufige, aber nicht für alle Belange effektive Darstellung. • Spatial Citizenship kann missverstanden werden als service learning, angelehnt an eine civic education aus dem angloamerikanischen Raum (vgl. u.a. Crittenden 2018), bei dem Lernende Dienste an der Gemeinschaft leisten. In dieser Form der Beteiligung sind eigener Nutzen, Defizitkompensation und Gesellschaftsgestaltung schwer zu trennen. • Politischer Aktivismus kann sowohl gefördert als auch unterminiert werden, wenn Kartierung staatliche Aufgaben ersetzt, beispielsweise in Form der durch Neokartographie entstehenden Wheelmap, die Rollstuhlfahrer*innen die Navigation im öffentlichen Raum und damit die durch die UN-Behindertenrechtskonvention zugesicherte Teilhabe erleichtert. Bleibt es bei einem Service ohne Protest, ersetzt Eigenverantwortlichkeit staatliche Verantwortlichkeit und reduziert gegebenenfalls die Chance auf tiefgreifendere politische Veränderungen.

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• Die Fundierung des durch Dekonstruktion angerissenen Kritikbegriffs ist ausbaufähig, und mit der Implementation von Spatial Citizenship in Vermittlungskontexten wird die Frage der Relation von Mündigkeit und Paternalismus aufgeworfen. Beiden Problemen wird sich der Beitrag in den folgenden zwei Abschnitten widmen.

Methode – immanente Kritik als erweiterter Zugang zu Spatial Citizenship Wie besprochen, birgt Dekonstruktion das Potenzial, etablierte Konzepte und damit verbundene »gewaltsame Hierarchien« (Derrida 1986: 88) diskutierbar zu machen. Immanente Kritik hingegen zielt auf soziale Praktiken, die über unmittelbare Bedeutungskonstruktionen hinausreichen. Während Dekonstruktion ein Verschieben von individuell erlernten hierarchisierten Bedeutungen ermöglicht, zielt immanente Kritik auf soziale »Lernblockaden« (Jaeggi 2014: 410), die einem Überwinden von sozialen Hierarchien entgegenstehen. Herausgearbeitete Macht- und Herrschaftsverhältnisse können impulsgebend für kritisches Kartieren wirken. Für eine Annäherung an immanente Kritik empfiehlt sich eine Abgrenzung von anderen Formen der Kritik. Rahel Jaeggi (2014) schlägt vor, immanente Kritik externer und interner Kritik gegenüberzustellen, was sich am Maßstab der jeweiligen Kritik unterscheiden lässt: Wenn beispielsweise bestimmte sexuelle Präferenzen als unnatürlich entwertet werden, dann kommt der Maßstab einer solchen Kritik von außen und wird unabhängig davon angelegt, ob dieser bereits im Kritisierten anerkannt ist. Eine so strukturierte externe Kritik zielt zwar über das Bestehende hinaus und birgt transformatives Potenzial, weist aber erhebliche Legitimationsschwierigkeiten auf. Demgegenüber lässt sich interne Kritik anführen. Diese Kritikform sucht den Maßstab der Kritik im Kritisierten selbst. So lässt sich etwa einem Personalchef, welcher sich öffentlich für Gleichberechtigung einsetzt, vorwerfen, dass er bei Einstellungsgesprächen ausschließlich männliche Bewerber berücksichtigt (ebd.: 263f.). Durch diese Form der Kritik lässt sich ein Verstoß gegen selbstgewählte Ideale aufzeigen. Das Legitimationsproblem der externen Kritik ist überwunden, allerdings erschöpft sich die Kritik in bereits anerkannten Konventionen. Immanente Kritik beansprucht, diesen konservativen Charakter interner Kritik zu überwinden, jedoch ohne dabei in Legitimationsprobleme zu geraten. Es wird aufgezeigt, dass eine bestehende Norm Praktiken hervorbringt, die diese »systematisch frustriert« (Stahl 2013: 411). Lässt sich ein solcher immanenter Widerspruch aufzeigen, so ist von einer »Selbstkritik der Verhältnisse« (Jaeggi 2014: 277) zu sprechen. Ein Beispiel hierfür ist Marx’ Konzept der Doppelten Freiheit: Bezüglich des Arbeitsplatzes kann heute von einer freien Wahl (Norm) gesprochen werden sowie von einem Freiheitsmotiv als zentralem Selbstverständnis bürgerlich-liberaler Gesellschaften. Karl Marx zeigt aber auf, dass eine Freiheit im doppelten Sinne vorliegt (vgl. Marx 2005 [1867]: 182): Arbeitnehmer*innen sind in der Regel auch frei von Subsistenz- und Produktionsmitteln, und sobald persönliche wirtschaftliche Engpässe eintreten, erfahren sie die Grenzen des Freiheitsversprechens – und sind gezwungen, ihre Arbeitskraft unter den Bedingungen einer kapitalistischen Produktionsweise zu veräußern. Damit arbeitet Marx einen Zusammenhang zwischen der Norm (freie Arbeitsplatz-

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wahl) und einer konf ligierenden Praxis (Zwang, Arbeitskraft unter den gegebenen Bedingungen zu veräußern) heraus. In diesem Zusammenhang lässt sich von einem immanenten Widerspruch2 und somit auch von immanenter Kritik sprechen. Gegenüber der Dekonstruktion wird mit immanenter Kritik noch einmal die Qualität des Anderen einer vertieften Analyse unterzogen. Des Weiteren kann bei immanenter Kritik davon ausgegangen werden, dass immanente Widersprüche Konf likte hervorbringen (Fraser/Jaeggi 2020: 49ff.). Derartige Konf likte können zum Gegenstand von Countermapping gemacht werden, um etwa deren Sichtbarkeit zu fördern. Die räumliche Dimension von Konf likten kann dabei auch das immanent-kritische Konf liktverständnis vertiefen, wodurch sich Countermapping und immanente Kritik wechselseitig begünstigen.

Beispiel – Paternalismus als ambivalenter Faktor in der Vermittlung des Kartierens Als eine exemplarische Anwendung kritischen Kartierens, insbesondere auf der konzeptionellen Grundlage von Spatial Citizenship, kann der 2019 an drei Essener Grundschulen durchgeführte mehrteilige Stadtforscher*innen-Workshop unter dem Motto »Eine Stadt für Kinder« genannt werden. Hier entwickelten die Schüler*innen Utopien zu diesem Thema im schulischen Nahraum. Der Workshop bestand aus drei miteinander verknüpften Phasen: Ausgehend von der Fragestellung »Wie würde eine perfekte Stadt für Kinder/für euch aussehen?« wurden von den Teilnehmenden Entwürfe einer solchen Stadt gezeichnet (subjektive Kartographie). Zentrale Aspekte der Zeichnungen wurden anschließend in einer Gruppendiskussion ausgetauscht und ref lektiert. Schwerpunkte des Austauschs lagen in den Themenbereichen »Ökologie«, »generationale Konf likte« und »Fragen nach der Verteilung ökonomischer Ressourcen«. Zentrale Forderungen der Kinder wurden thematisch geclustert, um diese in der abschließenden Ref lexion mit den in einer Kartierungsexkursion gesammelten Beobachtungen verknüpfen zu können. Während der Exkursion stand die Erkundung und Kartierung des schulischen Nahraums im Vordergrund, und die zu kartierenden Orte wurden von den Kindern – ausgehend von mit ihnen positiv oder negativ assoziierten Wahrnehmungen – selbst gewählt und individuell mithilfe der App Survey 123 for ArcGIS unter einer deutlich reduzierten Oberf läche über Georeferenz, Fotographie und Texte kartiert. In der Abschlussref lexion wurden die daraus kollaborativ erstellten Karten mit den Ergebnissen der einführenden Gruppendiskussion verknüpft und Schlussfolgerungen hinsichtlich der Bewertung und gegebenenfalls notwendiger Veränderungen des jeweiligen Stadtviertels gezogen. Trotz ref lexiver Bezüge ist diese Lernumgebung – sowie alle weiteren kartierungsgestützten Raumaneignungs- bzw. gesellschaftlich-räumlichen Partizipationsprozesse in Bildungsbezügen – auf unterschiedlichen Ebenen Machtdimensionen unterworfen: Verwendete Tools etwa (re-)produzieren Differenzkategorien, verbunden mit der Frage, welche Formen der kartographischen Kommunikation – beispielsweise im Sinne 2 Dieses Beispiel lässt sich als »konstitutiver immanenter Widerspruch« (Stahl 2013: 412) bezeichnen. Für weitere Varianten immanenter Widersprüche siehe Rahel Jaeggi (2014) sowie Michael Lehner, Dominik Gruber und Inga Gryl (2021, i.E.).

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der Kartengestaltung – als wirkmächtig und angemessen im Diskurs wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist Macht dem Bildungssystem inhärent und führt zur Notwendigkeit der Ref lexion darüber, »woher heute irgendjemand das Recht sich nimmt, darüber zu entscheiden, wozu andere erzogen werden sollen« (Adorno 1971: 112). So wird etwa in Spatial Citizenship einerseits auf das (digitalen) Geomedien inhärente Potenzial zur Kommunikation räumlicher Deutungen und Machtverhältnisse aus einer intersektionalen Perspektive verwiesen (Pokraka/Gryl 2017; angelehnt an de Certeau 1988). Intersektionale Analysen (Crenshaw 1989) betrachten vielschichtige Wirkmechanismen von Differenzlinien wie Gender, Klasse und Ethnizität unter Berücksichtigung struktureller und individueller Exklusions- und Marginalisierungsprozesse (ebd.). Digitale Karten dienen auf der Subjekt- bzw. Repräsentationsebene als Kommunikationsmedien räumlicher Konstruktionen (vgl. Wood 1993), die ihre Wirkmächtigkeit vor dem Hintergrund leicht nutzbarer, digitaler Kartierungsplattformen entfalten. Hierbei bedürfen die anhand der Beteiligung an Kartierungsplattformen (wie OpenStreetMap) aufgezeigten Machtdifferenzen – insbesondere an der Überschneidung geschlechtsund altersbezogener Differenzkategorien – besonderer kritischer Aufmerksamkeit, da sie auf Basis makrogesellschaftlicher Differenzen wie Bildungsungleichheit oder Geschlechterdiskriminierung den Diskurs über die Inhalte der Plattform und somit die Kommunikation und (Re-)Konstruktion des virtuellen und materiellen Raums dominieren. Gleichzeitig eröffnen Analysen intersektionaler Machtverhältnisse in Kartierungspraktiken eine Möglichkeit des Bewusstwerdens von Ungleichheitsstrukturen in der Produktion und Kommunikation räumlicher Konstruktionen und eröffnen somit die Option für individuellen oder kollektiven Widerstand. Vor dem Hintergrund von (generationaler) Differenz in kartographischen Bildungskontexten ergibt sich zwangsläufig die Frage nach der Beurteilung der Angemessenheit von Darstellung und Inhalten von Kartierung bzw. Kartierungsprozessen, insbesondere in der Formulierung des normativen Bildungsanspruchs von Spatial Citizenship zur Förderung der mündigen Raumaneignung, die zunächst paternalisierend erscheinen mag. In Abgrenzung vom Paternalismusbegriff Johannes Giesingers (2006), der diesen Kindern gegenüber für legitim hält, was einem Verständnis von Kindheit als sozialer Konstruktion (Lund 2009) zuwiderläuft, muss – ungeachtet der Ausrichtung des hier dargestellten Beispiels – Spatial Citizenship als Bildungsansatz für die gesamte Lebenszeit betrachtet werden, da Mündigkeit kein erreichbarer Zustand ist, sondern sich je nach Situation und Lernendem bzw. Lernender graduell entwickelt. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass Paternalismus in Lernbeziehungen in einer gewissen Weise stets legitim ist, sodass eine Autorität im Sinne Adornos (1971) moralische Stütze und Hilfe bietet, aber sich selbst graduell unnötig macht. Somit verlangt Spatial Citizenship nach einer Ref lexivität, die paternalistische Strukturen offenlegt und zugleich Räume des Widerstands ermöglicht. Für das vorliegende Fallbeispiel ist anzumerken, dass trotz eines ref lexiven Ansatzes bei dieser im Grundschulbereich durchgeführten Erhebung massiv Machtverhältnisse reproduziert wurden – sowohl in der Ref lexion der alltäglichen Räume durch Schüler*innen als auch in der Vermittlung in Form von Paternalismus. Damit ist nun auch empirisch bestätigt, dass Paternalismus trotz ständiger Ref lexivität der Durchführenden schwer vermeidbar ist und im Sinne der distanzierten Involviertheit als ambivalente Nebenbedingung in Kauf genommen werden muss. Zudem muss vor dem Hintergrund eines kritischen Partizipationsbegriffs angemerkt werden, dass

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der Wirkungsgrad der Workshops relativ begrenzt war: Die Untersuchungsergebnisse der Kinder wurden zwar auf Plakaten festgehalten, aber leider konnten sie aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen nur schulintern verwendet werden. Nichtsdestotrotz hat die Durchführung der Workshops gezeigt, dass Elemente der Kritischen Kartographie in ihrem kreativen Potenzial, räumliche Visionen zu erschaffen und zu kommunizieren, in einer kritischen Lernumgebung dazu beitragen können, Denkanstöße zu schaffen, Handlungsimpulse bereitzustellen und vor allem in einen Austausch über Gegennarrative zu dominanten räumlichen Diskursen zu treten. Hierbei dienen die jeweiligen Geomedien (Skizze und digitale Karte) als Kommunikationsanlass und Erkenntnisinstrument, was entscheidend zum Verlauf der Argumentation und zur Aushandlung räumlicher Konstruktionen beiträgt. Übertragen auf weitere Prozesse des kritischen Kartierens lassen sich aus diesem Beispiel einige Schlussfolgerungen ableiten: Bildungsansätze der kartographisch gestützten Raumaneignung können sowohl zunächst auf Identitätsbildung zielen als auch appellierend auf Veränderung ausgerichtet sein, beides in Kohärenz mit mündigkeitsorientierter Bildung. Hieran schließt an, dass kritisches Kartieren nicht zwangsläufig auf die Überzeugung offizieller Stakeholder ausgerichtet sein muss, sondern ebenso auf politische Formierung (Elwood/Mitchell 2013) abzielen und – im Sinne der Möglichkeiten des sozialen Netzes – der Aufmerksamkeitsbildung dienen kann, was durch das Erlangen von Mitstreiter*innen Machtverhältnisse verschieben kann. Zugleich müssen die genutzten Darstellungsformen und Inhalte kritisch im Hinblick auf ihre strategische Kommunikation und die damit einhergehende Eingebundenheit in gesellschaftlich-räumliche Machtprozesse ref lektiert werden. Aktuelle Entwicklungen, aufgezeigt im Folgekapitel, bieten hierbei ein im Schulbetrieb noch lange nicht ausgeschöpftes Potenzial.

Reflexion – Kartieren als Bildungspraxis in digitalen Kulturen Unter den Bedingungen gegenwärtiger Digitalisierung ist das Potenzial von kritischer Kartierung noch einmal deutlich gewachsen. Ein zentraler Ansatz ist dabei der der viralen Raumkonstruktion (Kanwischer/Schlottmann 2017), der das (immer) neue Niveau der Geschwindigkeit, Allgegenwärtigkeit und Verfügbarkeit von (geographischen) Informationen zugrunde legt und sich an die von Felix Stalder (2017) beschriebene Kultur der Digitalität anlehnen lässt (vgl. Dorsch 2019): Algorithmizität, hierbei die Bedeutung menschengemachter, aber intransparenter Algorithmen für die Zusammenstellung von Informationen, ist für kritisches Kartieren in Bildungskontexten wegen des hohen technischen Anspruchs und der geringen Transparenz am schwersten produktiv zu fassen, muss aber gleichwohl mit kritischer Ref lexion über die Reichweite und Begrenzungen von kartenbildenden Algorithmen verbunden werden. Referentialität hingegen, die schnelle Abfolge der Bezüge und die beständige Reaktivität und Weiterverarbeitung von Inhalten, ist etwas, das mit entsprechenden Bedeutungsverschiebungen dem Punkt der Aushandlung in Spatial Citizenship sehr entgegenkommt. Gemeinschaftlichkeit im Sinne kollektiver Referenzrahmen und Bedeutungskonstruktionen kommt der Idee der Formierung in Spatial Citizenship nahe; gleichwohl liegen Ermächtigung und Beschränkung eng beieinander (Kanwischer/Schlottmann 2017).

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Darüber hinaus sind weitere Überlegungen sinnvoll, um das volle Potenzial gegenwärtiger Digitalisierung für kritisches Kartieren auszuschöpfen. Jeremy W. Crampton et al. merken mit dem Aufsatz »Beyond the geotag« (2013) an, dass Georeferenzierung und Kartierung nicht allein Dynamiken der Verbreitung erklären können, sondern als örtlich losgelöste Formen der Kommunikation eine hohe Relevanz entfalten: Debatten im Netz schlagen sich in Aktionen vor Ort nieder (Demonstrationen, Initiativen, Unruhen etc.) und werden umgekehrt im Netz ausgehandelt sowie über das Netz verbreitet, sodass Themen globale Dimensionen in einem Wechselspiel aus raumbezogener und losgelöster Kommunikation erlangen können (z.B. Umbenennung von Ortsnamen im Zuge postkolonialer/rassismuskritischer Diskurse). Soziale Medien sind Teil von Welt und zugleich »Weltlieferanten« (Kanwischer/Schlottmann 2017: 63). Diese Debatte zeigt die Notwendigkeit des Herauslösens aus rein kartographischen bzw. geomedialen Gestaltungsoptionen. Die Dot-Map ist mittlerweile nur ein mögliches Element zur Sortierung der Vielfalt der Darstellungen, der Kombinationen aus Videos, Bildern, (Kurz)Texten, Memes und anderen. Nicht nur GPS-Koordinaten, die zu einer (automatisierten) Verortung in Karten führen, sondern auch die Bezeichnung von Orten über Hashtags, die wiederum Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen transportieren können (z.B. #GrüneHauptstadt, #Pott), liefern geographische Referenzen. Kritisches Kartieren könnte durch eine stärkere Multimedialität und die Nutzung von Mashups seine Sichtbarkeit verstärken und bisherige Grenzen der Gestaltung verschieben, etwa hin zu künstlerischen Ansätzen, was den Kartierungsbegriff erweitern könnte. Es bedarf vor dem Hintergrund postfaktischer Diskurse im Netz und der Inszenierung auf sozialen Plattformen zudem eines ref lexiven Diskurses über die Fachlichkeit von Darstellungen, über die Mittel der Überzeugung in politischen Debatten und damit über Populismus, inklusive einer noch stärkeren Ausarbeitung ethischer Grundsätze. Im gleichen Zusammenhang muss die Debatte um Dualismen wie Lai*innen/ Expert*innen geführt werden, da längst nicht mehr die kartographische Expertise Erfolgsmaßstab der Beteiligung in raumbezogenen Aushandlungsprozessen ist, sondern auch informell erlangte Expertise aus verschiedenen Bereichen. Mit der Idee einer Kulturtechnik der raumbezogenen Partizipation kann dabei die Rolle von (in-) formellen Bildungsprozessen erörtert werden. Das würde auch helfen, paternalistische Tendenzen und Machtverhältnisse sowie deren Gründe zu differenzieren und ihre Ambivalenz transparenter offenzulegen. Das enorme Potenzial, das einem weit verstandenen Kartieren innewohnt, muss gehoben, kritisch begleitet, ref lexiv eingesetzt, aber auch in seinem politischen Potenzial verstanden werden. Es besteht daher die Notwendigkeit, Kartieren sowohl auf einer Ebene der Inwertsetzung (als Tool) zu verstehen als auch auf einer beständigen Metaebene der Ref lexivität bezüglich der komplexen Eingebundenheit in digitale Gesellschaften. Strukturale Medienbildung, die den Einf luss von Medien auf den Selbstund Weltbezug (Jörissen/Marotzki 2009) ernst nimmt und damit sinnvoll in Relation zu mündigkeitsorientierter Bildung wie auch zum Ref lexivitätsanspruch kritischen Kartierens gestellt werden kann, bietet hierbei eine adäquate Erweiterung schulischer kritischer Geomedienarbeit.

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Kartieren mit Kindern – Alltagsräume erforschen und repräsentieren Paul Schweizer, Tuline Gülgönen

Abstract Kartieren mit Kindern kann ein wertvolles kritisches Werkzeug für Bildungsprozesse und Forschung sein, mit dessen Hilfe die Welten und Alltagsräume von Kindern dargestellt, nachvollzogen und mit diesen reflektiert werden; dazu werden in diesem Beitrag verschiedene Modalitäten vorgestellt.

Kinder als Kartograph*innen! Die Arbeiten der konstruktivistischen Psychologie auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklung haben Kinder lange Zeit von Karten ferngehalten, indem sie ihre Fähigkeit zur räumlichen Repräsentation in Verbindung mit dem Erwerb räumlicher Fähigkeiten in altersentsprechenden Stufen infrage stellten. Jean Piaget (1937), der einer der Pioniere in der Erforschung der Raumrepräsentation von Kindern war, stellte unter anderem durch Kartierungsversuche mit Kindern fest, dass diese in den frühen Entwicklungsstadien nicht in der Lage seien, großf lächige räumliche Repräsentationen zu erstellen. Insbesondere der Erwerb des Begriffs der räumlichen Metrik sowie des projektiven und euklidischen Raumes werde, so Piaget, im Kindesalter nicht vollständig erworben. Nach Piaget sind Kinder daher nicht in der Lage, sich vor einem bestimmten Alter einen homogenen und begrenzten Raum vorzustellen, in dem sie Objekte unter Berücksichtigung ihrer Größe und Entfernung platzieren können. Diese Theorien sind vielfach kritisiert worden und stellen sowohl die Gültigkeit von Piagets Laborexperimenten als auch ihren universalistischen Anspruch infrage (Downs 1985; Matthews 1992). Hinsichtlich des Kartierens haben Mark Blades et al. (1998) anhand von Luftbildern gezeigt, dass sehr junge Kinder in einer Vielzahl von geographischen Kontexten ikonische Karten interpretieren und sich daran orientieren können und, ganz allgemein, dass sie Kartenkenntnisse und makroräumliche Konzepte erwerben können. Durch die Fokussierung auf die Räume von Kindern und die Art und Weise, wie sie diese wahrnehmen und repräsentieren, hat die Kindergeographie in Anlehnung an die Pionierarbeit von Roger Hart (1979), Kevin Lynch (1978) und Robin Moore (1986) dazu beigetragen, Kinder wieder in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen und zu zeigen, wie wichtig die Analyse ihrer Räume, insbesondere der Alltagsräume, für das Ver-

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ständnis ihrer Welten ist. Aufgrund der Einschränkungen, die verbale Beschreibungen für Kinder darstellen können, haben sich Karten als wertvolles Werkzeug erwiesen, um mit kritischem Blick die Räume des täglichen Lebens und die Konf likte, die in diesen Räumen ausgetragen werden, darzustellen. Kartierungsprozesse sind in diesem Sinne eine Möglichkeit, die subjektiven Erfahrungen und Emotionen, die die Beziehung zum Raum prägen, zu ref lektieren. Die Entwicklung dieser Arbeit ist eng mit der sozialen Anerkennung von Kindern verbunden. Wie für Erwachsene kann der Mapping-Prozess auch für Kinder ein Werkzeug sein, um emanzipatorische Strategien zu entwickeln. Darüber hinaus stellt das Kartieren mit Kindern einige der als selbstverständlich erachteten Elemente und gängigen Praktiken der traditionellen Kartographie infrage, die selbst in der Praxis kritischer Kartograph*innen weitgehend fortbestehen – zum Beispiel in Bezug auf Maßstab, kartographische Grundlage, Materialität und Verwendung von Karten –, und birgt so auch das Potenzial, kritische kartographische Praxis um neue, kreative Ansätze und Instrumente zu bereichern. Um dies zu verdeutlichen, stellen wir hier unterschiedliche Methoden vor, die im Kartieren mit Kindern entstanden sind, deren Anwendbarkeit und Potenzial sich aber mitnichten auf eine Altersgruppe beschränkt.

… kartieren mit Kindern Die Wahl der Methode ist bei Kartierungsprozessen mit Kindern von grundlegender Bedeutung, da die graphischen Fähigkeiten von Kindern ihre Fähigkeit zur Darstellung von Orten einschränken können.1 Studien seit den 1970er Jahren über die Beziehung von Kindern zu ihrer Umwelt, einschließlich der bahnbrechenden Arbeit von Hart (1979) mit Karten aus Sand, haben die Notwendigkeit hervorgehoben, Methoden zu erforschen, die einen visuellen und, allgemeiner, einen sinnesorientierten Ansatz beinhalten, um Kindern zu ermöglichen, ihre Welt zu kartieren. Zusätzlich zum Zeichnen und Modellieren können alle Sinne durch den Einsatz verschiedener Materialien, aber auch durch Geräusche und Gerüche angesprochen werden, um sensorische Karten (taktile, olfaktorische oder Klangkarten) zu erstellen. Diese Arbeit ist untrennbar mit einer kritischen Pädagogik verbunden, die die Anerkennung der Fähigkeiten der Kinder und die Rolle der Erwachsenen bei der Begleitung der Kinder in dieser Aufgabe einschließt. Diese unterstützende Rolle muss sich sowohl in der Verwendung einer angemessenen Sprache als auch in der Organisation des Raumes, in dem die Übung stattfindet, widerspiegeln, um die in traditionellen Bildungsräumen und allgemein in den Institutionen, in denen Kinder ihre Zeit verbringen, vorherrschende Hierarchie so weit wie möglich zu überwinden. In Übereinstimmung mit den Geboten der educação popular (Freire 2000) sollte die Auswahl der zu kartierenden Bereiche auch auf den konkreten Erfahrungen der Kinder und insbesondere auf den Räumen des täglichen Lebens (z.B. Zuhause, Schule, Spielräume, Nachbarschaft) basieren. 1 Der Begriff »Kinder« umfasst ein breites Spektrum an Aspekten, einschließlich des Alters. Dieser Artikel konzentriert sich auf Kinder im Schulalter (von 6 bis 12 Jahren), auch wenn die hier vorgestellten Überlegungen und Methoden sowohl für jüngere Kinder als auch für ältere Menschen angepasst werden können.

Kartieren mit Kindern – Alltagsräume erforschen und repräsentieren

Es ist wichtig, auf dem subjektiven Prozess der Darstellung zu bestehen und darauf, dass von den Kindern nicht erwartet wird, dass sie einen Raum auf eine »richtige Weise« darstellen. Kindern sollte gesagt werden, dass es keine »guten« oder »schlechten« Karten gibt (so wie es auch keine »guten« oder »schlechten« Zeichnungen gibt): Sie sind alle Werkzeuge, mit denen sie über ihre Welt sprechen können. Aus diesem Grund und weil das Spielen zentral für die Beziehung von Kindern zur Welt und zum Lernen im Besonderen ist, muss der ludische Aspekt sowohl des Prozesses als auch des Ergebnisses hervorgehoben werden. Der spielerische Ansatz geht Hand in Hand mit dem experimentellen Charakter der Übung: Es ist unumgänglich, f lexibel zu sein und zu akzeptieren, dass sich die ursprüngliche Idee im Laufe des Prozesses ändern kann. Je nach gewähltem Thema und Format kann der Kartierungsprozess überwiegend individuell oder kollektiv ablaufen, er kann aber auch auf individuellen Übungen basieren, die zu einer kollektiven Karte führen (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Kollektive Kartierung des eigenen Stadtteils (unterschiedliche Altersgruppen, im öf fentlichen Raum, Mexiko-Stadt)

Quelle: Eigenes Foto

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Kartierungsverfahren – drei Vorschläge Dieses Kapitel enthält drei verschiedene Kartierungsmodalitäten, die mit Kindern angewandt werden können: freie Erstellung von subjektiven Karten, Wimmelbildkarten und Soundmaps. Diese Methoden können separat oder als verschiedene Phasen im selben Projekt eingesetzt werden. Entstanden sind die Methoden im Rahmen unterschiedlicher Bildungsprojekte in städtischen Kontexten in Mexiko, Italien und Deutschland, im schulischen Umfeld sowie in Räumen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Das hier skizzierte Vorgehen sollte an den jeweiligen Kontext angepasst werden, etwa an das Alter und das Profil der Kinder, die Größe der Gruppe, den Arbeitsraum, die Art der zu kartierenden Räume und die verfügbare Zeit für die Erstellung der Karte. Um die Kinder als Gruppe, aber auch individuell in allen Arbeitsphasen begleiten zu können, ist eine ausreichende Anzahl an begleitenden Personen unabdingbar (eine Begleitperson für etwa fünf bis sieben Kinder). Die anleitenden Personen sollten zu Beginn des Prozesses den Zweck der Übung, ihre Ziele und einen Überblick über den Ablauf sowie klare Anweisungen für jeden Schritt erläutern. Was den Inhalt der Karten betrifft, sollten die Begleitenden ihre adultistischen Instinkte jedoch unterdrücken und sich auf die Ideen und das Wissen der Kinder einlassen, auch wenn sie nicht mit den erwarteten Ergebnissen übereinstimmen. Den Blick des*der Forschenden für die Perspektive der Kinder zu öffnen, birgt das Risiko, wertvolle, unvorhersehbare Erkenntnisse zu gewinnen.

Freie subjektive Karten Die erste vorgeschlagene Methode besteht im Erstellen von freien subjektiven Karten oder »mentalen Karten«. Diese von Lynch (1978; vgl. Wood 2010) in den 1960er Jahren vorgeschlagene Methode wird häufig angewandt, um die Wahrnehmung von Räumen durch Kinder zu untersuchen, unter anderem im Bereich der Geographien der Kindheit (Schreiber 2015). Die Methode bietet ein großes Potenzial, um subjektive Erfahrungen zu visualisieren und die Strukturen zu identifizieren, aus denen sich diese ableiten. Sie kann außerdem dazu dienen, die sozialen Beziehungen zu verstehen, in die Teilnehmer*innen eingebettet sind, oder die Nutzung von Alltagsräumen zu untersuchen. Für Pädagog*innen und Forscher*innen ermöglicht diese Kartierungsmethode so wertvolle Einblicke in die sozioräumlichen Erfahrungen der Gruppe. Gleichzeitig bietet sie ein Format für den Wissensaustausch zwischen den Teilnehmer*innen selbst und kann so die Grundlage für weitere Diskussionen oder folgende Projektabschnitte bilden. Durch die ausgedehnten Phasen des individuellen Zeichnens bietet sie insbesondere ein Instrument, um jene Aspekte zu thematisieren, die den Kokartierenden selbst nicht unmittelbar bewusst sind. Die Teilnehmer*innen werden gebeten, eine Karte ihrer alltäglichen Umgebung zu zeichnen – von bestimmten Räumen und Wegen, die sie häufig benutzen, von Orten, die sie mit bestimmten Emotionen verbinden; von sozialen Konstellationen, die sich räumlich fassen lassen … Als Kartengrundlage werden zunächst leere weiße oder farbige Papierbögen genutzt, im DIN-A4- oder DIN-A3-Format (andere Seitenverhältnisse oder bspw. runde Bögen sind denkbar), schwereres Papier (>  80  g) ist vorteilhaft. Zum Zeichnen von Umrissen sowie von Punkt- und Linienelementen können

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Holz- oder Filzstifte verwendet werden. Für die Hervorhebung von Flächen bieten sich Holzstifte, Wasserfarben oder Pastellkreiden an. Zur Vorbereitung der Übung können Kleingruppengespräche über die zu kartierenden Räume ebenso hilfreich sein wie beruhigende, die Ref lexivität fördernde Übungen. Einfache Fragen oder zu vervollständigende Satzfragmente helfen beim Einstieg: »Meine Nachbarschaft ist …«, »Auf dem Weg zur Schule sehe ich …«, »Hier fühle ich mich …«, »In meiner Freizeit gehe ich …«, »Meine Freund*innen wohnen …«. Um den Beginn zu erleichtern, können diese Impulse im Vorfeld als visualisierte Fragebögen an die Teilnehmenden ausgegeben werden, die zu Hause individuell ausgefüllt werden können, schriftlich oder mit Zeichnungen (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Bildhaf t dargestellte Einladungen, Anleitungen oder Fragebögen stimmen Teilnehmende auf das kollektive kreative Arbeiten ein und regen die Fantasie an

Quelle: Paul Schweizer, kollektiv orangotango

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Abgebildet wird die subjektive Erfahrung des kartierten Raumausschnitts. Die Karte hat keinen Anspruch, metrischen Maßstäben, einer objektiven Auswahl oder Integrität zu entsprechen. Andere gängige Kartierungsformate bilden subjektive Erfahrungen, beispielsweise durch das Anbringen von Icons oder das Markieren von Linien und Flächen, auf vorgedruckten Kartengrundlagen ab. Je nach gewählter Kartengrundlage werden Kartierende dabei genötigt, die eigene Erfahrung als zwischen abstrahierten Straßen, Gebäuden und Grünf lächen eingequetschte punktuelle oder lineare Koinzidenzen darzustellen. Freie subjektive Karten dagegen stellen dieses Vorgehen vom Kopf zurück auf die Füße, indem physisch-räumliche Gegebenheiten in der Karte nur insofern auftauchen, als sie für die subjektive Erfahrung relevant sind. Anstatt die Darstellung des subjektiv Erlebten durch das Einfügen in einen metrischen Raum zu verformen, bilden Entfernungen, Größenverhältnisse und Nähe-Distanz-Relationen die Erfahrung der Kartierenden ab. Dies öffnet Raum für die Darstellung jener Aspekte, Abbildung 3: Individuelle Kartierung der eigenen Nachbarschaf t (7- bis 9-jährige Grundschüler*innen, Mexiko-Stadt)

Quelle: Eigenes Foto

Kartieren mit Kindern – Alltagsräume erforschen und repräsentieren

die subjektiv als bemerkenswert oder wesentlich angesehen werden – Erinnerungen, Orte, Gegenstände, Emotionen, soziale Netzwerke usw. Eine eher piktographische Darstellungsweise ermöglicht zudem die (eventuell unbeabsichtigte) Zuschreibung von subjektiv erlebten Inhalten und Qualitäten zu bestimmten Räumen, die eine traditionelle Kartengrundlage schon allein durch mangelnden Platz verhindern würde. Die Art der räumlichen Darstellung in freien subjektiven Karten variiert aufgrund der zeichnerischen Fähigkeiten und des ortsbezogenen Wissens der Kinder. Außerdem bilden sich gelernte, gelegentlich stereotype Repräsentationen in den Karten ab. Es bietet sich an, diese Übung durch verbale Beschreibungen der Karten durch die Kinder zu ergänzen, um die Schwierigkeiten abzumildern, die bei der Konzeption und graphischen Darstellung von Räumen auftreten können, und um zusätzliche Informationen über die dargestellten Orte zu erhalten (Lehman-Frisch/Authier/Dufaux 2012).

Karte als spielerisches Feld: Wimmelkarte Im Anschluss an individuelle Kartierungen macht es oft Sinn, kollektive Kartierungsformate anzuwenden, um Austausch und Diskussion zwischen den Teilnehmenden zu fördern. Dafür sind andernorts (Derr/Chawla/Mintzer 2018) verschiedene Methoden vorgeschlagen worden. Meist werden dabei vorgedruckte Kartengrundlagen aus Papier verwendet, auf denen das jeweilige Thema in Punkt-, Linien- und Flächenelementen dargestellt wird. In Kartierungen mit Kindern und Jugendlichen haben wir eine kollektive Kartierungsmethode entwickelt, die sich insbesondere für Aushandlung und Darstellung von Ideen, Wünschen und Visionen eines gemeinsam erlebten Raumes eignet. Anstatt sich den Einschränkungen metrischer Maßstäbe auszusetzen und Karten als statische Objekte zu verstehen, wird die Karte dabei als dynamisches und spielerisches Feld praktiziert, in dem Elemente angebracht und bewegt werden, um schließlich miteinander in Interaktion zu treten. Diese Methode bedarf umfangreicher Vorarbeiten, zum Beispiel in Form freier subjektiver Kartierungen (s.o.). Dabei kann insbesondere auch die Unzufriedenheit der Teilnehmenden mit bestimmten Gegebenheiten thematisiert worden sein. Die Wimmelkarte schließt an diese Arbeitsschritte an, indem sie sich mit den Möglichkeiten der Überwindung von Unzufriedenheit und Unterdrückungsverhältnissen beschäftigt. Im spielerischen Austausch werden emanzipatorische Ideen, Träume und Utopien gemeinsam entworfen. Das Wimmelbild ist insbesondere in jener Phase des Projekts ergiebig, in der es darum geht, die Grenzen des Denkbaren zu erweitern, scheinbare Natürlichkeit, Sachzwänge und Alternativlosigkeiten abzuwerfen. Als Kartengrundlage bietet sich in diesem Fall möglichst robustes Material an – schweres Papier, eine Tischplatte, eventuell Stoff. Eine vorgedruckte detaillierte Kartengrundlage ist für diese Kartierung nur dann hilfreich, wenn zu hoffen ist, dass sich aus der genauen Referenz zu einzelnen, den Teilnehmenden bekannten Orten viele Assoziationen ergeben. Meist ist das Einzeichnen einzelner, besonders relevanter Orte ausreichend, wobei genaue Größenverhältnisse vernachlässigt werden können. Die einzelnen Elemente können aus buntem, schwerem Papier (160 g) ausgeschnitten und etwa mit Filzstiften weiter gestaltet werden.

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Zunächst sollen die Teilnehmenden Probleme, Ungleichheiten, Widersprüche sammeln, die sie individuell in einem allen bekannten Raum (z.B. dem gemeinsamen Stadtteil) erfahren. Diese werden in kleinen Bildern und Szenen dargestellt. Anschließend werden diese ausgeschnitten und lose auf eine Kartengrundlage gelegt. Dass die Bilder dabei ganze Straßen oder Häuserblocks abdecken, ist nicht weiter schlimm. In einer ersten spielerischen Phase dürfen die Teilnehmenden nun diskutieren, ob sie die von anderen angebrachten Situationen wiedererkennen und ähnliche Erfahrungen gemacht haben und ob deren räumliche Verortung auf der Karte übereinstimmt. Dabei können die vorhandenen Bildchen wie Spielfiguren auf der Karte verschoben und neue hinzugefügt werden. Im nächsten Schritt werden nun vorhandene Freiräume und Gegenmodelle zu den genannten Problemen, positive Erfahrungen und Momente der Raumaneignungen kartiert. Erneut werden zunächst individuelle Erfahrungen gesammelt und gemalt und diese anschließend auf der Karte miteinander konfrontiert, verschoben und ergänzt. Dabei treten sie nun auch direkt mit den zuvor angebrachten negativen Erfahrungen in Interaktion. Diese beiden ersten Phasen dienen dem Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten, indem diese sich gegenseitig und die Thematik (den eigenen Stadtteil o.Ä.) anhand subjektiver Erfahrungen und Kenntnisse der anderen Teilnehmenden (neu) kennenlernen. In einer dritten Phase, an deren Ende die Gestaltung eines Wimmelbilds stehen wird, sollen nun radikale Gegenentwürfe zu identifizierten Problemen (1) und zügellos-konsequente Fortführungen und Weiterentwicklungen der bereits gelebten Freiräume (2) entworfen werden. Um den Übergang von der Beschäftigung mit bedrückenden oder unterdrückenden Umständen hin zum empowernden Entwerfen von Alternativen zu erleichtern, bietet es sich an, diese Phase durch auf lockernde Körperübungen und gruppendynamische Spiele einzuleiten. Nun können Kokartierende in Kleingruppen zusammenkommen, um Lösungen oder Gegenentwürfe zu den in vorherigen Phasen kartierten Unterdrückungserfahrungen zu sammeln und zu verbildlichen. In dieser Phase sollen Teilnehmende den Schritt von realen Problemen zu noch zu entdeckenden Visionen machen. Um dabei die Fantasie anzuregen und die Einschränkung des vermeintlichen »Das geht doch gar nicht« abzuwerfen, eignen sich insbesondere Methoden des von Augusto Boal entwickelten Theaters der Unterdrückten (Boal 2013). In Kleingruppen können Teilnehmende jeweils eine eigene Unterdrückungserfahrung vorstellen, die sie im zu kartierenden Raum erfahren. Anschließend werden empowernde Lösungen entwickelt. Nun werden Elemente, die die empowernde Erfahrung symbolisieren, oder solche, die sie begünstigen, gemalt und ausgeschnitten. Je nach Alter und Gruppenkonstellation braucht diese Gruppenarbeit intensive Moderation. In bereits gefestigten Gruppen mit Erfahrung im kreativen gemeinsamen Arbeiten kommt es dagegen vor, dass gerade Zurückhaltung vonseiten der anleitenden Personen die Gruppe befähigt, neue Lösungsansätze zu erkunden. Mit den ausgeschnittenen Symbolen und Szenen der Emanzipation treffen sich alle Teilnehmenden wieder bei der Karte und bringen diese lose auf ihr an. Nachdem Lösungen im Plenum vorgestellt wurden, können die ausgeschnittenen Bildchen erneut wie Spielfiguren auf der Karte bewegt werden. Dabei begegnen sich die Symbole, die unterschiedliche emanzipatorische Strategien repräsentieren, auf der Karte und treten in Interaktion. Je nach Verlauf des Prozesses können aus diesen Begegnungen neue Kleingruppen gebildet werden, die ihre Strategien kombinieren und weiterentwickeln. Dieser Prozess kann weitergeführt werden, solang die spielerische Dynamik

Kartieren mit Kindern – Alltagsräume erforschen und repräsentieren

der Gruppe anhält. Da die Zeichnungen auf der Karte immer mehr Raum einnehmen und nach und nach die Kartengrundlage bedecken, verliert die Karte ihren georeferentiellen Sinn und wird zu einem eigenen Raum, zu einem Möglichkeitsraum, in dem all diese Informationen und Erfahrungen, lokal eingebettetes Wissen und spielerisch entwickelte Utopien einander begegnen. Ist eine Präsentation oder Ausstellung der Ergebnisse vorgesehen, so können aus der Wimmelkartierung durch Nachbearbeitung und eventuell professionelle graphische Aufarbeitung eindrucksvolle Resultate gewonnen werden, die selbst als Inspiration für neue Projekte und Diskussionen funktionieren können (Amann/Wende 2018). Abbildung 4: Wimmelkartierung als Spielfeld der stadtteilpolitischen Visionen (13- bis 15-jährige Schüler*innen, Berlin)

Quelle: Eigenes Foto

Auditive Karten Das Kartieren mit Kindern fordert uns in besonderem Maße, neben dem Visuellen andere Sinneswahrnehmungen einzubeziehen, die vielleicht besser geeignet sind, bestimmte Aspekte der räumlichen Erfahrung abzufragen und darzustellen. Daher bemühen wir uns, neben Papier und Farbe unterschiedliche Materialien in Kartierungsprozesse zu integrieren (vgl. Olmedo 2018) und so einen Dialog unterschiedlicher Wissensformen und Bedeutungsebenen anzustoßen. Gelegentlich stellen wir die Frage nach der Materialität der Karte tatsächlich explizit an die Gruppe, zum Beispiel indem wir fragen: »An welches Material denkt ihr, wenn wir über dieses Thema sprechen – Holz, Beton, Papier, Stoff …?« Neben der Verwendung unterschiedlicher Materialien (z.B. Stoffe, Holz, Stein, Knetmasse etc.) zur Erzeugung unterschiedlicher haptischer Erfahrungen lassen sich auch auditive Erfahrungen in Kartierungsprozesse einbinden. John Krygier (1994) betonte das Potenzial der Integration von Audio in die digitale Kartographie bereits 1994, und viele andere haben seither an digitalen audiovisuellen Karten gearbeitet (vgl. Edler et al. 2019). Aber warum Ton nicht auch in analoge kollektive Kartographie integrieren? Gerade mit Kindern bietet es sich an, Soundkarten zu erstellen, die es Gruppen

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ermöglichen, Klanglandschaften zu erforschen und zu genießen, um so auf Wissen zuzugreifen, das durch die Abfrage mit visuellen Methoden kaum erreicht wird. Als Werkzeug können hierfür neben Diktiergeräten auch Smartphones verwendet werden, die als Aufnahme- wie auch als Wiedergabegeräte funktionieren. Abhängig von Thema und Zweck der Karte können die Kokartierenden (in Kleingruppen) Klänge aufnehmen, die mit ihrem Körper produziert oder bei Ortsbegehungen vernommen wurden. Geeignete Töne lassen sich auch in Internet-Tonarchiven2 finden, wobei eine begleitende Person pro Kleingruppe bei der Suche unterstützen sollte. Besonders gut lässt sich diese Methode auch mit Begehungen im öffentlichen Raum kombinieren, in denen die Kartierenden sich im zu kartierenden Raum bewegen und relevante Geräusche aufnehmen. Lokale Ausprägungen von Themen wie Mensch-Umwelt-Beziehungen, kulturelle Vielfalt, Mobilität oder Freiräume für junge Menschen lassen sich erfahrungsgemäß gut in Tonaufnahmen dokumentieren. Wenn die entsprechenden Klänge auf den Geräten vorliegen, können diese auf der Kartengrundlage verteilt werden. Der Raum, in welchem der Kartierungsprozess stattfindet, dient als Kartengrundlage, die den zu kartierenden Raumausschnitt umfasst. Wichtige Orientierungspunkte können sichtbar durch aus Pappe ausgeschnittene und mit eingängigen Symbolen bemalte Schilder markiert werden, zum Beispiel der Spielplatz (Schaukel), der Sportverein (Ball), die Eisdiele (Kugel Eis) …3 Nun stellen sich alle an einem Ort auf (je nach Thema, z.B. wo ich mich wohlfühle, wo ich meine Freund*innen treffe etc.). Wenn alle an dem entsprechenden Ort stehen und die Position der Orte zueinander stimmt, wird das entsprechende Audio auf allen Abspielgeräten in Endlosschleife aktiviert. Nun können Kokartierende die Karte erkunden, indem sie sich auf ihr bewegen. Wenn sich die Gruppe an einem sicheren Ort befindet, kann dies mit geschlossenen Augen geschehen, wobei sich die Kartierenden in Zweierpärchen gegenseitig führen. Da diese Karte individuelle Erfahrungen nicht nur visuell nachvollziehbar macht, sondern begehbar ist, Teilnehmende sich gegenseitig durch die Karte führen und dabei austauschen können, ist sie besonders gut für den intensiven Austausch zu räumlichen Erfahrungen innerhalb der Gruppe geeignet. Somit bietet sie eine hervorragende Grundlage für weitere kollektive Kartierungsphasen. Finden diese mit ausschließlich visuellen Methoden statt, so wirkt für die Kokartierenden trotzdem auch die auditive Erfahrung der Soundmap in ihnen nach.

Fazit: Vom Kartieren mit Kindern lernen Die Kartierungsverfahren, die wir in diesem Beitrag vorgeschlagen haben, sind Beispiele für die Methoden, die verwendet werden können, um mit Kindern über ihre Welten zu ref lektieren. Außerdem stellen sie den Versuch dar, Kindern ein Instrument an die Hand zu geben, mit dem sie ihre Sichtweisen und Erfahrungen selbst darstellen können. Wie oben erwähnt, sollten sie an den jeweiligen Kontext angepasst werden – 2 Auf Plattformen wie geräuschesammler.de oder freesound.org lassen sich per Stichwortsuche Tausende von Tonaufnahmen zu fast allen nur erdenklichen Themen abrufen. 3 Die Koordinaten können geographisch referenziert sein, sich aber auch auf thematische oder emotionale Felder beziehen.

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unzählige Varianten sind denkbar. Mit Kindern zu arbeiten und dabei zu versuchen, bestehende Autoritätsverhältnisse zwischen ihnen und den Erwachsenen abzubauen, erfordert eine ständige Anstrengung des Zuhörens und die Fähigkeit, den Ablauf der Workshops anzupassen, wenn die den Kindern vorgeschlagenen Abläufe für diese nicht funktionieren. Die Umsetzung sollte einen möglichst spielerischen Charakter haben, indem Humor und Flexibilität die Methode nicht nur oberf lächlich prägen. Gleichzeitig sind klare Anweisungen und Erklärungen für die einzelnen Arbeitsschritte hilfreich und unterstützen die Kartierenden dabei, sich im Prozess zu orientieren. Kinder als kritische Kartograph*innen ernst zu nehmen heißt auch, die Interpretation und Präsentation der kollektiv erstellten Karten in die Hand der Kinder zu geben und ihnen das Recht zuzugestehen, Karten als Instrument zu nutzen, um sich für die eigenen Forderungen starkzumachen. Für die Umsetzung in die Praxis empfehlen wir, den Kartierungsprozess mit einem Event abzuschließen, in dem die Kokartierenden ihre Karte(n) und ihr Anliegen öffentlich präsentieren. Das Kartieren mit Kindern kann uns nicht nur lehren, dass sie von einem frühen Alter an in der Lage sind, Raumdarstellungen zu schaffen. Wir »erwachsene« Pädagog*innen, Aktivist*innen oder Forscher*innen lernen beim Kartieren mit Kindern auch unsere eigenen kartographischen Methoden neu kennen. Mehr noch, indem wir uns auf diesen dialogischen Lernprozess einlassen, lernen wir sie zu erneuern und so die Grenzen kartographischer Gestaltungsmittel zu erweitern.

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Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen – Räumlichkeit des Holocaust über Stolpersteine visualisieren Isabelle Kollar, Jochen Laub

Abstract Das Kartieren historischer biographischer Informationen, wie sie im öffentlichen Raum beispielsweise in Form von Stolpersteinen zugänglich sind, ermöglicht kritische Zugänge zu geschichtlichen Zusammenhängen und eröffnet kritische Fragehorizonte, die insbesondere mit Schüler*innen im Sinne einer kritischen Kartendidaktik (Gryl et al. 2010; Jekel/ Gryl/Oberrauch 2015; s. hierzu auch Gryl/Lehner/Pokraka 2021) nutzbar sind. Die im Folgenden vorgestellte Methode setzt in einem Überschneidungsbereich aus Kartendidaktik, historischem Lernen und kritischer Kartographie an. Dabei können bestehende wissenschaftliche, gesellschaftliche oder subjektive Annahmen bzw. Diskurse auf verschiedenen Ebenen (historische Erzählungen, Räumlichkeit historischer Vorgänge, soziale Unterschiede der Repräsentation im Raum) aufgebrochen werden.

Über kritische Kartierungen Fragen an historische Zusammenhänge und deren gesellschaftliche Darstellung bzw. räumliche Repräsentation aufwerfen Die räumlichen Strukturen, wie sie Karten zu historischen Ereignissen und Vorgängen zeigen, sind als visualisierter Teil unserer diskursiven Erinnerungskultur zu verstehen (Schlögel 2006; Oswalt 2014). Folgt man der Perspektive der kritischen Kartographie, wie sie Jeremy Crampton (2010) ausführt, betrifft diese neben Grundlagen des Wissens für unsere Entscheidungen auch die historische Situiertheit bestimmter Wissenszusammenhänge und zielt dabei auf eine kritische Ref lexion etablierter Kategorien unseres Denkens. Eine so verstandene Kritische Kartographie historischer Zusammenhänge (»Informationen«) versucht, ein Verständnis der Bedingtheit von Wahrheitsansprüchen räumlicher Darstellungen (insbesondere Karten) zu generieren sowie eine Auseinandersetzung mit der Bindung von Wissen an spezifische Rahmenbedingungen einer Ref lexion zu öffnen und damit Karten und Kartieren nicht nur als Teil der (Re-) Produktion sozialer Machtverhältnisse zu fassen, sondern auch als Mittel kritischen visuellen Denkens zu begreifen (Wood 1992; Glasze 2009; Bittner/Michel 2014). Die Methode kritischen Kartierens räumlicher Aspekte historischer Vorgänge stellen wir in diesem Beitrag am Beispiel der Deportation und Ermordung von Menschen

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während des Nationalsozialismus vor. Dieses zentrale Thema der Weltgeschichte sowie der jüngeren europäischen Vergangenheit erweist sich für einen quantifizierenden Zugang als problematisch (Michel 2017). Gerade vor dem Hintergrund des Verschwindens von Zeitzeug*innen gibt das Kartieren biographischer Informationen die Möglichkeit, räumliche Informationen zum Holocaust in den Diskurs einzubringen und diese einerseits neu zu diskutieren, andererseits aber auch ihre Bedeutung neu zu betonen. Für Schüler*innen stellt dies eine Möglichkeit dar, von der eigenen Lebenswelt ausgehend historisch zu lernen und dabei historische Prozesse, die eigene räumliche Lebenswelt wie auch Karten zu historischen Prozessen bzw. Vorgängen kritisch zu betrachten. Die Kartierung biographischer Informationen, welche auf Stolpersteinen enthalten sind, ermöglicht konkret einen Zugang zu räumlichen und historischen Zusammenhängen und Fragen, die den Holocaust und die systematische Ermordung von Menschen während des Nationalsozialismus betreffen. Dabei wird, von einem konkreten Ort des Erlebens ausgehend, der Ort zur »Instanz gegen die Löschung der Erinnerung« (Schlögel 2006: 351). Die Methode eröffnet mögliche neue Forschungsfragen und erlaubt es, gesellschaftliche Erzählungen und Darstellungen innerhalb der Erinnerungskultur differenziert zu hinterfragen. Die entstehenden Karten weisen einen heuristischen Wert auf, um wissenschaftliche Fragen im Unterricht zu thematisieren (Wardenga 2012). Diese können die historischen Vorgänge selbst sowie deren räumliche Repräsentationen in der bestehenden Erinnerungskultur (in unserem Fall die Stolpersteine) betreffen, aber auch die Karten und deren Entstehungsprozesse selbst für eine kritische Ref lexion öffnen. Zugleich weisen die Karten einen wissenschaftspropädeutischen Charakter auf, indem sie über ihre konkrete Verortung hinaus weitere Fragen an historische Prozesse aufwerfen, wie etwa die Beteiligung und Wahrnehmung der damaligen Vorgänge im öffentlichen Raum (»Was wussten die Nachbarn?« etc.). Damit verbindet die hier vorgestellte Methode historisches Lernen, ausgehend von der Lebenswelt der Schüler*innen (Michalik 2004: 16), mit ref lexiver Kartenarbeit (Gryl 2010) in einer Form, die als Arbeitsmethode für den Unterricht genutzt werden kann.

Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen Ein kritisches Kartieren von Stolpersteinen und den enthaltenen biographischen Informationen im persönlichen Nahraum der Schüler*innen bzw. Studierenden ermöglicht einen Zugang zum Holocaust, der auf der Basis konkret erfahrbarer räumlicher Umgebungen historische Zusammenhänge erschließt. Damit können sowohl Karten des Ausgangsraumes der Lebenswelt der deportierten Personen als auch die räumlichen Zusammenhänge der Deportationen und Ermordungen auf der europäischen Ebene erstellt werden. Beide räumlichen Maßstabsebenen sind bei der Methode von Interesse und sollen Berücksichtigung finden. Stolpersteine zu kartieren, eröffnet eine Reihe methodologischer Fragen und Herausforderungen, die bei einer kritischen Wendung allerdings teilweise als Potenziale der Methode betrachtet werden können. So bieten diese einen niederschwelligen und direkten Zugang zu historischen Daten und Vorgängen der Deportation und Ermordung von Menschen während des Nationalsozialismus.

Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen

Eine kritische Betrachtung der kartierten biographischen Informationen muss im Anschluss zwei Ebenen fokussieren: die Ebene der räumlichen Dimension historischer Prozesse und die Ebene der Repräsentation dieser Vorgänge im heutigen Stadtraum sowie im virtuellen Raum. Beide Ebenen ermöglichen eine sehr große Zahl an Fragen und Gelegenheiten, weiterzudenken und weiterzuarbeiten – sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf didaktischer Ebene. Einen wichtigen Aspekt stellt beispielsweise die fehlende Repräsentation von Biographien dar, wenn für die betreffenden Menschen (noch) keine Stolpersteine gelegt wurden. Bei einer Kartierung kann im heutigen (städtischen wie virtuellen) Raum der Eindruck entstehen, dass alle Biographien über Stolpersteine repräsentiert werden, was aber nicht der Fall ist (vgl. Abb. 3). Aus einer heutigen Forschungsperspektive lassen sich Karten zu historischen Vorgängen grundsätzlich nicht einfach als Abbilder historischer Ereignisse bzw. Fakten interpretieren, sondern als Dokumente, die innerhalb eines historischen Entstehungskontexts betrachtet werden müssen (Wood 1992). Als angefertigte Darstellungen bzw. Modelle (der räumlichen Wirklichkeit) sind sie selbst Ausdruck gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Betrachtungen sowie Aushandlungen historischer Vorgänge und damit gleichsam in Entstehungskontexte wie auch in die (Re-)Produktion von Diskursen eingebunden, die als Wissens-, Begriffs- und Machtgefüge zu verstehen sind (Lefebvre 1991; Glasze 2009). Karten zu historischen Zusammenhängen können als Teil der Erinnerungskultur verstanden werden und stellen damit einen bedeutenden Aspekt gesellschaftlicher Selbstversicherung dar (Schlögel 2006; Oswalt 2010, 2014). Im Gegensatz zur klassischen Auffassung einer »abbildhaften Kartographie« muss in einem kritischen Verständnis von Kartographie sowohl dieser Prozess gesellschaftlicher Praxis betrachtet werden, in den Karten eingebunden sind und für den sie gleichsam als Folge sozialer Strukturen zu begreifen sind, als auch die Produktion sozialer Wirklichkeiten, in die diese eingebunden sind (Harley 2004; Glasze 2009; Bittner/Michel 2014). Gerade kartographische Darstellungen mit Bezug auf den Holocaust müssen der Singularität jedes einzelnen Menschen, dem undenkbares Leid widerfahren ist, gegen quantifizierendreduktionistische Analysen verstellt bleiben (Clarke/Doel/McDonough 1996; Michel 2017). Der vorliegende Ansatz versucht daher, über die Kartierung von Stolpersteinen und den damit eingeführten Bruch zwischen Biographie (historischem Ereignis) und kartographischem Abbild eine Ebene zu nutzen, welche eine kritische Distanz erzeugt. Diese kritische Distanz zwischen historischem Ereignis und kartographischer Darstellung entsteht über die Stolpersteine, denen ein Verweischarakter selbst schon immanent ist, und soll einem verkürzt abbildhaften Kartenverständnis vorbeugen. Historische Karten stellen häufig Zusammenhänge nationalstaatlicher Veränderungen von Grenzen oder Verschiebungen von Strukturen auf staatlicher Ebene dar (Bode 2015). Von solchen Darstellungen hebt sich die hier vorgestellte Methode in Bezug auf vier Aspekte ab: 1. Einerseits wird auf die Konstruiertheit von Karten verwiesen, andererseits auf die Bedeutung, die diesen in gesellschaftlichen Diskursen zukommt. Dabei werden Karten nicht nur als Instrumente und Methoden der Forschung verstanden, sondern auch in ihrer Bedeutung für die Position von Akteuren innerhalb bestimmter Diskurse betrachtet, womit Kartieren zugleich als Praxis kritischer Forschung

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betrachtet werden muss (Wardenga 2012). Dies wird beispielsweise dort relevant, wo der Wahrheitswert historischer Informationen auf Karten diskutiert wird oder wo diskursive Auseinandersetzungen mit historischen Zusammenhängen gesellschaftliche Bedeutung erlangen (Gryl 2010; Wardenga 2012). Die auf den Stolpersteinen enthaltenen Informationen können als wissenschaftlich abgesichert gelten1, trotzdem beginnt über die Kartierung eine Auseinandersetzung über die zugänglichen Informationen und deren »Wahrheitsgehalt«. 2. Gerade mit dem Kartieren von Stolpersteinen ist eine Perspektive auf die Ebene der räumlichen Repräsentation der Erinnerungskultur verbunden. Sie fokussiert beispielsweise eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach Formen und Möglichkeiten der Repräsentation von Erinnerung im Raum. Das Vorgehen orientiert sich nicht primär daran, aus historischen Archiven und Datensammlungen heraus Karten zum Holocaust zu erstellen, wie dies etwa gängige historische Methoden intendieren (Knowles/Cole/Giordano 2014), sondern stellt eine bewusste Hinwendung zur Möglichkeit dar, im Sinne einer kritischen Geographie auf Daten zugreifen zu können und ausgehend von Biographien sowohl nach historischen Zusammenhängen als auch nach heutigen Repräsentationen im Raum zu fragen. Damit ermöglichen sie eine Visualisierung räumlicher Zusammenhänge der Deportationen, welche die Geschichte der Menschen ins Zentrum stellt (s. hierzu auch Friedländer 2007). Hinsichtlich der räumlichen Repräsentation historischer Ereignisse lässt sich beispielsweise nach Unterschieden der Repräsentation von Biographien/Deportationen in verschiedenen Räumen fragen (Stadträume – ländliche Gebiete). Des Weiteren lenken sie den Fokus auf fehlende Biographien, also auf solche, die nicht durch Stolpersteine repräsentiert werden (vgl. Abb. 3). Bedenkt man die erhebliche Zahl an Deportationen, scheint sich zumindest die Frage nach der Wirkung der Unterrepräsentation zu stellen. 3. Ein Kartieren biographischer Informationen, um historische Zusammenhänge zu erschließen und zu visualisieren, eröffnet Zugänge auf verschiedenen räumlichen Ebenen (z.B. Mikro-Makro) (Schulze 1993; Preßler 2005; Becher 2006). So werden im Sinne einer Kritischen Kartographie, die auf Methoden der Dekonstruktion, Diskursanalyse oder Ideologiekritik rekurriert, neue Fragehorizonte eröffnet. Häufig kommen, gerade wenn es um historische Zusammenhänge geht, Informationen auf der Mikroebene weniger Bedeutung zu als solchen auf der Makroebene (Bode 2015). Die hier vorgestellte Methode des kritischen Kartierens biographischer Daten zur räumlichen Repräsentation systematisch ermordeter Menschen im Nationalsozialismus zeigt auf beiden Ebenen – auf der kleinräumigen der Lebensorte (Abb. 1) und auf der europäischen der Deportationswege (Abb. 2) – Ansatzpunkte, die »Topographien des Terrors« (Schlögel 2006: 351) zu erschließen. Bei der Kartierung wird mithilfe der dargestellten Methode über die biographischen Informationen unmittelbar von der Lebenswelt des*der Lernenden (Michalik 2004), von einem konkreten Ort (place) ausgegangen, der von den Kartierenden tatsächlich erlebt werden kann. Dies erzeugt eine Spannung zwischen historischen Informationen, ihrer Repräsentation und den aktuellen Eindrücken, die als Ausgangspunkt weitergehender Fragen betrachtet werden, woran etwa die Exkursionsdidaktik anknüpft (Dickel/Scharvogel 2013). 1 Demnig (2020), https://www.stolpersteine.eu/faq/ (05.08.2020).

Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen

4. Karten zu historischen Ereignissen, wie kriegerischen Auseinandersetzungen, weisen eine besondere politische Relevanz auf, da sie als Element der historischen Selbstwahrnehmung Teil unserer Weltwahrnehmung und gleichsam Teil politischer Entscheidungsprozesse sind (Wood 1992; Gryl 2010; Oswalt 2014; Bode 2015; Jekel/Gryl/Oberrauch 2015). Gerade eine partizipative Wirkung, die über den niederschwelligen Zugang im öffentlichen Raum erreicht werden kann, stellt ein bedeutendes Element kritischer Geographie dar (Bittner/Michel 2015), an den die hier vorgestellte Methode im Sinne einer Spatial Citizenship (Jekel/Gryl/Oberrauch 2015) anzubinden versucht. Die Informationen, die auf den Stolpersteinen erfasst sind, sind mit frei zugänglichen digitalen Archiven verbunden und können aus diesen erweitert werden. Eine breite Beteiligung im Sinne partizipativer Ansätze eröffnet die vorliegende Methode zudem über die Hinwendung zum*zur Einzelnen und dessen*deren räumlicher Umgebung, die zum Ausgangspunkt des Kartierens wird.

Kritisches Kartieren biographischer Daten von Stolpersteinen Die Methode der Kartierung erfordert zunächst einen Zugriff auf Primär- und Sekundärdaten (Hüttermann 2008). Direkten Zugang im öffentlichen Raum ermöglichen die Stolpersteine und deren aufgearbeitete und digital präsentierte Daten. Dieser sehr niederschwellige Zugang zu historischen Daten ermöglicht es auf einfache Art, mit Schüler*innen und Studierenden Karten zu historischen Zusammenhängen zu erstellen, die unmittelbar mit dem sie umgebenden Raum zu tun haben (Michalik 2004). Der vorliegende Beitrag geht daher zur Veranschaulichung vom Stadtraum Karlsruhe aus, dem Lebensraum der Autor*innen. Von einem räumlich erfahrbaren Horizont aus werden über die biographischen Daten wiederum räumliche Informationen gewonnen. Die Kartierung verweist sowohl auf die Ebene historischer Vorgänge selbst als auch auf die Ebene des heutigen Diskurses und der Repräsentation von Information im Raum. Mit einer Vorrecherche im städtischen Geoportal können bereits die jeweilige Lage und teilweise die Inschriften der Stolpersteine in Erfahrung gebracht werden. Im gewählten Raumbeispiel Karlsruhe liegen die Daten zu den Stolpersteinen im BürgerGIS der Stadt Karlsruhe digital vor.2 Außerdem können dort die Lage und Inschriften der Steine über zusätzliche Seiten abgerufen werden.3 Hierzu sind weitergehende Informationen verlinkt, beispielsweise das digitale »Gedenkbuch für die Karlsruher Juden«4 und das Stadtwiki5. Teilweise lassen sich Bilder der Personen finden und Biographien nachlesen, die sehr detailliert das Leben der Menschen und ihrer Familien beschreiben. Auch über Wikipedia findet man eine Liste der verlegten Stolpersteine in 2 Stadt Karlsruhe (2020a), https://geoportal.karlsruhe.de/buergergis/ (05.08.2020). 3 Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. (2020a), https://www.erinnerung-aufpolieren.de/stolper steine.htm (05.08.2020); Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. (2020b), https://www.google.com/ maps/d/viewer?mid=1H5aJOK-mxZ0SPrtTTUkId803l1U&ll=49.005849657529886%2C8.3981220871582 03&z=14 (05.08.2020). 4  Stadt Karlsruhe (2020b), http://gedenkbuch.informedia.de/gedenkbuch.php/PID/2.html (05.08.2020). 5 Stadtwiki Karlsruhe (2020), https://ka.stadtwiki.net/Stolpersteine_Karlsruhe (05.08.2020).

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Abbildung 1: Stolpersteine in Karlsruhe – Raumausschnitt auf aktuellem und historischem Stadtplan von 1943

Quelle: Eigene Darstellung

Karlsruhe.6 Zu anderen Räumen im Bundesgebiet (z.B. den Raum Landau) sind diese ebenfalls auf dem städtischen Geoportal oder auf Wikipedia verzeichnet mit Angabe der Lage und weitergehenden Informationen zu den Stolpersteinen und den Biographien, auf welche diese verweisen.7 Die digitalen Informationen bieten ein gutes Fundament, sind aber nicht hinreichend als Datengrundlage nutzbar. Eine Kartierung im engeren Sinne vor Ort kann dadurch nicht ersetzt werden und sollte je nach Fragestellung standortbezogen oder personenbezogen stattfinden. Es können beispielsweise alle gelegten Stolpersteine eines Stadtteils kartiert oder verschiedene Personengruppen wie Jüdinnen und Juden, Euthanasieopfer oder politische Gegner*innen etc. genauer betrachtet werden. Die Erhebung der Primärdaten ermöglicht die Darstellung der Standorte der Stolpersteine in einer Karte. Im dargestellten Fallbeispiel wird die kostenlose WebGIS-Anwendung ArcGIS Online von ESRI genutzt. Hier ist es recht einfach möglich, auf vorgegebenen Hintergrundkarten eigene Informationen als Layer einzufügen, in diesem Fall die aufgesuchten Stolpersteine. Diese können, je nach Inschriften der 6 Wikipedia (2020a), https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Karlsruhe (05.08.2020). 7 Stadt Landau in der Pfalz (2020), https://geoportal.landau.de/ (05.08.2020); Wikipedia (2020b), https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Landau_in_der_Pfalz (05.08.2020).

Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen

Steine, unterschiedlich dargestellt werden: beispielsweise die Deportationsorte oder, wenn ersichtlich, die Gründe der Deportation in verschiedenen Farben. In ArcGIS Online können zudem externe Layer eingebunden werden. Die Stadt Karlsruhe stellt auf einem eigenen Transparenzportal viele genutzte Geodaten als POI-Layer (im geoJSON-Format) digital zur Nutzung bereit.8 Auf Anfrage wurde zudem ein historischer Stadtplan von 1943 über einen Map-Server vom Liegenschaftsamt Karlsruhe zur Verfügung gestellt. In Abbildung 1 sind diese Daten zusätzlich zu den selbst erhobenen dargestellt. Dabei wurden die Stolpersteine im Layout an die selbst kartierten angepasst, ein aktueller Stadtplan sowie der Stadtplan von 1943 zur besseren Visualisierbarkeit halbtransparent daruntergelegt (s. Abb. 1). Neben der reinen Darstellung der Stolpersteine in einer Karte des Kartierungsraumes können die auf den Stolpersteinen genannten räumlichen Informationen genutzt werden, um großräumiger die Flucht-, Deportations- und Todesorte abzubilden. Da auf den Stolpersteinen meist nur die Orte und die Jahreszahlen vermerkt sind, ist es nicht möglich, die tatsächlichen Wege darzustellen, sondern nur anhand von Vektorlinien den Ursprungs- und Zielort zu verbinden. Natürlich wäre es auch möglich, die gefahrenen Routen und Zwischenstationen zu recherchieren (off line oder online) und auf einer Karte zu markieren. Im gezeigten Fallbeispiel verbinden Pfeile die Deportationsorte mit Karlsruhe, welche ebenfalls in ArcGIS Online dargestellt werden. Durch qualitative und quantitative Gestaltung der Pfeile lassen sich räumliche und zeitliche Muster unterscheiden: Farben können beispielsweise unterschiedliche Wege und Zeiten der Flucht und Deportationen markieren, die Strichstärke die Anzahl der untersuchten Personen bzw. Biographien symbolisieren. Dadurch entsteht ein Vektorbild europäischen Maßstabs, das viele Fragen aufwirft. Abbildung 2 stellt auf Grundlage von 25 ausgewählten Biographien auf Stolpersteinen die Flucht- und Deportationslinien aus Karlsruhe dar. Als Basiskarte dient eine Europakarte von 1943, die als Layer von National Geographic über ArcGIS Online eingebunden werden kann. Sie ist der besseren Erkennbarkeit der Flucht- und Deportationslinien wegen halbtransparent gestaltet. Darüber werden zusätzlich die heutigen Ländergrenzen angezeigt. Die zweite europaweite Kartendarstellung ermöglicht es, die erkennbaren räumlichen Muster genauer zu betrachten. Dabei stellen sich Fragen nach Regelmäßigkeiten oder Auffälligkeiten, die zu weitergehenden Recherchen Anlass geben. Am hier vorliegenden Beispiel der Kartierung von 25 ausgewählten Biographien aus Karlsruhe zeigen sich beispielsweise räumlich wie zeitlich sehr deutliche Unterschiede in der Deportation politischer Gegner*innen, Euthanasieopfer und deportierter Jüdinnen und Juden. Daran anschließend können durch Quellenrecherche oder das Einbinden weiteren aufgearbeiteten Materials Einzelbiographien in großangelegten Deportationsaktionen (beispielsweise die Deportation am 22.10.1940 nach Gurs oder die der »Aktion T4«) wiedergefunden werden.

8 Stadt Karlsruhe (2020c), https://transparenz.karlsruhe.de/ (05.08.2020).

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Abbildung 2: Flucht- und Deportationslinien ausgewählter Biographien aus Karlsruhe

Quelle: Eigene Darstellung

Die erarbeitete Karte kann mit weiteren historischen Karten verglichen werden, die thematisch ähnliche Inhalte zeigen. Auch hier lassen sich die selbst erhobenen Daten in einen größeren Zusammenhang stellen. Eventuell bietet es sich an, die Karten als neue Layer in der eigenen Kartendarstellung einzubinden. Offensichtlich ist auch der Abgleich der erhobenen Daten mit historischem Quellenmaterial. Beispielsweise findet man in der digitalen Sammlung der Badischen Landesbibliothek ein »Verzeichnis der am 22. Oktober 1940 aus Baden ausgewiesenen Juden«9, das alle Menschen auflistet, die an diesem Tag nach Gurs deportiert wurden. Das zentrale Bundesarchiv führt ein digitales Gedenkbuch der »Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945«10. Auch regionale oder lokale Gedenkbücher bieten sich für einen Vergleich mit den ausgewählten Biographien an (für unser Raumbeispiel Karlsruhe ist dies das »Gedenkbuch für die Karlsruher Juden«11). Über dieses digitale Gedenkbuch ist es leicht möglich, einzelne oder Familienbiographien nachzuvollziehen und räumliche Informationen detaillierter zu kartieren. Durch die Kartierung der Stolpersteine ist eine Reihe von Erkenntnissen bezüglich der Räumlichkeit der Deportationsvorgänge möglich. Die Daten der Stolpersteine selbst verdeutlichen die zeitliche Abfolge und zeigen, dass politische Gegner*innen früh (ab 9 Der Generalbevollmächtigte für das Jüdische Vermögen in Baden (1941), https://digital.blb-karlsruhe. de/urn/urn:nbn:de:bsz:31-33270 (05.08.2020). 10 Bundesarchiv (2020), https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de (05.08.2020). 11 Stadt Karlsruhe (2020b), http://gedenkbuch.informedia.de/index.php/PID/2.html (05.08.2020).

Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen

1933) und deutschlandweit, meist regional (Karlsruhe, Bruchsal, Ludwigshafen, Kislau [Bad Schönborn] etc.) inhaftiert wurden. Die betroffenen Menschen jüdischen Glaubens wurden hauptsächlich 1940 nach Gurs deportiert, teilweise 1941 nach Minsk. Nach Holland gef lüchtete Jüdinnen und Juden wurden zunächst dort inhaftiert und dann ebenfalls nach Osten deportiert (1943 nach Sobibor), Euthanasieopfer nach Grafeneck (»Aktion T4«). Für die Schüler*innen bzw. Studierenden werden damit Zusammenhänge erkennbar, die die zeitliche Abfolge betreffen, zum Beispiel Inhaftierung politischer Gegner*innen gleich nach Machtübernahme der NSDAP 1933, Flucht vor 1939, Deportationen 1940/1941. Es zeigen sich aber auch deutlich räumliche Strukturen bzw. Muster. Eine Kartierung der »Unsichtbaren« erweitert die Methode auf räumliche Repräsentationen innerhalb der Erinnerungskultur. Hierbei richtet sich der Fokus auf die fehlenden Stolpersteine, also auf die Biographien von Menschen, welche im heutigen Stadtraum nicht nachvollzogen werden können, da keine Stolpersteine zu ihnen verlegt wurden. Diese Biographien aufzuspüren, kann beispielsweise über den Vergleich historischer Listen mit den verlegten Stolpersteinen in einem konkreten Raumausschnitt erfolgen. In unserem Fallbeispiel verglichen wir die Namen der Personen aus dem »Verzeichnis der am 22. Oktober 1940 aus Baden ausgewiesenen Juden« mit den verlegten Stolpersteinen im Bereich der Markgrafenstraße, Adlerstraße, Kreuzstraße und Steinstraße in der Innenstadt Karlsruhe. Im Verzeichnis werden für diese vier Straßen insgesamt 64 Personen genannt, deren Biographien nicht im Raum repräsentiert sind. In Abbildung 3 wird deutlich, dass die räumliche Repräsentation durch Stolpersteine eine problematische Verzerrung aufweist. (Es »fehlen« 64 Stolpersteine Abbildung 3: Karte der »Unsichtbaren«, für diese am 22.10.1940 nach Gurs deportierten Jüdinnen und Juden »fehlen« Stolpersteine

Quelle: Eigene Darstellung

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allein in den betrachteten Straßen. Dabei ist zu beachten, dass in Karlsruhe nur Stolpersteine für Todesopfer der NS-Verfolgung verlegt werden, nicht für Überlebende der Deportationen [Stadt Karlsruhe 2016].) Mögliche methodische Schritte zur Erstellung einer großmaßstäblichen Karte der kartierten Stolpersteine, eventuell ergänzt durch weitere Layer bzw. Sekundärdaten (s. Abb. 1): 1. digitale Vorrecherche zu Stolpersteinen der eigenen Stadt 2. Kartierung ausgewählter Standorte oder Personengruppen von Stolpersteinen/Erhebung von Primärdaten 3. Darstellung der kartierten Standorte in einer Kartengrundlage (in diesem Fall in ArcGIS Online) 4. eventuell Einbinden zusätzlicher Informationen/Layer/Sekundärdaten (in diesem Fall Stolpersteine als POI und digitalisierter Stadtplan Karlsruhe von 1943) Mögliche methodische Schritte zur Erstellung einer kleinmaßstäblichen Karte unterschiedlicher Flucht- und Deportationslinien ausgewählter Biographien (s. Abb. 2): 1. Darstellung der auf den Stolpersteinen enthaltenen räumlichen Informationen auf einer kleinmaßstäblichen europaweiten Karte mithilfe von Vektorlinien 2. qualitative Unterscheidung der Pfeile, beispielsweise nach Grund, Jahr und Ort der Deportation und/oder quantitativ nach Anzahl der Opfer usw. 3. eventuell Einbinden zusätzlicher Informationen/Layer/Sekundärdaten (in diesem Fall eine Europakarte von 1943 von National Geographic) 4. Analyse der räumlichen und zeitlichen Muster Mögliche methodische Schritte zur Erstellung einer Karte der »unsichtbaren Stolpersteine« (s. Abb. 3): 1. eventuell Vergleich mit historischem Material, beispielsweise Karten, die gegebenenfalls auch als neue Layer in die eigene Karte eingebunden werden können, Texte, Originalmaterial (z.B. Verzeichnis der deportierten Jüdinnen und Juden), Bundesarchiv etc. 2. eventuell tiefergehende Beschäftigung mit einzelnen Biographien/Familien 3. Kartierung der »Unsichtbaren«, der Personen, die keine Stolpersteine im Raum erhalten haben

Reflexion der Probleme und Grenzen der Methodik Die Methode, über biographische Informationen kritische historische Karten herzustellen, ist eine Methode kritischen Kartierens, die weniger auf die Produktion wissenschaftlicher Karten in klassischer Hinsicht abzielt, sondern Karten vielmehr als Visualisierungen in einem Prozess wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Aushandlung begreift (Halder/Michel 2018) und damit insbesondere als didaktische Methode im Sinne einer kritischen Kartendidaktik (Gryl 2010; Gryl/Lehner/Pokraka 2021) verstanden wird. Hier wird, von konkreten Straßen und den dort lebenden Menschen

Geschichte anhand von Biographien mit Kartierungen kritisch erschließen

ausgehend, eine Verbindung zur Makroebene geschichtlicher Prozesse aufgezeigt, die Fragen aufwirft und Spannungen verdeutlicht. Damit knüpft der Beitrag an ein Verständnis historischen Lernens an, das von der Lebenswelt der Lernenden auszugehen versucht (Michalik 2004). Die Kartierung der erfolgten Deportationswege eröffnet die Möglichkeit, nicht von den Endpunkten, sondern von den Ausgangspunkten aus zu kartieren und dabei Netze zu erstellen, die die Verzweigung der systematischen Ermordung offenbaren, zugleich aber auch große Unterschiede aufzeigen. Eine Variation der vorliegenden Methode wäre, zu einzelnen Biographien Kartierungen und Rekonstruktionen anzufertigen, die dann noch stärker die Singularität (s. Michel 2017) der Biographien berücksichtigten, wobei auch die Darstellungen in Zeitungen oder in biographischen Berichten einbezogen werden könnten (Preßler 2004). Integriert man in den betrachteten Zusammenhang auch tagesaktuelle Informationen der Daten, an welchen Deportationen stattfanden (beispielsweise am 22.10.1940), wird damit eine weitere zeitliche Perspektive ersichtlich, die eine enorme Dynamik entfalten kann. Gerade in Karlsruhe wurden viele Menschen an bestimmten einzelnen Tagen deportiert, was die Systematik der Deportation auf eine weitere Weise verdeutlicht. Grundsätzlich besteht die Herausforderung, Aussagen über das »Unsagbare« des Holocaust zu machen und Kartierungen zu singulären Biographien anzufertigen (s. Michel 2017), ohne die letztlich eine Visualisierung und damit eine Teilnahme am Diskurs der Erinnerungskultur schwer möglich ist. So bleibt auch der Zugriff auf die Biographien auf kartierbare Informationen beschränkt, was die Gefahr einer positivistischen Verkürzung birgt.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Bode, Sebastian (2015): Die Kartierung der Extreme. Die Darstellung der Zeit der Weltkriege (1914-1945) in aktuellen europäischen Geschichtsatlanten, Göttingen: unipress. Kulturgeographische Aufarbeitung kartographischer Darstellungen historischer Ereignisse und Zusammenhänge in aktuellen Geschichtsatlanten aus verschiedenen europäischen Ländern unter Berücksichtigung der Bedeutung sprachlicher und visueller Dimensionen. Knowles, Anne-Kelly/Cole, Tim/Giordano, Antonio (Hg.) (2014): Geographies of the Holocaust, Bloomington/Indianapolis: Indianapolis University Press. Sammlung kartographischer Darstellungen zum Holocaust, die sich auf verschiedenen Maßstabsebenen mit der Räumlichkeit des Holocaust auseinandersetzt und Deportations- und Internierungserfahrungen, Strukturen von Lagern und großräumige Zusammenhänge aufarbeitet. *** Becher, Andrea (2006): »-eingesammelt- Ein Unterrichtsprojekt zum ›Lernen an Biographien‹ im Sachunterricht der Grundschule«, in: Pech, Detlef/Rauterberg, Markus/Stoklas, Katharina (Hg.): Möglichkeiten und Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Holocaust im Sachunterricht der Grundschule. Widerstreit im Sachunterricht, Beiheft 3. Frankfurt.

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Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts – eine Gratwanderung zwischen kritischem Kartieren und institutionellen Verfügungen Verena Schreiber

Abstract Countermapping zielt darauf, Karten inhärente Wahrheitsansprüche und Machtstrukturen zu demaskieren. Zu einem Werkzeug emanzipatorischer Bildung und kollektiver Bewusstseinsbildung wird es dann, wenn es sich einen Weg zu den Lebenswirklichkeiten der Schüler*innen zu bahnen vermag und ihnen Möglichkeiten aufzeigt, sich bestehenden Ungleichheitsverhältnissen entgegenzustellen.

Kritische Kartographie im Geographieunterricht In jüngeren Beiträgen der Geographiedidaktik wurde der Ansatz der Kritischen Kartographie dafür fruchtbar gemacht, die etablierte Kartenarbeit im Geographieunterricht zu räumlicher Orientierung um Aspekte des kritischen Hinterfragens kartographischer Konventionen und vermeintlich neutraler Weltbilder zu erweitern. Die Integration einer relationalen Perspektive auf Karten in die Didaktik verlief vergleichsweise reibungslos, da sich auch in der geographischen Bildung in den letzten Jahren weitgehend ein konstruktivistischer Blick auf Räume durchsetzen konnte, welcher der Kartenkritik den Weg ebnete. So ist es insbesondere den Studien zu einer ref lexiven Kartenarbeit (z.B. Gryl 2010) zu verdanken, dass eine differenzierte Urteilskraft zu scheinbar unhintergehbaren gesellschaftlichen Ordnungs- und Raumgefügen immer häufiger als ein zentraler Beitrag des Faches Geographie zur Bildung anerkannt wird. Als ein Werkzeug kritisch-emanzipatorischer und kollektiv-dialogischer Vermittlungspraxis entfaltet die Arbeit mit Karten ihre volle Kraft allerdings erst dann, wenn sie sich einen Weg zu den Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen der Schüler*innen zu bahnen vermag (hooks 1994: 19). Wo ref lexive Kartenarbeit mit der dekonstruktivistischen Zerlegung kartographischer Fakten endet, bleibt diese nichts weiter als ein abstraktes Gedankenspiel und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse bleiben lediglich ein theoretisches Problem. Wer (geographische) Bildung jedoch als Anstoß versteht, auf die weltlichen Dringlichkeiten zu schauen, sich mit der Welt verbunden zu fühlen und sich ihr gegenüber verantwortlich zu begreifen (Freire 1973: 66; Haraway 2018: 10), wird einen Schritt weiter gehen wollen und nach didaktisch-begründeten Wegen zur Überwindung von Fremdbestimmung und Unterdrückungsverhältnissen suchen. Hier

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setzt der Beitrag an. Am Beispiel von Countermapping-Projekten (»Gegenkartierungen«) mit Schüler*innen einer achten und einer zehnten Klasse gehe ich dem Potenzial kritischen Kartierens für eine emanzipatorische Bildung und kollektive Praxis gesellschaftlicher Transformation im schulischen Geographieunterricht nach. Im Rahmen mehrwöchiger Unterrichtseinheiten wurden Karten als Arbeitsmittel genutzt, um sich »in den Widersprüchen der Gesellschaft zu verorten [… und] einer Aussicht habhaft zu werden, die über die jeweils vorgefundene Realität hinausweist« (Pongratz 2013: 18). Ein solches Unterfangen kollidiert zwangsläufig mit einem pädagogisch-didaktischen Programm, das auf selbst reguliertes Lernen und Kompetenzerwerb zielt – und verfängt sich notgedrungen in Widersprüchen: Denn wer im Geographieunterricht kritisch kartieren möchte, kann vor dem Schultor nicht haltmachen und muss die Methode auch für die Problematisierung der vielen »kleinen lokalen Taktiken« (Foucault 2003 [1977]: 524) öffnen, die tagtäglich in pädagogischen Institutionen zur Steuerung und Kontrolle von Lernprozessen zur Anwendung kommen und zu Ausgrenzung, Marginalisierung und Diskriminierung führen können (Schreiber/Carstensen-Egwuom 2021). Was passiert aber, wenn sich kritisches Kartieren die Lebenswirklichkeiten in der Schule – als einer der machtvollsten Orte sozialer Ungleichheit und generationaler Hierarchien – aus Perspektive der Schüler*innen zum Gegenstand nimmt? Bildungstheoretisch gewendet, stellt sich die grundsätzliche Frage, welchen Wert eine Didaktik haben kann, deren Denken und Handeln auf die Transformation einer Institution zielt, aus der sie ihre Daseinsberechtigung überhaupt erst schöpft. Der Beitrag sucht nach Antworten auf diese Fragen im Feld von Macht- und Diskurstheorien. Er richtet sich an Studierende, Lehrende und Forschende im Bereich der geographischen Bildung, die nach neuen Impulsen für eine kritisch-emanzipatorische und kollektiv-dialogische Vermittlungspraxis suchen. Im ersten Teil des Beitrags zeige ich zunächst Anliegen und Potenziale einer kritischen Kartendidaktik auf, auf denen das im zweiten Abschnitt aufgeführte Fallbeispiel aus der unterrichtlichen Praxis basiert. Der dritte Teil diskutiert insbesondere unter Rückgriff auf Michel Foucaults (1992) Kritikbegriff, welche Fallstricke Countermapping als Inhalt und Methode des Geographieunterrichts birgt und an welche Grenzen ihr Einsatz in Bildungsinstitutionen stößt.

Anliegen und Potenziale kritischer Kartendidaktik Unter dem Einf luss relationaler Raumkonzeptionen hat sich in den letzten Jahren eine äußerst dynamische Debatte um eine zeitgemäße Kartendidaktik entwickelt. Längst ist in der geographiedidaktischen Forschung ein Verständnis überholt, das die Karte schlicht als ein »verkleinertes, vereinfachtes und verebnetes Abbild der Erdoberf läche« (z.B. Kohlstock 2004: 15) begreift. Entsprechend der Absage an ein objektives Abbildverständnis ist es in der geographischen Bildung mittlerweile Konsens, dass eine Kartenarbeit in der Schule zu kurz greift, die sich lediglich um die korrekte Entnahme kartographischer Informationen bemüht. Ein solcher Perspektivwechsel wurde durch die Vorschläge für eine erweiterte Kartenauswertekompetenz eingeleitet, wie sie insbesondere von Armin Hüttermann formuliert wurden. Hiernach zeichne sich ein kompetenter Umgang mit Karten nicht nur durch die Kenntnis von Kartengrundlagen

Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts

und Kartengraphik aus, sondern schließe ebenso differenzierte Fertigkeiten des Kartenlesens und -interpretierens ein (2012: 28f.). Jüngere Arbeiten greifen diesen Faden auf und führen die Debatte in verschiedene Richtungen weiter. Die aktuelle Revision der Kartendidaktik wird dabei vor allem von zwei Argumenten angeführt: Erstens könne eine ref lexive Betrachtung nur scheinbar objektiver Karteninhalte im Geographieunterricht einen maßgeblichen Beitrag zur Mündigkeitserziehung junger Menschen leisten (vgl. Lehner et al. 2018). Zentrale Inspirationsquelle für dieses Anliegen bilden Arbeiten aus dem Feld der (de-/konstruktivistisch-orientierten) Kritischen Kartographie, die sich seit den 1980er-Jahren im angloamerikanischen Raum etablieren konnte (z.B. Harley 1989). Im Unterschied zu traditionellen Kartendefinitionen begreift die Kritische Kartographie Karten nicht als objektive Abbildungen einer ihnen vorgängigen Realität, sondern als komplexe gesellschaftliche Konstruktionen. Karten sind hiernach keine »unschuldigen« Wegweiser in die uns umgebende Welt, sondern vielmehr machtvolle Instrumente, mit denen Herrschaftswissen gestützt und Kontrolle über Menschen und Dinge ausgeübt wird. Das heißt vor allem, dass Karten im Hinblick auf ihren Inhalt und ihre Darstellungsweisen niemals objektiv sein können: Indem sie einzelne Inhalte aufs Papier bringen, machen sie gleichzeitig vieles andere unbewusst unsichtbar oder blenden es gar gezielt aus. Dabei stehen weniger die einzelnen Kartograph*innen und ihre subjektiven Interessen, Entscheidungen und Absichten im Prozess der Kartenproduktion in der Kritik. Gegenstand der Analyse sind vielmehr die Verfahren der Wissensbildung selbst, die darüber entscheiden, was zu einer bestimmten Zeit als bewiesen, gültig und gesichert angesehen und mittels kartographischer Repräsentationen objektiviert wird. Karten schaffen aus dem Blickwinkel der Kritischen Kartographie folglich erst die Tatsachen, die sie vordergründig nur abzubilden behaupten. Aufgabe einer ref lexiven Kartenarbeit ist daher, die den Karten inhärenten Wahrheitsansprüche zu hinterfragen und die Widersprüche deutlich zu machen, auf denen sie gründen (Massey 2013: 305). Dann wird kritisches Kartieren zu einer geographiedidaktischen Praxis, »die sich in der Kunst übt, in Unterscheidungen zu denken und durch Unterscheidungen denken zu lernen« (Dickel et al. 2018: V). Ein zweiter, damit eng verbundener Diskussionsstrang der aktuellen Kartendidaktik widmet sich der Frage, inwiefern Verfahren der geomedialen Informationsverbreitung eine erweiterte Beteiligung an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ermöglichen können (Schulze/Gryl/Kanwischer 2015). Insbesondere volunteered-geographic-information-Anwendungen (z.B. OpenStreetMaps) böten das Potenzial, neue Akteursgruppen in die Kartenerstellung einzubinden, bislang marginalisiertes Wissen öffentlich zu machen und somit die Kartenproduktion zu »demokratisieren« (kritisch dazu Glasze 2017: 71). Digitale Geomedien könnten folglich auch für den Geographieunterricht Wege aufzeigen, individuelle »Sichtweisen auf Umwelt und Raum […] zu kommunizieren und damit den bisher meist durch Expert/-innen vorgenommenen (Raum)Deutungen eine eigene Perspektive entgegenzustellen« (Dorsch/Kanwischer 2020: 30). Im Unterschied zur ersten Stoßrichtung einer kritischen Kartendidaktik heben die Arbeiten zum Lernen mit digitalen Geomedien den emanzipatorischen Gehalt der Kartenproduktion deutlicher hervor – allerdings nicht grundsätzlich, sondern in Form einer digitalen Selbstbestimmung. In einem Beitrag, der sich mit Countermapping im Kontext der schulischen Bildung auseinandersetzt, wird daher nicht zuletzt das Verhältnis von ref lexiver Kar-

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tenkritik und kritischer Kartenpraxis bedeutsam. Denn Kritische Kartographie ist nie nur eine intellektuelle Übung zu kartographischen Repräsentationen gewesen. Mapping-Verfahren waren stets gleichermaßen Bestandteile einer kollektiven und verantwortungsbewussten Praxis zur Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse – auch und insbesondere in der (außerschulischen) Bildungsarbeit mit Kindern. In diesem Sinne verweisen zum Beispiel Arbeiten aus dem Feld der Children’s Geographies darauf, dass partizipatorische Kartierungsprojekte mit jungen Menschen dazu beitragen können, kindliche Welt-Beziehungen sichtbar zu machen und Räume der Anerkennung ihrer Lebensbezüge zu eröffnen. Ein Mapping-Projekt, das Elyse Gordon, Sarah Elwood und Katharyne Mitchell (2016) von 2010 bis 2012 mit Mädchen im Alter von 11 bis 13 Jahren an einer Schule in Seattle durchführten, rückte etwa rassifizierte Beschränkungen durch Redlining1 sowie weitere Praktiken räumlicher Ungleichbehandlung von marginalisierten Gruppen in Städten in den Blick. Ziel war es, »[to] develop a conceptualization of critical spatial thinking that emphasizes how social and spatial processes intertwine to generate societal inequalities and show how this learning informs students’ social and spatial civic responses. We show how interactive digital mapping pedagogies offer students an opportunity to develop awareness of what happens in their urban geographies, but also how and what they might do to intervene« (ebd.: 558). Ein weiteres Beispiel für eine dialogische Mapping-Praxis ist das Projekt zu border imaginaries der Universität Bergamo und des Kollektivs Le mamme di Lampedusa: Im Rahmen eines Workshops mit Kindern aus Lampedusa wurden Wahrnehmungen zu der von ihnen bewohnten Grenzregion mittels kartographischer Methoden erfasst und in die öffentliche Debatte eingebracht (Border Culture 2016). Im Unterschied zu dem im Geographieunterricht häufig angewandten Verfahren des subjektiven Kartierens zielen diese Projekte nicht darauf, den Entwicklungsstand von Kindern und ihre räumliche Abstraktionskompetenz zu erfassen oder ein Kartenverständnis einzuführen. Vielmehr kommt Karten die Rolle von »communication devices« zu, »with the help of which people of different origins, ages and experiences were able to interact [and] which opened the way for further analysis about the author’s personal opinion about the presented issues« (Frank/García 2018: 153). Kollaborative Kartierungsprojekte legen jedoch nicht nur die Perspektiven von Kindern auf die sie umgebende Welt offen. Sie können ebenso dazu beitragen, das in Schulen bestehende Machtgefüge zwischen Kindern und Lehrenden zu verschieben: »Die Erwachsenen* werden zu Zuhörer*innen und Geführten. Die Kinder* führen und erklären, sie bestimmen, was an welcher Stelle kartiert werden soll und sie schreiben diesen Orten Bedeutungen zu.« (Singer 2019: 210f.) Eine so verstandene Kritische Kartographie weist weit über die Kritik an kartographischen Repräsentationen von Welt hinaus. Sie ist vielmehr Werkzeug eines kollektiven Prozesses kritischer Bewusstseinsbildung über die eigenen Verstrickungen in bestehende Ungleichheitsverhältnisse und gleichzeitig Aufforderung zu einer »ref lektierten Unfügsamkeit«, »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 12ff.). Wer kritisch »gegenkartiert«, intendiert immer auch eine selbstbestimmte, emanzipatorische Praxis, die sich den gesellschaftlichen Bedingungen, »die Menschen unter 1 Redlining bezeichnet eine »mortgage lenders’ practice of mapping high-risk neighbourhoods by encircling them with red lines. […] The practice has been widely prohibited but still occurs informally« (Gregory et al. 2009: 626).

Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts

Zugzwang setzen und ihre Möglichkeiten einschränken«, nicht einfach unterordnet, sondern sich ihnen entgegenzustellen vermag (Pongratz 2013: 18). Während jedoch ein dekonstruktivistisches Kritikverständnis in den Kanon geographischer Bildung gerne aufgenommen wurde, steht eine systematische Auseinandersetzung mit der kritischemanzipatorischen und kollektiv-dialogischen Kartenpraxis in der Geographiedidaktik noch weitgehend aus. Das begründet sich einerseits in der Konzeption zeitgemäßer Geographiedidaktik als empirische Lehr-Lern-Forschung, wodurch etwa Ansätze der Kritischen Bildungstheorie oder der Feministischen Pädagogik gegenwärtig wenig anschlussfähig erscheinen. Andererseits ist bereits in der didaktischen Rezeption relationaler Raumkonzepte eine Leerstelle angelegt, die im Feld der Kartendidaktik nachwirkt. So konnte sich in der geographischen Bildung in den letzten beiden Jahrzehnten ein vierpoliges Raumverständnis durchsetzen, das zwischen den Betrachtungsebenen von Raum als »Container«, als »System von Lagebeziehungen«, als »Wahrnehmung« und als »gesellschaftlich konstruiert« unterscheidet (Wardenga 2002). Insbesondere die vierte Perspektive – die soziale Konstruktion von Räumen – wurde als ein neuer, lohnender Vermittlungsinhalt aufgegriffen und in die Bildungsstandards (Kompetenzbereich Räumliche Orientierung: Fähigkeit zur Ref lexion von Raumwahrnehmung und -konstruktion, Deutsche Gesellschaft für Geographie 2020: 18) aufgenommen. Seit dieser Reformierung ist es in der Geographiedidaktik vergleichsweise still um die »Raum-Begriffe« geworden. So wurden weder alternative Analyseraster für die systematische Untersuchung sozialräumlicher Beziehungen rezipiert, wie sie beispielsweise Bernd Belina (2013) in Anlehnung an das TPSN-Framework (territory, place, scale und networks) von Bob Jessop, Neil Brenner und Martin Jones (2008) vorschlägt, noch weitere Möglichkeiten des Raum-Denkens, etwa als Dimension des leiblichen Erlebens (Hasse 2014), in den Kanon der Raumkonzepte und die einschlägigen Übersichtswerke aufgenommen. Hier kann die Kritische Kartographie Brücken bauen und einen wichtigen Beitrag zu der Frage leisten, wie und warum die Vermittlung vom Raumkonzepten im Geographieunterricht zu einer emanzipatorischen Bildung und kollektiven Praxis gesellschaftlicher Transformation beitragen kann. Für kritisches Kartieren wird in diesem Kontext insbesondere die räumliche Praxis der Territorialisierung bedeutsam. Als Territorialisierung wird das strategische Vorgehen bezeichnet, unsere Umwelt in einzelne Räume zu parzellieren, um leichter über ihren Inhalt – Menschen wie Dinge gleichermaßen – verfügen zu können (Belina 2013: 88). Dieses räumliche Steuerungsprinzip kommt auf der Ebene des territorial organisierten Nationalstaats genauso zur Anwendung wie im schulischen Alltag, wenn etwa die Menge an Schüler*innen in einzelne Jahrgangsklassen separiert und jeder Person im Klassenzimmer ein eigener Platz zum Zweck der Sicherstellung und Kontrolle von Lernprozessen zugewiesen wird (Rieger-Ladich/Ricken 2009; Schultheis 2019). Foucault hat die räumliche Praxis der vereinzelnden Verortung als einen strategischen Bestandteil von Machtausübungen beschrieben, die in zahlreichen Institutionen bis heute zum Einsatz kommen (Foucault 1977; Marquardt/Schreiber 2021). Die Betrachtungsebene der räumlichen Machtausübung kann mithilfe der vier Raumkonzepte allerdings kaum angemessen erfasst und problematisiert werden. Denn selbst die durch die konstruktivistische Theoriebildung aufgezeigte Möglichkeit, räumliche Sinnbildungsprozesse als kontingent zu begreifen, macht diese Betrachtungsebene allein noch nicht zu einer kritischen. Im Zentrum einer machttheoretisch-informierten Geographie sozialer Ordnungen und Raumpolitiken steht gerade nicht die Feststel-

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lung, dass Räume (subjektiv) konstruiert sind, sondern die Frage, wie Raumproduktionen als machtvolle Mittel zur Herstellung einer gewünschten Ordnung eingesetzt werden, als Individualisierungsinstrumente fungieren, welche neue Formen der Wissensproduktion über gesellschaftliche Problemlagen sie ermöglichen und welche Subjektivierungseffekte sie hervorrufen. So wichtig machtanalytische Ansätze für die Geographie geworden sind, so herausfordernd sind sie für die Geographiedidaktik. Denn wenn die kritische Auseinandersetzung mit Raumproduktionen auch Gegenstand schulischer geographischer Bildung sein soll, dann müsste sich dieses Anliegen erstens auf alle gesellschaftlichen Bereiche und damit als logische Fortführung auch auf die Schule beziehen lassen dürfen. Wir können schwerlich für die Einbeziehung von Erfahrungswissen in den Lernprozess plädieren und dabei gleichzeitig die Lebenswirklichkeiten und räumlichen Verhältnisse außen vor lassen, denen Schüler*innen tagtäglich ausgesetzt sind. Wo sonst erleben junge Menschen die Wirkungsweisen machtvoller Raumproduktionen, wenn nicht in der Schule? Und wäre es zweitens dann nicht sogar eine zentrale Aufgabe von Geographieunterricht, den selbstbestimmten Einsatz von Raumstrategien als kritisch-emanzipatorische Praxis der Intervention in Ungleichheitsverhältnisse zu lehren, um junge Menschen vonseiten der Geographie darin zu unterstützen, zu handlungsfähigen Subjekten zu werden? Hier setzt eine kritische Kartendidaktik an, die jungen Menschen mittels Kartierungsverfahren ein Recht auf Selbstartikulation einräumt, zur kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt anregt und von hier aus hoffnungsvolle Wege aufzeigen möchte, wie sich Unterrichtsumgebungen so gestalten lassen, dass sie transformative Prozesse fördern und sich Menschen wertschätzend begegnen können.

Methode und Fallbeispiel Das nachfolgend aufgeführte Countermapping-Projekt mit Schüler*innen eines Baden-Württembergischen Gymnasiums mit Realschulzweig folgte dem Anliegen einer kritischen Kartendidaktik, wie sie im letzten Abschnitt dargelegt wurde. In geographiedidaktischer Forschungsabsicht ging das Kartierungsprojekt der Frage nach, welche Potenziale eine kollektiv-dialogische Mapping-Praxis im Geographieunterricht für kritisch-emanzipatorische Bildung bietet, wo diese aber auch an Grenzen stößt und sich Widersprüche auftun. Zu diesem Zweck wurde die Arbeit mit Karten als ein Verfahren eingeführt, mit dem sich Schüler*innen in Beziehung zu der sie umgebenden Umwelt setzen und jene Erlebnisse und Erfahrungen artikulieren können, die in der Regel unausgesprochen bleiben oder abseits des schulischen Relevanzsystems liegen. Ziel der Unterrichtseinheit war erstens, das scheinbar Banale, Tabuisierte und Marginalisierte des Schulalltags aus Perspektive der Schüler*innen bedeutsam zu machen. So erfahren die für junge Menschen wichtigen Räume und Orte jenseits des Klassenzimmers nur selten die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil pädagogische Programme von den Hinterbühnen her auf verdeckte und versteckte Weise steuern, was in der Schule als denkwürdig gilt (Hasse/Schreiber 2019). Damit verbunden sollte zweitens ein Prozess kollektiver Wissensproduktion über machtvolle Raumproduktionen angestoßen werden, die an Schulen zur Anwendung kommen.

Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts

Das Countermapping-Projekt wurde im Winter 2016/2017 mit einer achten Realschulklasse und mit einer zehnten Gymnasialklasse durchgeführt. Es umfasste jeweils zehn Stunden, die auf einen Zeitraum von fünf Wochen verteilt waren. In der Einführungsstunde wurden zunächst die Grundlagen einer ref lexiv-medienkritischen Kartenarbeit vermittelt und einzelne Karten exemplarisch auf ihnen inhärente Machtverhältnisse untersucht. In einem zweiten Schritt wurde kritisches Kartieren als ein Verfahren zur selbstbestimmten Artikulation gegenhegemonialen Wissens eingeführt. Hierfür erstellten alle Schüler*innen gemeinsam eine »alternative Schulkarte«, in die sie erstens ihre Lieblingsorte, zweitens die von ihnen am meisten gemiedenen Orte der Schule sowie drittens jene Orte eintrugen, die ihnen bislang unbekannt geblieben sind (vgl. Abb. 1). Dies brachte zum einen eine ganze Reihe an Orten zum Vorschein, die in der Regel kaum bedacht werden und über die nur selten ein Wort verloren wird: die Schultoilette, der Wartebereich vor dem Zimmer der Schulleitung, die Außenmauer des Schulgeländes, die Werkstatt des Hausmeisters u.v.a.m. Den Schüler*innen fiel außerdem auf, dass es auf dem Schulgelände zahlreiche Orte gibt, an denen sie noch nie waren – sei es, weil (ihnen) diese Orte verschlossen sind oder sie diese schlicht noch nie wahrgenommen haben und das, obwohl sie seit mehreren Jahren einen Großteil ihres Tages an diesem Ort verbringen. Zum anderen zeigte sich, dass die mit anderen geteilten Orte individuell doch höchst unterschiedlich erlebt werden: Was den einen Asyl war, galt den anderen als Un-Ort; wo sich manche in Freiheit wähnten, fühlten sich andere von der Lehrerschaft beobachtet. Die gemeinsam bearbeitete Karte war Abbildung 1: Beliebte, gemiedene und unbekannte Orte in der Schule

Quelle: Eigene Aufnahme, 2017

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uns anschließend Wegweiserin für eine Erkundungstour durch die Schule. An den markierten Plätzen tauschten sich die Schüler*innen darüber aus, was sie mit diesen Orten verbinden, welche Stimmungen sie hervorrufen und welche Bedeutungen ihnen im schulischen Alltag zukommen. Das brachte uns mitunter in sonderbare Situationen, wenn wir etwa vor dem Büro der Schulleitung über die »angespannte Atmosphäre« sprachen, die sich den Schüler*innen an diesem Ort zu spüren gibt, während die Rektorin im Vorbeigehen ihre Freude über einen handlungsorientierten Geographieunterricht zum Ausdruck brachte, den sie hier vermutete. Durch die gemeinsame Ortsbegehung wurde eine ganze Reihe anfänglich unzusammenhängender Beobachtungen zur Bedeutsamkeit der einzelnen Orte angebahnt, zwischen denen sich nach und nach immer mehr Verbindungslinien aufspannten und aus denen sich übergeordnete Themenfelder entwickelten. Das Spektrum reichte von Orten ungestörter Handynutzung über Lieblingsbänke und Raucherorte bis hin zu Rückzugsplätzen im schulischen Alltag und den besten Orten für Pausensport; es umfasste Orte zum Chillen gleichermaßen wie Räume der Überwachung und Kontrolle. Die Themenfelder wurden im Klassenzimmer an der Tafel gesammelt und den Schüler*innen wurde die Möglichkeit gegeben, sich selbstbestimmt – sei es aus sozialen oder inhaltlichen Erwägungen – einem Thema zuzuordnen und in einer Gruppe zusammenzufinden. Anschließend wurden das methodische Vorgehen und unterschiedliche Möglichkeiten der Visualisierung erläutert sowie der zeitliche Rahmen abgesteckt. Dabei wurde insbesondere auf die Frage der Verantwortung beim Kartieren von persönlichen Erfahrungen eingegangen. Denn eine kollektive Kartierungspraxis, die an den Wahrnehmungen und Erlebnissen junger Menschen ansetzt, baut darauf auf, dass Schüler*innen freiwillig etwas über sich mitteilen. Die Schüler*innen sollten sich daher – trotz des unterrichtlichen Rahmens – nicht unter Druck gesetzt fühlen oder gar andere dazu drängen, Erfahrungen mitteilen zu müssen oder »Bekenntnisse« über ihren schulischen Alltag abzulegen. Die darauffolgenden zwei Doppelstunden dienten der empirischen Arbeit an den Karten. Die Unterrichtseinheit wurde mit der Vorstellung der einzelnen Kartierungsprojekte und einer Diskussion der hierdurch sichtbar gewordenen Problemfelder abgeschlossen. Ich möchte im Folgenden zwei Kartenprojekte kurz gesondert herausgreifen, die im Hinblick auf die Problemstellung des Beitrags zur weiteren Ref lexion von Problemen und Grenzen der Methodik anregen. Abidenkmäler: Eine Projektgruppe der zehnten Klasse setzte sich im Rahmen der Unterrichtseinheit zu kritischem Kartieren mit sogenannten »Abidenkmälern« auf dem Schulgelände auseinander. Das Aufstellen von Abidenkmälern ist ein seit mehreren Jahrzehnten an zahlreichen Schulen vollzogenes räumliches Ritual, mit dem die abgehende Jahrgangsstufe ihre Beziehung zur Schule zum Ausdruck bringt und dauerhaft im Gedächtnis der Schule zu bleiben versucht. Während das Themenfeld anfänglich wenig Diskussionspotenzial für unser Anliegen vermuten ließ, entwickelte sich bald eine hoch spannende Debatte über die unterschiedlichen Gestaltungen und Eigenheiten jener verdinglichten Erinnerungsorte (vgl. Abb. 2). So gaben die Abidenkmäler nicht zuletzt Auskunft über das Selbstverständnis der Schüler*innen und die Identifikation mit ihrer Schule. Wo sich einige Abidenkmäler in ihrer materiellen Wucht den Betrachter*innen aufdrängen und zum Beispiel in Form eines Throns die Marginalisierung von Schüler*innen in der Institution Schule konterkarieren, neh-

Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts

men sich andere sowohl hinsichtlich ihrer Botschaft als auch räumlich geradezu demütig zurück und sind als solche zum Teil kaum (noch) erkennbar. Außerdem blieben mehrere Jahrgänge offen, und es ließ sich auch nicht mehr rekonstruieren, ob überhaupt Abidenkmäler aufgestellt oder diese zwischenzeitlich entfernt worden waren. Das Ausmaß der Verwitterung der meisten Erinnerungsorte legte schließlich die Vergänglichkeit der Beziehung zwischen Schüler*innen und Schule offen: Wenngleich sich einige höchst robust gegenüber äußeren Einf lüssen erwiesen, verweist die mangelnde Pf lege der Abidenkmäler darauf, wie schnell und vielleicht auch absichtsvoll der Ort der Schule in Vergessenheit gerät und für die meisten Menschen letztlich nur eine erinnerte Passage ihres Lebens bleibt. Abbildung 2: Abidenkmäler auf dem Schulgelände

Quelle: Eigene Aufnahme, 2017

Lieblingsorte: Das Kartierungsprojekt wurde von gleich mehreren Gruppen dazu genutzt, sich mit den eigenen Lieblingsorten in der Schule und den bevorzugten Plätzen anderer Schüler*innen auseinanderzusetzen (vgl. Abb. 3). Zwar zeigten sich, wie bereits weiter oben bemerkt, deutliche Unterschiede in der subjektiven Wahrnehmung einzelner Orte, sodass mitunter dieselben Plätze mal in Gunst und mal in Ungunst standen. Bei allen Karten fiel jedoch sofort ins Auge, dass die eigentlichen Lernräume nahezu vollständig außer Acht gelassen wurden. Wo auch immer Lieblingsorte identifiziert wurden, befanden sich diese außerhalb des Klassenzimmers, meist sogar außerhalb des Schulgebäudes auf dem Außengelände. In den Schilderungen der Lieblingsplätze hoben die Schüler*innen besonders häufig transitorische Räume und Orte hervor, die sich an den Grenzen des Schulareals befinden. So gebe ihnen etwa ein bestimmter Platz an der das Schulgelände umschließenden halbhohen Mauer oder der Aufenthalt im »Wäldchen« bereits während der vormittäglichen Schulzeit das Ge-

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fühl, »gar nicht mehr so richtig in der Schule zu sein«. Kaum ein markierter Ort auf der Karte konnte der Zeit des Unterrichts zugeordnet werden und selbst da, wo das Klassenzimmer auftauchte, wurde es als Pausenraum markiert. Dieser Zusammenhang, der erst durch die einzelnen Kartierungsprojekte zum Vorschein kam, führte die Klasse schließlich zu den Fragen, ob es überhaupt so etwas wie Lieblingslernorte geben kann und wie diese aussehen müssten – verwiesen alle Karten doch auf Orte, die den Schüler*innen gerade deshalb lieb und teuer sind, weil sie keine Orte der Schule im eigentlichen Sinne repräsentieren, sondern sich außerhalb der unterrichtlichen Verfügbarkeit befinden. Abbildung 3: Lieblingsorte in der Schule

Quelle: Eigene Aufnahme, 2017

Diese Debatte steht stellvertretend für eine von mehreren Situationen im Projektverlauf, die uns immer wieder zu der Frage nach machtvollen Raumproduktionen im schulischen Alltag zurückführten: In welchem Verhältnis stehen schulische Freiräume und Funktionsräume zueinander? Wer darf sich in der Schule wo legitim auf halten und wo eben auch nicht? Warum kenne ich bestimmte Orte der Schule eigentlich nicht, obwohl ich dort viele Jahre meines Lebens verbringe? Wann muss ich mich an welchen Orten wie verhalten? Wo werden über räumliche Strategien Nötigungen vollzogen, die nicht mal einer pädagogischen Notwendigkeit zu folgen scheinen? Wodurch werde ich in meinen Bewegungen eingeschränkt und warum? Wo sich solche Fragen stellen, werden zweifelsohne Ref lexionsprozesse über die an Schulen zum Einsatz kommenden Verräumlichungspraktiken und die Widersprüche, die ihnen inhärent sind, angestoßen.

Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts

Reflexion: Spannungsfelder von Countermapping und Geographieunterricht Dass dieser Beitrag dennoch nicht mit einem uneingeschränkt positiven Ausblick auf den Einsatz einer kritisch-emanzipatorischen Kartierungspraxis im Geographieunterricht enden wird, sollte die Leser*innen nur einmal mehr dazu ermutigen, das eigene pädagogische Handeln zu ref lektieren und sich den selbstwidersprüchlichen Situationen zu stellen, in die uns eine kritische geographische Bildung stets hineinführen muss. Denn wenngleich kritisches Kartieren von Räumen und Orten der Schule eine geographische Sichtweise auf machtvolle Raumproduktionen anbahnen kann, legt es doch letztlich nur die Unmöglichkeit einer kritischen Kartendidaktik im Kontext des üblichen schulischen Geographieunterrichts offen. Erstens, weil auch die längste Gratwanderung nur zu den Verhältnissen zurückzuführen vermag: So ist Schule in ihrem Gesamtgefüge aus architekturalen Elementen, Kräfteverhältnissen und Aussagesystemen mit räumlichen Strategien der Steuerung sowie Ein- und Ausschlussprozeduren derart fest verwoben, dass sich die Frage aufdrängt, wohin eine partielle kritisch-emanzipatorische Praxis überhaupt führen kann und welcher Wert einer Didaktik zukommt, die sich auf die institutionellen Bedingungen ihrer eigenen Existenz kritisch rückwendet. Kann hier tatsächlich eine Freiheit des Denkens und Handelns in eben dem Augenblick entstehen, in dem ich – als Schüler*in und auch als Lehrende*r – zu fragen beginne, wie ich dem Spiel der Wahrheit unterworfen bin (Butler 2002: 95)? Näherliegend ist, dass sich Schüler*innen durch den Einsatz kritischer Kartierungsverfahren fortan umso bewusster »als Subjekte von Prozessen erleben, denen sie dennoch vollständig ausgeliefert bleiben« (Pongratz 2013: 123) – nicht zuletzt deshalb, weil ein solches Projekt sie dazu auffordert, die bislang nur ihnen bekannten Räume und Perspektiven offenzulegen. Zweitens, weil eine kritische Kartenpraxis nicht planmäßig herbeigeführt und angelernt werden kann: Wenn das schülerische Subjekt der Schule nicht vorgängig ist, sondern sich erst in einem pädagogischen Verhältnis konstituiert, wie kann das Moment der Kritik dann selbst in diese Ordnung inkludiert werden? Der Beitrag plädiert in Anlehnung an den Kritikbegriff Foucaults für ein Verständnis von kritischem Kartieren als »freiwillige Unknechtschaft«. Kein noch so erwartungsoffenes und kollektiv gestaltetes Kartierungsprojekt erfolgt im schulischen Kontext jedoch aus freien Stücken. Letztlich erleben die Schüler*innen auch kritisches Kartieren als eine Aufgabe im Geographieunterricht neben anderen, die es zu erfüllen gilt und für die eine Leistungsbeurteilung erwartet wird. Auch was mittels der Karten gefunden wurde, war ebenso wenig zufällig, wie es andere Lerninhalte sind, und damit »Produkt einer medial inszenierten Vermittlung« (Hasse 2010: 37). Es bleibt folglich die Frage offen, ob mit dem Countermapping-Projekt tatsächlich Kritik geübt oder diese nur zu einem Lerngegenstand stilisiert wurde. Aller Widersprüche zum Trotz: für eine kritische Kartendidaktik als »ref lektierte Unfügsamkeit«! Denn auch wenn wir letztlich nicht wissen können, ob kritische Kartenpraxis bessere Möglichkeiten des Denkens und Handelns im Vergleich zu den sicheren und etablierten Standards des Geographieunterrichts hervorbringt (Butler 2002: 252) und die Erfahrungen möglicherweise bitter sind, bringt sie doch immer auch »ein Moment von Freiheit ins Spiel, das aller kritischen Bildung unterliegt: das Recht, ein anderer zu sein« (Pongratz 2013: 18).

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Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode Philip Boos

Abstract Für praktische Anwendungen von Methoden kognitiven Kartierens ist die Integration Place-basierter Raumkonzepte relevant. Dieser Beitrag beschreibt zwei MentalMap-Beispiele zur Kartierung von Fahrradmobilität als Place-basierte Methode, denn im Verkehrsalltag von Radfahrenden spielt die subjektive Wahrnehmung von Räumen als unsicher oder gefährlich eine besondere Rolle.

Relevanz subjektgerichteter Methoden für Radverkehrssicherheit Entscheidungsträger*innen sind in Bezug auf Sicherheit, Gesundheit und Fahrkomfort nicht ausreichend über detaillierte Bedürfnisse und Wünsche Radfahrender informiert, infolgedessen können sie diese auch nur teilweise umsetzen (Marquart et al. 2020). Grund dafür ist eine hauptsächlich konventionell orientierte Stadt- und Verkehrsplanung, die für möglichst objektive Analysen und Verbesserungen von Radverkehrssicherheit traditionelle Datenquellen wie quantitative Unfallstatistiken subjektiven Wahrnehmungs- und Erfahrungserhebungen vorzieht1. Für adäquate Infrastrukturanpassungen spielen aber auch psychologische und soziale Faktoren wie subjektive Wahrnehmungen und Erfahrungen eine wichtige Rolle, um die tatsächliche Radverkehrssicherheit zu steigern. So könnte gerade die Integration von Mental-MapMethoden subjektive Wahrnehmungen und persönliche Erfahrungen hervorheben und dadurch bewusstes Erleben städtischen Radverkehrs sowie Bedürfnisse Radfahrender beleuchten und visualisieren (Manton et al. 2016). Abgesehen von limitierten Erhebungsmethoden trägt auch eine immer noch weitgehend automobilzentrierte Verkehrsplanung zur Marginalisierung und Stigmatisierung Radfahrender in alltäglichen Verkehrssystemen bei (Koglin/Rye 2014; Aldred 2013). Gerade Letzteres führt zu Konf likten im Straßenverkehr und steigert die Unsicherheit sowie Verletzungs- und Todesgefahr Radfahrender als vulnerable Gruppe. Während beispielsweise in Berlin die Zahl der Verkehrstoten in den letzten 20 Jahren bei fast allen Verkehrsmitteln 1 Neben dem Gegensatz von subjektiven und objektiven Perspektiven tragen auch bisherige verkehrspolitische Schwerpunktsetzungen und überholte Leitbilder wie etwa das der autogerechten Stadt zur Marginalisierung Radfahrender bei.

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rückläufig ist, sind bei Fahrrad- und Motorradfahrenden wenige Veränderungen nachweisbar (SenUVK 2017). Die Schaffung neuer und sicherer sowie die Anpassung existierender Radverkehrsinfrastruktur sind notwendig, um mehr Menschen in Städten zum Radfahren zu ermutigen und Stadträume ökologisch und sozial nachhaltiger und lebenswerter zu gestalten (Willis et al. 2015). Gefahren im Straßenverkehr werden gemeinhin erst als solche anerkannt, wenn sie durch statistisch signifikante Unfallhäufungen volkswirtschaftliche Kosten erzeugen und in dieser Form nachweisbar sind. Werden als gefährlich wahrgenommene Situationen bis dahin jedoch ignoriert, können kaum neue oder sich unsicher fühlende Fahrradinteressierte gewonnen werden. Durch die umfängliche Implementierung und Anpassung von Infrastruktur wie Sperrpfosten (Poller) entlang von Radwegen, Schutzinseln an Kreuzungsecken und intelligente Ampelschaltungen könnten vor allem die Gruppe der »Interessierten, aber Besorgten« (Geller 2006; Dill/McNeil 2013) zum aktiven Radverkehr ermutigt und bewegt werden. Dieser Gruppe lassen sich in der Bundesrepublik ca. 60 Prozent der Bevölkerung zuordnen (ADFC 2019), weshalb sie auch ein erhebliches Veränderungspotenzial für die Verkehrswende darstellt. Wie an der unterschiedlichen Vulnerabilität, aber auch differierenden Flächennutzung deutlich wird, besteht zwischen Verkehrsteilnehmenden eine Hierarchie. Bezüglich dieser Hierarchie wird Radfahren in der Forschungsliteratur teilweise als widerständige Praxis aufgegriffen. Hierzu gehören unter anderem die Beschreibung als performative und subversive Mobilitätsform mit eigenen Bewegungen und Rhythmen als Reaktion auf bedrohlich wahrgenommene Verkehrsräume in Städten (Summers 2017), die Aneignung städtischer Teilräume sowie die Darstellung kollektiver Identität im Rahmen von Critical-Mass-Veranstaltungen (Strüver 2015), die Mobilisierung und das Empowering von Jugendlichen (Taylor/Hall 2013) oder der Widerstand gegen Wahrnehmungsdisziplinierungen in Verkehrsräumen (Jones 2012). Durch gemeinschaftlich orientierte Ansätze der Datenerhebung wie Crowdsourcing, Volunteered Geographical Information (VGI) oder Participatory GIS werden möglichst barrierefreie und offene Zugangs- sowie Abbildungsmöglichkeiten individueller und subjektiver Erfahrungen und Wahrnehmungen verfolgt. Alternative Perspektiven auf und heterogene Darstellungen von Verkehrsräumen sollen dabei einer Marginalisierung Radfahrender entgegenwirken. Ferner ermöglicht die Implementierung multipler, oftmals untergeordneter Erfahrungswelten Radfahrender eine Dekonstruktion starrer und exklusiv durch motorisierte Verkehrsmittel genutzter Verkehrsräume. Durch die vielfältige Anwendung kognitiver Karten als Methode kritischen Kartierens können Straßen also in ihrer restriktiven Funktion bezüglich Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden hinterfragt und herausgefordert werden.

Räumliche Kategorien für kognitives Kartieren Der vorliegende Beitrag soll zeigen, wie gebaute und natürliche Strukturen, aber auch soziale Interaktionen in Verkehrsräumen von Individuen wahrgenommen, bewertet und gespeichert werden können und welche Einschätzungen und Reaktionen sich in der Folge für die Personen ableiten lassen. Zunächst soll nach einer historischen Einordnung der Entwicklung kognitiver Karten auf die Relevanz Place-basierter Konzepte für die Praxis kognitiven Kartierens für urbane Fahrradmobilität eingegangen wer-

Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode

den. Methoden des kognitiven Kartierens werden anschließend anhand von zwei Beispielen veranschaulicht. Der Beitrag schließt mit einer Ref lexion über Limitierungen und Potenziale ab.

Kognitive Karten Bereits Edward Tolman (1948) experimentierte mit den kognitiven Fähigkeiten von Ratten, um zu zeigen, wie diese mentale räumliche Konstrukte produzieren und nutzen, um ihre Umwelt abzubilden, sich in ihr zu orientieren und zu bewegen. Metaphorisch bezeichnete Tolman diese Konstrukte als kognitive Karten. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts erlangte der Begriff Mental Map besonders durch den Stadtplaner und Architekten Kevin Lynch mit seiner Arbeit »The Image of the City« (Lynch 1960) Bekanntheit. Lynch untersuchte unter anderem die Bedeutung räumlicher Schlüsselelemente wie Pfade, Kanten, Gegenden, Kreuzungen und Landmarken für die mentale Repräsentation städtischer Umwelt (vgl. Abb. 1). Seiner These nach tragen diese Elemente zur Lesbarkeit von Städten bei – also dazu, wie einfach es Individuen auf Grundlage kognitiver Prozesse (Speichern und Abrufen von Informationen) gelingt, sich in Städten zu orientieren und zu bewegen. Das aggregierte Wissen wurde von Lynch durch Interviews mit Proband*innen zu Skizzen verarbeitet und zusammengestellt. Er zielte mit seiner Arbeit folglich auf die funktionale Gebräuchlichkeit räumlicher Wahrnehmung und kognitiver Verarbeitung von Umweltinformationen im Sinne von Orientierung ab. Im deutschen Sprachgebrauch verweist der Begriff kognitive Karte (Cognitive Map) auf die mentale Repräsentation räumlicher Umwelt, während Mental Map eine physisch skizzierte Abbildung darstellt. Abbildung 1: Urbane Elemente nach Lynch (1960): Pfade, Kanten, Gebiete, Kreuzungen, Landmarken

Quelle: Smith Loerts 2019: 9

Individuen nehmen objektiv identische Umwelten unterschiedlich wahr. Während also keine mentale Abbildung einer Situation oder eines Ortes einer anderen exakt gleicht, gibt es in der Heterogenität räumlicher Repräsentationen Ähnlichkeiten, die sich gerade in Verzerrungen räumlicher Informationen äußern. Barbara Tversky (1992) zeigt, wie diese systematischen Verzerrungen durch hierarchische Organisation, unterschiedliche Perspektiven, Referenzpunkte, Bezugsrahmen und Rotationsvermögen zustande kommen und sich manifestieren. Dadurch, dass Eindrücke der Umwelt multisensorisch (audiovisuell, haptisch, olfaktorisch) wahrgenommen und kombiniert werden, plädiert sie auch dafür, von kognitiven Kollagen zu sprechen (Tversky 1993). Andrew Mondschein, Evelyn Blumenberg und Brian Taylor (2013) verweisen darauf, wie kognitiv-aktive und kognitiv-passive Fortbewegungsmodi sich unterschiedlich auf die Abbildungsgenauigkeit räumlicher Umwelt auswirken. Besonders im Zuge

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aktiver Fortbewegung konstruierte kognitive Karten zeigen eine höhere Detailgenauigkeit als solche, die etwa beim passiven Mitfahren entstehen. Sie betonen auch, wie Langzeiterfahrungen allgemein zu einem besseren räumlichen Verständnis alltäglicher Umwelt führen. Gerade beim Radfahren spielen ständig wechselnde Umweltbedingungen und das ihnen unmittelbar Ausgesetzt-Sein eine wichtige Rolle. Eindrücke von Geräuschpegel, Verkehrs- und Personendichte, vorhandener oder fehlender Radverkehrsinfrastruktur sowie von naturräumlichen Charakteristika wie Landschaftsmerkmalen, aber auch Witterungsbedingungen wie Regen oder Wind bestimmen dabei das räumliche Erlebnis und die mentale Kartierung.

Place und Space Als Beschreibungskategorien geographischen Raums werden Space und Place voneinander unterschieden. Nach Michael Goodchild (2015) bezieht sich Space auf formale räumliche Aspekte wie Geometrie und Koordinaten, wodurch metrische Berechnungen und objektive Beschreibungen ermöglicht werden sollen. Places hingegen kategorisieren semantisch miteinander verwandte Räume durch Zuschreibungen und Assoziationen (Davies 2018). Sie verweisen also auf subjektive Wahrnehmungen und Erfahrungen sowie Bedeutungen bis hin zu Raumidentitäten, die den jeweiligen Räumen zugeschrieben werden. Nach Michael Goodchild und Linna Li (2011) wird die Kategorie Place häufig als »soziale Konstruktion« definiert (ebd.: 177). Auch Daniel Montello (2018) greift den Aspekt der Konstruktion auf. Die gegenseitige Wirkung von Individuum und Umwelt aufeinander wird dabei als bidirektionales Verhältnis beschrieben. In diesem Verhältnis werden Räume wahrgenommen, gleichzeitig konstruiert und in ihren Bedeutungen ständig reproduziert. Albert Acedo und Peter Johnson (2020) kontrastieren Space und Place in einer hierarchischen Gegenüberstellung von Top-down- gegenüber Bottom-up-Beschreibungen städtischer Umwelt. So wird Space den Autoren zufolge oftmals durch rechtliche Abgrenzungen definiert, während Places das Potenzial besitzen, individuelle und kollektive Repräsentationen von Räumen einzunehmen. Im Zusammenhang mit Place bespricht Justin Spinney (2016) den von Marc Augé (1995) geprägten Begriff der Nicht-Orte. Als ein Beispiel solcher Nicht-Orte werden Autobahnen aufgeführt. Entlang dieser Mobilitätskorridore wird zwar auf reale und erlebbare Orte hingewiesen. Da diese aber nur als Texte und Zeichen auf Schildern beschrieben und in kurzen Momenten des Vorbeifahrens (aus dem Auto heraus) wahrgenommen werden, können weder bedeutsame Anknüpfungspunkte gefunden noch die Orte wirklich erlebt werden. Für eine intensivere, da verkörperte, und multisensorische Erlebbarkeit von Orten aus alternativen Perspektiven schlägt Spinney (2016) das Fahrrad als Modus vor. Kognitives Kartieren kann in diesem Zusammenhang ebenso als verkörperte Methode verstanden werden, um die Fülle von Umwelteindrücken aufzunehmen. Auf diese Weise können durch motorisierten Verkehr belastete und für Radfahrende »sinnlose« Orte erfahrbar und bedeutsam werden. Bottom-Up-Repräsentationen von Stadtteilen oder Nachbarschaften werden mitunter durch die Generierung und Nutzung von Volunteered Geographic Information (VGI) erzeugt. Damit ist die oftmals informelle Erstellung und Nutzung von Daten durch Individuen gemeint. Diese Individuen fungieren selbst als Sensoren und übernehmen durch neue technische Möglichkeiten gleichzeitig die Rolle von Produzent*in-

Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode

nen und Konsument*innen kartographisch verwendbarer Daten (Goodchild 2007). Es erfolgt also eine Verschiebung raumproduzierender Praktiken und Machtgefüge von formellen Top-down-Akteuren wie Institutionen oder Verwaltungen hin zu privaten Nutzer*innen. Zusammenfassend beschreiben zivilgesellschaftliche Akteur*innen vermittels VGI ihre lokale Umwelt, messen ihr individuelle Bedeutungen bei und teilen diese Bedeutungen mit der Öffentlichkeit. Auch Helena Merschdorf und Thomas Blaschke (2018) sehen Individuen bei der Integration von Place-Beschreibungen in Geographische Informationssysteme zur Erfassung und Darstellung von Mensch-Umwelt-Beziehungen als Schlüsselakteure. Dabei stellt im Hinblick auf subjektive Wahrnehmung die Formalisierung durch kodierbare Elemente eine zentrale Herausforderung dar. Hansi Senaratne et al. (2017) weisen auf Qualitätsdifferenzen durch die Kombination unterschiedlicher VGI-Datenquellen hin. Grund hierfür sind die unterschiedlichen Quellen produzierter Daten: einzelne Subjekte, die mit unterschiedlichen Geräten und Technologien arbeiten, angetrieben von verschiedenen Motivationen und oft auch mit variierender Sorgfalt. Aufgrund der genannten Heterogenität gelten solche Daten oft als nicht repräsentativ. Michael Branion-Calles, Trisalyn Nelson und Meghan Winters (2017) hingegen vergleichen VGIDaten zu Beinahe-Zusammenstößen Radfahrender mit offiziellen Unfalldaten. Sie können einen Zusammenhang nachweisen und zeigen damit eine Validität und Aussagekraft der Daten auf, auch wenn diese nicht lückenlos auf die Gesamtbevölkerung bezogen werden kann.

Kartieren von Biodaten und Narrationen Beispiel 1: Emotion Tagging Peter Zeile et al. (2016) nutzen den Ansatz des digitalen Emotion Tagging, um in Cambridge und Boston Gefühle von Radfahrenden und deren Reaktionen auf Umwelteinf lüsse quantitativ über biophysiologische Sensorik zu messen und mithilfe von Crowdsourcing-Methoden qualitativ zu bewerten. Sie greifen dafür auf Teile des Urban Emotions Concept (Zeile et al. 2015) zurück. Dieses umfasst vier Erhebungsschritte, um Peaks der Gefühle Angst oder Wut mit biophysiologischer Sensorik aufzuzeichnen und anschließend zu kontextualisieren. Im ersten Schritt wird anhand tragbarer Sensoren das individuelle Biofeedback der Personen während der Fahrten aufgezeichnet. Die gemessenen Körperfunktionen umfassen Hautleitfähigkeit, Hauttemperatur und Herzschlagfrequenz. Die georeferenzierten und damit räumlich bereits kontextualisierten Biodaten lassen sich dann im zweiten Schritt, dem Ground Truthing, von den Individuen selbst durch die »People as Sensors«-App einer objektiven Gefühlskategorie (Freude, Angst, Wut etc.) zuordnen. In einem dritten Schritt werden aus geosozialen Medien wie Twitter standortbeschreibende Emotionsinformationen extrahiert und den jeweils dort gemessenen Biodaten zugeordnet. Dadurch kann die mehrfache Nennung und Beschreibung als gefährlich wahrgenommener Verkehrssituationen in Form von Hotspots visualisiert werden. Der vierte Schritt besteht in der Korrelationsprüfung gemessener und extrahierter Daten.

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A) Anwendung In der Erhebungsphase der Biodaten werden verschiedene Sensoren verwendet. Zur Messung von Puls und Atemfrequenz sowie zur Erstellung eines Elektrokardiogramms wird ein Brustgurt genutzt. Für die Messung elektrodermaler Aktivität (Hautleitfähigkeit, die sich bei der Absonderung von Schweiß verändert) kommt ein Smartband zum Einsatz. Außerdem werden die »People as Sensors«-App auf einem Smartphone und ein Action-Camcorder beziehungsweise eine Helmkamera verwendet. Nach einer Einweisung in die Funktion der Sensoren und in die Bedienung der »People as Sensors«-App besteht die Testphase aus drei Schritten. Im ersten Schritt wird nach Anschluss und Aktivierung eine individuelle Eichung der Sensoren auf die jeweilige Testperson vorgenommen, indem diese drei Minuten wie gewohnt und regelmäßig atmet, ohne sich dabei zu bewegen oder zu sprechen. In der zweiten Phase werden die Sensoren kalibriert, während die Testperson ohne Anstrengung eine wenig befahrene Straße mit dem Fahrrad auf- und abfährt. Den dritten Schritt stellt die Testfahrt selbst dar, während der die Teilnehmenden eine frei gewählte Route eine Stunde lang befahren. Während die Sensorik im Hintergrund Daten zu den einzelnen Körperfunktionen der Testpersonen sammelt, können diese selbst individuelle Eindrücke und Beobachtungen entlang der Strecke schriftlich in der App festhalten. Aufgrund gemessener Biodaten meldet die App zusätzlich besonders hohe Stresslevel (Peaks), die auch von Proband*innen kommentiert werden können. Die kombinierte Anwendung von Sensorik und individueller Beurteilung einzelner Situationen ist notwendig, um die Qualität eines Ereignisses (Sensorik-Peaks), also die eigene Deutung auftretender Körperreaktionen, festzuhalten.

B) Analyse Für die Interpretation von Körperfunktionen verweisen Zeile et al. (2016) unter anderem auf Sylvia Kreibig (2010: 401), die beschreibt, dass nur negative Erregung durch eine Veränderung biophysiologischer Daten wie Hautleitfähigkeit und HauttemperaAbbildung 2: Vergleichende Analyse der erhobenen Daten eines Radfahrenden

Quelle: Zeile et al. 2016: 212

Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode

tur identifiziert werden kann. Bei einer negativen Erregung hängen diese beiden Indikatoren zusammen, sodass die Hautleitfähigkeit zunimmt und die Hauttemperatur innerhalb weniger Sekunden absinkt. Abbildung 2 zeigt, wie unterschiedlich erhobene Daten für ein Gesamtbild kartiert und miteinander abgeglichen werden können, um Zusammenhänge darzustellen. Die durch Körpersensoren aufgezeichneten elektrodermalen Daten werden nach Beendigung der Testreihen kartographisch visualisiert und zeigen Stressmomente, in denen eine erhöhte Aktivität der Körperfunktionen gemessen wurde (vgl. Abb. 2 oben links). Für detaillierte Informationen zum Zusammenhang spezieller Triggerereignisse und negativer Erregung werden die Videoaufnahmen den georeferenzierten Eingaben der Individuen gegenübergestellt und interpretiert (vgl. Abb. 2 unten links und oben rechts). Zusätzlich geben die in der »People as Sensors«-App festgehaltenen Eingaben der Proband*innen Auskunft über das situativ empfundene Gefühl (vgl. Abb. 2 unten rechts). Um Gefahrenpunkte zu identifizieren, wurden die erhobenen Daten in Kombination kartiert und auf diese Weise miteinander vergleichbar gemacht. Abbildung 3 zeigt schematisch vier Einzelkartierungen eines Raumausschnitts (Map 1 bis 4), in denen jeweils Datensätze aus unterschiedlichen Teilerhebungen überlagert werden. So werden als besonders gefährlich wahrgenommene Positionen sichtbar. Durch die kombinierte Abbildung aller Teilerhebungen werden in Karte 4 (rechter Teilausschnitt in Abb. 3) zwei Standorte sichtbar, an denen Stressmomente (MOS), Triggerereignisse sowie Aussagen in der »People as Sensors«-App gehäuft auftreten und damit übereinstimmend auf die Wahrnehmung von Gefahr hinweisen. Abbildung 3: Schematische Kartierungen als gefährlich wahrgenommener Standorte für alle Proband*innen kombiniert

Quelle: Zeile et al. 2016: 210

Beispiel 2: Ride-Alongs Jan van Duppen und Bas Spierings (2013) nutzen mit GPS-Geräten und Videokameras aufgenommene Ride-Alongs, also begleitete Fahrten von Proband*innen, um in Utrecht mit dem Fahrrad zurückgelegte Routen als urban Sensescapes zu untersuchen und zu beschreiben. Sensescapes werden als Praxis erklärt »in which commuters both sense urban spaces and apply cycling tactics […] to denote the relationship and interaction between the sensory body and the urban environment« (van Duppen/Spierings 2013: 235). Durch die Schilderungen einzelner Abschnitte und Gebiete entlang dieser Routen werden deren Zusammenhänge und damit die Erfahrung der Stadt als Ganzes möglich. Insgesamt verfolgen die Autoren das Ziel, subjektive Wahrnehmungsperspektiven von Radfahrenden mit objektiven Planungsperspektiven zu vergleichen. Dafür ermög-

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lichen Ride-Alongs durch subjektive Wahrnehmungen, die Wirkung physisch gebauter Verbindungen und Teilungen in Stadträumen aufzudecken. Teilungen können etwa durch Eisenbahnschienen und Flüsse entstehen, Verbindungen zwischen Quartieren etwa durch Brücken und befahrbare Wege. Van Duppen und Spierings (ebd.) zeigen auf, wie gerade das Fahrrad als technisches Artefakt ein erweitertes Fühlen der Umwelt ermöglicht – etwa indem Textur und Beschaffenheit von Straßenoberf lächen über Laufräder und Rahmen der Fahrräder an die fahrenden Personen weitergegeben und von diesen erlebt werden. Als kombinierte Zusammenstellung von Einf lüssen und Sinneswahrnehmungen sind die Sensescapes auch an die von Tversky (1993) geprägten kognitiven Collagen angelehnt.

A) Anwendung Teilnehmende wurden bei der Fallstudie im Rahmen einer Online-Diskussionsgruppe so rekrutiert, dass Geschlechterverteilung, Altersgruppen sowie Einkommensverhältnisse mit der Verteilung des Utrechter Stadtteils Leidsche Rijn übereinstimmten. Den Autoren zufolge ist es in den Niederlanden fast selbstverständlich, auf Straßen nebeneinander Rad zu fahren, was einen hohen Stellenwert sowie Akzeptanz des Fahrrads in der niederländischen Gesellschaft verdeutlicht. Wichtig ist diese Akzeptanz für die Durchführung von Ride-Alongs deshalb, da während der Fahrten Gespräche/Interviews leichter geführt werden können. Die Autoren weisen dennoch auf Bruchstückhaftigkeit durch mögliche Unterbrechungen der Interviewführung hin, da das Radfahren besonders auf intensiven Verkehrsabschnitten hohe Konzentration erfordert. Bei Ride-Alongs werden die Teilnehmenden fahrend begleitet, während simultan Interviews geführt werden. Sie basieren methodisch auf sogenannten Go-Alongs, bei denen Forschende den Proband*innen Fragen stellen, ihnen zuhören sowie Bewegungspraktiken und Interaktionen beobachten. Dadurch werden Bewusstseinsf lüsse der physischen und sozialen Umwelt aktiv und gerade im Geschehen selbst erkundet (van Duppen/Spierings 2013: 235f.). Bei den Ride-Alongs werden die Interviews in Audio- und Videoform aufgenommen. Zusätzlich werden kleine Videokameras an den Lenkerstangen der Proband*innen-Fahrräder installiert, um deren Perspektiven aufzuzeichnen. Videoaufnahmen und GPS-Trackings dienen also zur Ergänzung und Kontextualisierung der aufgenommenen Erzählungen. Gleichzeitig belegen die Videoaufnahmen konkrete performative Verhaltensweisen beim Radfahren, beispielsweise Bewegungen, Blickrichtungen, Beschleunigungen und Bremsungen. Diese lassen sich auch mit den aufgenommenen Erzählungen abgleichen und so als kohärente oder sich widersprechende Narrationen und Bilder beschreiben. Schließlich werden die Interviews themenbezogen kodiert und qualitativ interpretiert.

B) Analyse Der lokal-räumliche Kontext hat bei fast allen Erhebungen einen großen Einf luss auf individuelle Wahrnehmungen und Erfahrungen. Hierzu tragen besonders regionalspezifische Landmarken, Verbindungen oder Abtrennungen bei. Die von van Duppen und Spierings (2013) für ihre Fallstudie gewählte Utrechter Nachbarschaft Leidsche Rijn zeichnet sich beispielsweise durch zwei große Infrastrukturlinien aus, die Barrieren repräsentieren: den Amsterdam-Rijnkanaal sowie die Autobahn A2 (siehe Abb. 4). Zudem wurden in den letzten Jahren ein Tunnel und eine Brücke gebaut, um die Nachbarschaft mehr an das Utrechter Stadtzentrum anzuschließen.

Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode

Einzelne Proband*innen beziehen sich bei ihren Erfahrungen und Erzählungen auf spezielle Elemente im Stadtbild, die offensichtlich zur Lesbarkeit der Stadt beitragen und mit denen bestimmte Gedanken, Erinnerungen und Gefühle assoziiert werden (Lynch 1960). So löst die Sichtbarkeit vielstöckiger Bürotürme Assoziationen mit der Nähe zum eigenen Arbeitsplatz aus. Für andere bedeutet die Überquerung einer Brücke die Näherung an oder Entfernung von der eigenen Wohngegend. Bei der mentalen Ausgestaltung und Veränderung von Assoziationen und Erinnerungen bezüglich der Pendlerstrecken spielt in der durchgeführten Studie neben visueller Wahrnehmung auch der olfaktorische Sinn eine Rolle. Die Autoren verweisen auf Berichte, in denen die Bauweise und Neigung einer überquerten Brücke beim Herabfahren oder die Fahrt vorbei an einer Kaffeefabrik positive Assoziationen auslösen. Proband*innen werden durch den Kaffeegeruch während der Fahrt in Gedanken an den eigenen Schreibtisch versetzt, oder aber der Geruch wird auf dem Rückweg nach Hause mit einer bevorstehenden Behaglichkeit in der eigenen Wohnung assoziiert. Die Nutzung kleiner und ruhiger Abkürzungen ermöglicht die Umfahrung und Vermeidung stark befahrener Hauptverkehrsstraßen und trägt damit zur Steigerung des Wohlbefindens während der Fahrt bei. Diese Aneignung von Verkehrsraum wird durch die Anwendung von Taktiken möglich, die wiederum mit Freund*innen und Bekannten geteilt werden können. Fernab der großen Straßen und Verkehrsrouten sorgt das Fehlen von Ampeln für durchgängigen Fahrtf luss und ermöglicht damit das Eintauchen in angenehme und durchgängige Fahrtrhythmen (vgl. Haferburg/Kraudzun 2021 dazu, wie die Routenwahl beim alltäglichen Radfahren in Berlin eine verkehrsarme Radnetzplanung inspirieren kann). Das Gefühl von »freier Fahrt« wurde dabei als positiv erwähnt. Abbildung 4: Tägliche Fahrradrouten der Studienteilnehmer*innen

Quelle: Van Duppen/Spierings 2013: 237

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Reflexion Ziel dieses Beitrags war es, anhand von zwei Beispielen die Relevanz Place-basierter Raumkonzepte für die Anwendung von Methoden kognitiven Kartierens aufzuzeigen. Als Anwendungsfeld diente in beiden Beispielen das Radfahren, da es als aktiver Mobilitätsmodus vielfältige Möglichkeiten bietet, Mensch-Umwelt-Erfahrungen assoziativ und prozedural zu konstruieren. Im Gegensatz zu Fahrten mit nach außen hin abgeschlossenen Fahrzeugen sind Radfahrende verschiedenen Umwelteinf lüssen wie etwa dem Wetter unmittelbar ausgesetzt. Dies führt zu einem direkteren Umwelterleben und kann die Konstruktion kognitiver Karten fördern. Die Untersuchung und Hervorhebung negativer und positiver Erfahrungen in Bezug auf Sicherheit und Wohlbefinden beim Radfahren durch die Nutzung kognitiver Karten kann außerdem die Planung und Anpassung städtischer Verkehrsinfrastruktur unterstützen, die Akzeptanz und Ausübung des Radfahrens in Städten stärken und dadurch zu ökologisch nachhaltigeren sowie lebenswerteren urbanen Räumen beitragen. Beide Beispiele in diesem Beitrag behandeln die Abbildung individuellen Erlebens beim Radfahren. Das erste Beispiel versucht, Zusammenhänge zwischen Umwelteinf lüssen wie Verkehrsdichte, räumlichen Hindernissen und als gefährlich wahrgenommenen Zwischenfällen einerseits sowie messbaren Körperfunktionen wie Herzschlag oder Hautleitfähigkeit andererseits herzustellen. Die gemessenen Körperfunktionen der Proband*innen werden dann durch Interviews und Beschreibungen kontextualisiert und ergänzt. Das zweite Beispiel operationalisiert die Wahrnehmung und Wirkung von Umwelt – und damit auch die Abbildung von Emotionen – besonders über Narrationen und assoziative Beschreibungen von Proband*innen. Diese Narrationen und Beschreibungen wurden, wie beim ersten Beispiel, ebenfalls durch Video- und Audioaufnahmen ergänzt. Um Emotionen zu erfassen und zu repräsentieren, werden Daten mit zum Teil technisch komplexen Verfahren erhoben. Ziel ist dabei eine Formalisierung, das heißt systematische Übersetzung und Abbildung von Informationen zur Wirkung und Wahrnehmung von Umwelt. Beide Verfahren versuchen dabei, eine Verbindung zwischen »inneren« Emotionen einerseits und »äußeren« körperlichen sowie sprachlichen Ausprägungen andererseits zu schaffen und diese in Form von Kartierungen räumlich zu verorten. Limitierungen der beiden Beispiele ergeben sich sowohl auf persönlichgesellschaftlicher als auch auf technischer Ebene. Auf persönlich-gesellschaftlicher Ebene stehen die schwierige Vergleichbarkeit individueller, situativer oder sozialer Aspekte und deren Relevanz beim Radfahren im Vordergrund. Auf technischer Ebene wurden in beiden Fällen unterschiedliche Sensoren zur Erfassung und Übersetzung von Wahrnehmung und Verhalten genutzt, um Konstruktionen und Abbildungen der Umwelt anzufertigen. Im ersten Beispiel besteht der Übersetzungsversuch in der Umwandlung stärker oder schwächer ausgeprägter Körperfunktionen wie Puls, Hautleitfähigkeit oder Atmung in technische Signale sowie deren Abbildung. Die Übersetzung erfolgt im zweiten Beispiel durch Narrationen, also sprachliche Beschreibungen der erlebenden Personen selbst. In beiden Fällen erfolgt anschließend eine räumliche Verknüpfung der gemessenen und der als Emotionen beschriebenen Daten. Diese Verknüpfung belegt die erfahrenen Räume mit Bedeutungen und trägt dazu bei, sie als Places zu konstruieren. Die unterschiedlichen Messungen, Abbildungen und Verortungen von Emotionen bringen als Formalisierungsversuche so-

Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode

mit stets die Herausforderung mit sich, als Emotionen bezeichnete oder zumindest beschriebene Phänomene subjekt- sowie raumspezifisch zu betrachten. Dabei sollte stets hinterfragt werden, wie die Lesbarmachung von Emotionen als kartographisches Konstrukt immer wieder neu erfolgt. Neben den angesprochenen Ebenen der kartographischen Lesbarmachung von Emotionen besteht eine weitere Herausforderung im ausreichenden Schutz der erhobenen Biodaten und der alltäglichen Bewegungsprofile von Proband*innen. Dieser Aspekt erlangt gerade vor dem Hintergrund einer subjektspezifischen Betrachtung und der möglichen Verknüpf barkeit persönlicher und räumlicher Daten hohe Relevanz. Hinzu kommt, dass eine Vielzahl zur Datenaufzeichnung verwendeter Endgeräte die Nutzung proprietärer Software verlangt und aufgezeichnete Daten oftmals auf Servern einzelner Konzerne in Staaten mit unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen zwischengelagert oder über längere Zeiträume gespeichert werden. In diesem Fall müssen ausreichende Schutzstandards durch Anonymisierung der Daten gewährleistet sein. Auch die Zugänglichkeit zu den erhobenen persönlichen Daten muss, etwa bei gewünschter Löschung, gegeben sein. In vielen Fällen bietet sich die Nutzung von Open-Source-Software an. Durch umfängliche Kostensenkungen sowie die freiwillige Mitarbeit diverser Entwickler*innen-Gemeinschaften besteht das Potenzial, Sicherheitslücken schneller aufdecken und einfacher beheben zu können, um personenbezogene Daten besser zu schützen (Alsharif/Khelifi 2019). Zudem kann solche Software einfacher an die eigenen Bedürfnisse und wissenschaftlichen Versuchsordnungen angepasst werden. Neben den erwähnten Herausforderungen und Limitierungen stellen die angeführten Beispiele kognitiven Kartierens als interdisziplinäre Methoden wertvolle Techniken zur Erfassung und Abbildung von Wahrnehmungen und Einstellungen in Bezug auf städtisches Radfahren dar. In beiden Beispielen werden Verfahren genutzt, um affektive Strukturen von Individuen zu erfassen und sichtbar zu machen. Die Potenziale liegen dabei in einer besonders detailgenauen Messung und Darstellung individueller Wahrnehmungen. Ziel ist es, aus diesen vielschichtigen Messungen infrastrukturelle Anpassungsmöglichkeiten abzuleiten und damit öffentliche Verkehrsräume für Radfahrende sicherer und angenehmer zu gestalten. Die Methode bietet außerdem die Möglichkeit, gerade die Erlebnisse und Wahrnehmungen von Radfahrenden als verletzlichere Gruppe Verkehrsteilnehmender zu visualisieren und konstruktiv in Verkehrsplanungsprozesse einf ließen zu lassen. In diesem Zusammenhang sei auch auf den Beitrag von Christoph Haferburg und Tobias Kraudzun (2021) in diesem Band hingewiesen, in dem mitunter das Thema aktivistischer Radnetzplanung der Verkehrs- und Umweltverbände genauer beleuchtet wird. Da es sich beim ersten Beispiel kognitiver Kartierung in diesem Beitrag vorrangig um die Messung biochemischer Körperphänomene und beim zweiten Beispiel um subjektive Assoziationen und Erzählungen handelt, ist zur Ausschöpfung des Potenzials die Kombination und Überlagerung unterschiedlicher Perspektiven notwendig. Durch die Überlagerung multipler Messungen von Körperfunktionen sowie deren Kontextualisierung durch Video- und Tonaufnahmen können die jeweiligen Konstruktionen der Umwelt miteinander abgeglichen und dadurch zu einem gewissen Grad validiert werden. Das heißt, einzelne, individuell gemessene Phänomene werden nicht mehr als isoliert oder kausal begriffen, sondern in ihrer Kongruenz sichtbar und als räumliche sowie gesellschaftliche Konstruktionen erkennbar. Emotionen werden in diesem Beitrag dennoch als Individualreaktionen in bestimmten räumlichen Kontexten behandelt. Dabei

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geht es weniger um die Präsentation von Emotionen als finales Ergebnis, sondern vielmehr um eine Beschreibung des Radfahrens als individuellen Wahrnehmungsprozess. Von der Methode kognitiven Kartierens darf nicht erwartet werden, eine einzelne, objektiv existierende räumliche Realität genau abbilden zu können. Vielmehr geht es um die Nutzung subjektiver Erfahrungen, um von Individuen wahrgenommene und raumwirksame Aspekte aufzuzeigen und zu visualisieren. Dadurch können formal legitimierte und als objektiv geltende Abbildungen der Umwelt sowie aus diesen resultierende Marginalisierungen sichtbar gemacht und kritisch hinterfragt werden. Der aktuelle Beitrag legt den Blick auf Radfahrende als eine solche marginalisierte Gruppe, um deren Alltagsrealitäten in Verkehrsräumen aufzudecken und dabei Hinweise auf Gefahrenquellen zu geben, die für weniger vulnerable Gruppen in ihren alltäglichen Routinen weniger relevant und deshalb oftmals auch weniger sichtbar sind. Trotz dieser Möglichkeiten sind auch kognitive Karten als wissensgenerierende und raumbildende Methode immer gesellschaftlichen Verhältnissen unterworfen und reproduzieren diese mit den jeweiligen Hierarchien selbst auch wieder. Kognitives Kartieren als Place-basierte Methode bietet jedoch auch die Chance, oftmals übersehene und formal nicht anerkannte Perspektiven und Informationen in den kartographischen Diskurs einzubringen und damit zur Verbesserung urbaner Lebensqualität beizutragen. Um dem Mobilitätsgesetz folgend mehr Personengruppen für die Nutzung des Fahrrads in verkehrsreichen innerstädtischen Räumen zu gewinnen, bieten sich kognitive Karten für sicherheitsbezogene Untersuchungen zur Umweltwahrnehmung an. Als konkreter Anwendungsfall erfolgte kürzlich beim »Straßencheck« (FixMyCity 2020) eine umfragebasierte Untersuchung subjektiven Sicherheitsempfindens. Die Darstellung von Ergebnissen solcher Erhebungen weist nicht nur darauf hin, dass die Schaffung neuer, sichernder Radverkehrsinfrastruktur wichtig ist. Vielmehr muss auch existierende Infrastruktur laufend in ihrer Bedeutung und Funktion evaluiert und hinterfragt werden (siehe hierzu auch die Beschreibung von Bikeability-Karten durch Haferburg und Kraudzun 2021). Kognitives Kartieren stellt insgesamt also eine produktive und vielfältig einsetzbare Methode dar, um für solche Kartierungen Daten zu generieren, dadurch objektive Sicherheit und vermutetes Wohlbefinden sowie allgemeingültige Praktikabilität von Radverkehrsinfrastruktur infrage zu stellen und tatsächliche Empfindungen Radfahrender zu messen, zu analysieren und zur Diskussion zu stellen.

Leseempfehlungen und zitierte Literatur Pánek, Jiří/Benediktsson, Karl (2017): »Emotional mapping and its participatory potential: Opinions about cycling conditions in Reykjavík, Iceland«, in: Cities 61, S. 65-73. Der Beitrag zeigt die Anwendung von Emotional Mapping beim Radfahren in Reykjavík. Mithilfe computergestützter Webinterviews demonstriert diese Studie einen hohen partizipativen Charakter, indem Teilnehmende im Zuge eines Crowdsourcing-Prozesses auf einer digitalen Plattform positive oder negative Reaktionen entlang erfahrener Routen und Orte festhalten und beschreiben können. Für die Klassifizierung und Visualisierung nehmen die Teilnehmenden Eintragungen in einer öffentlich zugänglichen Web-Gis-Anwendung vor. Die Erhebungen zeigen, inwiefern Räume und Orte durch Erlebnisse eine Verbindung mit Gefühlen und Erinnerungen aufweisen beziehungsweise diese hervorrufen. Die Wahrnehmung von Gefühlen kann nachfolgend durch die Kartierungen an Räume geknüpft werden.

Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode

Cresswell, Tim (2015): Place. An Introduction, West Sussex: Wiley-Blackwell. Das Buch behandelt Place als ein über Jahrtausende weiterentwickeltes interdisziplinäres Konzept, das neben der Geographie auch in vielen weiteren Disziplinen Anwendung findet. Zu diesen gehören beispielsweise Literaturwissenschaften, Architektur oder Informationstechnologie. Als einen Schwerpunkt stellt Tim Cresswell die These auf, dass Mobilität zunehmend Placelessness herstellt – also einen Mangel an Verbundenheit mit einzelnen Räumen. Aber auch die Verbindung von Erinnerungen und Räumen stellt einen Fokus des Buches dar. Ein sich durch das gesamte Werk ziehender Aspekt von Place ist dessen multiskalare Produktion durch die Wiederholung alltäglicher Praktiken. Montello, Daniel R. (Hg.) (2018): Handbook of Behavioral and Cognitive Geography, Northampton, MA: Edward Elgar Publishing. Das Handbuch gibt einen umfassenden Einblick in Themen der kognitiven und Verhaltensgeographie sowie verwandter (Teil-)Disziplinen. Damit geht es weit über das Thema kognitiven Kartierens hinaus und vereint unterschiedliche theoretische und empirische Ansätze zur Untersuchung mentaler und physischer menschlicher Aktivität in Bezug auf Raum. Verhaltens- und wahrnehmungsorientierte Ansätze werden zunächst in ihrer historischen Entstehung und Relevanz beschrieben und kontextualisiert. Besonders im Zuge disziplininterner Entwicklung kann die kognitive und Verhaltensgeographie als Alternative zu bisherigen, eher raumdeterministischen oder rational-ökonomischen Ansätzen verstanden werden. Neben einer Abbildung der vielfachen Spaltungen in der geographischen Disziplingeschichte (z.B. qualitative vs. quantitative Methodik) möchte das Handbuch aber auch einen Brückenschlag zwischen formal-wissenschaftlichen und humanistischen Ansätzen unterstützen. *** Acedo, Albert/Johnson, Peter A. (2020): »Home range and habitat: using platial characteristics to define urban areas from the bottom up«, in: Transactions in GIS 24 (4), S 819-841. Aldred, Rachel (2013): »Incompetent or too competent? Negotiating everyday cycling identities in a motor dominated society«, in: Mobilities 8 (2), S. 252-271. ADFC – Allgemeiner Deutscher Fahrradclub e.V. (2019): So geht Verkehrswende – Infrastrukturelemente für den Radverkehr. Siehe https://www.adfc.de/fileadmin/ user_upload/Expertenbereich/Politik_und_Verwaltung/Download/adfc_radverkehr_infrastruktur_2019_sw_web.pdf vom 01.08.2020. Alsharif, Ismail/Khelifi, Adel (2019): »Exploring the Opportunities and Challenges of Open Source Software and Its Economic Impact on the Cybersecurity Market«, in: Al-Masri, Ahmed/Curran, Kevin (Hg.), Smart Technologies and Innovation for a Sustainable Future. Advances in Science, Technology & Innovation (IEREK Interdisciplinary Series for Sustainable Development), Cham: Springer, S. 115-127. Augé, Marc (1995): Non-Places. Introduction to an anthropology of supermodernity, London/New York: Verso. Branion-Calles, Michael/Nelson, Trisalyn/Winters, Meghan (2017): »Comparing Crowdsourced Near-Miss and Collision Cycling Data and Official Bike Safety Reporting«, in: Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board 2662 (1), S. 1-11.

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Kognitives Kartieren urbanen Radfahrens als Place-basierte Methode

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Digitale Ungleichheiten überwinden – kritisches Kartieren crowdbasierter Wissensproduktionen Finn Dammann, Boris Michel

Abstract Am Beispiel des kollektiven Kartenprojekts OpenStreetMap zeigt dieser Beitrag, wie die Analyse und das Kartieren von Geodaten dabei helfen, sowohl Ungleichheiten in der digitalen Produktion von Wissen aufzuzeigen als auch für emanzipatorische und gegenhegemoniale Potenziale crowdbasierter Projekte zu sensibilisieren.

Die kollektive Produktion von Wissen mittels Code und Software Software und digitale Daten spielen bei der Produktion von Wissen und bei der Gestaltung von Welt eine immer größere Rolle. Dabei sind sowohl in die Software als auch in die Daten selbst bestimmte Weisen der Weltbeschreibung eingeschrieben. Das bedeutet, dass sich in ihnen bestehende gesellschaftliche Konventionen, Verhältnisse und Asymmetrien reproduzieren. In den letzten Jahren wurde dies vielfach in Bezug auf race und gender bias in Daten und Algorithmen diskutiert (Benjamin 2019; O’Neil 2017, 2018; Noble 2018; D’Ignazio/Klein 2020). Das gilt ebenso für Daten mit geographischem und räumlichem Bezug – auch in und durch diese Geodaten werden ungleiche Geographien (re-)produziert. Da die soziotechnischen Arrangements, die gewissermaßen die Grundlage jeder kollektiven und digitalen Wissensproduktion bilden, in der Regel im Hintergrund ablaufen und für die meisten Nutzer*innen im Alltag nicht sichtbar sind, können eine kritische Analyse und ein Kartieren von (Geo-) Daten einerseits dazu beitragen, soziale Ungleichheiten in crowdbasierten Projekten aufzuzeigen, und dadurch andererseits auch für neue Ansatzpunkte einer kritischen Intervention in diese Projekte sensibilisieren. Durch eine Analyse und kartographische Visualisierung von Orts- und Raumbezügen in Wikipedia-Artikeln konnte prominent zum Beispiel der Geograph Mark Graham aufzeigen, wie sehr das in der Wikipedia versammelte Wissen in vielfältiger Weise eurozentrisch ist (Graham 2011, 2013; Graham et al. 2014) – sei es, indem sich ein Großteil des geographischen Wissens auf Orte und Räume in Europa bezieht, oder auch, indem ein Großteil des geographischen Wissens über die Welt von Autor*innen aus Europa stammt – und Europa damit auch weiterhin die Wissensproduktion über »andere« Orte und Räume dominiert. Da Wikipedia eine der größten und bedeutendsten digitalen Enzyklopädien ist, prägen diese ungleichen Geographien und geo-

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graphischen Imaginationen in hohem Maße die allgemeine Wahrnehmung von Orten und Räumen (Graham/Straumann/Hogan 2015; Dittus/Graham 2019). Auch im Anschluss an diese Arbeiten zur ungleichen Wissensproduktion in der Wikipedia hat sich die kritische Analyse von (Geo-)Daten in den letzten Jahren als ein wissenschaftliches und politisches Feld zwischen Kritischer Kartographie und digitalen Geographien etabliert. Dabei wird häufig auf konzeptionelle und methodische Diskussionen rekurriert, die in Forschungsfeldern der Critical Software Studies, des Hacktivism und der sozialwissenschaftlichen Technikforschung geführt werden (Dalton/Stallmann 2018; Kitchin 2014a, 2014b; Dalton/Thatcher 2014; Kitchin/Dodge 2011). Diesen Ansätzen geht es im Kern darum, die sozialen und kulturellen Dimensionen von Hardware, Software und Code zu untersuchen und darzustellen. Methodisch wird in diesem Forschungsfeld zum einen auf quantitative Verfahren der Datenanalyse und zum anderen auf qualitative Verfahren der Analyse von Code, qualitative Interviews oder ethnographische Verfahren zurückgegriffen. Ein Forschungsfeld der kritischen Analyse von (Geo-)Daten, an das wir in diesem Beitrag anschließen möchten, behandelt kollektive Formen der Produktion von Geodaten in digitalen Kartenprojekten wie etwa OpenStreetMap und Wikimapia. Diese crowdbasierten Projekte gelten oftmals als eine neue Form kartographischer Wissensproduktion, an der – anders als in der professionalisierten (staatlichen) Kartographie – nicht nur ausgebildete Kartograph*innen partizipieren, sondern auch Lai*innen ohne formale kartographische Ausbildung. Für diese Projekte haben sich die Begriffe »Laiengeographie« und Volunteered Geographic Information (VGI) (Elwood/Goodchild/Sui 2012) etabliert. Dabei zeichnen sich VGI-Projekte durch ein Spannungsverhältnis zwischen einer Demokratisierung von Wissen mittels einer größeren Teilhabe unterschiedlicher Akteur*innen und Partizipierender einerseits und einer Reproduktion von tradierten sozialen Hierarchien sowie neuen Formen sozialer Exklusion andererseits aus (Goodchild 2011; Haklay 2013; Haklay/Singleton/Parker 2008). Eines der bekanntesten Beispiele für ein solches Projekt möchten wir in diesem Beitrag behandeln: OpenStreetMap.

OpenStreetMap – eine andere Form der Produktion kartographischen Wissens Seit ihrer Gründung 2004 hat sich OpenStreetMap (OSM) zu einer der weltweit größten freien und editierbaren Datenbanken für Geodaten entwickelt. Aufgrund ihrer Datendichte und Flexibilität sind ihre Karten der kommerziellen Konkurrenz in vielen Bereichen überlegen. Dabei wird OSM maßgeblich von einer großen und weltweit aktiven Community getragen: Bis 2020 wurden von über einer Million unterschiedlicher Nutzer*innen Geodaten in verschiedenen geographischen Kontexten zusammengetragen – wobei rund 40.000 Nutzer*innen monatlich für OSM aktiv sind. Eine Partizipation steht formal allen Interessierten offen, und zumindest theoretisch können die Inhalte von den Nutzer*innen selbst frei gestaltet werden. OSM begreift sich dabei als nichtkommerzielles und demokratisches Projekt, das lokales kartographisches Wissen in einer gemeinsamen Datenbank versammeln möchte.1 1 Mission Statement OSM Foundation, https://wiki.osmfoundation.org/wiki/Mission_Statement (01.08.2021).

Digitale Ungleichheiten überwinden

Die Nutzung der hier produzierten Geodaten steht unter einer Open-Data-Lizenz, wodurch die Daten freier verwendbar sind als jene von kommerziellen Anbietern. So dient OSM einer wachsenden Zahl von Karten im Netz als Informationsgrundlage – sei es, weil deren Nutzung kostenlos bleibt oder weil sich die Karte besser an die eigenen Bedürfnisse anpassen lässt als die Karten kommerzieller Anbieter wie Google Maps oder staatlicher Akteur*innen. Die hier produzierten Geodaten werden zudem in einer Vielzahl von Applikationen und Programmen von Unternehmen und humanitären oder künstlerischen Projekten verwendet. Gerade durch die vielfältige Verwendung ihrer Geodaten hat OSM im zunehmenden Maße Einf luss darauf, wie Raumwahrnehmungen von Orten und räumliche Alltagspraktiken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und geographischen Kontexten digital mitgestaltet werden (Graham/ De Sabbata/Zook 2015). Dabei sind OSM-Daten nicht nur hilfreiche und kostenfreie kartographische Informationen, sondern häufig selbst Gegenstand von sozialen Auseinandersetzungen. Dies gilt etwa für Debatten um die »richtige« Benennung von Orten oder Fragen einer einheitlichen und konsistenten Produktion kartographischer Informationen, außerdem für Diskussionen darum, inwiefern und in welchem Umfang etwa Unternehmen und staatliche Behörden Geodaten zur OSM beisteuern sollten, sowie auch für Diskurse um Hierarchien und soziale Ungleichheiten in der Partizipation. Dabei gehört es zu den großen Stärken von OSM, dass diese Debatten geführt werden und damit tendenziell auch progressive Impulse für Veränderungen in der kartographischen Wissensproduktion angestoßen werden können. In diesem Beitrag möchten wir auf zwei der genannten Problematisierungen eingehen und Möglichkeiten aufzeigen, wie diese durch kritische Verfahren der Geodatenanalyse untersucht werden können. Einerseits geht es uns um Verfahren der Analyse sozialer Ungleichheiten und Exklusionen in der Partizipation und in der Produktion von Informationen. Hier zeigen wir, wie eine Analyse der Datendichte und der Aktivitäten von Nutzer*innen Hinweise auf die Persistenz ungleicher Geographien und eines digital divide liefern kann. Dies illustrieren wir am Beispiel eines globalen Datensatzes von OSM. Eine solche Perspektive ist insbesondere interessant, um Fragen von Partizipation und Ausschluss in crowdbasierten Projekten zu untersuchen. Andererseits geht es uns um Verfahren der Untersuchung technischer Grundlagen von OSM, durch die bereits eine gewisse konsistente Produktion kartographischer Informationen für alle Partizipierenden vorstrukturiert wird. Hier zeigen wir, wie ein Blick auf Daten und Datenmodelle – das heißt gewissermaßen »hinter« die Karte – dabei helfen kann, grundlegende Formen des Wissens und der Grammatiken in soziotechnischen Arrangements von crowdbasierten Projekten offenzulegen.

I: Analyse der Reproduktion sozialer Differenzierungen und Ungleichheiten in crowdbasierten Kartenprojekten Wie bei allen Karten, so werden auch in OSM soziale Konventionen und Ungleichheiten produziert und reproduziert. Auch das Wissen und die Praktiken in und um OSM bringen einen digital divide zum Ausdruck, in dem sich vergeschlechtlichte, rassifizierte und koloniale Verhältnisse ebenso abbilden wie Fragen von Bildung, Klasse oder Zugang zu digitaler Infrastruktur. So zeigen sich sowohl in OSM als auch in Wikipe-

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dia hierarchische Muster in Datendichte, Datenaktualität und Nutzer*innenpartizipation, und zwar in mehrfacher Hinsicht. In den meisten Projekten sind die Nutzer*innen überwiegend weiß, männlich und technikaffin, kommen aus dem globalen Norden und besitzen hohe formelle Bildungsabschlüsse. Zoe Gardner et al. schätzen den Anteil der sich als weiblich identifizierenden Akteurinnen auf unter 15 Prozent (Gardner et al. 2019; Stephens 2013). Verbunden mit diesen Strukturen zeigen sich auch räumliche Ungleichheiten, mit denen sich in den letzten Jahren eine Reihe von Autor*innen beschäftigt hat. Christian Bittner beispielsweise stellt in seiner Arbeit zu OSM im Kontext des Nahostkonf likts dar, wie sich sozioökonomische Ungleichheiten auch auf lokaler Ebene manifestieren, etwa auf der Ebene von Stadtteilen und als Ausdruck lokaler soziodemographischer und politischer Differenzierungen (Bittner 2017). Ganz allgemein zeigt sich, dass bestimmte Orte überrepräsentiert und informationsreich kartiert sind, während andere unsichtbar bleiben oder weniger Informationen über sie zur Verfügung stehen. Diese Verteilung steht in einem direkten Zusammenhang zu den von den Beitragenden als wichtig erachteten Informationen – sowohl allgemein als auch in Bezug auf ihre eigene Alltagswelt. Die ungleiche Zusammensetzung von Beitragenden führt also zu Ungleichheiten in den Daten. Abbildung 1 zeigt die Datendichte von OSM auf globaler Maßstabsebene. Hierfür wurde ein Datensatz aller gut 78 Millionen Änderungssätze (changesets) von OSM extrahiert und in QGIS mit einem globalen Gitter mit einer Zellengröße von zehn Quadratkilometern verschnitten. Die Karte zeigt die Zahl der Änderungssätze in der jeweiligen Zelle und damit die Aktivität für die jeweiligen Raumausschnitte. Für das Jahr 2020 wird so deutlich, dass insbesondere Regionen wie Mitteleuropa, Japan und die Küstenregionen Nordamerikas eine hohe Datendichte aufweisen. Dieses Ungleichgewicht und die Reproduktion eines digital divide sind auch Teil politischer Auseinandersetzung. So hat Wikipedia vor einigen Jahren und nicht zuletzt als Reaktion auf die oben angesprochene Ungleichheit das Ideal der knowledge equity zu einem zentralen Punkt ihrer Agenda erklärt2 und damit die Inklusion bisher ausgeschlossener oder unterrepräsentierter Stimmen und Orte als wichtige Aufgabe der künftigen Entwicklung des Projekts benannt. Auch in OSM wird die mangelnde Inklusivität zunehmend problematisiert und adressiert (Garcia/Dittus 2019), gerade auch in Hinblick auf die Abwesenheit und Unsichtbarkeit von Akteur*innen aus dem globalen Süden und auf die notwendige Dezentrierung und Dekolonisierung kartographischen Wissens. Projekte wie OSM sind deshalb auch selbst Orte, an denen die Widersprüche postkolonialer Verhältnisse und Ansprüche an eine Dekolonisierung von Wissen ausgehandelt werden. Waren Wissensproduktion und konzeptionelle Weiterentwicklung bei OSM noch bis vor wenigen Jahren sehr stark durch Akteur*innen aus dem globalen Norden geprägt, so haben sich in den letzten Jahren Stimmen und Communitys aus dem globalen Süden Sichtbarkeit, Gehör und Repräsentation verschafft. Weitere Analysen könnten diese Muster zu unterschiedlichen soziodemographischen Daten in Bezug setzen oder auch auf anderer Maßstabsebene ansetzen.

2 https://meta.wikimedia.org/wiki/Strategy/Wikimedia_movement/2017/Direction#Knowledge_equi ty:_Knowledge_and_communities_that_have_been_lef t_out_by_structures_of_power_and_privi lege (01.08.2021).

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Abbildung 1: Summe aller Änderungssätze (changesets) von OpenStreetMap bis 2020 pro zehn Quadratkilometer (Datenquelle: OpenStreetMap)

II: Analyse der soziotechnischen Grundlagen der Wissensproduktion in OpenStreetMap Digitale Projekte und Plattformen wie OSM lassen sich als soziotechnische Arrangements verstehen, die an der materiellen und diskursiven (Re-)Produktion von sozialen Wirklichkeiten beteiligt sind. Aus dieser Perspektive heraus rücken neben Fragen nach sozialen Ungleichheiten in der Datenproduktion auch Fragen nach den technischen Voraussetzungen der digitalen Wissensproduktion in den Blick. So wird in Code und Software vorgegeben, wer auf welche Weise kartographische Informationen produzieren, speichern, verarbeiten, visualisieren und weitergeben kann. Gewissermaßen ist so eine Grammatik der kartographischen Wissensproduktion angelegt. Den meisten Nutzer*innen begegnet die OSM in Form einer Karte. Dies geschieht entweder unmittelbar auf www.openstreetmap.org, in mobilen Apps, in der Basiskarte von Onlinediensten oder auch vermittelt als Grundlage für weitere raumbezogene Dienstleistungen, wie etwa jenen von urbanen Mobilitätsplattformen. Der Kern von OSM ist jedoch nicht in erster Linie eine Karte, sondern eine Geodatenbank, in der jene Objekte verzeichnet sind, die in der Karte dargestellt werden können. Die Karte ist bzw. unterschiedliche Karten sind in diesem Sinne Visualisierungen dieser Objekte. Die Geometrie von Objekten kann in OSM mit Punkten (nodes), Linien (ways) und Beziehungen (relations) beschrieben werden. Die Attribute dieser Objekte werden mittels key=value-Tags beschrieben, also einem Kategoriebegriff (key) und einem dazugehörigen Wert (value). So kann ein key beispielsweise die Kategorie »name« sein und der zugehörige value der Name des Objekts, oder der key weist einem Objekt die Kategorie »building« zu, zeigt also an, dass es sich bei dem Objekt um ein Gebäude handelt, und weist dieses Gebäude mit dem Wert »school« aus. Während es dementsprechend sehr umfangreiche Listen an bestehenden und vorgeschlagenen Tags gibt3, mit denen Ob-

3 https://wiki.openstreetmap.org/wiki/Map_Features (01.08.2021).

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Abbildung 2: Visualisierungen einiger prominenter Renderer. Hier Standard, Radfahrerkarte und OpenTopoMap

Quelle: https://openstreetmap.org

jekte in OSM bezeichnet werden können, ist das Schema letztlich offen und erlaubt damit auch die Einführung neuer Bezeichnungen. Jedes Objekt in OSM hat eine individuelle ID sowie in der Regel eine Anzahl von Tags, die dieses Objekt beschreiben. So wird die U-Bahn-Station Turmstraße in der Mitte der oberen Karte nicht nur als ein Punkt-Objekt in die Datenbank eingetragen und mit der ID 4440948591 bezeichnet, sondern ihr wird auch die Geolocation 52,5261489, 13,3412971 und der Name »U Turmstraße« zugewiesen (s. Abb. 3). Zudem ist sie unter anderem als ÖPNV-Station (»public_transport=station«) sowie als rollstuhlgerecht (»wheelchair=yes«) markiert4. Jedem Objekt kann eine Vielzahl von Eigenschaften und Beziehungen zu anderen Objekten zugeordnet werden wie beispielweise, Teil einer U-Bahn-Linie oder einer Stadt zu sein. Zudem kann jedes Objekt weiterhin editiert, kommentiert, erweitert und korrigiert werden. Daher hat jedes Objekt eine Geschichte (vgl. Abb. 4), und diese Geschichte kann genauer untersucht werden.

4 Barrierefreiheit wird in den oben gezeigten Visualisierungen jedoch nicht privilegiert, ist dort also nicht sichtbar.

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Abbildung 3: Ein Objekt …

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Abbildung 4: … und seine Geschichte













Quelle: https://www.openstreetmap.org/api/0.6/node/4440948591/history (Stand: 30.08.2021)

Für den Einstieg in eine kritische Analyse von Software und Code hilft eine Betrachtung der zentralen Systemkomponenten – des sogenannten Softwarestacks. In OSM lässt sich dieser Softwarestack als Kombination von vier Funktionsbereichen beschreiben (vgl. Abb. 5): Der Funktionsbereich des (1) Editing ermöglicht es Nutzer*innen mittels Software, Geodaten auf eine bestimmte Weise zu erstellen, zu bearbeiten und zu löschen und in einer Geodatenbank zu speichern. Im (2) Backend wird definiert, welche Typen von Daten und Datenstrukturen in OSM zugelassen sind, wie die Daten in Relation zueinander stehen und wer auf welche Weise mittels Schnittstellen Zugriff auf die Daten erhält. Aus den Geodaten werden im Bereich (3) Rendering graphische Objekte erstellt. Darstellungsregeln legen dabei fest, welche visuellen Symbole, Farbgebungen oder Linienarten für welche Geodaten und deren Attribuierungen vorgesehen sind und wie diese jeweils erscheinen sollen. Für die (4) Visualization der so erstellten Graphiken (i.d.R. Bilddaten im Rasterformat, sog. tiles) auf Webseiten, in mobilen Apps oder in Desktop-GIS werden weitere Programme wie Leaf let oder OpenLayers eingesetzt. In den Funktionsbereichen Editing und Backend findet also die eigentliche Produktion, Verarbeitung, Speicherung und Bereitstellung von Geodaten in OSM statt. Die Übersetzung der produzierten Geodaten in visuelle Repräsentationen sowie deren Anzeige bei Endnutzer*innen wird hingegen in den Funktionsbereichen Rendering und Visualization umgesetzt. Auch wenn bei digitalen Kartenprojekten alle Funktionsbereiche gleichermaßen wichtig dafür sind, wie die Wissensproduktion in technischer Hinsicht operationalisiert wird, befinden sich grundlegende Regelsysteme für die Datenproduktionen vielfach in den Datenmodellen des Backends. Hier wird definiert, wie Geodaten erstellt werden können und welche Beziehungen zwischen den verschiedenen Geodaten bestehen. Letztlich ist das Datenmodell daher eine Form von Morphosyntax, in der festgelegt wird, nach welchen Eigenschaften und seman-

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tischen Mustern Daten produziert und abgelegt werden dürfen. Für ein Verständnis von Grammatiken kartographischer Weltbeschreibungen in digitalen Kartenprojekten bietet sich daher vielfach eine Detailanalyse des Datenmodells an. Nach dieser deskriptiven Analyse von zentralen Systemkomponenten und den in ihnen angelegten Grammatiken können die Befunde in größeren Zusammenhängen kontextualisiert werden – wie etwa in historischen Formen kartographischer Weltbeschreibungen. Die im Datenmodell von OpenStreetMap vorgenommene Modellierung der Welt orientiert sich beispielsweise vielfach an tradierten Konzepten der modernen Kartographie und der GIScience (Perkins 2014). Grundmuster dieser kartographischen Weltbeschreibung finden sich darüber hinaus auch innerhalb der weiteren Funktionsbereiche des Softwarestacks. Die Darstellungsregeln im Rendering sehen beispielsweise nur für solche Geometrien und Objekttypen eigene Symbole, Farbgebungen oder Liniendichten vor, die auch im Datenmodell angelegt sind 5 – und darüber hinaus über spezifische Attribute verfügen. Die Ansichten auf die Kartengraphiken sind zudem jeweils als eine »Sicht von oben« konzipiert. Damit lassen sich mit diesem Datenmodell ausschließlich kartesische Formen des Kartierens umsetzen. Für die Bearbeitung dieser Fragen steht eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung. Einerseits gibt es eine wachsende Zahl einfach zu bedienender Tools, die oftmals zur Analyse der Datenqualität von OSM entwickelt wurden und zur einfachen Abbildung 5: Zentrale Sof twarekomponenten von OpenStreetMap

Quelle: https://wiki.openstreetmap.org/wiki/File:OSM_Components.svg (Stand: 30.08.2021)

5 Eine Ausnahme besteht darin, dass Flächenvektoren als eigene Geometrien im Datenmodell nicht direkt angelegt sind, sondern nachträglich über die Objekttypen ways und relations erstellt werden müssen.

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Analyse von OSM-Daten verwendet werden können. Andererseits bieten voraussetzungsreichere GIS-Anwendungen oder Programmiersprachen weitreichendere Möglichkeiten der Geodatenanalyse. Die Entscheidung muss dabei zwischen den Zielen der Arbeit und den eigenen (Zeit-)Ressourcen ausgehandelt werden.

Fazit und Ausblick: Digitale Ungleichheiten überwinden Am Beispiel des kollektiven Kartenprojekts OpenStreetMap hat dieser Beitrag gezeigt, wie die Analyse und das Kartieren von Geodaten dabei helfen, Ungleichheiten in der digitalen Produktion von Wissen aufzuzeigen. Dabei konnten auf Basis einer quantitativen Analyse tradierte Exklusionsmuster nachgewiesen werden: Vielfach sind es technikaffine Männer aus dem globalen Norden, die aus ihrer eigenen Perspektive heraus räumliches Wissen produzieren. Subalterne Stimmen sind dagegen deutlich unterrepräsentiert. Außerdem zeigte eine Analyse des Softwarestacks Strukturmerkmale, die bestimmte Formen der Wissensproduktion vorgeben und alternative Weisen der Weltbeschreibung und Weltaneignung ausschließen. Diese Analysen können für Strukturen und Prozesse ungleicher Wissensproduktion sensibilisieren – und geben dadurch Impulse für emanzipatorische und gegenhegemoniale Potenziale crowdbasierter Projekte. Hierfür reichen die vorgestellten Verfahren der Analyse jedoch nicht aus: Zusätzlich sind noch stärker qualitative und vor allem partizipative Verfahren notwendig, die auch zusammen mit der OSM-Community weitere Impulse für eine Demokratisierung und Vielstimmigkeit der kartographischen Wissensproduktion setzen könnten.

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Garcia, David/Dittus, Martin (2019): Caretography – Mapping Difficult Issues with OpenStreetMap during Difficult Times. State of the Map 2019. Siehe https://2019. stateofthemap.org/sessions/F9D8QG/vom 23.10.2020. Gardner, Zoe/Mooney, Peter/De Sabbata, Stefano/Dowthwaite, Liz (2019): »Quantifying gendered participation in OpenStreetMap: responding to theories of female (under) representation in crowdsourced mapping«, in: Geojournal 85, S. 1603-1620. Goodchild, Michael F. (2011): »Theoretical Geography (1962): ›William Bunge‹«, in: Hubbard, Phil/Kitchin, Rob (Hg.), Key Thinkers on Space and Place, London: SAGE, S. 9-16. Graham, Mark (2011): »Wiki Space: Palimpsests and the Politics of Exclusion«, in: Critical Point of View: A Wikipedia Reader, S. 269-282. Graham, Mark (2013): »Geographies of Information in Africa. Wikipedia and User-Generated Content«, in: R-Link: Rwanda’s Official ICT Magazine, Kigali: Rwanda ICT Chamber, S. 40-41. Graham, Mark/De Sabbata, Stefano/Zook, Matthew A. (2015): »Towards a study of information geographies: (im)mutable augmentations and a mapping of the geographies of information«, in: Geo: Geography and Environment 2, S. 88-105. Graham, Mark/Hogan, Bernie/Straumann, Ralph K./Medhat, Ahmed (2014): »Uneven Geographies of User-Generated Information: Patterns of Increasing Informational Poverty«, in: Annals of the Association of American Geographers 104 (4), S. 746764. https://doi.org/10.1080/00045608.2014.910087 Graham, Mark/Straumann, Ralph K./Hogan, Bernie (2015): »Digital Divisions of Labor and Informational Magnetism. Mapping Participation in Wikipedia«, in: Annals of the Association of American Geographers 105 (6), S. 1158-1178. https://doi.org/10.10 80/00045608.2015.1072791 Haklay, Mordechai (Muki) (2013): »Neogeography and the delusion of democratisation«, in: Environment and Planning A: Economy and Space 45, S. 55-69. Haklay, Muki/Singleton, Alex/Parker, Chris (2008): »Web Mapping 2.0: The Neogeography of the GeoWeb«, in: Geography Compass 2, S. 2011-2039. Kitchin, Rob (2014a): »Big Data, new epistemologies and paradigm shifts«, in: Big Data & Society 1 (1), S. 1-12. https://doi.org/10.1177/2053951714528481 Kitchin, Rob (2014b): The data revolution. Big data, open data, data infrastructures & their consequences, Los Angeles u.a.: SAGE. Kitchin, Rob/Dodge, Martin (2011): Code/space – Software and everyday life, Cambridge, Mass.: MIT Press. Noble, Safiya U. (2018): Algorithms of oppression. How search engines reinforce racism, New York: New York University Press. O’Neil, Cathy (2017): Weapons of math destruction. How big data increases inequality and threatens democracy, London: Penguin Books. O’Neil, Cathy (2018): Angriff der Algorithmen. Wie sie Wahlen manipulieren, Berufschancen zerstören und unsere Gesundheit gefährden, München: Carl Hanser Verlag. Perkins, Chris (2014): »Plotting practices and politics: (Im)mutable narratives in OpenStreetMap«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 39 (2), S. 304317. https://doi.org/10.1111/tran.12022 Stephens, Monica (2013): »Gender and the GeoWeb: Division in the production of user-generated cartographic information«, in: Geojournal 78, S. 981-996.

Geodaten quantitativ, aber kritisch analysieren – die Methode der explorativen räumlichen Datenanalyse am Beispiel von COVID-19 in Brasilien Dominik Kremer, Blake Byron Walker

Abstract Die Analyse quantitativer Geodaten ermöglicht es Geowissenschaftler*innen, kontextbezogene Erkundungstechniken anzuwenden, um ein fundiertes und nuanciertes Verständnis der Daten, ihrer räumlichen, zeitlichen und multidimensionalen Muster und der Grenzen ihrer Nutzbarkeit zu entwickeln.

Von der Methodenkritik zur kritischen Methode Im Schnittfeld zwischen Kultur- und Geisteswissenschaft und Digitalisierung hat sich – nicht zuletzt durch die Emergenz von Data Science und Digital Humanities – ein Spannungsfeld etabliert, das nach technisch-methodischen Lösungen verlangt, die auf der einen Seite den kritikorientierten Theoriehintergrund berücksichtigen und auf der anderen Seite neue, digitale Forschungsmethoden souverän in den Methodenfundus des Fachs integrieren. In diesem Sinne plädieren wir für eine kritische Praxis der Analyse von Geodaten. Nach Moretti (2013) besteht der Grundgedanke darin, Techniken des automatisierten distant reading von Daten mit dem kontinuierlichen prüfenden close reading der Forschenden zu verknüpfen. Die Notwendigkeit, beide Seiten zu adressieren, lässt sich einleitend am besten anhand von vier plakativen Aussagen ref lektieren.

»Just look at the map!« Spätestens seit dem Spatial Turn in den Kultur- und Geisteswissenschaften (z.B. Belina/Michel 2007; Tally 2013; Günzel 2017) werden Geodatenvisualisierungen intensiv eingesetzt, um räumliche Verteilungen von Mustern visuell erfassen zu können. Um hier ein stabiles, fachunabhängiges Methodenportfolio aufzubauen, wurde in den letzten Jahren methodische Grundlagenforschung betrieben (Fabrikant/Montello 2008 bzw. Mayr/Windhager 2018). Durch die Verwendung räumlicher Anordnungen stellen Geodatenvisualisierungen also ein kognitiv sehr gut zugängliches Medium dar (Bruggmann/Fabrikant/Purves 2020). Gerade aufgrund ihrer subtilen Klarheit sind Karten indes das Produkt jeweiliger gesellschaftlicher Verhältnisse, die im Sinne einer kritischen Kartografie hinterfragt werden müssen (Glasze 2009).

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»Just do the Maths!« Im Rahmen von geostatistischen Analysen können im Gegenzug Modelle von Wirkzusammenhängen erstellt und durch geeignete Maßzahlen überprüft werden (Ehlers/ Schiewe 2012). Auch hier muss jedoch stets ins Gedächtnis gerufen werden, welche Transformationen und mathematischen Modellannahmen auf welche Datenarten gültige Ergebnisse liefern. Ferner ist zu berücksichtigen, dass Korrelationen nur Indikatoren für kausale Zusammenhänge sind, die durch komplementäre Studien weiter erhärtet werden müssen. Darüber hinaus stellen sie noch keine Erklärung des Zusammenhangs im Sinne einer profunden Hintergrundtheorie dar.

»It’s in the data!« Parallel dazu gibt es eine Vielzahl von in der empirischen Sozialforschung (z.B. Diekmann 2007) ebenso wohlbekannten Gründen, warum die Datenerhebung an sich mit Fehlern oder zumindest Störfaktoren behaftet sein kann, die von Beginn an eine Interpretation jedweder Analyse deutlich erschweren. Anstelle von: »It’s in the data« müsste es auch und gerade in Krisenzeiten bei Entscheider*innen in Wirtschaft und Politik heißen: »We have preliminary, not yet proven indication«.

»Data Science will do the job!« Unmengen an Daten quasi in Echtzeit zur Analyse zur Verfügung zu haben, eröffnet digitalen Kultur- und Geisteswissenschaften riesige Potenziale (z.B. Foster et al. 2016), um diskutierte Theorieansätze tagesaktuell zu überprüfen bzw. Hypothesen für neue Theorieansätze zu generieren. Daraus resultiert allerdings ein gewisser Zeitdruck, da die Ergebnisse eines Screenings mittels big-data-Analysen in Echtzeit nur stichprobenartig überprüft werden können. Umso wichtiger sind die Entwicklung und der Einsatz von Methoden, die das kritische Hinterfragen von Zwischenergebnissen, aber auch jedes Arbeitsschritts selbst zur conditio sine qua non machen. Um der einfachen Zugänglichkeit von Geodatenvisualisierungen ebenso wie ihrer suggestiven Kraft Rechnung zu tragen, stellen wir mit der explorativen räumlichen Datenanalyse eine Methode vor, die den Anforderungen an Zugänglichkeit und Ref lexion der Ergebnisse bereits im Arbeitsprozess Rechnung trägt.

Ausführung der Eingangsthese Visualisierungen bilden das Rückgrat von Datenanalysen. Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, erstellen Data Scientists genauso wie empirische Sozialforscher*innen Streudiagramme, Histogramme und Wissensnetze, im Falle von Geodaten auch Karten, die die räumliche Verteilung bzw. Muster ähnlicher Merkmalsausprägungen bestimmter Messpunkte einer Analyse zugänglich und die Bedeutung von Nähe und Ferne interpretierbar machen. Betrachten wir ein Beispiel: Abbildung 1 veranschaulicht, dass Visualisierungen von Daten – und Karten im Besonderen – eine hohe Suggestivkraft haben. Die kartographische Form lädt Rezipient*innen förmlich dazu ein, visuell räumliche Muster zu identifizieren und ad hoc

Geodaten quantitativ, aber kritisch analysieren

Abbildung 1: Kartographische Repräsentation der räumlichen Verteilung kumulativer COVID-19-Inzidenz in Brasilien

Quelle: Eigene Darstellung

Hypothesen über kausale Einf lussfaktoren aufzustellen, die das beobachtete Muster erklären könnten. Diese stützen sich aber zumeist auf Vorannahmen und diskursiv mediiertes Vorwissen, zum Beispiel durch den Rückgriff auf massenmediale Narrative über Armut in den Küstenstädten Brasiliens oder auf die Soziodemographie im Amazonasgebiet. Dieser vorbewusste Prozess der Formulierung informeller Hypothesen ist stark abhängig von dem verwendeten Darstellungsmodus, zum Beispiel von der Datenklassifizierung und der gewählten Farbgebung. Die etablierte Literatur zur Kritischen Kartographie weist auf verschiedene Problematiken hin, die sich aus der Karte als dominantem Medium der geographischen Darstellung ergeben (vgl. etwa Crampton 2011). Die Karte als statisches Kommunikationsinstrument ist daher gleichzeitig im Hinblick auf ihre Interpretationsmöglichkeiten instabil, da sie je nach Vorwissen unterschiedlich gelesen werden kann und in ihrer subjektiven Wirkung suggestiv ist, da für den*die individuelle*n Betrachter*in alternative Lesarten nicht zu erkennen sind. Die Karte als dynamisches Instrument zur kritischen Analyse von raumbezogenen Daten kann jedoch Impulse liefern, um die Fehlbarkeit von Karten mit ihrem unbestreitbaren Wert für die Identifizierung wichtiger Muster und Trends in Einklang zu bringen.

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Da Visualisierungen einen einfachen Zugang zu Informationen bieten, werden die Entstehungsbedingungen von Karten bei der Entnahme der Information oft nicht mehr weiter hinterfragt. Allein schon der formale Prozess der Abbildung der Daten in einem limitierten zweidimensionalen Raumausschnitt hat aber zur Folge, dass Kartenelemente ausgewählt (mathematische Selektion) und auf einige wenige Merkmale reduziert werden müssen (mathematische Projektion). Ein Sonderfall der Projektion ist dabei die Reduzierung eines dreidimensionalen Phänomenbereichs an der Erdoberf läche auf eine zweidimensionale Ebene. Die Auswahl der visualisierten Elemente folgt dabei aber eben nicht ausschließlich einem bewussten Entscheidungsprozess, sondern auch gesellschaftlichen Regeln und Strukturen, die diskursanalytisch aufgedeckt und hinterfragt werden müssen (Glasze 2009; Crampton 2011). So kann Glasze (2009) zeigen, dass eine im Stadtraum visuell prominente Moschee mangels einer definierten nichtchristlichen Symbolik im europäischen Kontext auf Karten schlicht nicht gezeigt wird, wohl aber eine in der Nähe gelegene Kirche. Dieses Grundproblem besteht natürlich auch bei einer digitalen Repräsentation von statischen Karten fort. Zudem fokussieren gängige Ausbildungsangebote im Bereich der Data Science eher auf technische Fertigkeiten wie Programmierung, Datenbankmanagement und klassische Geostatistik, um zunächst überhaupt Lösungswege für eine digitale Analyse von Daten im Rahmen der Digital Humanities anbieten zu können (z.B. Bia 2012). Dabei reichen Kritiken an digitalen räumlichen Analysen, die sich nur unzureichend mit der Konzeptualisierung und dem diskursiven Framing von Orten befassen, bis in die 1990er Jahre zurück. Obwohl sie überwiegend von Nichtanwender*innen geäußert wurden (Wilson 2016; Preston/Wilson 2014), haben sie erreicht, dass Kartograph*innen und Data Scientists gleichermaßen die technischen und gesellschaftlichen Konstruktionsbedingungen, unter denen (raumbezogene) Daten analysiert werden, routiniert ref lektieren müssen, um den Einf luss gesellschaftlicher Verhältnisse auf die Ergebnisse dieser Analysen zu minimieren (Schuurman 2000, 2006). Während eine detaillierte qualitative Untersuchung oder eine detaillierte Diskursanalyse dieser Einf lussfaktoren den zeitlichen Rahmen einer anwendungsorientierten räumlichen Datenanalyse übersteigt, ist ein gewisses Maß an kritischer Grundhaltung während des gesamten Prozesses der quantitativen Analyse geographischer Daten unerlässlich. Es wird also eine Methode benötigt, die leichtgewichtig genug ist, um Forschungsfragen auf Grundlage tagesaktueller Daten schnell und effizient explorieren zu können. Gleichzeitig sollte sie dafür sensibilisieren, dass strukturelle Auffälligkeiten bzw. Regularitäten auf den Daten stets in ihrer soziotechnischen Konstruiertheit hinterfragt werden müssen. Zudem muss die Methode aus sich heraus stets kenntlich machen, dass durch sie produzierte Ergebnisse ohne das Hinzuziehen eines ergänzenden Interpretationsrahmens bestenfalls den Status von Hypothesen haben und noch nicht von gesichertem Wissen. Erst die Integration der kontinuierlichen kritischen Ref lexion dieser Konstruiertheit ins Vorgehen schafft einen verlässlichen organisatorischen Rahmen für die umsichtige wie vorläufige Bewertung der Analyseergebnisse. So können vorläufige Ergebnisse einer Datenanalyse durch komplementäre Vorgehensweisen, zum Beispiel in einem Methodenmix (vgl. Halcomb 2019; Frels/Frels/Onwuegbuzie 2011), weiter abgesichert und mit bekanntem Hintergrundwissen abgeglichen werden. Zudem müssen alle bekannten Elemente der soziotechnischen Konstruiertheit der Daten offengelegt werden. Selbst wenn sich dadurch die Aussagekraft der Daten nicht steigern lässt, ist

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damit zumindest ersichtlich, in welcher Richtung die vorläufigen Erkenntnisse im nächsten Schritt zusätzlich abgesichert werden müssen. Im Folgenden stellen wir die Methode der explorativen räumlichen Datenanalyse vor und machen Vorschläge für ihre Integration in einen Arbeitsablauf, der kritische Haltepunkte im Analyseprozess vorsieht und es ermöglicht, die vorläufigen Ergebnisse wiederholt und systematisch zu hinterfragen. Dabei werden wir exemplarisch die Muster der COVID-19-Inzidenz in Brasilien und ihre Beziehungen zu den auf der Volkszählung basierenden sozioökonomischen Indikatoren untersuchen und analysieren.

Explorative räumliche Datenanalyse Wie einleitend dargestellt, steht im Zentrum der explorativen räumlichen Datenanalyse die Hypothesenbildung. Abbildung 2 zeigt ein Modell des iterativen Prozesses, in dem durch die wiederholte Abfolge bestimmter Schritte ein räumlich mediiertes Verständnis für Strukturen und Muster in den Daten aufgebaut, kontextualisiert und anschließend problematisiert wird. Am Ende des Prozesses stehen stichhaltige Hypothesen, die im weiteren Forschungsprozess genauer untersucht werden können. Die einzelnen Phasen werden nun anhand des Beispiels eingehender erläutert. Abbildung 2: Das iterative Vorgehensmodell explorativer räumlicher Datenanalyse

Quelle: Eigene Darstellung

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Einen ersten wichtigen Schritt für eine kontextualisierte Analyse stellt ein Überblick über das bekannte Hintergrundwissen dar. Schritt 1: Kontextualisierung und Problemdarstellung Checkliste: Dynamik des beobachteten Phänomens zum Zeitpunkt der Messung beschreiben Hintergrundwissen zu möglichen Einflussfaktoren sammeln Rolle und Intention des Akteurs bzw. der Akteurin beschreiben, der*die die Daten bereitstellt

Diese Arbeit verwendet eine weit gefasste Definition von Kontextualisierung, die sich mit heuristischen subjektiven Praktiken der Forschenden befasst, durch die eine Vielzahl von Daten-, Informations- und Wissensströmen zusammengeführt werden. Dies dient dem Zweck, sich mit Aspekten und Dimensionen des Untersuchungsgebiets und des Forschungsproblems vertraut zu machen, die nicht direkt im Datensatz repräsentiert sind. Zum Beispiel werden die Forschenden ermutigt, sich vor und während des quantitativ-analytischen Prozesses mit den sozialen, politischen und historischen Hintergründen, der gebauten Umwelt und den diskursiven Konstruktionen des Forschungsthemas vertraut zu machen. Dieser Ansatz akzeptiert und involviert die Subjektivität der Forschenden und unterstreicht die Notwendigkeit einer kritischen Ref lexion über ihre Positionalität während der gesamten Untersuchung. Der erste COVID-19-Fall in Brasilien wurde Mitte Februar 2020 verzeichnet, bis Mitte Juni gab es über eine Million gemeldeter Fälle. Zum Zeitpunkt der Erhebung der vorliegenden Daten wurden über 8,4 Millionen Fälle und über 215.000 Todesfälle verzeichnet, die direkt auf COVID-19 zurückzuführen sind. Die Bemühungen zur Eindämmung des Virus und seiner Auswirkungen konzentrierten sich weitgehend auf social distancing, Einschränkungen der Alltagsmobilität und Hygienemaßnahmen. Besonders stark von der Pandemie betroffen sind in dem Schwellenland sozioökonomisch benachteiligte Teile der Gesellschaft, und dies bei gleichzeitig erheblichen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und strukturellen Auswirkungen. Ein Großteil der öffentlichen Berichterstattung hat sich auf die offensichtliche sozioökonomische Kluft und die daraus resultierende Verwundbarkeit für COVID-19 konzentriert, infolge derer Brasiliens sozioökonomisch benachteiligte Teile der Gesellschaft besonders stark von der Pandemie betroffen sind. Die am stärksten benachteiligten Bewohner Brasiliens leben oft in stark verdichteten Vierteln mit schlechtem Zugang zu f ließendem Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Dies erhöht sowohl ihre Exposition wie auch ihre Vulnerabilität gegenüber einer Infektion. Im Folgenden wollen wir diese Aspekte der Pandemie mithilfe von explorativen Datenanalysen weiter untersuchen.

Geodaten quantitativ, aber kritisch analysieren Schritt 2: Data Wrangling Checkliste: Datenquellen recherchieren, ggf. Metadaten vergleichen Daten heuristisch prüfen, unplausible Werte ausschließen Formatieren, ggf. geocodieren

Der Prozess des Data Wrangling zielt im Wesentlichen darauf, geeignete Quellen auf kontextspezifische Faktoren hin zu prüfen, die die Eignung der Daten für die Analyse beeinf lussen können, zum Beispiel ihre Eignung im Hinblick auf den Forschungskontext, auf die Vertrauenswürdigkeit der Datenerhebung und des Datenanbieters sowie die Bewertung fehlender und/oder fehlerhafter Werte. Die Art und Weise, wie mit fehlenden und/oder fehlerhaften Werten umgegangen wird, sollte sorgfältig geprüft werden (z.B. Interpolation oder Entfernung). Falls erforderlich, müssen die Daten auf der Grundlage eines geeigneten räumlichen Bezugs, beispielsweise der Adresse oder Postleitzahl, geokodiert werden. Ebenso entscheidend ist eine manuelle Auswertung des Datensatzes nach der Auf bereitungsphase. Die COVID-19-Inzidenzdaten umfassen vom Zeitpunkt der ersten Meldung am 25.02.2020 bis einschließlich 20.01.2021 jeden neuen bestätigten Fall von COVID-19 (N=8.450.501 zum Zeitpunkt dieses Beispiels), der auf Gemeindeebene (N=5567) gemeldet wurde. Die Inzidenzdaten beinhalten das Datum der Meldung, die kumulative Anzahl der bestätigten Fälle und Todesfälle sowie die kumulative Inzidenz- und Sterberate pro 100.000 Einwohner*innen. Die sozioökonomischen Daten für jede Gemeinde in Brasilien in der jüngsten nationalen Volkszählung (N=5567 im Jahr 2010) wurden vom brasilianischen Bundesinstitut für Statistik und Geographie erhoben, der für die alle zehn Jahre stattfindende Volkszählung zuständigen nationalen Institution. Zahlen zum HDI (Human Development Index) und die sozioökonomischen Indexdaten von GeoSES stammen aus Barrozo et al. (2020). Die Variablen, die für dieses Fallbeispiel von Interesse sind, sind die HDI-Variablen Bildung, Lebenserwartung und Einkommen sowie die GeoSES-Variablen Bildung, Armut, sozioökonomische Verwundbarkeit, Segregation, Mobilität, Vermögen und Einkommen sowie zusätzlich der Anteil der städtischen/ländlichen Bevölkerung, der Anteil der Haushalte ohne Wasserversorgung in Innenräumen und die Bevölkerungsdichte. Alle Datensätze wurden zunächst heuristisch auf unplausible oder ungewöhnliche Werte oder räumliche Ausprägungen geprüft und über das Schlüsselattribut Gemeindenummer zusammengeführt. COVID-19-Daten fehlten für vier ländliche Gemeinden, die ausgeschlossen wurden, was zu 5563 Gemeinden mit vollständigen Daten führte. Schritt 3: Exploration des Datensatzes Checkliste: Selektiv visualisieren und Hypothesen generieren Daten in verschiedenen Maßstäben visualisieren Unterschiedliche Datenklassifizierungen, ggf. Repräsentationsarten vergleichen

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Im nächsten Schritt wurden in einem Geoinformationssystem Ausreißer auf einer Karte identifiziert und die räumliche Verteilung ausgewählter Daten wurde unter anderem mit einem Streudiagramm oder Boxplot visualisiert. Durch das interaktive Hervorheben bestimmter Regionen oder Datensätze machen sich Analyst*innen in einem dynamischen Prozess mit den Daten vertraut, explorieren Besonderheiten und generieren erste Hypothesen über Abhängigkeiten. Die Hypothesen beruhen dabei zunächst auf Assoziationen, die auf individuellem Vorwissen über die visualisierten Raumausschnitte in ihrer jeweiligen diskursiven Einbettung basieren (Lefebvre/Nicholson-Smith 1991 bzw. Bourdieu 1991). So ist beispielsweise in Abbildung 3 zu sehen, dass viele der administrativen Einheiten mit den höchsten Inzidenzraten im Amazonasgebiet und in den angrenzenden Regionen Brasiliens konzentriert sind. Analyst*innen können so Hypothesen entwickeln, die auf regionalem Vorwissen über diese Regionen beruhen, zum Beispiel dass die COVID-19-Raten mit der geographischen Isolation oder mit fehlender Infrastruktur zusammenhängen könnten. Diese Hypothese basiert noch rein auf dem Vorwissen der Analyst*innen über diese Teilräume, ist abhängig von einer großen Anzahl von Annahmen und Unsicherheiten und spiegelt möglicherweise nicht die tatsächliche Situation vor Ort wider. Abbildung 3: Dynamische Kovisualisierung von Gemeinden (~ Landkreisen) mit Inzidenzraten >15.000/100.000 Einwohner

Quelle: Eigene Darstellung

Geodaten quantitativ, aber kritisch analysieren Schritt 4: Exploration der geodätischen/räumlichen Struktur Checkliste: Distanzabhängig clustern Nachbarschaftscluster erstellen Korrelogramm/Semivariogramm erstellen

Von besonderem Interesse in der Praxis der räumlichen Epidemiologie bzw. medizinischen Geographie ist die Frage nach der räumlichen Clusterung. Größe und Lage von distanzbasierten Clustern können Hinweise auf zugrunde liegende, gegebenenfalls noch unbekannte geographisch mediierte Einf lussfaktoren liefern und Bereiche von besonderem Interesse hervorheben. Mithilfe eines räumlichen Korrelationsdiagramms (genauer: Semivariogramms) kann beurteilt werden, ob Beobachtungen räumlich geclustert oder eher zufällig verteilt sind. Die Reichweite (Skala) der Clusterbildung ist dabei zu Vergleichszwecken datengetrieben oder heuristisch konfigurierbar (durch Berücksichtigung des Kontextes des Forschungsproblems, z.B. der räumlichen Erreichbarkeit von großen städtischen Zentren). Durch die Identifizierung der verschiedenen Skalen der Clusterbildung können Analyst*innen kognitive Ankerregionen auf der Karte ermitteln, die verschiedenen Prozessbereichen für Erkrankung, Ausbreitung, Eindämmung, Behandlung usw. entsprechen, und dadurch neue vorläufige Hypothesen formulieren. Sobald ein Verständnis für das distanzabhängige Verhalten räumlicher Autokorrelation entwickelt worden ist, kann eine explorative Clusteranalyse durchgeführt werden, bei der die Lage von Clustern mit hohen oder niedrigen Raten mithilfe eines geostatischen Modells identifiziert werden kann (häufig mittels Local Moran’s I, vgl. Ehlers/Schiewe 2012). Dieses Verfahren wird durch die Definition eines räumlichen Abstandsmaßes parametrisiert. Da die administrativen Einheiten, die zur Darstellung dieser Daten verwendet werden, in ihrer Größe und Erstreckung jedoch stark variieren, kann eine topologische Funktion zur Identifikation angrenzender Gemeinden (Kontiguität) eine geeignetere Definition liefern als ein rein heuristisch gesetztes abstandsbasiertes Maß. Dabei wird angenommen, dass die Raten innerhalb eines bestimmten Gebiets zu den Raten der angrenzenden Gebiete oder der x nächstgelegenen Gebiete in Beziehung stehen. Zu Vergleichszwecken verwenden wir vier Clusterdefinitionen: Kontiguität, einen 50-km-Radius (mit die stärkste in Abb. 4 beobachtete Clusterbildung), einen 500-km-Radius (fast keine Clusterbildung, d.h. Nullwert in Abb. 4) und eine Parametrisierung, bei der der räumliche Fokus auf die zehn nächstgelegenen Gebiete einer bestimmten Gemeinde beschränkt ist. Die Berechnung von Clustern unter unterschiedlichen Parametrisierungen ermöglicht es, die Sensitivität der Methode als solcher zu beurteilen und eine begründete Entscheidung für die Wahl der Parametrisierung zu treffen. Bei der Betrachtung der Ergebnisse fällt zunächst auf, dass die vier verschiedenen Parametrisierungen von Moran’s I bei visueller Beurteilung sehr unterschiedliche räumliche Verteilungen ergeben. Die Clustering-Algorithmen reagieren sehr empfindlich auf die Definition der räumlichen Beziehung zwischen den Einheiten, was die Notwendigkeit einer solchen Sensitivitätsanalyse unterstreicht. Die Cluster variieren auch in Größe und Form und weisen regionale Unterschiede auf, sodass die hohen Raten im Amazonasgebiet, entlang der Ostküste und im Süden konzentriert zu sein

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Dominik Kremer, Blake Byron Walker

Abbildung 4: Die Ergebnisse der Clusteranalysen variieren je nach verwendeter Parametrisierung. Die vergleichende Visualisierung hilf t beim Abschätzen verborgener räumlich mediierter Ef fekte.

Quelle: Eigene Darstellung

scheinen. Um diese Muster weiter zu erforschen, können Analyst*innen nun damit beginnen, mithilfe von Regressionstechniken auf den Zusammenhang mit potenziellen Kovariaten zu testen1.

1 Regressionsanalysen untersuchen, ob für ein beobachtetes Phänomen Messvariablen identifiziert werden können, die die direkt beobachtete Varianz des Phänomens vorhersehbar machen. Kovariaten sind Variablen, die eine ähnliche Varianz zu der des beobachteten Phänomens aufweisen und daher möglicherweise zu diesem in einer kausalen Abhängigkeit stehen; vgl. https://dictionary.apa.org/regression-analysis (14.05.2021).

Geodaten quantitativ, aber kritisch analysieren Schritt 5: Korrelationsanalyse Checkliste: Streudiagramme erstellen Bivariate und multivariate Regressionen durchführen Residuen kartieren

Nach der vergleichenden Untersuchung der räumlichen Verteilung von Clustereffekten ziehen Analyst*innen die a priori getroffenen Assoziationen (vgl. Schritt 3) über die Gebiete mit hoch- und niedriggradigen Clustern heran. Basierend auf dieser Heuristik kann getestet werden, ob und inwieweit zum Beispiel der Human Development Index (HDI) die räumliche Verteilung der COVID-19-Inzidenzraten im Untersuchungsgebiet teilweise erklärt. Ähnlich wie bei der explorativen räumlichen Datenanalyse können explorative Streudiagramme verwendet werden, in denen interessante Variablen als xbzw. y-Koordinate dargestellt und auf Muster bzw. partielle Abhängigkeit untersucht werden. In Abbildung 5 ist die Korrelation zwischen dem HDI und der COVID-19-Inzidenzrate signifikant positiv (blaue Linie, p