Demokratie versuchen: Die Verfassung in der politischen Kultur der Weimarer Republik [1 ed.] 9783666311291, 9783525311295

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Demokratie versuchen: Die Verfassung in der politischen Kultur der Weimarer Republik [1 ed.]
 9783666311291, 9783525311295

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Dirk Schumann / Christoph Gusy / Walter Mühlhausen (Hg.)

Demokratie versuchen Die Verfassung in der politischen Kultur der Weimarer Republik

Schriften der Stiftung ReichspräsidentFriedrich-EbertGedenkstätte Band 18

Dirk Schumann / Christoph Gusy /  Walter Mühlhausen (Hg.)

Demokratie versuchen Die Verfassung in der politischen Kultur der Weimarer Republik

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Stiftung wird gefördert aus dem Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM).

Mit 16 Abbildungen und einer Tabelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2190-1961 ISBN 978-3-666-31129-1

Inhalt Dirk Schumann / Christoph Gusy / Walter Mühlhausen Eine Entwicklung mit offenem Ausgang? Die Verfassung der Weimarer Republik im »Laboratorium der Moderne« ...........................9

Entstehungsumstände Andreas Wirsching Zeiterwartung und Verfassungsschöpfung in Deutschland 1919 ................33 Hélène Miard-Delacroix Der verfassungspolitische Weg aus dem Krieg. Politische Kultur in ­Deutschland und Frankreich im Vergleich ............................................................52 Marcus M. Payk »Unterschieden, aber nicht getrennt«. Zum Zusammenhang von Weimarer Reichs­verfassung und Versailler Vertrag ...........................................66 Christoph Gusy Verfassunggebung in den Ländern – Politische Kultur zwischen ­demokratischem Aufbruch und regionalen Traditionen ................................87 Dietmar Müller Verfassunggebung und Staatlichkeit im östlichen Europa der ­Zwischen­kriegszeit ..........................................................................................................107

Akteure Walter Mühlhausen Friedrich Ebert und die Prägung des präsidialen Verfassungsrechts ..........137 Wolfram Pyta Hindenburgs Verfassungsverständnis. Politik- und kulturhistorische ­Betrachtungen zu Rezeption von Verfassungstext und Verfassungsgeist .159

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Inhalt

Anthony McElligott Der Landrat Herbert von Bismarck und die Weimarer Republik: ­Verfassungskultur und Gegenkultur ........................................................................184

Symbolische Praktiken Nadine Rossol »Ein Hoch auf die Republik!« Die Feiern des Verfassungstages in der ­Weimarer Republik..........................................................................................................203 Andreas Biefang Von der Schwierigkeit, ein »Volk« zu repräsentieren. Zur symbolischen Macht des Weimarer Reichstags ...............................................................................225

Handlungsfelder Kirsten Heinsohn Verfassungsauftrag und politische Kultur. Diskussionen und Initiativen zur Gleich­berechtigung von Frauen und Männern ...........................................259 Gerd Bender Inklusive Arbeitspolitik – Strukturen der kollektiven Arbeitsverfassung .274

Diskursthemen Marcus Llanque Die politische Kultur des Kompromisses in der Weimarer Republik .........297 Kathrin Groh Zur Problematik des Volkswillens. Einige Aspekte der Parlamentarismus­kritik .................................................................................................323 Almut Neumann Demokratischer Föderalismus als Herausforderung und Chance der ­Weimarer Verfassung .....................................................................................................342

Inhalt

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Synthesen Alexander Gallus ›Verfassungskultur‹ in der Weimarer Republik. Über den schwierigen Ort einer Konstitution im Kontext mit Option zur Erfolgsgeschichte ......361 Anna-Bettina Kaiser Integration durch Verfassungsrecht? Die Weimarer Verfassungskultur auf dem Prüfstand...........................................................................................................374

Anhang Abkürzungen ....................................................................................................................382 Personenregister ..............................................................................................................383 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .............................................................388

Dirk Schumann / Christoph Gusy / Walter Mühlhausen

Eine Entwicklung mit offenem Ausgang? Die Verfassung der Weimarer Republik im »Laboratorium der Moderne«

I. Im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik bildete sich ein Konsens darüber heraus, dass die Weimarer Republik als Gegenmodell zum neuen Demokratieversuch in Westdeutschland zu verstehen sei. »Bonn ist nicht Weimar« – so fasste der Schweizer Journalist Fritz René Allemann diese Sichtweise 1956 prägnant zusammen, als Feststellung wie als Mahnung.1 Die historische Forschung blieb gleichfalls lange Zeit einem im Kern düsteren Bild der Weimarer Republik verhaftet, die sie primär als Vorgeschichte der nationalsozialistischen Herrschaft in den Blick nahm. Welche Rolle der Weimarer Verfassung in dieser auf die Katastrophe zusteuernden Entwicklung zukam, war allerdings keineswegs eindeutig. Ursula Büttner hob in ihrer Gesamtdarstellung 2008 die vornehmlich kritische Perspektive der Forschung hervor, in der die Verfassung als zu wenig Akzeptanz findender Kompromiss im Gefolge einer nur bedingt gelungenen Revolution zu deuten sei.2 In diesem Rahmen verwies sie auch auf das Mitte der 1950er Jahre von Karl Dietrich Bracher erstmals vorgetragene Argument von dem in der Verfassung angelegten »Dualismus zwischen Staatsoberhaupt und Parla-

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Sebastian Ullrich: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009, S. 413–420, das Zitat S. 413; der 1956 erschienene Band von Allemann in Neuauflage als: Fritz René Allemann: Bonn ist nicht Weimar. Hg. von Xenia von Bahder, Frankfurt a. M. 2000. Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, S. 112–120, die Wertung auf S. 120. Vgl. auch Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, München 8 2013, S. 179–185.

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ment«,3 der den Zwang zur parlamentarischen Verständigung verringert und im Krisenfall bei weiter Auslegung der präsidialen Vollmachten die Demokratie nicht stabilisiert, sondern unterminiert habe. 4 Diese auf den Verfassungstext und seine Auslegung fokussierte Verfassungskritik war freilich auf Widerspruch gestoßen. So bestritt der Bonner Staatsrechtler (und Bundesverfassungsrichter) Ernst Friesenhahn gegen Bracher eine derart prädeterminierende Wirkung der Weimarer Verfassung und sah die Hauptursache für den Untergang der Republik in der mangelnden Kompromissfähigkeit der Parteien und der zu geringen Unterstützung in der Bevölkerung, ohne wiederum deren Gründe zu untersuchen.5 Dem strukturbezogenen Argument setzte er ein auf politische Mentalitäten bezogenes entgegen. Friesenhahn verwies außerdem darauf, dass die Weimarer Verfassung an ausländischen Vorbildern orientiert gewesen sei. Eine solche Perspektive, die ihre europäische Vergleichbarkeit unterstreicht, wird nun wiederum in jüngster Zeit in der Forschung eingenommen, ohne dass dies mit ähnlicher Schelte von Parteien und Bevölkerung in Deutschland verbunden würde.6 Aus den Bestimmungen der Weimarer Verfassung weitreichende Schlüsse über ihre Wirkung ziehen zu wollen, erscheint daher mittlerweile wenig erkenntnisträchtig. Stattdessen rückt der Umgang mit ihr in den Fokus, freilich nicht allein in Form konkreter politischer Handlungen, sondern auch einrahmender Einstellungen und Befindlichkeiten kognitiver wie emotionaler Art. Etwas anders gewendet: Es geht um den Ort der Verfassung in der politischen Kultur der Weimarer Republik. Nahegelegt wird ein solcher, tendenziell die

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Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Düsseldorf 61980, S. 43. Eine konzise Fassung des Arguments liefert Karl Dietrich Bracher: Demokratie und Machtvakuum: zum Problem des Parteienstaats in der Auflösung der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, S. 109–134, hier S. 117. Ernst Friesenhahn: Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Erdmann/Schulze (Hg.), Weimar [wie Anm. 4], S. 81–108; vgl. auch die Diskussion zu beiden Referaten in: ebd., S. 135–149. In den 1950er Jahren konnte man Bracher und seinen Kontrahenten durchaus unterschiedliche politische Grundhaltungen zuschreiben, die klare Positionierung zugunsten westlicher Demokratien auf der einen und eine noch ausgeprägte Distanz zu Parteien und parlamentarischer Demokratie auf der anderen Seite; vgl. dazu Ullrich, Weimar-Komplex [wie Anm. 1], S. 583–604. Friesenhahn, Legitimation [wie Anm. 5], S. 83 f.; Steffen Kailitz (Hg.): Nach dem »Großen Krieg«. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1933, Göttingen 2017; Tim B. Müller/Adam Tooze (Hg.): Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015.

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Offenheit und Fluidität der historischen Situation betonender Zugriff auch dadurch, dass die neuere Weimar-Forschung ihren Gegenstand nicht mehr primär als Vorgeschichte des Nationalsozialismus, sondern als Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs und der ihm vorausgehenden Herausbildung der modernen Lebenswelt im wilhelminischen Kaiserreich konzipiert. So liegt es dann nahe, wie dies kürzlich gefordert wurde, die Krisen der Weimarer Republik und ihre Verfassung erst einmal analytisch voneinander zu trennen und auf dieser Grundlage nach wechselseitigen Einflüssen zu fragen, ohne eine vorbestimmte Entwicklungslinie zu unterstellen.7 Aus einer solchen, breiter ansetzenden, von einer grundsätzlichen offenen historischen Situation ausgehenden Perspektive die Genese und Wirkung der Weimarer Verfassung im Kontext der politischen Kultur zu untersuchen, ist Ziel der Beiträge dieses Bandes. Dazu ist es zunächst erforderlich, sich von einer auf die unmittelbaren Entstehungsumstände der Verfassung in Kriegsniederlage und Revolution verengten Sichtweise zu lösen und die Vorkriegszeit mit in den Blick zu nehmen. In allen Industriestaaten zeigten sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Konturen der »Moderne«, doch wies dieser Prozess in Deutschland eine besondere Dynamik auf. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war dessen Bevölkerung um mehr als die Hälfte seit der Reichsgründung gewachsen, mit Folgen insbesondere für die Großstädte, in denen 1914 nunmehr zwanzig Prozent der Deutschen wohnten, gegenüber nur fünf Prozent im Jahrzehnt der Reichsgründung. Die deutsche Gesellschaft war nun fast zur Hälfte eine Gesellschaft der Jugend, der Unter-Zwanzigjährigen; die meisten Binnenwanderer in die Städte waren jünger als 30 Jahre, zudem vor allem männlich und ledig – und sie waren Arbeiter. Deutschland hatte zudem um 1900 gemessen an seiner Wertschöpfung und seiner Beschäftigtenverteilung die Schwelle zum Industriestaat überschritten. Diese Entwicklungen führten zu leidenschaftlichen Debatten über das Verhältnis der sich entfaltenden urbanen, von neuen Medien mitgeprägten zur engen, aber auch Geborgenheit und urtümliche Kraft ausstrahlenden ländlichen Lebenswelt. So zeigte die wilhelminische Gesellschaft ein Doppelgesicht: Auf der einen Seite standen große Hoffnungen auf die Kraft

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So die Forderung von Oliver F. R. Haardt/Christopher M. Clark: Die Weimarer Reichsverfassung als Moment der Geschichte, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 9–44, hier S. 13. Dabei ist freilich der Begriff der »Krise« genau zu definieren, weil er selbst Teil des politischen Diskurses in Weimarer Republik wurde; vgl. dazu Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008.

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der Jugend und den technisch-industriellen Fortschritt, auf der anderen tiefe Ängste vor Kontrollverlust und Entwurzelung.8 Wer in der Weimarer Republik politische Verantwortung trug, hatte diese profunden Veränderungen und die Debatten um sie bewusst miterlebt.9 Die besonderen Herausforderungen des Ersten Weltkriegs lösten die Unsicherheit, wie sich Staat und Gesellschaft entwickeln sollten, keineswegs auf, sondern spitzten sie weiter zu. Dieser erste fast »totale« Krieg hinterließ eine bis dahin ungekannt hohe Zahl von Opfern – auf deutscher Seite nahezu 2 Millionen Gefallene, 1 Million Kriegerwitwen und 600.000 Waisen sowie 1,4 Millionen Kriegsversehrte. Wie man der Gefallenen angemessen gedenken und welchen Sinn man ihrem Opfer verleihen solle, blieb bis zum Ende der Weimarer Republik eine unbewältigte und scharfe Konflikte provozierende Herausforderung. Dies lag auch daran, dass viele Deutsche die Akzeptanz der Niederlage verweigerten. Umstritten war zudem, welche Versorgung der Kriegsversehrten und Hinterbliebenen als angemessen gelten konnte. Darüber hinaus mobilisierte der Krieg neben den Soldaten die Menschen an der »Heimatfront« in umfassender Weise. Frauen nahmen Arbeitsplätze der Männer in der Kriegsindustrie ein, Schulkinder waren mit patriotischer Propaganda konfrontiert und mussten sich an Sammelaktionen beteiligen. Die staatliche Lenkung der Kriegswirtschaft gab Anlass, über eine neue Ordnung der Wirtschaft auch nach dem Krieg nachzudenken.10 All diese ebenso neuartigen wie kaum jemand unberührt lassenden Erfahrungen wirkten auf die politischen Debatten und Handlungen der Nachkriegszeit ein, nicht nur in

  8 Als Gesamtdarstellungen der Entwicklung des Kaiserreichs weiterhin zentral sind Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, 2 Bde., München 1990/1992; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München 1995; vgl. aus jüngerer Zeit Geoff Eley/Jennifer Jenkins/Tracie L. Matysik (Hg.): German Modernities from Wilhelm to Weimar. A Contest of Futures, London 2016.   9 Vgl. dazu etwa Bernd Braun: Die »Generation Ebert«, in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 69–85. 10 In die Kriegserfahrungen und Herausforderungen der Nachkriegszeit führen ein Oliver Janz: 14 – Der Große Krieg, Frankfurt a. M. 2013; Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2013; Dirk Schumann: Post-war ­Societies (Germany), in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel et al., issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2014–10-08. DOI: 10.15463/ie1418.10354. Last modified: 2014–10-05. http://ency­ clopedia.1914–1918-online.net/article/post-war_societies_germany; in transnationaler Perspektive Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 22014.

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deren ersten Jahren. Deutschland blieb, wie dies Richard Bessel formuliert hat, bis zum Ende der Weimarer Republik (und in mancher Hinsicht darüber hinaus) eine »Nachkriegsgesellschaft«, die sich nicht von den Erbschaften des Krieges lösen konnte.11 Hinzu kam, dass die Revolution im November 1918 vor dem Hintergrund der russischen Oktoberrevolution im Jahr zuvor weitere Ängste und Unsicherheiten, aber auch neue Zukunftshoffnungen auslöste. Hier ist nicht der Ort, die Forschungsdiskussion über die vermeintlich oder tatsächlich »steckengebliebene« oder gar »gescheiterte« Revolution Revue passieren zu lassen. Es mag genügen darauf hinzuweisen, dass die jüngsten Gesamtdarstellungen der Revolutionszeit 1918/19 sich solch zugespitzter Wertung zumeist enthalten und insgesamt ein abgewogenes Bild zeichnen, das die zukunftsweisenden Elemente der Revolution (zu denen auch die Verfassung gehört) ebenso hervorhebt wie die problematischen, nicht zuletzt die exzessive Gewaltanwendung gegen die radikale Linke. Als weiterer Unsicherheitsfaktor der Nachkriegsjahre trat die kriegsbedingte Inflation hinzu, die zunächst die Reintegration der demobilisierten Soldaten in den Arbeitsprozess erleichterte, dann aber seit 1922 außer Kontrolle geriet und in der Hyperinflation und von ihr mitbedingten tiefen Staatskrise 1923 kulminierte.12

11 Richard Bessel: Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 283 (»Germany […] remained a post-war society«). 12 Robert Gerwarth: Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit. Aus dem Englischen von Alexander Weber, München 2018; Wolfgang Niess: Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin u. a. O. 2017; Joachim Käppner: 1918 – Aufstand für die Freiheit: die Revolution der Besonnenen, München 2017; Lars-Broder Keil/Sven Felix Kellerhoff: Lob der Revolution. Die Geburt der Demokratie in Deutschland, Darmstadt 2018; in transnationaler Perspektive wiederum Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018; die Ausnahme bildet Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Berlin 2017, dessen (vor allem in der deutschen Fassung des Werks) sehr zugespitzte Thesen allerdings eine kontroverse Bewertung erfahren haben. Vgl. die abgewogene Gesamtbilanz von Alexander Gallus: Zum historischen Ort der deutschen Revolution von 1918/19 – ein Wendepunkt in der Gewaltgeschichte?, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 31 (2019), S. 13–39. Ein wichtiger jüngerer Beitrag zur Debatte ist Andreas Braune/Michael Dreyer (Hg.): Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort, Stuttgart 2019; zum Zusammenhang zwischen Revolution und Verfassung vgl. Christoph Gusy: Die verdrängte Revolution, in: Recht und Politik. Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik 54 (2018), S. 135–158.

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In seiner weiterhin anregenden Geschichte der Weimarer Republik hat Detlev Peukert diese 1987 als »Experiment der Moderne« charakterisiert, das ausgehend von einer »Grunderfahrung der Unsicherheit« unternommen wurde.13 In der angelsächsischen Forschung ist zudem der Begriff des »Laboratoriums der Moderne« geprägt worden, um die Gemengelage von Maßnahmen kurzfristiger Krisenbewältigung und längerfristig angelegten Versuchen gesellschaftlicher Neuordnung mit ihren traditionsbezogenen wie dezidiert zukunftsgerichteten Aspekten auf einen Nenner zu bringen, angesichts einer nicht mehr gegebenen Meistererzählung der Geschichte der ersten deutschen Demokratie.14 Zwar sollte, wie Ursula Büttner angemerkt hat, der Laboratoriumscharakter Weimars mit Blick insbesondere auf die Orientierung der Republikanhänger an bereits vorhandenen Vorstellungen einer liberal-parlamentarischen Demokratie nicht überschätzt werden.15 Doch insgesamt scheint die Formel vom »Laboratorium der Moderne« gut geeignet, die Gesamtheit der Herausforderungen, denen sich die Republik gegenübersah, und ihre darauf gegebenen Antworten auf den Punkt zu bringen. Um die daraus erwachsenden Handlungen ebenso wie die sie fundierenden mentalen Dispositionen und die damit verbundenen Repräsentationsweisen zu erfassen, erscheint das Konzept der »politischen Kultur« am besten geeignet. In den 1990er Jahren hat Karl Rohe bereits wichtige Beiträge zur Erweiterung dieses aus der Politikwissenschaft stammenden, zunächst auf abfragbare Ensembles von »Einstellungen« konzentrierten Ansatzes geleistet und sie für die historische Analyse tauglich gemacht, indem er zwischen einer »Sozialkultur«, die sich etwa in Festpraktiken manifestierte, und einer »Deutungskultur« der Selbstreflexion im Ortsverein wie im Intellektuellenzirkel unterschied.16 Zwar ist die damit gegebene Flexibilität des Zugriffs auch als mangelnde Trenn13 Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 266 f. 14 Anton Kaes/Martin Jay/Edward Dimendberg (Hg.): The Weimar Republic Sourcebook, Berkeley/Los Angeles/London 1994, S. XVII, wählen die Formulierung »laboratory for modernity«; Peter Fritzsche: Did Weimar Fail? (Review Article), in: Journal of Modern History 68 (1996), S. 629–656, hier S. 631, erkennt ein »laboratory of ›classical modernity‹«, in direkter Anknüpfung an Peukert. 15 Ursula Büttner: Ausgeforscht? Die Weimarer Republik als Gegenstand historischer Forschung, in: Weimarer Republik. Aus Politik und Zeitgeschichte 68, 18–20 (2018), S. 19–26, hier S. 24. 16 Karl Rohe: Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit – Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung Politischer Kulturforschung, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.): Politische Kultur in Deutschland: Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, S. 39–48;

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schärfe kritisiert worden,17 doch hat das Konzept in der Geschichtswissenschaft mittlerweile weitere neue Facetten gewonnen, insbesondere in Wolfgang Hardtwigs speziell auf die Weimarer Republik zugeschnittener »politischer Kulturgeschichte«.18 Hardtwig, der die vielfältigen Formen des Umgangs mit der »Erfahrung der Modernität« herausarbeiten will, setzt noch breiter an als Rohe und richtet den Fokus auf »affektive Haltungen, mehr oder weniger bewusste Einstellungen und auch die gedanklichen Konstrukte (›Ideen‹)«, die für Gruppen wie Einzelne relevant waren, sowie die daraus resultierenden »symbolischen Formen von Politik«.19 Auf diese Weise geraten neben emotionalen Elementen der politischen Kultur auch solche in den Blick, die nicht unmittelbar mit Parteien oder anderen politischen Akteursgruppen verbunden sein mussten und nicht unmittelbar auf die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidung abzielten.20 Gerade zur Erfassung der Weimarer Unübersichtlichkeit ist ein solcher Ansatz hilfreich, so schwierig es angesichts einer weiten Definition des Politischen sein mag, dafür relevante Sachverhalte von anderen zu unterscheiden.

II. »Verfassungskultur« ist ein schillernder Begriff. Er wird umschrieben sowohl als kulturelle Basis einer neuen bzw. entstehenden Verfassung in einer Gesellschaft wie aber auch als Summe der Einstellungen und Verhaltensweisen der

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ders.: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321–346. Max Kaase: Sinn oder Unsinn des Konzepts »Politische Kultur« für die Vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: ders./Hans Dieter Klingemann (Hg.): Wahlen und Politisches System. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1980, Opladen 1983, S. 144–172. Wolfgang Hardtwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005; ders. (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007. Wolfgang Hardtwig: Einleitung: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, in: ders. (Hg.), Politische Kulturgeschichte [wie Anm. 18], S. 7–22, die Zitate S. 9 f. Hilfreich ist dafür auch das Ersetzen des Politikbegriffs durch den des »Politischen«, der ein kulturhistorisch erweitertes Verständnis von Politik markiert und definiert ist als »Ort, an dem um die Formen menschlichen Zusammenlebens gerungen wird.« Vgl. dazu Tobias Weidner: Die Geschichte des Politischen in der Diskussion, Göttingen 2012, hier insbesondere S. 30–59, das Zitat S. 35.

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Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit einer gegebenen Verfassung.21 In dieser Umschreibung bleibt das Konzept relativ konturenarm. Verfassungen sind im Rang besonders hervorgehobene Teile des Rechts; insoweit ist Verfassungskultur stets auch Emanation der Rechtskultur. Und sie sind das Recht des Politischen; in diesem Sinne ist Verfassungskultur stets auch Teil der politischen Kultur eines Gemeinwesens. Relativ eindeutig ist am ehesten eine andere Trennlinie: Auslegung und Anwendung des gesetzten Rechts ist nicht Teil der Verfassungskultur, seine Erkenntnis ist Rechtswissenschaft bzw. -dogmatik und nicht Kulturwissenschaft. Deren Gegenstand ist insoweit fluide, je nach dem Grad der Verselbständigung des Rechts aus und gegenüber der Politik, der Verfassung gegenüber der sonstigen Rechtsordnung und der Differenzierung von der Rechtswissenschaft als Verfassungsauslegung gegenüber Rechts- und Verfassungstheorie. Manches (wie etwa Rechtsstaat oder Verhältnismäßigkeit), was gegenwärtig als Element der Verfassung gesehen wird, war in Weimar noch Rechtskultur. Sie war und ist nicht zeitlos. So mag wenig überraschen, dass es in der deutschen Rechtswissenschaft bislang kein elaboriertes Konzept von Verfassungskultur gibt. Der Begriff wird eher assoziativ verwendet, bisweilen in die Nähe der Verfassungssoziologie gerückt22 oder als theoretische Alternative zur Staatsrechtslehre beschrieben.23 Er wird herangezogen zur Beschreibung von Kommunikation und Konfliktaustragung als Faktoren gesellschaftlicher Machtverhältnisse24 bzw. als Forum symbolischer Macht und inszenierter Staatlichkeit.25 Es geht um das Vor- und Umfeld von Verfassungen vor und in ihrem Entstehungsprozess sowie um die Rolle der Verfassung in »kulturellen« Diskursen unter und während ihrer Geltung einschließlich der Beschaffung, der Veränderung bzw. dem Entzug 21 Hans Boldt: Weimar: Verfassung ohne Verfassungskultur?, in: Detlef Lehnert (Hg.): Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation, Köln u. a. O. 2014, S. 223. 22 Z. B. bei Rainer Schmidt: Verfassungskultur und Verfassungssoziologie: Politischer und rechtlicher Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2012. 23 Z. B. bei Peter Häberle: Kleine Schriften zur Staatsrechtslehre und Verfassungskultur. Beiträge zur Staatsrechtslehre und Verfassungskultur. Hg. von Wolfgang Graf Vitzthum, Berlin 2002. 24 Werner Daum (Hg.): Kommunikation und Konfliktaustragung: Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin 2010. Interessante historische Einzelstudie bei Bärbel Sunderbrink: Revolutionäre Neuordnung auf Zeit: gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen, Paderborn 2015. 25 Peter Brandt/Arthur Schlegelmilch/Reinhard Wendt (Hg.): Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit: »Verfassungskultur« als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005.

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ihrer politischen Unterstützung. In solchen Diskursen geht es auch um die Verfassung als kulturelles bzw. politisches Argument. Das ist mehr und anderes als Verfassungsgeschichte. Zwar ist das Konzept wohl retrospektiv zur Deutung der Weimarer Republik entwickelt worden. Doch können kulturelle Argumente und Standards weiter reichen und etwa Vergleiche zwischen Zeitstufen anregen, welche dann in intertemporale Vergleiche und manchmal auch in »Lehren« aus der Vergangenheit einmünden können – mit allen ihren Irrtumsmöglichkeiten und Grenzen. In diesem Sinne gibt es neben den spezifischen Verfassungskulturen einzelner vergangener oder gegenwärtiger Verfassungen stets auch Bemühungen um überzeitliche Erkenntnisse. Sie stehen in der Tradition des cultural turn in den Gesellschaftswissenschaften und haben sich gegenüber deren stärker empirisch arbeitenden Teildisziplinen ein Stück weit verselbständigt. Die Erfassung verfassungskultureller Debatten in der Weimarer Republik steht vor einem methodischen Grundproblem: Was ist ihr Gegenstand, also das zugrunde gelegte Konzept von Verfassung? Hier wirkt der damals auf dem Höhepunkt stehende Richtungsstreit fort. War die Verfassung selbst ein geistiges – oder in unserer Terminologie – »kulturelles« Phänomen? Dies würde zurückwirken auf die Relevanz der »geisteswissenschaftlichen« Verfassungskultur: War diese selbst verfassungserzeugend? Wer damals in den Kategorien von »Verfassung und Verfassungsrecht« (Smend) oder »Verfassung und Verfassungsgesetz« (Schmitt) dachte, war auf der Suche nach einer hinter oder über der WRV stehenden Verfassung, deren Existenzform weithin übereinstimmend als »geistige« bezeichnet wurde. Gleichgültig, ob sie als begriffliche Grundlage der WRV (Schmitt) oder als prozesshafter Auftrag oder Ziel von Staat und Recht (Smend) beschrieben wurde: Das war für ihre Urheber mehr und anderes als Anwendung der WRV. Ihre Verfassungskonzepte standen demnach notwendig in einer mehr oder weniger großen Distanz von dem geschriebenen Weimarer Normenwerk. Sie fokussierten sich auf den Grad der Verwirklichung von Verfassungsvoraussetzungen oder -zielen in der Republik. So reichten sie über das geschriebene Recht hinaus und konnten politische, ökonomische, soziale, philosophische und politische Vorbedingungen und Zustände einbeziehen. Es ging stets auch um die Verfassung als Zustand des Gemeinwesens und der Republik, also einen materiellen Verfassungsbegriff. Ein solches Denken von Staat und Politik her gelangte zu einem Begriff der Verfassung als geistiges bzw. geisteswissenschaftliches Konstrukt, zu einem geistig-materiellen Verfassungsbegriff als Selbstverständnis und Selbstdeutung eines Gemeinwesens. Er war notwendig dynamisch. Seine kultur- bzw. geisteswissenschaftliche Deutung ermöglichte je nach Standpunkt der Autoren Beschreibungen oder jedenfalls Deutungen,

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welche die WRV als Verfassungsrecht legitimieren oder delegitimieren, stärken oder schwächen, ausbauen oder überwinden konnten und sollten. Die Verfassungskultur war insoweit gegenüber der WRV offen, die WRV spielte in ihrer Herleitung eine teils bedeutendere, teils eine weniger bedeutende Rolle; und diese konnte eine positive oder eine negative sein. Ein solches Konzept der Verfassungskultur war notwendigerweise offen für die Einbeziehung des Zustands der Republik; die Geschichte der Republik und ihre geistige Verfassung waren nicht nur untrennbar miteinander verknüpft, sondern geradezu auseinander ableitbar. Die Relevanz der WRV für ein derartiges Denken reduzierte sich so im Wesentlichen auf eine Kontrastfolie und ermöglichte zwei Feststellungen: Diese habe keine integrative Funktion entfaltet, und sie habe den Untergang der Republik nicht verhindern können – darin unterschied sie sich ersichtlich nicht von allen anderen staatlichen, gesellschaftlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren der Zeit. Die postulierte geistige Verfassung war abhängige Variable des politischen Zustands ihrer Zeit, sie war ein Produkt der politischen Kultur. Aber sie war eine Theorie der Verfassung als solche, nicht eine solche gerade der demokratischen Republik oder gar der WRV. Und daher war sie auch selbst nicht notwendig demokratisch oder republikanisch. Jener Verfassungsbegriff war damals nicht alternativlos. Andere Autoren dachten nicht vom Staat oder von der Politik, sondern vom Recht her.26 Sie gingen von der Identität von Verfassung, Verfassungsrecht und Verfassungsgesetz aus: Die WRV als geltendes Verfassungsrecht war für sie die Verfassung. Als solche war sie politisch entschieden, demokratisch legitimiert und unbestritten die oberste geltende Norm im Staat. Und als solche war sie – wie alles Recht – auch kontrafaktisch. Die Verfassungsberatungen zeigten überdeutlich: Den Abgeordneten in Weimar war sehr wohl bewusst, dass noch nicht alles in Deutschland republikanisch und demokratisch war; dass Festigung und Erneuerung des Reichs nicht allein und vielleicht nicht einmal überwiegend von den Regelungen der WRV abhingen, sondern mindestens ebenso sehr vom Kriegsausgang, von der Niederlage und ihren Folgen, für die der Vertrag von Versailles symbolisch und zukunftsprägend stand. Die Selbstbestimmung des Volkes nach innen und außen musste erst errungen und gesichert werden, ebenso zahlreiche soziale Ziele und Aufträge. Neben der relativen Distanzierung von der Vergangenheit standen so Grundelemente einer offenen Zukunfts26 Dreier/Waldhoff (Hg.), Wagnis [wie Anm. 7]; dies. (Hg.): Weimars Verfassung: Eine Bilanz nach hundert Jahren, Göttingen 2020. Kulturalistischer Ansatz auch bei Udo di Fabio: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern. Eine verfassungshistorische Analyse, München 2018.

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gestaltung in der »Sprache der Verheißung«.27 Das war keine bewusste oder unbewusste Schwäche der Verfassunggebung, sondern Einsicht in die Realität und die begrenzte Reichweite rechtlicher Normen. Die WRV war daher notwendig unvollendet, fragmentarisch und kompromisshaft. Sie entstammte zwar der Zeit des »Traumlands« zwischen Krieg und Frieden, aber sie war kein Produkt von Träumern und Träumen, sondern eher von Realismus und einem manchmal verzweifelt-optimistischen »und dennoch«. Ihre Verheißungen sollten teilweise kontrafaktisch bleiben. Für das Konzept der Verfassungskultur bedeutete dies: Die neue WRV stieß auf eine ältere etablierte politische Kultur aus Monarchie und Kriegszeit, die auch am Kriegsende weder vollständig verschwunden noch aber auch restlos delegitimiert war. Deren Ideen, Träger und Institutionen waren noch da und durch das neue Recht weder verschwunden noch überzeugt. Das Augusterlebnis war Erinnerung, die gespaltene Gesellschaft auch über die Umwälzungen von 1918/19 hinaus Realität. Wer also die WRV: zum Bezugspunkt der politischen Kultur nehmen wollte, musste deren – in Deutschland partiell noch recht neuen – Grundgedanken ausformulieren, konkretisieren und mit der tradierten politischen Kultur konfrontieren. Nach der rechtlichen Setzung ging es um Legitimation, Ausbau und Fortentwicklung der WRV »to bring the Weimar Constitution in«. Verfassungskultur war dann zentral Verfassungsrechtskultur. Deren Aufgabe war nur scheinbar paradox, nämlich von einem eher juristischformellen Konzept des Verfassungsrechts als oberste Norm her zu materiellen Gehalten und Leitideen zu gelangen. Es ging um Ausbuchstabierung und Ausgestaltung von Republik, Demokratie und Grundrechten im Staat, nicht bloß – wie im traditionell rechtsstaatlichen Denken der Staatsrechtslehre des Konstitutionalismus – gegen den Staat. Dieses seit 1919 sog. »republikanische«, ex post auch sog. »demokratische« Verfassungsdenken28 war lediglich eine Teilmenge der politischen Kultur.29

27 Andreas Wirsching: Verfassung und Verfassungskultur im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Christoph Gusy (Hg.): Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2003, S. 371–389, hier S. 385. 28 Aus verfassungshistorischer Perspektive Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010. Multidisziplinäre Anläufe zuvor bei Christoph Gusy (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000. Klassische Darstellung der Gegenseite bei Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 21983. 29 Boldt, Weimar [wie Anm. 21], S. 225, spricht angesichts der gespaltenen Gesellschaft von einer gespaltenen Kultur und von »Teilkulturen«.

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Von hier aus erlangt das Konzept der Verfassungskultur eigenständige Gehalte, aber zugleich seine Grenzen. Seine Prägekraft hing kaum an der rechtlichen Geltung der WRV. Es hing eher davon ab, wie ihre Grundideen verfassungsloyal oder -illoyal entfaltet, in die politische Ideenwelt der Zeit eingebracht und dort gegenüber anderen geistigen Strömungen durchgesetzt werden konnten. Hier erwies sich die Weimarer Verfassung nur zeitweise und teilweise als prägend. Die Differenz zwischen – in späterer Terminologie – Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit war immer da, mal größer und mal kleiner. Deren Erkenntnis und Verringerung sahen Autoren wie Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen oder Hermann Heller als Aufgabe der hier beschriebenen Verfassungskultur. So entstand in Ansätzen das Konzept einer spezifischen Verfassungskultur der Republik. Sie kann zeigen, wie die Ideen der WRV ausgebaut, aber auch umgebaut und partiell in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Und sie kann die Auflösung der Weimarer Republik nicht bloß als Verfassungswandel, sondern auch als Wandel gegen die Ursprungsideen und Grundprinzipien der WRV erkennen. So beschreibt sie den NS-Staat nicht als Produkt des Verfassungswandels, sondern als solches der Negation der WRV. Diese war partiell anders als ihre Zeit, und sie war nicht nur Produkt, sondern auch Vorgabe und Aufgabe der politischen Kultur. Die Tagung, aus der der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist, sollte die zweite Richtung näher verfolgen, also die Frage nach der kulturellen Basis gerade der WRV in der Gesellschaft wie auch die Summe der Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit ihr thematisieren. Deren Basis war von Anfang an tendenziell schmal. Dafür gab es zahlreiche Gründe. Die WRV war aus Kriegsniederlage und Revolution geboren, also aus Ereignissen, welche in Deutschland damals keine integrierende Wirkung hervorriefen. Im Gegenteil: Der Kriegsausgang wurde weithin als Verlust erlebt, und der Umgang mit ihm war für die Republik tendenziell delegitimierend. Die Kriegsschuldfrage wurde bewusst dethematisiert,30 und der weithin gepflegte Umgang mit der jüngsten Vergangenheit als moralischer Sieg (mit dem aus dem Zusammenhang gerissenen Ebert-Zitat »Kein Feind hat Euch überwunden!«31), einhergehend mit der von weiten Teilen angenommenen

30 Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage: politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983. 31 Rede bei der Begrüßung der heimkehrenden Soldaten am 10. Dezember 1918 in Berlin; zur Einordnung vgl. Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 22007, S. 136.

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Dolchstoßlegende,32 stellte die Legitimation des staatsrechtlichen Neuanfangs in Frage: Wäre die Monarchie tatsächlich unbesiegt geblieben, hätte es die Revolution und die Republik so nicht gegeben. Hier wurden Wurzeln gelegt für die innere Feind-­Erklärung, welche die Spaltung der Gesellschaft fortsetzen und die integrierende Wirkung von Republik und WRV mit schweren Hypotheken belasten sollte.33 Statt ihrer würde wohl eher der Kampf gegen Versailles den Grundkonsens der Deutschen abgeben. Aber auch die Verfassunggebung selbst war nur partiell integrierend. Die WRV als eklektisches Gebilde konnte nicht auf eine vorgefundene und allseits konsentierte Legitimationsidee zurückgreifen. Sie entstammte unterschiedlichen geistigen und politischen Strömungen, welche in der Nationalversammlung ineinander flossen. Deren gemeinsamer Nenner war am ehesten ihre Diskriminierungserfahrung im Kaiserreich, und diese hatten sie durchaus unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Die neue Weimarer Koalition hätte durch gemeinsame Verfassunggebung integrierend wirken können. Doch blieb dies jedenfalls anfangs aus: In der Frühzeit dominierten allseits Verlusterlebnisse hinsichtlich dessen, was die einzelnen Koalitionsparteien im Verfassungskompromiss nicht hatten durchsetzen können. Dass der Erfolg ein gemeinsamer sei und deshalb Zugeständnisse an die jeweils anderen Seiten notwendig und sinnvoll gewesen waren, entdeckten führende Kreise der Weimarer Koalition und ihrer gesellschaftlichen Vorfeldorganisationen erst später, als sie die Offenheit der WRV auch als Chance verstanden. Unter der Geltung des neuen Rechts konnten dessen geistige Grundlagen der neuen Verfassung auch nicht einfach in der Rezeption älterer Staats- und Rechtsideen bestehen, sondern mussten als neue Ideen und zur Fundierung eines bürgergetragenen und vom Volk zu legitimierenden Gemeinwesens neu entdeckt werden. Diese konnten von den Traditionen des deutschen Rechtsdenkens nur wenig profitieren: Sie waren zuvor nahezu ausschließlich nicht republikanisch-demokratisch gewesen, sondern eher gegenteilig positioniert. Aber sie sollten noch lange Zeit hindurch das Denken in Wissenschaft und Politik, akademischer Lehre und Schulunterricht prägen. Hier sollte sich als Belastung zeigen, dass die WRV weder Gründungsdokument einer innerstaatlichen Neugründung noch aber auch eines politischen Basiserfolgs war. Dies unterschied sich fundamental etwa von der Verfassung der USA, die aus den

32 Zur Dolchstoßlegende in der Republik Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration: das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003. 33 Mehr in den hier vorliegenden Beiträgen von Hélène Miard-Delacroix und Anna-Bettina Kaiser.

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Siegen im Unabhängigkeitskrieg entstanden war und in der damaligen Immigrantengesellschaft als einzige gemeinsame Basis des politischen Zusammenlebens erschien. Sie integrierte, was sonst nicht zusammengehörte – erst recht nicht nach Ende des gemeinsamen Kampfes gegen den gemeinsamen Feind von außen. Unter solchen Startbedingungen hätte die Verfassung integrierende Wirkung entfalten können.34 Doch waren im Jahr 1918/19 die Startbedingungen geradezu entgegengesetzt: Die WRV stieß auf vorhandene nationale und politische Grundideen, welche sie in einem grundrechtlich geprägten Staat nicht verbieten konnte. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen: Denn sie war die Konsequenz einer Kriegsniederlage und einer Revolution, die nach innen Gewinner und Verlierer kannte. Ihre Errungenschaften wurden nur von ihren Urhebern und Unterstützern als Erfolgsgeschichte angesehen, die negativen Begleiterscheinungen den jeweiligen politischen Gegnern angelastet. Die politische Kultur in der Republik musste so auch eine nachgeholte Legitimationsdebatte des staatsrechtlichen Neuanfangs sein. Und hier stand das entstehende »demokratische Denken« von Anfang an in Konkurrenz zu dem sich noch rascher entfaltenden antidemokratischen Denken: Dies waren zunächst retrospektive Ideen, welche die politische Entwicklung rückgängig machen oder jedenfalls in Zukunft die Republik durch rückwärtsgewandte Ideen unterwandern wollten. Sie sollten rasch an Überzeugungskraft verlieren. Stattdessen traten prospektive Ideen in den Vordergrund, welche dem von ihnen diagnostizierten »Untergang des Abendlandes« bzw. der »Herrschaft der Minderwertigen« eigene Ideen entgegenzusetzen trachteten. Dies kann hier außen vor bleiben: Die Geschichte des »antidemokratischen Denkens« ist bekannt. Festzuhalten bleibt aber: Auch dies war ein Teil der Verfassungskultur in der Republik. Unter diesen Konkurrenzbedingungen blieb die Herausbildung einer verfassungsloyalen politischen Kultur von Anfang an in einer defensiven Position. Sie entstand zeitlich parallel zu ihren Konkurrentinnen, die Republik sollte nicht ohne Republikaner und Demokraten bleiben. Da Verfassungsdenken stets auch rationales war und daher auf Gründen basierte, spielte jedenfalls hier die sonst oft betonte Unterscheidung zwischen Herzens- und Vernunftrepublikaner keine prägende Rolle.35

34 Subtext bei Boldt, Weimar [wie Anm. 21]; s. a. unten den Beitrag von Hélène MiardDelacroix. 35 Dazu Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008. Zur besonderen Rolle der Staats- und Verfassungstheorie Christoph Gusy: »Vernunftrepublikanismus« in der Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Republik, in: ebd., S. 195–218.

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Angesichts solcher Rahmenbedingungen darf nicht vergessen werden: Die verfassungstragenden Parteien in der Nationalversammlung hatten ein gemeinsames positives Ziel verfolgt, nämlich die Etablierung einer demokratischen Republik. Sie sollte fortan den gemeinsamen rechtlichen Organisationsrahmen der politischen und der entstehenden Verfassungskultur abgeben. Dieser sollten zwei Funktionen zukommen: Der nachholende Legitimationsdiskurs bezüglich der Verfassunggebung sowie die prospektive Herausbildung und Erhaltung eines Verfassungskonsenses, der in Zukunft geeignet sein sollte, der WRV eine tragfähige politische Basis zu verschaffen. Dazu war sie nun auf die organisatorischen und inhaltlichen Rahmenbedingungen der politischen Kultur durch die WRV verwiesen. Deren diesbezügliche Grundentscheidung lag in einer Antithese zur Monarchie: Während im Konstitutionalismus die Legitimationsbeschaffung wesentlich der Regierung oblegen hatte und insoweit tendenziell von oben nach unten verlaufen sollte, sollte in der demokratischen Republik der Legitimationsdiskurs von unten nach oben stattfinden. Er war fortan grundrechtsgeprägt: Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und die in ihr angelegte Parteifreiheit waren Orte und Medien, in welchen sich der Volkswille bilden und artikulieren sollte. Ob sich eine Verfassungskultur als republikanisch-demokratische Kultur herausbilden würde, lag so nicht primär am Staat, sondern an den Bürgerinnen und Bürgern und ihrer freien und gleichen Willensbildung und -artikulation. Unter ihnen waren – wie gesehen – die Startbedingungen wenig günstig: Die Spaltung der Gesellschaft mündete in eine ungewöhnliche Schärfe der politischen Debatten, einen anfänglichen latenten bzw. punktuellen Bürgerkrieg, eine Kultur der Gewalt nicht zuletzt infolge der zeitgleich mit der Republikgründung aufkommenden Formierung des gewalttätigen Links- und Rechtsextremismus.36 Sie sollten Gründungshypotheken und Dauerbelastung werden. Ihnen gegenüber konnte sich die junge Republik im Werden bis 1923 nur unter äußerster Ausdehnung ihrer Notstandsbefugnisse halten. Das war nicht nur Ausbau und Selbstschutz, sondern auch Beschädigung des Gründungskonsenses. Eine Verfassung, die zumindest anfangs nicht richtig in Aktion trat und sich kaum selbst durchsetzen und schützen konnte, war in den Augen ihrer Gegner und vieler Beobachter eine inadäquate Verfassung. Die Mängel wurden auf die junge

36 Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik, 1918–1933: Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1917–1933/39, Berlin und Paris im Vergleich, München 1999.

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Republik und die WRV zurückgeführt – die Evidenz lag scheinbar auf der Seite der Kritiker. Das war kein guter Ausgangspunkt für eine republikanische Kultur. Demgegenüber beriefen sich die Weimarer Demokraten auf die Differenz zwischen rechtlich vorgesehener Staatsform einerseits und der aktuellen politischen Lage andererseits: Sie leugneten die Probleme nicht, sahen aber die Republik und ihre Verfassung davon nicht tangiert: Wenn die aktuellen politischen Krisen überwunden werden würden, würden sich die Funktionsdefizite der verfassungsmäßigen Staatsform weitgehend von selbst erledigen. Hier fand sich erneut der Aspekt der Verheißung. Das entstehende demokratische Denken schickte sich an, positive Ideen zu Republik und Demokratie nicht bloß als Zwischenzustand, sondern als bestmögliche Form der Selbstbestimmung des Volkes zu entwickeln, kurz: die politische Kultur dahin zu verweisen, wo sie eigentlich sein sollte, bei Volk und Bürgern, aufgegeben und nicht vorgegeben. Solche Ideen waren nach ihrer Auffassung geeignet, die freiheitliche Demokratie auszubuchstabieren und mit einem angemessenen »Geist« auszugestalten. Wie aber sollte die (Wieder-)Herstellung des Verfassungskonsenses ermöglicht werden? Selbstlegitimation konnte gewiss am ehesten dadurch geschehen, dass die WRV und die demokratische Republik selbst zu Erfolgsmodellen wurden. Dies geschah erst und vordergründig in den Jahren der Stabilisierung. Zu dieser Zeit erschien vielen, auch in der Weimarer Koalition, das Werk der Nationalversammlung bereits als ein Leuchtfeuer jenes mental weit zurückliegenden Traumlands; ein Werk, das dem Realitätstest kaum standgehalten hatte und auch jetzt nur mühsam ausgebaut werden konnte. Der geschwächte Verfassungskonsens in der Reichsregierung und einer Reihe von Landesregierungen, eine nur schwache Republikanisierung des öffentlichen Dienstes, offener Widerstand namentlich im Osten Preußens und in Teilen Bayerns: Eine »Verfassungskultur von oben« entwickelte sich damals allenfalls in Spurenelementen: Die offiziellen Feiern der Verfassungstage konnten allen Bemühungen der Republikaner zum Trotz kaum ein Erfolgsmodell werden.37 Und solche Bemühungen sahen sich der Kritik ausgesetzt, die Republik sei lediglich eine Parteiangelegenheit der 37 Nadine Rossol in diesem Band. Eingehend Ralf Poscher: Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden 1999. S. a. Achim Bonte: Werbung für Weimar? Öffentlichkeitsarbeit von Großstadtverwaltungen in der Weimarer Republik, Mannheim 1997; Annegret Heffen: Der Reichskunstwart. Kunstpolitik in den Jahren 1920–1933. Zu den Bemühungen um eine offizielle Reichskunstpolitik in der Weimarer Republik, Essen 1986. Zur »parlamentarischen Kultur« Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002.

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Weimarer Koalition. Partiell anders konnte es eher bei der »Verfassungskultur von unten« aussehen: Anfangs, aber wohl nur in Spurenelementen bei den eher schwachen bürgerlichen republikanischen Vereinen, wesentlich stärker bei den Gewerkschaften und später im Reichsbanner.38 Die vielfältige und lebendige Verfassungskultur von unten und vor Ort mit ihren sich herausbildenden Ausdrucksformen und Inhalten ist erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt und untersucht worden. Sie fanden an der Basis und nahe bei den Menschen statt, stets aber im Wettbewerb mit den auch hier flächendeckend anzutreffenden antidemokratischen Kräften. Dabei wurden erstere von einzelnen Länderregierungen tendenziell unterstützt, in anderen tendenziell behindert – je nach der politischen Einstellung der regionalen Koalitionsmehrheiten. Eine übergreifende Republik- und Verfassungspublizistik von oben und unten fand sich so nur in Ansätzen. Idealistische Verfassungserwartungen einerseits und eine praktisch zum Teil nur schwach ausgeprägte Leistungsfähigkeit der gewählten Staatsorgane wirkten sich hinderlich aus: Grundbegriffe demokratischen Handels wie Kompromiss, Partei, Parlamentarismus, selbst die Republik als »System« wurden je länger je mehr delegitimiert und kontaminiert39 – nicht zuletzt durch die Verunglimpfung der Person, die mehr als jeder andere für diese Errungenschaften stand: Friedrich Ebert. 40 Insbesondere gelang es nicht ausreichend, die Eliten in den angestrebten Verfassungskonsens einzubeziehen. Die Reichweite der republikanisch-demokratischen Verfassungskultur blieb so begrenzt. Aber sie blieb weder wirkungs- noch folgenlos. Vielmehr hat sie dauerhaft nachwirkende Erkenntnisse angelegt. Das gilt etwa für die Idee des verfassungsrechtlich organisierten Sozialstaats – eine deutsche Angelegenheit. 41 Das gilt 38 Sebastian Elsbach: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold: Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019; Andreas Braune/Michael Dreyer (Hg.): Republikanischer Alltag. Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität, Stuttgart, 2017; Nadine Rossol: Performing the Nation in Interwar Germany. Sport, Spectacle and Political Symbolism, 1926–36, Basingstoke 2010. Im weiteren Sinne auch dies.: »Die Abdankung unseres Kaisers hat mich nicht besonders betroffen …« Emotionen, Erwartungen und Teilhabe an der deutschen Revolution 1918/19, in: Braune/ Dreyer (Hg.), Zusammenbruch [wie Anm. 12], S. 161–175; Sebastian Elsbach/Ronny Noack/Andreas Braune (Hg.): Konsens und Konflikt. Demokratische Transformation in der Weimarer und der Bonner Republik, Stuttgart 2019. 39 Dazu Alexander Gallus in diesem Band. 40 Vgl. Mühlhausen, Ebert [wie Anm. 31] S. 911 ff. 41 Anselm Doering-Manteuffel: Soziale Demokratie als transatlantisches Ordnungsmodell im 20. Jahrhundert, in: ders.: Konturen von Ordnung, Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahrhundert. Hg. von Julia Angster u. a., Berlin 2019, S. 100–125; s. a. ders.: Weimar

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auch für die Entdeckung gesellschaftlicher Voraussetzungen der Demokratie und wichtige Anläufe zu Pluralismustheorien sowie der Idee einer wehrhaften Demokratie, welche aber erst nach dem Ende der Republik ausgebaut und erst nach 1945 wirksam werden sollten. 42 Schon vor 1933 wussten demokratische Autoren, dass die WRV weder »neutral« noch gar »neutral bis zum Selbstmord« war. Das Zusammenspiel von Grundrechten und Demokratie wurde neu vermessen und damit der Weg von der monarchischen Staatstheorie hin zu einer Verfassungstheorie der demokratischen Republik geöffnet. 43 Hingegen blieb die Integrationsformel Rudolf Smends damals ambivalent, kritische Zeitdiagnose einerseits und in ihrem Verhältnis zum demokratischen Pluralismus ungeklärt: Den einen ging es mehr um Integration durch Demokratie, den anderen damals eher um Integration trotz Parlamentarismus. Und die möglichen desintegrierenden Folgen der Formel wurden nur in Andeutungen erkennbar. Noch einmal: Die Republik hatte keine Verfassung ohne Verfassungskultur. 44 Aber die Verfassungskultur war wie ihre Gesellschaft: widersprüchlich, gespalten und zum Teil verfassungstragend, zum Teil vehement ablehnend. Damals entstand eine politische Kultur, welche als tragfähige Verfassungskultur die WRV gesellschaftlich abstützen konnte, in wichtigen Ansätzen. In der Kultur blieb manches Stückwerk, manches theorielastig und noch wenig praxistauglich. Vor 1933 blieben ihre Wirkungen zeitlich und regional begrenzt, nicht zuletzt von der Abstützung durch republikanische Regierungsmehrheiten abhängig. So entwickelte sich die politische Kultur teils verfassungsstützend, teils -neutral, teils verfassungskritisch. 45 Aus historischer Sicht ist festgestellt worden: Die zur Entfaltung einer tragfähigen Verfassungskultur notwendige Vermittlung von Nation, Staat und Gesellschaft gelang damals (noch) nicht. 46 Der Republik und ihrer politischen Kul-

42 43

44 45 46

als Modell: Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: ebd., S. 222–238. Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018, S. 299 ff. Allen voran Richard Thoma: Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen aus fünf Jahrzehnten, hg. und eingeleitet von Horst Dreier, Tübingen 2008, welcher in herausragender Weise rechts- und sozialwissenschaftliche Forschungen miteinander verband. Wichtig waren auch politikwissenschaftlich und philosophisch angeleitete Grundlagenarbeiten von Hermann Heller und Hans Kelsen. Das ist auch das Ergebnis der Studie von Boldt, Weimar [wie Anm. 21], deren Titel das Fragezeichen zu Recht trägt. So der Beitrag von Christoph Gusy in diesem Band. Wirsching, Verfassung [wie Anm. 27].

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tur fehlte die notwendige Zeit. Erst viel später und nach manchen Widerständen sollten die Weimarer Anläufe in der jungen Bundesrepublik praxistauglich und konsensfähig werden. Nur zum Vergleich: Auch die Bundesrepublik entdeckte den »Verfassungspatriotismus«, die aktive Gesellschaft und den Bürgerstatus als Inklusion, als Teilhabe an deren Aktivitäten und deren Erfolgen erst über 30 Jahre nach Inkrafttreten des GG. Aus einer solchen Retrospektive stellen sich sowohl Fragen der Verantwortung von Recht und Rechtswissenschaft als auch Aufgaben der Verfassungsgeschichte anders als in älteren einlinigen Modellen von Geburtsfehlern und Sonderweg. Die Fragen sind bekannt, manche Antworten stehen jedoch noch aus. In einer freiheitlichen Demokratie sind Verfassung und Verfassungskultur notwendig getrennt. Letztere erscheint geradezu als Kernbereich dessen, was später als Verfassungsvoraussetzung beschrieben wurde: Die demokratische Republik lebe von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren könne (E. -W. Böckenförde). So richtig diese Feststellung ist: Sie bedeutet noch lange nicht, dass sich die demokratische Republik nicht um sie kümmern dürfe – im Gegenteil! Und das ist nicht bloß eine »Lehre von Weimar«. Schon die WRV enthielt eine Reihe von positiv-rechtlichen Anhaltspunkten dafür, dass dieser Auftrag schon im Jahr 1919 den Verfassunggebern bewusst gewesen war. Verfassungskultur als Selbstlegitimation und Verfassungsverwirklichung war und ist ein bleibender Auftrag – auch an Rechts-, Kultur- und Geisteswissenschaften.

III. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes stehen somit, wie bereits angedeutet, nicht, wie oft in der Vergangenheit, tatsächliche oder vermeintliche Mängel des Textes der WRV. Vielmehr geht es um deren Ort in der politischen Kultur, um die von ihr ausgehenden Impulse und deren Rezeption unter den Funktionseliten wie in der breiteren Bevölkerung. Dazu ist es zunächst erforderlich, die bislang in der Forschung weniger intensiv behandelten Entstehungsumstände der Verfassung genauer zu erörtern. Die ersten Beiträge thematisieren deshalb den Komplex vielfältiger und gegensätzlicher Erwartungen und Befürchtungen, den Kriegsende und Novemberrevolution generierten. Gezeigt wird vor allem von Andreas Wirsching, wie er sich in einer besonderen, den Zäsurcharakter des historischen Moments der Verfassunggebung betonenden Zeitwahrnehmung manifestierte. Schärfere Konturen gewinnt er in dem von Hélène Miard-Delacroix vorgenommenen Vergleich mit der Situation Frankreichs nach dem Ende des Krieges, dessen

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gewaltige Belastungen auch hier zu verarbeiten waren, was auf der Grundlage demokratieaffiner Traditionen besser gelingen konnte. Zudem ist der Prozess der Verfassungsschöpfung, wie Marcus M. Payk herausarbeitet, nur in seiner Verzahnung mit der Genese des Versailler Vertrages und dabei generierten Erwartungen an internationale Kooperation angemessen zu verstehen. Christoph Gusys Blick auf die bislang marginalisierte Ebene der Länder im deutschen Reich sowie Dietmar Müllers Analyse der internationalen Ebene mit ihren weiteren Verfassungsschöpfungen im östlichen Europa lassen die Spezifika der Weimarer Reichsverfassung markanter hervortreten. Der folgende Abschnitt widmet sich zentralen personalen Akteuren der Verfassunggebung und weiteren Verfassungspraxis. Walter Mühlhausen und Wolfram Pyta kontrastieren Eberts und Hindenburgs Umgang mit der Verfassung, weniger in Bezug auf ihre schon oft behandelten einzelnen politischen Maßnahmen, sondern im Sinn ihres prinzipiellen Verfassungsverständnisses. Mit Herbert von Bismarck untersucht Anthony McElligott einen kaum bekannten Akteur der lokalen Ebene beispielhaft in seinem höchst problematischen Umgang mit der Verfassung. Die besondere Relevanz symbolischer Praktiken für die Wahrnehmung und Wirkung der Verfassung ist Gegenstand der sich anschließenden kleinen Sektion. Nadine Rossol befasst sich mit den keineswegs auf die Hauptstadt beschränkten, sondern vielerorts quer durch das Reich mehr oder minder mit Verve unternommenen Versuchen, in sorgfältig konzipierten Feiern die Verfassung in der Bevölkerung zu verankern. Andreas Biefang geht es um den Prozess des Erwerbs von symbolischer Macht durch den Reichstag, das zentrale Verfassungsorgan, und dessen erkennbare Grenzen. Handlungsfelder, in denen wesentliche neue Impulse der Verfassung ihren Niederschlag finden sollten und die durch den umfangreichen Grundrechtskatalog angelegt waren, stehen im Zentrum der zwei folgenden Beiträge. Wie Kirsten Heinsohn nachzeichnet, lieferte die Reichsverfassung von 1919 gute Anstöße, um die Gleichberechtigung der Geschlechter zu befördern, doch stand diesen traditionsgebundenes Beharrungsvermögen in der politischen Kultur entgegen. Gerd Bender zeigt auf, wie demokratiestabilisierend die Prinzipien einer auf Kooperation angelegten Arbeitsverfassung in der WRV in den Anfangsjahren der Republik wirkten, dies unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise allerdings nicht mehr leisten konnten. Im vorletzten Bereich erörtern drei Beiträge, wie die an einer produktiven Umsetzung der Verfassung interessierten Akteure, aber auch ihre Gegner im intellektuellen Diskurs die Verfassung interpretierten und den sich wandelnden Zeitumständen anzupassen versuchten. Marcus Llanque stellt unter Beweis, dass der Kompromisscharakter der WRV keinesfalls nur ein Notbehelf einer gespaltenen Gesellschaft war, sondern ein

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essentieller Bestandteil, der freilich hinsichtlich seiner Reichweite und seinem Verhältnis zu Entscheidungen und Verfahren genauerer Diskussion bedurfte. Ebenfalls in die Zukunft wies die liberaldemokratische, das Parlament zen­tral stellende Definition des Volkswillens, die wiederum, so Kathrin Groh aus vornehmlich staatsrechtlich-juristischer Perspektive, mit unterschiedlichen Gegenpositionen konfrontiert war und sich auch mit den Elementen direkter Demokratie in der Weimarer Verfassung auseinandersetzen musste. In klarer Absetzung von der Tradition des Kaiserreichs schließlich etablierte die WRV, so Almut Neumann in ihrem Beitrag, einen mehrschichtigen demokratischen Föderalismus, der sich jenseits der Volatilität auf Reichsebene als Stabilitätsressource erwies. Die vielfältigen Aspekte der Beiträge werden in den beiden, den Band abrundenden Kommentaren von Alexander Gallus und Anna-Bettina Kaiser aus der Perspektive der beiden beteiligten Fachdisziplinen resümiert, nach dem Forschungsertrag einsortiert und auf die forschungspolitische Zukunft projiziert. Wir sind zuversichtlich, dass von den hier vorgelegten Studien neue Anregungen für die Forschung ausgehen und danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern. Ihre Texte basieren auf Vorträgen der Tagung »Verfassungskultur in der Weimarer Republik«. Das Symposium wurde von der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Zusammenarbeit mit dem Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages vom 11. bis 13. Februar 2019 in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages in Berlin veranstaltet. Der Abendvortrag von Andreas Wirsching fand in Zusammenarbeit mit der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen e. V. statt. Für die Tagung stellte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM) Sondermittel zur Verfügung. Dafür gilt unser Dank. Ganz besonders zu danken ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der in Heidelberg ansässigen Bundesstiftung für die organisatorische Vorbereitung und Durchführung der Tagung, die in angenehmer und somit produktiver Atmosphäre stattfinden konnte. Dass sich die Stiftung dieses Themas angenommen hat, lag auf der Hand, war doch ihr Namensgeber als erster Reichspräsident ganz wesentlich für die Prägung von Verfassungswirklichkeit und Verfassungskultur seiner Zeit in Bezug auf das höchste Staatsamt, aber auch mit Blick auf dessen Einbindung in das politisch-verfassungsrechtliche Koordinatensystem verantwortlich. Er verlieh den in der Verfassung formulierten präsidentiellen Befugnissen und Aufgaben Wirkungsmacht und formte durch seine Kompetenzausübung das Amt auf eine republikanisch-demokratische Weise.

Entstehungsumstände

Andreas Wirsching

Zeiterwartung und Verfassungsschöpfung in Deutschland 1919

Am 11. Februar 1919 wurde Friedrich Ebert in Weimar zum Reichspräsidenten gewählt. Damit vollzog die Verfassunggebende Nationalversammlung das tags zuvor verabschiedete Gesetz über die Vorläufige Reichsgewalt. Mit Ausnahme der Unabhängigen Sozialdemokraten war sich die Nationalversammlung einig, dass dieses Gesetz über die Vorläufige Reichsgewalt »rasch«, »unverzüglich«, »sofort«, »schleunig«, »sobald als möglich« verabschiedet werden müsse.1 Und Max Weber sekundierte, an der Beschleunigung hänge »der Bestand der Neuordnung überhaupt«.2 Es galt, die Revolution zu beenden, abzuschließen, um zu einem neuen Rechtszustand zu gelangen. Erst auf dieser Basis würde – so die Meinung der großen Mehrheit der Nationalversammlung – der Neuaufbau möglich sein. Der hier zum Ausdruck kommende Dreiklang von Abschluss der Vergangenheit, Feststellung der Gegenwart und Offenheit in die Zukunft ist das Thema dieses Beitrags. Hierfür sind die Protokolle der Verfassunggebenden Nationalversammlung eine Mine an Erkenntnis. Hauptsächlich auf ihrer Basis wird im Folgenden die temporale Struktur der Geschichte der Weimarer Verfassungsschöpfung während der ersten Hälfte des Jahres 1919 diskutiert. Einmal mehr zeigt sich dabei, ein wie wichtiges, wenngleich häufig unterschätztes Thema die Zeitstruktur der Politik darstellt. Das gilt schon deshalb, weil das Mandat in der Demokratie im Gegensatz zu anderen Verfassungsformen eben nur ein Mandat auf Zeit ist. Die Untersuchung der temporalen Dimension erlaubt daher ein genaueres Verständnis für die Probleme demokratischen Regierens. 1

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Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326: Stenographische Berichte, Berlin 1920, 4. Sitzung vom 10. Februar 1919, S. 20: Paul Löbe (SPD) und Friedrich von Payer (DDP); S. 21: Clemens von Delbrück (DNVP) und Rudolf Heinze (DVP). Max Weber: Deutschlands künftige Staatsform (Januar 1919), in: ders.: Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 436–471, hier S. 440. Zu Max Webers Positionen in der Phase der Verfassungsschöpfung vgl. nach wie vor Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 1959, S. 324–379.

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Andreas Wirsching

Wie nehmen die Akteure die Zeit wahr? Welche Rolle spielt der zeitbedingte Erwartungshorizont? Wie gehen demokratische Regierungen mit der Veränderung der Zeitfenster infolge äußerer Ereignisse um? Tatsächlich ist ja jegliche Politik – und erst recht die demokratische – jener von Reinhart Koselleck beschriebenen Spannung von Erfahrung und Erwartung unterworfen, eine Spannung, die sich aus dem Gedächtnis einerseits und der Ungeduld des Wollens andererseits speist. Die Zeit ist also Ressource ebenso wie Einschränkung der Politik. Wirft man einen vergleichenden Blick auf das Europa des Jahres 1919, dann fallen allerdings wesentliche Unterschiede ins Auge. Die parlamentarischen Demokratien der Siegermächte lebten primär auf der Basis des aus der Vergangenheit hervorgegangenen Status quo. Daher fiel es ihnen viel leichter, das geschichtlich Gewordene zu akzeptieren und zum Ausgangspunkt für eine pragmatische Gegenwartspolitik zu machen. Charakteristisch hierfür ist ein britisches Memorandum von 1926, das mit den Sätzen beginnt: »We have got all what we want – perhaps more. Our sole object is to keep what we have and live in peace.«3 Die Erfahrung speiste hier die Erwartung. Die äußeren und inneren Bedingungen, unter denen Staat, Nation und Verfassung standen, waren bereits in der Vergangenheit entschieden worden. Rasche Veränderungen mussten von diesen Staaten nicht angestrebt werden. Es bestand kein Zeitdruck, und deshalb fiel es ihnen auch leichter, langwierige Entscheidungsprozesse, wie sie die parlamentarische Demokratie begründet, zu akzeptieren. Ganz anders in Deutschland: Politisch lebten die Deutschen in der Weimarer Republik im Bewusstsein, aufgrund der bereits gefallenen Entscheidungen etwas zu verpassen; sie empfanden, die Zeit arbeite gegen sie und es müsse etwas grundlegend verändert werden. Der Erwartungshorizont war es, der zählte und vor dem die Erfahrung des Vergangenen negativ besetzt und abgestreift oder zumindest als abgeschlossene Epoche hintangestellt wurde. Die Form politischer Kultur, die dieser zukunftsgerichteten Erwartungshaltung entspricht, ist – mit einem treffenden Begriff von Bernd Weisbrod – der »Modus der Verheißung«. 4 Die Gegenstände, auf die sich dieser Modus bezieht, können

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4

Memorandum on the Foreign Policy of His Majesty’s Government, with a List of British Commitments in their Relative Order of Importance, in: Documents on British Foreign Policy, Ser. Ia, Vol. 1: The Aftermath of Locarno 1925–1926, S. 846–881, hier S. 846. Bernd Weisbrod: Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und die Formveränderung der Politik, Köln u. a. O. 2000, S. 13–41, hier S. 31.

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variieren. In jedem Fall aber verspricht er eine Verbesserung in die Zukunft hinein. Ihn wandte am 11. Februar 1919 auch der gerade zum Reichspräsidenten gewählte Friedrich Ebert an, als er in seiner Antrittsrede vor der Nationalversammlung unter lebhaftem Beifall sagte: »Unser Volk hat sich in großer Bewegung Licht und Luft geschaffen, es wird sich auch durchsetzen draußen in der Welt und zu Hause.«5 Das Streben, aus einem als bedrückend empfundenen Zustand möglichst rasch heraus- und in einen imaginierten neuen und besseren Zustand hineinzukommen, kennzeichnete die deutsche politische Kultur. Unter anderen Vorzeichen prägte sie bereits das wilhelminische Kaiserreich mit seiner notorischen Ungeduld, doch endlich Weltmacht sein zu wollen. Aber auch die Debatten der Weimarer Nationalversammlung durchzog der »Modus der Verheißung« wie ein roter Faden.6 Für die Parteien der Weimarer Koalition, die sich zum Aufbau der Demokratie zusammengefunden hatten, bildeten die Revolution und der Übergang zur Republik eine unhintergehbare Zäsur. »Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es für immer vorbei«, verkündete Friedrich Ebert bei der Eröffnung der Nationalversammlung. »So gewiß diese Nationalversammlung eine große republikanische Mehrheit hat, so gewiß sind die alten gottgegebenen Abhängigkeiten für immer beseitigt.«7 »Der Strich ist […] nun gemacht, und der Strich ist endgültig«, bestätigte Friedrich Naumann am 13. Februar 1919.8 Allein ein solcher Abschluss der Vergangenheit ermöglichte es, den in die Zukunft gerichteten Willen zur freien Geltung zu bringen. Naumann beeilte sich denn auch hinzuzufügen: »In solchen Zeiten tiefer Bedrückung bleibt nichts anderes übrig als jener über die Gegenwart hinausgreifende, glaubende Wille.«9 »Wir, die wir diese Entwicklung bewußt

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Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 326, 5. Sitzung vom 11. Fe­ bruar 1919, S. 41. Rede auch in: Walter Mühlhausen (Hg.): Friedrich Ebert – Reden als Reichspräsident (1919–1925), Bonn 2017, S. 73. 6 Vgl. hierzu: Rainer Gruhlich: Geschichtspolitik im Zeichen des Zusammenbruchs. Die deutsche Nationalversammlung 1919/20. Revolution – Reich – Nation, Düsseldorf 2012, S. 48–56. 7 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 326, 1. Sitzung vom 6. Februar 1919, S. 1; auch in: Mühlhausen (Hg.), Reden [wie Anm. 5], S. 60. 8 Friedrich Naumann: Die Demokratie in der Nationalversammlung, Rede am 19. Februar 1919 [sic!] in der Verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, in: ders.: Werke, Bd. II: Politische Schriften, hg. von Theodor Schieder, Köln/Opladen 1964, S. 537–557, hier S. 542. 9 Ebd., S. 553.

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mit schaffen wollen« – das war der voluntaristische Grundzug, der den Modus der Verheißung begleitete. Dieser Wille, etwas Neues für die Zukunft zu schaffen, einte die große Mehrheit der Abgeordneten. »Nur durch rasches, schöpferisches Werk können wir das Vertrauen rechtfertigen, das man auf uns setzt«, brachte der erste Präsident der Nationalversammlung, Eduard David (SPD), die Abgeordneten gleich eingangs auf Linie.10 Nicht so sehr die konkrete Aufgabe und praktische Durchführung der Verfassungsschöpfung trennte die Abgeordneten, sondern die unterschiedliche Wahrnehmung der historischen Zeit und die divergierenden Auffassungen, auf welcher geschichtlichen Entwicklungsstufe man sich tatsächlich befand. Am nachdrücklichsten grenzten die Mehrheitssozialdemokraten die dunkle Vergangenheit und die lichte Zukunft politisch-moralisch voneinander ab; so wenn sie mehrfach von der »Gewaltherrschaft« im Kaiserreich und dem durch die Gewaltagitation der Linksextremen verursachten Chaos der Revolutionszeit sprachen.11 Beides galt es durch die Verfassungsschöpfung der Nationalversammlung endgültig zu überwinden. Anders die Vertreter der USPD wie auch der DNVP. Zwar von entgegengesetzten Standpunkten herkommend, stimmten sie doch darin überein, den Schlussstrich unter das Vergangene nicht so einfach zu akzeptieren. Gegenwart und Zukunft malten sie in teilweise sehr düsteren Farben aus. Der Vorsitzende der DNVP-Fraktion, Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, brandmarkte die Herabsetzung des Kaiserreichs als ein bloß rhetorisches Mittel, »um diesen Zukunftsstaat verlockend und verheißend als eine Art Land Kanaan erscheinen zu lassen«. Entsprechend empört wies er die Polemik gegen den kaiserlichen Obrigkeitsstaat als eine »Gewaltherrschaft« zurück.12 In der Gegenwart vermochte er nur das blanke Chaos, die »sittliche Verwilderung« und die Gefahren ostjüdischer Einwanderung zu erkennen. Denn »die Grenzkontrolle scheint aufgehört zu haben. Auf der einen Seite flüchtet sich das Kapital ins Ausland, auf der anderen Seite strömen aus Russisch-Polen und aus Galizien Massen von Ausländern herein, die zum Teil auf sehr niedriger Kulturstufe stehen und vielfach verbrecherische Elemente in sich bergen. […] Die Grenze muß geschlossen werden. Wir können diese wilde Einwanderung nicht in einer

10 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 326, 2. Sitzung vom 7. Februar 1919, S. 9. 11 Ebd., 5. Sitzung vom 11. Februar 1919, S. 41 (Ebert); 6. Sitzung vom 13. Februar 1919, S. 45 (Scheidemann); 12. Sitzung vom 20. Februar 1919, S. 231 (Landsberg). 12 Ebd., 7. Sitzung vom 14. Februar 1919, S. 79.

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Zeit dulden, wo wir an dem größten Wohnungsmangel leiden, wo wir an den Gefahren der Ernährungsmöglichkeit leiden.«13 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums der Nationalversammlung lehnten die Unabhängigen Hugo Haase und Oskar Cohn vehement den Versuch der Regierung ab, »die Revolution für abgeschlossen zu erklären und eine Gesetzgebung von dem Standpunkt aus und zu dem Zweck zu unternehmen, um die Revolution als beendet erscheinen zu lassen.«14 Das Gegenteil sei der Fall: Die Revolution sei keineswegs beendet, vielmehr werde sie von der Mehrheitssozialdemokratie gewaltsam unterdrückt. Aus dieser Sicht war die Gegenwart nicht von einem demokratischen Aufbruch gekennzeichnet, sondern von einem veritablen Bürgerkrieg, den die Regierung gegen die Revolution führe. Welche konkreten Erwartungen richteten die Weimarer Mehrheitsparteien an die Zukunft der Reichsverfassung, an der sie mitarbeiteten, die sie öffentlich vertraten und am Ende mit großer Mehrheit verabschiedeten? Dieser Frage sei in drei Gedankengängen exemplarisch nachgegangen: erstens im Hinblick auf die Verabschiedung des Organisationsstatuts (I.), zweitens in Bezug auf die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung (II.), und schließlich drittens mit Blick auf die Frage der parlamentarischen Macht (III.).

I. Das Organisationsstatut Das zentrale Thema der Nationalversammlung kreiste um eine fundamentale demokratietheoretische Frage, die im Übrigen auch heute wieder aktuell geworden ist. Sie lautete: Wie ist in der zu schaffenden Demokratie die Willensbildung des Volkes am besten zu organisieren? Wie lässt sich der empirische Wille des Volkes künftig am gründlichsten erkunden und zur Geltung bringen? Für die Beantwortung dieser verfassungspolitischen Gretchenfrage war die spezifische Zeitwahrnehmung, in der sich die Abgeordneten befanden, höchst bedeutsam. So gab es für ein demokratisches Organisationsstatut in Deutschland keine historischen Vorbilder, wenn man von dem Theoriegebäude der Paulskirchenverfassung absieht. »Aus dem Krypto-Absolutismus des früheren Zustandes mußte der Übergang sofort zu dem scharf ausgeprägtesten demokratischen Parlamentarismus gefunden werden«, wie es Hugo Preuß

13 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 330, 92. Sitzung vom 7. Oktober 1919, S. 2895. 14 Ebd., Bd. 326, 4. Sitzung vom 10. Februar 1919, S. 22 die Rede von Cohn.

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formulierte.15 Bekanntlich war Hugo Preuß ohnehin der Spiritus rector der Verfassungsschöpfung,16 und wesentliche Grundzüge der künftigen Verfassung waren schon vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung vorgeprägt. So war vor allem der informelle Ausschuss zur Beratung des Preuß’schen Verfassungsentwurfs im Reichsamt des Innern vom 9. bis 12. Dezember 1918 die »Geburtskammer der Weimarer Reichsverfassung«.17 Zwar ließen sich erfolgreich praktizierte demokratische Vorbilder im westlichen Ausland finden, aber sie wurden verworfen. Die amerikanische Demokratie galt den Verfassungsexperten von 1918/19 als zu präsidial, die französische Dritte Republik als zu parlamentarisch. Also fand man eine Mischung aus beiden. »Zwei verschiedene Systeme sind hier miteinander vermischt, das amerikanische und das französische«, beobachtete bereits Friedrich Meinecke.18 Mit anderen Worten: Aus der eigenen Vergangenheit konnte, aus fremder Erfahrung wollte die Nationalversammlung keine verfassungspolitischen Ressourcen schöpfen. Mit diesen Vorentscheidungen koppelte sich die Verfassungsdebatte der Nationalversammlung von der Vergangenheit ab und richtete den Blick umso exklusiver auf die demokratische Zukunft. Das war Ressource und Belastung zugleich. Einerseits schien die Zukunft ja weitestgehend gestaltbar zu sein. Wenn man nur die richtigen Bestimmungen schuf, dann würde sich die Demokratie trotz der Plötzlichkeit ihres Anfangs organisch entwickeln können. Wenn jedoch andererseits die Erfahrung der Vergangenheit nichts mehr zählt, zugleich aber die Zukunft ungewisser ist denn je, dann schlägt die Stunde der Theorie.

15 Hugo Preuß: Das Verfassungswerk von Weimar (10. August 1919), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, hg. und eingeleitet von Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 87–93, hier S. 90 (Hervorhebung vom Verfasser). 16 Vgl. Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, Stuttgart 2018, vor allem S. 329–403. 17 Mommsen, Weber [wie Anm. 2], S. 350. Siehe die Aufzeichnung über die Verhandlungen im Reichsamt des Innern über die Grundzüge des der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vorzulegenden Verfassungsentwurfs (9. bis 12. Dezember 1918), abgedruckt in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, hg., eingeleitet und erläutert von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen 2015, S. 111–134, hier S. 128–132. Vgl. Sigrid Vestring: Die Mehrheitssozialdemokratie und die Entstehung der Reichsverfassung von Weimar 1918/19, Münster 1987, S. 154–172; Dreyer, Preuß [wie Anm. 16], S. 350–355. Umfassend zur Genese der Reichsverfassung Jörg-Detlef Kühne: Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018. 18 Friedrich Meinecke: Bemerkungen zum Entwurf der Reichsverfassung (31. Januar und 7. Februar 1919), in: ders.: Politische Schriften und Reden, hg. von Georg Kotowski, Darmstadt 41979, S. 299–312, hier S. 309.

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Über weite Strecken übten sich die Abgeordneten daher in der Kunst der verfassungspolitischen Antizipation. Die bloße Prognose, ja Spekulation darüber, was in dieser oder jener denkbaren Situation geschehen könnte, welche Regelung welches Verhalten der künftigen Verfassungsorgane determiniere und ihr Zusammenspiel gewährleiste, nahm in den Verhandlungen breiten Raum ein. Allein vor diesem Hintergrund lässt sich die Entstehung des vieldiskutierten Weimarer Organisationsstatuts begreifen. Bekanntlich verknüpfte es die drei denkbaren Modelle demokratischer Willensbildung – das plebiszitäre, das präsidiale und das repräsentative – in innovativer und, wie man annahm, in besonders »demokratischer« Weise. Ein rein repräsentatives Prinzip verwarf man dagegen wegen der Gefahr eines »Parlamentsabsolutismus« – eine Chimäre Robert Redslobs, der sich Hugo Preuß anschloss und die der Fehlperzeption sowohl des französischen wie des britischen Parlamentarismus entsprang.19 Diese Auffassung war weit verbreitet. Auch Bruno Ablaß, der maßgebliche DDP-Abgeordnete im Verfassungsausschuss vertrat sie und betonte den mit ihr ins Auge gefassten neuen Weg in die Zukunft: »Wir wollen eine demokratisch-parlamentarische Regierung. Deswegen geht der [Verfassungs-] Entwurf mit Recht einen ganz neuen Weg, der eine gute Lösung bringt auf Grund des echten Parlamentarismus. In Frankreich fehlt nach der Wahl jede Kontrolle des allmächtigen Parlaments durch das Volk. Das ist der unechte Parlamentarismus. Wir wollen kein allmächtiges Parlament; die Kontrolle liegt

19 Robert Redslob: Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. Eine vergleichende Studie über die Verfassungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich, Tübingen 1918; Preuß, Verfassungswerk [wie Anm. 15], S. 91. Zu den Hintergründen der nicht einfach zu verstehenden Übernahme der ­Redslob’schen Position durch Preuß vgl. Manfred Friedrich: Plan des Regierungssystems für die deutsche Republik. Zur Lehre vom »echten« und »unechten« Parlamentarismus: Robert Redslob und Hugo Preuß, in: Detlef Lehnert und Christoph Müller (Hg.): Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, Baden-Baden 2003, S. 189–201; Peter Stirk: Hugo Preuß. German Political Thought and the Weimar Constitution, in: History of Political Thought 23 (2002), S. 497–516; Dreyer, Preuß [wie Anm. 16], S. 354 f.; Armel Le Divellec: Robert Redslobs Theorie des Parlamentarismus. Eine einflussreiche verfassungsvergleichende »Irrlehre«?, in: Detlef Lehnert (Hg.): Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970, Berlin 2017, S. 107–138. Zum allgemeinen Kontext vgl. Horst Möller: Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik. Die Frage des »besonderen Weges« zum parlamentarischen Regierungssystem, in: ders.: Aufklärung und Demokratie. Historische Studien zur politischen Vernunft, München 2003, S. 182–199 (zuerst 1987).

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beim Reichspräsidenten, der als Erkorener des Volkes ein Gegengewicht gegen den Reichstag bildet.«20 Zwar sah die am Ende der Weimarer Republik fatal wirkende präsidentielle Reserveverfassung (Karl Dietrich Bracher), das heißt die Kombination der Artikel 25 (Auflösung des Reichstags), 48 (Notverordnungsrecht) und 53 (Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers) 1919 schlicht niemand voraus. Allerdings fehlte es nicht an warnenden Stimmen. Am bekanntesten ist die des Unabhängigen Sozialdemokraten Oskar Cohn, der bei der Diskussion um den Artikel 48 einen Analogieschluss zwischen Gegenwart und Zukunft zog: Reichswehrminister Noske gehorche, wenn er heute die Revolution zusammenschießen lasse, nur den Aufträgen seiner Partei, so deklamierte Cohn. Was aber, wenn morgen »zufällig einmal ein nichtsozialdemokratischer Präsident an der Spitze des Reichs stehen sollte …[?] Wie, wenn […] nach 15 Jahren ein Hohenzoller, oder schon früher ein Trabant der Hohenzollern, vielleicht ein General, an der Spitze des Reichs oder des Reichswehrministeriums steht? Was erwarten Sie dann von einem solchen Herrn, wenn er auf die Vorstellungen und die Programmsätze seiner Partei etwa Rücksicht nimmt?«21 So verblendet die Gegenwartsanalyse Cohns auch war, so prophetisch erwies sich seine Zukunftsvision. Im Plenum der Nationalversammlung war sie die einzige Stellungnahme, die die reale Gefahr eines Präsidialregimes antizipierte.22 Andere aber äußerten sich in der gleichen Richtung. Gerhard Anschütz zum Beispiel, später der maßgebliche Interpret der Weimarer Reichsverfassung, warnte Preuß anfangs vehement vor einem verfassungspolitischen Dualismus, bevor er auf die Regierungslinie einschwenkte. Ein starker, direkt gewählter Reichspräsident, so Anschütz im Februar 1919, führe vermutlich zur »Preisgabe des parlamentarischen Regierungssystems, das doch Richtschnur sein soll […]. Die plebiszitäre Präsidentschaft duldet neben sich kein parlamentarisches Ministerium als faktischen Alleinträger der Regierungsgewalt. Der plebiszitäre Präsident ist politisch zu stark für ein Parlament, welches mehr und noch anderes will als bloß debattieren und mitreden […]. Wer ein starkes, nicht nur

20 Verfassungsausschuss der Nationalversammlung, 22. Sitzung vom 4. April 1919; Quelle: »Weimarer Landeszeitung«, abgedruckt bei Kühne, Entstehung [wie Anm. 17], S. 560; vgl. ebd., S. 587 (25. Sitzung vom 8. April 1919). 21 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 327, Sitzung vom 5. Juli 1919, S. 1330 (Cohn). 22 Vgl. zu Cohn die Biographie von Ludger Heid: Oskar Cohn. Ein Sozialist und Zionist im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M./New York 2002, hier S. 90 ff. über seine Rolle in der Nationalversammlung.

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redendes Parlament will, wird nicht die plebiszitäre Präsidentschaft wollen dürfen, sondern die parlamentarische wollen müssen.«23 Auch unter den Mehrheitssozialdemokraten überwog die Skepsis. Ihr Delegierter im Verfassungsausschuss, Richard Fischer, warnte vor einem gefährlichen Dissens zwischen den beiden vorgesehenen Exekutivorganen: »Wie soll es werden, wenn eine starke Persönlichkeit auf dem Posten des Reichskanzlers in Konflikt mit dem Reichspräsidenten gerät? Wir wollen die Befugnisse des Reichspräsidenten möglichst beschränken, im Grunde ihn aber überhaupt nicht.«24 Die von vielen Sozialdemokraten favorisierte Lösung eines kollegialen Direktoriums hatte aber zu diesem Zeitpunkt keine Chance mehr. Zu stark war das Gewicht des Faktischen mit der Prärogative des maßgeblichen Experten Hugo Preuß und seinem Entwurf, mit dem rasch verabschiedeten Gesetz über die Vorläufige Reichsgewalt und last but not least aufgrund der Tatsache, dass ja mit Friedrich Ebert ein Sozialdemokrat zum Reichspräsidenten gewählt worden war. Vergeblich warnte Fischer davor, man solle die Weimarer Reichsverfassung nicht, so wie die von 1866/71 auf die Person Bismarcks zugeschnitten war, auf die Person Friedrich Eberts hin ausrichten.25 Insgesamt war die Diskussion ein gutes Beispiel dafür, wie mangelnder Widerstand am Anfang und womöglich auch ein mangelndes Sachinteresse für verfassungspolitische Fragen eine politische Position strukturell ins Hintertreffen brachten.26 In der großen Mehrheit der Nationalversammlung dagegen dominierte ein aus Erfahrung gespeistes bürgerliches (und sozialdemokratisches) Urvertrauen in die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Prinzips. So sah man auch in den Bestimmungen des Artikel 53 kein Problem, denn der Reichskanzler und das Reichsministerium würden ja des Vertrauens des Reichstags bedürfen.27 Der Artikel 48 ging zwar in den Rechten, die er dem Reichspräsidenten verlieh, sehr weit – das war Konsens. Aber erstens würde ja jede Notverordnung der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen; zweitens würde der Reichstag jede Notverordnung des Reichspräsidenten wieder aufheben können und drittens sah die Nationalversammlung ein Ausführungsgesetz vor – das 23 Gerhard Anschütz: Die kommende Reichsverfassung, in: Deutsche Juristen-Zeitung 24 (1919), Sp. 113–123, hier Sp. 122. 24 Verfassungsausschuss der Nationalversammlung, 25. Sitzung, 8. April 1919, Quelle: »Weimarer Landeszeitung«, abgedruckt bei Kühne, Entstehung [wie Anm. 17], S. 585. 25 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 326, 17. Sitzung vom 28. Februar 1919, S. 374. 26 Vgl. Vestring, Mehrheitssozialdemokratie [wie Anm. 17], S. 158–165. 27 Siehe z. B. Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 327, 47. Sitzung vom 5. Juli 1919, S. 1330 (Hugo Preuß), S. 1339 (Rudolf Heinze, DVP).

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freilich niemals verabschiedet wurde. »Ein einfaches Wort des Parlaments« könne »sofort Wandel schaffen, wenn es nicht zufrieden ist mit dem, was verordnet war.«28 Auch der Artikel 25, der dem Reichspräsidenten das Recht zur Auflösung des Reichstags verlieh, wurde als weitgehend, zugleich aber als notwendig betrachtet. Denn wenn der Reichstag einmal nicht den Willen des Volkes repräsentieren sollte, müsse eine Neuwahl möglich sein, um den Volkswillen empirisch neu zu erkunden. Hier wird überdeutlich: Eine Situation wie im September 1932 mit einer negativen Reichstagsmehrheit aus Extremisten, einem antiparlamentarischen Kampfkanzler wie Franz von Papen und einer Verordnung nach Artikel 25, die den Reichstag auflöste, »weil die Gefahr besteht, daß er meine Notverordnung vom 4. September d. J. verlangt«,29 überstieg jede Antizipationskraft der Nationalversammlung. Diese Situation hatte nichts, aber auch gar nichts zu tun mit dem Geist der Weimarer Reichsverfassung. Deren Organisationsstruktur war ein »vom Volke gewählter Präsident mit streng parlamentarischer Regierung«. Damit »steht und fällt die ganze Struktur der Regierung«, wie Hugo Preuß hervorhob. »Für unsere besonderen Verhältnisse ist die Kombination einer starken Präsidentschaft mit dem Reichstage, also zweier gleich demokratischer Organe, das Gegebene, wenn beide verbunden sind durch die Einrichtung der parlamentarischen Regierung.«30 An dieser Stelle sei nicht die im Grunde fruchtlose Debatte wiederaufgenommen, inwieweit die Weimarer Republik an ihrer Verfassung gescheitert ist. Ernst Fraenkel hat in der frühen Bundesrepublik die für eine solche Argumentation entscheidende »Weimarer Erfahrung« geliefert: In der Verfassunggebenden Nationalversammlung von 1919 hätten vulgär-demokratische Unterströmungen der Linken mit antidemokratischen Unterströmungen der Rechten unter »plebiszitärem« Vorzeichen eine verhängnisvolle Koalition geschlossen. »Die Weimarer Republik litt an einem Geburtsfehler, an dem sie zugrunde gegangen ist.«31 Aber eine Reduktion der krisenhaften Entwicklung auf die 28 Siehe z. B. ebd., Bd. 327, 47. Sitzung vom 5. Juli 1919, S. 1324 und S. 1330 (Hugo Preuß), S. 1332 f. (Alexander Graf zu Dohna, DVP; Ludwig Haas, DDP). Das Zitat stammt vom Preußischen Minister des Innern, Wolfgang Heine (SPD); ebd., S. 1336. 29 Verordnung zur Reichstagsauflösung vom 12. September 1932 in: RGbl. I 1932, S. 441. 30 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 336: Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Berlin 1920, Nr. 391: Bericht des Verfassungsausschusses, S. 235 (4. April 1919). 31 Ernst Fraenkel: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat (1958), in: ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 71–109, S. 106 f.

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Verfassung führt in die Irre. Im Gegenteil hat sich in letzter Zeit eine eher positive Sicht auf die lange Zeit stark kritisierte Weimarer Reichsverfassung Bahn gebrochen. Im Rahmen des 100-jährigen Gedenkens an die Gründung der Weimarer Republik besteht unter Staatsrechtlern und Verfassungshistorikern die unverkennbare Tendenz, die Weimarer Reichsverfassung positiv zu akzentuieren.32 Eines allerdings bleibt wichtig und aktuell und kann durchaus eine Lehre sein. Weimar zeigt uns, wie gefährlich das Nebeneinander unterschiedlich gestalteter Quellen demokratischer Legitimation zumindest sein kann: dann nämlich, wenn ein Land stark gespalten und die Willensbildung fragmentiert ist.33 Dies kann die Demokratie lähmen, und mit dem britischen Beispiel verfügen wir ja über eine aktuelle Anschauung dafür, wie gefährlich das sein kann.34

II. Die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung Auch auf einem anderen Gebiet wurde die Weimarer Reichsverfassung kritisiert, andererseits aber gerade in ihrer Zukunftsgewandtheit gewürdigt, nämlich im Hinblick auf die von ihr kodifizierten Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen. Viele Kritiker hielten den Grundrechtsteil für einen allzu heterogenen Katalog, ja ein Sammelsurium ganz verschiedener Normen ohne eindeutige Rechtsgültigkeit. In dieser Pauschalität verfehlt die Kritik ihren Gegenstand freilich. Schon Gerhard Anschütz, der einen durchaus kritischen Blick auf den Grundrechtekatalog der Verfassung hatte, bemerkte zu Recht, dass man die Frage der unmittelbaren Rechtsgültigkeit nur von Fall zu Fall entscheiden könne.35 Und Horst Dreier wollte kürzlich die Geltungskraft der Grundrechte 32 Vgl. insbesondere Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018; Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018; Udo di Fabio: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern. Eine verfassungshistorische Analyse, München 2018. 33 Vgl. für entsprechende Reflexionen über eine solche Gefahr der Konkurrenz zwischen Reichspräsident und Reichskanzler und ein Plädoyer für die Kanzlerschaft in der Hand des Reichspräsidenten im Sinne der Kontinuität zur Bismarck-Verfassung Meinecke, Bemerkungen [wie Anm. 18], S. 309 f. Man könne auch nicht »einen völlig neuen Staat schaffen«. 34 Vgl. hierzu Andreas Wirsching: Weimar in Westminster, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 30. September 2019. 35 Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin 14 1930, S. 515.

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insgesamt aufgewertet wissen und hat geradezu von einer »Grundrechtsrepublik Weimar« gesprochen.36 Wie immer man dies auch beurteilen mag: Die Abgeordneten der Nationalversammlung empfanden jedenfalls ihre Entscheidung über die Grundrechte auch als massive Zäsur, mit der sie bestimmte Erwartungen verbanden. Zwar besaßen sie in der Grundrechtstradition der westlichen Demokratien einiges Anschauungsmaterial; auch bot sich der Rekurs auf 1848 an. Wie genau aber eine grundrechtsgestützte Verfassung in der Praxis funktionieren würde, ließ sich nur erahnen. Überdies galt es, eine Fülle an sozial- und kulturpolitischen Kompromissen auszuhandeln. Entscheidend aber war die dezidierte Zukunftsgewandtheit der Nationalversammlung, mit der sie den Grundrechtsteil bei allen Konflikten im Einzelnen gestaltete. Wie sonst nirgends folgte die Verfassung hier dem Modus der Verheißung. Neben den klassischen liberalen Freiheitsrechten und dem Minderheitenschutz enthielt sie eine Vielzahl wirtschafts- und sozialpolitischer sowie bildungs- und kulturpolitischer Versprechen: Zukunftsversprechen, die dem Kairos der Gegenwart entsprangen. Praktisch allen gesellschaftlichen Gruppen sagten die Abgeordneten die besondere Fürsorge des Staates zu: der Landwirtschaft ebenso wie dem Mittelstand und der Arbeiterschaft; den Lehrern wie der Jugend; den Frauen wie den Familien; den Kinderreichen wie den unehelich Geborenen. Dahinter stand die Hoffnung auf soziale Verbesserung und auf eine nationale Einheit, die doch durch die tiefen sozialen und politisch-kulturellen Zerklüftungen der künftigen Demokratie stets gefährdet sein sollte. Die Abgeordneten wussten dabei durchaus, dass vieles, was sie in ihrem Augenblick verabschiedeten, erst in der Zukunft rechtlich auszugestalten sein würde. Viele »Wechsel auf die Zukunft in der Reichsgesetzgebung« seien zu ziehen, so resümierte Hugo Preuß: Wechsel, »die später einzulösen eine starke und schwierige Aufgabe sein wird.«37 Mithin waren auch nicht wenige der in Weimar kodifizierten Grundrechte »Zukunfts-, nicht Gegenwartsrecht«.38 Mit anderen Worten: Die Konstitutionalisierung, das heißt die Angleichung des allgemeinen öffentlichen und privaten Rechts an die Grundrechte der Verfassung, war einem längerfristigen Prozess in der Zukunft überlassen. Für eine solche allmähliche Ausgestaltung des Weimarer Grundrechtsrahmens fehlte der Republik am Ende allerdings wohl die Zeit. Und in dem Maße, in dem die

36 Horst Dreier: Grundrechtsrepublik Weimar, in: ders./Waldhoff (Hg.), Wagnis [wie Anm. 32], S. 175–194. 37 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 327, 47. Sitzung vom 5. Juli 1919. 38 Anschütz, Verfassung [wie Anm. 35], S. 560.

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versprochene Verbesserung nicht gelang, drohte auch die Zukunftsverheißung in Enttäuschung umzuschlagen. Das sei an einem hinreichend bekannten Beispiel erläutert, nämlich dem Artikel 109 der Weimarer Reichsverfassung. Er lautet in seinem ersten Teil: »Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.« Gertrud Bäumer von der DDP, die selbst zu den ersten deutschen Parlamentarierinnen gehörte, wertete dies als Erfolg. Die Verfassung schafft für die Frauen, so resümierte sie, »die Grundlagen eines neuen Staatsbürgertums mit neuer Selbständigkeit, neuer Verantwortung und vielen neuen Pflichten, schafft einen anderen Lebenshintergrund, auf dem das Wirken der deutschen Frau neue Formen suchen, ihr Wesen sich in neuer Betätigung entfalten muß«.39 Wie könnte eine positive Zeiterwartung klarer und kräftiger ausgedrückt werden? Wie unsicher indes diese auf die Zukunft gerichteten Hoffnungen waren, offenbarten bereits die Diskussionen im Verfassungsausschuss. Frauen sollten grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben, und jeder wusste natürlich, dass dies eine rechtliche Einschränkung bedeutet. Gegen die Stimmen der Sozialdemokratie setzte die bürgerliche Mehrheit das Wörtchen »grundsätzlich« durch. Man habe es aufgenommen, so hieß es, »weil man zum Ausdruck bringen wollte, dass man sich noch nicht ganz klar war über die Tragweite der Bestimmung in allen möglichen Einzelheiten, und weil man deshalb vorsichtigerweise nur die Richtung im allgemeinen angeben wollte. […] Wir haben die ehrliche Absicht, die Gleichberechtigung von Mann und Frau im allgemeinen zu erstreben. Wir sind aber im Moment noch nicht so weit, dies als unumstößlichen Grundsatz bereits für alle Verhältnisse des öffentlichen und privaten Rechtslebens dekretieren zu können, und da die Verschiedenheit der Geschlechter eine vollständige Gleichstellung restlos niemals gestatten wird, sollte das Wort ›grundsätzlich‹ eine Hintertür öffnen.«40 Man kann sich die Ratlosigkeit der bürgerlichen Juristen in der Nationalversammlung plastisch vorstellen: Der Wille zur Innovation stieß auf die bange Frage, welche konkreten Konsequenzen die Entscheidung möglicherweise haben 39 Gertrud Bäumer: Die deutsche Verfassung und die Frauen, in: Die Frau 36 (1919/1920), S. 24, zitiert nach Marion Röwekamp: »Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte«. Weimar – Meilenstein auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter?, in: Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen, Erfurt 2009, S. 235–264, hier S. 236 f. 40 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 30], Bd. 336 Anlage Nr. 391: Bericht des Verfassungsausschusses, S. 496.

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würde. Diese Spannung von Zukunftsversprechen und Zukunftsunsicherheit bestimmte die Zeitwahrnehmung der Abgeordneten. Der Weg der Ausgestaltung der Weimarer Gleichstellungsverheißung war denn auch ausgesprochen dornig. Zwar wurden kinderreiche Familien wie versprochen gefördert, die – verfassungsmäßig gebotene – Gleichstellung von Unehelichen aber blieb aus. Zwar wurde der Mutterschutz erweitert, das rigide Abtreibungsrecht blieb dagegen unverändert. Zwar wurden Frauen – verfassungskonform – als Richterinnen und Anwältinnen zugelassen (1922), aber das Zölibat für die berufstätigen Frauen im öffentlichen Dienst – das der Verfassung widersprach – blieb gängige Praxis. Tatsächlich hat die Forschung sogar von einer »Remaskulinisierung« der Politik im Verlauf der 1920er Jahre gesprochen. 41 Dieses Beispiele, die auch im Hinblick auf andere Grundrechte zu prüfen sind, 42 zeigen, dass die Konstitutionalisierung des Verfassungsrechts unvollständig blieb – was im Übrigen für die frühe Bundesrepublik auch galt, denken wir nur an die rechtliche Gleichstellung der Frau, die erst mit dem Gleichstellungsgesetz von 1957 und letztlich mit der Reformgesetzgebung der 1970er Jahre endgültig vollzogen wurde.

III. Parlamentarische Macht? Dies führt zurück zu der Kernfrage der Weimarer Reichsverfassung und der Zukunftserwartungen, die die Verfassungsschöpfer an sie richteten, nämlich dem Problem der künftigen Machtverteilung in der ersten deutschen Demokratie. Tatsächlich sind ja Verfassungsfragen, wie wir seit Ferdinand Lassalle wissen, immer auch Machtfragen. Sie sind nicht zu trennen von der tatsächlichen Ausgestaltung und Funktionsfähigkeit eines politischen Systems. Erneut lässt dies die Frage nach der Zeiterwartung in der Verfassunggebenden National-

41 Vgl. Röwekamp, »Männer und Frauen« [wie Anm. 39]; Pascale Cancik: Der Kampf um Gleichberechtigung als Voraussetzung der demokratischen Republik, in: Dreier/Waldhoff (Hg.), Wagnis [wie Anm. 32], S. 151–174; Rebecca Heinemann: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratischen Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004; Gabriele Metzler/Dirk Schumann (Hg.): Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, München 2016; Kathleen Canning: Das Geschlecht der Revolution: Stimmrecht und Staatsbürgertum 1918/19, in: Alexander Gallus (Hg.): Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 84–116. 42 Vgl. hierzu Christoph Gusy: Die Grundrechte in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 15 (1993), S. 163–183.

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versammlung stellen. Hier dominierten bekanntlich die Parteien der Weimarer Koalition, die gemeinsam über eine Dreiviertelmehrheit verfügten. Und als solche kannte man sich untereinander. Denn diese Koalition hatte schon den 1912 gewählten Reichstag geprägt, die Friedensresolution von 1917 und die Oktoberreformen 1918 auf den Weg gebracht. Ihre »moralische Bedeutung« sei, deklamierte ein Parlamentarier, »von so großem Schwergewicht, daß man sich eine größere Regierungsmehrheit kaum denken kann.«43 Kurzfristig betrachtet, war diese parlamentarische Machtposition tatsächlich stark und ungefährdet; weder USPD - noch DNVP-Abgeordnete vermochten gegen sie etwas auszurichten. Die Weimarer Koalitionäre schöpften aus einer produktiven parlamentarischen Vergangenheit und projizierten deren Kohäsion in die Zukunft. »Wir sind Mitglieder einer Koalitionsregierung und wollen es bleiben«, wie es ein Zentrumspolitiker formulierte. 44 Und auch ein Skeptiker der Koalition wie Philipp Scheidemann erkannte den Vorteil einer breiten Vertrauensgrundlage. In der Weimarer Koalition sei die Erkenntnis zusammengeschmiedet, »daß die ganze Welt und mit ihr auch unser Volk in einen neuen Abschnitt der Geschichte eingetreten ist, der die Lösung neuer Aufgaben mit neuen Mitteln erfordert.«45 Sozialdemokraten, Linksliberale und Zentrumsangehörige akzeptierten es also als ganz selbstverständlich, dass ihre Verfassungsschöpfung einem Kompromiss entsprang. Entscheidend war allein, dass, wie Hugo Preuß betonte, der Kompromiss »vorwärts gerichtet« sei: »in die Richtung fortschreitender Entwicklung«. 46 Dementsprechend richtete sich die Hoffnung vor allem der liberalen Stichwortgeber auf die künftige Rolle des Bürgertums. Für Max Weber etwa hing das Schicksal der Republik – diese »Saat auf Hoffnungen« –, davon ab, ob sich das Bürgertum »endlich« »politisch auf eigene Füße zu stellen« verstand. 47 Ähnlich äußerten sich Friedrich Meinecke und Friedrich Naumann, der in der Verfassungsschöpfung von Weimar die Chance erkannte, »eine wirklich bis zu Ende gegangene bürgerliche Umgestaltung« zu vollenden, in der »Sozialdemokraten, Demokraten und Zentrum« sich darin einig geworden sind: »Wir sind ein Volk!«48

43 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 326, 6. Sitzung vom 13. Februar 1919, S. 52 (Adolf Gröber, Zentrum). 44 Ebd. 45 Ebd., S. 47. 46 Preuß, Verfassungswerk [wie Anm. 15], S. 88. 47 Weber, Deutschlands künftige Staatsform [wie Anm. 2], S. 442. 48 Naumann, Demokratie [wie Anm. 8], S. 540.

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Naumann verknüpfte das mit der Erwartung, dass die Koalitionspartner künftig durch gegenseitiges Lernen voneinander noch näher zusammenrückten: »Sie – so sagte er zu den Sozialdemokraten – sind Sozialisten. Wir sind bürgerliche Demokraten. Die Herren vom Zentrum sagen: wir bleiben, was wir sind. Das ist wahr, aber ebenso wahr ist: keiner bleibt, was er ist, sondern jeder lernt aus dieser dringenden Umgestaltung, aus dieser Flutung, aus diesem Zwang, in dem wir alle jetzt leben. Wir lernen von rechts her mehr soziale Auffassung. Sie (zu den Sozialdemokraten) lernen links mehr Praxis der Realitäten. Wenn wir das beiderseits gelernt haben, dann werden wir zwar nicht einen Katechismus verfassen, der uns an formale Lehrsätze bindet, aber wir werden einen praktischen Gleichtritt und Mittelweg finden, da es sich darum handelt, mühsam in Jahrzehnten jede selbständige Kraft und jede organisierte Gemeinschaft zur Mitwirkung zu rufen, um als Volk noch einmal sozusagen von den Toten aufzuerstehen.«49 Insofern gehört die Verfassungsschöpfung durch die Weimarer Nationalversammlung zu den Sternstunden des deutschen Parlamentarismus. Über die Parteigrenzen hinweg erzeugte sie bedeutende und zielführende Debatten, zwar kontrovers, häufig auch mit scharfen Konflikten, am Ende aber doch immer von gegenseitigem Respekt getragen. So enthielt die Nationalversammlung das Versprechen des unverbrüchlichen Einvernehmens zwischen demokratischem Bürgertum und Sozialdemokratie. Ihm würden die Gestaltungsmacht der Gegenwart und die Politik der Zukunft gehören. Aber dieses starke Selbstbewusstsein parlamentarischer Koalitionsmacht hatte etwas Trügerisches. Denn die Verfassungsschöpfung war ein theoretisches Werk, durchaus noch abseits der konkreten politischen Praxis und ihrer Herausforderungen. Überdeutlich wurde dies schon, als im Mai 1919 die Praxis in Form des Versailler Friedensvertrags in die Arbeit der Nationalversammlung hineinplatzte. Angesichts der von den Siegermächten gestellten ultimativen Forderung, den Vertrag zu unterschreiben, trat Scheidemann als Reichsministerpräsident zurück und die DDP aus der Weimarer Koalition aus. Der Keil, den die künftige Außenpolitik noch tiefer in das politische Bürgertum treiben würde, war damit bereits erkennbar. Trügerisch war die Hoffnung auf dauerhafte parlamentarische Koalitionsmacht auch vor dem Hintergrund der bürgerkriegsartigen Kämpfe, die vor allem in Berlin und München stattfanden. Die 1919 mit Blut besiegelte Spal-

49 Ebd., S. 555.

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tung der politischen Arbeiterbewegung erwies sich denn auch als schwere Hypothek für die demokratische Zukunft der Deutschen. Beides, der politische Keil im Bürgertum und die Spaltung der Arbeiterbewegung, drückten sich in dem fatalen Ergebnis der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 aus. Die SPD verlor 16 Prozentpunkte, die DDP mehr als zehn, während die Oppositionsparteien USPD, DNVP und DVP zusammen rund 25 Prozentpunkte hinzugewannen (einschließlich der KPD). Die Weimarer Koalition verfehlte die absolute Mehrheit, die Sozialdemokraten waren traumatisiert und gingen in die Opposition; es begann die Zeit der halbherzigen Tolerierungen und Minderheitenkabinette. Die parlamentarische Macht, derer sich die Koalitionäre der Nationalversammlung so sicher gewesen waren, hatte sich verflüchtigt und sollte auch niemals wieder zurückkommen. Insofern war auch das Verfassungswerk, das auf einem gewissen »Urvertrauen« in die Funktionalität des Parlamentarismus gründete, in Frage gestellt. Freilich, weder für die Herausforderung der Praxis noch für die Flucht der Wähler ist das Werk der Nationalversammlung verantwortlich zu machen. Umso deutlicher wird aber etwas anderes: Die politische Massenmobilisierung, vor deren Hintergrund sie tagte, der Schub an Demokratisierung, den sie verkörperte, aber auch die politische Egalisierung, für die sie stand, gebar eine neue Gesellschaft: eine neue Gesellschaft allerdings, der es an traditionaler Legitimität mangelte. Die revolutionär konstituierte Massendemokratie fiel zusammen mit einem Defizit an gemeinsamer Geschichte. Schon das Kaiserreich und seine politische Kultur hatten eine solche gemeinsam durchlebte Geschichte entbehrt. Und in der Weimarer Republik verfügten die Deutschen über keine kollektive Geschichte, die sich als Fortschritts- oder auch als gemeinsame Leidensgeschichte interpretieren ließ. Zwar sahen die Abgeordneten der Nationalversammlung alle irgendwie nach vorne. Und natürlich erwarteten sie sich von der Zukunft eine wie auch immer geartete Verbesserung. Aber worauf sie sich stützen sollten, welche Kontinuitäten der deutschen Geschichte auch in der neuen Zeit fortgesetzt werden sollten und wo ein klarer Neuanfang erforderlich war und wie genau ein solcher Neuanfang auszusehen hätte, darüber herrschten hundert Meinungen. Diese unterschiedliche Zeitwahrnehmung trennte die politischen Kräfte der Nationalversammlung viel mehr als die pragmatischen Erfordernisse der Verfassungsschöpfung. Das Kaiserreich hatte für seine Gegner abgewirtschaftet oder es wurde sogar mit retrospektivem Hass belegt; für seine konservativen und nationalliberalen Anhänger dagegen war es nicht mehr greifbar. Die Revolution, darüber waren sich eigentlich alle außer den USPD -Vertretern einig, war abgeschlossen und konnte keine Quelle künftiger Legitimität sein.

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Was blieb war eine Art politischer Präsentismus: nämlich der pathetische Rekurs auf Demokratie und Volkssouveränität, die sich hic et nunc – in Weimar, in der Nationalversammlung – verkörperte. »Diese Nationalversammlung ist nicht nur das Symbol der deutschen Demokratie, sie ist die deutsche Demokratie selbst«, verkündete ihr Alterspräsident Wilhelm Pfannkuch (SPD).50 Das Verfassungswerk sei eine »Wiedergeburt für unser Volk«, sekundierte der DDP-Abgeordnete Walther Schücking.51 Aber wer war der Erzeuger dieser Neugeburt? Wie hing sie mit der Vergangenheit zusammen und welches politische Leben würde ihr in der Zukunft entspringen? »Die Staatsgewalt geht vom Volke aus« – das war klar, so stand es in der Verfassung. Aber wo wollte sie hin? Diese Frage, die gleichbedeutend mit der Frage nach Vergangenheit und Zukunft war, wusste niemand zu beantworten. So endete der Modus der Verheißung, den die Nationalversammlung so emphatisch beschworen hatte, in einem Vakuum der Zeitdeutung. Der komplizierte und politisch vieldeutige Grundrechtsteil der Verfassung zeugt davon. Allerdings kann, ja muss man fragen, ob eine parlamentarische Demokratie unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft überhaupt dazu in der Lage ist, einen zukunftsbezogenen Modus der Verheißung dauerhaft aufzubringen und die von ihm geweckten Erwartungen zu erfüllen. Politische Komplexität, wie sie sich in den langsameren parlamentarischen Entscheidungsverfahren abbildet, ist von einer solchen Gesellschaft schwer zu ertragen. In dem Maße, in dem sie auf Veränderung drängt, fordert sie die Beschleunigung des politischen Prozesses. Zweifellos liegt hier ein entscheidendes Element für die Fragilität der Demokratie in der Weimarer Republik. Ausgestattet mit schwachen Regierungen und einer verstörten Gesellschaft, war sie in ihrem politischen Willensbildungsprozess fragmentiert. Und weitaus stärker als Franzosen oder Briten standen die Deutschen vor der doppelten Versuchung, entweder aus der Vergangenheit zu leben oder sich der Zukunft zuzuwenden. Weniger gut vermochten sie dagegen, die durch Komplexität gekennzeichnete Gegenwart zu ertragen. Daher stieg die Verführungskraft der Utopien und dezisionistischer, also antiparlamentarischer Politikmodelle, die den Modus der Verheißung auf ihre Weise fortführten. Eskapismus und Selbstermächtigung waren die Folge. Die Nationalversammlung lässt sich dafür ebenso wenig verantwortlich machen wie ihr Werk, die Weimarer Reichsverfassung. Beide entstammten 50 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 1], Bd. 326, 1. Sitzung vom 6. Februar 1919, S. 4. 51 Ebd., 19. Sitzung vom 3. März 1919, S. 475.

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einer großen Stunde der deutschen Geschichte. Aber es war eine irgendwie abstrakte Stunde, die sich von der Vergangenheit isolierte und von der Zukunft nichts wusste. Dies erklärt auch eine fast tragisch zu nennende Fehldeutung wie die Philipp Scheidemanns vom 13. Februar 1919. Gespeist aus dem scheinbar sicheren Wissen der Vergangenheit und dem Überschwang der Gegenwart verfehlte er die Zukunft: »Denn mag auch niemand wissen, welche Stürme unserem Volke noch bevorstehen, die eine Prophezeiung glaube ich wagen zu dürfen, daß die Zeiten der Gewaltherrschaft ein für allemal vorüber sind, und daß keine Macht der Welt jemals ungestraft wird wagen dürfen, das gleiche politische Recht aller Volksgenossen anzutasten.«52

52 Ebd., 6. Sitzung vom 13. Februar 1919, S. 45.

Hélène Miard-Delacroix

Der verfassungspolitische Weg aus dem Krieg Politische Kultur in Deutschland und Frankreich im Vergleich

1939 schrieb Norbert Elias in Über den Prozess der Zivilisation, der Krieg sei »keineswegs nur das Gegenteil von Frieden«.1 Solche fließenden Grenzen zwischen Frieden und Krieg bestanden auch nach dem Ersten Weltkrieg. In Deutschland führte der »Weg aus dem Krieg« in die Weimarer Verfassung. Die französische Dritte Republik dagegen entwickelte im Rahmen einer Verfassung, die schon vor dem Krieg bestanden hatte, eine neue Praxis. Zwischen beiden Ländern sind nach Kriegsende die Kontraste augenscheinlich zahlreicher als die Gemeinsamkeiten. Gegenüber der gelungenen Stabilisierung des Parlamentarismus in der Dritten Republik stechen in den 1920er Jahren deutsche Schwierigkeiten mit dem neuen republikanischen Regime ins Auge. Und die Tatsache, dass sich die junge Generation in Deutschland am Heroenkult um die »Frontkämpfer« des Weltkrieges orientierte, ruft die alte Sonderwegs-Argumentation auf den Plan.2 Dennoch kann die klassische Deutung der Geschichte nicht genügen, der zufolge der »Krieg in den Köpfen« in Deutschland nur wegen Dolchstoßlegende und Kriegsschuld noch Jahre nach dem Waffenstillstand lebendig geblieben sei.3 Es liegt nahe, dass eher ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit einer umfassenden kulturellen Demobilmachung der deutschen Gesellschaft bewirkte. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die ersten Nachkriegsjahre nach 1918 und fragt mittels eines deutsch-französischen Vergleichs nach dem Singulären an der politischen Kultur in der Weimarer Zeit. Innerhalb eines gesamteuropäischen Rahmens mit gemeinsamen Problemlagen, analogen

1

2 3

Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlung der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M. 1982 (1939), S. 452. Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Essen 2012. Gerd Krumeich: Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik, Freiburg 2018.

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Entwicklungen und vergleichbaren Tendenzen und einer großen Bandbreite struktureller Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede richtet sich der Blick auf die Besonderheiten der Startbedingungen in Deutschland. Der Zugang zur entstehenden Weimarer Verfassung stützt sich hier auf den in der französischen Historiographie zentralen Begriff der »sortie de guerre« (der Weg aus dem Krieg). Im Unterschied zum statischen und rein chronologisch funktionierenden Wort des «Nachkriegs«, benennt der dynamischere Begriff der »sortie de guerre« die Dauer eines komplexen und nicht linearen Übergangs. 4 1918/19 schloss sich nur anscheinend die Parenthese »Krieg«, wie John Horne 2002 feststellte: »Zehn Jahre nach der Kriegserklärung vom August 1914 waren die Werte und Referenzen der Kriegskulturen nicht verblasst«.5 Der Abschied von dem außerordentlichen Kriegszustand und die Rückkehr zu einer im Frieden organisierten Gesellschaft waren Teil einer kulturellen Demobilmachung für erschütterte und trauernde Individuen, Staaten und Nationen.6 Dass einem Krieg ein Ende zu setzen gar nicht einfach war, meinte Georges Clemenceau, als er am 11. November 1918 die dann immer wieder aufgenommene Formel prägte: »Wir haben den Krieg gewonnen. Nun gilt es, den Frieden zu gewinnen und das wird vielleicht schwieriger sein«.7 Nach Bruno Cabanes, der u. a. französische Soldatenbriefe aus den Jahren 1918 bis 1920 auswertete, war die Übergangsphase zwischen Krieg und Frieden in extremer Weise von Gewalt geprägt, mit hasserfüllten Vorstellungen aus der Zeit des Konflikts, die unterschwellig oder offen den Krieg lange Zeit überdauerten.8 Vergleichbares galt für den anderen Sieger Großbritannien, als er seine Helden feierte. Im Unterschied zur Rückkehr in das Private (»retour à l’intime«), in der die menschliche Dimension mit anthropologischem Ansatz Untersuchungs-

4

Stéphane Audoin-Rouzeau/Christophe Prochasson (Hg.): Sortir de la Grande Guerre, le monde et l’après-1918, Paris 2008, S. 15; Jacques Frémeaux/Michèle Battesti (Hg.): Sortir de la guerre, Paris 2014. 5 John Horne: Locarno et la politique de démobilisation culturelle: 1925–1930, in: ders. (Hg.), Démobilisations culturelles après la Grande Guerre, 14–18 Aujourd’hui, Today, Heute, 5 (2002), S. 72–87, hier S. 75. 6 John Horne: Introduction, in: ebd., S. 45–53; ders.: Kulturelle Demobilmachung 1919– 1939. Ein sinnvoller historischer Begriff?, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, 21 (2005), S. 129–150. 7 »Le Monde illustré« vom 13. November 1937, zitiert in: Jean-Michel Guieu: Gagner la paix 1914–1929, Paris 2015, S. 7. 8 Bruno Cabanes: La victoire endeuillée. La sortie de guerre des soldats français (1918– 1920), Paris 2004.

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gegenstand ist, wurde für die verfassungsmäßigen Aspekte der Rückkehr zur Normalität zu den Normen des Friedens in Werten, Darstellungen und Bildern das Konzept der »sortie de guerre« auf seine analytische Tauglichkeit kaum geprüft. Mit diesem Ansatz soll hier das Augenmerk auf die Rekonfiguration der Normen in der Verfassung selbst sowie auf die Einübung und Praxis des Pluralismus in der Republik gerichtet werden. Der französische Fall, mit der faktischen Rückkehr zum institutionellen status quo ante, dient als Vergleichseinheit und Kontrapunkt für den deutschen Fall und seinen Übergang von der Monarchie in die Republik. Leitende Frage ist dabei das Gewicht der demokratischen Erfahrung oder Nichterfahrung vor dem Krieg und die Rolle des Sieger- oder Besiegtenstatus’ in der jeweiligen Entwicklung zur pluralistischen Vertretung gesellschaftlicher Interessen. Zwei Punkte werden im Folgenden besonders betont. Erstens die Integration der Kriegserfahrung in die republikanische Verfassungskultur in Frankreich vs. die negative Abgrenzung der Weimarer Demokratie von der Kriegserfahrung; zweitens die Effekte der längeren Tradition der »Einübung« in den Parlamentarismus in Frankreich. In einem ersten Schritt werden im deutsch-französischen Vergleich die zahlreichen Ähnlichkeiten und auch wichtigen Unterschiede auf dem »Weg aus dem Krieg« erörtert, bevor ein zweiter Gedankengang auf Geist und Werte der zwei Verfassungen eingehen wird. Schließlich werden politische Kultur/en in der Verfassungspraxis zu Beginn der 1920er Jahre beobachtet. Die These einer multifaktoriellen deutschen Besonderheit wird hier vergleichend diskutiert mit einem Fokus auf parlamentarische Vorerfahrung und auf die fehlende Aussöhnung der deutschen konservativen Kräfte mit der Republik, im Unterschied zu Frankreich.

I. Der Weg aus dem Krieg und die kulturelle Demobilmachung im deutsch-französischen Vergleich: Ähnlichkeiten und Unterschiede 1918/19 wurden Deutschland und Frankreich mit der gleichen logistischen Herausforderung der Demobilisierung von 6,5 Millionen deutschen und 5 Millionen französischen Soldaten konfrontiert. Ein Teil der französischen Armee blieb auf dem Balkan in der Armée d’Orient aktiv, während zwei Millionen Zivilisten in die zerstörten Gebiete im Nordosten Frankreichs zurückkehrten. In beiden Ländern mussten Kriegswirtschaft und Kriegsgesellschaft auf die Friedensverhältnisse umgestellt werden. Die menschliche Bilanz des Kriegs war vergleichbar mit Verlusten in Höhe von 10,5 % der männlichen Erwerbstätigen

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in Frankreich und 9,8 % im Deutschen Reich.9 Beide Gesellschaften waren von der Trauer gezeichnet. Die Demobilisierung erfolgte in Deutschland sehr rasch, zum Teil unorganisiert, zum Teil unter der Leitung des von Joseph Koeth geleiteten Reichsamts für wirtschaftliche Demobilmachung. Sehr langsam wurde sie hingegen von dem »sous-secrétariat d’État à la démobilisation« von Louis Deschamps über zwei Jahre, und unter Beibehaltung des regulären Heeres durchgeführt. In dieser Zeit der »Kulturellen Demobilisierung« sollten sich die Geister beruhigen und sich die Völker sowohl in ihrem Innern wie auch in den internationalen Beziehungen von der Gewalterfahrung befreien können. Als Deeskalation wird die Demobilisierung von der Forschung als Kontrapunkt der ideologischen Mobilisierung zu Kriegsbeginn gedacht. Dies beruht auf der Annahme, dass sich soziale Vorstellungen, Praktiken, Erfahrungen und Repräsentationssysteme durch den Krieg radikalisiert hatten. Bei den französischen und britischen Siegern gab es in den Monaten nach dem Kriegsende einen neuen Höhepunkt des Hasses und der Kriegsdynamik. Denn die Entdeckung der Verwüstungen im Nord-Osten Frankreichs und der Eintritt auf das Territorium des Feindes führten zu einer erneuten kulturellen Mobilisierung in der französischen wie auch britischen Gesellschaft.10 Sieger und Besiegte, Franzosen und Deutsche teilten aber die gleiche Kriegserfahrung von Tod und Gewalt, eingerahmt einerseits von dem umstrittenen Burgfrieden als Gegenkraft zur politischen und kulturellen Zerklüftung,11 andererseits von der Rückkehr in die Heimat nach der entgrenzten Gewalt und der Erschütterung von Sicherheiten und Identitäten.12 Für die Folgen

  9 Rüdiger Overmans: Kriegsverluste, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Stuttgart 2009, S. 663–666. 10 Stéphane Audoin-Rouzeau: »Bourrage de crâne« et information en France en 1914–1918, in: Jean-Jacques Becker/Stéphane Audoin-Rouzeau: Les sociétés européennes et la ­Guerre de 1914–1918, Nanterre 1990, S. 163–174, hier S. 168; John Horne: Remobilizing for total war: France and Britain, 1917–1918, in: ders.: State, Society and Mobilization, Cambridge 1997, S. 195–211. »Der Frieden ist der Kulminationspunkt des Krieges«, ders., Demobilmachung [wie Anm. 6], S. 136. 11 Thomas Raithel: Das »Wunder« der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996, S. 17. Zur Fortsetzung der Kriegserfahrung in der Nachkriegszeit im europäischen Vergleich: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.): Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002. 12 Françoise Thébaud: Européennes en guerre. Les effets de la grande guerre sur la condition des femmes, in: Françoise Berger/Anne Kwaschick (Hg.): La condition féminine. Feminismus und Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Féminismes et mouvements de femmes aux XIXe et XXe siècles, Stuttgart 2016, S. 97–109, hier S. 99.

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des Kriegstraumas prägte Maurice Agulhon das Wort von dem »corps social malade de la guerre« (kriegskranker sozialer Körper).13 Lang ist die Liste der in beiden Ländern ähnlichen Krisenfaktoren auf diesem Weg aus dem Krieg: Sinken der Industrieproduktion, eine katastrophale Finanzsituation von Staat und Kommunen, Arbeitslosigkeit und Inflation, welche das Fließen der Reparationen für den französischen Haushalt zu einem Imperativ machte und die Exekutionspolitik »rechtfertigte«.14 Schließlich bewirkte der Krieg in beiden Ländern in dem Moment, da er mental bewältigt werden musste, eine Fundamentalpolitisierung. Auch im Massenprotest und in den Streiks des Jahres 1919 gibt es Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich. Allerdings war der Aufruhr länger und vor allem dramatischer in der deutschen Rätebewegung und der Revolution. Dennoch erlebte Frankreich im ersten Halbjahr 1919 und insbesondere Paris im Mai 1919 eine revolutionäre-syndikalistische Streikwelle, die zu sozialpolitischen Zugeständnissen wie dem 8-Stundentag und einem Gesetz über Tarifverträge führte. Notstand und Zensur wurden bis Mitte Oktober aufrechterhalten und die bereits im Frühjahr 1918 fälligen Wahlen auf November 1919 aufgeschoben. Noch im Mai 1920 lähmte ein Generalstreik der Eisenbahner das Land. Die Streikwelle ermutigte die Schaffung von »unions civiques« als Gegenstück von Technischer Nothilfe und Einwohnerwehren zur Verteidigung des Eigentums, der öffentlichen Sicherheit und zum Schutz von Produktion und Dienstleistungen.15 Ein vergleichbares Gefühl der existentiellen Bedrohung befeuerte die politische Gewalt bei extremistischen Bewegungen links und rechts. Allerdings machte den größten Unterschied sicherlich das Ausmaß von Inflation und Arbeitslosigkeit, von Generalstreik, Aufstand und blutiger Niederschlagung, aber auch die unterschiedliche Erfahrung von Sieg bzw. Niederlage, von Machtgewinn bzw. nationaler Demütigung. Bekanntlich entstand die Weimarer Republik mit dem Makel der Niederlage und blieb damit behaftet. Erwartungshaltung und kollektive Psychologie wurden dadurch radikal geprägt. In der Enttäuschung und dem Groll konnte der Topos des unbesiegten

13 Maurice Agulhon: La France malade de la guerre (1918–1932) (Kap. 6) in: La République, Bd. 1, L’élan fondateur et la grande blessure (1880–1932), Paris 1990. 14 Jacques Bariéty: Les relations franco-allemandes après la Première Guerre mondiale. 10 nov. 1918–10 jan. 1925. De l’exécution à la négociation, Paris 1977. 15 Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 113–124.

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Militärs ein Teil der Anerkennung für die Veteranen werden. Mit den Freikorps und den 1,9 Millionen Gewehren im Umlauf um 1920 trifft für das Deutsche Reich also viel mehr als für Frankreich George Mosses Begriff der sekundären Brutalisierung in der politischen Auseinandersetzung.16 Nach diesem Modell ließe sich behaupten, dass das unmittelbar bei Kriegsbeginn eingetretene Phänomen der »Brutalisierung« als unerwartet rascher Zusammenbruch des Normsystems aus der Friedenszeit am Kriegsende nicht halt gemacht sondern ein hohes Fortsetzungspotential in der politischen Kultur der Weimarer Zeit gehabt habe. Ob die politische Kultur der Vorkriegszeit im Deutschen Reich so friedlich gewesen war, bleibt dahingestellt. Nicht zuletzt zählen zu den weiteren Diskrepanzen zwischen Deutschland und Frankreich nach 1918 auch fundamentale Unterschiede der jeweiligen politisch-ideologischen Traditionen, die auf die Vorkriegszeit zurückgingen, mit sehr doktrinären deutschen Minderheitssozialisten und (später) Kommunisten, während die französische syndikalistische Linke bei ihrer Aktion über eine stärkere gesellschaftliche Basis in den sozialen Verhältnissen der Arbeiterschaft verfügte.17

II. Geist und Werte der Verfassung. Eine politische Kultur im Übergang Alles in allem konnte in Deutschland nicht von einer tatsächlichen Demobilisierung die Rede sein, wie sie in Frankreich in der Form des Totenkults eine gesellschaftliche Reintegration der Veteranen ermöglichte. Die Leistung der Soldaten wurde in Frankreich dankbar anerkannt. Das war eine wichtige Etappe in der kulturellen Demobilisierung. Mystisch und sakral gefärbte Militärparaden waren Reintegrationsriten.18 Als Kernelemente einer »mora16 George L. Mosse: Der Erste Weltkrieg und die Brutalisierung der Politik. Betrachtungen über die politische Rechte, den Rassismus und den deutschen Sonderweg, in: Manfred Funke u. a. (Hg.): Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa, Bonn 1987, S. 127–139; George L. Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993 (amerikanisch: Fallen Soldiers – Reshaping the Memory of the World Wars, Oxford 1990). 17 Wirsching, Weltkrieg [wie Anm. 15], S. 37–44. 18 Cabanes, Victoire endeuillée [wie Anm. 8], S. 156 f.; Leonard V. Smith: The Embattled Self. French Sordier’s Testimony of the Great War, Ithaca 2007, S. 43–59; Antoine Prost : Les Anciens Combattants et la société française 1914–1939, Paris 1977, Bd. 3: Mentalités et idéologies, S. 35–76. In der Historiographie der französischen Veteranen bleibt die dreibändige Studie von Prost weiterhin von Bedeutung (Bd. 1: Histoire, Bd. 2: Sociologie). Siehe auch Antoine Prost: Les monuments aux morts, in: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire, 3. Bde. Paris 1997, Bd. 1, S. 199–226.

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lischen Anerkennungsökonomie« symbolisierten sie die Schließung der Vergangenheit und die Öffnung in die Zukunft und bildeten sozusagen die Rekonstruktion einer den Krieg hinter sich lassenden zivilen Identität.19 Hier wird die These vertreten, dass in Deutschland mit dem Streben nach der Schaffung eines zivilen Rahmens für das Zusammenleben ein anderer, aber enger Sinnzusammenhang bestand zwischen Kriegsüberwindung und Verfassunggebung. In Frankreich konnte man 1919 an die vor dem Krieg schon bestehende Ordnung der mit dem Kompromiss von 1875 entstandenen Dritten Republik anschließen. Sie war von einem vernunftbasierten Voluntarismus und kritischrationalen Fortschrittoptimismus geprägt.20 Deutschland war 1919 mit der Herausforderung konfrontiert, mit einer neuen Verfassung den staatsrechtlichen Übergang auch zukunftsorientiert zu organisieren. Eine gleichfalls neue Verfassungskultur musste damals noch aufgebaut werden, um idealerweise eine längerfristige Tradition von kollektiven Vorstellungen und Praktiken zu erzeugen und zu erwerben.21 Demgegenüber beruhte das französische republikanische Modell auf einem Konsens über ein Verfassungssystem, gekennzeichnet durch die Allmacht des Parlaments, durch Werte (individuelle Freiheiten, Vernunft, Positivismus, laïcité), durch ein soziales Projekt der Solidarität und Förderung des Mittelstands und durch einen Patriotismus ohne Nationalismus.22 Für Deutschland aber war 1919 nicht wie für Frankreich der Anschluss an Vorkriegszeit und an das Orientierungswissen der »republikanischen Kultur« möglich. Hier fehlte die langfristige Identität von Territorium, Nation, Republik und parlamentarischer Demokratie. Nicht zuletzt hatte der Sieg von 1918 »der (französischen) Republik ein Gütesiegel gegeben, das ihr fehlte, die Fähigkeit, 19 Zur »moralischen Anerkennungsökonomie« am Beispiel der zweiten Nachkriegszeit, Guillaume Piketty: Economie morale de la reconnaissance. L’Ordre de la Libération au péril de la Seconde Guerre mondiale, in: Histoire@Politique. Politique, culture, société, 2007, 03, Dossier Sorties de guerre au XXe siècle; http://www.histoire-politique.fr/index. php?numero=03&rub=dossier&item=26. 20 Andreas Wirsching: Nationale Einheit und republikanische Kultur in der französischen Dritten Republik, in: Detlef Lehnert (Hg.): Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2011, S. 193–207, hier S. 198. 21 Verfassungskultur kann hier verstanden werden als »jene verfestigten, über lange Zeit bestehenden kollektiven Vorstellungen und Praxen, die die Sinngehalte einer spezifischen politischen Ordnung normativ auszeichnen, im Bemühen darum, die Verfassung und ihre zentralen Leitideen im Zentrum der politischen Symbolordnung zu verankern«, Rainer Schmidt: Verfassungskultur und Verfassungssoziologie. Politischer und rechtlicher Konstitutionalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2012, S. 57. 22 Serge Berstein: Le modèle républicain: une culture politique syncrétique, in: Serge Berstein (Hg.): Les cultures politiques en France, Paris 1999, S. 119–151.

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die Sicherheit der gefährdeten nationalen Gemeinschaft zu gewährleisten.«23 Nicht dass die französische Republik ein Dauerglückszustand gewesen wäre. Das Projekt blieb stets mit dem Bewusstsein seiner eigenen Unvollkommenheit beschäftigt.24 Aber der Erste Weltkrieg wurde in diese Kultur integriert, die Erinnerung daran wurde als Symbol für die Einheit der Nation und damit für die republikanische Ordnung in Anspruch genommen. Er stärkte den nationalen Zusammenhalt in dem Maße, in dem sich bisher entgegengesetzte Kräfte wie der gemäßigte Katholizismus und der laizistische linke Republikanismus annäherten. Sogar die gegenrevolutionäre Rechte aus monarchistischen Kreisen konnte Respekt haben für den Republikaner Clemenceau. Im deutschen Fall wurde der Krieg ex negativo als Faktor für die Gegenwartsgestaltung integriert, mit den Werten des Friedens und der Republik, also Pluralismus, Toleranz und Einbindung der Parteien, die ehemals »Reichsfeinde« gewesen waren (Sozialisten und Katholiken). Der Platz fehlt hier, um die Leitwerte der Nationalversammlung ausführlich zu diskutieren. Erinnert sei nur an die dezidiert gewollte Pluralisierung der politischen Willensbildung, basierend auf Parteien und Parlament, das Verhältniswahlrecht und somit der prozentual angemessenen Repräsentation der politischen Strömungen. Diese neu geformten Möglichkeiten, eine Vielfalt von Meinungen zur Geltung zu bringen, waren das Gegenteil der vorgestellten Einheit im Burgfrieden. Wie sehr dies den politisch-sozialen Bedürfnissen der Nachkriegszeit entsprach, zeigt die französische Verfassungsreform vom 12. Juli 1919. Mit ihr wurde die Verhältniswahl gegen das Mehrheitswahlrecht von 1889 eingeführt und in ein hybrides System überführt.25 Der Geist der republikanischen Grundordnung konnte schließlich in beiden Verfassungen in dem Umstand gesehen werden, dass die Reichsminister und die französischen »ministres« in einer doppelten Abhängigkeit standen, indem sie des Vertrauens der Nationalversammlung bedurften, ihr verantwortlich waren, aber vom Staatsoberhaupt (Reichspräsident bzw. »président de la République«) ernannt wurden. Auf den Umgang damit wird in einem dritten Schritt einzugehen sein. Hier sei nur festgehalten, dass bei der grundlegenden

23 Jean-François Sirinelli: La République, in: Jean-Pierre Rioux/Jean-François Sirinelli (Hg.): La France d’un siècle à l’autre 1914–2000, Bd. 1, Paris 2002, S. 194. 24 Nicolas Delalande: Le pacte fiscal est-il républicain? In: Marion Fontaine/Frédéric Monier/Christophe Prochasson (Hg.): Une contre-histoire de la IIIe République, Paris 2013, S. 272–284, hier S. 283. 25 Es war eine Listenwahl auf der Département-Ebene. Bei absoluter Mehrheit bekam die entsprechende Liste alle Sitze.

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Weichenstellung mit der Schaffung einer demokratischen Republik mit parlamentarischem Regierungssystem im Deutschen Reich dem Krieg der Rücken gekehrt werden sollte, während er in Frankreich in die politische Kultur integriert wurde.

III. Verfassungspraxis als Verfassungskultur zu Beginn der 1920er Jahre Hier soll dem prozessualen Aspekt der Verfassungskultur Aufmerksamkeit geschenkt werden, wie von Hans Boldt definiert als »Umgang mit der gegebenen Verfassung, die darauf bezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger«.26 Mit dem deutsch-französischen Ansatz können vier Kriterien eines solchen befriedeten oder nicht befriedeten Umgangs mit der gegebenen Verfassung, den man als Teil der politischen Kultur identifizieren kann, unterschieden werden. Das erste Kriterium ist das Bekenntnis zur Republik bzw. der Republikanismus. Hier dominiert ein Kontrast zwischen Deutschland und Frankreich in der Tatsache, dass die französischen konservativen Kräfte – anders als die deutschen Konservativen – sich über die liberal-konservative Sammlung im Bloc national républicain mit der demokratischen Verfassung ausgesöhnt hatten und zur systemtreuen parlamentarischen Rechten wurden. Der Bloc regierte von 1919 bis 1924. Zuvor hatte die »union sacrée« (der Burgfrieden) 1914 die Annäherung vieler Katholiken, vor allem der liberalen, an die laizistische Republik bewirkt (La Croix).27 Der Sieg von 1918 ermöglichte dann ein zweites »ralliement« und die konservative Affirmation der Dritten Republik durch die parlamentarische Rechte.28 Der Bloc national als liberal-konservative Sammlung bestand aus vier unterschiedlichen Fraktionen, die alle das Wort »republikanisch« in ihrem Namen führten – sozusagen ein gemeinsamer kultureller Nenner.29 Neben

26 Hans Boldt: Weimar: Verfassung ohne Verfassungskultur?, in: Detlef Lehnert (Hg.): Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation, Köln/Wien/Weimar 2014, S. 223–240, hier S. 223. 27 Michael Hoffmann: Ordnung, Familie, Vaterland. Wahrnehmung und Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die parlamentarische Rechte im Frankreich der 1920er Jahre, München 2008, insbesondere S. 56 f. Berühmt ist der symbolische Handschlag von Albert de Mun, dem katholischen Offizier, der 1871 den Commune-Aufstand niederzuschlagen half, mit dem Sozialisten Edouard Vaillant, der auf der Seite der Aufständischen gekämpft hatte. 28 Guieu, Gagner la paix [wie Anm. 7], S. 203 f. 29 Erstens die Entente Républicaine Démocratique ERD, sogenannte Progressisten, die die rechtsliberalen und konservativen Katholiken ab 1924 in der Fédération républicaine

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der integrativen Funktion der parlamentarischen Arbeit sollte das Entgegenkommen des Staates in religiösen Fragen für die Befriedung ausschlaggebend sein. Das zweite Kriterium ist der Pluralismus. Jenseits der Perzeption der Pluralität in der vom Krieg veränderten Gesellschaft ist damit deren Ausdruck in Form von Parteien und Interessengruppen gemeint sowie deren Einbindung in das sogenannte Parlamentarische Spiel als pendelartiges Abwechseln der parlamentarischen Regierung und einer gleichzeitig gebildeten systemloyalen Opposition.30 Die Sitzverteilung von 1919 und die Bildung der Weimarer Koalition ließ Gutes ahnen, bis die Reichstagswahl von 1920 und insbesondere vom Mai 1924 einen neuen Anstieg der republikfeindlichen Kräfte anzeigte. In dieser Zeit erfolgte in Frankreich der demokratische Pendelschlag mit dem Wahlsieg des Cartel des gauches um die »radicaux« von Edouard Herriot. Dabei waren im Kontext der Finanzkrise die französischen Regierungsmehrheiten von einer großen Instabilität gekennzeichnet. Aber das parlamentarische »Spiel« funktionierte. Das dritte Kriterium ist die Tendenz, die Exekutivgewalt zu stärken. Sie basiert in beiden Ländern gleichermaßen auf der Angst vor der Macht der Parteien, die das Parlament lähmen könnte, und dem Wunsch nach einem Gegengewicht. An der Seite von Hugo Preuß hatte Max Weber für einen charismatischen Präsidenten gegen den »Parlaments-Absolutismus« plädiert, so dass der Reichspräsident vom Vorbild eines starken Staatsoberhaupts in der konstitutionellen Monarchie abgeleitet wurde (»Kaiserersatz« für Hermann Molkenbuhr, »Ersatzkaiser« für Friedrich Meinecke31). Hierin bestehende Gefahren wurden früh erkannt. So führte der USPD -Abgeordnete Oskar Cohn einen deutsch-französischen Vergleich ins Feld, als er am 10. Februar 1919 gegen die Einführung eines Reichspräsidiums argumentierte: »Wir haben von der Monarchie ein für alle Mal genug und möchten sie nicht auf Umwege einer republikanischen Monarchie wieder bei uns herbeiführen. […] Man sollte sich nicht auf das Beispiel der französischen oder der amerikanischen Republik berufen. Dort sind ganz andere Voraus-

versammelten; zweitens die eher bonapartistische und revisionsorientierte Action républicaine et sociale; drittens die Gauche républicaine démocratique und viertens die Républicains de gauche. 30 Thomas Raithel: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre, München 2005. 31 Zitiert in: Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, Neuausgabe München 2018, S. 101.

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setzungen einer demokratischen Kultur und Tradition«.32 Ähnlich vergleichend äußerte der SPD -Sprecher Richard Fischer am 28. Februar 1919 Bedenken, dass die Vorlage dem Reichspräsidenten eine höhere, weniger eingeschränkte Macht gebe, als sie der Präsident der französischen Republik oder der Präsident der Vereinigten Staaten besitze. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, der Reichspräsident könne aus einer anderen Partei als Friedrich Ebert kommen »vielleicht aus einer reaktionären, staatsstreichlüsternen Partei«.33 Tatsächlich läutete die Wahl Hindenburgs 1925 die autoritäre Verfassungsumbildung ein, die wegen des labilen Gleichgewichts zwischen Reichspräsidenten, Reichsregierung und Reichstag möglich war. Allerdings war bereits mit der Regierung des präsidialen Kanzlers Cuno und seinem Beamtenkabinett 1922 die Richtung eingeschlagen worden. Kritisch zu betrachten ist schließlich auch die Idee einer Großen Koalition. Sie war durchaus auch »eine parlamentarische Ersatzkonstruktion für die vertraute Fiktion einer obrigkeitsstaatlichen Regierung‚ über den Parteien«.34 In Frankreich gingen Revisionsgedanken in dieselbe Richtung gegen das »régime d’assemblée« (Parlamentsherrschaft). Der zum Konservativen gewordene moderate Sozialist Alexandre Millerand versuchte ein stärker präsidiales System durchzuboxen. Bereits im November 1919 plädierte er für die Wiederbelebung von früheren Vorrechten des Staatspräsidenten und für die Auflösung des Parlaments durch ihn ohne Zustimmung des Sénats.35 Als er 1920 selber anstelle des geisteskranken Paul Deschanel zum Staatspräsidenten gewählt wurde, mischte er sich als erster seit dem ersten Staatspräsidenten Patrice Graf de Mac Mahon in die Außenpolitik ein.36 Mit der Stärkung seines Amtes wolle er »der Regierung mehr Stabilität geben, den wirtschaftlichen Interessen mehr Garantien«.37 Als er im November 1924 seine Ligue républicaine nationale gründete, verlangte er eine Verfassungsänderung mit der Schwächung der bei-

32 Zitiert in: Horst Möller: Die Weimarer Republik. Demokratie in der Krise, Neuaufl. München 2018, S. 168. 33 Zitiert in: Winkler, Weimar [wie Anm. 31], S. 101. 34 Andreas Wirsching: Koalition, Opposition, Interessenpolitik. Probleme des Weimarer Parteienparlamentarismus, in: Marie-Luise Recker (Hg.): Parlamentarismus in Europa. Deutschland, England und Frankreich im Vergleich, Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien Band 60, München 2004, S. 41–64, hier S. 63. 35 Stefan Martens: Alexandre Millerand. Der Mann zwischen Clemenceau und Poincaré, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 5 (1992), S. 96–113. 36 Mac Mahon war Marschall von Frankreich und erster Staatspräsident der Dritten Republik von 1873 bis 1875. 37 Rede Millerands in Evreux am 14. Oktober 1923, zitiert in: Guieu, Gagner la paix [wie Anm. 7], S. 337.

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den Kammern, denn das Regime »flöße Ekel ein«. Es kam zu harten Konflikten mit den Regierungschefs Raymond Poincaré und Aristide Briand, aber nicht zur Ausbildung eines präsidentiellen Notverordnungsregimes. Das vierte Kriterium, mit dem man eine nichtbefriedete Verfassungskultur messen kann, ist die Polarisierung im Freund-Feind-Denken, die hilft, der politischen Gewalt den Weg zu bahnen. Die Weiterführung des Kriegs gegen die politischen Gegner im Innern fand sich eindeutig in Deutschland. Die Kriegskultur wurde zu Friedenszeiten neuformuliert: »Aus den Verrätern der Heimatfront (Juden, Sozialdemokraten, nationalen Minderheiten) wurden die Architekten nicht nur der Niederlage, sondern auch des neuen Regimes, das man als permanenten Verrat an den Kriegsopfern und den gefallenen Soldaten betrachtete. Somit wurde die Dolchstoßlegende nicht nur ein letztlich kontingenter Teil der Manipulationen von der Armee und der nationalistischen Rechten (angefangen 1919 mit Hindenburg), sondern bildete eine direkte und strukturelle Verbindung zwischen der Kriegskultur und der Verweigerung der kulturellen Demobilmachung nach Kriegsende«.38 Aber auch in Frankreich wurde in abgemilderter Form der Krieg gegen die politischen Gegner weitergeführt. Dies war bei extremistischen Gruppen der Fall, aber in Frankreich zeitversetzt mit der Bildung von antirepublikanischen und zur Gewalt bereiten »Ligues« während der Jahre 1924 und 1925, als Reaktion auf die kommunistische Herausforderung. Bei dem integralen Nationalismus und der Action Française mit Charles Maurras und Léon Daudet war die Feindschaft gegenüber den »Nicht-Patrioten«, darunter Sozialisten und Kommunisten, Programm. Dieser virulente Antikommunismus im Innern war die Kehrseite des außenpolitischen Nationalismus.39 Die Ähnlichkeit mit Diskursen aus der deutschen Rechten gegen die »jüdisch-bolschewistische Verschwörung«, gegen die »Verräter« an der Heimatfront sticht ins Auge. Aber auch die französischen Kommunisten, entstanden aus der Spaltung der SFIO auf dem Parteitag von Tours im Dezember 1920, verlängerten den Krieg im Inneren in Form des Klassenkampfes. Da wurde auch ein Krieg der Erinnerung an die Blutopfer des Weltkriegs geführt, der Krieg sei eine Folge der bürgerlichen kapitalistischen Klassengesellschaft gewesen. 40

38 Horne, Demobilmachung [wie Anm. 6], S. 144. 39 Hoffmann, Ordnung [wie Anm. 27], S. 192. 40 Ein besonderer Krieg der Erinnerungen wurde in der Mitte der 1920er Jahre an den Kriegerdenkmälern in kommunistischen Gemeinden mit der Empörung der Veteranenverbände geführt, so zum Beispiel in Levallois-Perret, vgl. Andreas Wirsching: Umstrittene Erinnerung. Die monuments aux morts nach dem Ersten Weltkrieg. Das Beispiel Levallois-Perret, in: Klaudia Knabel/Dietmar Rieger/Stephanie Wodianka (Hg.):

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Hingegen versuchte der Bloc national den Kriegskonsens, zum sozialen und politischen Ideal der Harmonie erhöht, in der Republik zu verlängern. 41 Dazu diente das Festhalten am Gegensatz gegen den deutschen Feind – wenigstens blieb der Feind im Ausland.

IV. Fazit Wie diese allzu skizzenhaften Ausführungen aus einer vergleichenden deutschfranzösischen Perspektive andeuten, war in der Verfassungspraxis der beiden Länder der Krieg jederzeit abrufbar – aber in sehr unterschiedlicher, ja konträrer Weise. Dass die Kriegserfahrung in die französische politische Kultur um die Verfassung integriert werden konnte, lag nicht nur am Siegerstatus, sondern an einer Kontinuitätserfahrung: Der parlamentarische Führer Clemenceau war 1914 zum Kriegsführer geworden und nach 1918 teilten Parlamentarier den Ruhm des Kriegs mit den Militärs. 42 So konnte sich der hegemoniale republikanische Diskurs weiter behaupten und zur Disziplinierung des Extremismus auf der Linken wie auf der Rechten mobilisiert werden. Das Beispiel des 1922 zum Nationalfeiertag erhobenen 11. November veranschaulicht die integrierende Funktion der Erinnerung an den Krieg: Die Feier bot eine Offenheit für alle politischen und gesellschaftlichen Richtungen und ermöglichte zugleich das Erlebnis der Geschlossenheit im Ritual. Im geschlagenen Deutschland wurde der Kriegsausgang mit Theorien von Verrat und Dolchstoß eher verdrängt. Gerd Krumeich sprach von einer »verweigerten Trauer« zur Bezeichnung dieser Unfähigkeit, die Werte und Repräsentationen aus der Kriegszeit zu demobilisieren, indem man ein symbolisches Mittel findet, um zusammen um den verlorenen Krieg zu trauern. 43 So konnte das Misstrauen gegen die parlamentarische Demokratie einer

Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, Göttingen 2005, S. 127–143. 41 Bruno Cabanes: Les vivants et les morts. La France au sortir de la Grande Guerre, in: Audoin-Rouzeau/Prochasson (Hg.), Grande Guerre [wie Anm. 4], S. 27–45, hier S. 43; Jean-Jacques Becker: La Première Guerre mondiale dans la mémoire des droites, in: Jean-François Sirinelli (Hg.): Histoire des droites en France, Bd. 2: Cultures, Paris 1992, S. 505–550, hier S. 514. 42 Andreas Wirsching: Verfassung und Verfassungskultur im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Christoph Gusy (Hg.): Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 371–389, hier S. 376. 43 Gerd Krumeich: L’impossible sortie de guerre de l’Allemagne, in: Audoin-Rouzeau/ Prochasson (Hg.), Grande Guerre [wie Anm. 4], S. 145–163, hier S. 157.

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Verlängerung der Ideen von 1914 und einer Weiterführung des Krieges in der Vorliebe für Gemeinschaft statt Gesellschaft gleichkommen. Anstatt dass sich die Deutschen nach dem Krieg in einem Minimalkonsens um gemeinsame Werte zusammenfanden, bestand in dem besiegten Land eine stark fragmentierte politische Kultur44 mit mangelnder Identifikationsmöglichkeit: In Abwesenheit einer nationalen Revolution wie die Französische Revolution in der Vergangenheit hatte der Krieg eher den Hiatus zwischen Nation und Staat vertieft, so dass die rechtsextremen Feinde der Republik das neue politische Regime im Namen der Nation bekämpfen konnten. Der Krieg war auch jederzeit abrufbar, aber gegen den zivilen Staat gerichtet. Statt einer Befriedung erfolgte eine endlose Verlängerung des Kriegs in den politischen Kämpfen der Gegenwart. Allerdings spielten andere Faktoren eine bekannte Rolle: Neben dem Kriegsausgang überschatteten Revolutionsniederschlagung und Wirtschaftskrise die Errungenschaften der deutschen Verfassung. Die psychologische Wirkung des Friedensschlusses von Versailles trug bekanntlich zur Verweigerung der kulturellen Demobilmachung bei. Letztendlich stärkte die französische Exekutionspolitik im eigenen Land den republikanischen Konsens, während das Bemühen in Deutschland, den Versailler Vertrag zu erfüllen, die Spaltung vertiefte. 45 Also: waren es allzu viele Lasten für die junge deutsche parlamentarische Republik? Sicherlich. Ein solches Fazit rettet, im Sinne dieses Bandes, das theoretische Potential der Verfassung von Weimar. Dabei bleibt die Frage nach dem jeweiligen Gewicht der Lasten. Das Anschließen- oder eben Nichtanschließen-Können an eine demokratische Erfahrung in einer Zeit der ex­ tremsten Erschütterung scheint im deutsch-französischen Vergleich ausschlaggebend gewesen zu sein. Anders als die Weimarer Republik verfügte Frankreich nach 1918 über einen großen Schatz an positiv besetzten nationalen und mit der Republik verbundenen Traditionen. Für die mental maps der Zeitgenossen begründete dies einen großen Unterschied. 46

44 Zum Begriff der »fragmentierten« politischen Kultur in der Weimarer Republik, vgl. u. a. bereits in den 1980er Jahren Detlef Lehnert/Klaus Megerle: Identitäts- und Konsensprobleme in einer fragmentierten Gesellschaft. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.), Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, S. 80–95. 45 Gerd Krumeich: Die Präsenz des Krieges im Frieden, in: Gertrud Cepl-Kaufmann/ Gerd Krumeich/Ulla Sommers (Hg.): Krieg und Utopie. Kunst, Literatur und Politik im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg, Essen 2006, S. 23–31. 46 Wirsching, Verfassung [wie Anm. 42], S. 373.

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»Unterschieden, aber nicht getrennt« Zum Zusammenhang von Weimarer Reichs­ verfassung und Versailler Vertrag

I. Im Herbst 1929 rezensierte der Berliner Verfassungshistoriker Otto Hintze in der Historischen Zeitschrift eine verfassungstheoretische Schrift, die ihm eigentümlich verkürzt erschien. Zwar würde der Autor die Weimarer Reichsverfassung mit »leidenschaftslose[r] Sachlichkeit« ergründen, so Hintze, doch sei »in diesem rein juristischen Buche kaum andeutungsweise die Rede« davon, dass deren materiell-politische Grundlagen wesentlich durch den Versailler Friedensvertrag bestimmt wären: »Nur von einem formal-juristischen Standpunkt aus lässt sich die Behauptung begründen, dass das deutsche Volk, in dem es sich die Weimarer Verfassung gab, mit souveräner Gewalt die Entscheidung über Art und Form seiner politischen Existenz getroffen habe […] Stehen nicht wir und andere besiegte Völker unter internationalen Ausnahmegesetzen, die mit einem nicht rein formal gefassten allgemeinen Verfassungsrecht unvereinbar sind?«1 Dass der Autor der besprochenen Verfassungslehre, Carl Schmitt, damit einer formalistischen Ausblendung politischer Grundentscheidungen geziehen wurde, mag man mit Blick auf dessen Gesamtwerk als interpretatorischen Fehlgriff bezeichnen. Doch die von Hintze aufgeworfene Fragestellung betraf ein virulentes Thema, welches in den 1920er Jahren zahlreiche politische Denker, Verfassungsjuristen und Staatstheoretiker umtrieb: Wie verhielt sich die Weimarer Reichsverfassung zum Versailler Vertrag, und wie ließ sich diese Beziehung adäquat fassen? Dass es sich um formal voneinander unabhängige Rechtstexte handelte, verhinderte eine solche Debatte nicht, sondern begünstigte eher noch die Vermutung einer Verknüpfung, die vor allem in den 1

Otto Hintze: Rezension zu Verfassungslehre von Carl Schmitt, in: Historische Zeitschrift 139, Heft 3 (1929), S. 562–568, hier S. 563 f., S. 568.

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Reihen des republikfeindlichen Lagers als nationale Unterwerfung unter ein internationales Regime beargwöhnt wurde. Der Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber meinte später jedenfalls, dass »am substantiellen Zusammenhang der beiden Ordnungen kein Zweifel bestehen [konnte]; sie waren unterschieden, aber nicht getrennt. Der Friedensvertrag besaß gegenüber der Reichsverfassung eine modifizierende Kraft.«2 Über den von Huber angesprochenen »substantiellen Zusammenhang« ist in der historischen Forschung bislang wenig nachgedacht worden. In der jüngeren Literatur wird meist eine bloß chronologische Beziehung von Reichsverfassung und Versailler Vertrag konstatiert, die parallel entstanden seien und in ihrer Kulminationsphase – im Sommer 1919 – auf tragische Weise miteinander ins Gehege geraten wären. Für die Republik habe der Friedensschluss »die große Tragödie ihrer Geburtsstunde«3 dargestellt, so heißt es etwa, denn die Arbeit an der Verfassung sei dadurch gestört und »das fatale Erstgeburtsrecht des Versailler Vertrags als Makel über der anderthalb Monate später Gültigkeit erlangenden Verfassung«4 geheftet worden. Auch dass viele Zeitgenossen die großen Leistungen der Reichsverfassung nicht mehr angemessen wahrgenommen hätten, wird auf die erbitterten Auseinandersetzungen um den Friedensschluss zurückgeführt.5 Das mag so sein, doch die Annahme, dass der Weimarer Verfassungsgeber in seiner innenpolitischen Entfaltung durch außenpolitische Einflüsse behindert oder irritiert worden sei, verweist auf ein stark vereinfachtes Modell von Konstitutionalisierung. Sicherlich lassen sich Verfassungen als Ausdruck des gemeinschaftlichen Wollens einer Nation, als Akt der autonomen Selbstorganisation eines politischen Kollektivs beschreiben. Noch nie dürfte aber eine Verfassung unabhängig von äußeren Voraussetzungen, Bedingungen und Einflüssen entstanden sein, und schon gar nicht nach einem verlorenen Krieg oder unter dem Erwartungsdruck anderer Staaten. Allerdings werden konstitutionelle Prozesse nicht allein durch außenpolitische Rahmenbedingungen und internationalen Machstrukturen geprägt. Nicht minder wichtig sind die Vorannahmen des Verfassungsgebers über den zwischenstaatlichen Zusammen2 3

4 5

Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6, Stuttgart u. a. O. 1981, S. 470. Oliver Haardt/Christopher Clark: Die Weimarer Reichsverfassung als Moment in der Geschichte, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 9–44, hier S. 20. Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, Stuttgart 2018, S. 395. Vgl. Jörg-Detlef Kühne: Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018, S. 106.

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hang, in den hinein eine neue Grundordnung geschrieben wird. Pointiert gefragt: Welche Vorstellungen von der internationalen Gemeinschaft, und dem Platz des eigenen Gemeinwesens darin, gehen in die normativen Entscheidungen einer Verfassung ein? Dieses größere Problem kann hier am Beispiel der Weimarer Reichsverfassung allenfalls angerissen werden. Der Beitrag behandelt das dynamische Wechselverhältnis zwischen der Entstehung des Weimarer Verfassungswerkes und den Friedensverhandlungen der alliierten Mächte in Paris. Damit wird die Frage nach den internationalen Dimensionen der Reichsverfassung nicht im Rahmen einer transfergeschichtlichen oder politiktheoretisch-vergleichenden Betrachtung thematisiert,6 sondern als konkretes Problem im Handlungshorizont der Akteure von 1918/19 begriffen. Vor allem drei Aspekten ist nachzugehen: der Erwartung und Forderung nach einem milden »Wilson«-Frieden als Vorentscheidung der Weimarer Verfassungsgebung (II.); der Diskussion um eine symbolische Öffnung der Verfassung zum Völkerrecht und zur Staatengemeinschaft (III.); schließlich dem schwierigen Verhältnis der Reichsverfassung zum Versailler Vertrag (IV.). Denn die Auseinandersetzung mit dem Friedensschluss beeinflusste nicht nur zentrale Normen der Reichsverfassung, sondern strahlte weit in die Verfassungskultur Weimars aus und trug wesentlich zur Konjunktur antipositivistischer und antiformalistischer Haltungen seit den 1920er Jahren bei.

II. Jede Frage nach den internationalen Bezügen der Weimarer Reichsverfassung muss schon im Herbst 1918 ansetzen. Insbesondere der Ende September erfolgte Vorstoß der Obersten Heeresleitung um Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, die sich abzeichnende Kriegsniederlage durch das hastige Bemühen um einen »Wilson-Frieden« aufzufangen, führte zu einer Verklammerung von außenpolitischer Positionierung und innenpolitischer Neuordnung, welche die gesamte Gründungsphase der Weimarer Republik prägen sollte. Sicherlich sind auch längerfristige Tendenzen in Rechnung zu stellen, darunter etwa bereits 1917 aufgekommene Initiativen für eine Parlamentarisierung des Reiches. Doch erst der jähe, angesichts der drohenden Kriegsniederlage erfolgte Schwenk der militärischen Führung setzte eine nicht mehr beherrschbare Entwicklung in 6

Dazu etwa Ewald Wiederin: Die Weimarer Reichsverfassung im internationalen Kontext, in: Dreier/Waldhoff (Hg.), Wagnis [wie Anm. 3], S. 45–64.

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Gang, welche ein Kriegsende nach Gusto der OHL, also auf Grundlage des Status quo und mit minimalen Verbindlichkeiten, bald unerreichbar machte. Die hektisch angestoßenen »Oktoberreformen«, mit denen die Anrufung des amerikanischen 14-Punkte-Programms glaubwürdig untermauert werden sollten, gingen in einen tumultuösen Machtwechsel über, der die Monarchie in Deutschland hinwegfegte und eine provisorische Revolutionsregierung mit dem Schicksal der Nation betraute.7 Trotz dieses Umbruchs übertrug sich die Vorstellung, durch innere Reformen einen günstigen Friedensschluss mit den alliierten Mächten erreichen zu können, nahtlos von den alten auf die neuen politischen Eliten. Im Lager der bürgerlichen Reformkräfte bestand die feste Erwartung, durch eine geordnete Abfolge von allgemeinen Wahlen, Einberufung einer Nationalversammlung und Ausarbeitung einer Verfassung alsbald Anschluss an die parlamentarischen Demokratien des Westens zu finden, was durch günstige, ja wohlwollenden Friedensbedingungen der Siegermächte honoriert werden würde. Das entpuppte sich bekanntlich als Fehlspekulation. Wohl war Woodrow Wilson und seinen Parteigängern an einer Reform des Kaiserreiches im Zeichen demokratischer Selbstbestimmung gelegen. Doch ein Zusammenhang zwischen der politischen Neuordnung Deutschlands und den Modalitäten eines Friedensschlusses wurde in Washington nicht angenommen, und noch sehr viel weniger in Paris, London oder Rom. Was darum von deutscher Seite ab Herbst 1918 als – notgedrungene oder überfällige – Vorleistung verstanden wurde, spielte in der Politik der alliierten und assoziierten Mächte meist nur eine untergeordnete Rolle.8 Diese Diskrepanz wurde vom langgezogenen Notenwechsel, den deutsche und amerikanische Stellen um die Auslegung des 14-Punkte-Programms führten, zunächst noch verdeckt. Sie trat aber spätestens mit Beginn der Vorkonferenz der alliierten und assoziierten Mächte in Paris im Januar 1919 und der sich wenig später in Weimar konstituierenden deutschen Nationalversammlung auf offenkundige Weise zutage. So zeigte sich beim Auftakt der interalliierten Gespräche, wie sehr die seit 1914 gepflegte Deutung, dass der Weltkrieg ein Konflikt zwischen Recht und Unrecht, Freiheit und Unterwerfung, Demokratie und Despotie gewesen sei, weiterhin die Gedankenwelt der Sie-

7

Vgl. hier nur Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918– 1923, München 2018, S. 223–274. 8 Vgl. Klaus Schwabe: Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düsseldorf 1971, S. 88–257.

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ger bestimmte. Die Kriegsaggressionen des Deutschen Reiches seien eine präzedenzlose Verachtung aller zivilisatorischen Standards gewesen, so erklärte der französische Präsident Raymond Poincaré auf der Eröffnungssitzung am 18. Januar 1919, und darum sei es notwendig, Deutschland mit dem Frieden einer strafenden Gerechtigkeit zu unterwerfen.9 Die Antwort aus Weimar ließ nicht lange auf sich warten. Als Friedrich Ebert rund drei Wochen später, am 6. Februar, die Nationalversammlung eröffnete, nahm er zwar das in Paris angeklungene Motiv auf, wonach der Krieg dem autokratischen Regime der Hohenzollern und ihrem Militarismus anzulasten sei. Doch Ebert wendete dieses Argument im nationalen Interesse. Die »veraltete, zusammenbrechende Gewaltherrschaft« sei beseitigt worden, und bei aller notwendigen Aufarbeitung des Krieges und der Anerkennung seiner Folgen, welche die neue Republik selbstverständlich übernehmen werde, müsse man einen Schlussstrich ziehen: »Die Revolution lehnt die Verantwortung ab für das Elend, in das die verfehlte Politik der alten Gewalten und der leichtfertige Übermut der Militaristen das deutsche Volk gestürzt haben.«10 Stattdessen erneuerte Ebert die deutsche Forderung nach Schonung der Republik durch die Alliierten. Es sei nicht zu rechtfertigen, wenn sich die Siegermächte mit ihren »Rache- und Vergewaltigungspläne[n]« an der jungen Republik schadlos halten wollten. »Weshalb haben nach ihren eigenen Zeugnissen unsere Gegner gekämpft? Um den Kaiserismus zu vernichten. Es gibt ihn nicht mehr, er ist für immer erledigt.«11 Damit zeigte sich noch vor Beginn der eigentlichen Verfassungsarbeit in Weimar, wie stark sich die politische Neuordnung Deutschlands an den außenpolitischen Verhältnissen und Bedingungen orientierte. Doch der Versuch der deutschen Reformkräfte, mit einer konstitutionellen Begründung der Republik in das imaginäre Lager einer Weltallianz der Demokratie überzugehen und sich so den Verwerfungen der Kriegsniederlage zu entziehen, stieß in Paris auf offenen Widerstand. In den Reihen der Siegermächte nahm man Eberts apodiktische Forderung nach einem »Wilson-Frieden, auf den wir Anspruch   9 Vgl. Raymond Poincaré: L’ouverture de la conférence des préliminaires de paix, in: Journal Officiel vom 19. Januar 1919, S. 714–716; s. a. Marcus M. Payk: Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, München 2018, S. 221 f.; Leonhard, Frieden [wie Anm. 7], S. 657–660. 10 Eberts Rede vom 6. Februar 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Bd. 326: Stenographische Berichte, Berlin 1920, S. 1 (C); wieder abgedruckt in: Walter Mühlhausen (Hg.): Friedrich Ebert – Reden als Reichspräsident (1919–1925), Bonn 2017, Zitate S. 59 und S. 61. 11 Ebd., S. 62.

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haben«12, mit der gleichen Irritation zur Kenntnis wie wenige Monate später das gleichlautende Ansinnen von Reichsaußenminister Ulrich Graf BrockdorffRantzau in Versailles. Auch darum bemühte man sich in Weimar, stärker auf die in Paris vertretene Deutung des Weltkriegs als Kampf um das internationale Recht einzugehen: Die Verfassung sollte jeden Zweifel beseitigen, dass das neue Deutschland immer noch ein egoistischer Machtstaat und Verächter des Völkerrechts sei.

III. Das »Verfassungsseminar«13 von Weimar war insofern immer auch Schaufenster einer gewandelten Nation. Es ging nicht allein um die Reorganisation deutscher Staatlichkeit, sondern ebenso um das Bemühen, Deutschland als geläutertes Mitglied der Staatengemeinschaft zu präsentieren. Das knüpfte an vorangegangene Initiativen an, die seit 1917 meist aus dem Umfeld der Reichsregierung und der zivilen Bürokratie unternommen worden waren und welche den latenten Vorwurf der Kriegsgegner, Deutschland habe den Konsens der zivilisierten Staatenwelt aufgekündigt, widerlegen sollten. Hier sei einzig auf die maßgeblich aus dem Auswärtigen Amt heraus betriebene Gründung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht hingewiesen, auf verschiedene Untersuchungskommissionen oder die bald nach Kriegsende unternommene Publikation ausgewählter Akten zur Kriegsschuldfrage, welche allesamt den Eindruck einer einsichtigen und diskussionsbereiten Nation vermitteln wollten.14 Zu den Protagonisten dieser Neuorientierung, in der sich idealistische Konzeptionen der Vorkriegszeit mit strategischen Kalkülen der Nachkriegszeit vermengten, gehörte Hugo Preuß.15 Der Professor für öffentliches Recht an der Handelshochschule Berlin hatte erste praktische Erfahrungen in der Kommunal-

12 Ebd., S. 63. 13 Wiederin, Reichsverfassung [wie Anm. 6], S. 47. 14 Vgl. Marcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 264–268; Michael Dreyer/Oliver Lembcke: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19, Berlin 1993, S. 31–91; Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983. 15 Zur Biographie vgl. Dreyer, Preuß [wie Anm. 4], für den hier behandelten Zusammenhang auch Jasper Mauersberg: Ideen und Konzeption Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, Frankfurt a. M. 1991 sowie die hilfreiche Edition Hugo Preuß: Gesammelte Schriften,

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politik gesammelt und sich schon vor 1914 den Ruf eines linksliberalen Reformers erworben, der dann auch im Krieg für seine Überzeugungen eingetreten war. Am 15. November 1918 zum Staatssekretär im Reichsamt des Innern berufen, wurde Preuß von der Revolutionsregierung damit beauftragt, seine bislang nur publizistisch vorgetragenen Vorschläge in den Entwurf einer neuen Reichsverfassung zu übersetzen. Wenig später legte er erste Überlegungen vor, die im Dezember zunächst als Grundlage für interne Beratungen dienten und im Januar noch einige Verhandlungsrunden mit den Vertretern der deutschen Gliedstaaten zu überstehen hatten. Eine überarbeitete Fassung wurde der Nationalversammlung am 21. Februar als amtlicher Regierungsentwurf vorgelegt und diente als Ausgangspunkt für die Ausarbeitung der Reichsverfassung durch einen eigenen Verfassungsausschuss. Diese Kommission unter dem Vorsitz des Liberalen Conrad Haußmann wurde zwar nach parteipolitischem Proporz besetzt, galt aber als von »pragmatisch orientierten Sachkennern«16 dominiert; in den beiden mehrwöchigen Etappen der Verfassungsarbeit im März/April und Mai/Juni spielte Hugo Preuß weiterhin eine führende Rolle.17 Dass diese Verfassungsarbeiten mit dem Idealismus des Preuß’schen Entwurfs begannen, sich jedoch immer stärker taktischen Überlegungen öffneten, lässt sich besonders jenen Normen ablesen, welche die internationale Stellung Deutschlands bestimmen sollten. Mit Blick sowohl auf die alliierten Vorwürfe wie auch angesichts der eigenen Erwartungen an einen »Wilson-Frieden« war es naheliegend, dass die Verfassung zu den internationalen Verpflichtungen der neuen Republik Stellung nehmen musste. Dazu gehörte beispielsweise eine Beteiligung des Reichstages an grundlegenden außenpolitischen Fragen. Zwar sollte der Reichspräsident die Republik nach außen völkerrechtlich vertreten – was zugleich den Ländern jeden Rest einer eigenständigen Diplomatie endgültig entzog18 –, allerdings wurden sowohl Kriegserklärungen wie Friedensschlüsse an ein Reichsgesetz gebunden, bedurften also einer Billigung durch die

Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, hg. von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen 2015. 16 Haardt/Clark, Reichsverfassung [wie Anm. 3], S. 16. 17 Vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3. Staatsund Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, 1914–1945, München 1999, S. 80–86. 18 Dahinter stand nicht zuletzt die Sorge, dass gesonderte diplomatische Beziehungen einzelner Gliedstaaten ein Einfallstor für die Förderung separatistischer Bestrebungen durch Frankreich darstellen würden, vgl. Peter Grupp/Pierre Jardin: Das Auswärtige Amt und die Entstehung der Weimarer Verfassung, in: Francia 9 (1981), S. 473–493, hier S. 486.

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Mehrheit des Reichstages (Art. 45 WRV ). Auf solche Weise sei sichergestellt, so meinte Simon Katzenstein von der SPD im Verfassungsausschuss, dass »eine Kriegserklärung grundsätzlich vermieden wird.«19 Wichtiger war aber noch, dass Hugo Preuß schon in Artikel 2 seines ersten Entwurfs eine Bindung der gesamten Staatsgewalt an das Völkerrecht vorgesehen hatte. Wörtlich hieß es hier: »Das Reich erkennt das geltende Völkerrecht als bindenden Bestandteil seines eigenen Rechtes an.«20 Das war eine Neuheit, welche weder in der Verfassung des Kaiserreiches von 1871 noch in den Konstitutionen anderer Länder einen Vorläufer besaß.21 Dieses innovative Bekenntnis zu einer »offenen Staatlichkeit der Republik«22 wurde noch dadurch verstärkt, dass Preuß diese Norm rechtssystematisch in jenen Artikel eingefügt hatte, dessen erster Satz die normative Grundlagen der Republik statuierte: »Alle Staatsgewalt liegt beim deutschen Volke.« Es lag nahe, dass damit ein innerer Zusammenhang von demokratischem Prinzip, Volkssouveränität und Völkerrecht hergestellt werden sollte. Im demokratischen Rechtsverständnis von Preuß war eine Bindung des innerstaatlichen an das internationale Recht unabweisbar, da die Ebenen politischer Existenz – von den Kommunen über die Nation bis zur Staatenwelt – nicht hermetisch abgeschottet, sondern untereinander verbunden seien und damit einer rechtlichen Harmonisierung zugänglich wären. Folgt man der Linie seiner frühen Schriften,23 so lässt sich jedenfalls gut erkennen, dass Preuß die Geltungskraft des Völkerrechts als überstaatlicher Rechtsordnung oberhalb des Willens souveräner Staaten an-

19 Katzenstein, Sitzung vom 8. April 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 336, S. 281; dazu auch Huber, Verfassungsgeschichte 6 [wie Anm. 2], S. 463 f. 20 Art. 2 des Entwurfs vom 3. Januar 1919, in: Preuß, Verfassungswerk [wie Anm. 15], S. 533. 21 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte 6 [wie Anm. 2], S. 469; s. a. Peter C. Caldwell: Sovereignty, Constitutionalism, and the Myth of the State: Reflections on Article 4 of the Weimar Constitution, in: Leonard V. Kaplan/Rudy Koshar (Hg.): The Weimar Moment. Liberalism, Political Theology, and Law, Lanham, Md. 2012, S. 345–370, hier S. 345–349; Frank Schorkopf: Grundgesetz und Überstaatlichkeit. Konflikt und Harmonie in den auswärtigen Beziehungen Deutschlands, Tübingen 2012, S. 36. 22 Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 180. 23 An vorderer Stelle ist die Abhandlung »Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens« (1891) zu nennen, in der die These entwickelt wurde, dass die zunehmende internationale Verflechtung jedweden kriegerischen Konfliktaustrag hemmen würde.

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siedelte, also nicht in das Belieben einzelner Regierungen stellte, sondern als Rechtssphäre eigener Art behandelte.24 Dieses Rechtsverständnis – in völkerrechtstheoretischer Hinsicht müsste man von Monismus sprechen – war nicht unumstritten.25 Bereits vor Zusammentritt der Nationalversammlung wurde der systemische Zusammenhang mit dem Prinzip der Volkssouveränität wieder gelöst und für die Bindung an das Völkerrecht ein eigener Artikel geschaffen (Art. 3, später Art. 4). Außerdem war in internen Besprechungen von Seiten des Reichsjustizamtes darauf hingewiesen worden, dass die Formulierung eines »geltenden Völkerrechts« problematisch sei und besser von den »allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts« die Rede sein müsste. Tatsächlich mochte man in jedem zeitgenössischen Lehrbuch nachlesen, dass das Völkerrecht nicht dem unanfechtbaren Willen eines übernationalen Gesetzgebers entspringe, sondern einer gemeinschaftlich praktizierten Rechtsausübung: »Die Völkerrechtsgemeinschaft ruht auf dem genossenschaftlichen, nicht auf dem herrschaftlichen Prinzip«26, so hieß es etwa in dem Standardwerk von Franz von Liszt, was nichts anderes bedeutete, dass die Geltung des Völkerrechts nicht von einer übergeordneten Instanz festgelegt (und erzwingbar) wäre, sondern sich aus gemeinschaftlicher Übung ergebe, mithin aus der Mitte der Staatenwelt selbst kommen müsse. Eben auf diese Völkerrechtsgemeinschaft, und auf die Zugehörigkeit Deutschlands zu ihr, richtete sich in Weimar nun der Blick. Als der entsprechende Artikelentwurf auf der 3.Sitzung des Verfassungsausschusses am 6. März aufgerufen wurde, brachte der Vorsitzende Conrad Haußmann einen Änderungsantrag ein, der das Preuß’sche Anliegen einer innerstaatlichen Geltung des Völkerrechts gleichermaßen limitierte wie ausweitete. Nach dem neuen Vorschlag sollten für »die Beziehungen des Deutschen Reichs zu auswärtigen Staaten […] die Staatsverträge, die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts und, wenn das Reich in den Völkerbund eintritt, dessen Be-

24 Vgl. Detlef Lehnert/Dian Schefold, Einleitung, in: Preuß, Verfassungswerk [wie Anm. 15], S. 1–78, hier S. 56 f.; Mauersberg, Ideen [wie Anm. 15], S. 16–38. 25 Zur Verbindung zur sog. Wiener Völkerrechtsschule, wie sie meist mit Hans Kelsen als Hauptvertreter assoziiert wird, s. a. Steffen Wiederhold: Die Lehren vom Monismus mit Primat staatlichen Rechts. Sonderwege deutschen Völkerrechtsdenkens im Kaiserreich und deren Bewahrung durch die Bonner Schule, Baden-Baden 2018, S. 17–20; Caldwell, Sovereignity [wie Anm. 21], S. 349–357, zum Gedanken der einheitlichen Rechtsbetrachtung außerdem Jochen von Bernstorff: Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001, S. 69–74. 26 Franz v. Liszt: Das Völkerrecht. Systematisch dargestellt, Berlin 41906, S. 6.

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stimmungen maßgebend« sein.27 Das war einerseits eine nicht unerhebliche Relativierung, da von einer innerstaatlichen Geltung des Völkerrechts nun nicht mehr gesprochen wurde, sondern es nur noch als Maßstab der auswärtigen Beziehungen angeführt wurde.28 Auf der anderen Seite waren die Selbstverpflichtung auf das Völkerrecht und der Verweis auf die Staatengemeinschaft immer noch so deutlich ausgeführt, dass der eingeteilte Berichterstatter, der nationalliberale Rechtsprofessor Wilhelm Kahl, schwere Bedenken erhob. Auch wenn nur von den anerkannten Regeln des Völkerrechts die Rede sei, so begründete er seinen Vorschlag nach Streichung des ganzen Artikels, drohe das im Entwurf vorgetragene Bekenntnis zum Völkerrecht »Deutschland der Willkür solcher Staaten aus[zuliefern], die da behaupten, ihre Völkerrechtsüberzeugung sei die allgemein gültige.« Und weiter: »Artikel 3 macht den Eindruck, als wolle das deutsche Volk dadurch eine Selbstanklage wegen seiner früheren Stellung zum Völkerrecht und eine Verbeugung vor dem außerdeutschen Völkerrecht ausdrücken.«29 Das war in der Tat der wesentliche Aspekt. Der von alliierter Seite erhobene Anspruch, im Krieg für die Achtung des Völkerrechts gekämpft zu haben und mit dem Friedensschluss folglich eine rechtsbrüchige Nation disziplinieren zu müssen, drohte nach Ansicht der Kritiker willfährig in die eigene Verfassung übernommen zu werden. Eine Formulierung der vorgeschlagenen Art, so notierte Gerhard Anschütz in seinem maßgeblichen Kommentar einige Jahre später, hätte den Anschein erweckt, als habe man die maßgebliche Bedeutung des Völkerrechts »bei uns früher nicht anerkannt und wolle nun, die sattsam bekannten Anklagen unserer Feinde zuzugestehend, Reue und Besserung geloben.«30 Diese Annahme war im Kern nicht verkehrt, denn wie der Sozialdemokrat Max Quarck während der Beratungen anmerkte, solle die Verfassung durchaus anzeigen, dass »wir uns in Zukunft an der Entwicklung des Völker-

27 Haußmann, Sitzung vom 6. März 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 336, S. 31. Siehe daneben die Wiedergabe der Beratungen in der Fassung der WTB-Agenturberichte, abgedruckt bei Kühne, Entstehung [wie Anm. 5], S. 415–696. 28 Daran entzündete sich wenig später öffentliche Kritik; vgl. Alfred Verdross, Reichsrecht und internationales Recht. Eine Lanze für Art. 3 des Regierungsentwurfes der deutschen Verfassung, in: Deutsche Juristen-Zeitung 24 (1919), Sp. 291–293. 29 Kahl, Sitzung vom 6.  März 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 336, S. 31. 30 Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 11. Aufl., Berlin 1930, S. 59. Ähnlich im Tenor die Diskussion bei Max Wenzel: Der Begriff des Gesetzes. Zugleich eine Untersuchung zum Begriff des Staates und Problem des Völkerrechts, Berlin 1920, S. 468–484.

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rechts mehr als bisher praktisch beteiligen wollen; an Achtung werden wir dadurch im Auslande nichts verlieren, im Gegenteil.«31 Auch in der Sicht von Hugo Preuß sollte der Artikel eine Bereitschaft signalisieren, dass sich die neue Republik »zum Völkerrecht anders stellen [wolle], als es Deutschland bisher auf den Haager Konferenzen getan hat.«32 Allerdings monierte er, dass seine ursprüngliche Intention einer einheitlichen, die nationale wie internationale Ebene transzendierenden Rechtsordnung – also dass »völkerrechtliche Regeln ohne weiteres Bestandteil unseres inneren Rechts« wären33 – in der vorgeschlagenen Änderung kaum mehr erkennbar sei. Wohl laufe nach seiner Ansicht eine solche Ausweitung dem bisherigen Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft zuwider, so Preuß, aber sie könne sich an den Bestimmungen der amerikanischen Verfassung orientieren. Deren Artikel VI hätte alle internationalen Verträge zum »obersten Recht des Landes« (supreme law of the land) erklärt, und damit sei die rechtsprechende Gewalt, mithin jeder einzelne Richter in der Rechtsanwendung, unmittelbar an das Völkerrecht gebunden.34 Das war nicht das erste Mal in den Weimarer Verhandlungen, dass sich Preuß positiv auf die US-Verfassung als international offene Konstitution bezog. Schon bei der Vorstellung seines Entwurfs vor der Nationalversammlung am 24. Februar hatte er eine vergleichbare Parallele gezogen: »Wie einst die jungen Vereinigten Staaten von Nordamerika in den Kreis der alten Staatenwelt eintraten mit dem Bekenntnis zur bindenden Kraft des internationalen Rechts, so bekennt sich die junge deutsche Republik […] zur Geltung des Völkerrechts.«35 Allerdings ist schwer zu entscheiden, inwieweit Preuß mit seinen lobenden Worten einzig den eigenen Überzeugungen folgte oder weitere Ziele im Blick 31 Quarck, Sitzung vom 6. März 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 336, S. 31. 32 Preuß, Sitzung vom 6. März 1919, abgedruckt bei Kühne, Entstehung [wie Anm. 5], S. 424. Zur deutschen Haltung auf den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 vgl. hier nur Christophe Eick: Das Deutsche Reich auf der Haager Friedenskonferenz von 1899, in: Die Friedens-Warte 74, Heft 3 (1999), S. 395–408; Jost Dülffer: Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Frankfurt a. M./,Berlin/Wien 1981. 33 Preuß, Sitzung vom. 6. März 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung, [wie Anm. 10], Bd. 336, S. 32. 34 Vgl. ebd.; zur erheblich komplexeren Realität siehe Vicki C. Jackson: The U.S. Constitution and International Law, in: Mark Tushnet/Mark A. Graber/Sanford Levinson (Hg.): The Oxford Handbook of the U.S. Constitution 2015, S. 921–942. 35 Preuß, Rede vom 24. Februar 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 326, S. 286 (A).

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hatte. Einige Wochen zuvor hatte ihm Außenminister Brockdorff-Rantzau in einem Brief zumindest nahegelegt, bei den Weimarer Beratungen »eine Kritik der amerikanischen Verfassung möglichst« zu vermeiden: »Dagegen würde eine Bezugnahme auf etwa für uns geeignete Vorbilder aus der amerikanischen Verfassung von nicht zu unterschätzender propagandistischer Wirkung sein.«36 Dass auch und gerade die Frage des Völkerrechts von großer propagandistischer Bedeutung war, zeigte sich nochmals nach dem 7. Mai 1919, als die Bekanntgabe der alliierten Friedensbedingungen eine Woge der Entrüstung auslöste. Wohl war im März zunächst der von Haußmann vorgeschlagene Änderungsantrag angenommen worden. Als aber in der zweiten Lesung im Verfassungsausschuss ab dem 3. Juni nochmals die Frage der innerstaatlichen Geltung des Völkerrechts aufgerufen wurde, sah sich Preuß in seinem ursprünglichen Anliegen unerwartet deutlich von den hinzugeladenen Vertretern des Auswärtigen Amtes und des Reichsjustizministeriums unterstützt. Fast schon irritiert konstatierte Haußmann bei Beginn der Beratungen deren nachdrückliche Bitte, zur Preuß’schen Vorlage zurückzukehren: »Von Seiten der Regierung möchte man uns, wie ich heute höre, wieder die ursprüngliche Fassung zur Annahme empfehlen. Das Völkerrecht soll demnach innerstaatliche Rechtsgeltung erhalten. Damit wird über den Staat eine höhere gesetzgebende Gewalt außerhalb des Staates gesetzt.«37 Der anwesende Vertreter des Auswärtigen Amtes, Ernst von Simson, bestritt jedoch, dass dem Artikel in materiell-rechtlicher Hinsicht eine solche Bedeutung zukomme. Maßgeblich sei im Moment, dass die Verfassung »ein Bekenntnis zum Wert und zur Geltung des Völkerrechts enthält und unseren Gegnern die Möglichkeit erschwert, die unrichtige Behauptung aufzustellen, dass das Völkerrecht in Deutschland weniger gilt als im anglo-amerikanischen Rechtsgebiet.«38 Angesichts der deutschen Verhandlungsstrategie, sich in Versailles offensiv einer Rhetorik des Rechts und der internationalen Gerechtigkeit zu bedienen, erhielt ein solches Argument neue Dringlichkeit.39 Haußmann 36 Brief von Brockdorff-Rantzau an Preuß, 31. Januar 1919, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 (= ADAP). Serie A: 1918–1925, Göttingen 1982–1995, Bd. 1, S. 222. Eine spätere Kritik an dieser »Verbeugung vor dem Amerikanismus« etwa bei Max Fleischmann: Die Einwirkung auswärtiger Gewalten auf die deutsche Reichsverfassung. Rede, gehalten beim Antritt des Rektorats der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg am 13. Juli 1925, Halle/Saale 1925, S. 23. 37 Haußmann, Sitzung vom 3. Juni 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 336, S. 406. 38 Simson, ebd. 39 Vgl. Payk, Frieden [wie. Anm. 9], S. 406–411.

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konnte dem tagespolitischen Druck jedenfalls wenig entgegensetzen. Er sei gerne bereit, sich »im gegenwärtigen Augenblick taktisch und politisch auf die Ansicht des Vertreters des Auswärtigen Amtes«40 zu verlassen und seine Bedenken zurückzustellen. Damit wurde die ursprüngliche Regierungsvorlage wiederhergestellt und der folgende Wortlaut als Artikel 4 in die Verfassung aufgenommen: »Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts.« Das Bekenntnis zum Völkerecht war also immer zweierlei: Einerseits handelte es sich um einen Ausdruck der inneren Überzeugung, die ein demokratischer Reformer wie Hugo Preuß teilweise schon seit Jahrzehnten vertreten hatte und die nun, unter Anlehnung an die amerikanische Verfassungstradition und mit expliziter Kritik an der machtstaatlichen Politik des Kaiserreiches, nochmals pointiert wurde. Andererseits war dieser Schritt zu einer offenen Konstitution untrennbar verbunden mit dem Anspruch auf Schonung durch die Siegermächte, und dieser Anspruch ließ sich desto selbstbewusster vortragen, desto stärker die demokratischen Reformbemühungen sichtbar wurden. In diesem Sinne stellte Artikel 4 wohlfeile Symbolpolitik dar, die indes auf eine reale Rendite zielte. Deren Ausbleiben rief freilich eine immense Enttäuschung hervor, etwa wenn der unter dem Eindruck des Friedensvertrags von seinem Ministeramt zugetretene Preuß den »Fluch des unmöglichen und widersinnigen Scheinfriedens von Versailles« auf der neuen Reichsverfassung lasten sah. 41 Insofern mag es zwar stimmen, dass Deutschland mit der neuartigen Völkerrechtsfreundlichkeit des Artikel 4 nicht nur »Anschluss an die internationale Rechtsentwicklung gefunden«, sondern sich »sogar an deren Spitze gesetzt«42 habe. Doch die praktische Wirkung dieser Öffnung blieb gering. 43 Allenfalls in der akademischen Rechtswissenschaft entwickelte sich ein bescheidenes

40 Haußmann, Sitzung vom 3. Juni 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 336, S. 407; s. a. Grupp/Jardin, Amt [wie Anm. 18], S. 485. Zum strategischen Interesse der deutschen Außenpolitik an der Völkerrechtslehre nach 1919 etwa Stolleis, Geschichte [wie Anm. 17], S. 88 f., sowie Frank Degenhardt: Zwischen Machtstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann (1880–1972), Baden-Baden 2008, S. 99–121. 41 Zit. nach Dreyer, Preuß [wie Anm. 4], S. 391; s. a. Kühne, Entstehung [wie Anm. 5], S. 106 und S. 110; Lehnert/Schefold, Einleitung [wie Anm. 24], S. 38 und S. 59. 42 Schorkopf, Grundgesetz [wie Anm. 21], S. 46. Neben der Vorbildwirkung für die österreichische Verfassung ließe sich auch auf Art. 25 des Grundgesetzes hinzuweisen, wo sich eine ähnliche Regelung erhalten hat, siehe nur Rudolf Geiger: Grundgesetz und Völkerrecht. Die Bezüge des Staatsrechts zum Völkerrecht und Europarecht. Ein Studienbuch, 6., überarb. Aufl., München 2013, S. 143 f. 43 Vgl. Caldwell, Sovereignity [wie Anm. 4], S. 357–363.

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Interesse, wo man schon 1921 der Entstehungsgeschichte des Artikels auf die Spur zu kommen suchte. 44 Nachdem der angestrebte politische Effekt im Zuge der Friedensverhandlungen ausgeblieben war, geriet die Vorschrift an den Rand des Bewusstseins, ja, sie vermochte sogar eine kontraproduktive Dynamik überall dort zu entwickeln, wo man darin eine servile Verbeugung vor den Siegermächten von Versailles erblicken wollte.

IV. Erst im Anschluss an die Arbeit des Verfassungsausschusses, als der fertige Entwurf bereits der Nationalversammlung vorlag und dort ab dem 2. Juli in zweiter Lesung behandelt wurde, tauchte die Überlegung auf, ob man das Verhältnis der Reichsverfassung zu dem wenige Tage zuvor, am 28. Juni, unterzeichneten Vertrag von Versailles nicht expressis verbis bestimmen müsse. Das war keine unerhebliche Frage, die aber angesichts der eskalierenden Empörungsrhetorik über das »Friedensdiktat« an den Rand der Wahrnehmung gedrängt wurde. Eine besondere Debatte wurde innerhalb der Nationalversammlung jedenfalls nicht geführt, und auch die getroffene Bestimmung fiel ausgesprochen unauffällig aus. Als am 22. Juli letzte Ergänzungsanträge debattiert wurden, gehörte dazu ein Vorschlag von Max Quarck und drei weiteren Delegierten von SPD und DDP, den Übergangsbestimmungen der Verfassung folgenden Passus hinzuzufügen: »Die Bestimmungen des Friedensvertrags […] werden durch die Verfassung nicht berührt.« (Art. 178 II WRV ). Als Berichterstatter fiel es wiederum Conrad Haußmann zu, die Motivation des Antrags zu erläutern, und er wies vor allem auf den Umstand hin, dass es Bestimmungen gäbe, »in denen der Friedensvertrag direkt mit der Verfassung kollidiert. Hier ist leider die staatsrechtliche und völkerrechtliche Konsequenz, dass diese Bestimmungen des Friedensvertrags durch die Verfassung nicht beseitigt werden können, dass sie ruhen, insoweit und insolange der Friedensvertrag seine Kraft behält.«45

44 Vgl. den Brief von Wolgast an Simson, 12. April 1921, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (Berlin), R 54198. Die Nachforschungen waren wenig ergiebig und fanden kaum Widerhall in der Publikation von Ernst Wolgast: Die auswärtige Gewalt des Deutschen Reiches unter besonderer Berücksichtigung des Auswärtigen Amtes. Ein Überblick, in: Archiv des öffentlichen Rechts 44 N. F. 5, Heft 1 (1923), S. 1–112. 45 Haußmann, Sitzung vom 22. Juli 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 10], Bd. 328, S. 1830.

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Der Antrag wurde ohne weitere Aussprache angenommen, auch wenn sich kaum sagen lässt, ob dahinter Desinteresse, Erschöpfung oder auch das peinliche Gefühl stand, die entstehende Verfassung mit dem wahrgenommenen Odium von »Versailles« belasten zu müssen. Dass das Verhältnis zwischen Reichsverfassung und Friedensvertrag damit kaum hinreichend geklärt war, zeigte sich jedoch bald. In Paris hatte man die am 31. Juli verabschiedete und am 14. August in Kraft getretene Reichsverfassung sehr genau studiert. Es war keine Überraschung, wenn der Blick der alliierten Leser nicht nur an der Klausel hängenblieb, welche eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an das Ausland verbot, 46 sondern sich vor allem auf Artikel 61 richtete. Dieser Passus regelte die Zusammensetzung des neu einzurichtenden Reichsrats als Vertretungsorgan der deutschen Länder, und er sah in seinem zweiten Absatz unverblümt vor, dass »Deutschösterreich […] nach seinem Anschluss an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl« (Art. 61 II WRV ) erhalten werde; bis dahin würden österreichische Vertreter eine beratende Stimme besitzen. Politisch verbarg sich darin Sprengstoff. Da das Habsburger Reich mit Kriegsende weitgehend auseinandergebrochen war, hatten sich seit Herbst 1918 immer mehr Stimmen erhoben, welche einen Beitritt Österreichs zum Deutschen Reich forderten und damit eine Korrektur des rund fünfzig Jahre zuvor eingeschlagenen kleindeutschen Weges. Von den alliierten Nationen, und insbesondere von Frankreich, wurde ein solches Zusammengehen jedoch erbittert bekämpft. Dass Deutschland trotz Kriegsschuld und Kriegsniederlage territorial erweitert aus dem Krieg hinausgehen könnte, war eine in Paris mit Ungläubigkeit und Empörung bedachte Möglichkeit. Mochte die Logik nationaler Selbstbestimmung für eine solche großdeutsche Lösung sprechen, hätte sie dem Kriegsverlierer doch eine machtpolitische Prämie ausgezahlt, welche die Siegermächte unmöglich aufbringen wollten. 47

46 Die Streitfrage, ob sich deutsche Regierung unter Hinweis auf die Reichsverfassung weigern könnte, die nach Art. 228 bis 230 des Versailler Vertrags als Kriegsverbrecher beschuldigten Personen auszuliefern, kann hier nicht weiter vertieft werden; siehe dazu Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003, S. 19–40; Walter Schwengler: Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechern als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982, S. 250–321. 47 Vgl. Richard Saage: Die deutsche Frage. Die Erste Republik im Spannungsfeld zwischen österreichischer und deutscher Identität, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.): … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, 2 Bde., Wien 2008/2009, Bd. 1, S. 65–82; Peter Grupp: Deutsche Außenpolitik im Schatten von Ver-

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Im Weimarer Verfassungsausschuss, an dessen Beratungen ab dem 17. März auch zwei Vertreter Österreichs teilnahmen, waren diese Vorbehalte zwar bekannt. Sie verhinderten aber nicht, dass man von einem künftigen Beitritt ausging und mit Artikel 61 eine entsprechende Übergangsvorschrift aufnahm. 48 Ungefähr zeitgleich bemühten sich die alliierten Vertreter in Paris jedoch, einen solchen Schritt zu verhindern. In den Friedensvertrag wurde eine Klausel aufgenommen (Art. 80 des Versailler Vertrags), welche Deutschland – vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Völkerbundrats – explizit auf die Unabhängigkeit Österreichs verpflichten sollte. 49 Die Konkurrenz der beiden Normen fiel rasch auf, und nachdem die Reichsverfassung verabschiedet worden war, zeigte der französische Außenminister Stéphen Pichon am 26. August im alliierten Supreme Council einen Vertragsbruch der deutschen Seite an.50 In der Folge wurde die deutsche Regierung in einem scharf formulierten Schreiben dazu aufgefordert, »die gehörigen Maßnahmen zu treffen, um diese Verletzung unverzüglich durch Kraftloserklärung des Artikel 61 Abs. 2 zu beseitigen«;51 anderenfalls würde man den Vertragsbruch durch Ausdehnung der linksrheinischen Besetzung auf das rechte Rheinufer militärisch sanktionieren. Diese Forderung wurde auf deutscher Seite wenig freundlich aufgenommen. Dass es praktisch kaum vorstellbar war, das mühsam zustande gebrachte Verfassungswerk wieder aufzuschnüren, war die eine Sache. Schwerer wogen politische Gründe. Ein auf Verlangen der Siegermächte eingebrachtes Änderungsgesetz hätte der deutschen Regierung innenpolitisch schweren, vermutlich

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sailles 1918–1920. Zur Politik des Auswärtigen Amts vom Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution bis zum Inkrafttreten des Versailler Vertrags, Paderborn 1988, S. 211–230, aus halbamtlicher Sicht auch Rudolf Laun: Deutschösterreich im Friedensvertrag von Versailles (Art. 80 des Friedensvertrags), Kommentar nebst einschlägigen Noten, Berlin 1921. Vgl. Ragna Boden: Die Weimarer Nationalversammlung und die deutsche Außenpolitik. Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und internationale Beziehungen in den Debatten von Februar bis August 1919, Frankfurt a. M. 2000, S. 97–100. Zur (letztlich nicht voll realisierten) Beteiligung der österreichischen Delegierten siehe Kühne, Entstehung [wie Anm. 5], S. 763–766. Im Spätsommer wurde mit Artikel 88 des Vertrags von Saint-Germain eine analoge Bestimmung in den Friedensvertrag mit Österreich aufgenommen. Vgl. Pichon, Sitzung vom 26. August 1919, in: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference, 1919 (= FRUS, PPC 1919), 13 Bde., Washington 1942–1947, Bd. 7, S. 937. Brief von Clemenceau an Lersner, 2. September 1919 (Übersetzung), in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 340. Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Berlin 1920, Nr. 1793, S. 5.

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irreparablen Schaden zugefügt, denn es hätte der prinzipiellen Idee der Verfassung als souveräner Entscheidung über die Grundlagen der eigenen politischen Existenz in sichtbarer Weise widersprochen. Aus dem Auswärtigen Amt erging darum zunächst die Instruktion an den deutschen Vertreter in Paris, in Hintergrundgesprächen auf »die außerordentlichen und bedrohlichen Schwierigkeiten hinzuweisen, die sich aus einem etwaigen Verlangen der Entente nach einer formellen Abänderung der Verfassung ergeben würden.«52 Das war wenig verklausuliert und bezog sich auf einen möglichen Sturz der Regierung in Berlin, an dem die alliierten Nationen schon mit Blick auf die Durchführung des Friedensvertrags kaum ein Interesse haben konnten, von den im Hintergrund lauernden Schreckgespenstern von Bolschewismus und Bürgerkrieg ganz abgesehen. Doch in Frankreich tat man sich schwer, dieser Argumentation zu folgen oder den Kompromiss jener diplomatischen Note anzunehmen, mit der die deutsche Delegation darauf hinwies, dass nach Artikel 178 »die Bestimmungen des Friedensvertrags durch die Verfassung nicht berührt werden«, dass also Artikel 61 »solange kraftlos« bleiben werde, bis der Völkerbund einer »Abänderung der staatsrechtlichen Verhältnisse Deutschösterreichs« zustimme.53 Am 9. September legten die französischen Vertreter im Supreme Council dar, dass eine bloße Aussetzung nicht ausreiche und man Deutschland durch militärische Gewaltanwendung zur Änderung der Verfassung zwingen müsse.54 Allerdings war es vermutlich eben diese Drohung, welche die britischen und amerikanischen Vertreter aufschreckte; es sei wenig verhältnismäßig, so lässt sich ihre Gegenposition zusammenfassen, angesichts unterschiedlicher Interpretationen des Verfassungstextes bereits zum letzten Mittel einer Wiederaufnahme der Kämpfe zu greifen.55 Die alliierte Antwortnote vom 11. September akzeptierte darum die deutsche Erklärung, wenngleich mit dem sarkastischem Seitenhieb, dass Artikel 178 WRV offenbar als Freibrief konzipiert worden sei: Mit »diesem sinnreichen Kunstgriff« lasse sich jede Kollision zwischen Verfassungsnorm und Friedensvertrag nach Belieben ignorieren, da dem Wortlaut des Artikels zufolge »nichts

52 Brief von Gaus an Lersner, 8. September 1919, in: ADAP, Serie A, Bd. 2, S. 295. 53 Brief von Schmitt an Clemenceau, 5. September 1919, abgedruckt in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 51], Bd. 340, Nr. 1793, S. 7. 54 Vgl. Fromageot, Sitzung vom 9. September 1919, in: FRUS, PPC 1919, Bd. 8, S. 155 f. 55 Vgl. Hurst, ebd., S. 157.

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in dem Vertrage durch die Verfassung berührt werden« könne.56 Zugleich forderte man von der deutschen Seite eine förmliche Erklärung darüber, dass Artikel 61 keine rechtliche Kraft mehr habe, worüber am 22. September ein deutsch-alliiertes Protokoll aufgesetzt wurde.57 In amerikanischen Augen lag damit eine völkerrechtlich bindende Absicherung vor, ein »new Treaty of equal value with and complementing the Peace Treaty by providing specifically that the provisions of this Treaty take precedence of the constitution and that any law inconsistent with the Treaty is a violation thereof.«58 Doch in Deutschland wurde eine solche vertragspositivistische Auffassung nicht geteilt. Dass dieses Protokoll anschließend nicht in das Reichsgesetzblatt aufgenommen worden war, galt Gerhard Anschütz als Beleg für seine juristische Bedeutungslosigkeit; formell sei Artikel 61 in Kraft geblieben, so notierte er in seinem Kommentar, und das konstitutionelle Bekenntnis zu Deutschösterreich bestehe als »unverrückbare[s] Ziel unserer nationalen Weiterentwicklung«59 fort. Damit endete der Konflikt um Artikel 61 ähnlich wie der Streit um die alliierten Auslieferungsforderungen mit einem deutschen Punktsieg.60 Trotz formaler Zugeständnisse konnten die weitreichenden Forderungen aus Paris abgewehrt werden, auch weil die französische Regierung nur noch wenig Rückhalt in London und Washington besaß. In Deutschland fiel allerdings nur selten ein realistischer Blick auf die eigenen Erfolge, so dass nicht allein Zeitgenossen wie etwa der Staatsrechtler Leo Wittmayer von einem »demütigenden Beigeschmack«61 des Streits um Artikel 61 sprachen, sondern auch spätere Generationen davon

56 Brief von Clemenceau an Lersner, 11. September 1919 (Übersetzung), in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 51], Bd. 340, Nr. 1793, S. 9, 11. 57 Vgl. Protokoll vom 22. September 1919, in: ebd., S. 14 f.; s. a. Déclaration relative à l’annulation de l’article 61 de la constitution allemande, signée à Versailles le 22 Septembre 1919, Paris 1919. 58 Brief von Scott an Polk, 9. September 1919, in: Yale University Library, Manuscripts and Archives (New Haven, Connecticut), Polk Papers, Box 25/297; dazu auch Kell F. Mitchell: Frank L. Polk and the Paris Peace Conference, 1919. Ph. D. Univ. of Georgia 1966, S. 60–64. 59 Anschütz, Verfassung [wie Anm. 30], S. 295; s. a.: Das Diktat von Versailles. Entstehung, Inhalt, Zerfall. Eine Darstellung in Dokumenten, hg. von Friedrich Berber, 2 Bde., Essen 1939, Bd. 1, S. 539–541. 60 Auch im Streit um die Auslieferung deutscher Beschuldigter setzte sich die deutsche Regierung durch, vgl. Hankel, Prozesse [wie Anm. 46], S. 41–54. 61 Vgl. Leo Wittmayer: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, S. 23; s. a. Detlef Lehnert: Leo Wittmayer. Ein Wiener Parteien- und Pluralismustheoretiker in den »Weimarer« politischen Verfassungsdebatten, in: Recht und Politik 54, Heft 2 (2018), S. 159–171.

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ausgingen, dass man »auf äußeren Druck die Verfassung den außenpolitischen Machtverhältnissen«62 hätte anpassen müssen. Das stimmte zwar nicht, aber der Eindruck, dass selbst die Verfassung zum Gegenstand alliierter Übergriffe, Anweisungen und Manipulationen geworden sei, verselbstständigte sich rasch. Besonders in den Reihen der republikfeindlichen Eliten wurde die Behauptung populär, dass der Versailler Vertrag den heimlichen Taktgeber der Reichsverfassung darstellen würde. In einem Vortrag bezeichnete der Jurist Heinrich Pohl den Versailler »Mordfrieden« gar als »Oberverfassung des Deutschen Reiches«. Wie ein »düsterer Schatten« lege sich die harmlos wirkende Formulierung des Artikels 178 »über das Verfassungsrecht von Weimar, es kriecht hinauf aus diesem Satz und umkrallt das Grundgesetz des deutschen Volkes.«63 Für Pohl war darum eine Rückgewinnung der Souveränität erst möglich, wenn die »Befreiung unseres Verfassungsrechts von den Fesseln des Versailler Unrechts« erfolgt sei.64 Weder Diagnose noch Forderung waren sonderlich originell. Zahlreiche andere Autoren verfochten gleichfalls die These einer faktischen Unterordnung der Reichsverfassung unter den Friedensvertrag oder sprachen mit raunendem Unterton von einer Unterminierung der deutschen Souveränität durch vielerlei äußere Feinde.65 In diese Debatten mit ihrem suggestiv-konspirativen Grundtenor passt auch, dass das oben skizzierte Bekenntnis zum Völkerrecht in Artikel 4 alsbald als heimliches Einfallstor und »trojanische[s] Pferd« verstanden wurde, welches »fremdartige Geheimnisse«66 bergen und die staatliche Rechtsordnung für äußere Einflüsse öffnen würde. Dem vermochten die Verteidiger der Verfassung kaum etwas entgegenzusetzen. Von jungkonservativen Gazetten bis weit in das akademische Milieu der politischen Mitte etablierte sich das Bild einer substanzlosen Reichsverfassung, welche nicht nur hilflos an den Versailler Vertrag gekettet, sondern für politische Entscheidungen und Klärungen überhaupt zu schwach sei.

62 Grupp, Außenpolitik [wie Anm. 47], S. 224. Ähnlich unzutreffend selbst Max Quarck: Der Geist der neuen Reichsverfassung. Zur Einführung für Jedermann, Berlin 1919, S. 80. 63 Heinrich Pohl: Reichsverfassung und Versailler Vertrag, Tübingen 1927, S. 4 f. 64 Ebd., S. 26. 65 Vgl. nur Fleischmann, Einwirkung [wie Anm. 36]; Hans Gerber: Die Beschränkung der deutschen Souveränität nach dem Versailler Vertrage, Berlin 1927. Nicht selten wurde auch der Vorschlag aufgebracht, jedem Schulabgänger neben dem obligaten Verfassungstext zum besseren Verständnis auch den Text des Friedensvertrags zu überreichen, vgl. Thomas Lorenz: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!« Der Versailler Vertrag in Diskurs und Zeitgeist der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2008, S. 332–337. 66 Wittmayer, Reichsverfassung [wie Anm. 61], S. 20.

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V. Damit schließt sich der Kreis. Als Otto Hintzes Rezension der Schmitt’schen Verfassungslehre erschien, hatte die antipositivistische Wendung längst die Weimarer Staatsrechtslehre erreicht und die Frage nach den außerrechtlichen Geltungsgründen und Bestimmungsfaktoren der Verfassung auf die Tagesordnung gesetzt.67 Der Versailler Vertrag war das maßgebliche Beweisstück, um eine politische Schwäche der Weimarer Reichsverfassung aufzudecken und zugleich das Ungenügende einer »rein formalrechtlichen Betrachtungsweise«68 der staatlichen Ordnung darzulegen. Es war diese Verachtung des Formalen, die zu den wesentlichen Kennzeichen der Weimarer Verfassungskultur gehörte. Von Beginn an vermochte sich kaum ein Vertrauen auf die Kraft geschriebener Normen und förmlicher Verfahren entwickeln, und zwar nicht allein an den ideologisch aufgeladenen Rändern des politischen Spektrums, sondern ebenso in der bürgerlichen Mitte und in weiten Kreisen der akademischen Staatsrechtslehre.69 Sicherlich – diese Skepsis gegen jede Rechtsförmlichkeit und jeden Kontraktualismus wurzelte auch darin, dass sich weite Teile der deutschen Führung in ihrer Hoffnung auf einen vorgeblich zugesagten »Wilson-Frieden« so bitter enttäuscht gesehen hatten. Doch eine derartige Zusicherung war von alliierter Seite nie gemacht worden, sondern dem verzweifelten Wunschdenken der deutschen Eliten entsprungen, und zwar weniger der abtretenden Führungsriege des Kaiserreiches als vielmehr der Reformkräfte. Seit spätestens 1917 war hier der Glaube genährt worden, wonach die Demokratisierung des Reiches und seine Angleichung an die parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaaten des Westens den ideologischen Antagonismus des Weltkrieges einhegen würde. Das Bekenntnis zum Völkerrecht, wie es in Artikel 4 formuliert wurde, war darum nicht allein Ausdruck eines innenpolitischen Reformwillens, sondern entsprang dem Bemühen, diese Läuterung vor der Welt zu dokumentieren und dadurch milde Friedensbedingungen einzufordern. Diesem Wunsch konnten die Siegermächte nicht nachkommen. In Paris bestandenen Handlungszwänge und Interessenkonflikte, die jedwede nachsichtige

67 Vgl. Stolleis, Geschichte [wie Anm. 17] S. 94 und S. 153–186. 68 Wittmayer, Reichsverfassung [wie Anm. 61], S. 26. 69 Mit ideengeschichtlichem Akzent vgl. auch Detlef Lehnert: Desintegration durch Verfassung? Oder wie die Verfassung der Nationalversammlung von 1919 als Desintegrationsfaktor der Weimarer Republik interpretiert wurde, in: Hans Vorländer (Hg.): Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 237–263.

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Behandlung verhinderten. Zwar basierte der Versailler Vertrag durchaus auf der Annahme, dass Deutschland in der Lage sei, fürderhin seinen internationalen Rechtspflichten nachzukommen und sich wieder in die Staatenwelt zu integrieren; die Umwandlung in einen demokratischen Verfassungsstaat war darin gewissermaßen schon eingepreist. Doch auf deutscher Seite reagierte man auf das »Friedensdiktat« mit Empörung und Enttäuschung, und in diesen Strudel geriet bald auch die Reichsverfassung. Zwar stellte der dürre Wortlaut von Artikel 178 den ebenso tapferen wie letztlich vergeblichen Versuch dar, beide Ordnungen voneinander zu scheiden und nicht gegeneinander auszuspielen. Doch gegen die zunehmende Hinwendung zu einem »substanzhaft« nach Volk und Nation fragenden Staatsverständnis vermochte eine solche trockene Klausel kaum etwas auszurichten. Am Ende war darum der Zusammenhang von Reichsverfassung und Versailler Vertrag durch eine bittere Ironie gekennzeichnet: Was nach dem Willen der Verfassungsschöpfer einen Anschluss an die demokratische Staatenwelt darstellen sollte, aber von den Siegermächten nicht honoriert worden war, diente nicht wenigen Kritikern in den 1920er Jahren als Beleg für eine würdelose Anbiederung an ein abgelebtes System des Normativismus und Positivismus. So sprach Carl Schmitt nicht zufällig mit geringschätzigem Unterton von der Einheit aus »Weimar, Genf, Versailles«70. In der Tat reichte vielfach der Hinweis auf den Friedensschluss, um die Reichsverfassung als kraft- und wertlos beiseite zu schieben. Das war ungerecht und ignorierte ihre politische Eigenständigkeit, Innovationskraft und Entwicklungsoffenheit. Gleichwohl entsprach diese Geringschätzung jener verbreiteten Verachtung des positiven Rechts und seiner formalen Setzungen, welche die Weimarer Verfassungskultur mehr unterminieren sollte als jede Klausel des Versailler Vertrags.

70 Vgl. Carl Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar, Genf, Versailles (1923–1939), Hamburg 1940.

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Verfassunggebung in den Ländern Politische Kultur zwischen demokratischem Aufbruch und regionalen Traditionen

Vorbemerkung Manches spricht dafür, dass die Formel von der »politischen Kultur«1 nicht zuletzt dazu erfunden worden ist, um Erklärungen für die Entwicklung der Weimarer Republik, ihren Aufstieg und ihren Niedergang zu suchen und zu formulieren. Sollte dies der Fall gewesen sein, so ist sie Passepartout und Blackbox zugleich: Alle reden darüber, aber niemand weiß, was mit ihr wie erklärt werden kann. Der Omnipräsenz der Formel korrespondiert ihre Inhaltsarmut. Was können wir wissen? Und welche Erklärungsleistungen kann sie für unser Thema erbringen? Dies soll hier an der Einzelstudie des Weimarer Parlamentarismus in Republik2 und Ländern diskutiert werden.3

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Grundlegend dazu Bettina Westle: Politische Kultur. Eine Einführung, Baden-Baden 2009; Gunnar Folke Schuppert: Politische Kultur, Baden-Baden 2008, S. 3 ff. (Nachw.); dort auch zum Folgenden. Klassiker: Kurt Sontheimer: Deutschlands politische Kultur, München/Zürich 1990. Historisch: Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, München 82013, S. 212 ff. Retrospektiv grundlegend: Sebastian Ullrich: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, in: Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 45, Göttingen 2009. Zur Weimar-Forschung, neuen Deutungen und Perspektiven jüngst Horst Dreier/ Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018; dies. (Hg.): Weimars Verfassung. Eine Bilanz nach 100 Jahren, Göttingen 2020; Udo Di Fabio: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern: eine verfassungshistorische Analyse, München 2018; Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018. Texte der Verfassungen und Bibliografien bei Fabian Wittreck (Hg.): Weimarer Landesverfassungen. Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918–1933, Tübingen 2004; zum älteren Forschungsstand ausführlich Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichsneuerung Stuttgart

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I. »Politische Kultur«: Anspruch und Wirklichkeit Politische Kultur umfasst Einstellungen, Semantiken und Inszenierungen mit Bezug zum Politischen mit sowohl kognitiven als auch evaluativen Dimensionen. 4 Als solche ist sie nicht nur gegenstands-, sondern auch zeitgeprägt und -gebunden. Für die Republik folgt daraus die naheliegende Fragestellung, wie man sie retrospektiv ermitteln kann. Als zentrales Instrument gilt die Meinungsumfrage, welche in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg Verbreitung fand. Als Surrogate werden etwa diskutiert: Wahl- und Abstimmungsergebnisse; Äußerungen von Vereinen oder Organisationen in der Öffentlichkeit; Medienöffentlichkeiten; organisierte Ereignisse, Festtage oder Festakte. Hier trifft sich die politische Kultur »von unten«, also der Bürgerinnen und Bürger, ihrer Vereine und Medien, mit derjenigen »von oben«, also der amtlichen oder amtlich finanzierten Legitimationsbeschaffung von Staat, Regierungen, Abgeordneten und Behörden. Für die Weimarer Republik ist hier der Verfassungstag vergleichsweise gut untersucht.5 Der Forschungszugang ist also retrospektiv nur eingeschränkt möglich und für die Weimarer Republik am ehesten in Fallstudien untersucht.6

II. Politische Kultur in der Weimarer Republik – Desiderata und Defizite Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Beschreibung unseres Gegenstandes in der Weimarer Republik. Wer sie angemessen zu umreißen versucht, wird sich weder auf das antidemokratische7 noch auf das demokratische Denken8 beschränken dürfen. Beide Seiten gehören zusammen und konstituieren u. a. O. 1978, S. 1002 ff.; dass. Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart u. a. O. 1981, S. 744 ff. 4 Für Hinweise danke ich Hélène Miard-Delacroix und Christoph Cornelißen. 5 Zusammenfassend Ralf Poscher (Hg.): Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden 1999. 6 Etwa bei Marcus Llanque: Die Weimarer Reichsverfassung und ihre Staatssymbole, in: Dreier/Waldhoff (Hg.), Wagnis [wie Anm. 2], S. 87–110. 7 Dazu ganz grundlegend Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 21983. 8 Dazu Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010; Christoph Gusy (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000.

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»die« politische Kultur zwar nicht der Republik, aber in der Republik. Ihre politische Kultur war: Vorläufig und übergangsgeprägt: Die Plötzlichkeit der Revolution führte zur Notwendigkeit einer improvisierten Neuorientierung. Dass sie Errungenschaften der Vergangenheit mit Herausforderungen der Gegenwart verband und so stets auch einzelne retrospektive Elemente tradierte, lag auf der Hand. Das Übergangshafte endete auch nicht, als die Republik ihre Anfangsschwierigkeiten überwunden hatte: Auf die Gründungs- und die Normalisierungsphase folgte die Endphase. Ein Eindruck von Vorläufigkeit, Übergangshaftigkeit, Prozesshaftigkeit, Experimentiernotwendigkeit und Instabilität ließ sich schwer vermeiden. Umweltgeprägt und umweltbezogen: Namentlich die stark legitimationsorientierte Weimarer Reichsverfassung (WRV ) mit ihren zahlreichen Wahl- und Abstimmungsmöglichkeiten öffnete Staat und Recht für politische Strömungen und Stimmungen. Gradmesser war eben nicht nur die Herkunft der Probleme, sondern auch die Fähigkeit der Staatsorgane, auf sie oder ihre Folgen zu reagieren. So offen wie die Staatlichkeit war eben auch ihre Verweisung auf die politische Kultur. Konflikt- und Streitkultur: Die Verfassung mit ihren zahlreichen Freiheits- und Gleichheitsrechten garantierte nicht Einheit, sondern Vielfalt und Verschiedenheit der Anschauungen. Das reale Volk war politisch differenziert und allenfalls zufällig geeint. Es wird zu Recht als fragmentiert beschrieben, so existenziell und tiefgreifend waren die Gegensätze. Und fragmentiert war dann auch die politische Kultur. Man kann durchaus von unterschiedlichen Kulturen sprechen. Die Herstellung von Integration wurde daher schon damals als eine wichtige Staatsaufgabe angesehen.9 Doch konnte sie am ehesten das Ergebnis von Politik, kaum je hingegen deren Prämisse sein.10 Doch waren die für deren Herstellung in einer demokratischen Republik notwendigen Mechanismen wie Diskussion, Abstimmung, Kompromiss, Koalition damals vielfach negativ besetzt. Parallel fand sich eine Kultur der Gewalt, nicht nur nach außen, sondern

  9 Rudolf Smend: Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 42010, S. 119. 10 Letzteres galt am ehesten für den Kampf gegen Versailles als zentrales Element der Staatsraison, der aber eher »deutsch« und weniger demokratisch-republikanisch war und damit auch keine Verfassungsraison sein konnte. Historisch zum Augusterlebnis Wolfgang Kruse: Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993.

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auch nach innen.11 Publizistisch wirkmächtig war die These vom Politischen als Differenzierung von Freund und Feind, also – leicht stilisiert – von der Politik als Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln (Carl Schmitt).12 Sie resultierte nicht bloß aus einer Fortsetzung des Weltkriegs im heraufziehenden Bürgerkrieg, sondern auch aus der Tradition und Technik der Unterdrückung im Innern unter der suspendierten Reichsverfassung und der Diktatur der Obersten Heeresleitung. Beide zeigten sich am sinnfälligsten in dem damals durchaus stil- und themenprägenden Wirken der rasch entstehenden politischen Vorfeldorganisationen Stahlhelm, Republikanischer Führerbund, SA und Reichsbanner. Das waren eher Antithesen zum Entwurf der WRV. Doch kam es damals auch zu einer Herausbildung von Pluralismustheorien, die langfristig zukunftweisender werden sollten als ihre Gegenpositionen.13 Krisenorientiert: Es war weniger der »Untergang des Abendlandes« als vielmehr das Stichwort von der omnipräsenten Krise, welche die kulturellen Debatten ebenso prägte wie die Rechtswissenschaft. Die Realität war in der Krise (Wirtschaft, Staat, Politik, innere Sicherheit), und deren Erkenntnis sei es auch. Die »geistige« Krise wurde zur Selbstbeschreibung in Abgrenzung zur Vorkriegszeit und zu Gegenpositionen der Gegenwart. Weniger eindeutig war der Umgang mit dem Phänomen: Nur selten blieben Niedergangsszenarien Untergangsprophetien. Eher erschien der Hinweis auf die Notwendigkeit ihrer Überwindung, hatte also auch die Suche nach Auswegen und den Aufruf zu ihrer Begehung zum Inhalt. Doch waren diese positiven Beschreibungen zentral geprägt von der Frage, worin die jeweiligen Autoren die Krise sahen. Wer sie in der politischen Wirklichkeit sah, konnte Staatsform und Verfassung als möglichen Ausweg präsentieren. Wer sie hingegen in oder aus der Verfassung und der von ihr verfassten Politik ableitete, suchte eher Auswege außerhalb

11 Für die Frühzeit Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 22017; für die Spätzeit Dirk Blasius: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930–1933, Göttingen 2005; Längsschnitt bei Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. 12 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, München/Leipzig 1932, S. 36 ff. und S. 28 ff; zu den Entpolitisierungen im Staat ebd., S. 79 ff. 13 Dargestellt etwa bei Gusy, 100 Jahre [wie Anm. 2], S. 123 ff. und S. 128 ff. (Nachweise). Vertiefend Christoph Gusy/Robert Christian van Ooyen/Hendrik Wassermann (Hg.): 100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie, Berlin 2018.

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der demokratischen Republik. Diese letzten Stimmen gewannen je länger je mehr an Anhängerschaft. Die genannten Unsicherheiten des Zugangs zur und z. T. die widersprüchlichen Eigenheiten der politischen Kultur der Republik14 selbst schließen ihre Heranziehung als Deutungsmuster der Verfassunggebung in Republik und Ländern zwar nicht aus. Sie sind jedoch geeignet, den zu findenden Ergebnissen einen eher relativierenden Stellenwert zuzuweisen.

III. Verfassungsdiskussionen in der Republik und in den Ländern 1. Limitierte Eigenständigkeit der Länder und ihrer politischen Kultur nach der Reichsverfassung Die Revolution hatte in zahlreichen Einzelstaaten begonnen und rasch die Hauptstadt erreicht.15 Die Aufgabe einer staatsrechtlichen Neugestaltung war also auf allen Ebenen neu. Aber sie war nicht auf allen Ebenen dieselbe. Vielmehr sollten sich alsbald charakteristische Unterschiede zeigen. Verfassungsdiskussionen in der Republik waren Teil der Verfassungskultur16 als zentrales Element der politischen Kultur. Sie bezeichnet denjenigen Ausschnitt, welcher sich auf die rechtliche und politische Grundordnung, ihre Inkraftsetzung, Geltung, Durchsetzung oder Änderung in der Republik bezog. Sie begann weit vor der Nationalversammlung, war also nicht bloß Verfassunggebungsdiskurs, und hörte mit derem Auseinandergehen nicht auf, sondern setzte sich als Summe von Einstellungen zu und Debatten über die geltende Reichsverfassung fort. Ihre Gegenstände waren sowohl Kommunikation über die solche und nach der und im Rahmen der Verfassung, der von ihr eröffneten

14 Zum Vergleich Anton Pelinka: Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938, Wien/Köln/Weimar 2017. 15 Neuere Darstellung bei Lothar Machtan: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, Berlin 22008. 16 Zu ihr Hans Boldt: Weimar: Verfassung ohne Verfassungskultur?, in: Detlef Lehnert (Hg.): Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation, Köln/Weimar/ Wien 2014, S. 223–240; Rainer Schmidt: Verfassungskultur und Verfassungssoziologie. Politischer und rechtlicher Konstitutionalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2012; Werner Daum (Hg.): Kommunikation und Konfliktaustragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin 2010. Schon früher Oliver Lepsius: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung – Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, München 1994, S. 126 ff.

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und garantierten kulturbezogenen Freiheits- und Gleichheitsgarantien. Sie setzten konkret und gegenstandsbezogen spätestens in dem Moment ein, als die Monarchien beseitigt waren und die konstitutionellen Ordnungen damit auf allen Ebenen ihre zentralen Anknüpfungspunkte verloren hatten. Ideen, die bisherigen Verfassungen lediglich zu modifizieren und fortgelten zu lassen, fanden sich nahezu nirgends. Verfassungsdiskussionen waren schon im Krieg vielfach geführt worden, wenn auch eher unter dem Paradigma der Erneuerung der Monarchie als der Etablierung einer demokratischen Republik. Problembewusstsein und Lösungsansätze zu damals wichtigen Fragen waren in der Öffentlichkeit verbreitet, wenn auch die Haltung ihnen gegenüber kontrovers war: gleiches Wahlrecht, Frauenwahlrecht, parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung, Stärkung der Grundrechte, gerichtliche Kontrolle der Verwaltung, Stärkung der Rechte der Landbevölkerung: Vieles war da, Problembewusstsein und Lösungsansätze zeigten sich zwar nicht überall, aber vielerorts. Die Plötzlichkeit der Situation traf also auf etablierte Kenntnis- und Streitstände. Insoweit wäre es gewiss nicht zutreffend, steile Thesen wie diejenige von der »improvisierten Republik«, der »improvisierten Demokratie« (Hugo Preuß) oder jüngst der Weimarer Reichsverfassung als »Sturzgeburt« (Christopher Clark) zu überschätzen oder zu verallgemeinern. Umgekehrt galt aber auch: Die Republik hatte nicht alles vorentschieden, was in den Ländern konstitutionalisiert werden würde. Hier hatte der Rat der Volksbeauftragten in seinem Aufruf vom 12. November 1918 einige Weichen gestellt.17 Sie bezogen sich für die Länder namentlich auf die wichtigen Wahlrechtsfragen, die ihnen auch für die Verfassunggebung auf- und vorgegeben waren. Die Homogenitätsklausel von Art. 17 WRV, aber auch die Kompetenz- und Finanzordnungen der neuen Verfassung enthielten Vorgaben, die gegenüber der Länderebene Vorrang beanspruchten. Die Homogenitätsanforderungen wurden von Zeitgenossen als eher engmaschig empfunden. Das galt namentlich im Hinblick auf den Vergleich zur Reichsverfassung von 1871, welche explizit keine derartigen Vorgaben enthielt. Sie ließen innerhalb des von ihnen vorgezeichneten Rahmens einer »freistaatlichen« (d. h. republikanischen),18 demokratischen und parlamentarischen Verfassung auf der

17 RGbl. 1918, S. 1018 und S. 1303. Zu seiner staatsrechtlichen Bedeutung Christoph Gusy: Die verdrängte Revolution, in: Recht und Politik 54, Heft 2 (2018), S. 135–158. 18 Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin 141933, S. 131; siehe grundsätzlich ebd., S. 130. Zu den Folgen siehe Otto Koellreutter: Die neuen Landesverfassungen, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts 1,

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Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts und des parlamentarischen Regierungssystems ein Spektrum von Alternativen ihrer Ausgestaltung zu. Auch nach dem August 1919 war nicht alles zentral vorgeschrieben. Es gab auch nach Inkrafttreten der WRV in den Ländern Raum für Verfassungsdebatten und politische Kultur. 2. Verfassungsdiskussionen im Mehrebenensystem: Vergleichbare Herausforderungen Vor der Revolution hatte sich die Verfassungsfrage19 insbesondere auf der Reichsebene gestellt. Länder und Länderverfassungen waren angesichts der militarisierten Unitarisierung im Krieg weitgehend funktionslos geworden. Aus ihrer Sicht stellte sich die Zukunft der Bundesstaatlichkeit als Wiedergewinnung ihrer staatlichen Aufgaben und Befugnisse, weniger hingegen diejenige nach ihrer Neukonstitutionalisierung.20 Wo es kaum noch eigene effektive und rechtsgebundene Staatsgewalt gab, stellte sich die Notwendigkeit ihrer rechtlichen Regelung weniger dringlich. Die Verfassungsfrage war also damals eine Diskussion auf der Reichsebene, sie hatte eine zentralisierende Wirkung, und die Verfassungsdebatte hatte es auch. Eine ebensolche Wirkung konnte auch die Vergleichbarkeit der Regelungsvor- und -aufgaben auf allen Ebenen erlangen. Überall ging es auch um die Bewältigung der Vergangenheit vor dem Krieg und im Krieg: Politisierung bislang ausgeschlossener oder marginalisierter Bürgerinnen und Bürger; ihre Inklusion in politische Debatten; Öffnung der staatlichen Institutionen gegenüber den und für die Menschen; Verbesserung der Wahlrechte und der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Exekutiven; Ablösung der Monarchen und ihrer Rechte durch andere Staatsorgane und deren Zuständigkeiten; Erweiterung grundrechtlicher Garantien wo nötig und möglich, schließlich neue Formen der Kontrolle der Staatsgewalt. Je liberaler und offener die Monarchie (z. B. in Baden), umso geringer wurde der Erneuerungsbedarf empfunden. Und eine Tübingen 1930, S. 138–146, hier S. 144 ff.: »weitgehende Gleichartigkeit der Landesverfassungssysteme«. Restriktiver Wittreck, Landesverfassungen [wie Anm. 3], S. 4: »Korsett der Reichsverfassung«. Zur »Verfassungsautonomie und Staatlichkeit der deutschen Länder« und den Länderverfassungen siehe Max Wenzel: Die reichsrechtlichen Grundlagen des Landesverfassungsrechtes, in: Anschütz/Thoma (Hg.), Handbuch [wie Anm. 18], S. 604–619, hier S. 605. 19 Grundlegend Markus Llanque: Demokratisches Denken im Weltkrieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. 20 Dazu Anke John: Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung (1918–1933), Köln/Weimar/Wien 2012.

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vereinheitlichende Wirkung hatten auch die überall stattgefundenen Revolutionen und »Revolutiönchen«. Die Räte haben sich auf demokratischem Weg nirgends durchgesetzt. Und sie galten auch nirgends als demokratisch vertretbare Alternative zur parlamentarischen Verfassunggebung.21 Überall spielten sie in den Verfassungsberatungen nur eine Nebenrolle. Und je größer diese war, desto negativer war sie konnotiert. Vor diesem Hintergrund standen die Verfassungsberatungen in Weimar und den Ländern22 vor vergleichbaren Herausforderungen vor der Revolution, durch die Revolution und nach der Revolution. 3. Verfassungsdiskussion im Mehrebenensystem: Unterschiedliche Akteure, Foren, Themen Die improvisierte Verfassunggebung hatte nach der Revolution eine improvisierte Verfassungsdiskussion zur Folge.23 Mancherorts fanden sich Ideen, Vorschläge, Autoren und Vereine. Sie bezogen sich ganz überwiegend auf die Diskussion um die entstehende Weimarer Verfassung, also die Ebene der Republik. Daneben gab es für die einzelnen Länder nur äußerst selten eigenständige Verfassungsdebatten. Dafür war neben der dort z. T. noch kürzeren Zeit – in einigen Einzelstaaten wie in Baden oder Württemberg fand die Ver-

21 Gusy, Revolution [wie Anm. 17]. 22 Zu den Ländern grundsätzlich Wittreck, Landesverfassungen [wie Anm. 3], mit umfassenden Literaturangaben zu allen Einzelstaaten. Zur Verfassungsdiskussion Synthese ebd., S. 4 ff. und S. 21 ff. Einzeluntersuchungen: Tilman Lütke: Hanseatische Tradition und demokratischer Umbruch. Die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 7. Januar 1921, Baden-Baden 2016, S. 107 ff. und S. 148 ff. (zu Hamburg); An­ dreas Rehder: Die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen von 1920. Ein Stadtstaat zwischen Tradition und Pragmatismus, Baden-Baden 2016, S. 97 ff.; Benedikt Beckermann: Verfassungsrechtliche Kontinuitäten im Land Oldenburg. Entstehung, Strukturen und politische Wirkungen der Verfassung des Freistaats Oldenburg vom 17. Juni 1919, Baden-Baden, 2016, S. 47 ff. und S. 85 ff.; Tobias von Erdmann: Die Verfassung Württembergs von 1919. Entstehung und Entwicklung eines freien Volksstaates, Baden-Baden 2013, S. 75 ff.; Christian Georg: Die Bayerische Verfassung vom 14. August 1919, Baden-Baden 2015, S. 76 ff. und S. 95 ff.; zu Thüringen Jürgen John: Thüringer Verfassungsdebatten und Landesgründung 1918 bis 1921, in: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung. 1919–1999, hg. vom Thüringer Landtag, Weimar 1998, S. 67–122, hier S. 67 ff. und S. 108 ff. 23 Jörg-Detlef Kühne: Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018. Zur Verfassungsdiskussion Karin Dubben: Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung. Zwischen Konservatismus und Innovation, Berlin 2009; gerafft Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 62 ff.

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fassunggebung bereits vor Abschluss der Weimarer Beratungen statt – auch mit der kleineren Zahl potentiell Betroffener, Interessierter und institutionalisierter Akteure zusammen. Selbst in Preußen kam eine eigenständige Verfassungsberatung nur in bescheidenem Umfang in Gang. Zudem fanden sich in den Ländern auch andere Akteurskonstellationen als in der Republik. Neben der Spärlichkeit der Außeneinflüsse fehlte dort auch ein Hugo Preuß. Er verband auf hohem Niveau die Erfahrungen der Vergangenheit mit den Reformpotentialen der neuesten Zeit und den Zukunftsfragen einer neuen Staatsform und besaß gleichzeitig hinreichend Offenheit und Lernfähigkeit, um konkurrierende Ideen und Beschlüsse in sein eigenes System zu integrieren und dabei weiterzuentwickeln. Und es war genau dies, was in den meisten Ländern fehlte. Hier waren die mit der Verfassunggebung kraft Amtes Beteiligten in höherem Maße unter sich. Dies führte notwendig zu einer stärkeren Beteiligung der Exekutiven in der Verfassungsvorbereitung. Entwürfe kamen häufig von Ministerien oder Beamten, denen diese Aufgabe aufgetragen worden war; in Einzelfällen waren Verfasser auch einzelne, regelmäßig von den Regierungen beauftragte Experten. Sie amtierten zumeist noch aus der Monarchie fort, waren also eher Betroffene als Träger oder Unterstützer von Revolution und Republikanisierung. Von daher war ihr Vorgehen eher pragmatisch als ideologisch, eher in kleineren Schritten und eher auf praktische Aufgaben der öffentlichen Hände, welche ihre berufliche Tätigkeit prägten, ausgerichtet. Aber auch die Länderversammlungen, welchen sie ihre Entwürfe vorlegten, unterschieden sich von der Nationalversammlung partiell. In Weimar fand sich das Bewusstsein von der hohen Aufgabe der Verfassunggebung und die Bereitschaft, Abgeordnete in den Verfassungsausschuss zu entsenden, die über Expertise, Erfahrung oder besonderes Interesse für diese Aufgabe verfügten. Sie waren bereit, dort ein aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbares Maß an Arbeitszeit und -kraft in das neue Projekt zu investieren. Alles dies fand sich in den Ländern nur in wesentlich bescheidenerem Umfang. Hier war die Zahl der kompetenten Interessenten erheblich kleiner; der Arbeitsdruck der Alltagsprobleme erheblich größer und die Möglichkeit, von diesem Alltagsdruck entlastete Debatten zu führen, erheblich geringer. Dies konnte auch Rückwirkungen auf zentrale Themen, Inhalte und Diskussionsrichtungen erlangen. Gewiss: Man hatte auch in den Einzelstaaten von den Reformdebatten vor und nach der Revolution Kenntnis genommen. Das Streben nach Anschluss an die (ebenso kurzen wie intensiven) zeitgenössischen Verfassungsdebatten war ein Maßstab auch in den Ländern. Hinzu traten regionale oder örtliche Erfahrungen und Spezifika auf Länderebene. Ein solcher, mehr oder weniger ausgeprägter regionaler Traditionalismus fand sich

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nicht allein in den Hansestädten, die immerhin über eigene republikanische Erfahrungen verfügten. So konnten sich in der einen oder anderen neuen Verfassung demokratisch schwach legitimierte Zweite Kammern, Mitentscheidungsrechte der Exekutiven an der Legislative oder der Legislativen an der Exekutive, provinzielle Selbstverwaltungsrechte ohne umfassende Anpassung an das neue Regelungsumfeld halten. Insgesamt dominierte bei der Verfassunggebung in den Ländern eher eine politische Kultur »von oben« als eine solche »von unten«. Sie erbrachte innerhalb des Spektrums an Vorgaben der WRV zwar keine ganz unterschiedlichen Regelungsmodelle, wohl allerdings mehrere Varianten der Ausgestaltung einzelner Modelle in den einzelnen Verfassungen. Und sie waren auch mit dem Abschluss der verfassunggebenden Länderversammlungen nicht einfach fertig. Die Debatten um ihre Auslegung und Anwendung konnte auch in den Einzelstaaten bisweilen den Charakter nachholender Verfassunggebung oder jedenfalls -ergänzung erlangen – ganz wie in der Republik!

IV. Verfassunggebung in Weimar 1. Nationalversammlung zwischen limitierter Offenheit, Legitimation und Kompromissen Die Verfassunggebung in der Republik begann mit dem Aufruf der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 und den Vorarbeiten von Hugo Preuß.24 Sein Werk war von Experten, Volksbeauftragten und Ländervertretern bereits vor dessen Veröffentlichung beeinflusst und modifiziert worden. Die Nationalversammlung nahm sich seiner mit personaler Expertise, hohem Sachverstand und trotz erheblichen Zeitdrucks gründlich, grundsätzlich und detailoffen an. Dort kamen die pluralistischen Parteiprogramme für die neue Grundordnung zur Geltung und zum Austrag. Prägend für die Beratungen war: Die Ausschussmitglieder des Verfassungsausschusses zogen Preuß als Berater hinzu, begegneten ihm aber auf Augenhöhe. Sie beriefen sich je nach Standpunkt gleichfalls auf tradierte und aktuelle Erträge verfassungspolitischen Denkens in Deutschland und zum Teil im Ausland, brachten diese in die Diskussionen ein und suchten aus ihnen ihre Standpunkte zu legitimieren. So agierte also nicht Expertise gegen Laienwissen, sondern unterschiedlich ge- und bewusstes, gedeutetes und 24 Zu ihm und seinem Wirken für die Republik zusammenfassend: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, 5 Bde., Tübingen 2005 bis 2012; Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, Stuttgart 2018.

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gewiss auch instrumentalisiertes Expertentum mit- und gegeneinander. Dabei lernten nicht nur die beratenen Abgeordneten, sondern auch der Berater Preuß. Er stellte sich auf den Boden der getroffenen Entscheidungen, redigierte diese und wies auf Folgen, Unstimmigkeiten oder Verbesserungsmöglichkeiten hin. So war und blieb er der »Vater der Verfassung«, nicht bloß seiner Entwürfe. Im Jahr 1919 lässt sich – erst recht unter den desaströsen äußeren Rahmenbedingungen – wohl kein Verfahren der Verfassungsschöpfung denken, welches pluraler, informierter, politisch und gesellschaftlich anschlussfähiger, offener und besser legitimiert gewesen wäre als dasjenige durch die und in der Nationalversammlung. Es war ein Meilenstein der deutschen und europäischen Verfassungsgeschichte! 2. Verfassunggebung in den Ländern: Parlamentarismus oder was? Im Vergleich zur WRV wirken nahezu alle Landesverfassungen tendenziell knapp, zumeist als Organisationsstatute, partiell mit einzelnen klassischen Grundrechten angereichert. Republik und Demokratie werden genannt und ausbuchstabiert. Sie wirken im Vergleich zum Werk von Weimar eher konventionell, manchmal fast pflichtgemäß. Besonderheiten ergeben sich am ehesten dort, wo regionale Eigenarten oder Vetomächte zu berücksichtigen waren. Eine eigenständige Verfassungsdiskussion »von unten« gab es für die Länder allenfalls in Spurenelementen. Bürger, Zivilgesellschaft und Parteien25 waren mit sich selbst beschäftigt und allenfalls auf die Zentralebene fokussiert. Damit waren die etablierten Akteure unter sich: Hier dominierte Konstitutionalisierung »von oben«. Dort gab es nicht überall eine ausreichende Zahl von Experten. Universitäten, wo es sie gab, konnten angefragt werden, sofern die dortigen Experten sich auf den Boden der neuen Ordnung stellen und an ihrer staatsrechtlichen Gestaltung mitwirken wollten. Hier sind bekannte Einzelfälle wie die Mitwirkung von Robert Piloty in Bayern eher die Ausnahme. Standen solche nicht zur Verfügung, reduzierte sich die Zahl möglicher Experten auf solche aus Regierungen, Exekutiven und vereinzelt Gerichten, welchen die Abfassung von Entwürfen, ihre juristische Bewertung und politische Rechtfertigung überlassen wurde. Sie standen stark in den Traditionen der Monarchie, deren öffentlichem Dienst sie entstammten; der Erfahrung mit Zweifels- und Streitfragen in der Vergangenheit und ihrer Abarbeitung; schließlich der Besonderheiten der einzelnen Länder, wo solche anzutreffen gewesen waren. 25 Zu ihnen Dieter Dowe/Jürgen Kocka/Heinrich August Winkler (Hg.): Parteien im Wandel. Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Rekrutierung, Qualifizierung, Karrieren, München 1999.

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Ihre Entwürfe wurden sodann den verfassunggebenden Versammlungen der Länder überantwortet, die nach dem neuen Wahlrecht gewählt worden waren und deren Zusammensetzung sich von den bisherigen Landtagen erheblich unterschied. Und die Zahl der Verfassungsexperten in den Fraktionen war gering: Keineswegs für alle Länder kann davon ausgegangen werden, dass jede einigermaßen relevante Gruppierung über solche verfügte. In derartigen Fällen gerieten die Beratungen stark unter die Dominanz der genannten Experten. Und so wirken denn auch die Länderverfassungen: eher auf technische Regelungskonsistenz als auf nachrevolutionären Schwung bedacht. Allen Länderverfassungen lag die republikanisch-demokratische Staatsform zugrunde. Gegenüber der Republik gab es hier jedoch eine Besonderheit: Ein eigenes Staatsoberhaupt hatten sie nicht, erst recht kein direkt vom Volk gewähltes. Wo ein solches vorhanden war, war »Staatspräsident« regelmäßig der bloße Titel des Ministerpräsidenten oder ein Amt, welches von Mitgliedern der Landesregierung gleichsam nebenbei ausgeübt wurde.26 Das zentrale Organ wurde nun überall der Landtag: Als einzige gewählte Gewalt27 war er Quelle der demokratischen Legitimation und oberste Instanz. Insbesondere gab es auf der Länderebene auch kaum staatsrechtliche »Gegengewichte«. Das Demokratiekonzept der Länderverfassungen war also ein durchgängig parlamentarisches. Das heißt aber nicht, dass die Länder blind gewesen wären für mögliche institutionelle oder funktionelle Grenzen ihrer Volksvertretungen. Referenden waren als Ergänzung des, nicht als Alternative zum parlamentarischen System konzipiert. Das Volk sollte prinzipiell durch Wahlen an der Staatsgewalt beteiligt sein; die unmittelbare Demokratie bildete nahezu überall, wo sie eingeführt war, ein Korrektiv für Krisen- oder Versagensfälle. Ihre Nutzung sollte die Ausnahme bleiben.28

26 Baden, Württemberg. In Hessen war »Staatspräsident« die Bezeichnung für den Ministerpräsidenten. Kollegiales »Präsidium« als andere Bezeichnung für Kabinette auch in Lippe, Schaumburg-Lippe. 27 Zum Landtagswahlrecht und zur Zusammensetzung der Landtage siehe Walter Jellinek: Die Zusammensetzung der Landesparlamente, insbesondere das Wahlrecht und die Wahlprüfung, in: Anschütz/Thoma (Hg.), Handbuch [wie Anm. 18], S. 620–630. 28 Zur Praxis Reinhard Schiffers: Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, Düsseldorf 1971; zur Rechtslage Christopher Schwieger: Volksgesetzgebung in Deutschland. Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland. 1919–2002, Berlin 2005. Historisch bilanzierend Andreas Wirsching: Konstruktion und Erosion: Weimarer Argumente gegen Volksbegehren und Volksentscheid, in: Christoph Gusy (Hg.): Weimars lange Schatten – »Weimar« als Argument

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3. Limitierter Gouvernementalismus als Selbststabilisierung und Reserveordnung des Parlamentarismus? Als sonstige »Gegengewichte« zu den Landtagen kamen daneben noch die Regierungen in Betracht. Sie standen in den meisten Verfassungen in einer allerdings ganz unterschiedlich ausgestalteten wechselseitigen Kontrollbeziehung zu den Volksvertretungen. Die Verfassungstexte bildeten »stroboskopartig«29 Übergangsformen und -schwierigkeiten von der konstitutionellen zur repräsentativ-demokratischen Staatsverfassung ab. Normalfall war die Wahl der Regierungen durch die Parlamente30 (nirgends durch das Volk), seltener diejenige allein des Ministerpräsidenten,31 dem sodann die Benennung der übrigen Kabinettsmitglieder teils mit, teils ohne besondere parlamentarische Mitwirkung oblag. Überall waren die Regierungen vom Vertrauen ihrer Landtage abhängig, im Falle eines (auch destruktiven) Misstrauensvotums oder der Ablehnung eines Vertrauensvotums im Landtag (nirgends durch das Volk selbst) mussten sie zurücktreten.32 Das dahinter stehende System von Parteien, Fraktionen, Koalitionen und Opposition war auch in den Einzelstaaten nicht in die Verfassungstexte aufgenommen, wohl aber als Teil oder Voraussetzung des parlamentarischen Systems anerkannt oder mitgedacht.33 Doch schloss die Parlamentarisierung aller Staatsgewalt Kontrollrechte auch gegenüber den Parlamenten nicht aus. Ihr Recht auf Appell an den Souverän im Falle von Meinungsverschiedenheiten über Gesetzesbeschlüsse lief politisch leer: Die Parlamentarisierung der Regierungen entzog einer derartigen Konfrontation den Boden. Sie bremste auch die ohnehin nur selten zulässige Auflösung der Volksvertretung durch die Regierung. Eine solche fand sich allerdings nur in einem Bundesland,34 daneben in Preußen als Initiativrecht des Ministerpräsidenten. Art. 25 WRV war also in den Ländern nahezu ohne Entsprechung.

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nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 335–353, hier S. 335 ff.; Wittreck, Landesverfassungen [wie Anm. 3], S. 16 ff. Wittreck, Landesverfassungen [wie Anm. 3], S. 11. Anhalt, Baden, Braunschweig, Bremen, Hamburg, Lippe, Lübeck, beide Mecklenburgs. Z. B. in Preußen, Sachsen, Württemberg, Hessen. Unterschiedliche Formen der Volksmitwirkung fanden sich in Preußen, Sachsen, Thüringen, Oldenburg, Anhalt, Braunschweig, Bremen, Lippe, Hamburg. Otto Koellreutter: Die Staatsministerien und die Regierungssysteme in den Ländern mit Ministerialverfassung, in: Anschütz/Thoma (Hg.), Handbuch [wie Anm. 18], S. 667–679, hier S. 668. Oldenburg; zu Preußen Art. 14 Abs. 1; 57 Abs. 2 Preußische Verfassung: Auflösung durch einen Dreierausschuss aus Ministerpräsident, Präsident des Staatsrats und Landtagspräsident.

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Im Übrigen war die Auflösungsentscheidung als Selbstauflösung konzipiert, selten auch als Folge eines Gesetzesreferendums gegen Parlamentsbeschlüsse. So blieb als Gegengewicht die nahezu flächendeckend zugelassene Landtagsauflösung durch das Volk,35 also die Wählerschaft als Stimmbürgerschaft. Jedenfalls in den Verfassungstexten der Länder war das parlamentarische System konsequenter ausgestaltet als in der Reichsverfassung. Die Regierungen waren handlungsfähiger und -bereiter. In zahlreichen Ländern gab es die Möglichkeit von Minderheitskabinetten.36 Andernorts zählten hierher die fortamtierenden bzw. geschäftsführenden Kabinette: Sie blieben im Amt, bis eine neue gewählte Landesregierung gebildet wurde.37 In kleineren Staaten amtierten längere Zeit hindurch auch Beamtenkabinette – eher in den Traditionen konstitutionellen als parlamentarischen Regierens.38 Das schlechte Beispiel der preußischen Geschäftsregierung von 1932, die an der Grenze der Handlungsund Entscheidungsunfähigkeit war und auch deshalb im Preußenschlag so eigenartig paralysiert erschien, sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Das war im Land die spezifische Situation seiner Politiker dieses Jahres. Zuvor und unter anderen politischen Prämissen funktionierte jenes Modell leidlich. Die am längsten amtierende Geschäftsregierung brachte es auf eine Amtsdauer von gut zwei Jahren. Es sei aber auch nicht verkannt: In der Spätzeit der Republik setzten solche allenfalls noch semi-parlamentarisierten Exekutiven ein hohes Maß an Pflichtbewusstsein und Leidensfähigkeit der beteiligten Personen voraus.

V. Funktionsbedingungen und -grenzen des Länderparlamentarismus in der Republik Die Funktionsfähigkeit des Länderparlamentarismus hing von einer Anzahl an Vorbedingungen ab, die teils rechtlicher, teils politischer Natur waren. Hier kann und muss festgehalten werden: Länderparlamentarismus unterschied sich in seiner Ausgestaltung partiell von demjenigen in der Republik. Und auch im Verhältnis der Einzelstaaten zueinander lässt sich formulieren: Landesparlamentarismus war hier nicht einfach gleich Landesparlamentarismus dort. 35 Anhalt, Baden, Bayern, Braunschweig, Bremen, Hessen, Lippe, Lübeck, MecklenburgSchwerin, Oldenburg, Sachsen, Schaumburg-Lippe, Thüringen, Württemberg, Preußen (auch durch Beschluss des Staatsrats), Mecklenburg-Strelitz. 36 Preußen, Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen, Hessen, Hansestädte. 37 Z. B. Art. 59 Preußische Verfassung. Beispiele: Bayern (seit 1930), Hessen (seit 1931), Sachsen (seit 1930). 38 Namentlich Oldenburg.

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Überall galten dieselben »Grundsätze der Verhältniswahl« (Art. 17 WRV ). Anläufe, deren strikten Charakter durch formale Hürden oder Sperrklauseln zu mildern, scheiterten entgegen den Intentionen des Verfassungsausschusses bis 1930 an der Rechtsprechung. Da letztlich dieselben Bürgerinnen und Bürger in Republik und Ländern wählten, verwundert es nicht, wenn Großtrends der Zentralebene sich auch in den Ländern widerspiegelten. Das galt etwa für die Parteienvielfalt und die aus ihr resultierende Parlamentszersplitterung. In nicht wenigen Landtagen waren im Jahr 1930 bis zu zehn unterschiedliche Parteien mit Abgeordneten vertreten, in Preußen 1928 sogar 13. Es waren damals eher Gruppen wirtschaftlicher oder regionaler Interessenvertretung, deren Zahl sprunghaft anstieg. Diejenige der radikalen Republikgegner blieb zumeist überschaubar: Sie sollte sich erst ab 1930 in dramatischem Maße erhöhen. Parallel zum Anstieg der Radikalen nahm die Parlamentszersplitterung tendenziell ab. Auch strukturell unterschieden sich die Wirkungsbedingungen der Landtage partiell von denjenigen des Reichstags.39 Sie waren weithin neu zusammengesetzt, erfahrene Parlamentarier der Vergangenheit schon wegen des neuen Wahlrechts ausgeschieden und durch Neulinge ersetzt. Die Arbeitsfähigkeit der gewählten Vertretungen unterschied sich von derjenigen der Reichstagsabgeordneten partiell erheblich. Während in großen Ländern professionelle Abgeordnete agieren konnten, war dies in den kleinen Ländern anders, wo eher Tagegelder ausgesetzt wurden und zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit eine niedrige Mindestzahl von Sitzungen (Lippe, Oldenburg: mindestens einmal im Jahr) vorgeschrieben war. Hier konnte sich eine auch nur ansatzweise professionelle »Gegenmacht« gegen die Regierung kaum bilden. In den Mikrostrukturen der Kleinstaaten galt das entsprechend für Parteien, Gewerkschaften und Verbände: Das politische Leben ging mehr oder weniger weiter, blieb exekutivlastig und auf die tradierten Personen und Verfahren hin orientiert. Indikatoren dafür waren das (Fort-)Amtieren von Beamtenkabinetten, die Permanenz einmal gewählter Politiker in Staatsämtern und einer überschaubaren Zahl von bekannten Parlamentariern der Parteien. In Kleinstaaten blieb daher innerlich mehr beim Alten, als es die neuen Verfassungen eigentlich vorsahen.

39 Zum Folgenden kenne ich bislang wenig Forschung. Aufschlussreiche Beobachtungen zu Oldenburg bei Beckermann, Oldenburg [wie Anm. 22], S. 48 ff; Heiko Holste: Schaumburg-Lippe. Vom souveränen Staat zum halben Landkreis. Ein Streifzug durch die politische Geschichte von der Landesgründung bis in die Gegenwart, Steinhude 2003, S. 17 ff.

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VI. Eine typisierende Übersicht Auf der Basis dieser rechtlichen Rahmenbedingungen funktionierte der Parlamentarismus in den Ländern recht unterschiedlich. Typisierend lassen sich drei Gruppen festhalten: 1. Relativ stabile Landtage und Kabinette: Bekanntester Fall war Preußen, wo Ministerpräsident Braun mit der Weimarer Koalition (zeitweise einschließlich DVP) von 1920 bis 1932 mit einer kurzen Unterbrechung amtierte. 40 Höchstens drei Kabinette gab es in der Republik auch in Württemberg, Hessen und den Hansestädten, Regierungen auf stabiler Parteienbasis auch in Baden. 41 Hier bildete sich eine parlamentarische Kultur heraus, welche auf der Basis der Zusammenarbeit nicht nur in der Regierung, sondern auch zwischen Parteien und Fraktionen aufbauen konnte. 2. Relativ instabile Landtage und Kabinette: Beispiele hierfür waren namentlich Braunschweig und Thüringen, 42 in der ersten Hälfte der Republik auch Bayern. Dort fanden sich Landesregierungen, die rasch wechselten, von ganz heterogenen Parteigruppierungen getragen oder gestürzt wurden, eher auf punktueller Kooperation der sie tragenden Parteien basierten und auseinanderfielen, wenn solche Punkte erreicht oder unerreichbar wurden. Partiell ging dies einher mit einer Radikalisierung der Wählerschaft und einem überproportionalen Anteil an Abgeordneten von Parteien auf den Flügeln des politischen Spektrums. 3. Stabile Mikrostaaten mit unterdurchschnittlicher demokratischer Kultur: In Lippe und in Anhalt (hier mit einer Unterbrechung 1924) amtierte stets derselbe Ministerpräsident. Es gibt wenige Untersuchungen zu solchen Staaten. 43 Viel spricht dafür, dass sich hier auch manche vordemokratische Strukturen in hohem Maße erhielten. Die Regierungschefs waren bereits vor der Revolution politisch aktiv, regelmäßig in staatlichen Ämtern gewesen.

40 Klassische Untersuchung bei Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, S. 577 ff., S. 594 f.; s. a. Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977, S. 351 ff. und S. 538 ff. 41 Näher Michael Braun: Der Badische Landtag 1918–1933, Düsseldorf 2009. 42 Eingehend Timo Leimbach: Landtag von Thüringen 1919/20–1933, Düsseldorf 2016. 43 Beobachtungen bei Holste, Schaumburg-Lippe [wie Anm. 39] (zu Schaumburg); Beckermann, Oldenburg [wie Anm. 22], S. 330 ff. (zu Oldenburg, das einen Grenzfall dieser Gruppe darstellt). Jüngst zu Mecklenburg Matthias Manke/Florian Ostrop/René Wiese: Novemberrevolution. Sturz der Monarchie und demokratischer Neubeginn in Mecklenburg 1918/19, Lübeck 2019.

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Oder aber ein einmal neu gewählter Kabinettschef blieb – auch mangels Alternativen – im Amt. Wo dies so war, konnte sich in solchen Klein- und Kleinststaaten eine demokratische Kultur allenfalls im Ansatz entwickeln. In einer Reihe von Ländern fanden sich Ansätze, welche den früheren Stereotypen der Parlaments- und Parteiengeschichte widersprechen. Milieuparteien, Kompromiss- und Koalitionsunfähigkeit, Zersplitterung, Instabilität der Parlamente und der Regierungen: Das fand sich zwar in einigen Ländern, aber keineswegs flächendeckend. Und es fand sich insbesondere nicht in Preußen, wo 60 % der Bürgerinnen und Bürger lebten und wählten. Hier stand das größte Land jedoch nicht allein, auch in anderen Ländern zeigten sich vergleichbare Entwicklungen. Die Republik, ihre Verfassung und ihre Parteien schlossen verantwortungsbewusstes parlamentarisch-demokratisches Handeln nicht aus. Es gab Bedingungen, unter denen sich eine stabile Staatsgewalt unter den Bedingungen des Weimarer Parlamentarismus mit Zustimmung von Wählermehrheiten bilden und erhalten konnte. Ihre Zahl war immerhin so groß, dass es nicht naheliegt, von bloßen Zufällen zu sprechen. Unter diesen Bedingungen erscheint es näherliegend, die Frage danach zu stellen, warum vergleichbare Verhältnisse in der Republik und im Reichstag nicht entstanden. Ersichtlich waren dafür nicht allein parlamentsinterne, sondern auch -externe Faktoren ursächlich. Unter Reichspräsident Ebert gelang in der Stunde höchster Not die Zusammenarbeit der Parteien. Unter Hindenburg setzte sich dagegen ein Kurs durch, welcher der Koalitionsbildung mindestens dann abträglich war, wenn die SPD daran beteiligt sein könnte. Jedenfalls war die Bildung der Großen Koalition im Jahr 1928 ein ambitionierter Versuch der Reparlamentarisierung des Regierens. Ebenso wichtig war ein anderer Umstand: In der Republik konnten sich unter äußerem politischem Druck Parteien und Fraktionen im Notfall zurückziehen und dem Staatsoberhaupt das Krisenmanagement überlassen. Und der immer weiter ausgelegte Art. 48 Abs. 2 WRV schuf dafür die geeignete Rechtsgrundlage. Der Zwang zur parlamentarischen Verantwortungsübernahme war so weniger drängend als in den Ländern. Und damit sank auch der Druck der Erziehung und Gewöhnung der Parlamentarier an die eigene Verantwortung im Not- wie im Normalfall. In der Schlussphase galt schon die Unfähigkeit zur Koalitionsbildung als Grund für die Diktatur des Staatsoberhaupts. Dass es auch damals Parlamentarier gab, welche ihre neuen Aufgaben in der parlamentarischen Demokratie ernst nahmen und zu erfüllen suchten, zeigte sich in den Ländern der Gruppe (1), aber auch an den Architekten der Koalition im Reichstag 1928. Und aus der ex-post-Perspektive ist festzuhalten: Die staatsrechtlich nicht notwendige

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wiederholte Auflösung des Reichstags seit 1930 zur Stabilisierung der Präsidialkabinette auch um den Preis, dass absehbar die radikalen Parteien von links und rechts (noch) weiteren Auftrieb erhalten würden, kann kaum anders als Vabanque-Spiel genannt werden. Im Vergleich dazu kann das Verhalten der Abgeordneten, die mit Versuchen der Koalitionsbildung und der Tolerierungspolitik zahllose Kröten schluckten, um das Verfassungssystem zu erhalten, nur als staatsmännisch bezeichnet werden. Parlamentarismus war rechtlich und politisch möglich. Und er war auch in der Republik möglich. Und er wäre auch unter der WRV möglich gewesen – wie in wichtigen deutschen Ländern der Zeit.

VII. Politische Kultur in der parlamentarischen Republik – Rückblickende Fragen Was besagt das über die politische Kultur der Republik? Zunächst: Dass die Stabilität des Parlamentarismus und der Regierungen in der Republik und ihren Ländern unterschiedlich ausgeprägt war, dass die Fähigkeit der Parteien zur Zusammenarbeit mal stärker, mal schwächer erscheint, dass sich eine eigene, wenn auch anfällige Binnenkultur im Reichstag und wohl auch in Preußen herausbildete, 44 welche Funktionsfähigkeit jedenfalls zeitweise ermöglichte: Die demokratische Republik war nicht chancenlos. Die Prämissen für ein funktionierendes System der parlamentarischen Demokratie waren da oder hätten entstehen können. 45 Die verfassungsgemäße Staatsform ist nicht einfach an sich selbst gescheitert. Und was folgt daraus für die politische Kultur? Zuallererst, dass sie uneinheitlich, ungleich und ungleichzeitig war. Die demokratische Reife der Bürger, der gesellschaftlichen Verbände und Organisationen, der Medien u. a. war überaus heterogen. Und Heterogenität gilt ohnehin als ein Charakteristikum der Kultur in der Republik. Es gab urbane Zentren, die schon 1918 weit vorausgeschritten waren und dabei politische Einstellungen und Institutionen entwickelt hatten, die bereits demokratietauglich waren. Und es gab Orte der Rückständigkeit nicht nur auf dem flachen Land, wo dies auch 1930 noch nicht vollzogen war. Dass sich letztlich der antidemokratische Mainstream durchsetzte, heißt nicht, 44 Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002. 45 Zur zeitgenössischen Diskussion Christoph Gusy: Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1993.

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dass es entgegengesetzte Richtungen nicht gegeben habe. Wir wissen längst: Weimar war keine Republik ohne Republikaner und keine Demokratie ohne Demokraten. Und sie war auch keine Republik ohne republikanisch-demokratische Kultur. Forschungsdefizite betreffen nach wie vor die politische Kultur »von unten«, 46 also Aktivitäten in der Zivilgesellschaft, und ihre Verknüpfung mit der offiziösen Kulturpflege. Der »republikanische Alltag« gerät erst jüngst explizit in den Scheinwerfer der Forschung. 47 Das gilt wohl auch für Vorfeldorganisationen der Republik und ihrer mobilisierbaren Zivilgesellschaft. Gewerkschaften, Reichsbanner und liberale Vereine haben dazu beigetragen. Einzelstudien hierzu könnten Hypothesen und Typisierungen auf eine stärkere Basis stellen. Ebenso wichtig sind aber auch Untersuchungen mittlerer Höhe, welche die vorhandenen Ansätze synthetisieren sowie inhaltliche und methodische Hinweise weiterer Einzelstudien herausarbeiten können. Fragen richten sich aber auch an die »Verfassungskultur von oben«. Dass die Weimarer Reichsverfassung scheiterte, wird in der jüngeren komparatistischen Geschichtsforschung nicht nur für Deutschland auch auf den Umstand zurückgeführt, dass maßgebliche gesellschaftliche Eliten aus dem Gründungskonsens ausstiegen, als ihnen andere politische Formen attraktiver erschienen. 48 Die These ist schon früher auch für Deutschland vertreten worden. Sie beleuchtet die Bedeutung der politischen Kultur der Eliten bzw. in den Eliten, namentlich danach, unter welchen Prämissen Demokratie für sie attraktiv bzw. unattraktiv ist; und danach, wann und wie die Demokratie vor solchen Herausforderungen geschützt werden kann. Darin liegt ein offenes, auch zukunftsgerichtetes Desiderat auch an die politische Kulturforschung. In der jüngeren Zeit wurde erneut viel diskutiert: Warum gelang die Gründung der Bundesrepublik mit ihrem Grundgesetz? Und warum misslang sie in Weimar? Schließlich waren es weitgehend dieselben Menschen, dieselbe

46 Dazu aus jüngerer Zeit Andreas Braune/Michael Dreyer (Hg.): Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort, Stuttgart 2019; dies. (Hg.): Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2016; Sebastian Elsbach/Ronny Noak/Andreas Braune (Hg.): Konsens und Konflikt. Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik, Stuttgart 2019; Sebastian Elsbach: Das Reichsbanner SchwarzRot-Gold. Republikschutz und Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019; Marcel Böhles: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten 1924 bis 1933, Essen 2016. 47 Andreas Braune/Michael Dreyer (Hg.): Republikanischer Alltag. Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität, Stuttgart 2017. 48 Zuletzt Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 263 ff.

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Gesellschaft, dieselben Politiker, die nunmehr handelten. Hatte sich in der deutschen Vergangenheit doch hinreichend freiheitlich-demokratische Substanz angesammelt, dass sie unter anderen Bedingungen als denen von 1918/19 tragfähig war? Oder waren es in der jungen Bundesrepublik die Erfahrungen seit 1933 und das Tabu des Nie-Wieder, welches zusammenschweißte? Oder war es einfach das Fehlen jener existenziellen Herausforderungen der zwanziger Jahre nach 1945, welche unsere Demokratie trug und trägt? Solche Aspekte und Perspektiven weisen über die Republik hinaus. Aber ihre Diskussion kann Einsichten und Argumente für ihre weitere Erforschung auf höherem Niveau liefern. Das ist nicht wenig. 49

49 Aus der Staatsrechtswissenschaft Ulrich Schröder/Antje von Ungern-Sternberg (Hg.): Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, Tübingen 2011. Eine ausführliche Version mit weiteren Nachweisen findet sich bei Christoph Gusy: Verfassunggebung in den Ländern – Politische Kultur zwischen demokratischem Aufbruch und regionalen Traditionen, in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte 13, Heft 2 (2019), S. 47–65.

Dietmar Müller

Verfassunggebung und Staatlichkeit im östlichen Europa der Zwischenkriegszeit

Der Erste Weltkrieg war mit dem nicht zuletzt für die ostmittel- und südosteuropäischen Nationalbewegungen überraschenden Kollaps sämtlicher kontinentaleuropäischer multi-ethnischer und dynastisch legitimierter Imperien zu Ende gegangen. Aus der Erbmasse des Deutschen, Russischen, Habsburger und Osmanischen Reiches entstanden von der Ostsee bis zum Schwarzen und Adriatischen Meer viele Staaten gänzlich neu, andere konnten ihr Territorium und ihre Bevölkerung signifikant vergrößern. In fast allen dieser neuen Staaten wurden binnen kurzer Zeit Verfassungen verabschiedet; zusammengenommen kann dies als erste europäische Konstitutionalisierungswelle im 20. Jahrhundert bezeichnet werden. Räumlich war sie weitgehend auf Mittel-, Ostmittel- und Südosteuropa begrenzt, und gemeinsam war ihnen der Anspruch, ein Gründungsvertrag für neue Staaten, oft aber auch für eine neue Art der Staatlichkeit zu sein. Das Folgende fokussiert sich mit einem vergleichenden und systematisierenden Zugriff auf die Versprechen und auf die Grenzen dieser founding constitutions für Gesellschaften, deren Eliten ihre Staaten einerseits als liberale Demokratien mit Gewaltenteilung und rechtlichen Verfahren verstanden. Andererseits schufen die Verfassungen in gewisser Hinsicht den Rahmen eines Entwicklungsprogramms für Staaten und sorgten für eine forcierte Modernisierung hin zu einem leistungsfähigen Nationalstaat. Der Wandel der Staatlichkeit wird auf den Feldern der Agrarreformen und der Landwirtschaftspolitik sowie hinsichtlich der sozialen Sicherung in den Blick genommen.1

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Für eine breitere Darlegung der hier formulierten Thesen und behandelten Themen vgl. Dietmar Müller: Statehood in East Central and South East European History. The interwar period, in: Wlodzimierz Borodziej/Joachim von Puttkamer/Sabina Ferhadbegovic´ (Hg.): The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century. Volume II: Statehood, Routledge 2020, S. 148–193, und Dietmar Müller: Bodeneigentum und Nation im östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Polen, Rumänien und Jugoslawien im europäischen Vergleich (1918–1948), Göttingen 2020.

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I. Die Verfassungsentwicklung In der Tradition des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts gelten Verfassungen als Gesellschaftsverträge, in denen das Staatsvolk in Gestalt seiner Eliten nach eingehenden Deliberationen vornehmlich die Rechte und Pflichten der Staatsbürger sowie den Aufbau des politischen Systems, meist als Trennung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative festschreibt. Während der verfassungsrechtlich legitimierte staatliche Handlungsraum in mehreren Konstitutionalisierungswellen im 19. Jahrhundert zunehmend expandierte,2 wurde die Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung gegen das vorherrschende liberale Staatsverständnis vom Wachstumstrend staatlicher Aufgaben am spätesten und am schwächsten erfasst.3 Zusätzlich zum gesellschaftsvertraglichen Charakter kommt der Verfassung die Funktion eines Gründungsvertrags in historischen Situationen zu, in denen grundlegende politische, soziale oder territoriale Veränderungen stattgefunden haben, die einen neuen Staat begründen. In diesem Sinne künden die Verfassungen Ostmittel- und Südosteuropas in den 1920er Jahren von einem Neubeginn in doppelter Hinsicht: Es konstituierten sich zahlreiche neue souveräne Staaten – manche zum ersten Mal als Nationalstaaten, manche nach langer Zeit erneut, manche signifikant erweitert. Entsprechend ist in den Verfassungen dieser ersten Konstitutionalisierungswelle im 20. Jahrhundert eine Emphase des Neuen, einer verstärkten politischen und sozialen Partizipation zu spüren. Innerhalb der europäischen Verfassungsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bildeten die genannten Verfassungen zusammen mit der Weimarer Verfassung diejenige Gruppe mit den prononciertesten Aussagen zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Dies kann als Charakteristikum der Staaten Ostmittel- und Südosteuropas sowie der Weimarer Republik gelten. Im übrigen Europa fand die Expansion der Sozialstaatlichkeit als Mittel der staatsbürgerlichen Integration zur Bewältigung der

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Für einen Überblick der Wellen europäischer Konstitutionalisierung siehe die Einleitung zu Peter Brandt u. a. (Hg.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 7–118, hier S. 42–49; Werner Daum: Europäische Verfassungsgeschichte 1815–1847. Eine vergleichende Synthese, in: ders. u. a. (Hg.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 2: 1815–1847, Bonn 2012, S. 66–164. T. H. Marshall: Citizenship and Social Class, Cambridge 1949.

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Herausforderungen, die Industrialisierung und Urbanisierung darstellten, in der Zwischenkriegszeit in der Regel noch keinen Niederschlag in der Verfassung. 4 Der Prototyp dieser neuen Konstitutionalisierungswelle in der Zwischenkriegszeit war die bereits im August 1919 verabschiedete Weimarer Reichsverfassung.5 In den 15 Artikeln des eigenen Abschnitts »Das Wirtschaftsleben« wurden weitgehende Rechte und Zielvorstellungen formuliert, die das erreichte Niveau der Sozialstaatlichkeit konsolidierten, aber auch den Weg zu neuen staatlichen Interventionsmöglichkeiten bahnten. In Artikel 153 wurde das Eigentum von der Verfassung gewährleistet,6 wobei »sein Inhalt und seine Schranken […] sich aus den Gesetzen« ergaben und Enteignungen nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlichem Wege möglich waren. Abschließend wurde erklärt: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste«. Landwirtschaftliches und Wohneigentum wurde dahingehend konkretisiert, dass »Grundbesitz, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung und Hebung der Landwirtschaft nötig ist, enteignet […] werden« kann. In Artikel 161 wurde Erhalt und Ausbau eines umfassenden Sozialversicherungssystems proklamiert, explizit jedoch nur gegen die Risiken von Krankheit und Alter, und nur verschwommen gegen das der Arbeitslosigkeit. Der Charakter des Sozialstaates wurde als Dynamik zwischen Rechten und Pflichten formuliert, wenn etwa dem Recht auf Arbeit (Art. 163, Abs. 2) die Pflicht zur Arbeit (Art. 163, Abs. 1) gegenübergestellt wird. Dieselbe Dynamik galt hinsichtlich der Eigentumsgarantie, wenn diese an die »Pflicht des Grundbesitzers gegenüber der Gemeinschaft zur Bearbeitung und Ausnutzung des Bodens« (Art. 155, Abs. 3) gebunden wurde. Der Frage des direkten Einflusses der Weimarer auf die Verfassungen Ostmittel- und Südosteuropa kann im Rahmen dieser Analyse nicht detailliert nachgegangen werden. Grundsätzlich ist in Anlehnung an die Verfassungsgebung der Nationalstaaten Südosteuropas im 19. Jahrhundert auch in der 4

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Gabriele Metzler: Die sozialstaatliche Dimension der parlamentarischen Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Andreas Wirsching (Hg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007, S. 205–232. Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 342–369. Herbert Langkeit: Enteignung und normative Eigentumsbeschränkung in Artikel 153 der Weimarer Verfassung. Ein Beitrag zur neueren Eigentumslehre unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Königsberg 1930; Hans Schlegel: Der Eigentumsbegriff in den Enteignungsbestimmungen der Weimarer Verfassung, Berlin 1934.

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Zwischenkriegszeit von einem oder mehreren meist westeuropäischen Zentren des Konstitutionalismus auszugehen. Der Transfer von Normen und Institutionen wurde dann jedoch nicht als simple Kopie umgesetzt, sondern auf dem Weg der Adaption an die Interessen der lokalen Eliten und in Abhängigkeit von den Handlungsoptionen der konkreten politischen Situation.7 Ebenso ist von Mehrfachprägungen beispielweise durch das französische, deutsche und österreichische Verfassungsverständnis auszugehen sowie von einer intensiven Beobachtung der Verfassungsentwicklung in der Region. So ist zum Beispiel die jugoslawische Debatte über den Eigentumsbegriff in der Verfassung insbesondere durch die Rezeption des solidaristischen Verständnisses des Privatrechts in den Schriften Léon Duguits geprägt worden, während in Rumänien Bezug auf die Weimarer Reichsverfassung genommen wurde.8 Von größerer Bedeutung für den generellen Trend der Verfassungen Ostmittel- und Südosteuropas in den 1920er Jahre hin zu einem Staatsverständnis, in dem Interventionen in das wirtschaftliche und soziale Leben nicht mehr nur im Einzelfall, sondern systematisch vorgesehen waren, waren jedoch die vielfältigen Herausforderungen nach Kriegsende. Die Eliten sämtlicher Staaten der Region standen in politischer, aber auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht vor erheblichen Legitimationsproblemen. Die neue Nationalstaatlichkeit musste seinen Bürgern ein besseres Leben bieten als die untergegangenen multi-ethnischen Imperien auf der einen oder die bolschewistische Sowjetunion auf der anderen Seite. Die Verfassungen Estlands (1920) und Litauens (1922) enthielten Bestimmungen sowohl zum Eigentum als auch zum Sozialstaat, während der lettische Verfassungsgeber diesbezüglich nichts niederlegte.9 In Estland wurde das Privateigentum garantiert (Art. 24); die »Organisation des wirtschaftlichen Lebens« sollte der »Garantie einer menschenwürdigen Lebenshaltung durch entsprechende Gesetze« dienen, z. B. durch Zuteilung von Grund und Boden

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Constantin Iordachi: The making of citizenship in the post-Ottoman Balkans. State building, foreign models, and legal-political transfers, in: Wim van Meurs/Alina Mungiu-Pippidi (Hg.): Ottomans into Europeans. State and Institution-Building in South Eastern Europe, London 2010, S. 179–244. Dietmar Müller: Eigentum im öffentlichen Diskurs. Léon Duguit im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit, in: Mitropa (2013), S. 22–26; Alexandru Costin: Concepţiile actuale ale proprietăţii şi constituţia, in: Noua constituţie a României în dezbaterea contemporanilor, Bucureşti o. J., S. 356–380. Toomas Anepaio: Die rechtliche Entwicklung der baltischen Staaten 1918–1940, in: Tomasz Giaro (Hg.): Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–30.

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zur eigenen Bearbeitung, zur Erlangung einer eigenen Wohn- und Arbeitsstätte sowie zum Schutz gegen die Lebensrisiken Krankheit, Invalidität und Alter.10 Die Bestimmungen der litauischen Verfassung zu den »Grundlagen der staatlichen Wirtschaftspolitik« sowie zur »Sozialen Fürsorge« postulierten ein Recht auf Arbeit (Art. 88, Abs. 2), stellten das Eigentum (Art. 21) im Allgemeinen und insbesondere den kleinen und mittleren Bodenbesitz nach vollzogener Landreform unter besonderen Schutz (Art. 90). Bezüglich der klassischen Lebensrisiken hielt die Verfassung Litauens explizit fest: »Der Staat schützt den Arbeiter für den Fall der Krankheit, des Alters, des Unglücksfalls, sowie der Arbeitslosigkeit.«11 In der polnischen Verfassung (1921) wurde in Artikel 99 zunächst eine vergleichsweise ausführliche und definitive Garantie des Eigentums »als eine der wichtigsten Grundlagen des gesellschaftlichen Aufbaus und der Rechtsordnung« ausgesprochen, im zweiten Absatz zugleich Eigentum und die Verteilung von Grund und Boden als besonderer Regelungsbereich genannt: »Der Boden als einer der wichtigsten Faktoren des völkischen und staatlichen Lebens darf nicht Gegenstand eines unbeschränkten Handels sein.«12 Weiterhin wurden in den Artikeln 102 und 103 die Arbeit unter staatlichen Schutz gestellt, die Erwerbsarbeit von Kindern, Jugendlichen und Frauen geregelt sowie das Recht auf Versicherung der klassischen vier Lebensrisiken postuliert.13 Die Tschechoslowakei und Ungarn waren die beiden Staaten, die am eindeutigsten als Nachfolgestaaten des Deutschen und des Habsburgischen Reiches gelten können, da sie bewusst die Erbschaft einer bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhunderts begonnenen Wohlfahrtsstaatlichkeit antraten.14 Umso überraschender – und im Kontrast zur ausgesprochen wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten Politik Prags in der Zwischenkriegszeit – ist es, dass die Verfassung der Tschechoslowakei (1920) bis auf die überall gängige Eigentums-

10 Grundgesetz der Estnischen Republik vom 9. August 1920, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 12 (1923/24), S. 202–206, hier S. 203 f. 11 Die Verfassung des Litauischen Staates vom 1. August 1922, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 16 (1928), S. 315–326, hier S. 317 und S. 321 f. 12 Verfassung der polnischen Republik vom 17. März 1921, veröffentlicht im Gesetzesblatt am 1. Mai 1921, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 12 (1923/24), S. 300–310, hier S. 308. 13 Wojciech Witkowski/Andrzej Wrzyszcz: Modernisierung des Rechts im unabhängigen Polen, in: Giaro (Hg.), Modernisierung [wie Anm. 9], S. 249–271. 14 Ladislav Lipscher: Verfassung und politische Kultur in der Tschechoslowakei 1918–1939, München 1979; Katalin Gönczi: Kontinuität und Wandel im ungarischen Rechtssystem der Zwischenkriegszeit, in: Giaro (Hg.), Modernisierung [wie Anm. 9], S. 69–83.

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garantie (Art. 109) keine weiteren Aussagen zu Zielen der Wirtschafts- und Sozialpolitik machte, in dieser Hinsicht also wie eine klassisch liberale Verfassung des 19. Jahrhunderts anmutete.15 Auch im Falle Ungarns schlug sich eine gewandelte Staatlichkeit der Zwischenkriegszeit nicht in den Verfassungen nieder; die Verfassung der Räterepublik blieb nur rund sechs Monate im Jahr 1919 in Kraft, bevor der alte Rechtsstand wiederhergestellt und als Idee der Rechtskontinuität fortgeführt wurde. Von besonderem Interesse sind die Verfassungen der südosteuropäischen Staaten Rumänien und des Königreichs der Serben, Slowenen und Kroaten (seit 1929 und im Text weiterhin Jugoslawien genannt), da die neuen Staaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts unabhängig geworden waren und damit in der Zwischenkriegszeit auf eine eigene Verfassungsgeschichte aufbauen konnten.16 Im Vergleich zu den bis dahin gültigen Verfassungen Serbiens und Altrumäniens wurde das Eigentum in Jugoslawien (1921) und Großrumänien (1923) nicht mehr uneingeschränkt liberal-individualistisch gefasst. Während Eigentum in Artikel 19 der rumänischen Verfassung von 1866 noch als »heilig und unverletzbar« definiert worden war, wurde es 1923 in Artikel 17 zwar noch »garantiert«, aber mit dem Attribut der »sozialen Funktion« versehen.17 Ebenso verfuhr man in Jugoslawien, wo gleich nach der Garantie des Eigentums in Artikel 37 folgte, dass sein Inhalt, Umfang und seine Begrenzung durch einfache Gesetze zu regeln seien.18 Die jugoslawische Öffentlichkeit verstand dies allgemein als Begrenzung des Eigentums zur Erfüllung sozialer Zwecke, zumal die Eigentumsgarantie nur einer von 23 Artikeln des Abschnittes »Soziale und

15 Verfassung der Tschechoslowakischen Republik vom 29. Februar 1920, in: Dieter Gosewinkel/Johannes Masing (Hg.): Die Verfassungen in Europa 1789–1949, München 2006, S. 1828–1850. 16 Lucian Goga: Politik und Rechtskultur der Zwischenkriegszeit in Rumänien, in: Giaro (Hg.), Modernisierung [wie Anm. 9], S. 31–68; Srđan Šarkić/Maša Kulauzov: Constitutional history of Yugoslavia 1918–1941, in: ebd., S. 169–183. S. a. den vergleichenden Zugriff von Wolfgang Höpken: Strukturkrise oder verpaßte Chance? Zum Demokratiepotential der südosteuropäischen Zwischenkriegsstaaten Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien, in: Hans Lemberg (Hg.): Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen. Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten, Marburg 1997, S. 73– 127, hier S. 86–100. 17 Die Verfassung des Königreichs Rumänien vom 29. März 1923, in: Gosewinkel/Masing (Hg.), Verfassungen [wie Anm. 15], S. 1735–1754. Siehe auch Ernst Schmidt: Die verfassungsrechtliche und politische Struktur des rumänischen Staates in ihrer historischen Entwicklung, München 1932. 18 Verfassung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen vom 28. Juni 1921, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 11 (1922), S. 200–217, hier S. 203 f.

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ökonomische Bestimmungen« war. Im ostmitteleuropäischen Vergleich waren die jugoslawischen Ausführungen zu diesen Bereichen die ausführlichsten, machten sie doch nicht nur Aussagen zum Schutz der Arbeit (Art. 23) sowie zu den klassischen Lebensrisiken (Art. 31), sondern auch zu einer Fülle weiterer wirtschaftlicher und sozialer Regelungsbereiche. In ungewöhnlicher Detailliertheit wurden in den Artikeln 41 bis 43 Eingriffe in die Eigentumsstruktur von Grund und Boden angekündigt bzw. sanktioniert. Es war sehr ungewöhnlich, dass der jugoslawische Verfassungsgeber in Artikel 26 ein staatliches Interventionsgebot festschrieb: »Der Staat hat im Interesse der Gesamtheit und auf Grund der Gesetze das Recht und die Pflicht, im Geiste der Gerechtigkeit und zwecks Beseitigung gesellschaftlicher Gegensätze in wirtschaftlichen Angelegenheiten der Bürger zu intervenieren.« Rumäniens Verfassung blieb dem europäischen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts stärker verhaftet, denn die Eigentumsgarantie wurde unter die klassischen Rechte der Bürger subsumiert; dabei fielen der Schutz der Arbeit (Art. 21) sowie die Versicherung gegen die vier Lebensrisiken doch sehr knapp aus. Die recht weitgehenden Eingriffe in die Eigentumsstruktur von Grund und Boden im Zuge der Agrarreform wurden in den Übergangsregelungen (Art. 131) geradezu versteckt. Der Konstitutionalismus der übrigen drei südosteuropäischen Staaten offenbart kaum ein gewandeltes Staatsverständnis. In Bulgarien kam trotz der bewegenden politischen Ereignisse in den 1920er Jahren keine neue Verfassung zustande; diejenige von 1879 blieb in Kraft, in der die Artikel 67 und 68 lediglich die klassische Eigentumsgarantie umfassten.19 Ebenso verhielt es sich mit den Verfassungen Albaniens (Eigentumsgarantie in Art. 129)20 und Griechenlands (Eigentumsgarantie in Art. 19), beide aus dem Jahr 1925, wobei die griechische Verfassung auch die Arbeit unter staatlichen Schutz stellte.21 Jenseits der genannten politischen Legitimationsbedürfnisse der nationalen Eliten spielten für ein aktiveres, stärker intervenierendes Staatsverständnis auch im engeren Sinne sozioökonomische Gründe eine Rolle. Industrialisierung und Urbanisierung sowie die damit einhergehende Destabilisierung der traditionalen Sozialbeziehungen in den Familien und dörflichen Gemeinschaften sorgten für eine verstärkte Nachfrage nach staatlichen Regelungen. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass zwischen den in den Verfassungen geäußerten Normen auf der einen und deren konkreter Umsetzung in Gestalt der Agrarreformen 19 Verfassung des Fürstentums Bulgarien vom 16. April 1879, in: Gosewinkel/Masing (Hg.), Verfassungen [wie Anm. 15], S. 1772–1789. 20 Verfassungsstatut der Republik Albanien vom 7. März 1925, in: ebd., S. 2065–2078. 21 Verfassung der Republik Griechenland vom 29. September 1925, in: ebd., S. 1080–1101.

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sowie des Ausbaus der Sozialversicherungssysteme auf der anderen Seite eine erhebliche Lücke klaffte, so dass die Verfassungen doch eher Entwicklungsprogrammen glichen.

II. Agrarreformen und Landwirtschaftspolitik Für zahlreiche Staaten Ostmittel- und Südosteuropas war in politischer, sozialer und symbolischer Hinsicht die Durchführung einer mehr oder minder durchgreifenden Agrarreform nach dem Ersten Weltkrieg von erstrangiger Bedeutung. In allen Ländern war – mit Ausnahme der Tschechoslowakei – bis in die Zwischenkriegszeit jeweils mehr als die Hälfte der berufstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. In einigen Ländern, wie in Polen, Rumänien, Jugoslawien und Albanien, beliefen sich die Anteile auf bis zu 80 Prozent.22 Aus dem unerwarteten Zusammenbruch der multiethnischen Imperien in einem langen und blutigen Krieg ergab sich für die neuen Nationalstaaten der Region die Notwendigkeit für durchgreifende Reformen im ländlichen Raum, die auch als eine Möglichkeit des Neuanfangs begriffen wurden. Der Weltkrieg hatte eine Vielzahl der Bauernsoldaten zum ersten Mal aus ihrer vertrauten dörflichen Umgebung herausgeführt; die explizit versprochene oder implizit erwartete Anerkennung ihres Einsatzes für das Vaterland sollte eine stärkere Stellung in Wirtschaft und Staat sein. Dazu kam für Soldaten an der Ostfront die Erfahrung wilder Landenteignungen unter bolschewistischen Vorzeichen, was von den Eliten der neuen Staaten als eine große Gefahr betrachtet wurde. Es war schlicht ein soziales Gebot, die als Invaliden heimkehrenden Soldaten und die Kriegerwitwen zu versorgen.23 Weiterhin war es aus sozialen wie wirtschaftlichen Gründen höchst angeraten, postfeudale Eigentums- und Nutzungsverhältnisse aufzulösen: Dabei war in den meisten neuen Staaten die Trennlinie zwischen Großgrundbesitz und Landarmut bzw. Landlosigkeit zugleich auch eine ethnische, denn die Großgrundbesitzer gehörten zu den bestimmenden 22 Vgl. Iván T. Berend/György Ránki: Polen, Ungarn, Rumänien und Albanien 1914–1980, in: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart Stuttgart 1987, S. 777. 23 Julia Eichenberg: War Experience and national State in Poland. Veterans and Welfare in the 20th Century, in: Katrin Boeckh/Natali Stegmann (Hg.): Veterans and War Victims in Eastern Europe during the 20th Century. A Comparison (= Comparativ 20 [2010] 5), S. 50–62; Natali Stegman: Veteran Status and War Victims’ Policy in Czechoslovakia from the End of the First World War until the Nineteen-Fifties, in: ebd., S. 63–74.

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Ethnien der alten Imperien, während die Kleinbauern und das Landproletariat überwiegend von Mitgliedern der neuen Titularnationen gestellt wurden. Aufgrund dieser Konstellation waren die Agrarreformen in der gesamten Region zentrale Elemente der Staats- und Nationsbildung. Ausmaß, Zeitpunkt und Durchführung der Agrarreform in den einzelnen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas waren von einem Bündel politischer Motive sowie agrarstrukturellen und -ökonomischen Konstellationen geprägt.24 Eine davon war die Frage, ob das Land zu den Verlierern oder zu den Siegern des Krieges gehörte, denn Österreich, Ungarn und Bulgarien bildeten die Ländergruppe mit der kleinsten Menge des zu verteilenden Bodens.25 In Bulgarien wurden lediglich 3,2 Prozent und in Ungarn lediglich 5,8 Prozent des Gesamtbodens enteignet.26 Während die Gründe hierfür in Österreich und Bulgarien in ihrer bereits vor 1914 existierenden weitgehend mittel- bzw. kleinbäuerlichen Eigentumsstruktur liegen, waren sie in Ungarn wesentlich politischer Natur. Nach der Niederschlagung der Räterepublik Béla Kuns und mit der autoritären Herrschaft von Miklós Horthy gelang den alten Eliten eine Stabilisierung, die die althergebrachten Bodeneigentumsverhältnisse nahezu unangetastet ließ.27 In Litauen (rund 9 Prozent enteigneten Bodens) und Polen (rund 7 Prozent enteigneten Bodens) wurden Agrarreformen durchgeführt, die bezüglich des prozentual umverteilten Landes eine mittlere Position einnahmen, wobei in beiden Ländern agrarstrukturelle Maßnahmen im Mittel-

24 Hugh Seton-Watson: Eastern Europe between the Wars, 1918–1941, New York/Evanston/London 1962 (zuerst 1945), S. 75–122; Wojciech Roszkowski: Land Reforms in East Central Europe after World War One, Warsaw 1995; Wilfried Schlau: Die Agrarreformen und ihre Auswirkungen, in: Lemberg, Ostmitteleuropa [wie Anm. 16], S. 145–159. 25 Anton Freiherr von Pantz: Die Wiederbesiedlung in Österreich, in: Die agrarischen Umwälzungen im außerrussischen Osteuropa. Ein Sammelwerk, hg. von Max Sering, Berlin/Leipzig 1930, S. 240–254. Für Bulgarien vgl. Ernst Buske: Die Agrarreform in Bulgarien, in: ebd., S. 396–446. 26 Für eine Zusammenstellung des enteigneten sowie umverteilten Bodens in den Staaten Ostmittel- und Südosteuropa vgl. Uwe Müller: Landreformen und Wirtschaftsnationalismus in Ostmitteleuropa, in: Soziale Konflikte und nationale Grenzen in Ostmitteleuropa, hg. von Dagmara Jajes´niak-Quast, Berlin 2006, S. 171–187, hier S. 174. 27 Béla Kenéz: Die Agrarreform in Ungarn, in: Die agrarischen Umwälzungen [wie Anm. 25], S. 255–275; Zsombor Bódy: Weder Demokratisierung noch Diktatur. Die kontrollierte Politisierung der ländlichen Unterschichten im Ungarn der Zwischenkriegszeit, in: Eduard Kubů u. a. (Hg.): Agrarismus und Agrareliten in Ostmitteleuropa, Berlin/Prag 2013, S. 225–252.

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punkt standen:28 Flurbereinigung, d. h. die Zusammenlegung kleiner und verstreut liegender Landstücke in Litauen und im galizischen Polen sowie die Aufhebung der Servituten in den Kresy (0stpolen), d. h. die klare Zuweisung vormals geteilten Grundbesitzes auf Individuen.29 Die Tschechoslowakei sowie Rumänien und Jugoslawien gehörten mit 12,8 Prozent, respektive 12,3 und 8,3 Prozent des enteigneten Bodens ebenfalls zu der Mittelgruppe. Die Spitzengruppe bildeten jedoch Lettland und Estland mit 51,7 Prozent respektive 49,3 Prozent enteigneten Bodens. Das am deutlichsten hervorstechende Merkmal der Agrarreformen war die signifikant zunehmende Rolle des Staates bei der Umverteilung und damit auch der Lebenschancen. Überall waren es staatliche Akteure und Institutionen, die bestimmten, welche Gruppen um wie viel Land enteignet wurden, welche Gruppen andererseits wie viel Land erhalten sollten und welche Rechtsstellung dieses Land in Zukunft haben sollte. Im klaren Bruch mit der Zurückhaltung des Staates über die Sicherung der Property rights hinaus, wie sie im westlichen Europa im 19. Jahrhundert im Zeichen des Liberalismus praktiziert worden war, wiesen nationale Eliten dem Staat zudem nun die Rolle eines aktiven Akteurs zu.

III. Die ethnopolitische Dimension und Kolonisierungsprojekte Am intensivsten wurde von den Zeitgenossen die ethnonationale Dimension der Agrarreformen diskutiert.30 Im regionalen Überblick ergibt sich zwar eine Streuung hinsichtlich der Methoden, der Durchführung und der Folgen der Bodenreformen nach dem Ersten Weltkrieg, die von strukturell unvermeidlichen Härten für die Minderheiten bis hin zu gezielten Diskriminierungen reicht. Überall aber war die Tendenz zu verzeichnen, den neuen Staat als Eigentum der Titularnationen zu verstehen. Dementsprechend zentral war die Ver-

28 Silvio Broedrich: Die Agrarreform in Litauen, in: Die agrarischen Umwälzungen [wie Anm. 25], S. 128–153; Gert von Pistohlkors: Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen in den neu gegründeten baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen 1919/1922: Motivationen und Ergebnisse bis 1940, in: Karl-Peter Krauss (Hg.): Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen. Südosteuropa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Stuttgart 2009, S. 175–205, hier S. 189. 29 Als pars pro toto Aleksander Matwiejew: Die Agrarreformen Polens im XX. Jahrhundert, Institut für Weltwirtschaft: Kiel 1958; Gerhard Doliesen: Bauernpartei »Wyzwolenie« in den Jahren 1918–1926, Marburg 1996, S. 162 ff. 30 Als repräsentativ kann gelten: Die agrarischen Umwälzungen [wie Anm. 25].

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fügung über Eigentum, und zwar über den konkreten Besitz an Grund und Boden, ebenso wie über das mythologisierte Eigentum der Titularnation am eigenen Vaterland, symbolisiert durch die Inbesitznahme der bisher fremdbestimmten neuen Provinzen. Die ethnische Ausgestaltung der Nation äußerte sich darin, dass insbesondere die ehemals dominierenden Gruppen (Deutsche, Ungarn, Russen, Türken), aber auch Angehörige kleinerer Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs (Bulgaren) ebenso wie Gruppen ohne Referenzstaaten (Juden, Ukrainer, Belarussen etc.) bei der Landumverteilung erheblich benachteiligt wurden. Wo der Großgrundbesitz bereits in nationaler Hand war – wie in den polnischen Kresy, in Galizien, im rumänischen Altreich und in ganz Ungarn –, fiel die Landumverteilung dementsprechend geringer aus als in Westpolen, in Estland und Litauen sowie in den neuen rumänischen Provinzen Siebenbürgen, Bessarabien und der Bukowina. Besonders deutlich trat die ethnopolitische Schlagseite in Projekten der Kolonisierung zu Tage, die nachfolgend anhand von Polen dargestellt wird. Eine ähnliche Politik verfolgte man auch in Jugoslawien, Rumänien und der Tschechoslowakei. Dabei wurden häufig Kriegsveteranen, auf jeden Fall aber Angehörige der Titularnation in der Regel in strategisch wichtigen, oft grenznahen Regionen angesiedelt, die nicht selten zudem Siedlungsschwerpunkte von Minderheiten waren. Für die Einrichtung ihrer im Vergleich zu der ansässigen Bevölkerung meist größeren Bauernhöfe kamen sie in den Genuss hoher Subventionen, wofür von staatlicher Seite von ihnen die symbolische und ganz reale Inbesitznahme und Schutz des nationalen Bodens erwartet wurde.31

31 Zu Beispielen von Agrarreformen samt Kolonisierung für die Dobrudscha und das Kosovo vgl. Dietmar Müller: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzeptionen, 1878–1941 Wiesbaden 2005, S. 362–374 und S. 436–453; für Makedonien siehe Nada Bosˇkovska: Das jugoslawische Makedonien. Eine Randregion zwischen Repression und Integration, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 206–218; für die Tschechoslowakei vgl. Daniel E. Miller: Colonizing the Hungarian and German Border Areas during the Czechoslovak Land Reform, 1918–1938, in: Austrian History Yearbook 34 (2003), S. 303–317; für Ostgalizien, Wolhynien und anderen Teilen der Kresy vgl. Werner Benecke: Die Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik. Staatsmacht und öffentliche Ordnung in einer Minderheitenregion 1918–1939, Wien/Köln/Weimar 1999; Cornelia Schenke: Nationalstaat und nationale Frage: Polen und die Ukrainer 1921–1939, Hamburg/München 2004.

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Für den Verlauf der Agrarreformen in Polen und der Kolonisierung im östlichen Galizien und in die Kresy war kennzeichnend,32 dass einerseits der Großgrundbesitz in Ostpolen überwiegend in polnischer Hand und dass andererseits der Staat bestrebt war, die polnische Dominanz zu festigen.33 Daraus ergaben sich zahlreiche Sonderbestimmungen für diese Gebiete, die auch Auswirkungen auf die Agrarreform insgesamt hatten. Zum einen wurde die angestrebte Größenordnung der Bauernwirtschaften in den Ost- wie Westwojewodschaften im Agrargesetz von 1925 mit 20 ha angegeben (1921 waren es noch 45 ha gewesen), während dieser Wert im restlichen Polen 15 ha betrug. Zum anderen belief sich das Maximum, bis auf das Großgrundbesitz enteignet wurde in den Kresy und in Galizien (und bis 1925 auch in den Westwojewodschaften) auf 300 ha, während es im restlichen Polen 180 ha waren.34 Pächter aus den Wojewodschaften der Kresy waren zwar grundsätzlich berechtigt, das gepachtete Land zu kaufen, dies galt aber nicht für diejenigen, die »ihre feindliche Gesinnung gegen den polnischen Staat zum Ausdruck gebracht hatten« und das Land zu einem bestimmten Zeitpunkt oder länger als ein Jahr nicht bearbeitet hatten.35 Zeitgenössische ukrainische und deutsche Darstellungen der Lage der Minderheiten im Osten und Westen Polens wiesen mit Blick auf die Agrarreform auf weitere determinierende Punkte hin.36 Sie führen den großen Ermessensspielraum an, die die lokalen Behörden sowie die mit der Agrarreform betrauten Ämter bei deren Umsetzung hatten. So konnte der Ministerrat willkürlich bestimmen, in welchen Landamtsbezirken wie viel Land der Großgrundbesitzer parzelliert werden sollte, zugleich konnte er verfügen, welcher Großgrundbesitzer bei Nichterfüllung des jährlichen Parzellierungsplans ent32 In der Zwischenkriegszeit wurden die Wojevodschaften Wilno, Novogródek, Polesie und Woły ´n als Kresy subsumiert, während Lwów, Tarnopol und Stanisławów als Ostgalizien bildend verstanden wurden. Für die Kresy vgl. Benecke, Ostgebiete [wie Anm. 31]. 33 Für Polens Minderheitenpolitik vgl. Winson Chu: The German Minority in Interwar Poland, New York 2012; Stephan Horak: Poland and Her National Minorities, 1919–39. A Case Study, New York u. a. O. 1961. 34 Rudolf Freund: Die polnische Agrarreform, in: Weltwirtschaftliches Archiv 24 Nr. 2 (1926), S. 309–320, hier S. 315; Anton Heinrich Hollmann: Die polnische Agrarreform, in: Berichte über Landwirtschaft N. F. 5 (1927) 1, S. 125–138. 35 Friedrich Hellwege: Agrarverfassung und Agrarreform in Polen, in: Die agrarischen Umwälzungen [wie Anm. 25], S. 154–204, hier S. 180. 36 Vgl. Freund, Agrarreform [wie Anm. 34], S. 314 f.; Hollmann, Agrarreform [wie Anm. 34], S. 127 ff.; Ausrottung der Ukrainer in Polen, Prag 1930, S. 22 ff.; Basil Paneyko: Galicia and the Polish-Ukrainian Problem, in: Slavonic and East European Review 9, 27 (1931), S. 567–587.

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eignet wurde. Einsprüche gegen solche Entscheidungen konnten nicht an die entsprechende Behörde gerichtet werden, sondern nur auf dem Gerichtsweg, der seinerseits stark, nämlich in den meisten Fällen auf die höchste Instanz des Obersten Verwaltungsgerichts eingeschränkt wurde.37 Die in der Verfassung proklamierte Gleichberechtigung aller Staatsbürger habe demnach – so bereits die Zeitgenossen – nicht verhindern können, dass eine Interessenkoalition zwischen den Behörden und der sozialen Oberschicht der polnischen Großgrundbesitzer systematisch zu einer Benachteiligung der deutschen, ukrainischen und weißrussischen Minderheit geführt habe. Während bei der allgemeinen Agrarreform lediglich Hinweise für ein staatliches Programm der Polonisierung der Gebiete existieren, ist ein solches Programm bei der Ansiedlung von Militärveteranen in den Kresy offenkundig.38 Wie im Kosovo, so wurden auch die Ansiedlungsmaßnahmen in Ostpolen zivilisatorisch und strategisch begründet: Nicht nur, dass freiwillige und verdiente Frontsoldaten und Offiziere für ihre Leistungen im Dienst am Vaterland belohnt werden sollten, sie sollten darüber hinaus gleichzeitig die bedrohten Ostgebiete militärisch schützen und insgesamt auf eine höhere Zivilisationsstufe heben.39 In der Realität aber wurde das Ansiedlungsprogramm im Laufe der Zwischenkriegszeit, wohl aus Geldmangel sowie wegen eines nachlassenden Interesses potentieller Ansiedler, stetig verkleinert, so dass insgesamt nur knapp 10.000 Personen angesiedelt wurden. Ein erheblicher Anteil von diesen verpachtete ihr Land jedoch sogleich weiter an die umliegenden weißrussischen und ukrainischen Bauern, weil ihnen das Kapital und die Kenntnisse oder als weiterhin aktive Militärs schlicht die Zeit fehlte, um einen Bauernhof zu betreiben. Der Schaden aus der Veteranenansiedlung ist – in Form einer antagonisierten weißrussischen und ukrainischen Bevölkerungsgruppe – als wesentlich höher, als der Gewinn in ethnopolnischer Perspektive zu veranschlagen. Und dies gilt trotz der recht geringen Zahl der angesiedelten Veteranen, denn dadurch offenbarte der polnische Staat die erhebliche Diskrepanz zwischen seinen hochfliegenden Plänen und den von ihm bereitgestellten, doch eher geringen Mitteln, diese auch umzusetzen. Was für die Kolonisten und Vete37 Freund, Agrarreform [wie Anm. 34], S. 129. 38 Christhardt Henschel: Front-line Soldiers into Farmers. Military Colonization in Poland after the First and Second World Wars, in: Hannes Siegrist/Dietmar Müller (Hg.): Property in East Central Europe. Notions, Institutions and Practices of Landownership in Twentieth Century, New York/London 2015, S. 144–162; Benecke, Ostgebiete [wie Anm. 31], S. 123–133. 39 Für diese Perspektive vgl. Stanislaw Srokowski: The Ukrainian Problem in Poland: a Polish View, in: Slavonic and East European Studies 9 (1930/1931), S. 588–597.

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ranen festgestellt wurde, kann auch für die Agrarreform festgehalten werden: Der Schaden trat sofort ein, während die mittel- und langfristigen Erfolge auf sich warten ließen.

IV. Der Staat als Akteur: Verteilung und Rechtstellung des Bodens Die Rolle des Staates bei der Durchführung der Agrarreformen teilte sich in drei analytisch gefassten Phasen – Enteignung, Zuteilung sowie Administration des Bodens. Angesichts der »wilden« Landaneignungen gegen Kriegsende und während der militärisch und politisch instabilen Übergangsphase in vielen Teilen der Region kann es nicht verwundern, dass die Bodenumverteilung nicht nach rechtsstaatlichen Kriterien und Abläufen vonstattenging: In der Regel wurden die wilden Landaneignungen durch Gesetze nachträglich legalisiert und der entsprechende Eingriff in die liberal-individualistische Eigentumskonzeption in später verabschiedeten Verfassungen verankert. In keinem der Länder Ostmittel- und Südosteuropas wurde der liberale Eigentumsbegriff in der Verfassung jedoch gänzlich abgeschafft, sondern generell mit einer Einschränkung versehen, die die »soziale Funktion« des Eigentums hervorhob. 40 Mit der Enteignung sowie Neuzuteilung von Grund und Boden im Zuge der Agrarreform wurden oft eigens gegründete Bodenämter betraut, die als staatliche Agenturen zunächst die Eigentumsrechte des Bodens ganz oder teilweise übernahmen und diese in einem zweiten Schritt an die Neueigentümer weitergaben. Dadurch erhielt die Agrarreform einen staatlich-hoheitlichen Charakter; die Bodeneigentumsverhältnisse waren dem Wirken von Marktmechanismen weitgehend entzogen. Damit konnte der Gesetzgeber entscheiden, wie viel Eigentum an Grund und Boden notwendig, nützlich und legitim war. Weiterhin oblag es den Parlamenten über die Höhe der Entschädigungszahlungen zu befinden, denn formal blieb das Prinzip der Unantastbarkeit des Eigentums durch Entschädigungsleistungen aufrechterhalten. Die Entschädigung wurde üblicherweise zum Großteil in langjährig laufenden Staatsobligationen ausbezahlt. Ihre Höhe variierte von Land zu Land erheblich, wobei die Tschechoslowakei mit 15 bis 25 Prozent des tatsächlichen Wertes an der Spitze lag: Mit einem Wert

40 Vgl. V. Alton Moody: Agrarian Reform before post-war European Constituent Assemblies, in: Agricultural History 7 (1933) 2, S. 81–95.

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von weniger als 5 Prozent in Ländern wie Rumänien und Jugoslawien glich das schon fast einer Konfiszierung. 41 So wie bei der Entschädigungshöhe kam es auch zu großen Unterschieden in der Frage, wie viel enteignetes Land umverteilt wurde, wie lange es unter welchen Bedingungen in staatlicher Verwaltung verblieb und wie viel ganz und gar in Staatsbesitz übergehen sollte. Wiederum war es die Tschechoslowakei, in dem sich die Agrarreform am wenigsten etatistisch gestaltete und am schnellsten von sozial- und nationalpolitischen auf wirtschaftliche Kriterien umschaltete. Denn dort wurden nicht weniger als ein Drittel der 1,3 Millionen Hektar beschlagnahmten Landes wieder an die Alteigentümer zurückgegeben, nachdem über Parzellierungen, Pachten und in freiem Verkauf rund 760.000 Hektar an das Mittelbauerntum zu dessen Stärkung gelangt war. 42 Ein sehr effizient arbeitendes und auch in der Fläche präsentes Bodenamt setzte die Agrarreform zügig um, so dass Alt- wie Neueigentümer wieder über die vollen Eigentumsrechte ihres Landes verfügen konnten. Keine nennenswerte Menge an Boden verblieb im staatlichen Besitz. Am unteren Ende der Skala bewegten sich Estland und Lettland, wo von rund 2,3 respektive 3,4 Millionen Hektar enteigneten Landes etwa 48 respektive 58 Prozent in staatlichen Landfonds blieben. 43 Derart hohe Zahlen verschleiern jedoch die erheblichen regionalen Unterschiede innerhalb eines Landes. Das gilt z. B. in Rumänien, wo von dem enteigneten Land im Altreich lediglich 7,7 Prozent beim Staat verblieben, während es in Siebenbürgen 18,5 Prozent, in Bessarabien 26,4 Prozent und in der Bukowina 30,1 Prozent waren. 44 Wie schnell enteignetes Land umverteilt wurde, hing neben dem politischen Willen der nationalen Eliten wesentlich von der Fähigkeit der beteiligten Institutionen und des Personals ab, dies effektiv umzusetzen. In der Tschechoslowakei gelang dies relativ gut: Wo jedoch mehrere institutionelle Erbschaften und damit zusammenhängende Eigentumskulturen erst im Zuge der Rechtsvereinheitlichung zu einem homogenen Handlungsraum zusammengefügt werden 41 Vgl. Joachim von Puttkamer: Die tschechoslowakische Bodenreform von 1919: Soziale Umgestaltung als Fundament der Republik, in: Bohemia 46 (2005) 2, S. 315–342, hier S. 324; David Mitrany: The land and the peasant in Romania: the war and agrarian reform (1917–21), London u. a. O.. 1930; Dumitru Şandru: Reforma agrară din 1921 în România, Bucureşti 1975; Tomasevich, Peasants, Politics, and Economic Change in Yugoslavia; Nikola Gaćeša: Agrarna reforma i kolonizacija u Jugoslaviji, Novi Sad 1984. 42 Puttkamer, Bodenreform [wie Anm. 41], S. 328, dort Anm. 58. 43 Pistohlkors, Umwälzungen [wie Anm. 28], S. 189. 44 Vgl. Mircea Georgescu: Principii şi metode în legiuirile Române pentru reforma agrară, Bucureşti 1943, S. 132 ff.

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mussten, zog sich die Agrarreform schon aus technischen Gründen beträchtlich in die Länge. Am größten war diese Herausforderung in Polen, Rumänien und Jugoslawien. Hier zeigte sich eine im Grunde für alle Länder der Region auftretende gegenläufige Tendenz: Einerseits wuchs der Anspruch des Staates, das Bodeneigentum seiner Bürger zu kontrollieren, zu regulieren und zu planen beträchtlich. Die Qualität staatlicher Leistungen und Dienste kam diesen Anforderungen jedoch gar nicht oder nur mit Mühe nach, so dass im Falle der Eigentumsverhältnisse der Akteure auf dem Land von einer erheblichen Unkenntnis des Staates auszugehen ist. In Rumänien war der Hauptgrund für eine schleppend und nur unvollständig umgesetzte Agrarreform der »Kampf der Institutionen«. Auf der einen Seite stand sachkundiges Personal wie Landvermesser, Kataster- und Grundbuchbeamte sowie öffentliche Notare, die in den ehemals habsburgischen Institutionen in Siebenbürgen und der Bukowina tätig gewesen waren. Sie warben nun dafür, dass dieses effizient funktionierende System der Verwaltung von Bodeneigentum auf Großrumänien übertragen werden sollte. 45 Demgegenüber stand die viel einflussreichere Rechtsanwaltschaft Altrumäniens, die insbesondere mittels eines starken Blockes von juristisch versierten Politikern in beiden Kammern des Parlamentes nicht nur die Beibehaltung des in Fachkreisen als äußerst ineffizienten Systems der Verwaltung von Bodeneigentum des Altreichs durchsetzte, sondern auch die Unterminierung des post-habsburgischen Systems in Siebenbürgen und der Bukowina. So blieb es im Altreich bei einem Bodeneigentumssystem, in dem Transaktionen wie Kauf und Verkauf, Beleihung und Vererbung ohne Kataster und Grundbuch auskommen mussten. Dies hatte zur Folge, dass Bodentransaktionen mit extrem hohen Kosten verbunden waren, die dann in Vertragsabschlüssen mit geringer Rechts- und Erwartungssicherheit mündeten. Das führte dazu, dass privates Kapital angesichts der großen Risiken kaum in die Landwirtschaft floss. Zu diesen institutionellen Gründen für die Kapitalschwäche der Landwirtschaft nach der Agrarreform fügten die Gesetzgeber der meisten Staaten in der Region in Gestalt von zeitlichen und mengenmäßigen Begrenzungen der Marktfähigkeit von Agrarreformboden einen weiteren hinzu. Das ausgehändigte Land verblieb bis zu 15 Jahre in staatlichem Eigentum; die Neueigentümer verfügten also nur über einen Teil der Eigentumsrechte des Landes, denn sie konnten es weder verkaufen, noch beleihen, es mithin auch nicht als 45 Dietmar Müller: Eigentum verwalten in Rumänien. Advokaten, Geodäten und Notare (1830–1940), in: ders./Hannes Siegrist (Hg.): Professionen, Eigentum und Staat. Europäische Entwicklungen im Vergleich (19. und 20. Jahrhundert), Göttingen 2014, S. 75–132.

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Sicherheit für eine zur Modernisierung der Höfe dringend benötigten Bankkredit verwenden. In Rumänien und Jugoslawien behielt sich der Staat darüber hinaus ein Vorkaufsrecht auf alles in der Bodenreform ausgehändigte Land vor, auch nachdem die Bauern den Grund und Boden zur Gänze abgelöst hatten. In der Tradition der Heimstättengesetzgebung aus dem langen 19. Jahrhundert standen schließlich insbesondere im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit der Schutz vor Marktmechanismen eines gesetzlich festgelegten Minimums an bäuerlichen Bodens sowie des Hauses und des dazugehörenden Gartens. Die entsprechenden Grundstücke konnten auch im Falle der Zahlungsunfähigkeit des bäuerlichen Schuldners nicht gepfändet werden. 46 Die Agrarreformen waren also trotz einer signifikanten Zunahme bäuerlichen Landeigentums keineswegs ein Siegeszug des liberal-individualistischen Eigentums. Vielmehr waren Tendenzen einer nationalen und staatlichen Überformung des liberal-individualistischen Eigentumsbegriffs deutlich geworden. Zum einen gilt es auf Traditionen des Schutzes bäuerlichen Kleineigentums hinzuweisen, die in Altrumänien als patriarchale und in Serbien als egalitäre Politikelemente vom Gesetzgeber in die Zwischenkriegszeit übergeführt wurden. Die sozialprotektionistischen Absichten dieser alten Heimstättengesetzgebung erfuhren im Zuge der Agrarreformen eine signifikante Resemantisierung, indem das Agrarreformland zusätzlich mit nationalen Pflichten versehen wurde, die zu definieren und über die zu wachen den Eliten in Staatsdiensten zukam. Die nationale Indienstnahme des Eigentums an Grund und Boden, wie sie in Kolonisationsprojekten an der Einrichtung von staatlichen Behörden zur Durchführung der Agrarreformen und zur langfristigen Sicherung ihrer Ergebnisse deutlich wurde, ging mit einer signifikanten Ausweitung der Staatsaufgaben im ländlichen Bereich einher.

V. Systeme der Sozialversicherung und Wohlfahrtsstaatlichkeit Der kräftige Ausbau von Sozialversicherungssystemen im Ostmittel- und Südosteuropa der Zwischenkriegszeit stützte sich personell und institutionell auf deutsche und habsburgische Erbschaften. Neben die Dimension der Institu-

46 Dietmar Müller: Die Institutionalisierung von Eigentumsformen in Ostmittel- und Südosteuropa im 20. Jahrhundert. Für eine Kulturgeschichte des Rechts, in: Wim van Meurs/Dietmar Müller (Hg.): Institutionen und Kultur in Südosteuropa, München 2014, S. 119–162; Marie-Janine Calic: Probleme nachholender Entwicklung in Serbien (1830–1941), in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994), S. 63–83, hier S. 70 f.

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tionenkontinuität traten nach dem Ersten Weltkrieg mit der Internationalen Arbeitsorganisation und dem Völkerbund Organisationen hinzu, die das Wissensfeld Sozialverfassung entschieden transnational strukturierten. 47 Die Motive zum Ausbau des Sozialversicherungswesens finden sich in dem durch Industrialisierung, Urbanisierung und Egalisierung induzierten Drucks, die Sozialverfassung für eine Massengesellschaft umzubauen. 48 Dies sollte in einer Art und Weise geschehen, dass insbesondere die Industriearbeiter sowie die sie vertretenden Parteien und Gewerkschaften gegen die bolschewistische Systemalternative immunisiert wurden. Leistungsfähige Sozialversicherungen als kräftig sprudelnde Quellen der Legitimation sollten weiterhin dazu dienen, den Meistererzählungen der neuen Nationalstaaten Glaubwürdigkeit zu verleihen, wonach sie besser als die alten »Völkerkerker« in der Lage seien, dem allgemeinen Wohl zu dienen. Legitimation kann jedoch in Delegitimation umschlagen, wenn zum Beispiel Versorgungsversprechen aus politischen Erwägungen heraus gemacht, aber aufgrund der Überdehnung von Kapazitäten nicht umgesetzt wurden. 49 Die Sozialversicherungen als institutionelle Grundlage des Sozialstaats nahmen ihren Anfang in den 1880er Jahren im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn.50 In kurzer Folge wurden im Deutschen Reich eine Krankenversicherung (1883), eine Unfallversicherung (1884) sowie eine Alters- und Invaliditätsversicherung (1889) verabschiedet, inhaltlich und zeitlich gefolgt vom cisleithanischen, österreichischen Teil des Habsburgerreiches mit der Krankenversicherung 1888, der Unfallversicherung 1887 sowie einem Hilfskassengesetz mit Leistungen bei Alter und Invalidität 1892. Diese Versicherungen bezogen sich zunächst ausschließlich auf Industriearbeiter, ihre Gültigkeit wurde jedoch zunehmend auf andere Kategorien von Arbeitern

47 Sandrine Kott: Constructing a European Social Model: The Fight for Social Insurance in the Interwar Period, in: Essays on the International Labour Organization and its Impact on the World during the Twentieth Century, hg. von Jasmien Van Daele u. a. Frankfurt a. M./Bern 2010, S. 173–195; Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, S. 67–71. 48 Anselm Doering-Manteuffel: »Soziale Demokratie« als transnationales Ordnungsmodell, in: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 313–333. 49 Metzler, Dimension [wie Anm. 4]. 50 Detlev Zöllner: Landesbericht Deutschland, in: Peter A. Köhler/Hans F. Zacher (Hg.): Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, Berlin 1981, S. 45–179; Herbert Hofmeister: Landesbericht Österreich, in: ebd., S. 445–730.

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und Angestellten (Pensionsversicherung für Angestellte in Österreich 1906; im Deutschen Reich 1913) ausgeweitet. Insbesondere in Industrierevieren und in Städten belief sich die Zahl der Menschen, die gegen die wichtigen Lebensrisiken versichert waren, am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf mehrere Millionen. Dies traf natürlich auch auf Schlesien und Posen, auf die böhmischen Länder und Prag sowie auf andere Städte und Industrieregionen zu, die nach dem Krieg Teil der Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches sowie Österreich-Ungarns wurden. Auch Staaten in Ostmittel- und Südosteuropa, denen kein direktes Erbe im genannten Sinne zufiel, beobachteten im ausgehenden »langen 19. Jahrhundert« intensiv den Aufbau der Sozialversicherungen im Deutschen Reich, im Habsburgerreich und zuweilen in Frankreich und fingen an, eigene Systeme nach diesen Mustern zu errichten. Diese längerfristige Tendenz der Zunahme staatlichen Handelns erhielt während des Ersten Weltkrieges dadurch enorme Schubkraft, dass die Bürger in ihrer Rolle als Soldaten so umfassend vom Staat beansprucht wurden, wie dies in Europa schon länger nicht mehr der Fall gewesen war. Neben den unmittelbar beim Staat beschäftigten Beamten und Angestellten war nun mit den Kriegsbeschädigten und den Hinterbliebenen von Gefallenen eine zweite Gruppe hinzugetreten, die direkt Ansprüche an den Staat richteten. Die Frage der Reintegration der Invaliden nach dem Ersten Weltkrieg war auch in anderen Staaten der Region integraler, wenn auch gesonderter Teil des Sozialstaates. Eine Quelle politischer Komplikationen stellte dabei die Frage dar, ob auch Soldaten anspruchsberechtigt waren, die in Armeen der Mittelmächte oder in damit assoziierten Verbänden gedient hatten. In Warschau und Prag ebenso wie in Belgrad und Bukarest wurde dieses potentielle Problem als Chance verstanden, eine integrative nationale Meistererzählung zu kreieren, in die die überwiegende Mehrheit aller Kombattanten der neuen Titularnationen integriert werden sollte.51 Die Entwicklung der ostmitteleuropäischen Sozialversicherungssysteme kann als Wechselspiel zwischen Erbe und nationaler Appropriation, zwischen sozialen und politischen Herausforderungen und Antworten und zwischen

51 Natali Stegmann: Kriegsdeutungen. Staatsgründungen. Sozialpolitik. Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918–1948, München 2010; Julia Eichenberg: Kämpfen für Frieden und Fürsorge. Polnische Veteranen des Ersten Weltkriegs und ihre internationalen Kontakte, 1918–1939, München 2011; Heike Karge: Sozialpolitische Erwartungen und Erfahrungen im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, in: Katrin Boeckh u. a. (Hg.): Staatsbürgerschaft und Teilhabe. Bürgerliche, politische und soziale Rechte im östlichen Europa, München 2014, S. 67–79.

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Expansion und Kontraktion beschrieben werden.52 Insbesondere Polen und die Tschechoslowakei verfügten über gut ausgebildete Fachleute, die in den regionalen Filialen der deutschen und österreichisch-ungarischen Sozialversicherungsverwaltungen tätig gewesen waren; die neuen Eliten waren sich des hohen integrativen Potentials dieser Systeme und der günstigen personellen Konstellation durchaus bewusst. Bei der mehr oder minder nahtlosen Weiterführung der geerbten Sozialversicherungen samt der Versorgung von Staatsangestellten und Kriegsgeschädigten wurden nicht nur alte Institutionen, sondern stark auch Altpersonal beschäftigt, unabhängig davon, ob die entsprechenden Experten Deutsche, Österreicher, Polen oder Tschechen waren.53 Insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit resultierte aus den Auseinandersetzungen um Landesgrenzen und Zugehörigkeiten von Provinzen sowie aus der Furcht, die bolschewistische Revolution könne auch nach Mitteleuropa übergreifen, politischer Druck, die Sozialversicherungssysteme auszubauen. Der weitere Ausbau der Sozialversicherungssysteme geschah auf drei Ebenen: Da war die Verbesserung von Leistungen im Versicherungsfall; es folgte die Erweiterung bezugsberechtigter Personen durch die Einbeziehung von tendenziell allen lohnabhängig Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft sowie die Einführung der Versicherung des Lebensrisikos Arbeitslosigkeit, was überall in Ostmittel- und Südosteuropa erst in den 1920er Jahren gesetzlich realisiert wurde. Innerhalb des generellen Trends zum Ausbau der Sozialversicherungssysteme in der Region waren gleichwohl nationale Spezifika zu verzeichnen, die aus Unterschieden in der Sozialstruktur sowie der politischen Konstellation resultierten. So war in der Tschechoslowakei – dem Staat mit dem höchsten Anteil von Industrie und Arbeiterschaft in Ostmitteleuropa – insbesondere von 1919 bis 1922 die Rolle der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie hoch zu veranschlagen: Nur gewerkschaftlich organisierte Arbeiter waren z. B. gegen Arbeitslosigkeit versichert, die Sektoren Bergbau und Stahl ebenso wie die Angestellten blieben außerhalb des allgemeinen Systems. Dieser fragmentierte Zustand blieb auch in der zweiten Entwicklungsphase der Sozialversicherungen im 52 Tomasz Inglot: Welfare States in East Central Europe, 1919–2004, Cambridge u. a. O.. 2008; Béla Tomka: Welfare in East and West. Hungarian Social Security in an International Comparison 1918–1990, Berlin 2004; ders.: A Social History of TwentiethCentury Europe, London/New York 2013. 53 Ingo Loose: How to run a state. The question of knowhow in public administration in the first years after Poland’s rebirth, in: Martin Kohlrausch/Katrin Steffen/Stefan Wiederkehr (Hg.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I, Osnabrück 2010, S. 145–159.

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Wesentlichen erhalten, als von 1922 bis 1935 der sozialdemokratische Einfluss durch das korporative politische System der »Peˇ tka« ersetzt wurde.54 In Polen waren die Diskrepanzen zwischen den Teilungsgebieten weit dramatischer als in der Tschechoslowakei, der Anteil von Industrie und Dienstleistungen in der Gesamtwirtschaft dagegen weit geringer. Zusammen mit den politischen Ereignissen des polnisch-sowjetischen Krieges 1920/21 sowie des Piłsudski-Putsches von 1926 führten diese strukturellen Gegebenheiten dazu, dass der Ausbau des polnischen Sozialversicherungswesens einem ausgesprochen paternalistischen und zentralistischen Weg folgte. Aus Angst vor linken Einflüssen in den Selbstverwaltungen der Sozialsysteme aber auch aus einem genuinen Gestaltungsoptimismus der Piłsudski verpflichteten Intelligencija wurde erst 1934 vom Sanacja-Regime mit der Gründung einer Sozialversicherungsabteilung im Arbeits- und Wohlfahrtsministerium ein wichtiger Institutionalisierungsschritt unternommen.55 In den ungarischen Ländern des Habsburgerreiches waren die ersten Sozialversicherungsgesetze für Krankheit (1891), Arbeitsunfälle (1907) und für die Pensionen der Staatsbediensteten (1912) jeweils einige Jahre nach denen in Österreich gefolgt.56 Auf den vergleichsweise frühen Start folgten dann Jahre bescheidener und sektorenbedingter Expansion des Sozialsystems, die sich im Grunde bis Ende der 1930er Jahre erstreckten. Zum einen stagnierte die Industrialisierung und somit die Kernzielgruppe der Sozialversicherungen seit der Jahrhundertwende, zum anderen wurde die Versicherungspflicht von der Regierung gegenüber den Arbeitgebern nur schwach durchgesetzt. Wie überall in der Region, so waren auch in Ungarn die Bürokratien der Sozialversicherungssysteme bevorzugt Arbeitsplätze für sozialdemokratisch bis kommunistisch Gesinnte. Dies führte jedoch vor dem Hintergrund der revolutionären und konterrevolutionären Ereignisse 1919/20 in Ungarn zu einem nur zögerlichen

54 Inglot, Welfare States [wie Anm. 52], S. 62–70; Peter Heumos: Thesen zur sozialgeschichtlichen Dimension eines Systemzusammenbruchs: Das Beispiel der Ersten tschechoslowakischen Republik 1938/39, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994), S. 55–61; Natali Stegman: Die Habsburgermonarchie als Fundament: Sozialpolitik in der Tschechoslowakei, in: Katrin Boeckh u. a. (Hg.), Staatsbürgerschaft [wie Anm. 51], S. 51–65. 55 Inglot, Welfare States [wie Anm. 52], S. 78–90. S. a. Krzysztof Piątek: Sozialstaat in Polen: Von der Teilung Polens über den Realsozialismus zum aktuellen Transformationsprozess, in: Katrin Kraus/Thomas Geisen (Hg.): Sozialstaat in Europa. Geschichte, Entwicklung, Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 201–224. 56 Inglot, Welfare States [wie Anm. 52]. S. 97–103; Tomka, Welfare in East and West [wie Anm. 52], S. 55.

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Ausbau der Systeme. Die national-konservativen Eliten räumten der Sozialbürokratie und dem Sozialministerium nur geringes Eigengewicht ein, und das 1929 eingeführte Rentensystem inkludierte insbesondere Staatsangestellte und Bergarbeiter und nur wenige Industriearbeiter. Rumänien und Jugoslawien waren bezüglich der strukturellen Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialversicherungswesens – also einer schwachen und inselhaften Industrialisierung sowie einem geringen Anteil von Arbeitern an der Gesamtbevölkerung – mit Ungarn vergleichbar. Anders als in Ungarn, aber ebenso wie in Polen und in geringerem Ausmaß in der Tschechoslowakei, galt es für Rumänien und Jugoslawien gleichermaßen, posthabsburgische mit anderen Regionen zu vereinheitlichen, so dass Bukarest und Belgrad den Auf- und Ausbau eines Sozialversicherungssystems als eigene Leistung der Staats- und Nationsbildung begreifen konnten.57 Sowohl in den post-habsburgischen Provinzen wie Kroatien-Slawonien, Bosnien-Herzegowina und Istrien sowie der Vojvodina und in Siebenbürgen als auch in Serbien und Rumänien setzten die Sozialversicherungen überwiegend erst nach der Wende zum 20. Jahrhundert ein. Vor dem Ersten Weltkrieg war nur wenig Zeit und Gelegenheit, das Sozialversicherungssystem zu konsolidieren oder gar noch auszubauen. Lediglich in der Bukowina sowie in Slowenien und Dalmatien datieren die entsprechenden Gesetze bereits aus den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Während die habsburgischen Charakteristika der Sozialversicherungen in den genannten Regionen auf der Hand liegen, gilt es hervorzuheben, dass auch das serbische Gewerbegesetz von 1910 sowie das rumänische Gewerbe-, Kredit- und Arbeiterversicherungsgesetz von 1912 an deutschen und österreichischen Vorbildern ausgerichtet waren. 1922 wurde in Belgrad ein gesamtjugoslawisches Arbeiterversicherungsgesetz verabschiedet, das jedoch nur eine Versicherung gegen Unfall und Krankheit umfasste. Die Lebensrisiken wie Arbeitsunfähigkeit, aber auch Alter und Tod wurden per Gesetz erst 1925 versichert, der tatsächliche Beginn des Versicherungsschutzes wurde jedoch bis 1937 hinausgezögert. Arbeitslosigkeit war zu keinem Zeitpunkt der Zwischenkriegszeit versichert, hier wurde wohl darauf vertraut, dass die Bindung der jugoslawischen Arbeiter zum Dorf noch so intensiv war, dass der ländliche Raum jederzeit als Rückzugsort für Arbeitslose dienen konnte. Grundsätzlich wurde »Arbeit« als Industriearbeit begriffen, so dass andere 57 Jovica Luković: Der ferne Staat. Transfer als Institutionalisierungsvehikel der Sozialversicherung in Jugoslawien (1919–1941), in: van Meurs/Müller (Hg.), Institutionen [wie Anm. 46], S. 211–240; Ilie Marinescu: Politica socială interbelică în România, Bucureşti 1995.

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Kategorien unversichert blieben oder aber in freiwilligen und somit fragilen Systemen aufgefangen wurden. Im altrumänischen Gesetz von 1912, 1921 auch auf das vormals russische Bessarabien ausgedehnt, wurden Leistungen im Falle von Krankheit, Mutterschaft, Tod, Invalidität, Alter und Arbeitsunfall gezahlt, während im posthabsburgischen Siebenbürgen Invalidität und Alter zunächst unversichert blieben. Erst in zwei Gesetzen im Jahre 1932 wurde der Versicherungsschutz für Industriearbeiter landesweit auf dem Niveau Altrumäniens vereinheitlicht sowie für Angestellte in Industrie und Handel bezüglich Krankheit und Invalidität ausgeweitet. Sowohl in Jugoslawien als auch in Rumänien speisten sich die Leistungen aus Einzahlungen der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und des Staates, wobei insbesondere während der Weltwirtschaftskrise vor allem die letztgenannten beiden Kontribuenten ihrer Zahlungspflichten mit Verspätung und in geringerem Ausmaß, als vorgesehen nachkamen. Mit dem Ausbau der Sozialversicherungssysteme ging in allen Ländern ein erheblicher Bedeutungszuwachs sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Expertise einher.58 Überall konstituierten sich Expertengruppen, die mehr gesellschaftliche und staatliche Aktivitäten im sozialen Bereich einforderten, überall wurden nach dem Ersten Weltkrieg soziale Belange im Regierungshandeln bis hin zur Einrichtung von eigenen Ministerien aufgewertet, und überall wurden schließlich staatliche oder öffentliche Institutionen ausgebaut bzw. ins Leben gerufen, die das Sozialversicherungswesen verwalteten. Damit reihten sich die Länder der Region in einen gesamteuropäischen Trend einer Verwissenschaftlichung des Sozialen und Professionalisierung des Politischen ein.59 Die bereits genannten Transferbeziehungen hinsichtlich der Sozialversicherungen Bismarckscher Prägung verdichteten sich in der Zwischenkriegszeit

58 Für ein rumänisches Beispiel vgl. Dietmar Müller: Die Institutionalisierung sozialwissenschaftlichen Wissens in der Zwischenkriegszeit: Das Rumänische Sozial-Institut und der Verein für Socialpolitik, in: Isabella Löhr/Matthias Middell/Hannes Siegrist (Hg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart 2012, S. 197–205. 59 Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; ders.: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011; Gabriele Metzler/Dirk van Laak: Die Konkretion der Utopie. Historische Quellen der Planungsutopien der 1920er Jahre, in: Isabel Heinemann/Patrick Wagner (Hg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 23–43.

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zu einem transnationalen Netzwerk von Sozial- und Arbeitsrechtsexperten.60 Hierfür boten der Völkerbund und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) eine ideale Basis, indem zum Beispiel führende ILO -Funktionäre tschechoslowakische Experten vermittelten, die die griechische Regierung unter Eleftherios Venizelos beim Aufbau von Sozialversicherungen berieten.61

VI. Parlamentarismus, Krise und technokratische Tendenzen der Staatlichkeit Die britische Historikerin Zara Steiner spiegelt einen allgemeinen Trend bezüglich der Binnenperiodisierung der Zwischenkriegszeit wider, wenn sie ihre monumentale europäische internationale Geschichte der Periode in zwei Bände gliedert: »The Lights that Failed« für den Zeitraum von 1919 bis 1933 und »The Triumph of the Dark« für die folgenden Jahre bis 1939.62 Das Jahr 1933 markiert sowohl die Machtergreifung der Nationalsozialsozialisten um Adolf Hitler als auch einen Zeitpunkt, an dem die Weltwirtschaftskrise zwar überwiegend zu Ende war, aber die Folgen von Maßnahmen in Politik und Wirtschaft zu ihrer Überwindung allmählich ins Bewusstsein drangen. Ohne diskutieren zu wollen, ob das Jahr 1933 für alle Staaten Ostmittel- und Südosteuropas als Wendepunkt gleichermaßen von Bedeutung war, soll hier vielmehr die allgemeine Tatsache hervorgehoben werden, dass in allen Staaten der Region (wiederum mit der Ausnahme der Tschechoslowakei) zu einem bestimmten Zeitpunkt der als instabil empfundene Parlamentarismus mehr oder weniger umfassend durch autoritäre Regime ersetzt wurde. Damit ging ein erneuter 60 Zu transnationalen Expertenkulturen in der Zwischenkriegszeit vgl. Martin Kohlrausch: Technologische Innovationen und transnationale Netzwerke: Europe zwischen den Weltkriegen, in: Journal of Modern European History 6 (2008), S. 181–195; Martin Kohlrausch/Katrin Steffen/Stefan Wiederkehr (Hg.): Expert Cultures in East Central Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I, Osnabrück 2010; Wolfram Kaiser/Johan Schot: Writing the Rules for Europe. Experts, Cartels, and International Organizations, Houndmills/New York 2014, S. 49–77. 61 Kott, European Social Model [wie Anm. 47], S. 190 ff.; Vasiliki Rapti: The Postwar Greek Welfare Model within the Context of Southern European Welfare, in: Gro Hagemann (Hg.): Reciprocity and Redistribution. Work and Welfare Reconsidered, Pisa 2007, S. 43–60. 62 Zara S. Steiner: The Lights that Failed. European International History 1919–1933, Oxford 2005; dies.: The Triumph of the Dark. European International History 1933–1939, Oxford 2011.

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Wandel der Staatlichkeit einher, die nun im Verständnis der Eliten – befreit vom zeitraubenden und destruktiven Werben der Parteien um politische Legitimation – von visionär planenden und beherzt agierenden Technokraten innerhalb von Staatsparteien und Bürokratien gestaltet werden sollte.63 In Folgendem stehen politische, soziale und gesellschaftliche Teilbereiche im Zentrum der Analyse um den Wandel der Staatlichkeit in der Zwischenkriegszeit zu erfassen, nicht jedoch das politische System selbst. Gleichwohl kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die parlamentarische Demokratie in den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas bereits nach wenigen Jahren in die Krise und noch deutlich vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs autoritär überformt bzw. gänzlich abgeschafft wurde. Im Anschluss an Überlegungen des Südosteuropahistorikers Wolfgang Höpken nach dem Demokratiepotential dieser Staaten in der Zeit sei noch einmal auf das enorme Ausmaß der Herausforderungen hinsichtlich Aufbau, Anpassung, Integration und Vereinheitlichung von Strukturen und Institutionen in sämtlichen Lebensbereichen dieser neuen Staaten hingewiesen. Demgegenüber stand eine auch von Zeitgenossen intensiv empfundene »Performanzkrise des politischen Systems«64, die zum rapiden Abbau seiner Legitimation führte. Dies war kein für die Region spezifisches, sondern ein europaweites Phänomen, aber in Ostmittel- und Südosteuropa stand oft viel mehr auf dem Spiel, nämlich nicht weniger als die Existenz des Staates in seinen neuen Grenzen. Die Eliten hatten die raison d’être ihrer neuen Staaten mit einer Fülle von normativen Aussagen über Demokratie, historische Gerechtigkeit, soziale Berechtigungen, wirtschaftliche Prosperität etc. äußerst anspruchsvoll formuliert. Nun standen sie unter der doppelten Herausforderung zum einen von der bolschewistischen Systemalternative, die sowohl im jeweiligen Parteienspektrum in Gestalt von kommunistischen Parteien fühlbar war, als auch in Regionen, die an die Sowjetunion angrenzten. Zum anderen mussten die anti-revisionistischen Staaten unter Beweis stellen, dass ihre Existenz keinem Unfall der Geschichte zu verdanken war, sondern unter anderem durch innenpolitische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität legitimiert war. Innenpolitisch gefestigt war jedoch mit Ausnahme der Tschechoslowakei keines der politischen Systeme der Region. Diese waren vielmehr durch sehr häufige Regierungsumbildungen und -wechsel geprägt und weiterhin durch eine parlamentarische Kultur, in 63 Andrew C. Janos: The One-Party-State and Social Mobilization: East Europe between the Wars, in: Samuel P. Huntington/Clement H. Moore (Hg.): Authoritarian Politics in Modern Society, New York/London 1970, S. 204–236. 64 Höpken: Strukturkrise [wie Anm. 16], S. 101.

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der Abspaltungen von Parteien weit häufiger als Koalitionsregierungen vorkamen. Die Instabilität des politischen Systems spiegelte sich auch in einem ausgesprochenen Personalismus wider, also in der Wichtigkeit von Einzelpersonen innerhalb von Parteien, Ministerien und staatlichen Institutionen. Der Zugang zu solchen Schlüsselpersonen war oft eine weit wichtigere Ressource zur Durchsetzung von Interessen als die von Verfassung und Rechtsstaat vorgesehenen Normen und Verfahren. Das Parteiensystem wies neben den generellen politischen cleavages in Europa (von konservativ, über liberal und hin zu sozialistisch) weitere auf, die in dieser Region in besonderer Dichte vorhanden waren: Regionalparteien, Parteien der ethnischen Minderheiten und Bauernparteien. Das Auftauchen dieser Parteien als Interessenvertreter neuer Akteure auf der politischen Bühne war selten eine Quelle zusätzlicher Legitimität für das politische System, weit häufiger trug es in Gestalt einer weiteren Fragmentierung des Parteienspektrums zur Delegitimierung des Parlamentarismus an sich bei. Als Beispiel seien die für Ostmittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit so typischen Bauernparteien herangezogen.65 Oft basierend auf Vorkriegsparteien und auf einer Reihe von Vorfeldorganisationen wie Genossenschaften und verschiedenen Bauernzirkeln66 und mit Verweis auf die überwiegend agrarische Prägung der Volkswirtschaften sahen sich die politischen Interessenvertreter der Bauern in einer herausgehobenen Position. Die Agrarstruktur sowie die Ausstattung der Bauern mit politischen Rechten würden es notwendig machen, dass die Bauernparteien Politik und Wirtschaft des Landes nun agraristisch ausrichten müssten. Agraristische Pläne und Politiken traten in der Region in einer Bandbreite von agrarsozialistisch, über den bäuerlichen Mittelstand betonend bis hin zu korporatistisch auf; dementsprechend unterschiedlich gestaltete sich die Entwicklung der Bauernparteien. Während in Bulgarien unter Aleksandŭr Stambolijski 1920 in mancher Hinsicht ein Bauernstaat errichtet und 1923 blutig niedergeschlagen wurde,67 bedeutete die Regierungszeit der rumäni65 Heinz Gollwitzer (Hg.): Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart/New York 1977; Helga Schultz/Angela Harre (Hg.): Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Agrarismus in Ostmitteleuropa 1860 bis 1960, Wiesbaden 2010; Kubů u. a. (Hg.): Agrarismus [wie Anm. 27]. 66 Keely Stauter-Halstad: The Nation and the Village. The Genesis of Peasant National Identity in Austrian Poland, 1848–1914, Ithaca 2001; Kai Struve: Bauern und Nation in Galizien. Über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. 67 John D. Bell: Peasants in Power. Aleksander Stamboliski and the Bulgarian Agrarian National Party, 1899–1923, Princeton 1977.

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schen Bauernpartei unter Iuliu Maniu gegen Ende der 1920er Jahre die lang erwartete politische und wirtschaftliche Alternative zur Nationalliberalen Partei.68 Dementsprechend läutete ihr Scheitern in der Weltwirtschaftskrise das Ende des Parlamentarismus ein. In Polen spiegelte sich die teilungsbedingte Heterogenität des Landes auch im Spektrum der Bauernparteien dahingehend wider, dass die den bäuerlichen Mittel- und Großgrundbesitz vertretende und in Galizien starke Polnische Volkspartei (PSL-Piast) unter Wincenty Witos selten zusammenfand mit der in Kongreßpolen starken Wyzwolenie, die auf eine egalisierende Agrarreform abzielte.69 Gerade in der Tschechoslowakei als dem am weitesten industrialisierten Land gelang es Antonín Švehla und Milan Hodža am besten, den politischen Agrarismus zu einem langjährigen und stabilen Faktor der Politik zu machen und Agrarinteressen fest in der Wirtschaftspolitik des Landes zu verankern. In den drei baltischen Staaten fielen wirtschaftliche Agrarinteressen so sehr mit Wirtschafts- und Außenwirtschaftspolitik zusammen, dass es schwerfällt, erstere als eigenständigen Faktor zu identifizieren. In Estland, Lettland und Litauen gingen autoritäre Führer jeweils aus den Bauernparteien hervor; sie strebten korporative Lösungen mit starken agraristischen Elementen an. Den Anfang der Präsidialdiktaturen in Ostmitteleuropa70 machte Polen mit dem Putsch Marschall Józef Piłsudskis im Sommer 1926, gefolgt von Litauen, wo Antanas Smetonas das parlamentarische System mittels eines Staatsstreichs im Dezember 1926 beseitigte und ein autoritäres Regime einführte. Es folgten Konstantin Päts in Estland und Kārlis Ulmanis in Lettland, beide 1934. Ungarn bildete hier insofern eine Ausnahme, als das rätedemokratische Experiment unter Béla Kun bereits 1919 durch Admiral Miklós Horthy beendet wurde, der daraufhin ein autoritäres Regime mit einem starken Präsidenten und einem marginalen Parlament einsetzte. In Südosteuropa brachte die autoritäre Wende das Phänomen der Königsdiktatur hervor.71 In Albanien erklärte sich der Präsident des Landes Ahmet Zogu 1928 zum König und regierte das 68 Dietmar Müller: Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Regierungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit, St. Augustin 2001. 69 Doliesen, Bauernpartei [wie Anm. 29]. 70 Erwin Oberländer: Die Präsidialdiktaturen in Ostmitteleuropa – »Gelenkte Demokratie«?, in: ders. (Hg.): Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn u. a. 2001, S. 3–17; Anthony Polonsky: The Little Dictators. The history of Eastern Europe since 1918, London 1975. 71 Holm Sundhaussen: Die Königsdiktaturen in Südosteuropa: Umrisse einer Synthese, in: Oberländer, Autoritäre Regime [wie Anm. 70], S. 337–348.

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Land ebenso autoritär, wie dies König Alexandar Karađorđević, König Boris und König Carol II. taten, nachdem sie 1929 in Jugoslawien, 1934 in Bulgarien und 1938 in Rumänien die Parlamente aufgelöst hatten. Griechenland bildete hier nur insofern eine Ausnahme, als nach der Errichtung der Diktatur 1934 nicht König Georg II., sondern General Ioannis Metaxas die bestimmende Persönlichkeit war. Der generelle Anspruch der autoritären Regime bestand darin, mit modernen und wissenschaftlichen Instrumenten der Analyse Probleme zu begreifen und einer Lösung zuzuführen, die vordemokratische Zustände wiederherstellte. Emblematisch dafür ist die Selbstbeschreibung des polnischen autoritären Regimes als Sanacja, denn bereits im Wort selbst schwingt die naturwissenschaftlich-medizinische Krankheitsdiagnose der Gesellschaft und des politischen Systems mit. Manche der autoritären Regime unternahmen die Anstrengung, das neue Verständnis von Nation, Staat und Gesellschaft auch konstitutionell zu verankern und erließen neue Verfassungen. Ein Grundzug dieser zweiten Welle des Konstitutionalismus in Ostmittel- und Südosteuropa besteht hinsichtlich des Verhältnisses des Bürgers zu Nation und Staat darin, dass die Rechte der Individuen markant zugunsten jenen des Kollektivs Nation und seiner organisierten Form des Staates zurückgedreht wurden. So wurden die ausführlichen Artikel über die Rechte der Bürger, über den Schutz des Eigentums und die Selbstverpflichtung des Verfassungsgebers zur Sozialstaatlichkeit in den neuen Verfassungen Jugoslawiens (1931), Polens (1935) und Rumäniens (1938) radikal gekürzt.72 Stattdessen wurden die Pflichten der Bürger hervorgehoben und das Privateigentum noch intensiver mit national-kollektivistischen Vorstellungen überformt, während Aussagen zum Schutz der Arbeit und zur Ausgestaltung des Sozialstaats entweder gänzlich verschwanden oder an eine ethno-national konnotierte Loyalitätspflicht der Bürger zurückgebunden wurden.

72 Georg Lubenoff: Die Verfassung Jugoslawiens vom 3. September 1931, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 3 (1933), S. 402–444, S. 510–531; [Polnisches] Verfassungsgesetz vom 23. April 1935, in: Gosewinkel/Masing (Hg.), Verfassungen [wie Anm. 21], S. 403–417; Verfassung des Königreichs Rumänien vom 27. Februar 1938, in: ebd., S. 1755–1769.

Akteure

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Friedrich Ebert und die Prägung des präsidialen Verfassungsrechts

In seinen Erinnerungen von 1958 attestiert Otto Gessler, Reichswehrminister der Jahre 1920 bis 1928, dem ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert, kein »Doktrinär der Weimarer Verfassung« gewesen zu sein. Und er weist ihm ein mehrfach gebrauchtes Wort zu: »Wenn der Tag kommt, an dem die Frage auftaucht: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrunde gehen lassen.«1 Nach dieser Überlieferung, sollte sie korrekt sein, rangierte im Wertekanon des ersten Reichspräsidenten der Erhalt der demokratisch konstituierten Nation vor der starren Verfassungstreue. Ihm als dem ersten Amtsinhaber fiel die Aufgabe zu, die Verfassung mit Leben zu erfüllen, ganz im Sinne des Verfassungsvaters Hugo Preuß, der in der dritten Lesung der Verfassung am 29. Juli 1919 konstatiert hatte, dass nach der Verabschiedung »die eigentliche Verfassungsarbeit« erst beginne: Es sei von entscheidender Bedeutung, dass die Bestimmungen der Verfassung »in dem Geiste ausgeführt und gehandhabt werden, der die Verfassungsurkunde beseelt«.2 In der Tat legen Verfassungen lediglich die »Regularien politischer Herrschaft« fest,3 den Organen des Staatswesens obliegt es, diese zu handhaben und so die Verfassungswirklichkeit zu prägen. Prüfen wir also gemäß Preuß, in welchem Geiste Ebert die Verfassung anwandte. Ist er jemals, im Sinne von Gessler, in eine Situation geraten, wo er zwischen dem Erhalt der Nation und der Verfassungstreue zu entscheiden hatte? Wenn er sich in einer solchen überhaupt gewähnt haben sollte, hat er dann die verfassungsrechtlichen Grenzen durchbrochen? Da er »in ein

1 2

3

Otto Gessler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, hg. von Kurt Sendtner, Stuttgart 1958, S. 324. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328: Stenographische Berichte, Berlin 1920, S. 2074; Rede auch in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, hg., eingeleitet und erläutert von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen 2015, S. 264. Udo Di Fabio: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern. Eine verfassungshistorische Analyse, München 2018, S. 23.

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traditionsloses Amt emporgehoben« worden war, 4 kam seinem Handeln eine besondere Bedeutung auch für die weitere Anwendung der Verfassung zu. Es gab für das Amt – wie der DDP-Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss zum 10. Jahrestag der Verfassung schrieb – »keine Anweisung, keine durch Herkommen gesicherte Kompetenz, es musste […] aus dem Nichts geschaffen werden«.5 Weil keine Norm und keine direkten demokratischen Vorläufer existierten, war es für die innere Ausgestaltung des Amtes ganz entscheidend, wie der Reichspräsident sein Amt zu führen gedachte und damit die Verfassungskultur als Teil der politischen Kultur in seiner Zeit und über diese hinaus formte. Dabei wird es aber nicht nur um das Abklopfen der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Kompetenzfelder gehen, sondern auch um die nicht schriftlich fixierten, dem Amt eines Staatsoberhauptes aber a priori inhärenten Repräsentations- und Integrationswirkungen, die einen Teil der von ihm geprägten Verfassungswirklichkeit ausmachten.

I. Amt und Amtsverständnis Friedrich Eberts Amtsverständnis schälte sich erst mit der Zeit heraus. Die früheste Äußerung zur Staatsspitze findet sich in den Beratungen über den von Preuß vorgelegten Verfassungsentwurf im Rat der Volksbeauftragten am 14. Januar 1919. Ebert kritisierte die Vollmachten des künftigen, vom Volk zu wählenden Reichspräsidenten, wie ihn der Liberaldemokrat schaffen wollte, als zu weitreichend. Sie ähnelten ihm doch zu stark denen des US-amerikanischen Präsidenten, den man, so Ebert, »während des Krieges immer als einen absoluten Herrn hingestellt« habe. In die amerikanische Richtung wollte er das Staatsoberhaupt offensichtlich nicht gestaltet sehen, doch war er sich bewusst, dass zu einer »geschlossenen und kraftvollen Führung der Reichsgeschäfte« auch »gewisse Machtbefugnisse« gehören mussten.6 So erklärte er sich schließlich mit Zuschnitt und Kompetenzen des Amtes einverstanden. Es war sicher auch eben diese Machtfülle, die ihn mit einem nahezu »napo4 5

6

So Erich Koch(-Weser): Eberts Werk, in: Friedrich Ebert: Kämpfe und Ziele. Mit einem Anhang: Erinnerungen von seinen Freunden, Dresden o. J. [1927], S. 401. Theodor Heuss: Ebert und Hindenburg, in: Deutsche Einheit – Deutsche Freiheit. Gedenkbuch der Reichsregierung zum 10. Verfassungstag, 11. August 1929, Berlin 1929, S. 220–223, hier S. 222. Die Regierung der Volksbeauftragten. Zwei Teile, eingeleitet von Erich Matthias, bearb. von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff, Düsseldorf 1969, Teil 2, S. 240.

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leonischen Ehrgeiz«, wie der liberale Friedrich Naumann meinte,7 das Amt anstreben ließ, wobei er den gleichfalls ambitionierten SPD -Mitvorsitzenden Philipp Scheidemann klar hinter sich ließ. Ebert sah im Präsidenten eine aktive Partizipationsinstanz mit hohem Integrationspotential. Das nach seiner Wahl am 11. Februar 1919 abgegebene Bekenntnis zur Überparteilichkeit – »der Beauftragte des ganzen deutschen Volkes« – war Leitmotiv in den sechs Jahren an der Spitze der Republik.8 Dabei zeigte er sich festen Willens, die Befugnisse des Amtes konsequent zu nutzen, wenn es die Situation erforderte. Bereits im Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 zeichneten sich die Konturen eines einflussreichen Präsidenten ab, wie sie dann in der Verfassung verankert wurden. Paragraph 6 bestimmte: »Die Geschäfte des Reichs werden von einem Reichspräsidenten geführt.«9 Das klang eindeutig, aber mit gutem Grund sah Ebert die Stellung des Reichspräsidenten, dessen Zeit mit dem Amtsantritt des aufgrund der künftigen Reichsverfassung zu wählenden neuen Staatsoberhauptes enden sollte (§ 7), im Regierungsgefüge nicht hinreichend präzisiert: »Ist er zugleich Ministerpräsident und gehört er dem Kabinett an?«10 Zwei Regelungen sorgten für Klarheit: das von der Nationalversammlung verabschiedete Übergangsgesetz vom 4. März und der Erlass des Reichspräsidenten über die obersten Reichsbehörden vom 21. März.11 In Paragraph 4 des Übergangsgesetzes hieß es, dass die Befugnisse, »die nach den Gesetzen und Verordnungen des Reichs dem Kaiser zustehen«, auf den Reichspräsidenten übergehen würden. Also der Reichspräsident doch ein Kaiser-Ersatz, mit der Machtfülle des Monarchen vergangener Zeiten? Es schien so – und Ebert ließ keine Zweifel aufkommen, die weitgehenden Rechte auch voll auszuschöpfen. So betonte eine

  7 Staatsarchiv Hamburg, Bestand, Petersen L 62: Tagebuch Carl Petersen, S. 32 (Aufzeichnung vom 10. Februar 1919); zu Eberts Griff nach dem Präsidentenamt vgl. Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2 2007, S. 175 ff.   8 Rede in: Walter Mühlhausen (Hg.): Friedrich Ebert – Reden als Reichspräsident (1919– 1925), Bonn 2017, S. 70 ff.   9 In: Ernst Rudolf Huber (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 4: Deutsche Verfassungsdokumente 1919–1933, Stuttgart 31991, S. 77 ff.; vgl. Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik, Frankfurt a. M. 2007, S. 250 ff. 10 Regierung der Volksbeauftragten 2 [wie Anm. 6], S. 327: Kabinettssitzung vom 28. Januar 1919. 11 Gesetz und Erlass in Huber (Hg.), Dokumente 4 [wie Anm. 9], S. 82 ff.

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im Mai für den internen Betrieb des Präsidialbüros bestimmte Aufzeichnung über »Die Stellung des Reichspräsidenten« die starke Position des Staatsoberhauptes gegenüber dem Kabinett.12 Der Erlass über die Reichsbehörden legte fest, dass die »Geschäfte des Reichs […] durch das Reichsministerium geführt« werden, und nannte als dessen Kopf der Regierung »Präsident des Reichsministeriums«, also den später »Reichskanzler« genannten Chef des Kabinetts. Der Reichspräsident gehörte demnach nicht der Regierung im engeren Sinne an. Anscheinend hatte Ebert selbst keine klaren Vorstellungen, wie das Amt definitiv ausgestaltet sein sollte. So ließ er sich nach seiner Wahl von Max Weber über das amerikanische und französische Präsidentschaftssystem informieren. Das Zusammentreffen blieb wohl ohne nachhaltige Folgen bei Ebert, der – davon ist auszugehen – zu einem starken Staatsoberhaupt tendierte, weit mehr als seine eigene Partei, die die Rechte des Präsidenten enger fassen wollte.13 Er selbst übte auf die weitere Konturierung seines Amtes in den Beratungen zur endgültigen Verfassung dann allerdings keinen erkennbaren Einfluss aus. Ob er dies im Gespräch mit den SPD -Abgeordneten tat, lässt sich nicht nachprüfen. Es will scheinen, dass Ebert die Verfassungsarbeit den Parlamentariern überließ. Sie schufen einen Präsidenten mit enormer Machtfülle: Er besaß das Recht zur Ernennung des Reichskanzlers, war völkerrechtlicher Vertreter des Reiches und militärischer Oberbefehlshaber, konnte den Reichstag auflösen und in Übereinstimmung mit der Regierung Notverordnungen ohne das Parlament erlassen.14 Bei der Wahrnehmung seiner Rechte wurde er von einem kleinen effektiv arbeitenden Büro unterstützt, in dem ab Frühjahr 1920, nachdem der einzige Funktionär aus der SPD seinen Dienst quittiert hatte, nur noch zuverlässige Beamte der Ministerialbürokratie leitende Positionen wahrnahmen. Dennoch entstand um ihn keine Kamarilla, keine der demokratischen Kontrolle entzogene Schatten- oder Nebenregierung. Das ließ Ebert nicht zu. Die in der Verfassung festgeschriebene Volkswahl des Reichspräsidenten für die Dauer von beachtlichen sieben Jahren wertete das Amt beträchtlich auf. Doch Ebert erhielt nie die plebiszitären Weihen, obwohl er kontinuierlich auf Durchführung einer Wahl durch das Volk drängte. Anfang 1922 schien dann doch alles bereit zu sein für ein dem Artikel 41 entsprechendes Plebiszit im

12 Datiert vom 10. Mai 1919; Bundesarchiv Berlin (BarchB), R 601 (Reichspräsidialkanzlei)/392, pag. 2. 13 Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 195 ff. 14 Aus der umfangreichen verfassungsrechtlichen Literatur jüngst Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018, S. 176 ff.

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Herbst des Jahres. Es kam jedoch nicht dazu, da das von der DVP angeführte rechtsbürgerliche Lager aus Furcht vor einer Wahl Eberts für weitere sieben Jahre auf eine kürzer befristete Fortführung des Provisoriums drängte. Lange hielt sich die Sache in der Schwebe, bis die sozialdemokratischen Koalitionspartner DDP und Zentrum auf eine solche Lösung einschwenkten und schließlich auch die SPD sich dem Druck nicht mehr entziehen konnte. So verlängerte der Reichstag am 24. Oktober 1922 über eine Änderung von Artikel 180 der Verfassung seine Amtszeit bis zum 30. Juni 1925.15 Hier hätte Ebert mit einem konsequenten öffentlichen Appell auf ein Votum des Volkes pochen müssen, denn im Herbst 1922 – nach dem Mord an Reichsaußenminister Walther Rathenau, der wie kein zweites Ereignis die junge Republik aufwühlte –, wäre das demokratische Wählerlager zu einem Großteil für den Amtsinhaber mobilisiert worden. Ebert, der bereits kräftig die Werbetrommel zur Wiederwahl rührte und Repräsentationstouren durch die Lande unternahm, beugte sich jedoch auch in dieser Frage der parlamentarischen Mehrheit, dem von ihm postulierten Prinzip der öffentlichen Einigkeit der Staatsführung, also von Regierung und Präsident, folgend. Dennoch fühlte er sich mit Recht als vollwertiger Reichspräsident, immer bereit, sich der Volkswahl zu stellen, sollte sich dies für die demokratische Stabilisierung als nötig erweisen.16

II. Exkurs: Prägungen jenseits der Verfassungsnormen Zu den verfassungsrechtlich fixierten Normen politischen Handelns kamen jene verfassungsrechtlich nicht niedergelegten, dem Amt eines Staatsoberhauptes aber eigenen Zuweisungen politischer Führerschaft, also Symbolpolitik und Repräsentation. Als oberster Repräsentant der Republik und Symbol der Einheit setzte Ebert sich bewusst von den pompösen waffenklirrenden Inszenierungen seines Vorgängers Kaiser Wilhelm II. ab, verzichtete auf Personenkult, auf Glanz und Gloria. Republikanische Einfachheit ohne Pomp und Pose machte sich allgemein die neue Elite zum Leitbild bei öffentlichen Auftritten.17 Hier 15 Vgl. Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 527 ff., und Mühlhausen (Hg.), Reden [wie Anm. 8], S. 260 ff. 16 Generallandesarchiv Karlsruhe, FAN 5997: Ebert an Prinz Max von Baden, 6. Dezember 1923. 17 Auch diese verfassungsrechtlich nicht verankerte Seite von politischer Führung gilt es zu betrachten bei der Frage, ob der Reichspräsident ein »republikanischer Monarch« gewesen sei; sie ist jedoch ausgeblendet bei Peter Graf Kielmansegg: Der Reichspräsident – ein republikanischer Monarch?, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis

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tat auch Ebert zu wenig, wenn er etwa 1921 nur ein einziges Mal in offizieller Mission die Hauptstadt verließ.18 Ganz wesentlich dürften die ehrverletzenden Diffamierungen, denen er sich im öffentlichen Raum ausgesetzt sah, dazu beigetragen haben, dass er insgesamt recht wenig durch die Lande tourte. Weniger durch Präsenz als durch Initiativen und symbolische Akte suchte er die Identifikation mit der neuen Republik zu fördern. Dazu zählten die Erinnerung an die Revolution von 1848, die er schon beim Auftakt in Weimar zum Referenzort der neuen Demokratie erklärte. Besonders förderte er die 75-Jahr-Feier der Paulskirchenversammlung am 18. Mai 1923 in Frankfurt19 – im Gegensatz zur Reichsregierung, in der nicht nur Reichskanzler Wilhelm Cuno eine frappierende Distanz zum Jubiläum an den Tag legte und der Feier fern blieb. Ebert aber kam; und er erlebte am Main eine republikanische Begeisterung wie sonst nirgendwo, spürte so etwas wie die klassenübergreifende freiheitliche Bürgergesellschaft in Harmonie, jene von ihm immer wieder beschworene republikanische Volksgemeinschaft. Auf Stärkung des republikanischen Bewusstseins zielte auch sein Einsatz für den seit 1921 feierlich begangenen Verfassungstag am 11. August, dem Tag seiner Verfassungsunterzeichnung im thüringischen Urlaubsort Schwarzburg.20 Er schaltete sich direkt in die Planungen ein und lehnte jegliche Verwässerung durch Zusammenlegung mit anderen Gedenktagen – wie 1924 mit dem 10. Jahrestag des Kriegsausbruchs oder dem 5. Jahrestag des Friedensvertrages – strikt ab. Zu den bedeutenden symbolpolitischen Wegmarken gehörte auch die Proklamation des in den Ohren vieler Sozialdemokraten keineswegs

der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 22018, S. 219–240. 18 Vgl. die Einleitung zu Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert. Sein Leben in Bildern, Ostfildern 2019. 19 Ansprachen vom 6. Februar 1919 und vom 18. Mai 1923 in: Mühlhausen (Hg.), Reden [wie Anm. 8], die Passagen auf S. 68 und S. 318; vgl. Walter Mühlhausen: Erinnerung und Tradition – die Frankfurter Gedenkfeiern an 1848 im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Evelyn Brockhoff/Alexander Jehn (Hg. unter Mitarbeit von Franziska Kiermeier): Die Frankfurter Paulskirche. Ort der deutschen Demokratie, Frankfurt a. M. 2020, S. 100–116; s. a. Dieter Rebentisch: Friedrich Ebert und die Paulskirche. Die Weimarer Demokratie und die 75-Jahrfeier der 1848er Revolution, Heidelberg 1998. 20 Zur Verfassungsunterzeichnung vgl. Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert in Weimar und Schwarzburg 1919. Hg. vom Landesbüro Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung, Erfurt 2019; für Ebert und die Verfassungsfeiern: Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 834 ff. Die Reden auf den Feiern 1922, 1923 und 1924 in: Mühlhausen (Hg.), Reden [wie Anm. 8], S. 223 ff., S. 326 ff. und S. 367 f.; s. a. den Beitrag von Nadine Rossol in diesem Band.

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wohlklingenden »Deutschlandliedes« zur Nationalhymne 1922, wobei Ebert besonders die dritte Strophe mit dem Dreiklang »Einigkeit und Recht und Freiheit« herausstellte.21 Doch insgesamt zeitigten seine Bemühungen um eine mentale Republikanisierung der tief gespaltenen und in weiten Teilen republikfeindlichen Weimarer Gesellschaft nur wenig Erfolg.

III. Regierung und Reichspräsident Als Integrationsfigur sollte er nach dem Willen der Verfassungsschöpfer sein Amt parteiunabhängig führen und zum Träger einer neutralen Gewalt reifen, zum pouvoir neutre. Der Reichspräsident sollte aber auch Schlichter sein, der pouvoir modérateur.22 Und so verstand sich Ebert im Zusammenspiel mit der Regierung. Es ging ihm um Vermittlung und Mediation zwischen den Interessen der legislativen und exekutiven Verfassungsorgane. Eben weil die Abgrenzung der Beziehungen zwischen Reichstag, Regierung und Reichspräsident verfassungsrechtlich »lückenhaft, mehrdeutig und ergänzungsbedürftig« war,23 kam dem personellen Aspekt, dem Amtsverständnis der Amtsträger und seiner Durchsetzungsfähigkeit, in der Gestaltung der Verfassungswirklichkeit eine besondere Rolle zu. Anders als von den Verfassungsschöpfern intendiert, die aus Furcht vor einer Parteiherrschaft in einem einflussreichen, mit der Wahl durch das Volk besonders legitimierten Reichspräsidenten ein Gegengewicht zu Parlament und Kabinett hatten installieren wollen, verstand sich das erste republikanische Staatsoberhaupt immer als Teil und nicht als Gegenpol der Reichsregierung. Dabei war für Ebert, wie angedeutet, die Einigkeit der Staatsführung grundlegendes Prinzip. In den Krisensituationen musste »die Leitung fest in den Händen der Regierung bleiben«.24 Strittige Fragen waren hinter ver-

21 Proklamation in Friedrich Ebert: Schriften, Aufzeichnungen, Reden. Mit unveröffentlichten Erinnerungen aus dem Nachlaß, Bd. 2., Dresden 1926, S. 248 ff. (dort fälschlich als »Rede« bezeichnet); Nicht zuletzt, weil er hier die dritte Strophe so betonte, entwickelte sich in der Folgezeit eine Diskussion, ob nicht allein diese als Nationalhymne zu betrachten sei. 22 Carl Schmitt: Verfassungslehre, Berlin 92003 (Berlin 11928), S. 351. 23 Jörg-Detlef Kühne: Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018, S. 273. 24 Ministerratssitzung vom 12. Oktober 1921; Akten der Reichskanzlei (AdR). Die Kabinette Wirth I und II. 10. Mai 1921 bis 26. Oktober 1921/26. Oktober 1921 bis 22. November 1922, bearb. von Ingrid Schulze-Bidlingmaier, Boppard/Rh. 1973, S. 318.

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schlossenen Türen zu diskutieren; und nach der internen Kompromissfindung hatten alle den Konsens nach außen einmütig zu verteidigen. Dieses in der semiparlamentarischen Ausgrenzungszeit des Kaiserreiches geschöpfte, vom Parteiführer Ebert für das Agieren der SPD als unerlässlich bezeichnete Prinzip der Disziplin war im Ersten Weltkrieg zum unumstößlichen Leitsatz überhöht worden.25 Was er auf der Zinne der Partei als ein die Bewegung stabilisierendes Element verteidigt hatte, übertrug er in der Republik auf die aus unterschiedlichen Koalitionsparteien zusammengesetzte Regierung, ihn als Reichspräsident eingeschlossen. Er trat aus dem Schatten öffentlich hervor, wenn es um die Bildung einer neuen Regierung ging. Dabei hatte er bei der Wahl des Kanzlers die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu berücksichtigen – das war »keine juristische Pflicht, wohl aber eine politische Notwendigkeit«.26 Je stärker sich der Wille der Parteien zur Macht mit der Fähigkeit zur Bildung einer Koalition zeigte, desto geringer waren seine Möglichkeiten. Bei den Regierungen unter sozialdemokratischer Führung bestimmte er die Personalauswahl. Mit seinem Intimus Gustav Bauer als Nachfolger von Scheidemann überging er die eigene Fraktion, die den Parteivorsitzenden und Außenminister Hermann Müller präferierte, der dann nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch ohne Alternative war. Grundlegend änderten sich Situation und präsidiale Einflussmöglichkeiten nach den Juni-Wahlen 1920, als die SPD in die Opposition abtauchte, um sich nach dem Debakel – befreit von der Regierungsverantwortung – zu regenerieren,27 und künftighin unter Ebert keinen Kanzler mehr stellen sollte. Jetzt hatte der Reichspräsident mit den anderen Parteien um die Kanzlerschaft zu handeln. Die Koordinaten verschoben sich des Öfteren, mal war der Präsident die treibende Kraft, mal das Parlament mit seinen Fraktionen. 1920 erlebte Ebert, dass die bürgerliche Mitte wenig Drang zum Kanzleramt entwickelte, Kandidaten schon nach kurzer Zeit die Segel streichen mussten. Es bedurfte seiner Drohung mit Rücktritt, um den zögerlichen Zentrumsmann Constantin Fehrenbach zu gewinnen. Die Demission brachte er fortan immer

25 Siehe zuletzt im Überblick: Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert (1871–1925), in: Uli Schöler/Thilo Scholle (Hg.): Weltkrieg – Spaltung – Revolution. Sozialdemokratie 1916–1922, Bonn 2018, S. 348–358. 26 Bund zur Erneuerung des Reiches: Die Rechte des Deutschen Reichspräsidenten nach der Reichsverfassung. Eine gemeinverständliche Darstellung, Berlin 1929, S. 41. 27 Vgl. Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 1984, S. 359 ff.

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öfters als schwerstes präsidiales Geschütz beim Stillstand von Koalitionsverhandlungen ins Spiel. Der Reichspräsident konnte die Kanzlerrekrutierung steuern, wenn die Parteien unfähig oder unwillig zur Mehrheitsbildung waren und Parteiblöcke sich gegenseitig neutralisierten. So war die Kür des parteilosen Wirtschaftsführers Wilhelm Cuno im Herbst 1922 vornehmlich sein Werk, die nur verständlich wird vor dem Hintergrund des überlangen Siechtums der mit der Wiedervereinigung von SPD und (Rest-)USPD wieder über eine Mehrheit verfügenden Regierung von Joseph Wirth, als sich die Koalitionsparteien, getrieben von der auf Erweiterung um die DVP drängenden Zentrumspartei, in eine Sackgasse manövriert hatten und nach dem Abgesang der Koalition wenig Lust auf ein neues Bündnis verspürten. Die Regierung des Hapag-Direktors gilt als das erste Präsidialkabinett der Republik.28 Was die Art der Kanzlerfindung betraf, so war das sicher richtig: Ebert hatte sich auf Cuno als nicht nur von ihm anerkannten Wirtschaftsfachmann kapriziert. Das Urteil trifft aber nicht Art und Weise, wie das Kabinett rekrutiert wurde, denn schließlich wurden die Parteien gefragt und benannten auch einige Vertreter. Die Beauftragung Cunos geschah keineswegs gegen den Willen der Parteien. Zudem – und dies ist das Entscheidende – beruhte die Legitimation des Kanzlers nicht auf den Machtbefugnissen des Reichspräsidenten. Nie kam die Regierung an den Punkt, an dem Cuno, allein gestützt auf den Reichspräsidenten, den Reichstag unter Androhung präsidialer Ausnahmegewalt und Auflösungsrecht gefügig machen wollte. Das hätte Ebert nicht zugelassen. Gleichwohl meldeten sich Stimmen von Feingespür, die in der Form der Kanzlerkür durch den Reichspräsidenten und der Regierungsbildung ohne unmittelbare parlamentarische Beteiligung ein verfassungsrechtliches Problem am Horizont heraufziehen sahen. Ein Vergleich mit den Präsidialkabinetten in der Endphase Weimars hinkt jedoch; allenfalls gab die Bestallung Cunos einen Vorgeschmack auf eine präsidentielle Regierungsbildung, nicht auf die Funktionsweise der Präsidialkabinette.29 28 So erneut bei Kielmansegg, Reichspräsident [wie Anm. 17], S. 231, der hier Bernd Hoppe: Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat. Verfassungsentwicklung am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik, Berlin 1998, S. 104, folgt, der – weit überzogen – die Regierung Cuno kurzerhand zum ersten »Präsidialkabinett der Weimarer Republik« erklärt und bereits die Bildung der zweiten Regierung Wirth als wesentlichen »Schritt in Richtung auf ein präsidiales Regierungssystem« bezeichnet; ebd., S. 98. 29 Für das Dreiecksverhältnis Regierung-Reichstag-Reichspräsident während der Kanzlerschaft Cunos vgl. Thomas Raithel: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher

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Zwar stärkte Ebert mit Cuno zweifelsfrei seine eigene Position, doch hatte er sich in seiner Wahl des Hapag-Direktors nichts vorzuwerfen, zumal ja keine der Parteien an die Spitze der Regierung drängte. Und die Berufung Cunos war weit im politischen Raum zunächst auf Zustimmung gestoßen. Als sein Parteifreund Konrad Haenisch im Nachhinein die Wahl Cunos und das lange Festhalten Eberts am Kanzler kritisierte, antwortete der Präsident, dass diesbezüglich sein »politisches Gewissen völlig blank« sei.30 Vorzuwerfen hatte er sich, dass er angesichts der sich bald herausstellenden Unzulänglichkeiten Cunos und seiner Regierungsmannschaft nicht rechtzeitig eingriff. Es musste erst zur Bruchlandung kommen. In sicherer Gewissheit seiner Ablösung demissionierte Cuno im August 1923 und machte den Weg zur Großen Koalition frei. Obwohl Ebert selbst ein Verfechter der großen Lösung war – aus staatspolitischen Notwendigkeiten, wie er in der Kabinettsrunde einmal ausführte31 –, war deren Zustandekommen zuvorderst eine Sache der Parteien, die sich in der Situation, als es auf den Staatsbankrott hinauslief, zusammenrauften. Als die Regierung nach wenigen Wochen zerbrach, sorgte der Präsident mit dafür, dass sie zugleich erneuert wurde. Als die Staatskrise auf den Zenit zusteuerte und zudem die SPD durch ihren Austritt aus der Regierung Anfang November 1923, den Ebert hatte vergeblich verhindern wollen, die Exekutive ins Trudeln brachte, war der Präsident, das vorauszusehende Ende Stresemanns und die das Staatsgefüge bedrohenden Fliehkräfte vor Augen, empfänglich für Pläne des Chefs der Heeresleitung, General von Seeckt, ein kleines Kabinett mit Direktoriumscharakter und Ausnahmevollmachten zu installieren. Auf diese Tage dürfte sich Gesslers Eingangszitat beziehen. Am 4. November 1923 jedenfalls soll Ebert ihm gegenüber erklärt haben, »er erstrebe zwar legale Wege zur Gesundung Deutschlands, er wird sich aber nicht besinnen, sich auch auf andere Weise für die Rettung Deutschlands einzusetzen, wenn die Verfassung oder Deutschlands Zukunft auf dem Spiel stehe«.32

Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre, München 2005, S. 171 ff. 30 Konrad Haenisch: »Fritz Ebert« in: »Die Glocke«, Nr. 39 vom 26. Dezember 1923, S. 968–976, dort S. 970; Eberts Brief (mit dem o. g. Zitat) hierauf ohne Datum in: Ebert, Kämpfe [wie Anm. 4], S. 45. 31 Vor Parteiführern am 18. November 1922; zitiert bei Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert, Bonn 2018, S. 89. 32 AdR. Die Kabinette Stresemann I und II. 13. August bis 6. Oktober 1923/6. Oktober bis 30. November 1923, bearb. von Karl Dietrich Erdmann und Martin Vogt, Boppard/

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Die Rettung Deutschlands schien nur durch eine zwar verfassungsmäßig an die Macht gelangende, aber doch mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattete Interimsregierung möglich. Das mochte Ebert innerlich widerstreben, aber dies schien ihm angesichts der dramatischen Notlage des Reiches und der verfahrenen parlamentarischen Situation der letzte, der allerletzte Ausweg zu sein. Die Probe aufs Exempel blieb ihm erspart. Dass Ebert in dieser explosiven Situation ausgerechnet Seeckt zum Inhaber der vollziehenden Gewalt ernannte, der damit diktatorische Vollmachten besaß, war angesichts von Seeckts Planspielen von einem Direktorialregime ein gewagter, letztlich aber ein gelungener Schachzug, weil damit der General an den Präsidenten gebunden war. Nach dem Fall Stresemanns beschritten Präsident und Parteien den parlamentarischen Weg zur Kabinettsbildung. Doch nach vergeblichen Anläufen potentieller Kandidaten versuchte Ebert erneut eine Kanzlerrekrutierung in der Weise Cunos, diesmal mit dem parteilosen Heinrich Albert, der als ehemaliger Chef der Reichskanzlei und Minister den Regierungsapparat bestens kannte. Das rief die Parteien auf den Plan. Dabei brachte sich auch die DNVP ins Spiel, die als zweitstärkste Oppositionskraft nach der regierungsunwilligen SPD die Beauftragung einforderte und dies mit der Ermächtigung des neuen Kabinetts zur Reichstagsauflösung verband. Solches wurde erst ab 1930 durchexerziert, denn Ebert spielte nicht mit. Er pochte auf seine freie Entscheidung bei der Berufung eines Kandidaten. Dabei, und das ist das Entscheidende, leitete ihn das Ziel, eine Person zu beauftragen, die die besten Aussichten auf eine Regierung mit parlamentarischer Mehrheit im Rücken besaß.33 Hinter der Formulierung von der präsidialen Entscheidungsbefugnis stand freilich auch die Intention, die republikfeindliche DNVP von der Macht fernzuhalten. Auf die geforderte Reichstagsauflösung ging er gar nicht erst ein. Selbst als mit den Mai-Wahlen 1924 die DNVP in Verbindung mit dem Landbund die stärkste Fraktion stellte, erteilte Ebert nicht einem aus ihren Reihen den Auftrag. Einzig in der konsequenten Ablehnung, einen Mann der DNVP zu beauftragen, manifestierte sich eine – allerdings sehr gewichtige – Richtungsentscheidung des Reichspräsidenten. So wehrte er die Ansprüche

Rh. 1978, S. 1197: Materialsammlung Hauptmann Hans Lieber, Eintrag 4. November 1923. 33 Brief von Oskar Hergt (DNVP-Vorsitzender) vom 28. November und Antwort Eberts tags darauf in: Huber (Hg.), Dokumente 4 [wie Anm. 9], S. 378 f. Beide wurden offensichtlich vom Präsidialbüro zur Rechtfertigung des präsidialen Handelns sogleich öffentlich gemacht; »Vorwärts« Nr. 558 und 559 vom 29. und 30. November 1923; vgl. zur Kanzlerkür von Marx: Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 701 ff.

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der DNVP auf das Amt des Reichskanzlers ab. Alles andere war Sache von Kanzlerkandidat und Parteien.34 Marx blieb. Zeigte sich im Mai/Juni 1924 einmal mehr, dass, wenn die Parteien agieren wollten, der Reichspräsident nur reagieren konnte, so musste Ebert Gleiches nach den Wahlen vom Dezember 1924 erfahren, als er nur widersträubend die DNVP als Regierungspartei zu akzeptieren hatte. Der Reichspräsident machte aber sein Unbehagen hierüber nicht publik. Sein Amtsverständnis hielt ihn (nicht nur in dieser Frage) von öffentlichen Stellungnahmen bei Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung ab.

IV. Mitbestimmungsfelder: Außenpolitik und Militär Wie generell im Zusammenwirken mit dem Kabinett verstand er sich auch auf weiteren seiner Kompetenzfelder immer als ein Mitspieler. Das galt im Besonderen für die zentralen Bereiche Außenpolitik und Wehrpolitik. Hier überließ er das Alltagsgeschäft den Ministern. Zu den beiden Reichswehrministern in seiner Amtszeit entwickelten sich enge Bindungen, vor allem zu seinem Parteigenossen Gustav Noske, den er nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch jedoch nicht mehr halten konnte. Aber auch zu Otto Gessler besaß er Vertrauen. Beiden überließ er die aktive Militärpolitik, nicht aber ohne auf die Grundsatzentscheidungen wie der Gestaltung des endgültigen Wehrgesetzes Einfluss zu nehmen. Und nach der März-Revolte von 1920 schaltete er sich stärker in die militärische Personalpolitik ein und drängte auf ein »scharfes Vorgehen gegen die Schuldigen und auf schnelle Säuberung der Truppe«.35 Doch die Sache versandete, als der Reichstag mit einem Amnestiegesetz einen vorzeitigen Schlussstrich zog. Geleitet war Ebert von dem Bemühen, den Militärs die Zeit zu geben, um sich mit der Republik zumindest zu arrangieren, wenn sie schon nicht mit Herzblut bei der Sache sein konnten. Das ging nicht von heute auf morgen. Ebert redete auch in der Folgezeit einer verfassungstreuen Wehrmacht das Wort und schwor die Militärführer auf »Recht und Gesetz« ein.36 Er ließ strafwürdige Fälle von Reichswehrangehörigen durch das Reichswehrministerium

34 Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 874 ff. 35 BarchB, R 601/1288, pag. 4: Aufzeichnung über eine Besprechung Eberts mit dem neuen Chef der Heeresleitung, Hans von Seeckt, 22. März 1920. 36 Ansprache vor Kommandeuren am 3. Juni 1920 in: Mühlhausen (Hg.), Reden [wie Anm. 8], S. 146.

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untersuchen und – wie allgemein – jede antirepublikanische Entgleisung auch beim Militär strengstens verfolgen. Ein grundlegender Strukturwandel und eine von der Sozialdemokratie geforderte stärkere demokratische Kontrolle der Militärmacht passten nicht in Eberts wehrpolitische Vorstellungen. Gessler und mit ihm der Chef der Heeresleitung, Hans von Seeckt, hielten, mit Eberts Absicherung, die Reichswehr von jeglicher Parteipolitik und umgekehrt die Parteipolitik von der Militärmacht fern. Das ermöglichte es der Reichswehr, in Distanz zur republikanischen Staatsordnung zu verharren. Dem steuerte der Reichspräsident zu wenig entgegen. So wurde das Militär kein integraler Bestandteil der Republik. Ihre Verpuppung zu einem nur dem abstrakten Staat verpflichteten und nicht auf die Republik eingeschworenen Machtzentrum nahm ihren unheilvollen Lauf; die Entpolitisierung der Reichswehr führte am Ende zu ihrer Entrepublikanisierung.37 Von der Öffentlichkeit wenig bemerkt, griff Ebert in außenpolitische Fragen ein, auch bei Personalentscheidungen, so dass der im diplomatischen Dienst großgewordene parteilose kurzzeitige Außenminister Frederic Rosen, den Ebert im Mai 1921 vom Außenposten im Haag an die Spitze der Zentrale nach Berlin geholt hatte, meinte feststellen zu müssen, man könne bei Ebert mehr als bei Wilhelm II. von einem persönlichen Regiment sprechen, da er die Verfassung dahingehend interpretierte, er sei für die Personalien verantwortlich.38 In der Tat konnte ein Außenminister nicht gegen seinen Willen berufen werden, besaß der Ressortminister doch eine besondere Vertrauensstellung gegenüber dem Staatsoberhaupt. Von den acht Außenministern in Eberts Amtszeit verdankten einige ihre Berufung der Initiative des Präsidenten, der mitunter hartnäckig blieb, um zögerliche Kandidaten für den Chefsessel im Außenministerium zu gewinnen, wie etwa Walther Rathenau im Januar 1922. Und nach dem Rücktritt Stresemanns als Kanzler 1923 setzte Ebert alles daran, den DVP-Mann als Außenminister in der neuen Regierung zu halten. Dabei respektierte Ebert die Präferenzen des demokratisch nominierten Regierungschefs. Entscheidend wirkte er mit bei der Öffnung des diplomatischen Dienstes auch für Quereinsteiger. Ebert nahm sein Recht auf Mitbestimmung vor allem

37 So schon am 25. November 1922 der oldenburgische Ministerpräsident Theodor Tantzen (DDP) auf der Vorstandssitzung seiner Partei; Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933, eingeleitet von Lothar Albertin, bearb. von Konstanze Wegner in Verbindung mit Lothar Albertin, Düsseldorf 1980, S. 280. 38 Friedrich Rosen: Aus einem diplomatischen Wanderleben. Aus dem Nachlaß hg. und eingeleitet von Herbert Müller-Werth, Wiesbaden 1959, S. 343.

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bei den wichtigen Auslandsposten, den Botschaften in den westeuropäischen Metropolen sowie natürlich in Washington und Moskau, sehr ernst. Im März 1923 gestaltete sich das Verhältnis von dem im Außenamt groß gewordenen Diplomaten (16) zu den Quereinsteigern (8) in den europäischen Spitzenstellungen 2:1. Unter den acht Außenseitern befanden sich immerhin vier Sozialdemokraten, die mehr oder weniger zu den engen Freunden Eberts zählten, so dass von einem entscheidenden Einfluss des Präsidenten auszugehen ist, die auswärtigen Posten auch mit Köpfen von außerhalb der ministeriellen und diplomatischen Bürokratie zu besetzen. Das sollte unter seinem Nachfolger Hindenburg so nicht bleiben. Die Außenseiter unter den Spitzenbeamten »starben« zum Ende der Republik gänzlich aus. Als Rathenau Anfang 1922 für den Botschafterposten in den Vereinigten Staaten den Krupp-Direktor Otto Wiedfeldt haben wollte, gelang es Ebert, den Wirtschaftskapitän vom Essener Stahlkonzern loszueisen. Eindeutig eine präsidiale Entscheidung war die Ernennung Ulrich Graf Brockdorff-Rantzaus zum ersten Botschafter in Moskau 1922, die Kanzler Wirth hinnehmen musste.39 Das hartnäckige Beharren Eberts auf den ersten Außenminister resultierte aus der Tatsache, dass Wirth den Präsidenten beim deutsch-sowjetrussischen Vertrag von Rapallo im April 1922 außen vor gelassen hatte. Nachdem Ebert im Mai 1921 schon einmal übergangen worden war, als Wirth in der kanzlerlosen Zeit handstreichartig zwei Verträge mit Sowjetrussland unterzeichnet hatte, war er nachgerade erzürnt über den ohne sein Wissen vollzogenen Coup von Rapallo, von dem er erst aus der Presse erfuhr. Neben inhaltlicher Kritik fühlte sich Ebert als verfassungsmäßiger außenpolitischer Vertreter glatt übergangen. Präsidiales Vertretungsrecht kollidierte mit der Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Dennoch wollte Ebert keine Regierungskrise vom Zaun brechen. Intern ging es heftig zu, nach außen drang nichts. Da musste das Bild der Einigkeit gewahrt werden, was seinem Rollenverständnis als Stütze der Regierung entsprach. Der Leitsatz von der demonstrativen Geschlossenheit ordnete sich Ebert auch hier unter. Nach den internen Turbulenzen um Rapallo waren die Regierungen sorgsam darauf bedacht, möglichst frühzeitig den Reichspräsidenten einzubinden.

39 Dass Wirth die Ernennung Brockdorff-Rantzaus gegen »erhebliche Widerstände« durchgesetzt habe, lässt sich nun wahrlich nicht aus den Quellen filtrieren; so Bernd Braun/ Ulrike Hörster Philipps: In jeder Stunde Demokratie. Joseph Wirth (1879–1956). Ein politisches Porträt in Bildern und Dokumenten, Freiburg 2016, S. 54. Das Gegenteil triff eher zu: Brockdorff-Rantzau wurde gegen den Widerstand des Kanzlers vom Präsidenten installiert; vgl. Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 516 ff.

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Sie hielten ihn auch von den internationalen Konferenzen stets auf dem Laufenden, um sich den präsidialen Rückhalt zu sichern. Zu schwerwiegenden Dissonanzen mit dem Außenamt kam es nicht mehr. Jedoch betrieben Wirth und die Verantwortlichen der Reichswehr auf eigene Faust die militärische Kooperation mit der Roten Armee, offenkundig ohne Wissen, ja sogar gegen den Reichspräsidenten. Sorgte Ebert mit dem Verzicht auf eine Auseinandersetzung im Fall Rapallo für rasche Beruhigung auf Regierungsebene, so erwies sich das nahezu verabsolutierte Prinzip der Einigkeit mitunter als Fessel. Als er die von ihm wie von vielen als Skandal empfundenen überaus milden Militärgerichtsurteile gegen die Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht bestätigt sehen wollte und drängte, die Verfahren neu aufzurollen, fügte er sich der Mehrheit im Kabinett, so dass der zuständige Reichswehrminister Noske den Urteilen Rechtskraft verlieh. Hier hätte sich Ebert hartnäckiger zeigen und seine Überzeugung vielleicht auch durch öffentlichen Weckruf Nachdruck verleihen müssen. Er tat dies nicht und so hielt sich der – bis in die heutigen Tage immer wieder in die Diskussion gebrachte – unbeweisbare Verdacht seiner Verstrickung in den Meuchelmord. 40

V. Der dominierende Mitspieler – Artikel 48 Verfassungsrechtliche Interdependenzen und Begrenzungen zeigten sich am deutlichsten in der Praxis von Artikel 48, durch den der Präsident die Verfassungswirklichkeit entscheidend prägen konnte. 41 Doch auch beim Rückgriff auf die generelle Notstandsklausel benötigte das Staatsoberhaupt die Zustimmung der Regierung. Nur wenn Kabinett und Präsident einig agierten, konnten weitreichende Regelungen ohne den Reichstag, ja sogar gegen ihn getroffen werden. Allerdings konnte das Parlament die Aufhebung verlangen. Was aber dann? Denn Bestrebungen, ein in Artikel 48 vorgesehenes Ausführungsgesetz zu verwirklichen und damit den Befugnissen des Reichspräsidenten

40 Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 148 f.; für die aktuelle Auseinandersetzung: Walter Mühlhausen: Vom Milieupolitiker zum Staatsmann. Prägungen und Leitbilder des Parteiführers und Reichspräsidenten Friedrich Ebert, in: Peter Beule (Hg.): Friedrich Eberts Wahl zum Reichspräsidenten – Mut zur Demokratie!, Bonn 2019, S. 8–26, hier S. 17. 41 Zu Eberts Handhabung von Artikel 48: Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 722 ff.

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ein engeres Korsett zu geben, tauchten erst nach dem Sachsen-Konflikt 1923 wieder auf, versandeten dann aber. Auch unter dem sich sperrenden Hindenburg erfolgte keine Konkretisierung. Zu einem verfassungsrechtlichen Konflikt zwischen Präsident und Regierung auf der einen und dem Parlament auf der anderen Seite kam es in Eberts Amtszeit nicht. Eine gegen die gewählte Volksvertretung gerichtete Machtdemonstration unter Einsatz der weiteren Befugnisse wie des Rechts zur Auflösung des Reichtags lag außerhalb des Ebert’schen Kalküls. Dieses Ränkespiel erlebte erst 1930 mit Hindenburg und Brüning als Strippenzieher seine Ouvertüre. Der Einsatz des Artikels 48 zur Bekämpfung innerer Unruhen war gerechtfertigt und verfassungsmäßig gedeckt. Dabei handelte es sich um die Anwendung des klassischen Ausnahmezustandes mit vorübergehenden Maßnahmen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung, die der von einem ausgeprägten Ordnungsdenken geleitete Ebert in Anbetracht des Notstandes für unvermeidbar hielt. 42 Ebenso im Einklang mit der Verfassung befanden sich Schritte zur Abwehr republikfeindlicher Bestrebungen. Ebert verstand Artikel 48 auch als kraftvolles Instrument gegen Verfassungsfeinde. So war er es, der nach der Ermordung von Matthias Erzberger in der Kabinettsrunde als erstes Mittel der Gegenwehr eine Ausnahmeverordnung gegen die Hetze der Presse und in Versammlungen forderte. 43 Nach der Ermordung von Außenminister Rathenau trat umgehend die »Verordnung zum Schutze der Republik« in Kraft, die scharfe Strafandrohungen gegen republikfeindliche Handlungen, kombiniert mit Verbotsermächtigungen gegen republikfeindliche Vereinigungen, Versammlungen und Publikationen enthielt. 44 Das alles bewegte sich streng im Verfassungsrahmen. Vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus bedenklich waren allerdings die Maßnahmen zur Regelung ökonomischer Notsituationen, wie dies im Zeichen des Markverfalls und der Währungsstabilisierung 1923/24 Praxis wurde, ging es doch nicht mehr um exekutive Sondervollmachten des Reichspräsidenten, sondern um die gesetzgeberische Anordnung auf der Basis des Notstands42 Zum Notstandsrecht aus staatsrechtlicher Perspektive jüngst: Christoph Gusy. Die zweifache »Diktatur« des Reichspräsidenten. Diktatur nach der Verfassung oder gegen die Verfassung, in: Der Staat 58 (2019), S. 507–533. 43 AdR. Kabinette Wirth [wie Anm. 24] S. 216: Ministerratssitzung vom 29. August 1921; die beiden Verordnungen von 1921 in Huber (Hg.), Dokumente 4 [wie Anm. 9], S. 281 ff. 44 Die (erste) Verordnung vom 26. Juni 1922, in RGbl. 1922 I, S. 521; die »Zweite Verordnung zum Schutze der Republik« ebd., S. 532. An ihre Stelle trat das vom Reichstag am 21. Juli 1922 verabschiedete »Gesetz zum Schutze der Republik«.

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artikels. Es drehte sich nicht mehr um Abwehr von Angriffen auf die demokratische Ordnung und um die Behebung vorübergehender Notlagen, sondern um die Überwindung der durch Krieg und in der Nachkriegszeit entstandenen, durch die Ruhrbesetzung 1923 und die damit einhergehende Hyperinflation verschärften wirtschaftlichen Krisis. Das war die am weitesten reichende Ausdehnung von Artikel 48, weil damit eine Rechtsetzung auf finanzpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet erfolgte. Es gehörte bis dahin zu den Charakteristika des traditionellen Ausnahmezustandes, dass nicht nur eine akute Gefährdung von Sicherheit und Ordnung überwunden werden sollte, sondern dass die getroffenen Maßnahmen sofort wieder aufgehoben wurden, sobald die Störung beseitigt war. Es handelte sich dabei also immer um temporäre Eingriffe bis zur Beseitigung eines Notstandes. Von den in der Zeit von Oktober 1922 bis zum Tod Eberts nach Artikel 48 erlassenen 67 Verordnungen betrafen allein 44 wirtschaftliche, finanzielle und sozialpolitische Maßnahmen. Der Präsident war eben fest entschlossen, der Exekutive die zur Überwindung der finanziellen und wirtschaftlichen Zwangslagen notwendigen Verordnungen bereitzustellen. Aus dem Präsidentenpalais kamen keine nennenswerten Widersprüche gegen die Dehnung des Artikels. Das wurde ohnehin von Ebert nicht als eine solche betrachtet, sondern von ihm in Kongruenz mit dem Verfassungssinn gesehen. Es bedurfte schon einer weiten Interpretation des Begriffes der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung, um die wirtschaftspolitischen Maßnahmen 1923/24 in Einklang mit der Verfassung zu sehen, eine Auslegung, die sich auch in der späten Weimarer Staatsrechtslehre niederschlug. 45 In der Hochphase der Krise mit dem dramatischen Währungsverfall war es für Ebert selbstverständlich, zur wirtschaftlichen Stabilisierung den vom Kabinett geforderten Maßnahmen über Artikel 48 Wirksamkeit zu verleihen, sofern der Reichstag nicht agierte. Sobald aber das Parlament über Ermächtigungsgesetze der Regierung das Instrument zum Handeln an die Hand gegeben hatte, war der Weg über Artikel 48 versperrt. 46 Ebert kam zumeist dem Ersuchen der Regierung nach und verteidigte sein Handeln auch gegen Kritik aus dem eigenen sozialdemokratischen Lager. Als Preußens Ministerpräsident Otto Braun

45 Etwa bei Anschütz in der letzten Auflage seines Kommentars; Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. Vierte Bearbeitung, Berlin 141933, S. 278. 46 Insofern geht Kielmansegg, Reichspräsident [wie Anm. 17], S. 27, fehl (nicht nur hier), wenn er feststellt, Ebert habe die Möglichkeiten der Verfassung genutzt, um mit einer Beschneidung des Reichstags die Macht beim Reichspräsidenten zu konzentrieren.

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Ende 1924 den Plan der Regierung, notwendige Steuersenkungen durch eine 48er-Verordnung durchzuführen, zum Anlass nahm, vor einer extensiven Auslegung der Verfassungsbestimmung zu warnen, ließ das Ebert nicht unwidersprochen: Er hätte es als Verletzung seiner Amtspflichten angesehen, wenn er sich dem »Verlangen der Reichsregierung und den Interessen des Reiches versagt und den Erlass der Verordnung abgelehnt hätte«. 47 Ebert empörte es, dass Braun einen »Missbrauch der Verfassung« und einen »Verstoß gegen die Rechtsordnung in ganz außergewöhnlichem Umfange« glaubte feststellen zu müssen. Und weiter verwahrte er sich gegen den Vorwurf, dass »durch solche Maßnahmen nach Art. 48 ein gefährliches Präjudiz geschaffen und die deutsche Republik gefährdet« werde. 48 Ebert sah sich im Rahmen der Verfassung. Die Ausweitung auf wirtschaftliche und finanzpolitische Bereiche rief zwar verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Bedenken hervor, stellte aber grundsätzlich nicht das parlamentarisch-demokratische System in Frage, erschütterte es auch nicht grundlegend. 49 Der Artikel wurde gedehnt, nicht die Verfassung wie am Ende der Republik zielgerichtet umgebogen. Als nach der Beruhigung der Lage die Regierung mehr aus Bequemlichkeit, denn aus unvermeidlicher Notwendigkeit wieder mit Artikel 48 hantierte, stellte sich auch bei Ebert (wie bei der Regierung) ein gewisser Gewöhnungsprozess an die legislative Kurzstrecke ein, was ihn jedoch nicht zum beliebig abrufbaren Instrument der Regierung degradierte. Wegbereiter für den Missbrauch von Artikel 48 war Ebert nicht. Nach der Reichsexekution gegen Sachsen im Oktober 1923 wurde die Frage des Präzedenzfalles aufgeworfen. Die »Vossische Zeitung« erwies sich als besonders hellseherisch: »Was heute gegen Sachsen geschieht, kann morgen gegenüber jedem anderen Lande vorgenommen werden. Man stelle sich einmal vor, welche Folgen es haben müsste, wenn morgen eine deutschnationale Regierung im Reich glaubte, die preußische Regierung absetzen zu müssen.«50 Preußen sollte es im Juli 1932 erleben, als die Reichsregierung Franz von Papens die nur noch geschäftsführende Regierung Braun aus SPD und Zentrum mittels Reichsexekution absetzen ließ. Bei aller formalrechtlichen Gleichartigkeit von

47 BarchB, R 601/430, pag. 126: Ebert an Braun, 11. Dezember 1924. 48 Ebd. 49 So das Resümee von Hans Boldt: Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung. Sein historischer Hintergrund und seine politische Funktion, in: Michael Stürmer (Hg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein 21985, S. 288–309, hier S. 306. 50 »Vossische Zeitung« Nr. 512 vom 29. Oktober 1923.

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1923 und 1932: Ebert hätte nie seine Unterschrift zur Absetzung der Regierung in Preußen gegeben, wie sie Papen von Hindenburg erhalten sollte.51 Zwischen 1923 und 1932 lag ein gewaltiger Unterschied: 1932 wurde in Preußen eine von republiktreuen Kräften getragene Regierung ausgeschaltet; 1923 war in Sachsen eine Regierung abgesetzt worden, an der die antidemokratische KPD beteiligt war, die nicht nur von der proletarischen Revolution träumte, sondern auch konkret plante und im Oktober die Zeit dafür als reif erachtete. Wenn die Demokratie wehrhaft sein sollte, so hatte sie genügend Grund, gegen die Kommunisten vorzugehen. 1923 ging es der Regierung um das Überleben der Republik, 1932 um deren Zertrümmerung. 1924 jedenfalls war die Krise überwunden, 1933 die Republik zerstört. Es ist weiterhin festgestellt worden, dass »der etwas unbedenkliche und über das Unvermeidliche hinausgehende Erlass von Notverordnungen einen verhängnisvollen Präzedenzfall für spätere Krisenzeiten« gebildet habe.52 Die Praxis Eberts habe dem Missbrauch von Artikel 48 in der Endphase der Republik den Weg geebnet. Nun: Unbedenklich war sein Handeln hier keineswegs; ob die Maßnahmen über das Unvermeidliche hinausgingen, bleibt strittig. Eine Verfassungsbeugung jedenfalls kam für Ebert nicht in Frage. Als in der äußerst angespannten Lage im Dezember 1923 die Annahme des Ermächtigungsgesetzes zu scheitern drohte und Eberts Staatssekretär Meissner in der Kabinettsrunde für die von Gessler ins Spiel gebrachte Strategie, nach einer Reichstagsauflösung Neuwahlen erst nach der verfassungsmäßigen Frist von 60 Tagen durchzuführen, Artikel 48 in Aussicht stellte, so dürfte dies ohne vorherige Einwilligung Eberts erfolgt sein.53 Denn als im März 1924 angesichts der sich abzeichnenden Reichstagsauflösung innerhalb des Kabinetts eine diesbezügliche Verordnung zum Aufschub der Wahlen auf Grund von Artikel 48 diskutiert wurde, war es gerade Meissner, der rechtliche Bedenken des Präsidenten anmeldete und ein verfassungsänderndes Gesetz des Reichstags präferierte. Wenn man die bestehende Verfassung umgehen sollte, dann nicht über eine Verordnung, sondern verfassungsgemäß über das Parlament mit entsprechendem Quorum.54 51 Zum »Preußenschlag« vgl. den Band: Ein Staatsstreich? Die Reichsexekution gegen Preußen. Darstellungen und Dokumente, Berlin 2007. 52 Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, S. 585. 53 AdR Die Kabinette Marx I und II. 30. November 1923 bis 3. Juni 1924/3. Juni 1924 bis 15. Januar 1925, bearb. von Günter Abramowski, Boppard/Rh. 1973, S. 9: Kabinettssitzung 2. Dez. 1923. 54 Ebd., S. 435: Ministerbesprechung vom 6. März 1924; dazu Mühlhausen, Reichspräsident [wie Anm. 7], S. 714.

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Die Verfassung voll auszuschöpfen, dazu war der Reichspräsident bereit, nicht aber die Befugnisse zur Konterkarierung der Verfassungsbestimmungen anzuwenden. So bleibt zu resümieren, dass Ebert, der in der Anfangszeit als Präsident höchst sorgsam mit Artikel 48 hantierte, im Lichte einer finanziellen und wirtschaftlichen Krise, wie sie Deutschland bis dahin nicht gekannt hatte, 1923/24 vermehrt auf die Vollmacht zurückgriff. Und unter dem Eindruck des drohenden Staatsbankrotts und mit dem Ziel, die desolaten Finanzen des Reiches zu retten, sah er in Artikel 48 den Ausweg. Ohnehin herrschte bei den Notverordnungen ein weitgehendes Einverständnis zwischen der Reichsregierung und dem Präsidenten, aber auch zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit. Anträge, Verordnungen zur finanziellen Stabilisierung im Herbst/Winter 1923/24 aufzuheben, wurden vom Reichstag nicht gestellt, durchaus ein Indiz für stillschweigende Zustimmung, aber auch für Bequemlichkeit. Denn möglicherweise waren die Parlamentarier schlichtweg froh, sich bei den zum Teil doch unpopulären Entscheidungen hinter dem präsidialen Rücken verstecken zu können. Insgesamt führten die Kabinette hier Regie, so dass von einer Aufwertung der präsidialen Macht gegenüber der Regierung oder dem Parlament nicht die Rede sein konnte. Artikel 48 war im Grunde eine »neutrale Bestimmung«, die zur Sicherung der Demokratie, aber auch zu ihrer Umformung in eine Diktatur eingesetzt werden konnte. Während es Ebert beim Einsatz der Präsidialgewalt um die Rettung der Republik ging, setzte Hindenburg diese jedoch ein, um ein parlamentsunabhängiges Rechtsregime zu etablieren, wandte er Artikel 48 eben zur Aushebelung der demokratischen Spielregeln an. Hier den Vergleich zu Ebert zu ziehen, war mehr als fragwürdig. Als die Regierung Brüning im Juli 1930 die zuvor vom Reichstag abgelehnte Deckungsvorlage zum Haushalt über Notverordnungen erließ und die Sozialdemokratie deren Aufhebung durch den Reichstag forderte, glaubten liberale Abgeordnete an die Notverordnungspraxis Eberts erinnern zu müssen. Das war zu kurz gegriffen, denn Ebert hatte als Reichspräsident niemals ein vom Reichstag abgelehntes Gesetz in einer Notverordnung vorgelegt. Das war der gravierende Unterschied. Selbst in der »Deutschen Tageszeitung«, einem der SPD und dem verstorbenen Ebert nun nicht gerade wohlgesonnenen Blatt, war zu lesen, dass die Notverordnungen des ersten Reichspräsidenten von vornherein eine Reichstagsmehrheit hinter sich hatten.55 Artikel 48 wurde in diesem Moment von der Regierung Brüning gegen das Parlament eingesetzt, und als dieses sich 55 Von Otto Landsberg (SPD) in der Reichstagssitzung vom 18. Juli 1930 zitiert; Verhandlungen des Reichstags, Bd. 428: Stenographische Berichte, S. 6501 ff.; vgl. Heinrich

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nicht gefügig zeigte und die Aufhebung der Notverordnung beschloss, wurde es aufgelöst. In der Amtszeit Eberts war es nie zu einer solchen dramatischen Zuspitzung gekommen. Die zweimalige Reichstagsauflösung 1924 geschah im weiten Einverständnis mit den Parteien, um die festgefahrenen Situation zu überwinden, nicht um – wie später ab 1930 – das widerspenstige Parlament zu disziplinieren. *** Mit Blick auf das von Gessler überlieferte Wort Eberts bleibt festzuhalten, dass der erste Präsident nie an einen Punkt kam, wo er die Verfassung hätte über Bord werfen müssen. Er sah sich mit all seinen Handlungen im Rahmen der Verfassung. Bezüglich der zweiten eingangs im Gefolge von Preuß gestellten Frage, in welchem Geiste Ebert die Verfassung handhabte, sei hier noch einmal auf den Verfassungsvater hingewiesen. Dieser meinte im April 1919, man müsse eine gewisse Elastizität in der Abgrenzung der Machtverhältnisse zwischen Reichspräsident, Reichsregierung und Reichstag haben. Die Macht werde sich dahin verlagern, wo die größte politische Energie vorhanden sei.56 Hier war der erste Reichspräsident allein schon aufgrund seiner Amtsdauer ein Aktivposten. Dabei schöpfte er die Rechte des Präsidenten voll aus und formte das Amt zu einer machtvollen Institution im politischen Koordinatensystem der jungen Republik. Alles Handeln stand unter dem Ziel, die Funktionstüchtigkeit des parlamentarischen Systems zu sichern und Kontinuität in der Regierung zu gewährleisten, nicht gegen das Parlament. Dabei war und blieb er das aktive Staatsoberhaupt und wurde nicht zum willfährigen Handlanger der Regierung; schon gar nicht mutierte er zum »Großvater im Lehnstuhl«, wie Gessler Ende 1924 behauptete.57 Ebert selbst griff – mehr als nach außen drang – in entscheidenden Fragen ein und erfüllte als akribischer Arbeiter seine Aufgaben. Die Rolle eines republikanischen Kaisers zu spielen, lag ihm nicht. So verstand er sein Amt auch gar nicht. Er sah sich zentral als Hüter der Verfassung, ein Begriff, der mit Carl

August Winkler: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin/Bonn 1987, S. 158 ff. 56 22. Sitzung Verfassungsausschuss am 4. April, zitiert bei Kühne, Entstehung [wie Anm. 23], S. 287. 57 Ministerbesprechung am 19. Dezember 1924; AdR Marx I/II [wie Anm. 53], S. 1232.

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Schmitt populär wurde,58 wobei allerdings die Urheberrechte dem sozialdemokratischen Publizisten Friedrich Stampfer gebühren, der bereits unmittelbar nach der Verabschiedung der Verfassung den Reichspräsidenten »oberster Hüter der Verfassung« nannte.59 Ebert formte das Amt zu einer starken Institution; es war nun wahrlich nicht ihm anzulasten, dass sein Nachfolger diese Wirkungsmacht missbräuchlich anwandte, um den Weg in die Präsidialdemokratie zu planieren.60 Für Ebert als dem Hüter der Verfassung war das Staatsgrundgesetz immer Richtschnur seines Handelns und sollte unangetastet bleiben. Dies zumindest berichtet Konrad Beyerle bei seiner Festrede auf der Münchner Verfassungsfeier 1929 mit Bezug zu seiner letzten Unterredung mit Ebert. Dabei sei man auch auf eine »etwaige Revision der Verfassung zu sprechen gekommen, gerade mit Blick auf den Verfassungswandel durch die Gesetzgebung«. Eberts Urteil sei, so der Rechtshistoriker Beyerle, unmissverständlich gewesen: »Nicht daran rühren!«61 Es gibt keinen Grund, an der Überlieferung des vormaligen Reichstagsabgeordneten der Bayerischen Volkspartei zu zweifeln. Vor allem die Rechte des Reichspräsidenten hätte Ebert sicher als unantastbar bezeichnet, weil sie die Demokratie stabilisieren konnten. Ob er – wenn er dies noch erlebt hätte – zwei Jahre nach Beyerles Rede, mit der Erfahrung der antidemokratischen Ausnutzung der Präsidialbefugnisse durch Hindenburg, auch noch dieser Ansicht gewesen wäre, darf mit gutem Grund bezweifelt werden.

58 Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Neue Folge 16 (1929), S. 161–237. 59 Friedrich Stampfer: Verfassung, Arbeiterklasse und Sozialismus. Eine kritische Untersuchung der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 1919, S. 8. 60 Gusy, 100 Jahre [wie Anm. 14], S. 179. 61 Konrad Beyerle: Zehn Jahre Reichsverfassung. Festrede zur Münchener Verfassungsfeier der Reichsbehörden am 11. August 1929, München 1929, S. 33.

Wolfram Pyta

Hindenburgs Verfassungsverständnis Politik- und kulturhistorische Betrachtungen zu Rezeption von Verfassungstext und Verfassungsgeist

I. Der Rolle des Reichspräsidenten beim Übergang zu den sogenannten »Präsidialkabinetten« hat sich die Forschung seit Karl Dietrich Brachers Standardwerk über die Auflösung der Weimarer Republik1 so intensiv zugewandt, dass es keiner geringen Anstrengungen bedarf, um dieses Thema mit neuen frischen Akzenten zu versehen. Politikhistoriker, Politikwissenschaftler und nicht zuletzt Rechtshistoriker haben auf diesem Gebiet heuristische Erträge beigesteuert,2 so dass die sogenannte Auflösungsphase der Weimarer Republik zu den am intensivsten erforschten Gebieten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zählt. Dass die Präsidialkabinette einer Entwicklung den Weg bereiteten, von der nicht zuletzt die Nationalsozialisten profitierten, darf als gesicherter Forschungsstand gelten. Kontrovers wird höchstens weiterhin die Frage diskutiert, inwieweit diese Schwerpunktverlagerung vom Parlament zum Reichspräsidenten aus einem Fehlverhalten des Reichstags und der in ihm vertretenen staatstragenden Parteien resultierte oder ob Reichspräsident Hindenburg gezielt eine politische Agenda verfolgte, die auf die konsequente Entparlamentarisierung der Weimarer Republik ausgerichtet war.

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Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955. Interdisziplinär vorbildlich angelegt sind drei vom Rechtswissenschaftler Christoph Gusy herausgegebene Bände: Christoph Gusy (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; ders. (Hg.): Weimars langer Schatten – »Weimar« als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003; ders. (Hg.): Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008.

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Es macht wenig Sinn, die alten Kontroversen an dieser Stelle noch einmal auszutragen und Bekanntes in ermüdender Weise zu wiederholen. Wie aber lässt sich überhaupt noch auf diesem Terrain heuristisches Neuland beschreiten, wo doch auch eine substantielle Vermehrung aussagekräftiger und bislang von der Forschung noch nicht erschlossener Quellen kaum noch zu erwarten ist? Nur eine perspektivische Erweiterung vermag hier neue Erkenntnisse zu generieren – und genau darum soll es an dieser Stelle gehen. Es gibt eine Fragestellung, die allem Anschein nach in systematischer und interdisziplinärer Vertiefung3 bislang noch nicht untersucht wurde und die einen nicht unbeträchtlichen Erkenntnisgewinn zu generieren verspricht – nämlich die Frage nach dem Verfassungsverständnis, von dem sich Reichspräsident Hindenburg in seiner Amtszeit leiten ließ. Warum steckt ausgerechnet in diesem Thema ein derartiges Erkenntnispotential? Aus zwei Gründen: Zum einen weil vieles dafür spricht, dass Hindenburgs Verfassungsverständnis dessen grundlegende politische Weichenstellungen präformierte. Die Forschung hat immer wieder – wenngleich eher en passant – darauf verwiesen, dass Hindenburg wegen eines nicht genauer bezeichneten Respekts vor dem Verfassungstext vor einer seit 1932 als ernsthafte politische Option erwogenen Durchbrechung der Verfassung zurückgeschreckt sei. 4 Daher sei auch die Ernennung Hitlers als Reichskanzler nicht zuletzt einem skrupulösen Umgang mit dem Verfassungstext geschuldet, da Hindenburg die Alternative einer Verletzung von Artikel 25 WRV verschmäht habe. Schon allein aus diesem Grund lohnt es sich, gründlicher als bislang der Frage nachzugehen, von welcher Art Hindenburgs Zugang zur Verfassung war und ob sich daraus wirklich eine politische Selbstfesselung ergab. Es hat den Forschungseifer nicht befeuert, dass der Zugang zu dieser Leitfrage dadurch blockiert war, dass man lange Zeit den Reichspräsidenten Hindenburg nicht als Zentralfigur einstufte, sondern als verlängerten Arm einflussreicher Hintermänner. Das in diesem Kontext immer wieder angeführte Bonmot, wonach der ihn angeblich manipulierende Sohn Oskar »in der Ver-

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Der Verfasser hat für diesen Beitrag vielfältige Anregungen aus Literatur- wie Rechtswissenschaft aufgegriffen; besonderer Dank gilt Andrea Albrecht (Heidelberg), Helmuth Kiesel (Heidelberg), Horst Dreier (Würzburg) und Simon Kempny (Bielefeld). Vgl. unter anderem Erich Marcks: Hindenburg. Feldmarschall und Reichspräsident. Mit Ergänzungen und einem Nachwort von Walther Hubatsch, Göttingen 1963, S. 66; Walther Hubatsch: Hindenburg und der Staat. Aus den Papieren des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von 1878 bis 1934, Göttingen 1966, S. 136 f.; John Wheeler-Bennett: Der hölzerne Titan. Paul von Hindenburg, Tübingen 1969, S. 433.

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fassung nicht vorgesehen« sei,5 stellt nicht nur eine Abwertung der tatsächlich vom Reichspräsidenten mit Entscheidungsfreude ausgeübten Herrschaftsgewalt dar. Sie degradiert zudem die Verfassung zu einem Text, in dem die eigentlichen Herrschaftsträger nicht genannt würden, weil in Hinterzimmern auf konspirative Weise von nicht amtsmäßig Befugten die politischen Weichen gestellt worden seien. Die politische Wirklichkeit hätte mithin die Verfassung zu einem bloßen Schein werden lassen. Eine solche, von Konspirationsvorstellungen nicht ganz freie, groteske Verzerrung der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse hat nicht unerheblich dazu beigetragen, das interdisziplinäre Forschungspotential der Frage nach dem Verfassungsverständnis Hindenburgs zuzuschütten. Doch vor allem werden diesem intensiv erforschten Gegenstand neue Erkenntnisse abgerungen, wenn wir die Frage nach dem Verfassungsverständnis Hindenburgs interdisziplinär öffnen und genuin textwissenschaftliche Ansätze einbeziehen, wie sie vor allem in der Literaturwissenschaft angesiedelt sind. Es geht dabei darum, die Weimarer Verfassung als Text aufzufassen, der bedeutungsanzeigende Signale aussendet – aber dessen Sinn keinesfalls in einer allein mit juristischen Methoden zu ermittelnden Bedeutung aufgeht. Das von Hans Robert Jauß, dem Ahnherrn einer historisch fundierten Rezeptionsanalyse, betonte dialogische Verhältnis von Text und Leser6 gebietet es vielmehr, den Rezipienten des Textes in den Vordergrund zu stellen, der in diesem Fall mit Reichspräsident Hindenburg ein besonders prominenter Leser war. Die Kardinalfrage lautet daher: Welche hermeneutischen Freiheiten bei der Sinnerschließung der Weimarer Verfassung nahm sich Reichspräsident Hindenburg heraus? Dabei gilt die Prämisse, dass die Weimarer Verfassung keine literarische Textsorte war, sondern eine davon unterschiedene Textgattung, deren genaue Bezeichnung intensiver Überlegung interdisziplinärer Art wert wäre. Zugleich ist es angezeigt, zu überlegen, in welchem Kontext von Deutungsroutinen sich Hindenburg bewegte; denn selbstredend handelte der Reichspräsident

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Die Herkunft dieses Bonmot, das bereits in den 1920er-Jahren geläufig war, lässt sich nicht genau ermitteln. Häufig wird es mit Kurt Tucholsky in Verbindung gebracht, in dessen publizierten Texten sich die Äußerung allerdings nicht findet. Eine andere Spur führt, ausgehend von einer Aussage des Reichspressechefs Walter Zechlin anlässlich des Entnazifizierungsverfahrens gegen Oskar von Hindenburg am 15. März 1949 in Uelzen, zu Theodor Wolff, dem legendären Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«. Allerdings ist die Äußerung von dem »in der Verfassung nicht vorgesehenen Sohn« auch in Wolffs Artikeln nicht nachweisbar. Vgl. Harald Zaun: Paul von Hindenburg und die deutsche Außenpolitik 1925–1934, Köln u. a. O. 1999, S. 122. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1973, vor allem S. 169–173.

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bei der Auslegung der Verfassung nicht in einem luftleeren Raum. In jedem Fall erscheint es lohnend, das in der Historischen Rezeptionsanalyse7 entwickelte Instrumentarium einer Verschränkung von Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik an diesem Beispiel zu testen.8 Der Verfasser vertritt die These, dass ein Zugang zur Exegesekompetenz des Reichspräsidenten, der texthermeneutische Methoden systematisch einbezieht, Einsichten zu vermitteln vermag, die das Handeln eines politischen Zentralakteurs neu beleuchten. Die Schwerpunktsetzung dieses Beitrags bringt es mit sich, dass die staatsrechtliche Debatte um Möglichkeiten und Grenzen präsidialen Eingreifens nur gestreift wird. Zweifelsohne war es von Belang, wenn anerkannte Staatsrechtslehrer dem Reichspräsidenten zu verstehen gaben, eine exzessive Ausschöpfung der Präsidialgewalt sei durchaus mit der Verfassung vereinbar.9 Akademische Rechtswissenschaft und praktische Verfassungspolitik waren gerade im verfassungspolitisch besonders spannenden Jahr 1932 zwei eng miteinander verflochtene Sphären; und ein Rechtsgelehrter wie Carl Schmitt, der als verfassungspolitischer Berater von General Schleicher fungierte, repräsentiert in besonders markanter Weise einen solchen hybriden Zustand.10 Da die Verfassung spätestens seit 1930 einem wahren Stresstest ausgesetzt war, konnte im Jahre 1932 ein kreativer Umgang mit der Verfassung mehr als nur einen vermeintlichen Ausweg aus der Weimarer Staatskrise weisen. Da allerdings der Reichspräsident die verfassungspolitische Schlüsselfigur war, blieben alle auch noch so phantasievollen Erkundungen verfassungsrechtlich zu legitimierender und politisch durchsetzbarer Auswege letztlich ohne praktisches Resultat, wenn sie nicht vom Staatsoberhaupt zur Richtschnur seines Handelns erhoben wurden.

  7 Vgl. dazu den instruktiven Beitrag von Katja Mellmann/Marcus Willand: Historische Rezeptionsanalyse. Zur Empirisierung von Textbedeutungen, in: Philip Ajouri/Katja Mellmann/Christoph Raunen (Hg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster 2013, S. 263–281.   8 In methodischer Hinsicht sind folgende literaturwissenschaftliche Studien für die Verschränkung von Text und Leser besonders ertragreich: Norbert Groeben: Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft, Tübingen 1980, vor allem S. 26; Jörn Stückrath: Historische Rezeptionsforschung, Stuttgart 1979; Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Prämissen und Möglichkeiten historischer Darstellungen, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2 (1977), S. 146–186.   9 Siehe die vorzügliche rechtshistorische Studie von Peter Blomeyer: Der Notstand in den letzten Jahren von Weimar, Berlin 1999. 10 Vgl. Wolfram Pyta: Die verfassungspolitische Konzeption Schleichers 1932/33, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), S. 417–441.

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II. Nähern wir uns dem Themenkomplex an, indem wir mit dem Vater der philosophischen Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer, das hermeneutische Grundproblem beim Verstehen juristischer Texte und damit auch der Verfassungsurkunde der ersten deutschen Demokratie skizzieren. Denn die alles überwölbende Frage ist stets eine hermeneutische: Welcher Sinn wird im ununterbrochenen, nie an ein Ende gelangenden Prozess des Verstehens an Texte juristischer Provenienz herangetragen? Das Spezifische eines solchen sinnschöpferischen Umgangs mit juristischen Texten hat schon Gadamer darin gesehen, dass diese Form des Verstehens keinen ästhetischen Dialog mit dem Text pflegt, sondern eine applikatorische Dimension besitzt: Das Verstehen juristischer Texte ist gleichzusetzen mit deren Anwendung. Schon Gadamer ließ sich also von der Einsicht leiten, »daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet«.11 Auch im vorliegenden Beitrag geht es um die Applikation eines juristischen Dokuments – und zwar durch den Hüter der Verfassung und den Inhaber des bei weitem wichtigsten Staatsamtes. Auf den ersten Blick scheinen die bei Gadamer Pate stehenden großen literarischen Texte der Menschheitsgeschichte hinsichtlich ihres Anspruchs, sich zu Gehör zu bringen und von sich aus einen Verstehensprozess einzuleiten, durchaus mit einer Verfassungsurkunde auf einer Ebene zu stehen. Denn ist die Verfassung nicht ein gewissermaßen kanonischer Text, an dem sich gerade ein Reichspräsident ständig interpretatorisch abarbeiten und abmühen muss? Geht nicht von der Verfassung »eine unmittelbare Sinnerwartung«12 aus, um Gadamer noch einmal zu bemühen? Doch wir sollten uns hüten, die Gadamersche Hermeneutik in eine Schieflage zu bringen, die einen autonomen Sinnanspruch des Textes postuliert, den der Verstehende im Rezeptionsakt in der Weise aufgreift, dass er sich auf einen Anruf des Textes lediglich reaktiv verhält. Verfassungen sind Texte, mit denen in applikatorischer Hinsicht durchaus flexibel umgegangen wird, wenngleich es textimmanente Grenzen gibt. Umso mehr gilt dies für ein Staatsoberhaupt, dem bis zu seinem Amtsantritt jede Schulung im Verstehen und in der Anwendung von Verfassungsbestimmungen fehlte und der daher nicht mit gespannter Ehrfurcht wie ein Theologe auf eine Verfassung als gewissermaßen heiliger Text blicken konnte und wollte. Welche Bedeutung hat Hindenburg aus 11 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, S. 291. 12 Ebd., S. 310.

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seiner Lektüre dieses spezifischen Textes gewonnen? An eine zufriedenstellende Antwort wird man sich dann annähern können, wenn man zuerst nach dem Lektüreverhalten Hindenburgs fragt. Denn es ist davon auszugehen, dass für einen verfassungsrechtlich nicht geschulten Berufsmilitär, der erst im zarten Alter von knapp 78 Lebensjahren ein politisches Amt antrat, die Weimarer Verfassung eine ungewohnte Textsorte darstellte. Daher müssen wir danach Ausschau halten, ob sich Hindenburg bei der sinnhaften Erschließung einer ihm fremden Textgattung an einem bestimmten Leseverhalten orientierte, das an anderen, genuin militärischen Texten geschult war. Hierbei wäre es hilfreich, Hindenburgs Leseverhalten in die Schrift- und Lesekultur innerhalb der (höheren) Militärs einzubetten. Allerdings ist auf diesem Gebiet ein erheblicher Nachholbedarf in der Forschung zu verzeichnen. Die Forschungen von Sebastian Rojek bieten hier einen wichtigen Anknüpfungspunkt: Hohe Militärs waren nach dem Ersten Weltkrieg auf Ghostwriter angewiesen, wenn sie die unter ihrem Namen erschienenen Rechtfertigungsschriften verfassten.13 Auch Hindenburg bildete hierbei keine Ausnahme, als im Jahre 1919 seine Erinnerungen auf den Markt kamen.14 Die Schriftkultur im Militär war – so ist zu vermuten – auf möglichst knappe und präzise Angaben ausgerichtet: Reglements, Befehle, Ranglisten, Aufstellungen und formalisierter Schriftverkehr im militärischen Verwaltungsalltag. All dies sind Textsorten, die in maximaler Nüchternheit dazu auffordern, ihnen Folge zu leisten. Solche Lektüreerfahrungen waren sicherlich nicht die schlechtesten, um sich einem trockenen Dokument wie einer Verfassung zu nähern. Doch waren sie auch geeignet, um unter sich wandelnden politischen Kontexten einen Verfassungstext kreativ zu lesen und auf einen möglicherweise dahinterstehenden »Geist« zu schließen? Es ist eine schmerzliche Forschungslücke, dass wir zu wenig darüber wissen, wie die Militärs lernten, Befehle zu schreiben. Denn diese Textsorte musste sich ebenfalls auf der Ebene konkreter Handlungsanweisungen bewegen und doch einen gewissen »Geist« zum Ausdruck bringen, der genug Raum ließ, damit die Akteure vor Ort situationsadäquat, aber im Sinne des taktischen oder strategischen Gesamtvorhabens handeln konnten.15

13 Vgl. für einige Beispiele Sebastian Rojek: Versunkene Hoffnungen. Die Deutsche Marine im Umgang mit Erwartungen und Enttäuschungen 1871–1930, Berlin/Boston 2017, S. 261 f., S. 263–270. 14 Vgl. Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 435–439. 15 In diesem Zusammenhang wäre ein Blick auf die Geschichte und Entwicklung der sogenannten Auftragstaktik nicht unwichtig. Vgl. Marco Sigg: Der Unterführer als Feldherr

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Man wird der Rezeptionserfahrung und -kompetenz der Militärs aber nicht allein über eine Rekonstruktion ihrer Schriftkultur nahekommen. Ebenso wichtig ist es herauszufinden, mit welcher kommunikativen Begleitung ihnen Verfassungen nahegebracht werden sollten. Kamen höhere Militärs im Deutschen Kaiserreich überhaupt mit der Verfassung dieses Staatswesens im dienstlichen Alltag in Berührung? Waren die extrakonstitutionelle Stellung des preußischdeutschen Monarchen und das besondere Treueverhältnis der höheren Militärs zu ihm nicht einer Rezeption von Verfassungsdokumenten abträglich, die aus der fernen Welt des Zivillebens stammten? Vieles spricht dafür, dass Verfassungen erst seit der Etablierung der ersten deutschen Demokratie in das Gesichtsfeld von ehemaligen und aktiven Militärs gerieten.16 Was von dieser Leserschaft im optimalen Falle zu erwarten war, war eine pflichttreue und buchstabengenaue Lektüre der Verfassung in dem Sinne, dass sie respektiert wurde als Ordnungsrahmen staatlichen Handelns. Dies hätte allerdings schon ausgereicht, um in den Status eines »Vernunftrepublikaners« zu gelangen.17

III. Wir sind mithin zu dem Ergebnis gelangt, dass der Verfassungstext an sich für den Berufsmilitär Hindenburg eine fremde Textsorte darstellte, die er sich nur vor seinem militärischen Denkhorizont interpretatorisch erschließen konnte und wollte. Wie aber tauchte Hindenburg konkret in diese ihm unvertraute Welt ein? Sind wir über seine hermeneutischen Explorationen hinsichtlich des Textes der Weimarer Verfassung zuverlässig informiert? Die vorhandenen Zeugnisse fließen zwar nicht sehr reichlich. Aber sie genügen, um die Eigenart der Hindenburgschen Erschließung dieses Textes freilegen zu können. Dazu müssen wir noch einen argumentativen Zwischenschritt einfügen und eine Kategorie einführen, die von Seiten der Rechtswissenschaft im Taschenformat. Theorie und Praxis der Auftragstaktik im deutschen Heer 1869 bis 1945, Paderborn u. a. O. 2014. 16 Dazu passt der Befund, dass sich das Fächerspektrum an der zentralen Ausbildungsstätte preußischer Offiziere, der Königlich Preußischen Kriegsakademie, im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter von den allgemeinbildenden Disziplinen wie beispielsweise Geschichte, Rhetorik, Grammatik oder Geometrie fortbewegte und sich auf die Militärwissenschaften im engeren Sinne reduzierte. Vgl. Louis von Scharfenort: Die Königlich Preußische Kriegsakademie. 1810–1910, Berlin 1910. 17 Zum Konzept des »Vernunftrepublikanismus« vgl. Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 2008.

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wegen ihrer normativen Unbestimmtheit meist gemieden wird: »Geist der Verfassung«. Damit ist ein Zugriff auf die Verfassung gemeint, welcher deren ideellen Kern freilegen möchte. Es geht mithin darum, aus den unzähligen Artikeln einer Verfassung deren Essenz herauszuschälen – und zwar nicht durch die applikatorische Methode des Juristen, sondern vermittels einer hermeneutischen Kraftanstrengung. Die Ermittlung des »Geistes« einer Verfassung ist mithin kein Monopol von Verfassungsexperten, sondern das Ergebnis einer politischen Deutungsleistung; und dies wiederum erklärt auch die ostentative Zurückhaltung der Juristen in dieser Frage. Die Verknappung des Verfassungstexts auf eine politische Kernbotschaft zeugt davon, dass die interpretatorische Hoheit über die Verfassung letztlich außerhalb der rein verfassungsrechtlichen Sphäre angesiedelt ist. Allerdings besitzt eine solche sinnhafte Ausschöpfung insofern textimmanente Grenzen, als der Verfassungstext nicht alle Auslegungen unbeschränkt zu decken vermag. Es verdient an dieser Stelle festgehalten zu werden, dass eine Erkundung des Querschnittsthemas »Geist einer Verfassung« ein heuristisch ergiebiges Forschungsfeld ergibt, welches im interdisziplinären Verbund von Historikern, Juristen und Literaturwissenschaftlern zu erkunden wäre. Mangels systematischer Vorarbeiten zumindest für die neuere deutsche Verfassungsgeschichte seien hier einige rhapsodische Vorüberlegungen erlaubt. Eine extrajuristische Aneignung von Verfassungen in dem Sinne, dass Politik und Öffentlichkeit aus dem Verfassungstext politische Kernbotschaften herausdestillierten, hat es bereits im Gefolge des ersten Verfassungsgebungsprozesses in Europa gegeben, welcher im Parlament sein Zentrum besaß. In Frankreich gab es vom Sommer 1789 an eine lebhafte Verfassungsdebatte, in deren Verlauf die am 3. September 1791 in Kraft getretene »Constitution« so diskursmächtig war, dass die Anhänger der Revolution daran zu erkennen waren, dass sie sich auf einen spezifischen »esprit de la constitution« beriefen.18 Den wichtigsten ideengeschichtlichen Bezugspunkt bildete dabei zweifellos Montesquieus berühmte Schrift »De l’esprit des loix« (1748), deren Bedeutung für ein Verständnis von Gesetzestexten, das nach deren eigentlichem, tieferliegendem Sinngehalt fragte, gar nicht überschätzt werden kann.19 Frankreich bildet überhaupt das gesamt-

18 Als historischer Testfall für die Aneignung des »esprit« von Verfassungen bietet sich die Rezeption der ersten Verfassung Frankreichs an, die am 3. September 1791 angenommen wurde; hierzu vgl. die überaus anregenden Ausführungen bei François Furet/Ran Halévi: La monarchie républicaine, Paris 1996, vor allem S. 239–258. 19 Vgl. grundsätzlich Panajotis Kondylis: Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996.

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europäische Vorbild für die hermeneutische Ausstrahlung einer Verfassung, die in der politischen Kultur so tief verankert war, dass deren Verteidigung sogar den Anlass für eine von der Forschung kaum beachtete Revolution, die des Juli 1830, lieferte. Von der »charte constitutionnelle« konnte nur deswegen eine derart mobilisierende Kraft ausgehen, weil sich die Akteure des Juli 1830 auf den Geist dieser Verfassung beriefen, als sie gegen die sogenannten »Ordonnanzen« des Königs, welche tiefe Eingriffe in bürgerliche Freiheitsrechte enthielten, mit revolutionären Mitteln opponierten.20 Wann setzte in Deutschland ein gesamtstaatlicher Diskurs ein, bei dem der Verfassungstext eine hermeneutische Eigendimension dergestalt einnahm, dass aus ihm die politischen Fundamente herausgelesen wurden, auf denen die verfassungsmäßige Ordnung ruhen sollte? Ein erster Streifzug durch die Paulskirchenverfassung des Jahres 1849, die Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 sowie des Deutschen Reiches 1871 fördert als vorläufiges Ergebnis den Eindruck zutage, dass explizite Bezüge auf einen aus der Verfassung herausgelösten »Geist« nicht anzutreffen waren.21 Zwar gab es unter den Befürwortern der Reichsverfassung in der Paulskirche durchaus ein stillschweigendes Einvernehmen darüber, dass der Verfassungstext die Prinzipien von Einheit und Freiheit ausgestalten sollte, die der Verfassung gewissermaßen voraus lagen. Allerdings waren die Vorstellungen von diesen Prinzipien so heterogen, dass sich selbst mit den gängigen Mitteln der hermeneutischen Sinnerschließung kein gemeinsamer Nenner herstellen ließ.22 Die politischen Akteure maßen ihr Handeln deshalb nicht an einem aus der Konstitution abgeleiteten »Geist«. Hinsichtlich der Bismarck’schen Reichsverfassung hatte dies seinen Hauptgrund zudem darin, dass die Souveränität nicht beim Volke

20 Dazu die vorzügliche verfassungsvergleichende Studie von Volker Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011, hier S. 20. 21 Verfassung des Deutschen Reiches (28. März 1849), in: Ernst Rudolf Huber (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, Stuttgart u. a. O. 31978, S. 375–396; Verfassung des Norddeutschen Bundes (16. April 1867), in: ebd., Bd. 2: Deutsche Verfassungstexte 1851–1900, Stuttgart u. a. O. 3 1986, S. 272–286; Verfassung des Deutschen Reiches (16. April 1871), in: ebd., Bd. 2, S. 384–402. 22 Vgl. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 1960, S. 767–805; Jörg-Detlef Kühne: Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Neuwied 21998.

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angesiedelt und das Deutsche Reich nicht unitarisch verfasst war.23 Hinzu kam, dass die herrschende Meinung innerhalb der Staatrechtslehre, wie sie maßgeblich von dem Straßburger Juristen Paul Laband24 geprägt wurde, einem strikten Rechtspositivismus huldigte, der auf formal-logischen Methoden basierte und dezidiert kein Interesse an staatsphilosophischen Fragestellungen besaß.25 Erst als das Reich im Jahre 1919 durch die »Weimarer Reichsverfassung« ein demokratisch legitimierter Nationalstaat mit stark unitarischem Charakter wurde, ergab sich die Aufgabe, den tieferen Sinn dieser Verfassung zu ermitteln und damit einen sie erfüllenden »Geist« aufzuspüren. Die Politik besaß hierbei einen erheblichen Gestaltungsspielraum, weil die Rechtswissenschaft in immanenten Grenzen gefangen war. Die juristische Interpretationstheorie verfügte über keinen allseits anerkannten Zugriff; und die einflussreiche normative Theorie schränkte die juristische Hermeneutik dadurch erheblich ein, dass sie ihre Auslegungsanstrengung auf den klaren Wortlaut des Normtexts beschränkte und damit die Frage nach einem »Geist« der Verfassung als außerhalb ihrer Disziplin liegend einstufte.26 Es waren die Schöpfer der Verfassung selbst, die zugleich eine bestimmte Interpretation ihres Verfassungswerks in Umlauf brachten – und das bereits in der Verfassunggebenden Nationalversammlung des Jahres 1919. Conrad Haußmann, ein Liberaler mit erheblichem Einfluss in den Verfassungsberatungen von Weimar, thematisierte schon im Juli 1919 die politische Notwendigkeit, darauf hinzuwirken, dass »der Geist, der in ihr [der Reichsverfassung, W. P.] niedergelegt ist, eine lebendige Kraft ist und bleibt.«27 Reichspräsident Friedrich Ebert benannte nach Annahme der Verfassung zugleich den Leitgedanken, der für ihn wie für die überwältigende Mehrheit der damaligen politischen Akteure den Verfassungskern bildete: » Das Wesen unserer Verfassung soll vor allem

23 Vgl. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. III: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, S. 766–785. 24 Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1, Tübingen 1876. 25 Vgl. Bernd Schlüter: Reichswissenschaft. Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg, Frankfurt a. M. 2004; Johannes Wilhelm: Die Lehre von Staat und Gesetz bei Paul Laband, Köln 1967. 26 Vgl. hierzu Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), München 22012, vor allem S. 345–357. 27 Rede Haußmanns vom 2. Juli 1919; Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 327. Stenographische Berichte, Berlin 1920, S. 1204.

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Freiheit sein, Freiheit für alle Volksgenossen.«28 Damit schlugen die Republikaner der ersten Stunde inhaltliche Pflöcke ein, um die zentrale politische Botschaft zu markieren, die nach ihrer Ansicht von der Verfassung ausging: eine auf dem Prinzip der Volkssouveränität gegründete Republik, welche der Förderung der Freiheit verpflichtet sei und darüber hinaus soziale Teilhabe gewährleisten sollte – jedenfalls dann, wenn ein aus der Sozialdemokratie hervorgegangener Staatsmann den »Lebensgrundsatz des deutschen Volkes«, so wie er in der Verfassung niedergelegt sei, definierte: als einen Gleichklang aus »Freiheit, Recht und soziale[r] Wohlfahrt«.29 Die Adepten der Weimarer Verfassung verfügten mithin von Anfang an über einen gewissen interpretatorischen Spielraum, um deren Leitmotive heraus zu präparieren. Auch der wichtigste »Verfassungsvater«, Hugo Preuß, hat in einem nach seinem Tode fragmentarisch erschienenen Kommentar zur Reichsverfassung entsprechend argumentiert und sich dabei explizit auf einen »Geist der Verfassung«30 berufen. Schon seinen letzten Redeauftritt in der Nationalversammlung hatte er abgeschlossen mit der Hoffnung, dass das Staatsleben erfüllt werden möge »mit dem Geiste, der diese Verfassung beseelt«.31 Solche Offerten waren allerdings durch den Text der Verfassung begrenzt und kreisten um die Gewichtung der Trias von Freiheit, Recht und sozialer Teilhabe, die das Grundgerüst der Reichsverfassung bildeten. Was bedeutet diese Feststellung für die Art und Weise, wie ein Reichspräsident mit Namen Hindenburg mit dieser Verfassung umgehen konnte? Da die Ausschöpfung des Sinns dieser Verfassung nicht auf Verfassungsexperten beschränkt war, gehörte es durchaus zu den genuin politischen Aufgaben eines Reichspräsidenten, sich im Rahmen der textimmanenten Grenzen sinnschöpferisch zu betätigen. Friedrich Ebert hatte auf diesem Gebiet bereits Vorarbeiten geleistet.32 Insofern konnte auch ein in Verfassungsfragen unbewanderter Reichspräsident, der – wie gleich zu zeigen sein wird – sich erst nach seinem Amtsantritt intensiver mit der Verfassungsurkunde beschäftigte, dazu beitragen, den Wesenskern einer Ver28 Rede Eberts nach der Vereidigung auf die Reichsverfassung, 21. August 1919, abgedruckt in: Walter Mühlhausen (Hg.): Friedrich Ebert – Reden als Reichspräsident (1919–1925), Bonn 2017, S. 88. 29 Rede Eberts am 21. August 1919, in: ebd., S. 89. 30 Die Buchstücke von Preuß’ Kommentar sind 1928 von Gerhard Anschütz herausgegeben worden, abgedruckt in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, hg. eingeleitet und erläutert von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen 2015, S. 299–476, Zitat S. 452. 31 Die Rede von Preuß vom 29. Juli 1919 findet sich in: ebd., S. 258–265, Zitat S. 265. 32 Vgl. dazu den Beitrag von Walter Mühlhausen in diesem Band.

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fassung freizulegen. Dazu bedurfte es allerdings seines Bemühens, den Verfassungstext als einen Text mit einer besonderen Dignität anzuerkennen, der die Staatsorganisation auf bestimmte normative Grundlagen verpflichtete. Noch einmal: Auch für einen in das höchste Staatsamt gelangten Militär, der bislang mit der Sphäre der Verfassung in keine nähere Berührung gekommen war, gab es keine unüberwindlichen hermeneutischen Hindernisse, um sich in die Verfassung einzufinden. Er musste allerdings willens sein, sich auf diese ihm bislang fremde Textsorte einzulassen und sie sich in einem respektvollneugierigen Zugriff anzueignen. Doch an diesem hermeneutischen Wohlwollen scheint es Hindenburg gänzlich gemangelt zu haben. Hindenburgs Verfassungsverständnis stand – und dies ist die Hauptthese der vorliegenden Ausführungen – in krassem Widerspruch sowohl zum Text als auch zum Geist der Weimarer Reichsverfassung! Die vorhandenen Zeugnisse sprechen eine eindeutige Sprache. Hindenburg las die Verfassung so, als sei sie ein ihm vertrauter Text aus dem Arsenal militärischer Schriften. Bei der Führung seines Amtes ließ er sich von Handlungsmaximen leiten, die nicht aus der Verfassung abgeleitet waren, sondern aus der Applikation militärischer Dienstvorschriften resultierten. Pointiert formuliert: Hindenburg bezog wichtige Handlungsanleitungen nicht aus dem Studium des Verfassungstextes, sondern aus der Auslegung eines ihm seit langem vertrauten Kanons militärischer Traktate. Hindenburg missachtete bewusst oder unbewusst die Distinktion verschiedener Textsorten; und dies drückte sich nicht zuletzt in fehlplatzierten Rezeptionsmustern aus. Für diese Rezeptionskultur sollen zwei markante Beispiele angeführt werden: 1. Allem Anschein nach las Hindenburg die Weimarer Verfassung erstmals, nachdem er im April 1925 in das höchste Staatsamt gewählt worden war. Dabei ließ er sich von einer Sehweise leiten, die ihm aus seiner militärischen Tätigkeit vertraut war. Hindenburg betrieb hinsichtlich der Lektüre der Weimarer Reichsverfassung im wahrsten Sinne des Wortes »Manöverkritik«. Denn in der Manöverordnung war vorgeschrieben, dass bei solchen Truppenübungen die eigene Partei durch blaue Farbe, die gegnerische Partei durch rote Farbe zu kennzeichnen waren.33 Diese schematische Einteilung in eine befreundete »blaue« und eine feindliche »rote« Partei diente Hindenburg als hermeneutischer Kompass, um die Weimarer Verfassung zu strukturieren: Alle Textpassagen, in denen der Reichspräsident Erwähnung fand, wurden von ihm in seinem Exemplar blau markiert; 33 Vgl. Bestimmungen für die größeren Truppenübungen – Manöverordnung, Berlin 1914, S. 26.

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Reichsregierung und Reichstag hingegen wurden mit Rotstift unterstrichen.34 Man sollte diesen hermeneutischen Zugang zur Weimarer Verfassung nicht als bloße Marotte eines fast 80-jährigen Militärs abtun. Er ist decouvrierend, weil er mangelnden Respekt vor den Verfassungsorganen »Reichstag« und »Reichsregierung« freilegt und zugleich das aus dem militärischen Kontext bekannte Freund-Feind-Schema unbesehen auf das Feld der parlamentarischen Demokratie überträgt. Er verrät überdies eine allein an Lektüre militäraffiner Texte geschulte Rezeptionshaltung. Hindenburg fehlte ein Korrektiv, um seine Fixierung auf ein solches Textkorpus aufzubrechen. Hindenburg hat – soweit wir wissen – »schöne« Literatur nicht rezipiert; und nicht zuletzt daher fehlte ihm ein Antidot, um einseitige Lektüren aus militärischen Dienstvorschriften anhand ästhetisch anspruchsvoller, literarischer Texte korrigieren zu können. Wie sehr seine Amtsführung als Reichspräsident und damit auch sein Umgang mit sensiblen Verfassungsfragen von einer militärisch imprägnierten Rezeptionshaltung bestimmt war, geht aus einer in diesem Kontext besonders aufschlussreichen Quelle hervor. Der in der Schweiz lebende Militärschriftsteller Hermann Stegemann, den Hindenburg außerordentlich schätzte, hatte am 5. November 1932 Gelegenheit, auf dem Höhepunkt der Verfassungskrise ein vertrauliches Gespräch mit Hindenburg in Berlin zu führen. Darüber fertigte Stegemann zeitnah eine Niederschrift an, aus der wir einige Passagen zitieren, die verdeutlichen, wie sehr Hindenburgs mündliche und schriftliche Kommunikation auf militärische Verkehrsformen ausgerichtet war. Der »Vortrag« als die übliche Form dienstlicher Berichterstattung an einen Vorgesetzten musste sich in militärischer Formensprache abspielen; und gleiches dürfen wir auch für die dienstlich übermittelten Textzeugnisse vermuten. Lassen wir also Stegemann ausführlich zu Wort kommen: Man könne Hindenburg »alles sagen und von ihm in allem verstanden werden, wenn man sich auf eine klare, vereinfachte, militärisch gebundene Form des Vortrages beschränkt und die Bilder des Vergleichs aus der Welt wählt, in der sich sein Leben abgespielt hat. Nichts wäre verfehlter, als Hindenburg juristisch zugespitzte oder politisch verklausulierte Vorträge mit Wenn und Aber, mit geistigen Vorbehalten und Möglichkeiten zu halten, die ihm nicht nur die Übersicht erschweren, sondern ihm auch Entschlüsse gewissermaßen vorgekaut

34 Dies teilte der mit Hindenburg engen Umgang pflegende Reichskanzler Marx dem höheren Ministerialbeamten Mayer mit. Eugen Mayer: Skizzen aus dem Leben der Weimarer Republik, Berlin 1962, S. 76; siehe auch Pyta, Hindenburg [wie Anm. 14], S. 486.

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in den Mund legen.«35 Stegemann wusste, dass man diesem herrschaftsbewussten Generalfeldmarschall keinesfalls durch geschickte Gesprächsführung oder durch entsprechend formulierte Textvorlagen bestimmte Entscheidungen unterschieben konnte, so dass Hindenburg in eine bloß ratifizierende Rolle geraten wäre. Seine militärische Kommunikationskultur war nie alternativlos, sondern immer entscheidungsoffen; Stegemann charakterisierte ihn als »auf die klare Übersicht und die Befehlsform der Militärsprache Eingeschworenen«.36 Gerade weil sich Hindenburg diesen Stil auch als Reichspräsident bewahrte, ist die lange Zeit tradierte Behauptung, ausgerechnet dieser hohe Militär sei Wachs in den Händen einer ihn mittels Einflüsterungen steuernden Entourage gewesen, mit Hindenburgs Herrschaftsverständnis und Herrschaftspraxis unvereinbar.37 2. Pointiert formuliert lässt sich sagen, dass Hindenburg eine militärische Übersetzungshilfe in Anspruch nahm, wenn er Handlungsmaximen für seine Amtsführung als Reichspräsident formulierte und damit zugleich die Richtlinien für seinen Umgang mit der Verfassung absteckte. Wie sehr Hindenburg in solchen Fragen aus militärischen Anweisungen schöpfte, hat er selbst zu Beginn des Jahres 1932 unmissverständlich geäußert – und zwar in einer besonders aussagekräftigen politischen Konstellation, nämlich seiner Entscheidung, erneut bei der Volkswahl für das Reichspräsidentenamt anzutreten. Hindenburg war dieser Schritt nicht leicht gefallen; und daher hat er ihn in dem wohl wichtigsten Schlüsseldokument für sein politisches Selbstverständnis ausführlich begründet. In dieser »persönlichen Darlegung« vom 25. Februar 193238 hat er unter anderem die Maximen seiner Amtsführung thematisiert – auch um seinen potentiellen Wählern zu verdeutlichen, woran er sich in der Vergangenheit gehalten habe und auch in Zukunft nach einer Wiederwahl halten werde. Hindenburg begründete den Einsatz präsidialer Notverordnungen – mithin das Herzstück der sogenannten »Präsidialkabinette« – damit, dass er »zur Beseitigung unmittelbarer Gefahren für Wirtschaft, Staatsfinanzen und Währung«39 habe aktiv werden müssen. Die exzessive Ausschöpfung seiner präsidialen Befugnisse legitimierte er aber nicht unter Rekurs auf die verfassungs-

35 Bericht Stegemanns über seine Gespräche in Berlin 1932, von ihm am 7. Dezember 1932 diktiert, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Hermann Stegemann, N 1353, Nr. 43, Zitat Bl. 9 des Berichts. 36 Ebd., Bl. 9. 37 Dies ist die Hauptthese von Pyta, Hindenburg [wie Anm. 14]. 38 Abgedruckt in: Hubatsch, Hindenburg und der Staat [wie Anm. 4], S. 312–316. 39 Ebd., S. 315.

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mäßigen Kompetenzen des Reichspräsidenten (was durchaus möglich gewesen wäre), sondern allein unter Verweis auf eine militärische Devise, die sich ihm als Handlungsgrundsatz auch als Reichspräsident eingraviert hatte: die preußische Felddienstordnung, die das Leitbild eines proaktiven, vorausschauenden und entschlussfreudigen preußischen Offiziers entwarf: »Ich habe hierbei nach dem guten alten Grundsatz der preußischen Felddienstordnung gehandelt, der besagt, daß ein Fehlgriff in der Wahl der Mittel nicht so schlimm ist, als das Unterlassen jeglichen Handelns.«40 Der explizite Verweis auf einen extrakonstitutionellen Leittext – in diesem Fall: die preußische Felddienstordnung – legt mit bemerkenswerter Deutlichkeit frei, dass Hindenburg die Essenz eines Textes sehr wohl herausdestillieren konnte, dass aber diese hermeneutische Leistung nicht für die Verfassungsordnung, sondern für eine militärische Ordnung galt. Denn in der preußischen Felddienstordnung findet sich weder in den Fassungen von 1894 noch von 1908/1914 im Wortlaut der von Hindenburg herangezogene Grundsatz. Aber Hindenburg hatte den Sinn der Felddienstordnung durchaus treffend mit dieser Maxime erfasst. Denn in ihr wurde im Geiste der preußischen Auftragstaktik 41 der Offizier ermutigt, nicht in Kadavergehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten zu verharren, sondern sich vielmehr den Mut zur Initiative herauszunehmen, wenn dies die nüchterne Einschätzung der Lage erforderte. 42 Wie sehr Hindenburg den Geist einer militärischen Dienstordnung als Leitlinie seines präsidialen Handelns beschwor, wird weiterhin daran ersichtlich, dass er in seinem einzigen Wahlkampfauftritt bei der Reichspräsidentenwahl 1932 – einer Rundfunkrede vom 10. März 1932 – explizit darauf Bezug nahm. Wie immer, wenn ihm etwas ein besonderes Anliegen war, griff Hindenburg dabei selbst zum Stift und verfasste eigenhändig den Text dieser Rundfunkansprache. 43 Er legte die Gründe für seinen Gebrauch der präsidialen Notver-

40 Ebd., S. 315 f. 41 Zur speziell in der preußisch-deutschen Armee gepflegten Führungskultur vgl. Sigg, Der Unterführer [wie Anm. 15]; siehe auch Wolfram Pyta: Militärische Entscheidungskultur: Prolegomena zu einer dezisionistischen Führungskultur des Militärs, in: Martin Clauss/ Christoph Nübel (Hg.): Militärisches Entscheiden. Prozesse und Repräsentationen einer sozialen Praxis von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2020, S. 51–74. 42 Vgl. Felddienst-Ordnung, Berlin 1894, vor allem S. 33, sowie Felddienst-Ordnung (F. O.) [22. März 1908], Berlin 1914, insbesondere S. 9 f. und S. 17. 43 Der bestens informierte Schleicher teilte dies Kurt Freiherr von Lersner, der in Berlin einen politischen Salon führte, am 12. März 1932 mit. Vgl. die Eintragung in den tagebuchartigen Auszeichnungen Lersners vom 12. März 1932, Bundesarchiv Koblenz, Kleine Erwerbungen 591–8, Nr. 2, Bl. 92.

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ordnungsvollmacht dar – auch im Sinne der Rechenschaft vor dem deutschen Volk, bei dem er sich in dieser, seiner einzigen direkten Ansprache um seine Wiederwahl bewarb. Er habe »einspringen« müssen, weil sich der Reichstag aus seiner Verantwortung gestohlen habe – und dabei habe er »an den guten, alten militärischen Grundsatz gedacht, daß ein Fehlgreifen in der Wahl der Mittel nicht so schlimm ist, als das Unterlassen jeglichen Handelns«. 44

IV. Wir können also als Zwischenfazit festhalten, dass Hindenburg die Bedeutung der Verfassung für sein präsidiales Agieren dadurch entwertete, dass er sich an militärischen Grundsätzen orientierte. Die Verfassung bildete für ihn ein Exerzierfeld für politische Truppenbewegungen. Aber Hindenburg blieb nicht bei dieser Form der Subordination der Verfassung stehen, sondern fügte der Unterwerfung der Verfassung noch eine zweite Dimension hinzu, die es ihm erlaubte, seine genuine herrschaftliche Potenz zur extrakonstitutionellen Richtgröße präsidialen Handelns zu deklarieren. Worin lag Hindenburgs wichtigste politische Ressource, die ihm eine geradezu atemberaubende politische Karriere erlaubte? Binnen eines Jahres, 1914, war ihm die politische Mutation von einem in der Öffentlichkeit völlig unbekannten militärischen Ruheständler zum politischen Hoffnungsträger der Nation geglückt. Diesen märchenhaften Aufstieg verdankte Hindenburg nicht allein dem Umstand, dass eine glückliche Fügung ihn an die Spitze einer Armee befördert hatte, der in einer heiklen Situation ein durchschlagender militärischer Abwehrsieg gegen die südliche der beiden nach Ostpreußen vorgestoßenen russischen Armeen gelungen war. Entscheidend war die symbolische Veredelung dieses militärischen Ereignisses: Hindenburg rückte erfolgreich in eine symbolische Leerstelle ein, die der Reichsmonarch hinterlassen hatte: Er – und nicht Wilhelm II. – trat auch durch eigene deutungskulturelle Anstrengungen auf als Verkörperung der »Ideen von 1914« und damit der politikmächtigen Vorstellung einer gerade in Kriegszeiten lebensnotwendigen inneren Einheit der Nation. Hindenburg baute diese symbolische Position im Laufe des Krieges aus zu einer politischen Festung, die auch den politischen Umbruch des Jahres 1918 erfolgreich überstand. Sein Monopol als Inkarnation nationalen Einheitswillens war auch in der ersten deutschen Demokratie 44 Der Text der Rundfunkansprache Hindenburgs vom 10. März 1932 findet sich bei Hubatsch, Hindenburg und der Staat [wie Anm. 4], Zitate S. 318.

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politisch nutzbringend einzusetzen, weil sich die wichtigsten Politiker der Weimarer Republik zur Leitidee der »Volksgemeinschaft« bekannten, wie die »Ideen von 1914« demokratiekompatibel umgetauft worden waren. 45 Doch waren die »Ideen von 1914« naturgemäß nicht in der Weimarer Verfassung verankert – und dies warf ein schwerwiegendes Strukturproblem bei der Bestimmung dessen, was als »Geist der Weimarer Verfassung« gelten konnte, auf: Wer den Diskurs über einen politischen Leitbegriff – »Volksgemeinschaft« – befeuerte, der in der Verfassung selbst keinen festen Platz einnahm, der setzte sich der Gefahr aus, dass eine Berufung auf eben jene »Volksgemeinschaft« eine verfassungszersetzende Wirkung entfalten konnte. Insofern trugen wohlmeinende republikanische Streiter zu einer semantischen Entnormativierung der Weimarer Verfassung bei, wenn sie gewissermaßen als Staatszielbestimmung die Schaffung der »Volksgemeinschaft« proklamierten. Sie gaben damit jenen Tendenzen innerhalb der Rechtswissenschaft Auftrieb, welche »Volksgemeinschaft« einen zentralen Stellenwert bei der Definition der zentralen Kategorie der Weimarer Verfassung – dem Begriff »Volk« – zuwiesen. Gerade weil in der monarchischen Verfassung des Kaiserreichs »Volk« nicht der archimedische Punkt der Herrschaftslegitimation sein konnte, besaß die Weimarer Staatsrechtslehre ein gewisses definitorisches Nachholbedürfnis, mit diesem Zentralbegriff umzugehen. Auch dies öffnete einem nicht-normativen Volksbegriff Tür und Tor, für den Volk nicht mehr allein die Gesamtheit der Staatsbürger bedeutete, sondern eine werthaltige Erlebnis- und Tatgemeinschaft. Hindenburg hat – so ließe sich in Anschluss an Oliver Lepsius formulieren46 – einen innerhalb der Rechtswissenschaft bereits abrufbaren ideellen Volksbegriff aufgegriffen und damit den normativen Volksbegriff, welcher das Fundament demokratischer Teilhabe ist, ausgehöhlt. Die Wahl in das Amt des Reichspräsidenten verdankte der zu diesem Zeitpunkt fast 78-jährige Hindenburg seinem intakten Ansehen als Repräsentant dieser wichtigsten politisch-kulturellen Leitvorstellung. Als er die Reichspräsidentschaft antrat, tat er dies mit dem festen Vorsatz, von seinem neuen Amt aus die innere Einigung zur »Volksgemeinschaft« energisch voranzutreiben. In seiner ersten Ansprache als Reichspräsident – unmittelbar nach seiner Ver-

45 Dazu Wolfgang Hardtwig: Volksgemeinschaft im Übergang, in: Detlef Lehnert (Hg.): Gemeinschaftsdenken in Europa: Das Gesellschaftskonzept ›Volksheim‹ im Vergleich 1900–1938, Köln 2013, S. 227–253. 46 Vgl. die scharfsinnigen Überlegungen von Oliver Lepsius: Juristische Begrifflichkeit um 1933, in: Georg Bollenbeck/Clemens Knobloch (Hg.): Resonanzkonstellationen, Heidelberg 2004, S. 49–65, hier S. 56–59.

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eidigung am 12. Mai 1925 – sprach er »noch einmal ausdrücklich aus, daß ich mich dieser Aufgabe der Sammlung und Einigung unseres Volkes mit besonderer Hingabe widmen will«. 47 Damit aber erhob sich Reichspräsident Hindenburg tendenziell über die Verfassung, weil er aufgrund seines symbolischen Monopols einen nahezu unbeschränkten politischen Interventionsanspruch ableitete – eben um des der Verfassung übergeordneten Zieles der Herstellung wahrer Volksgemeinschaft willen. Wie er am 12. Mai 1925 in seinem ersten Aufruf als Reichspräsident proklamierte: »Das Reichsoberhaupt verkörpert den Einheitswillen der Nation«. 48 Hindenburg war also weit mehr als ein »Hüter der Verfassung«, der als oberster Regelwächter und politischer Schiedsrichter das Funktionieren des Verfassungswerks garantierte und an einem reibungslosen Zusammenspiel der wichtigsten Verfassungsorgane bestrebt war. Hindenburgs Herabstufung der Weimarer Verfassung zu einem Baukasten für sein verfassungsüberwölbendes Endziel war politischer Sprengstoff für das politische System der Weimarer Republik. Denn Hindenburg anerkannte kein Korrektiv in Gestalt eines aus dem Verfassungstext abgeleiteten »esprit de la constitution«. Er bezog sich nicht auf Handlungsgrundsätze, die aus einem »Geist« der Weimarer Verfassung erwuchsen. Seine hermeneutischen Anstrengungen fokussierten sich vielmehr auf die »Ideen von 1914«, die Hindenburg schon während des Weltkriegs in den »Geist von 1914« transformiert hatte. 49 Dabei arbeiteten ihm Strömungen in der Staatsrechtslehre seiner Zeit zu, welche – hier ist vor allem Carl Schmitt zu nennen – es als Aufgabe des »Hüters der Verfassung« auffaßten, diese Vorstellung politischer Einheit zur Richtschnur seines Handelns zu erheben. Damit nahm der Reichspräsident eine gewissermaßen extrakonstitutionelle Position ein, was seine Bindung an das Verfassungsgesetz anbelangt: »Er schützt eine Idee, keine Kompetenzordnung«.50 Diese hermeneutische Verfassungstranszendierung kam bereits in Hindenburgs einziger programmatischer Aussage bei seiner ersten Kandidatur für das Reichspräsidentenamt im Frühjahr 1925 überdeutlich zum Ausdruck. Hier hatte sich Hindenburg von einer Bindung an einen reglementierenden »Geist« der 47 Hindenburgs Ansprache nach seiner Vereidigung findet sich in: Verhandlungen des Reichstags, Bd. 385. Stenographische Berichte, Berlin 1925, S. 1721; vgl. zur Zielsetzung Hindenburgs auch Pyta, Hindenburg [wie Anm. 14], S. 483 f. 48 Abgedruckt in: Reichspräsident Hindenburg, Berlin 1927, Zitat S. 16. 49 Vgl. Pyta, Hindenburg [wie Anm. 14], S. 112 f. 50 Oliver Lepsius: Der Hüter der Verfassung – demokratietheoretisch betrachtet, in: Olivier Beaud (Hg.): La controverse sur le gardien de la constitution et la justice constitutionnelle, Paris 2007, S. 103–126, Zitat S. 115.

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Verfassung insofern gelöst, als er unmissverständlich darlegte, er halte »nicht die Staatsform, sondern den Geist für entscheidend, der die Staatsform beseelt«.51 Hindenburg hatte auch in diesem Text jedes Wort sorgfältig erwogen und den von einem Berliner Journalisten stammenden Entwurf 52 so redigiert, daß seine Proklamation seine Handschrift trug und »im reinsten Hindenburgdeutsch« publiziert wurde.53

V. Was waren die politischen Konsequenzen, die aus der hermeneutischen Ungebundenheit erwuchsen, die sich Hindenburg gegenüber der Weimarer Reichsverfassung herausnahm? Hindenburg betrachtete die Weimarer Verfassung als Gebrauchsanweisung, die nützliche Hinweise enthielt, wie er seine politischen Ziele zu erreichen vermochte. Dieses rein instrumentelle Verhältnis heißt aber nicht, dass sich Hindenburg beliebig und bedenkenlos über einzelne Verfassungsbestimmungen hinwegzusetzen gedachte. Hindenburg war bewusst, dass ein allzu robuster Umgang mit der Verfassung erhebliche politische Risiken für den Reichspräsidenten in sich barg. Denn eine formale Verletzung einzelner Verfassungsbestimmungen brächte den Reichspräsidenten in die politische Schusslinie, woran ihm allein aus Imagegründen nicht gelegen sein konnte. Hindenburg neigte daher zwecks Aufrechterhaltung seines symbolischen Kapitals dazu, diesen Weg einer Verfassungsdurchbrechung nur als »ultima ratio« zu beschreiten. Dass er ihn allerdings überhaupt ernsthaft in Erwägung zog, legt Zeugnis dafür ab, dass für ihn der Verfassungstext keine »roten Linien« enthielt. Da dem Reichspräsidenten die Ehrfurcht vor dem freiheitlich-demokratischen »Geist« der Verfassung fehlte, nahm er sich interpretatorische Willkür im Umgang mit einem Verfassungsdokument heraus,

51 Diese sogenannte »Osterbotschaft« Hindenburgs ist abgedruckt bei Hubatsch, Hindenburg und der Staat [wie Anm. 4], S. 187. 52 Der Entwurf stammt von dem populären, für die Hindenburgpresse tätigen Journalisten Adolf Stein, der sich allerdings Jahre später zu der Behauptung verstieg, Hindenburg habe seinen Entwurf wortwörtlich übernommen, was in diametralem Gegensatz zu Hindenburgs Umgang mit Texten wie zu den in der folgenden Anmerkung aufgeführten Zeugnissen aus der engsten Umgebung Hindenburgs steht. Vgl. Gerd Stein: Adolf Stein, alias Rumpelstilzchen, Berlin 2014, S. 198–200. 53 Vgl. die zuverlässigen Ausführungen von Hindenburgs an der Textgestaltung beteiligtem Büroleiters Otto von Feldmann: Türkei, Weimar, Hitler. Lebenserinnerungen eines preußischen Offiziers und deutschnationalen Politikers, Borsdorf 2013, Zitat S. 275.

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das für ihn lediglich funktionale Bedeutung im Sinne einer nützlichen Handreichung zur Ausübung seines Amts besaß. Daher mussten auch alle Versuche demokratischer Staatsrechtslehrer fehlschlagen, Hindenburg unter Berufung auf einen solchen »Geist der Verfassung« gewissermaßen einzufangen und auf den Boden der Verfassung zurückzuholen. Vor allen Dingen angesichts seiner exzessiven Auslegung des Notstandsartikels (Artikel 48 WRV ) griff die demokratische Staatsrechtslehre zu dem aus ihrer Sicht probaten Mittel, unter Rekurs auf den von ihr beschworenen demokratisch-parlamentarischen Wesenskern der Verfassung die präsidiale Interpretationshoheit über das Notstandsrecht einzuschränken.54 Hindenburgs Umgang mit Artikel 48 soll an dieser Stelle allerdings nicht weiter vertieft werden. Wir wollen uns darauf konzentrieren, Hindenburgs rein instrumentellen Gebrauch der Verfassung an zwei Konstellationen zu skizzieren, welche seinen interpretatorischen Spielraum abstecken: In der einen Variante stellt Hindenburg eine geradezu skrupulöse Beachtung der Verfassung zur Schau – aber nicht aus Ehrfurcht vor diesem staatlichen Grundgesetz, sondern als Waffe gegen politische Widersacher. In der zweiten Version springt er so mit der Verfassung um, dass er zentrale Verfassungsbestimmungen in einer Weise missachtet, dass er damit nach Ansicht seiner Berater den Rubikon zum offenen Verfassungsbruch überschreitet. Zum einen lieferte die Verfassung dem skrupellosen Machtpolitiker Hindenburg mehr als nur einmal Vorwände, um sich von missliebigen politischen Weggefährten zu trennen. In bestimmten Konstellationen konnte das Argument, solche Personen trieben den Reichspräsidenten in einen nicht tolerierbaren Bruch der Verfassung, Hindenburg unschätzbare politische Munition an die Hand geben. So setzte der Reichspräsident dieses Druckmittel ein, um die Stellung seines ersten Kanzlers einer Präsidialregierung, Heinrich Brüning, systematisch zu unterminieren. Da Brüning sich gegen eine Hereinnahme ausgesprochener Rechtskräfte sperrte, bereitete Hindenburg spätestens seit Beginn des Jahres 1932 die Entlassung Brünings vor. Doch wegen der außenpolitischen Erfolge dieses Kanzlers und seiner das katholische Milieu übersteigenden Reputation benötigte der Reichspräsident mehr denn je einen unanfechtbaren Trennungsgrund; und diesen sollte die Verfassung liefern. Denn Brüning hatte zu Jahresbeginn den Versuch unternommen, die Amtszeit Hindenburgs, die 1932 auslief, durch ein verfassungsänderndes Gesetz zu verlängern. Damit war er auf die Zustimmung der Nationalsozialisten im Reichstag angewiesen; und 54 Hierzu vor allem Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, Tübingen 2010, vor allem S. 534 ff.

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damit lief er Gefahr, dass die Hitler-Partei ihre Position nutzte, um Brüning in Scheinverhandlungen vorzuführen und ihn nach deren absehbaren Scheitern des Verfassungsbruchs zu bezichtigen. Die Tatsache, dass Hindenburg dieses abgekartete Spiel mitmachte und nur durch den Umstand, dass die beiden einflussreichsten Minister (Groener und Schleicher) Brüning den Rücken stärkten, von seiner Absicht abließ, ist ein Beleg dafür, wie sehr Hindenburg eine ihm wesensfremde Verfassung zur Erreichung seiner politischen Kernziele instrumentalisierte.55 Im Sommer 1932 hatte sich das Reich in eine verfassungspolitische Lähmung hineinmanövriert, da sich die Verfassungsorgane Reichspräsident und Reichstag gegenseitig blockierten. Nach der Entlassung Brünings und den darauffolgenden Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 konnte die allein vom präsidialen Vertrauen abhängige Reichsregierung Papen nicht mehr auf eine Tolerierung durch eine Reichstagsmehrheit hoffen. Der Reichstag konnte die Politik zwar nicht mehr positiv gestalten, aber Regierungshandeln lähmen, indem er präsidiale Notverordnungen aufhob und/oder der Präsidialregierung Papen sein Misstrauen entgegenschleuderte. Wenn Hindenburg die Logik eines die Verfassung transzendierenden Präsidialregimes ausreizen wollte, dann hätte er auch vor einem Bruch einzelner Verfassungsartikel nicht zurückschrecken dürfen. Und da Hindenburg vor dem Verfassungstext keinen Respekt besaß, verfügte er über die nötige innere Freiheit, mit der Verfassung in diesem robusten Sinne herumzuspringen, wenn es das politische Kalkül geraten erscheinen ließ. Es kann daher nicht verwundern, dass Hindenburg zweimal sein Plazet zu einer solchen Durchbrechung gab. Das erste Mal willigte er ein in einen Plan, der am 30. August 1932 auf seinem Gut im westpreußischen Neudeck erörtert wurde und daher als »Neudecker Staatsnotstandsplan« bezeichnet wird. Die Präsidialregierung wollte aus dem Dilemma herauskommen, dass der Reichstag das Regierungshandeln zu blockieren vermochte und verfiel daher auf einen von einigen Staatsrechtlern als legitim erachteten Ausweg, nach der Auflösung des Reichstags die verfassungsmäßig binnen 60 Tagen fällige Neuwahl auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Der ressortmäßig zuständige Reichsinnen-

55 Vgl. hierzu den Vermerk des Staatssekretärs der Reichskanzlei, Hermann Pünder, über die Verhandlungen zur Wiederwahl des Reichspräsidenten, 8. bis 13. Januar 1932, in: Politik und Wirtschaft in der Krise 1930–1932. Quellen zur Ära Brüning. Eingeleitet von Gerhard Schulz, bearb. von Ilse Maurer und Udo Wengst, Düsseldorf 1977, S. 1208– 1215, vor allem S. 1213, sowie die zuverlässigen Angaben in Brünings aus den Quellen gearbeiteten Erinnerungen: Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970, S. 508 f.

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minister Wilhelm von Gayl sowie Reichskanzler Franz von Papen mussten sich argumentativ nicht sonderlich exponieren, um Hindenburg für diese Lösung zu gewinnen. Gayl hatte Hindenburgs Verfassungsverständnis präzise erfasst, wenn er den Verfassungstext als politische Verfügungsmasse betrachtete, falls das übergeordnete Staatswohl dies erfordere: »Für uns stellt sich die Frage so, ob wir das für Deutschland Notwendige tun oder ob wir durch Rücksicht auf den Wortlaut der Verfassung uns daran hindern lassen wollen«.56 Hindenburgs hermeneutischer Umgang mit der Verfassung hatte die Schleusen für einen Verfassungsbruch geöffnet. Indem sich der Reichspräsident über alle textimmanenten Restriktionen bei der Auslegung der Verfassung hinwegsetzte, lud er zu interpretatorischer Willkür ein. Vor diesem Hintergrund diente die Berufung auf einen »Sinn« der Verfassung als Generalermächtigung, um beliebige Verfassungsartikel außer Kraft zu setzen. Da dieser der Verfassung unterstellte »Sinn« der interpretatorischen Verfügungsgewalt der Politik unterlag, konnten demokratiefeindliche Politiker in staatlichen Spitzenämtern den Versuch unternehmen, den demokratisch-freiheitlichen Kern der Weimarer Reichsverfassung auf einem solchen Weg zu beseitigen. Verfassungsminister Gayl lag daher ganz auf Hindenburgs Linie, wenn er in Neudeck »es durchaus mit dem Sinn der Verfassung für vereinbar [erklärte], wenn in Fällen eines staatlichen Notstands […] Wahlen über die sonst übliche Frist hinausgeschoben werden.«57 Und Reichskanzler Papen erteilte Hindenburg eine Art verfassungsrechtliche Generalabsolution für den Fall einer partiellen Abweichung vom Verfassungstext: »Wenn der Generalfeldmarschall und Reichspräsident von Hindenburg, der die Verfassung stets so peinlich getreu gehalten hat, sich entschließt, aus Gründen eines besonderen Notstands von der Verfassung einmal abzuweichen, so wird man sich im deutschen Volke durchaus damit zufrieden geben«.58 Hindenburg konnte mithin eine quasi-plebiszitäre Legitimation für einen solchen verfassungsdurchbrechenden Schritt für sich reklamieren. Daher konnte er an diesem Kurs auch in einer Konstellation festhalten, als das politische Risiko wuchs. Am 1. Dezember 1932 stand er erneut vor der Wahl, einen Weg einzuschlagen, der auch den Verfassungsbruch einschloss oder einen Ausweg zu suchen, der konfliktärmere Möglichkeiten des Auskommens mit dem Reichstag ernsthaft erwog. Und wieder optierte er bei voller Kenntnis 56 Niederschrift über die Neudecker Besprechung vom 30. August 1932, abgedruckt bei Hubatsch, Hindenburg und der Staat [wie Anm. 4], S. 339–343, Zitat S. 342. 57 Ebd., S. 341 f. 58 Ebd., S. 342.

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der »verfassungsrechtlichen Lage«59 für einen Konfrontationskurs, bei dem er sich bewusst für das »Kampfkabinett« Papen einsetzte, das der übergroßen Mehrheit der im Reichstag vertretenen Kräfte – von den Kommunisten bis hin zu den Nationalsozialisten – als politische Provokation erscheinen musste. In politischen Kreisen hatte sich herumgesprochen, dass Hindenburg in derartigen Konstellationen sich nicht auf den »Schutz der Verfassung« als oberste Richtschnur seines präsidialen Handelns festlegen würde: »Man kann ihn daraufhin wohl dazu bringen, den Reichstag aufzulösen, ohne ihn wiederwählen zu lassen«.60 Der Umstand, dass Hindenburg im August wie im Dezember 1932 zweimal zu einem Bruch der Verfassung seine Hand gereicht hätte, ist ein untrügliches Indiz dafür, dass Hindenburg die Logik des präsidialen Regierens bis zum Äußersten auszureizen bestrebt war. Allerdings war er Politiker genug, um sich eine Rückfallposition offenzuhalten. Diese Alternative sollte ebenfalls die Weimarer Verfassung aushöhlen und liquidieren – aber ohne dass sich Hindenburg in Gestalt eines Verfassungsbruchs exponiert hätte. Diese Variante kam schließlich mit der Ernennung Hitlers zum Kanzler eines »Kabinetts der Nationalen Konzentration« deswegen zum Zuge, weil sie aus Sicht Hindenburgs dasselbe Ziel mit Mitteln erreichte, die ihn aus der politischen Schusslinie nahmen. Wenn es gelang, einen formal mit der Weimarer Verfassung in Einklang stehenden Weg zu finden, um den Reichstag auf eine äußerlich verfassungskonforme Weise auszuschalten, ohne dabei zum Bruch von Artikel 25 greifen zu müssen, zog Hindenburg diese Lösung vor.61 Hitler hatte diese Präferenz erkannt, als er am 19. November 1932 im bis dahin ersten Vieraugengespräch zwischen beiden eine solche Lösung erstmals ins Spiel brachte. Hitler offerierte dem Reichspräsidenten einen Ausweg aus der verfassungspolitischen Sackgasse, bei dem der Verfassungstext im engeren Sinne nicht verletzt, der Geist der Weimarer Verfassung hingegen gänzlich ausgelöscht werden würde. Der Kern dieser Offerte bestand in folgender Überlegung: Hitler verlangte zwar präsidiale Vollmachten wie die Auflösung des Reichstags, auf welche die anderen Kanzler der Hindenburgschen

59 Aktennotiz von Otto Meissner über Besprechungen beim Reichspräsidenten, 1. und 2. Dezember 1932, in: ebd., S. 367. 60 So gab der Reichstagsabgeordnete der DNVP, Martin Spahn, die Ausführungen des DNVP-Parteivorsitzenden Hugenberg in der Sitzung der Reichstagsfraktion am 5. Dezember 1932 wieder. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Spahn, N 1324, Nr. 175, Zitat Bl. 8 der stenographischen Notizen Spahns. 61 Vgl. dazu ausführlich: Pyta, Hindenburg [wie Anm. 14], vor allem S. 791–805.

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Präsidialkabinett ebenfalls hatten zurückgreifen können. Aber Hitler wollte sich mit dieser präsidialen Autoritätszufuhr eine Stellung verschaffen, in welcher der Reichskanzler auf präsidiale Vollmachten verzichten konnte, weil ihm der Reichstag zu einer nahezu diktaturgleichen Position verhalf, und zwar mittels eines Ermächtigungsgesetzes. Bereits im Jahre 1923 hatte der Reichstag der Regierung solche begrenzten Vollmachten übertragen – und dieses erprobte Mittel sollte nun dazu dienen, die Weimarer Republik auf legale Weise endgültig zu beseitigen, ohne dass der Reichspräsident einen Verfassungsartikel brach. Dazu sollte der Reichspräsident den Weg für Neuwahlen freimachen, in denen Hitler den Hindenburgmythos mit Billigung des Reichspräsidenten für sich und seine Partei würde politisch so ausbeuten können, dass eine politische Dynamik entfesselt werden würde, die der Regierung im neuen Reichstag eine Mehrheit für ein Ermächtigungsgesetz bescheren würde: »Ich glaube, daß ich eine Basis finden würde, auf der ich und die neue Regierung vom Reichstag ein ›Ermächtigungsgesetz‹ bekämen. Eine solche Ermächtigung wird vom Reichstag niemand anderes als ich bekommen. Damit wäre die Schwierigkeit gelöst«.62 Hitler hat diesen »Königsweg« in einem Schreiben vom 23. November 1932 noch einmal schriftlich fixiert: »Es ist daher in der Zukunft die Aufgabe eines Kanzlers, […] sich eine Mehrheit für ein aufgabemäßig begrenztes und zeitlich fixiertes Ermächtigungsgesetz zu sichern.«63 Hitler verband dies mit der versteckten Drohung, dass Hindenburg sich in eine bedrohliche politische Gefahrenzone begebe, wenn er stattdessen Auswege beschreite, die nicht mit einzelnen Verfassungsartikeln zu vereinbaren seien.64 Dass sich ausgerechnet die NSDAP als Hüterin der Verfassung aufspielte, belegt die Skrupellosigkeit ihres Vorgehens. Aber wegen der strategischen Schlüsselposition im Verfassungsorgan Reichstag konnte die Hitler-Partei einen Reichspräsidenten in Bedrängnis bringen, der den Reichstag durch offenen Verfassungsbruch für eine bestimmte Zeit auszuschalten gedachte. Es war daher aus Hindenburgs Sicht opportun, Hitlers ausgestreckte Hand zu ergreifen und ihn zu diesen Konditionen zum Kanzler eines »Kabinetts der Nationalen Konzentration« zu ernennen, das nur dem äußeren Anschein nach ein weiteres Präsidialkabinett war. Hindenburg stellte der Regierung Hitler seine präsidialen Vollmachten, der Hitler-Partei das politische Kapital seines Images zur Verfügung und ermöglichte es, dass die Reichstagswahl vom 5. März 1933 62 So Hitler gemäß der Aufzeichnung über dessen Besprechung mit Hindenburg, 19. November 1932, abgedruckt bei Hubatsch, Hindenburg und der Staat [wie Anm. 4], S. 352. 63 Schreiben Hitlers an Meissner, 23. November 1932, in: ebd., S. 358. 64 Vgl. ebd., S. 359.

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auch als Plebiszit für die Richtigkeit seiner am 30. Januar 1933 getroffenen Personalentscheidung aufgefasst wurde. Der Wahlerfolg der NSDAP – knapp 44 % der abgegebenen Stimmen – leitete eine politische Eigendynamik ein, die in ein Ermächtigungsgesetz mündete, das die Weimarer Republik trotz fortbestehender Verfassungshülle endgültig zu Grabe trug. Ziehen wir abschließend ein knappes Fazit: Als Berufsmilitär stellte für Hindenburg ein Verfassungstext wie die Verfassungsurkunde der ersten deutschen Demokratie eine fremde Textsorte dar. Seine Lektüreerfahrung fußte auf einem engen Kanon militärischen Schrifttums; und auch als Reichspräsident ließ sich Hindenburg nicht mit hermeneutischem Wohlwollen auf eine Verfassung ein, die er mit Hilfe seiner militärischen Übersetzungshilfe rezipierte. Reichspräsident Hindenburg sprang mit der Verfassung nach Gusto um – und er ließ es an respektvollem Umgang mit der Grundordnung des republikanischen Staatslebens vermissen, weil er einen doppelten extrakonstitutionellen Standpunkt einnahm. Als Militär war er in einem Staatswesen aufgewachsen, das seinem obersten Dienstherrn, dem Monarchen, extrakonstitutionelle Prärogativen sicherte. So trat eine Verfassung mit ihren komplexen Regelungsmechanismen nicht in seinen Denkhorizont. Als Reichspräsident entwickelte er sich nicht weiter, sondern pflegte eine kühle Distanz zu einem Regelwerk staatlichen Handelns, an das er sich nicht wirklich gebunden fühlte. Der zweite extrakonstitutionelle Standort resultierte daraus, dass Hindenburg in einer vorkonstitutionellen politischen Vorstellungswelt gefangen war, die als »Ideen von 1914« im Weltkrieg geboren wurde und die in der Republik als »Volksgemeinschaft weiterlebte. Die antipluralistische Eliminierung gesellschaftlicher und politischer Heterogenität, die in diesem Konzept angelegt war, stand in klarem Gegensatz zu einem »Geist« der Weimarer Verfassung, der sich auf einen normativen Volksbegriff berief und dafür explizit auf den Verfassungstext Bezug nehmen konnte. Dass der Reichspräsident ausgerechnet diese werthaft aufgeladene Leitvorstellung zum normativen Fluchtpunkt bei der Legitimierung seiner den Verfassungsbruch nicht scheuenden Verfassungspolitik machte, ist nicht nur ein Beleg dafür, dass sich Hindenburg in seiner Eigenschaft als Amtsträger nicht produktiv auf die Verfassung einließ. Mit Hilfe der »Volksgemeinschaft« strebte er letztlich erfolgreich eine »feindliche Übernahme« der Weimarer Verfassung an, die auf diese Weise normativ entkernt und entseelt wurde und als Fassade bis 1945 eine kümmerliche Existenz fristete.

Anthony McElligott

Der Landrat Herbert von Bismarck und die Weimarer Republik Verfassungskultur und Gegenkultur

I. Die Weimarer Verfassung1 wird selten in Bezug auf die politische Kultur der Republik oder aus kulturpolitischer Sicht betrachtet. Fast ausnahmslos konzentrieren sich Historiker/innen auf ihre offensichtlichen Mängel, ihre inhärenten Widersprüche, ihren Kompromisscharakter, ihre Schwächen.2 Fachwissenschaftliche Studien fokussieren sich in der Regel auf bestimmte juristische oder technische Aspekte der Verfassung von 1919.3 Im Allgemeinen fehlt in Studien über politische Kulturen der Zwischenkriegszeit eine Diskussion der Verfassungen oder des Konstitutionalismus an sich. 4

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Die hier präsentierte Argumentation wird ausführlicher dargelegt in: Anthony McElligott: Rethinking the Weimar Republic: Authority and Authoritarianism, 1916–1936, London 2014, Kap. 7. Hans Mommsen: Die Verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang, 1918 bis 1933, Berlin 1989, S. 63–74; Heinrich-August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 99–108; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, 1914–1949, München 2003, S. 350–353; Ulrich Kluge: Die Weimarer Republik, Paderborn 2006, S. 41–44; Ursula Büttner: Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008; Eberhard Kolb/ Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, 8. überarb. Aufl., München 2013, S. 179–195. Eine Ausnahme von diesem Ansatz ist Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik: Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 44–52. Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Berlin 1999; Achim Kurz: Demokratische Diktatur? Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919–25, Berlin 1992. Wolfgang Hardtwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005.

Der Landrat Herbert von Bismarck und die Weimarer Republik

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Die ersten Fragen, die zu stellen sind, lauten: Was ist unter Verfassungskultur zu verstehen? Wie nimmt sich eine solche als Bestandteil der politischen Kultur der Weimarer Republik aus? Was benötigt eine Verfassung, um Kultur zu werden? Können ›trockene‹ Paragraphen eines Vertrages zwischen Staat und Volk, wie 1929 die »Berliner Börsen-Zeitung« fragte, kulturell wirksam werden? Können Staatssymbole, wie die eingeführte Nationalflagge Schwarz-Rot-Gold bzw. der neu entworfene, für eine Republik angepasste Reichsadler, alleine eine Verfassungskultur schaffen? Genügen die alljährlichen großen Aufmärsche des Reichsbanners am Verfassungstag – man denke etwa an die von 1926 knapp zwei Jahre nach seiner Gründung und insbesondere die von 1928 mit Bezug auf die Paulskirche in Frankfurt 1848 oder wieder die zum 10-jährigen Jubiläum der verfassungsmäßigen Republik 1929 –, eine Verfassungskultur zu vermitteln?5 Äußere Symbole und Aufmärsche waren wichtige Beiträge zur ›Sichtbarmachung‹ der Republik. Dass diese Aufmärsche als kämpferische, wenn auch defensive Ansagen der demokratischen Kräfte Deutschlands gegenüber ihren Gegnern aufzufassen sind, wie 1929 Reichsinnenminister Carl Severing (SPD) vor der Staatsoper am Platz der Republik bekräftigte, ist ebenso klar. Dennoch handelte es sich bei den vielen tausend Beteiligten an diesen Kundgebungen nur um einen Bruchteil der damaligen Bevölkerung und ohnehin um »Herzensrepublikaner«. Wie verhielt es sich mit den übrigen Deutschen? Hatten die Tausende, die dem feierlichen Abschreiten der Ehrenkompanie auf dem Platz der Republik durch Reichspräsident Paul von Hindenburg 1927 zusahen, die Verfassung von 1919 verinnerlicht? Oder standen sie ihr wenn nicht feindlich, dann einfach gleichgültig gegenüber, wie Udo Di Fabio lapidar in seiner Darstellung zur Verfassung bemerkte?6 Reichskanzler Joseph Wirth konnte 1921 weder den Historiker und »Vernunftrepublikaner« Hermann Oncken noch den württembergischen Staatspräsidenten Johannes von Hieber (DDP) überzeugen, die Verfassungsrede zu halten. Doch in späteren Jahren fiel es leichter, solche Redner zu gewinnen. Die Weimarer Verfassung wurde von ihren Autoren und ihren Anhängern als »lebendiges« Instrument zur Gestaltung eines neuen aktiven Bürgertyps 5

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Manuela Achilles: Re-Forming the Reich: Symbolics of the Republican Nation in Weimar Germany, Univ. Michigan Ph.D. diss. 2005; dies.: With a Passion for Reason: Celebrating the Constitution in Weimar Germany, in: Central European History 43 (2010), S. 666–689; Nadine Rossol: Performing the Nation in Interwar Germany. Sport, Spectacle and Political Symbolism, 1926–36, Basingstoke 2010. Udo Di Fabio: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern. Eine verfassungshistorische Analyse, München 2018, S. 83: »die öffentliche Aufmerksamkeit dafür war gering.«

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und damit als Bruch mit dem Untertanenkonzept der Bismarck- und der Wilhelminischen Zeit verstanden.7 Der Sozialdemokrat Gustav Radbruch sprach bei der Verfassungsfeier in Flensburg 1926 von der »lebendige[n] Verfassung«. »Damit meine ich«, erläuterte er, »nicht das Blatt Papier, auf dem die Verfassung geschrieben steht. Ich meine das Leben, das diese papierne Verfassung zu wecken gewußt hat. Eine Verfassung lebt nur, wenn sie nicht nur ein Blatt sein soll, sondern wenn sie ist ein Geist in allen.«8 Was »Geist in allen« meinte, formulierte Heinrich Mann bereits 1925: »Wollen wir die deutsche Republik ›inszenieren‹, nicht aber, wie bisher oft schien, in den Kulissen verstecken? Dann müssen wir auf Schritt und Tritt die Leute an sie erinnern. Kein öffentliches Gebäude, keine gedruckte öffentliche Bekanntmachung ohne die Überschrift: »Deutsche Republik«. Auf allen Briefmarken: ›Deutsche Republik‹. […] Man muss, um die Republik zu behaupten und ins Werk zu setzen, den Leuten ganz, ganz anders kommen. Briefmarken und Amtsschilder sind nur die kleinsten Beispiele. Kein Deutscher darf tagaus tagein in einer anderen Luft leben können als in der der Republik.«9 Die Verfechter der Republik waren also bemüht, die Verfassung zum Bestandteil des ›Ichs‹ eines jeden Bürgers zu machen. Eine integrierende Verfassungskultur sollte somit auch zum integralen Bestandteil von Alltagspraxen und Wahrnehmungsweisen jedes Einzelnen werden. Der Schriftsteller Mann erkannte scharfsinnig die Wichtigkeit des Alltäglichen und Unscheinbaren für die Hervorbringung eines neuen republikanischen Typs. Trotzdem wurde die Schaffung dieses neuen Mannes,10 der die demokratischen Prinzipien der Verfassung voll und ganz kannte und ver-

  7 Richard J. Evans sieht das Problem in der Kontinuität der politischen Kulturen Bismarcks und des Wilhelminischen Staates und nicht in den angeblichen Defiziten der Verfassungskultur der Republik; vgl. Richard J. Evans: The Coming of the Third Reich. How the Nazis Destroyed Democracy and Seized Power in Germany, New York 2003, S. 85.   8 Gustav Radbruch: Der Geist der deutschen Reichsverfassung, in: »Flensburger Volkszeitung« vom 12. August 1926, abgedruckt in: Hans-Peter Schneider (Hg.): Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 14: Staat und Verfassung, Heidelberg 2002, S. 94–104, hier S. 94.   9 Die Inszenierung der Republik, in: »Vossische Zeitung« Nr. 88 vom 12. April 1925, Erste Beilage, zit. nach: Christian Welzbacher (Hg.): Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in der Weimarer Republik 1918–1933, Weimar 2010, S. 78 f. 10 Dazu Anthony McElligott: The German Urban Experience, 1900–1945. Modernity and Crisis, London 2000.

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körperte, nie richtig verwirklicht, da die weltwirtschaftlichen Ereignisse ab 1929 das »Experiment« Republik überholten. Zudem ist fraglich, ob die Verfassungsabschnitte die Deutschen nach 1919 nachhaltig prägen konnten, auch wenn die Reichszentrale für Heimatdienst in ihrer Jubiläumsschrift eben das behauptete.11 Im Verfassungsausschuss 1919 erreichte Oskar Cohn (USPD), dass jeder Schulabgänger eine Ausgabe der Verfassung erhielt. Doch wurde sie von diesen auch gelesen? Der Geistliche Friedrich August Pinkerneil meinte nicht: »Von den über 60 Millionen Deutschen haben bislang noch keine Million die Verfassung richtig durchgelesen. Und denen, die es getan haben, ist sie zu keiner die Festesfreude fördenden Lektüre geworden.«12 Wirth musste sogar in seiner Verfassungsrede 1930 die Frage stellen, »wie schaffen wir ein unmittelbares Verhältnis von Wählervolk und Staat?«13 Der Politologe Hans Vorländer hat die Weimarer Verfassung als »eine Verfassung ohne Verfassungskonsens« bezeichnet.14 Ich bin auf diese Problematik an anderer Stelle ausführlich eingegangen,15 so dass ich dies hier nur kurz streife. Während der Weimarer Republik gab es – beginnend 1921, zuletzt 1932 – zwölf reichsweite Verfassungsfeiern. Was allerdings an diesem 11. August gefeiert wurde, war nicht die Verfassung an sich, stattdessen wurde der 11. August als Gelegenheit genutzt, die Bevölkerung über tagesaktuelle bzw. historische Themen zu unterrichten. Die Verfassung an sich wurde nirgendwo sichtbar. Indes war sie bei manchen offiziellen Verfassungsfeiern auf lokaler Ebene präsent. Dennoch konnten solche Verfassungstage nicht mit der Popularität der von verschiedenen Verbänden und den üblichen Schützenvereinen organisierten Feiern des Sedantags am 2. September oder des Kaisergeburtstags am 27. Januar mithalten.

II. Wie bereits erwähnt, konzentrieren sich Wissenschaftler – wie etwa neuerdings Di Fabio – fast ausschließlich auf die sogenannten allgemeinen Defizite der Verfassung. Mich hingegen interessiert genau der von Heinrich Mann in 11 Reichszentrale für Heimatdienst: Deutscher Lebenswille, Berlin 1930, S. 11. 12 Dr. Fr. A. Pinkerneil: Kapuzinerpredigt zum Verfassungstag, in: »Berliner Börsen-Zeitung« vom 11. August 1929. 13 Verfassungsrede gehalten von Reichsminister des Innern Dr. Wirth bei der Feier der Reichsregierung am 2. August 1930, Berlin 1930, S. 12–16. 14 Hans Vorländer: Die Verfassung: Idee und Geschichte, 3., überarb. Auflage München 2009, 74. 15 McElligott, Rethinking [wie Anm. 1].

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den Mittelpunkt gerückte Alltag der Verfassung: wie sie verwirklicht und wie mit ihr umgegangen wurde. Nicht wie üblich von der lautschreienden Kritik an der Republik und ihrer Verfassung, sondern von dem scheinbar passiven zersetzenden Verhalten als politischer Gegenkultur ist hier die Rede. Da die Weimarer Verfassung von Anfang an als »Gesetzbuch der Republik« betrachtet wurde,16 war es auch wichtig, dieses »Gesetzbuch« als etwas Reales für die Masse der Bevölkerung erfahrbar zu machen, die dann wahrnehme, wie Carl Severing meinte, »dass sie nicht nur aus Paragraphen besteht.«17 Es war daher Aufgabe der Beamten des Staates, insbesondere derjenigen, mit denen die Bevölkerung im Alltag zu tun hatte, die Verfassung »lebendig« im Sinne Radbruchs werden zu lassen. Längst folgt die Wissenschaft mit Recht den Ansichten des von den Nationalsozialisten kurz vor Ende des Krieges ermordeten SPD -Politikers und Widerstandskämpfers Julius Leber oder auch des Juristen und Verfechters der Verfassung Arnold Brecht, dass die Republik von Weimar zum Teil von der eigenen Verwaltung unterminiert wurde. In einem Aufsatz für den »Lübecker Volksboten« vom 14. Mai 1926 bemerkte Leber: »Loyal gegen die Verfassung. Dieses Wort ist im Laufe der Jahre für viele Beamte eine Ausrede geworden. Sie tun nichts, was in der Verfassung irgendwie ausdrücklich verboten ist. Im übrigen aber sabotieren sie die Verfassung, machen monarchistische Propaganda, bekennen sich zu Schwarz-Weiß-Rot, schimpfen auf Demokratie und Parlament.« Obwohl sich die Forschung in erster Linie für die höhere Beamtenschaft interessiert, war die Mehrzahl der Beamten auf den unteren Ebenen der Kommunen zu finden, darunter auch der Landrat. Deshalb richtet sich unser Blick nicht auf die Großstädte Deutschlands, sondern auf die kleinen und mittleren Gemeinden der Provinz. Damals lebten zwei Drittel der Bevölkerung in kleinen ländlichen Gemeinden und weitere zehn Prozent in Kommunen mit weniger als 5.000 Einwohnern. Das heißt: Etwa die Hälfte der Deutschen lebte in der Provinz, wo das Schicksal Weimars auch seinen Lauf nahm. In diesen Räumen spielten die Landräte, deren Zahl in Preußen während der Weimarer Republik von etwa 480 auf 405 verringert worden war und die 16 Artikel »Das Verfassungswerk ist angenommen«, in: »Berliner Volks-Zeitung« vom 1. August 1919, Morgenausgabe. 17 Carl Severing: Reichsbanner wahrt Frieden und Freiheit, in: »Berliner Volks-Zeitung« vom 11. August 1929, Morgen-Ausgabe.

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über eine beträchtliche Autorität verfügten, eine entscheidende Rolle dafür, ob und inwieweit die Weimarer Verfassung in der alltäglichen Kultur realisiert wurde. Autorität kam ihnen nicht nur aufgrund ihrer Stellung als Vermittler zwischen Staat und Volk zu, sondern auch durch ihr ›natürliches‹ Führertum, insbesondere dort, wo es sozusagen ›organisch‹ aus der lokalen Landschaft herauswuchs.18 Dies gilt vor allem im ostelbischen Gebiet. Zunächst ist anzumerken, dass nach den großen Verwaltungsreformen, beginnend mit der von Preußen erlassenen Verordnung vom 26. Februar 1919, die überwiegende Zahl der Landräte Preußens bis Mitte der 1920er Jahre entweder »Vernunft-« oder »Herzensrepublikaner« waren, besonders in den westlichen Provinzen, wo sie meistens eine bürgerliche Herkunft aufwiesen.19 Östlich der Elbe sah das anders aus. Hier war der Landrat traditionsgemäß von adliger Herkunft, oft Rittergutbesitzer, und daran änderte die Revolution zunächst wenig. Erst nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch von 1920 wurden 88 Landräte entlassen oder versetzt. Nach dieser Säuberung war laut Hans-Karl Behrend auch in den ostelbischen Provinzen überwiegend der republiknahe Landrat zu finden. Behrend kommt zu dem Ergebnis, dass von 192 Landräten (von insgesamt 296) in den ostelbischen Provinzen Brandenburg, Pommern, Ostpreußen und Posen-Westpreußen ein Drittel Mitglieder der SPD und fast ein Viertel der DDP waren, 13,4 Prozent der DVP und 12,5 Prozent dem Zentrum nahestanden. Weitere 17,3 Prozent gaben eine politische Zugehörigkeit zur DNVP an.20 Dieser Befund stimmt mit den Ergebnissen einer

18 Margun Schmitz: Der Landrat. Mittler zwischen Staatsverwaltung und kommunaler Selbstverwaltung: Der Wandel der funktionellen Stellung des Landrats vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Baden-Baden 1991. 19 Preußische Gesetzsammlung (1919), Nr. 13, col. 11743: Verordnung betreffend die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den Ruhestand, vom 26. Februar 1919. Hans Fenske: Monarchisches Beamtentum und demokratischer Rechtsstaat: Zum Problem der Bürokratie in der Weimarer Republik, in: Demokratie und Verwaltung: 25 Jahre Hochschule für Verwaltung Speyer, Berlin 1972, S. 117–136, hier S. 125. Allgemein: Eberhard Pikart: Preußische Beamtenpolitik 1918–1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 119–137, und McElligott, Rethinking [wie Anm. 1]. 20 Hans-Karl Behrend: Zur Personalpolitik des preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratstellen in den östlichen Provinzen 1919–1933, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 6 (1957), S. 173–214, hier S. 203 f. Zum Vergleich: Hans-Peter Ehni: Zum Parteiverhältnis in Preußen 1918–1932. Ein Beitrag zu Funktion und Arbeitsweise der Weimarer Koalitionsparteien, in: Archiv für Sozialgeschichte 11 (1971), S. 241–288. Ehni geht von 416 Landräten aus, einer zu hohen Zahl für Preußen nach 1920. Er gibt ihre politische Zugehörigkeit folgendermaßen an: 183 (44 Prozent) der Parteien der »Weimarer Koalition« (81 Zentrum, 55 SPD, 47

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1929 veröffentlichten Einzelstudie von Ernst Hamburger, seinerzeit Beamter im preußischen Innenministerium und SPD -Landtagsabgeordneter, überein, der feststellte, dass die Hälfte der 408 preußischen Landräte den Weimarer Koalitionsparteien angehörte, gefolgt von der DVP, und nur 17 der DNVP; der Rest war ohne Parteizugehörigkeit.21 Dennoch ließ sich in manchen Landkreisen ein gewisses trotziges Verhalten gegenüber republikanischer Autorität beobachten, insbesondere in den rückständigen und strukturell geschwächten Gebieten Pommerns, in denen – trotz rückläufiger Zahlen – die junkerlichen Landräte und ihresgleichen weiterhin großen Einfluss ausübten.22 Die 2003 verstorbene Politologin Lysbeth Muncy schrieb in ihrer bahnbrechenden Studie von 1947 über die ostelbischen Junker: »Hier in ihrer Heimat blühte die Arroganz der Junker, herrschende Selbstbehauptung und Verachtung für Reformen.«23 Muncy hält diese Verachtung für so bedeutend, dass sie die Umsetzung der republikanischen Politik vor Ort behinderte. In der Tat: Heinrich Manns Beobachtung, dass es ganze soziale Gruppen gab, die nach 1918 ihre eigenen Versionen von »Deutschland« als Kontrapunkt zur Republik konstruierten, trifft nirgendwo mehr zu als für die »Backwaters« von West- bzw. Ostpreußen und insbesondere in Hinterpommern.24 Hier auf dem flachen, dünn besiedelten Land herrschte der Landrat wie ein König, wie damals die »Breslauer Volkszeitung« schrieb. Und keiner mehr als Herbert von Bismarck, Enkel des älteren Bruders des Eisernen Reichskanzlers Otto von Bismarck. Bismarck erblickte am 29. August 1884 in Stettin als Sohn des Ehepaars Graf Philipp von Bismarck und Hedwig (geborene von Harnier) das Licht der Welt. Er wuchs auf den Familiengütern von Kniephof (Kreis Naugard) und Lasbeck (Kreis Regenwalde) auf. 1912 heiratete er Maria Kleist-Retzow, deren Vater im benachbarten Belgard Landrat gewesen war. Mit ihr und mit seinen acht

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DDP); 74 (17,7 Prozent) DVP; nur 6 (0,14 Prozent) DNVP; die restlichen 153 sind als »unbekannt« angegeben. Allerdings gehörten sie de facto entweder der DNVP an oder standen dieser nahe. Ernst Hamburger: Verwaltung, in: Der Beamte 1 (1929), S. 335–338; Albert Falkenberg: Beamtenauslese als Gesellschaftsproblem, in: Der Beamte 3 (1931), S. 203–205. Falkenberg war SPD-Reichstagsabgeordneter und Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes. Bis 1931 gab es nur noch 14 Junker-Landräte. Behrend, Die Besetzung der Landratstellen [wie Anm. 18], S. 128 f.; Shelley Baranowski: The Sanctity of Rural Life, Nobility, Protestantism and Nazism in Weimar Prussia, New York/Oxford 1995. Lysbeth W. Muncy: The Junkers and the Prussian Administration from 1918 to 1937, in: Review of Politics 9 (1947), S. 488 und S. 493. Andreas Kossert: Ostpreussen. Geschichte und Mythos, München 2005, S. 140–273.

Der Landrat Herbert von Bismarck und die Weimarer Republik

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Kindern – das sechste Kind, Herbert, starb – lebte er auf den Familiensitzen in Lasbeck und in Henkenhagen bei Kolberg an der Ostsee. Als Großneffe des »Eisernen Kanzlers« Fürst Otto von Bismarck war Herbert mit den altadligen Familien Hinterpommerns, wie etwa den Puttkamers, eng verbunden. Seine Welt war geprägt von den Traditionen dieser ostelbischen Junker. Er besuchte das König-Wilhelm-Gymnasium in Stettin, wo er sich als gewissenhafter und intelligenter Schüler und als ausgezeichneter Sportler erwies. Nach dem Schulabschluss studierte er Rechtswissenschaften, Rechtsmedizin, Literatur und Diplomatiegeschichte an den Universitäten München und Lausanne sowie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Anschließend kehrte er nach Pommern zurück. 1906 promovierte er über Vertragsrecht an der Universität Greifswald. Bald darauf trat Bismarck in den öffentlichen Dienst ein und bestand im November 1911 das zweite Staatsexamen; im folgenden Januar wurde er Regierungsassessor. In diesen Jahren bewies er Verwaltungstalent und Fleiß, wohin auch immer seine Vorgesetzten ihn vorübergehend entsandten. Während des Ersten Weltkrieges diente Bismarck als Stabsoffizier beim 10. Infanterie-Regiment und zuletzt als Verwaltungsoffizier bei der »Formation Reichskanzler« der Obersten Heeresleitung. Nach dem Krieg demobilisiert, blieb er Reserveoffizier. Sein Gespür für die Verwaltung und seine Verbindungen zur Region gereichten ihm zum Vorteil, als die Regenwalder Landratsstelle im November 1918 frei wurde. Bismarck war gerade 29 Jahre alt, als er Ende November auf Probe nach Regenwalde kam. Regenwalde war bis zu seiner Verlegung in den Bezirk Köslin im Jahr 1938 einer von zwölf Landkreisen, die den Bezirk Stettin bildeten. Der Kreis umfasste eine Fläche von 1191 km2 und hatte knapp 50.000 Einwohner in vier kleinen Städten und etwas mehr als einhundert Dörfern mit durchschnittlich 200 bis 300 Einwohnern. Das Verwaltungszentrum war die Kleinstadt Labes (heute Lobez in Polen). Zwar herrschte hier im Kreis das Junkertum, aber die Revolution von 1918 verlieh sowohl Sozialdemokraten als auch Unabhängigen Sozialisten und später Kommunisten das Selbstvertrauen, die Macht der alten herrschenden Klasse herauszufordern. Wie in den Landkreisen des Bezirks Gumbinnen gab es in Stettin eine starke linke/liberale Präsenz. Sogar im angeblich reaktionären Kreis Stettin in Pommern konnte sich die SPD gegenüber der DNVP behaupten.25 Wie anderswo in Pommern gab 25 Für die Wahlbewegungen der Provinzen Posen-Westpreußen, Ober- und Niederschlesien, Brandenburg und Pommern siehe: Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann (Hg.): Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 104–106.

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es auch hier für kurze Zeit Unruhe und Gutsbesetzungen durch radikalisierte Landarbeiter.26 Verteilung der Sitze in den Kreistagen im Bezirk Stettin 1929 NS

bürg. Ag.1

DNVP

DVP

WP

Anklam

2

7

2

Cammin

2

12

1

1

11

2

1

Demmin Greifenberg Greifenhagen

MSPD

KPD

Andere

Sitze insge samt

1

9

1

1

5

1

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24

8

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24

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1

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26

6

77

13

30

271

29

83

7

103

335

13

22

[keine Angaben]2

Naugard

13

Pyritz

4

9

Randow

1

5

Regenwalde

1 2

3

17

Saatzig

1

Uckermünde

1

UsedomWollin

2

Gesamt

13

1919

DDP

13

2

6

4 4

1

2

36

74

10

12

90

102

14

25

1. Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft. 2. 1919, DNVP: 12; DVP: 5; DDP: 4; MSPD: 8. 3. 1919 USPD. a) regionale Splittergruppe. b) Polen. c) verschiedene unbestimmte Gruppen. d) Christlich-Konservative e) Mittelstand f) verschiedene rechte Gruppen. Quelle: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 77/4087 (1929), Bl. 25–27, Reg. Präs. Pr. IVc 3327 II, 9. Dezember1929, Bl. 29. 26 Eric D. Kohler: Revolutionary Pomerania, 1919–20: A Study in Majority Socialist Agricultural Policy and Civil-Military Relations, in: Central European History 9 (1976), S. 250–293; Jens Flemming: Die Bewaffnung des ›Landvolkes‹: Ländliche Schutzwehren und agrarischer Konservatismus in der Anfangsphase der Weimarer Republik, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2 (1979), S. 7–36.

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Trotzdem blieb in manchen Kreisen wie Regenwalde das pommersche Patriarchat noch intakt. Bei den ersten Kreistagswahlen 1919 gewann die konservative Liste mit 62 Prozent 18 der 29 Sitze und verfügte über eine satte Mehrheit gegenüber acht Sitzen für die MSPD und drei Sitzen für die Liberalen. Dennoch schwand, formell gesehen, seine Macht mit der Revolution, informell aber übte es nach wie vor Einfluss aus, insbesondere auf den herrschaftlichen Gütern, wie z. B. Bismarcks Geburtshaus Kniephof, wie die amerikanische Historikerin Shelley Baranowski überzeugend gezeigt hat.27 Am 10. März 1920 leistete Bismarck den Treueeid auf die Reichsverfassung und am 6. Mai 1921 auf die Preußische Verfassung. Er wurde gewissermaßen ein »Vernunftrepublikaner«, wie er selbst zehn Jahre später behauptete. Als Spross der junkerlichen Elite war er nicht nur bei seinen Standesgenossen sehr beliebt, sondern genoss sogar die Zustimmung der Regenwalder Sozialdemokraten (zumindest am Anfang seiner Amtszeit). Vom konservativen Regierungspräsidenten Leopold Höhnen (DVP) wurde er hoch geschätzt. Bismarck war, nach allen Berichten, menschengewandt und ein Pragmatiker. Der neue Landrat verfügte über ausgezeichnete kommunikative Fähigkeiten und ein schnelles Verständnis der wichtigsten Verwaltungsbereiche – insbesondere der Finanzen – und er wurde vor allem als zuverlässiger Beamter wahrgenommen. So konnte sich Bismarck auf die Unterstützung des Oberpräsidenten Julius Lippmann (DDP) für eine Beförderung zum Oberregierungsrat im Jahr 1925 und auf jährliche Gehaltserhöhungen immer wieder verlassen. Dennoch wurden Bismarcks Vorgesetzte in Berlin im Laufe der Jahre wegen politischer Auffälligkeiten auf ihn aufmerksam. Zum Beispiel wurden im Kreisamt weiterhin Briefmarken (Klebemarken) der Vorkriegszeit und Briefköpfe mit der Überschrift »Königlicher Landrat des Kreises Regenwalde« genutzt, und dies nach acht Jahren Republik! Darüber hinaus wurde jeder Briefkopf »so prominent gedruckt, dass er sofort hervorstach.« Aber der Landrat hatte jedes Mal eine Ausrede parat. Die Schuld lag immer anderswo. Zum Beispiel erklärte er, dass die Verwendung kaiserlichen Schreibmaterials ein Fehler eines achtzehnjährigen Büroangestellten gewesen sei. Dann drehte er die Angelegenheit geschickt herum: Er bezog sich auf eine Anordnung von 1919 und gab an, dass er aus »Sparsamkeit und guter Haushaltsführung« veranlasst habe, die beträchtlichen Vorräte an Schreibpapier und Umschlägen im Büro, die den Kaiseradler trugen, aufzubrauchen. Allerdings waren die alten Symbole der Monarchie nicht durchgestrichen.

27 Baranowski, Sanctity [wie Anm. 22], Kap. 3 und passim.

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Mitte der 1920er Jahre wurden die alltäglichen Vergehen republikferner Landräte insbesondere in den ostelbischen Provinzen krasser. Die in der Verfassung verankerten Reichsfarben symbolisierten die Quintessenz der Republik. Der Erlass der Reichsregierung vom März 1929 drückte den Sachverhalt folgendermaßen aus: »Die Reichsregierung erachtet es als eine nationale Pflicht und staatspolitische Notwendigkeit, dass bei Veranstaltungen, an denen Vertreter der Reichsregierung oder der ihr nachgeordneten Behörden teilnehmen, dem Gedanken der Reichseinheit und der Reichstreue durch eine würdevolle Hervorhebung der verfassungsmäßigen Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold deutlich Ausdruck verliehen wird.«28 Darüber hinaus waren Beamte gesetzlich dazu verpflichtet, die Republik durch die Verteidigung ihrer Symbole aktiv zu unterstützen. Bei mehreren Gelegenheiten hatte Bismarck als verantwortlicher Regierungsbeamter jedoch nicht dafür gesorgt, die symbolisch repräsentierte Autorität der Republik entweder greifbar oder würdevoll darzustellen. So hing bei der Eröffnung eines Kriegsdenkmals in Labes am 1. August 1926 aus einem der oberen Fenster des Kreishauses eine Schwarz-Weiß-Rote Flagge in »gigantischem Ausmaß«. Bismarck war zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend und behauptete später, die kaiserliche Flagge sei irrtümlich von dem Sohn eines seiner Beamten aufgehängt worden. In seinem Bericht – und darum geht es hier – bezeichnete er die republikanischen Farben als »Schwarz-Rot-Gelb« [Hervorhebung vom Verfasser] anstelle von »Schwarz-Rot-Gold« – ein »Sprechfehler«, für den er sich später entschuldigte. Bismarck wurde von dem konservativen Regierungspräsidenten Leopold Höhnen unterstützt, was zur Irritation des der DDP angehörenden Oberpräsidenten Julius Lippmann führte. In seinem vertraulichen Bericht an das Innenministerium wies Lippmann darauf hin, dass die Ersetzung von »Gold« durch »Gelb« eine Taktik sei, die »die Gegner der Republik im Allgemeinen nutzen, um ihre Ablehnung der [nationalen] Farben sowie ihre Ablehnung der republikanischen Staatsform ans Licht zu bringen. Mit dieser Redewendung«, so Lippmann weiter, »verrät Bismarck in jeder Hinsicht einen peinlichen Mangel an politischem Instinkt«. In einer bemerkenswerten Außerachtlassung seines eigenen Urteils gelangte Lippmann

28 Herbert Michaelis/Ernst Schraepler (Hg.): Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Siebter Bd: Die Weimarer Republik. Vom Kellogg-Pakt zur Weltwirtschaftskrise 1928–30. Die innerpolitische Entwicklung, Berlin 1962, Dok. 1519.; vgl. Veit Valentin/Ottfried Neubecker: Die deutschen Farben. Mit einem Geleitwort von Reichskunstwart Edwin Redslob, Leipzig 1928, S. 128.

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dennoch zu dem Schluss, dass Bismarcks Amtsführung und seine Loyalität der republikanischen Verwaltung in Berlin gegenüber aufgrund dieses »Fehlers« nicht beanstandet werden sollten.29 Der preußischer Innenminister Severing aber äußerte seine »ernsten Bedenken« angesichts der Tatsache, dass Bismarck das Kriegsdenkmal in Labes als Kriegerehrenmal bezeichnet hatte, was eine Verherrlichung des Krieges anstelle von Opfergedenken implizierte. Inzwischen sprach der Kreistag, voll von Vertretern der junkerlichen Interessen, Bismarck sein volles Vertrauen aus und bemerkte überrascht: »Auf dem Land und in der Stadt Labes wird die Beschreibung der Reichsflagge als »schwarz-rot-gelb« [sic] nicht als eine Verminderung der Reichsfarben angesehen.«30 Zwangsläufig brachte ein solches Verhalten Bismarck in Konflikt mit der örtlichen SPD. Es gab zahlreiche an die Behörden gerichtete Beschwerden der sogenannten republikanischen Beschwerdestelle über Bismarcks Fehlverhalten. Doch Bismarcks Handlungen wurden als geringfügige Übertretungen heruntergespielt und kaum als oppositionelles Agieren angesehen. Wenn sein Verhalten jedoch in den Kontext der ab Mitte der 1920er Jahre zunehmenden Mobilisierung der Rechten gegen die Reichsflagge und gegen Locarno sowie der junkerlichen Empörung über die Enteignung des fürstlichen Eigentums gerückt wird, erscheinen Bismarcks Vergehen in einem anderen Licht. So war sein oppositionelles Verhalten der Republik gegenüber größtenteils in scheinbar harmlose Alltagsaktivitäten eingebettet. Radbruch hatte solches Verhalten schon 1926, als er von Kiel wegging, scharfsinnig analysiert. Politische Gewalt war in seinen Augen keine Bedrohung mehr für die Republik, aber: »Jetzt stehen wir vor einer anderen Gefahr und sehen sie wachsen. Die Gegner der Republik haben sich zum größten Teil auf den Boden der Tatsachen gestellt nur, um in diesen Boden ihr Unkraut (sic) zu säen. Niemand denkt mehr daran, die Republik von außen her unmittelbar zu stürzen (sic), aber um so mehr versucht man, den Geist der Republik von innen her zu zersetzen.«31 Wie Leber es formulierte: Loyal ja, aber gegen die Verfassung!

29 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), Rep. 77/5598, Bl. 34–36, OPräs. O.P.S. Nr. 184 an das Ministerium des Innern, Stettin, 21. Dezember 1926. 30 GStAPK, Rep. 77/5598, Bl. 38, Brief vom 17. Dezember 1926. 31 »Schleswig-Holsteinische Volkszeitung« vom 24. September 1926, abgedruckt in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 12 [wie Anm. 8], S. 82–84, hier S. 83.

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In den späten 1920er Jahren häuften sich die administrativen Übertretungen des Landrats. Durch seine Handlungen und seine Unterlassungen, die Republik zu verteidigen, ließ Bismarck die antirepublikanische Stimmung in Regenwalde aufblühen. Während des Verfassungstages 1930, der – das war die Absicht der Reichsregierung – im Zeichen der Rheinlandräumung stattfinden sollte, beendete Bismarck seine Verfassungsrede mit einem »Hoch« auf Hindenburg als Kriegsführer, der das Vaterland gerettet habe, aber nicht mit einem einzigen »Hoch« auf die Republik. Ja, die Verfassung fehlte ganz in seiner Rede.32 Solange er die Republik nicht direkt herausforderte, konnte sich der Landrat auf den Schutz von Höhnens Nachfolger als Regierungspräsident, Carl von Halfern, einem Mitglied der DVP, verlassen. Diese Situation änderte sich im Laufe des Jahres 1930. Bismarcks Stellungnahme zur Republik gehörte zum üblichen politischen Diskurs der nationalen Rechten.33 Bei einer Wahlversammlung der DNVP in Pyritz brachte Bismarck das ganze Spektrum ähnlicher Vorwürfe auf den Tisch. Aus dem entsprechenden polizeilichen Bericht erfahren wir, dass Bismarck zu diesem Zeitpunkt dem Kurs Alfred Hugenbergs nahestand. Laut Bismarck »müsste doch eigentlich begreiflich erscheinen, dass Verräter« aus der Zeit der Grenzkämpfe gegen das »freche« Polen »aus idealistischen Gründen beseitigt wurden«. Mit dem Friedensschluss von Versailles habe der »heutige Staat […] seine Hoheit verloren«. Das deutsche Volk sehe sich dem Verfall der Sitten ausgesetzt; mit dem Youngplan (1929) sei Deutschland versklavt worden usw. »Das Ziel der DNVP sei«, so Bismarck in Pyritz, »die Politik der gegenwärtigen Regierung umzustoßen. Die nationale Bewegung müsse Träger einer nationalen Politik sein. Der Anfang hierzu sei mit dem Volksbegehren und Volksentscheid gemacht worden.«34 Im folgenden Jahr schloss sich Bismarck gemeinsam mit den Landräten im benachbarten Greifenhagen und Naugard dem Aufruf der Harzburger Front, des Stahlhelms und der DNVP an, eine Volksabstimmung zur Absetzung der preußischen Landesregierung von Otto Braun abzuhalten. Bismarck machte zu32 GStAPK, Rep. 77/5597, Bl. 122. 33 Larry Eugene Jones/Wolfram Pyta (Hg.): »Ich bin der letzte Preuße«. Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf von Westarp (1864–1945), Köln/ Weimar/Wien 2006; Larry Eugene Jones (Hg.): The German Right in the Weimar Republic. Studies in the History of German Conservatism, Nationalism, and Antisemitism, New York/Oxford 2014; McElligott, Rethinking [wie Anm. 1], Kap. 8 passim. 34 Bundesarchiv Berlin (BarchB), R 1501, PA/4995, Bl. 179–187, Der Polizeipräsident in Stettin an den Herrn Oberpräsidenten der Provinz Pommern, Persönlich und eigenhändig (Abschrift), 2. September 1930.

Der Landrat Herbert von Bismarck und die Weimarer Republik

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nächst geltend, dass er keine Gegenankündigung der Regierung erhalten habe, eine Entschuldigung, die von seinen Vorgesetzten rundweg nicht akzeptiert wurde. Zum ersten Mal beschuldigte man ihn direkt landesverräterischer Handlungen. In der Tat war Bismarck noch im Amt, als er bei einer gutbesuchten Versammlung in Stralsund am 13. März 1931 und zwei Wochen später in Swinemünde Reden hielt, in denen er vor den Gefahren der linksgerichteten Regierung in Berlin warnte, die er für »anti-national« hielt. Tatsächlich hing in Stralsund ein Banner über der Bühne mit der Aufschrift »Nieder mit der roten Regierung in Preußen«.35 Carl Severing, kurz zuvor wieder zum preußischen Innenminister ernannt, reagierte entschlossen und befahl Bismarcks Versetzung in den einstweiligen Ruhestand mit der Begründung, dass eine derartige Missachtung seiner Pflichten als Beamter im Allgemeinen und als politischer Beamter im Besonderen immer wieder deutlich geworden sei, sodass Bismarck nicht weiter als Landrat fungieren könne. Bismarck wurde Ende März 1931 ordnungsgemäß suspendiert.36 Aber die Suspendierung hielt ihn und seine politischen Kollegen nicht von der Kampagne gegen die Regierung ab. Im Gegenteil: Er sah sich jetzt vom Eid auf die Verfassung befreit.37 Seine Absetzung wirkte auf die ostelbischen Junker und die nationalistischen Rechten als Katalysator für Protest. Die nationalistischen Mitglieder des Regenwalder Kreistags verurteilten die »ungerechte« Entlassung Bismarcks und gaben zu seiner Unterstützung eine »einstimmige« Erklärung ab. Das »Greifenberger Kreisblatt« druckte in der Ausgabe vom 28. März die Schlagzeile: »Severings Terrorakt«. Die »Neue Preußische Zeitung – Kreuz-Zeitung« und insbesondere die »Pommersche Tagespost« schlossen sich der Kampagne an. Die »Kreuz-Zeitung« behauptete, Bismarck sei das Opfer des moralisch bankrotten »Severing-Systems«, und wertete seine Entlassung als »Rache eines untergehenden Systems«.38

35 Berichte über die Versammlungen in Pyritz, 29. August 1930, Stralsund, 13. März 1931, Swinemünde, 27. März 1931, in: BarchB), R 1501 PA/4995. Siehe allgemein: Dietrich Orlow: Weimar Prussia, 1925–1933. The Illusion of Strength, Pittsburgh 1991. 36 BarchB, R 1501 PA/4496, Bl. 70; GStAPK, Rep 77/5598, Bl. 55, Abschrift, Ministerium des Innern, Pd. 74, 10. Februar 1930 für Bismarck; ebd., Bl. 56 für die weiteren Landräte. 37 Wie verschiedenen Berichten zu entnehmen war. Siehe BarchB, R 1501 PA/4995 [wie Anm. 35]. 38 »Greifenberger Kreisblatt« vom 28. März 1931; »Neue Preußische Zeitung – KreuzZeitung« vom 27. März 1931; »Pommersche Tagespost« vom 28. März 1931.

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Lysbeth Muncy konstatierte vor vielen Jahren, dass der junkerliche Landrat im Wesentlichen ein Opportunist gewesen sei, der sich in der Lage sah, im Rahmen der Republik zu arbeiten, solange dies in seinem Interesse lag.39 Die Berliner Behörden hatten allzu lang den Regenwalder Landrat geduldet. Die Verletzung dieses Vertrauens wurde als bitter empfunden. Wilhelm Abegg, die rechte Hand Severings im preußischen Innenministerium, sagte über Bismarck in einem Interview Anfang Januar 1933, als es um die Zukunft Preußens und um die Demokratie ging: »Keine neue Ernennung [seit 1918] hat den Kurswechsel [in der Loyalität] so deutlich gezeigt wie diese, keine hat die immer noch regierende preußische Regierung so ausdrücklich herausgefordert.«40 Entbunden von seinem Treueeid auf die Regierung in Berlin rechnete Bismarck auf einer Versammlung im Juni 1931 in Greifenberg mit der Weimarer Republik ab: »Man hat mir eine Loyalitätsänderung vorgeworfen, weil ich zwölf Jahre lang politischer Beamter war. Das ist nicht wahr. Ich habe meine Einstellung nie geändert. Als ich aus dem Krieg zurückkehrte und sah, wie sich Hindenburg den neuen Machthabern zur Verfügung gestellt hatte, dachte ich damals, es gäbe zumindest die Möglichkeit, die Ordnung wiederherzustellen. Ich wollte mit meinem Können und Wissen helfen, wo ich gebraucht würde. Ich habe meinen Vorgesetzten nie ein Geheimnis aus meinen Meinungen gemacht. Aber meine Hoffnungen [auf Ordnung] waren falsch.«41 Bismarcks Rede wurde mit tosendem Beifall aufgenommen, und das Treffen endete mit dem ekstatischen Singen des Deutschlandliedes. Danach forderte der Vorsitzende alle im Konzertsaal auf, »alles für das Vaterland zu tun«.

39 Muncy, The Junkers [wie Anm. 21], S. 485 und S. 487. 40 »8 Uhr Abendblatt« vom 13. Januar 1933, in: BarchB, R 1501 PA/4997, Bl. 112. 41 Unser Kampf um Preußen, in: »Greifenberger Kreisblatt« vom 3. Juni 1931, in: BarchB, R 1501 PA/4995, Bl. 164.

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III. Zitieren wir abschließend, aus dem Sprachrohr der elitären Jungdeutschen bzw. des Juniklubs, »Das Gewissen«: »Wir sehen zwar eine ungeheure Menge von Erlassen und Verordnungen, die sich mit jenen Dingen befassen; diese Äußerungen des Staatswillens werden aber nur ungenügend befolgt, und ihre Nichtbefolgung wird nur in unzureichendem Maße festgestellt und geahndet. Wir stehen hier einer völligen Zerrüttung unserer Verwaltung gegenüber, wie sie gefährlicher gar nicht ausgedacht werden kann. Das sozialistische Regime ist eingeführt um den Preis des Verlustes der Staatsautorität – verlorene Staatsautorität aber bedeutet Verschwinden des Staates selbst.«42 Als politischer Beamter des Staates war es Bismarcks Pflicht, die Verfassung als Grundlage der Republik zu verteidigen. Ob Bismarck wirklich jemals »Vernunftrepublikaner« gewesen war, wie er in seiner Rede in Greifenberg vorgab? Bismarck und seinesgleichen, die der Republik innerlich fernstanden und die sie später offen bekämpften, sahen nicht, dass ihre eigenen Handlungen der Republik gegenüber genau das erreichten, was sie den demokratischen Machthabern 1919 vorwarfen, nämlich die Herabminderung der Staatsautorität per se. Dadurch trugen sie dazu dabei, Hitler an die Macht zu bringen. Pommern – und gerade der Kreis Regenwalde – blieb von 1920 an eine Bastion der nationalen Opposition gegen Weimar. Ab den späten 1920er Jahren radikalisierte sich der Widerstand gegen die Republik mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten. Zwar konnte sich die DNVP in Regenwalde noch bei den ›Erdrutsch‹-Wahlen vom September gegen die NSDAP als stärkste Partei mit 41,2 Prozent der Stimmen behaupten, doch lag dieses Ergebnis knapp 20 Prozentpunkte unter dem der Wahlen von 1928. Zwei Jahre später wichen sie den Nazis. Der Niedergang der nationalen Rechten zeigte sich auch bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1932. In Pommern, einst Hochburg Hindenburgs, erhielt Hitler im zweiten Wahlgang 52,6 Prozent der Stimmen, Hindenburg hingegen nur 40,7 Prozent. Im Regierungsbezirk Stettin bekam Hitler demgegenüber 247.269 Stimmen (48,6 Prozent). In Regenwalde war der Abstand zwischen beiden noch deutlicher: Von den 23.164 gültigen Stimmen entfielen 13.749–59,3 Prozent (!) – auf Hitler. Dagegen stimmten 8.771 Wäh42 C. Wegener: Zum 9. November, in: »Das Gewissen. Unabhängige Zeitung für Volksbildung« vom 11. November 1919.

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ler (37,8 Prozent) für den amtierenden Präsidenten Hindenburg. Als Hitler dann Reichskanzler wurde, bejubelte man seine ‚Regierung der nationalen Regeneration‘. Bis zu diesem Zeitpunkt war Bismarcks Partei zerrissen, zudem sorgte Hugenbergs Präsenz im Hitler-Kabinett im Laufe der Zeit für wenig Freude unter den pommerschen Junkern. 43 Nach 1933 zog sich Bismarck auf seinen Gutshof zurück. Er war kein Anhänger Hitlers und seiner Partei, zählte eher zu den reaktionären Konservativen, die Hitler und seiner Gefolgschaft misstrauten. Einige Verwandte Bismarcks näherten sich in den späteren Jahren des sogenannten Dritten Reichs der Opposition an. So war seine Schwiegermutter eng mit dem Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer befreundet. Die Nationalsozialisten trauten solch konservativen Nationalisten wie Bismarck nicht. Einmal an der Macht, entfernten sie ihn von seinem Posten im preußischen Ministerium des Innern, wo er nach der Absetzung der Regierung von Otto Braun auf Abeggs Stelle gelangt war. Bismarcks gegenkulturelle Aktivitäten untergruben das Ziel, die geschriebene Verfassung zu einer »lebendigen« Verfassung zu machen, wie es Radbruch formuliert hatte. Bismarcks kleine alltäglichen Verweigerungen trugen dazu bei, die Verfassung im Sinne einer nachhaltig wirksamen staatsbürgerlichen politischen Kultur zumindest von seinem Landkreis fernzuhalten. Durch seine scheinbar bagatellartigen, aber letztlich zersetzenden Vergehen verhinderte er für seinen Wirkungskreis, die Verfassung als Grundlage der Republik im Alltag zu verankern. In diesem Sinne bahnten Bismarck und seinesgleichen auf lokaler Ebene Hitler den Weg.

43 Baranowski, Sanctity [wie Anm. 22], S. 177–186.

Symbolische Praktiken

Nadine Rossol

»Ein Hoch auf die Republik!« Die Feiern des Verfassungstages in der Weimarer Republik

Im August 1919 erhielt das Reichsinnenministerium einen Brief der Arbeitsgemeinschaft für staatsbürgerliche und wirtschaftliche Bildung, in welchem detailreiche Vorschläge für eine Verfassungsfeier aufgezeigt wurden. Der Grund war ein einfacher: Man wollte »die Bedeutung der neuen Reichsverfassung ins rechte Licht rücken.« Schulen, Kirchen und Universitäten sollten einbezogen werden ebenso weite Kreise der Bevölkerung. »Umzüge, Festreden auf allen Plätzen, Gesangs- und Musikaufführungen im Freien könnten das Fest vollenden. Überall müsste das Volk mitwirken, durch Hilfe bei der Ausschmückung, durch Beteiligung an den Umzügen, durch Mitwirkung aller Sangeskundigen an großen Aufführungen und durch gemeinsamen Festgesang in Kirchen, Theatern, Sälen und auf der Straße und bei den großen Tänzen hier und da. Das Volk selbst müsste dieses Fest feiern. Es darf nicht überall als Zuschauer dastehen. Es muss das Fest mitschaffen und miterleben.« Alle Mühen und Kosten würden sich lohnen, denn das Fest »wäre die beste Propaganda für das Neue.«1 Viele dieser Ideen wurden in der Weimarer Republik umgesetzt, allerdings langsamer, als es sich die Verfasser der Vorschläge vermutlich erhofft hatten. Dieses Schreiben, welches die Aufgaben der Republik bei ihrer staatlichen Selbstinszenierung skizzierte, warf ein Schlaglicht auf Themenbereiche, die die Weimar-Forschung erst seit etwa 15 Jahren ausleuchtet. Mit einer Konzentration auf diejenigen, die ihre neue Republik feiern, inszenieren, schützen und verteidigen wollten, weitet sich der Blick auf eine politische Landschaft Weimars, die nicht nur von ihren Gegnern dominiert wurde.2 Damit wird 1 2

Bundesarchiv Berlin (künftig: BarchB), R 1501/116860, S. 70–73. Wichtige Arbeiten für diese Konzentration auf die politische Kultur der Weimarer Republikaner: Bernd Buchner: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole der Weimarer Repu­ blik, Bonn 2001; Nadine Rossol: Performing the Nation in Interwar Germany. Sport, Spectacle and Political Symbolism, 1926–36, Basingstoke 2010; Manuella Achilles: Performing the Reich: Democratic Symbols and Rituals in the Weimar Republic, in: Kathleen Canning u. a. (Hg.): Weimar Publics/Weimar Subjects: Rethinking the Political

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Nadine Rossol

auch das angebliche »Repräsentationsdefizit« der Weimarer Republik in Frage gestellt, welches lange die Verwendung politischer Symbole ausschließlich bei den politischen Extremen verortete.3 Die Historiker Rüdiger Graf und Moritz Föllmer haben in ihren Studien auf die Chancen und Zukunftsvorstellungen verwiesen, die in der Weimarer Gesellschaft verhandelt, diskutiert und erträumt wurden und damit den Fokus auf den Willen zur Mitarbeit an der Gegenwart und Zukunft gerichtet. 4 Auch die Republikaner waren eine politische Kraft, die auf nationaler und lokaler Ebene für ihren Staat eintraten und diesen aktiv gestalten wollten. Dabei sorgten Konflikte um politische Symbole für lokale Spannungen und erlangten auch deshalb eine hohe Aufmerksamkeit, weil es genug Republikaner gab, die zum Bekenntnis für die Republik mobilisierten.5 Das sperrige Wort »Verfassungspatriotismus« kann die Emotionen, die mit der politischen Symbolik der Weimarer Republik einhergingen, kaum einfangen. Verfassungsfeiern, Flaggenfragen oder politische Abzeichen waren in den 1920er Jahren nicht Dekoration von Politik, sie standen im Zentrum politischer Identitätsbildung.6

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Culture of Germany in the 1920s, New York 2010, S. 175–191; Sonderheft über die Weimarer Republik Central European History 43 (2010); Christian Welzbacher (Hg.): Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in der Weimarer Republik, Weimar 2010; Benjamin Ziemann: Contested Commemorations. Republican War Veterans and Weimar Political Culture, Cambridge 2013. Oft wurde in diesem Zusammenhang von der angeblichen »Symbolarmut« Weimars geschrieben. Vgl. Buchner, Identität [wie Anm. 2], S. 14 f.; Nadine Rossol: Flaggenkrieg am Badestrand. Lokale Möglichkeiten repräsentativer Mitgestaltung in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56 (2008), Nr. 7/8, S. 617–637. Auch enttäuschte Republikaner schrieben in ihren Memoiren vom Mangel an Symbolen der Republik. Vgl. Arnold Brecht: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884–1927, Stuttgart 1966, S. 360 f. Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die ›Krise‹ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M./New York 2005. Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik: Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008. Besonders eindrücklich zeigte das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold diese Massenmobilisierung für die Republik, die schon zahlenmäßig weit vor nationalkonservativen Verbänden lag. Die Bedeutung von politischer Kultur für die Politikgeschichte der Weimarer Republik zeigen die wichtigen Arbeiten von Thomas Mergel z. B. Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik: Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002; Thomas Mergel: Überlegungen zur einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574– 606.

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Die nationale und lokale Inszenierung von Verfassungsfeiern, zu Ehren der Weimarer Verfassung, verdeutlich die Probleme und die Chancen der Republikaner gleichermaßen. Diese Festivitäten sollten die neue Republik erlebbar machen, sie attraktiv und sinnfällig darstellen. Manche wollten alle Kreise der Bevölkerung einbeziehen und so einen republikanischen Nationsgedanken langsam aufbauen, andere fanden, dass es sich gegen die Feinde der Republik klar abzugrenzen galt. Moderne Aspekte einer Festkultur der 1920er Jahren standen neben traditionellen politischen Feiern, wobei letztere nicht zwingend weniger ansprechend waren. Natürlich agierten die Republikaner nicht in einem politischen Vakuum, sondern reagierten auf den politischen Gegner, genauso wie auf sie reagiert wurde. Die politische Kultur der ersten deutschen Republik war tief in verschiedenen Milieus verankert.7 Die Gretchenfrage nach der Haltung zur Republik verschärfte diese Trennungen, manchmal überwand sie diese auch. Eine Konzentration auf die Verfassungsfeier als Beispiel für aktive Mitgestaltung an der Weimarer Republik erzählt keine nachträgliche Erfolgsgeschichte oder bügelt die Ambivalenzen im republikanischen Lager glatt, aber sie räumt mit dem Stereotyp auf, die Republikaner seien keine gestaltende Kraft in der Weimarer Republik gewesen.

I. Organisation und Gestaltung von Verfassungsfeiern Verfassungsfeiern erinnerten an die Unterzeichnung der Weimarer Verfassung 1919 und wurden deshalb jährlich am 11. August gefeiert. Von 1921 bis 1932 ehrte die jeweilige Reichsregierung den Tag mit einem Festakt, der zuerst im Berliner Opernhaus stattfand und 1922 in den Reichstag umzog.8 Dieser Umzug war die direkte Folge eines traurigen Ereignisses – der Ermordung Außenministers Walther Rathenaus im Juni 1922. Die Trauerfeier für Rathenau führte den Reichstag als geeigneten Ort für Staatsfeiern der Republik ein. Der demokratische Ministerialdirektor Arnold Brecht formulierte es im Rückblick 7

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Für die Gedenktage und Feiern in der Weimarer Republik, allerdings mit geringer Aufmerksamkeit auf die Republikaner, zeigt dies der Sammelband von Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur Politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989. Generell vgl. Siegfried Weichlein: Sozialmilieus und politische Kultur in der Weimarer Republik. Lebenswelt, Vereinskultur, Politik in Hessen, Göttingen 1996. Allerdings konnte im August 1932 von einer würdigen Feier nicht mehr die Rede sein, da Reichsinnenminister Wilhelm von Gayl von der republikfeindlichen DNVP sich öffentlich gegen die Verfassung aussprach. Vgl. Buchner, Identität [wie Anm. 2], S. 304–306.

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so: »Die Feier fand [am Verfassungstag 1922] im Reichstag statt, geweiht durch die Totenfeier für Rathenau.«9 Die Trauerfeier für den Außenminister hatte am 27. Juni im Reichstag stattgefunden. Und noch etwas anderes geschah 1922: Reichpräsident Friedrich Ebert machte das Deutschlandlied zur Nationalhymne, mit welcher seitdem der jährliche Festakt der Reichsregierung endete. Der kaltblutige Mord an Walther Rathenau hatte weitere Konsequenzen für die Republik. Er stärkte das Gefühl vieler Republikaner, ihren Staat gegen politische Angriffe verteidigen zu müssen und mündete im Republikschutzgesetz, welches knapp vier Wochen nach dem Anschlag, am 21. Juli 1922, verabschiedet wurde. Dadurch konnte u. a. das Verunglimpfen und Verächtlichmachen von Politikern und wie von Staatsymbolen harte Konsequenzen nach sich ziehen. Es mangelte allerdings im weiteren Verlauf der Weimarer Republik oft an der entsprechenden Umsetzung des Gesetzes.10 Trotz jährlicher Festakte der Reichsregierung wurde der Verfassungstag nie ein nationaler Feiertag. Dafür fand sich keine Mehrheit im Parlament. Während Teile der DDP und SPD den 11. August als Feiertag favorisierten, forderten manche in der SPD den 1. Mai. Die nationale Rechte war ebenso gegen den 11. August wie die kommunistische Linke.11 Parlamentarische Debatten über die Verfassungsfeier 1929 offenbarten die politischen Konfliktlinien. Der rheinische Sozialdemokrat Wilhelm Sollmann verlangte »eine republikanische Offensive« zum zehnten Jahrestag der Republik und begründete dies mit den Worten: »[…] vergessen wir nicht, woher diese Republik kommt, dieser Staat, diese Republik ist gegründet, ist geschaffen worden von den armen, von den ärmsten Volksgenossen.« Der DNVP-Abgeordnete Emil Berndt antwortete darauf, die Verfassungsfeier sei »eine republikanische Demonstrationsfeier«, welche »mit dem Empfinden vieler im Volk« im Widerspruch stehe.12 Was auf Reichsebene an einem fehlenden Grundkonsens über die politische Richtung Deutschlands scheiterte, fiel den Ländern zu. So wurde 1923 in Baden, mit starken Verweisen auf die liberaldemokratische Tradition des Landes, und   9 Arnold Brecht: Die erste Verfassungsfeier, in: »Der Heimatdienst«, 1. Augustheft 1929, S. 275. 10 Das oft beklagte Vollzugsdefizit der Weimarer Republik, besonders auf juristischer Ebene, wurde hier deutlich. Natürlich ging es im Republikschutzgesetz nicht nur um Beleidigungen von Politikern oder Beschädigung von Staatssymbolen, sondern z. B. auch um die Strafen für Hochverrat. 11 Vgl. für die Debatten im Reichstag über einen Nationalfeiertag die Studie von Fritz Schellack: Nationalfeiertage in Deutschland 1871–1945, Frankfurt a. M. 1990. 12 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 425: Stenographische Berichte, S. 2169, 79. Sitzung vom 7. Juni 1929.

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1929 in Hessen der Verfassungstag zum Feiertag; hier 1932 auf Betreiben der NSDAP wieder abgeschafft. In Preußen wurde der 11. August durch amtliche Anordnungen zum halboffiziellen Feiertag, d. h. Schulen mussten Verfassungsfeiern abhalten genauso wie Kreisstädte, Gemeinden und Kommunalverwaltungen.13 Er war allerdings nicht schul- oder arbeitsfrei, weshalb größere Feierlichkeiten oft auf das Wochenende verschoben wurden. Bayern, als prominentes Gegenbeispiel zu Preußen, fühlte sich gegängelt, wenn die Reichsregierung verlangte, dass in München die schwarz-rot-goldene Fahne gezeigt werden sollte und die Beamten eine kleine Feier abzuhalten hätten. In Bayern herrschte die Auffassung, dass sich das Flaggen zu Ehren der Verfassung, wenn überhaupt, nur unter weißblauen Farben in die Tat umsetzen ließe.14 Während offizielle Regelungen den Rahmen der Feiern absteckten, hing ihre Gestaltung von den lokalen Umständen und dem Willen örtlicher Entscheidungsträger ab. Die Zusammenarbeit mit Schulen, republikanischen Organisationen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Kräften konnte gefördert oder unterlassen werden. Anweisungen von Landesregierungen wurden manchmal lustlos, manchmal beeindruckend umgesetzt. Eine Vielzahl von Beispielen verdeutlich, dass die lokale Infrastruktur, z. B. das Vorhandensein von republikanischen Organisationen, Parteien, Zeitungen und die örtliche parteipolitische Einstellung von Bürgermeistern, Kreisdirektoren, Polizeivorstehern oder Schulleitern, diese Feiern stärker beeinflussten als alles andere.15 Die Wochenzeitung »Deutsche Republik« schrieb, es sei leider wahr, »dass der gute Wille republikanischer Minister im Reich und in den Ländern ganz einfach an der passiven Resistenz der kleinen Bürokratie scheitert.«16 Die Zeitung illustrierte diesen Punkt mit dem Beispiel der vom Reichsfinanzminister erlassenen Vergnügungssteuerbefreiung, damit Republikfeste unter freiem Himmel in Städten und Dörfern gefeiert werden konnten. Eine Reihe von städtischen Bezirksämtern lehnte die Befreiung mit der Begründung ab, dass die Verordnung Feiern zu Ehren der Verfassung vorsah. Tanz, Musik und Bierausschank seien aber keine 13 Buchner, Identität [wie Anm. 2], S. 329. Für Bestimmungen in verschiedenen deutschen Ländern Karl Müller/Albrecht Wagner: Republikanische Schulfeiern, Bd. 1, Langensalza 1928, S. 13–21. 14 Für die Konflikte zwischen Berlin und Bayern vgl. BarchB, R 1501/116873 und 116864. 15 Marlene Bloch: Die Verfassungsfeiern in Hannover 1922–32, in: Helmut D. Schmidt (Hg.): Feste und Feiern in Hannover, Bielefeld 1995, S. 211–230; Juliane Ossner: Die Reichsgründungs- und Verfassungsfeiern in Wetzlar und Gießen 1921 bis 1933, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 49 (1999), S. 150–177. 16 »Republik und Bürokratie«, in: »Deutsche Republik«, 3. Jg., Heft 50 vom 14. September 1929.

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Ehre für die Verfassung und daher nicht steuerfrei.17 Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, dass die fadenscheinige Argumentation, die hier angewandt wurde, nicht mehr unkommentiert blieb. Nationalkonservative Gegenden (ob Städte oder Landkreise) taten sich mit einem Bekenntnis zu Republik schwer,18 anders bei sozialdemokratischen oder liberal regierten Orten. Persönliche Initiative oder ihr Fehlen unterschieden sich nicht grundsätzlich zwischen Stadt und Land, allerdings hatten es konservative Bürgermeister in Großstädten deutlich schwerer, Verfassungsfeiern zu ignorieren, als ihre deutschnationalen Kollegen auf dem Land.19 Mit dem Verfassungstag sollten die Weimarer Verfassung und ihre Errungenschaften gefeiert werden. Tatsächlich wurde aber nicht zwischen Verfassungs- und Republikfeiern unterschieden. Die Festivitäten am 11. August beschränkte sich nicht auf das Verfassungsdokument. Der liberale Politiker Theodor Heuss beklagte zwar im August 1927, dass dem Verfassungstag »Pathos« fehle genauso wie »ein eindrucksvoller Geschichtsvorgang, der sich zur Legende formen lasse«,20 allerdings schien dieses Manko die Feiern des Tages nicht zu beeinflussen. Theodor Heuss zielte jedoch auf einen wichtigen Punkt, der über Verfassungsfeste hinaus reichte und danach fragte, wie die Weimarer Verfassung in eine Deutung der deutschen Nationsgeschichte eingereiht werden konnte. Verweise auf die Paulskirche und 1848 diente hierzu genauso wie in liberalen Ländern – z. B. in Baden – die Bezüge auf die eigene demokratische Tradition. Vielleicht weniger offensichtlich, aber von republikanischen Politikern und republikanischen Organisation in eine Logik mit dem Erreichen des neuen »Volksstaates« gestellt, waren die Opfer des Ersten Weltkrieges. Denn mit dem Gedenken an die Kriegstoten wurde der Weltkrieg als »Volkskrieg«, der zu einem »Volksstaat« geführt hatte, in die demokratische Vorgeschichte der Republik eingebaut. Mit dieser Anbindung der Republik an den Krieg konnte auch das schwierige Thema der Revolution 1918/19 elegant umschifft bzw. ignoriert werden.21 Verfassungstage wurden auch mit nationalgeschichtlichen Ereignissen und Personen verbunden, die keinen demokratiegeschichtlichen Bezug hatten.

17 Ebd. 18 Vgl. den Beitrag von Anthony McElligott in diesem Band. 19 Achim Bonte: Werbung für Weimar? Öffentlichkeitsarbeit von Großstadtverwaltungen in der Weimarer Republik, Mannheim 1997. 20 Zitiert in Nadine Rossol: Weltkrieg und Verfassung als Gründungserzählung der Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 50–51, 8. Dezember 2008, S. 13–18. 21 Ebd., S. 13–18.

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Außerdem wurde auf aktuelle Themen reagiert. So wurde 1923 dem 75. Geburtstag der Paulskirche mit einer eigenen Feier in Frankfurt am Main gedacht, während die Verfassungsfeier im August 1923 an den aktuellen »Ruhrkampf« angebunden wurde.22 Vorschläge die Feier der Verfassung 1924 mit dem Gedenken an den Kriegsausbruch 1914 zu verbinden, wurden von Reichspräsident Friedrich Ebert unterbunden, der beider Anlässe getrennt gedenken wollte.23 1928 erinnerte Preußen seine Kommunen an den 150. Geburtstag von »­Turnvater« Jahn, der mit den Verfassungsfeiern kombiniert werde könne – besonders mit einem Verweis auf Sportwettkämpfe, die gerne mit der Feier in Schulen verbunden wurden. Wie schon erwähnt feierte die Republik sich im August 1929 selbst und brauche dafür auch kein weiteres Thema. Ein Jahr später, 1930, wurde die sogenannte »Rheinland-Befreiung« zu einem wichtigen Bezugspunkt, gefolgt 1931 von dem Gedenken an den preußischen Reformer Freiherr vom Stein. Im August 1932 wurden die Verfassungsfeier mit dem Goethejahr verbunden, allerdings waren zu diesem Zeitpunkt die zersetzenden Kräfte der Weimarer Demokratie schon enorm.

II. Verfassungsfeiern als Volksfeiern? Erweiterung des staatlichen Zeremoniells Der staatliche Festakt zu Ehren der Verfassung verlief nach einem traditionellen Muster: klassische Musik, Festrede, Deutschlandlied, Hinaustreten aus dem Reichstag und Abschreiten einer Ehrengarde der Reichswehr durch den Reichspräsidenten gehörten jedes Mal dazu. Versuche, Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur oder Wissenschaft als Redner zu verpflichten, gestalteten sich schwierig, und so sprachen Politiker – oft Rechtswissenschaftler – aber nie Frauen.24 Es wurde auf einen ausgewogenen politischen Proporz geachtet. Für

22 Dieter Rebentisch: Friedrich Ebert und die Paulskirche. Die Weimarer Demokratie und die 75-Jahrfeier der 1848er Revolution, Heidelberg 1998; BarchB, R 1501/116871, S. 732 f. 23 Akten der Reichskanzlei. Die Kabinette Marx I und II. 30. November 1923 bis 3. Juni 1924/3. Juni 1924 bis 15. Januar 1925, bearb. von Günter Abramowski, Boppard 1973, S. 752, Nr. 238: Ministerialbesprechung 28. Juni 1924. Tatsächlich verkündete Friedrich Ebert bei den Feiern zum Kriegsgedenken am 3. August 1924, dass die Republik ein Reichsehrenmal für die Weltkriegstoten errichten wolle; Rede in: Walter Mühlhausen (Hg.): Friedrich Ebert – Reden als Reichspräsident (1919–1925), Bonn 2017, S. 357. 24 Beim Festakt der Reichsregierung sprachen die folgenden Persönlichkeiten: 1921 Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum), 1922 der badische Staatspräsident Hermann Hummel

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die Rede im August 1925 konnte das Reichsinnenministerium den Bonner Universitätsprofessoren Hermann Platz gewinnen. Über seine Zusage freuten sich die Organisatoren der Feierlichkeiten besonders, da er dem Zentrum nahestand, welches in den letzten Jahren keinen Redner gestellt hatte.25 Zwei Jahre zuvor, 1923, redeten der Jura-Professor Gerhard Anschütz und der Duisburger Bürgermeister Karl Jarres, dem im Gedenken an die Besetzung des Ruhrgebiets das Wort erteilt wurde. Die Tatsache, dass im August 1927 der DVP-Politiker Siegfried von Kardorff die Festansprache hielt, wurde als Zeichen gewertet, dass die DVP bereit sei, Verantwortung für die Republik zu übernehmen. Der sozialdemokratische »Vorwärts« schrieb, die Rede habe in ihrem klaren Bekenntnis zur Republik positiv überrascht.26 Natürlich waren Professoren und Politiker nicht zwingend die schlechteren Redner. Gustav Radbruch (1928) genauso wie Carl Severing (1929) sprachen mit großen Emotionen über die Republik als Volksstaat, die Opfer, die für sie erbracht wurden, und über das bisher Erreichte. Trotzdem blieb der Rednerkreis eingeschränkt. Die Intellektuellen der Republik wie Thomas Mann, Fritz von Unruh oder Gerhart Hauptmann wurden regelmäßig zu der Feier im Reichstag als Gäste geladen, aber hielten nicht die Festrede, auch wenn Hauptmann schon für die Feier 1922 als Redner vorgesehen war, dann aber doch absagte.27 Thomas Mann hielt letztlich seine Rede mit einem Bekenntnis zur Republik zum 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns im Jahre 1922.28 Ab Mitte der 1920er Jahren häuften sich im Reichsinnenministerium die Beschwerden, wenn es versäumt wurde, zu dem Festakt im Reichstag einzuladen. Langsam

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(DDP), 1923 der Staatsrechtler Gerhard Anschütz und Duisburgs Oberbürgermeister Karl Jarres (DVP), 1924 Hamburgs Bürgermeister Carl Petersen (DDP), 1925 der Romanist Hermann Platz, 1926 Reichsinnenminister Wilhelm Külz (DDP), 1927 Siegfried von Kardorff (DVP), 1928 der ehemalige Justizminister Gustav Radbruch (SPD), 1929 Reichsinnenminister Carl Severing (SPD), 1930 Reichsinnenminister Joseph Wirth (Zentrum), 1931 Reichsfinanzminister Hermann Dietrich (DDP) und 1932 Reichsinnenminister Wilhelm von Gayl (DNVP). BarchB, R 1501/116873, S. 36. »Vorwärts« Nr. 193 vom 12. August 1927, Nr. 193 »Der Tag des Volksstaates«. BarchB, R 1501/116864, S. 8, Reichskunstwart an das Reichsinnenministerium, 28.6.1922, S. 50: Telegramm von Gerhart Hauptmann an das Reichsinnenministerium, 1.8.1922: »Zu allergrößten Bedauern diesmal unmöglich. Hoffe, dass der Verfassungstag bald offizieller Feiertag wird.« Thomas Mann: Von Deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum 60. Geburtstag (13. Oktober1922), in: Thomas Mann: Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1984, S. 118–158.

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wurde das staatliche Gedenken an die Verfassung ein Ereignis, bei dem man wenigsten auf der Gästeliste stehen wollte. Der gut organisierte – aber –etwas nüchterne – Festakt im Parlament wurden schrittweise erweitert.29 Im Juli 1922 schlug Reichsinnenminister Köster Reichspräsident Ebert vor, dass es jetzt auch Feiern zusätzlich zu dem Festakt geben müsse, die die Bevölkerung erreichten.30 Auf Reichsebene kam für dieses Gebiet der staatlichen Repräsentation dem Reichskunstwart Edwin Redslob eine besondere Bedeutung zu. Entstanden war das kleine, dem Reichsinnerministerium unterstellte Amt des Reichskunstwarts im Jahre 1920 und es blieb bis 1933 bestehen. Der Kunsthistoriker Redslob bekleidetet es die ganze Zeit und kümmerte sich – so sein Auftrag – um die staatliche Formgebung der Republik. Dazu zählte die Neugestaltung staatlicher Symbole genauso wie die Ausgestaltung der Feiern. Der Reichskunstwart wollte, so Christian Welzbacher, Demokratie als Attraktion präsentieren.31 Drei Aspekte waren für die Erweiterung der Verfassungsfeiern auf Reichsebene von zentraler Bedeutung: Sportveranstaltungen, Festparaden und Massenfestspiele. Alle drei Bereiche sollten weite Kreise der Bevölkerung einbeziehen und, für alle die, die nicht teilnehmen konnten, die Feiern der Republik als volksverbindendes (genauso wie massentaugliches) Ereignisse porträtieren. Fotos und Artikel in der Tagespresse berichteten oft ausführlich über die jährlichen Berliner Verfassungsfeiern. Sportwettkämpfe sollten besonders Jugendliche ansprechen und den Schulen ermöglichen, Verfassungsfeiern damit zu verbinden. Reichskunstwart Edwin Redslob schlug schon im April 1923 vor, dass Feiern in Sportstadien stattfinden sollten. Zahlreiche Schulen veranstalteten so zunächst eine ernste Verfassungsfeier mit nachfolgender Sportveranstaltung. Verschiedenen Schulen am Prenzlauer Berg in Berlin begingen den Tag gemeinsam auf dem Sportplatz, im August 1926 mit 5.000 Schülern, drei Jahre später 1929 waren es 10.000. Die Schüler in Berlin-Neukölln marschierten mit schwarz-rot-goldenen Fahnen zum Volkspark in der Hasenheide, und begannen ihre Sportwettkämpfe nach einer

29 Ich habe über diese Aspekte von Verfassungsfeiern schon einige Veröffentlichungen vorgelegt, die sich ausgiebig damit beschäftigen. Vgl. Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2]; Nadine Rossol: Repräsentationskultur und Verfassungsfeiern der Weimarer Republik, in: Detlef Lehnert (Hg.): Demokratiekultur in Europa, Köln 2011, S. 261–280. 30 BarchB, R 1501/116864, S. 2, 5. Juli 1922. 31 Für die Arbeitsbereiche des Reichskunstwarts vgl. Annegret Heffen: Der Reichskunstwart: Kunstpolitik in den Jahren 1920–1933, Essen 1986; Welzbacher (Hg.), Der Reichskunstwart [wie Anm. 2]; Christian Welzbacher: Edwin Redslob: Biographie eines unverbesserlichen Idealisten, Berlin 2009.

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Festrede, zwei Musikstücken und dem Singen des Deutschlandliedes.32 Nicht nur Schulen nutzten diese Verbindung zwischen Sportveranstaltungen und Verfassungsfeiern, auch Jugendgruppen, republikanische Parteiorganisationen ebenso wie örtliche Behörden taten dies. Berlins Magistrat erinnerte die Bezirksämter daran, dass »der große Widerhall« der sportlichen Veranstaltungen auch 1930 die Feiern bestimmen sollte.33 Ähnlich wichtig wurde Mitte der 1920er Jahre die Festparade in Berlin. Im August 1927 wurde die erste große Parade am Verfassungstag abgehalten mit 12.000 Teilnehmern. Die Republikaner marschierten durch das Herz des politischen Berlins, vorbei am Lustgarten und durch das Brandenburger Tor zum Reichstag, und besetzten so den öffentlichen Raum der Hauptstadt in einer Art und Weise, die im Kaiserreich undenkbar gewesen wäre. In den folgenden Jahren wuchs die Parade – 1928 waren es schon 30.000 Teilnehmer. Außerdem stieg die Zahl der beteiligten Gruppen und Organisationen stetig. Während 1927 die Hälfte der Teilnehmer von explizit republikanischen Organisationen kam, mit einer Mehrheit vom Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, waren 1928 nur ein Drittel Mitglieder des Reichsbanners. Gewerkschaften, Gesangsvereine, die Berliner Feuerwehr und viele weitere zivilgesellschaftliche Gruppen gehörten jetzt zu der Festparade.34 Festparaden und Fackelzüge waren nicht nur eine populäre und erprobte Methode der Besetzung des öffentlichen Raumes, für republikanische Planer standen diese organisierten und disziplinierten Massen für die neue Demokratie an sich. So schrieb auch das liberale »Berliner Tageblatt« im August 1928: »Unter Fackeln und Musik gehen im gleichen Schritt und Tritt Ehepaare, Kinder, junge Burschen mit ihren Mädchen, Frauen und Männer aller Stände und Berufe, es geht das Volk. Wer das gesehen hat, der hat nicht nur einen organisierten Fackelzug gesehen, sondern, die Feier eines ganzen Volkes und das Bekenntnis eines ganzen Volkes.«35 Hiermit sollte nochmals deutlich betont werden, dass das Volk den neuen »Volksstaat« repräsentierte und dieser war, im Gegensatz zum Kaiserreich – so der implizierte Verweis – bunt und vergnügt, weil das Volk sich selbst feierte. Reichskunstwart Edwin Redslob fand den Fackelzug 1928 etwas zu lässig und

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Rossol, Repräsentationskultur [wie Anm. 29], S. 277 f. Landesarchiv Berlin (künftig LAB), A Rep. 040–08, 572, S. 445, 10. Mai 1930. Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 19 f. »Berliner Tageblatt« vom 13. August 1928 in: Friederike Schubart: Zehn Jahre Weimar – Eine Republik blickt zurück, in Heinrich August Winkler (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik Göttingen 2004, S. 134–160.

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erhoffte sich mehr Disziplin und Organisation für das folgende Jahr.36 Die größte republikanische Festparade erlebte Berlin am 10. Jahrestag der Republik im August 1929 mit etwa 75.000 Teilnehmern.37 Karl Bröger, bekannt durch seine Weltkriegsgedichte und als Hausdichter des Reichsbanners, schrieb zwei Monate vor den Festivitäten im August 1929, was die Republikaner von dem Republikgeburtstag erwarteten: »Verfassungstag Laßt uns in Reih und Gliede gehen, Die Fahne stolz im Winde wehen! Zu uns, wer sich bekennen mag! Verfassungstag! Wir sind das Volk, die Republik. Wir formen selber das Geschick. Millionen Herzen und ein Schlag Verfassungstag!«38 Die Darstellung des in der Republik vereinten Volkes, bildete auch den Grundgedanken einer spektakulären Komponente, die den Feiern der Reichsregierung 1929 (und erneut 1930) hinzugefügt wurde: das Massenfestspiel im Berliner Stadion. Vor 50.000 Zuschauern beteiligten sich 11.000 Berliner Schulkinder, die in verschiedene Massenschöre und Bewegungsgruppen eingeteilt waren. Reichskunstwart Redslob war der Organisator des Festspiels und ließ eine einfache, aber visuell ansprechende Geschichte erzählen. 500 Arbeiter versuchten Stangen, die dann als Fahnenstangen dienten, miteinander zu verbinden, um die Einheit des Volkes zu symbolisieren. Es gelang ihnen erst mit Hilfe der Jugend, die bunt gekleidet auf den Rasen trat und dabei eine schwarz-rotgoldene Fahne bildete. Da jetzt die Einheit unter der republikanischen Fahne erreicht war, schworen die Jugendlichen und die Arbeiter einen Eid auf das Vaterland. Die republikanische Fahne wurde über dem Stadion gehisst und die Vorführung endete mit dem gemeinsamen Singen des Deutschlandlieds. Die »Vossische Zeitung« betitelte die Verfassungsfeier 1929 als »Fest der Millionen« und schrieb über das Spektakel im Stadion: »[…] ein Wirbel aller Farben stürmt hinzu und gliedert sich zu einem Stern aus allen Landesfarben, und als der 36 BarchB, R 32/503, S. 168. 37 Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 69. 38 »Der Wegweiser« Nr. 5 vom Juni 1929, S. 72. Das Gedicht hatte Karl Bröger schon 1926 in der Zeitung des Reichsbanners publiziert.

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Stern gebildet ist springt eine neue Gruppe in den Raum die schwarz- rot-gold sich reiht und so zum Banner wird. Sport, Spiel und Tanz wird Übergang zum Schwur und zum Bekenntnis.«39 Die Symbolik, die hier inszeniert wurde, ist deutlich. Unter den republikanischen Farben bildeten Arbeiter und Jugend eine Gemeinschaft, die Gründung und Zukunft des republikanischen »Volksstaates« darstellte und sich zu weiterer Zusammenarbeit für die Republik verpflichtete. Für den Reichskunstwart stand diese Inszenierung für viele Aspekte, die er für republikanische Staatsrepräsentation als grundlegend ansah. Er erklärte in einem Radiovortrag 1929: »Man verlangt vom Staat, dass er sich sinnfällig darstellt. Aber man verlangt dies nicht aus dem Gefühl des Zuschauers aber aus dem Gefühl des Bürgers, der ein aktiver Teil des Staates sein möchte.«40 Redslob brachte noch ein weiteres Massenfestspiel für die Verfassungsfeier von 1930 auf die Bühne. Im Jahre 1931, im Zeichen der sich dramatisch verschärfenden Weltwirtschaftskrise, sagte die Reichsregierung allerdings diesen Teil der Feiern aus finanziellen Gründen ab.

III. Lokale Akteure und lokale Teilhabe Die meisten Deutschen erlebten Verfassungsfeiern auf lokaler Ebene und erfuhren über die Berliner Ereignisse aus der Zeitung. Wie schon erwähnt hing eine erfolgreiche Gestaltung von lokalen Umständen und dem Willen der Entscheidungsträger ab. Es waren aber nicht nur Feiern in Behörden, Kreisstädten oder Schulen, mit denen die Bevölkerung in Berührung kommen konnte – wobei der Schwung und Enthusiasmus bei diesen Verfassungsfeiern deutlich lokal variierte. Feiern von demokratischen Parteien und republikanischen Organisationen waren ein besserer Garant für ansprechende Republikfeiern. Hier machte die Stärke der lokalen Gruppen des Reichsbanner Schwarz-RotGold einen deutlichen Unterschied. Denn ob die Republik vor Ort wirklich »sichtbar« wurde, entschied sich auch an den Aktivitäten des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, welches durch Gedenktage, Fahnenweihen, Denkmaleinweihungen Feiern und Umzüge die Republik in eine lokale Vereinskultur einband. Das Reichsbanner, als Veteranenverband und Schutztruppe der Republik 1924 gegründet, hatte zwischen 1 und 1,5 Millionen männliche Mitglieder und

39 »Vossische Zeitung« vom 12. August 1929, zitiert in: Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 76. 40 Für eine detailreiche Darstellung des Massenfestspiels vgl. ebd., S. 72–76.

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war damit der größte Veteranenverband der Weimarer Republik. 41 Die Größe der republikanischen Organisation ist aus mehreren Gründen beachtlich, im Besonderen stellte sie aber die Annahme, die junge deutsche Demokratie habe über nicht genug Republikaner verfügt, die aktiv für sie eintreten wollten, in Frage. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war in seiner Führungsebene überparteilich und vereinte alle demokratischen Parteien der Weimarer Republik. Auf lokaler Ebene wurde es oft von den Sozialdemokraten getragen, auch wenn es regionale Unterschiede gab. Vor allem in traditionell liberaldemokratisch dominierten Gebieten im Südwesten Deutschlands waren die liberalen Kräfte im Reichsbanner stärker vertreten. 42 Organisiert in Gaue, Kreise, Bezirke und Ortsverbände konnte das Reichsbanner zu verschiedenen Anlässen und in verschiedener Stärke mobilisieren. Es beteiligte sich an Feiern der Reichsregierung und an amtlichen Feiern in kleineren Städten – auch wenn dies manchmal mit Problemen einherging. Amtsvertretern, denen die Feiern der Verfassung sowieso nur als behördlich verordnet und »erzwungen« vorkamen, stuften lokalen Reichsbanner-Gruppen oft als »politische« Organisation ein, die sie bei einer überparteilichen Verfassungsfeier nicht haben wollten. Die Tatsache, dass das Reichsbanner für die verfassungsmäßige Staatsform eintrat, wurde von den Kreisen ignoriert, die einen staatspolitischen Grundkonsens ablehnten und argumentierten die republikanische Organisation genauso behandelten zu müssen, wie z. B. den nationalkonservativen Stahlhelm oder den kommunistischen Rotfrontkämpferbund. Dieses vermeintlichen neutralen Staatsverständnis war eine Ablehnung der Republik. 43 Es verwundert nicht, dass die Zeitung des Reichsbanner ironisch bemerkte: »Behördliche Verfassungsfeiern / Die Plätze alle sein abgezählt / Die Herren Vertreter fein ausgewählt / Als Redner des Tages ein Zwischenmann / Der freundlichst nach allen Seite kann […] Das Hoch kommt – nicht auf die Republik / Einfällt die gute Stadtmusik / Und dann singt die typische Kleinstadtdreiheit / Das Lied von Einigkeit und Recht und Freiheit.«44 41 Die genaue Zahl ist schwierig festzulegen, da viele Reichsbanner-Akten vernichtet sind. Die Selbsteinschätzung des Reichsbanners lag bei drei Millionen, was deutlich zu hoch scheint. Für eine Tabelle der Mitgliedszahlen von Veteranenverbänden in der Weimarer Republik vgl. Benjamin Ziemann: Contested Commemorations [wie Anm. 2], S. 15; s. a. neuerdings zur Geschichte: Sebastian Elsbach: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019. 42 Für das Reichsbanner im Südwesten vgl. Marcel Böhles: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten, 1924 bis 1933, Essen 2016. 43 Rossol: Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 145 f. 44 »Das Reichsbanner«, Nr. 16 vom 11. August 1927 »Behördliche Verfassungsfeier«.

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Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold nahm nicht nur an den Feiern in Berlin teil, sondern veranstaltete auch eigene lokale Verfassungsfeiern und Feste auf Bundesebene. Feiern, Umzüge, Paraden und Ansprachen sollten hier klar und deutlich die Macht der Republik darstellen und dabei natürlich auch die Bedeutung der eigenen Organisation hervorheben. Bundesverfassungsfeiern des Reichsbanners, die alljährlich in einer anderen Stadt stattfanden und so das Bundestreffen der Organisation darstellten, gaben den einzelnen Gegenden Gelegenheit, ihre Reichsbannergruppen dorthin zu schicken. Die Städte, in denen gefeiert wurde, nämlich Weimar, Hamburg, Nürnberg, Leipzig, Frankfurt am Main, Berlin, Koblenz standen auch für die geographische Ausbreitung, die die Organisation erreichen wollte. Die Zeitung »Das Reichsbanner« berichtete im August 1925 enthusiastisch: »Im Süden und Norden, im Osten und im Westen, von den Alpen bis zu den Küsten, überall zeigen tausende Feiern das Bekenntnis der Bevölkerung zur Weimarer Verfassung.«45 Trotz Feiern in verschiedenen Städten wurde jedes Mal dafür gesorgt, dass genug Reichsbannermitglieder an den Verfassungsfeierlichkeiten in Berlin teilnahmen. Nach Festivitäten in Frankfurt am Main im August 1928 erklärte Karl Höltermann, der Vizepräsident des Reichsbanners, dass zu den Verfassungsfeiern 1929 »ein schwarz-rot-goldener Sturm Berlin erobern müsse.«46 Das Reichsbanner versuchte nicht nur, seine Ausbreitung öffentlich wahrnehmbar zu machen, sondern einzelne Städte auch gezielt in eine republikanische Gründungserzählung einzubeziehen. Das war bei Verfassungsfeiern in Weimar (1924) als Geburtsort der Verfassung und ganz besonders 1928 in Frankfurt am Main (1848 und Paulskirche) als Geburtsort der deutschen Demokratie verhältnismäßig einfach. Schwieriger wurde dies bei Städten, wo dieser offensichtliche Bezug zur Verfassung, Demokratie oder Republik fehlte. In diesen Fällen behalf sich das Reichsbanner mit einer Strategie, die auch andere politische Gruppen anwandten: Es wurde eine neue Bedeutung erfunden. 1926 gastierte das Reichsbanner mit der Verfassungsfeier in Nürnberg, das somit zu der Stadt wurde, mit der man im antirepublikanischen Bayern »Feindesland« erobert hatte. Die Zeitung des Reichsbanners schrieb der fränkischen Stadt prompt einen besonderen Stellenwert zu: »Die Verfassungsfeier in Nürnberg ist von nachhaltiger Wirkung und symbolischer Bedeutung weit über die Grenzen Nürnbergs hinaus im bayerischen Land. Ein Ventil öffnet sich. Die seit Jahren geknechteten Bürger strömten in ungeheuren Scharen auf die Straße und begrüßen die Kolonnen des Reichsbanners durch über45 »Das Reichsbanner«, Nr. 16 vom 15. August 1925 »Die Verfassungsfeiern im Reich«. 46 Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 25.

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wältigenden Jubel.«47 Tatsächlich hatten die Feiern hier wenig mit der Eroberung von Feindesland zu tun als vielmehr mit der Unterstützung der Feier durch den demokratischen DDP-Bürgermeister der Stadt Hermann Luppe. 48 Bundesfeiern des Reichsbanners zum Verfassungstag waren, schon allein aus logistischen und organisatorischen Gründen, lange im Voraus geplante Ereignisse. Monate vorher wurden die eigenen Mitglieder informiert und ermutigt zu den Verfassungsfeiern anzureisen. Von Kreis- und Ortsgruppen in der Nähe wurde ein Kommen erwartet, damit eine hohe Teilnehmerzahl garantiert war. Dafür wurde den Reichsbannermitgliedern auch empfohlen, sich die Stadt und die Gegend anzusehen. Die Programmfolge für diese Ereignisse war recht typisch: An Fahnenweihen, Ansprachen, Paraden und Gedenkveranstaltungen schloss sich der gesellige Teil mit Musikvorführungen, Picknick, Sportveranstaltungen und Tanz an. 49 Die Männer des Reichsbanners betonten, dass sie es waren, die Verfassungsfeiern in wahre Volksfeste verwandelt hatten, und dass nur über diese Art und Weise die Menschen erreicht werden könnten. Der Reichskunstwart Edwin Redslob stimmte dieser Ausrichtung durchaus zu, er favorisierte allerdings Themen, die die Bevölkerung am Verfassungstag zusammenbringen sollten, wohingegen das Reichsbanner eine kämpferische Mobilisierungsstrategie pflegte. Die Zeitung des Reichsbanners beschrieb, sicherlich zu positiv, die Gründe für den Erfolg der eigenen Feste im August 1928: »Jedes Volk braucht Symbole, die den Menschen packen. Dies ist gelungen, konnte aber nur gelingen durch die Volksfeste, dort traten die Symbole öffentlich in Erscheinung: die leuchtenden Farben der Republik, die Rhythmik marschierender Kolonnen, die Massenwirkung der Gesänge, Sprechchöre, Marschmusik, die gemeinschaftsbildende Kraft so wuchtiger Demonstrationen damit kam das Reichsbanner einem Zeitbedürfnis entgegen […] Wir können sagen, dass es an vielen Stellen gelungen ist, echte Volkfeste zu schaffen, was früher das ländliche Schützenfest war, an diese Stelle ist nicht selten das Reichsbannerfest getreten.«50 Tatsächlich hatte es das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in ländlichen Gebieten schwer und griff mit der Behauptung, die Popularität von Schützenfesten erreicht zu haben, sicherlich zu hoch. Die Rhetorik der kämpferischen Republik, die zwar erreicht war, aber verteidigt werden musste, hatte Vorteile, um die eigenen

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»Das Reichsbanner« Nr. 17 vom 1. September 1926 »Die Gewalt der Idee: Nürnberg«. Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 26–29. Ebd., S. 30–31. »Das Reichsbanner« Nr. 27 vom 19. August 1928 »Über Reichsbannerfeste« zitiert in: Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 147.

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Mitglieder zu aktivieren (dies galt für das Reichsbanner genauso wie für andere republikanische Gruppen und Parteien). Sie engte aber den Raum ein, den Frauen bei der Unterstützung der Republik aktiv einnehmen konnte.

IV. Reaktionen auf Verfassungsfeiern Verfassungsfeiern fanden nicht ohne Publikum statt – ganz im Gegenteil. Der öffentliche Raum, auf lokaler und nationaler Ebene, wurde zur Bühne für unterschiedliche politische Akteure und – deutlich seltener – für Akteurinnen. Gegenseitiges Beobachten, Kommentieren, Kopieren und Kritisieren verschiedener politischer Gruppen gehörte dabei zur Tagesordnung. Auf nationalkonservativer und linker Seite verstärkter sich die Kritik an den Feiern, je durchsetzungswilliger sich die Republikaner zeigten. Während die bescheidenen Festivitäten in den Anfangsjahren der Republik belächelt wurden, änderte sich diese abschätzige Gelassenheit Mitte der 1920er Jahre. Jetzt skandalisierten konservative Zeitungen, dass die Republikaner, die den Prunk des Kaiserreichs verachtet hätten, sich plötzlich für große und festliche Paraden begeisterten und sich diese einiges kosten ließen.51 Der amtliche Preußische Pressedienst konterte 1928 mit der prägnanten Schrift »Kosten höfischer Feste in Deutschland der Vorkriegszeit: Einige Bemerkungen zur Kritik am Verfassungstag« und schrieb: »Der ständige ironische Hinweis auf die Kosten, der bei den Lesern der Blätter wohl den Eindruck erwecken soll, als verschwendet die Republik öffentliche Gelder zu Prunkzwecken und als ob es so etwas früher nie gegeben habe, verdient doch einmal das wenigstens mit ein paar exakten Zahlen gezeigt wird, wie im monarchisch-regierten Staat öffentliche Gelder für Feierlichkeiten, die oft nur Familienfeiern waren, ausgegeben wurden.«52 Der nationalistische Frontkämpferverband Stahlhelm störte sich weniger an den Kosten als an der Form des Auftretens und wunderte sich, dass »sogar die Linksbünde, mit ihrer zunächst betont antimilitaristischen Einstellung« jetzt »frisch fröhlich die äußeren Formen der Stahlhelmaufmärsche« übernehmen würden. Diese Aneignung, so der Stahlhelm, könne nicht klappen, denn nur echte Soldaten wussten auch

51 »Deutsche Tageszeitung« vom 6. August 1927 »Flaggenzwang für alle Gemeinden«; »Deutsche Tageszeitung« vom 8. Januar 1927 »Wofür Geld da ist? Zum Schulflaggenerlass«. 52 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig: GStAPK), Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 6, Bl. 80.

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wirklich zu marschieren.53 Damit meinte der Stahlhelm explizit die Mitglieder des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Die Nationalkonservativen hatten ein grundsätzliches Problem mit der demokratischen Staatsform Deutschlands, allerdings irritierte es offenbar auch, dass die republikanische Seite den öffentlichen Raum in einer Weise besetzte, die die Rechten ihr nicht zugetraut hatte. Die Kommunisten warfen dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold weniger sein Auftreten als das Einstehen für die Republik vor.54 Trotzdem kam es in großen Städten selten zu direkten Gegendemonstrationen am Verfassungstag, da die Polizei dies oft von vornherein verhinderte. Allerdings gab es kleinere Rangeleien, Handgreiflichkeiten und Störungsversuche wie in den Polizeiberichten und der Tagespresse vermerkt wurde.55 Wenn die Republikaner am Verfassungstag zur schwarz-rot-goldene Beflaggung von Häusern und Wohnungen aufriefen und danach verkündeten, wie viele sich zur Republik bekannt hatten, dann zählten auch die Republikgegner und präsentierten die angeblich »wahren« Zahlen, die deutlich darunter lagen. Wenn republikanische Parteien und Organisationen ein neues schwarz-rot-goldene Abzeichen zum Anstecken propagierten, wie für die Verfassungsfeiern 1925, dann ermutigten rechte Zeitungen Mitglieder nationalistischer Verbände, ebenfalls ihre Abzeichen zu tragen.56 Das Stehlen oder Beschädigen von republikanischen Flaggen steigerte sich ebenso an diesen Tagen. Nie waren diese Zeichen republikanischer Staatlichkeit präsenter als an Verfassungstagen und daher war auch die Aufmerksamkeit, die eine eventuelle Beschädigung nach sich zog, nie größer. Flaggendiebstähle um den 11. August geschahen nicht nur in Großstädten, sondern auch auf dem Land. Fahnen verschwanden von öffentlichen Plätzen und Schulgebäuden, wurden beschädigt oder gar nicht erst aufgezogen.57 Die Presse berichtete über diese Vorfälle und manchmal ermittelten Polizei und Justiz. Dies mag verwunderlich klingen besonders bei privaten Fahnen, die nicht von lokalen Schulgebäuden, kleinstädtischen Polizeirevieren oder kommunalen Amtsstuben verschwanden, sondern aus Gartenlauben und Gaststätten, von Balkonen, Wohnungstüren, Fahrradstangen oder Strandkörben. Während die 53 »Der Stahlhelm« vom 29. August 1932. 54 Zitiert in: Carl Misch: Mit der Windjacke, in: »Die Weltbühne«, Nr. 39 vom 25. September 1928, S. 477. 55 LAB, A Pr Br Rep. 030, C Tit. 90, 7531. 56 »Schlesische Zeitung« Nr. 372 vom 10. August 1925 »Der Verfassungsrummel des Reichsbanners«; »Deutsche Tageszeitung vom 23. Juli 1925 »Die Gefallenen Gedenkfeier«. 57 Vgl. die Justizakten GStAPK Rep. 84a; Rossol, Flaggenkrieg am Badestrand [wie Anm. 3], S. 627 f.

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Republikaner bei diesen Ereignissen das Republikschutzgesetz bemühten und argumentierten, dass ein staatliches Hoheitszeichen beschädigt wurde, erklärten andere, es handle sich »nur« um das Vergehen gegen Privateigentum. Diese Konflikte zeigen deutlich, wie wichtig (bei Gegner und Befürwortern der Republik) politische Symbole als Teil der eigenen erfahrbaren Lebenswelt und Identitätsbildung waren.58 Nicht alle, die die Republik ablehnten, konnten Verfassungsfeiern ignorieren. Besonders Schulfeiern, zu denen verschiedene Länder verpflichteten, führten daher häufig zu Beschwerden. Als Teil des Unterrichts bestand dabei Anwesenheitspflicht für Schüler und Schülerinnen. Im August 1929 schickte das Provinzial Schulkolleg Berlin-Brandenburg folgenden Erlass an alle Schulen der Gegend: »Wie uns berichtet wird, haben Eltern ihre Kinder von den Schulverfassungsfeiern aus Gründen ferngehalten, die erkennen lassen, dass sie die Beteiligung ihrer Kinder an einer öffentlichen Schulveranstaltung, die ein Bekenntnis zum neuen Staat darstellt, nicht wünschen. Den Eltern ist zu eröffnen, dass in Zukunft die Schulen sich genötigt sehen werden, Kinder, die durch derartige Weisungen des Elternhauses an dem Besuch solcher Feiern verhindert weder, zu entlassen.«59 Die »Berliner Börsen Zeitung« nannte den Erlass »terroristische Willkürmaßnahme« und die »Deutsche Zeitung« schrieb von »Vergewaltigung Andersdenkender.«60 Von 1928 bis 1930 beklagten die entsprechenden Zeitungen »Gesinnungsterror«, »Zwangsfeiern«, »Missbrauch der Schulkinder«, »Jugendbegeisterung auf Befehl« oder »Schon als Schulkind Zwangsbürger?«61 Republikanische Zeitungen ebenso wie Republikaner im Preußischen Landtag reagierten auf diese Vorwürfe mit dem Verweis, dass die Republik nur Erziehung zum Staat betreibe.62 Tatsächlich war staatsbürgerliche Erziehung in Schulen, wie Matthias Busch in seiner detailreichen Studie

58 Justiz- und Polizeiakten zeigen diese lokalen Welten besonders eindringlich. Sie sind weniger wegen des Ergebnisses der Klage oder Beschwerde interessant, sondern wegen der Beschreibung der örtlichen Umstände. 59 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Rep. 34, 997, S. 10, 22. August 1929. 60 »Berliner Börsen Zeitung« vom 23. August 1929 »Terror!«; »Deutsche Zeitung« vom 30. August 1929 »Analphabeten gefällig«. 61 »Der Tag« vom 15. August 1928 »Gesinnungsterror gegen Berliner Schulen«; »Der Tag« vom 18. Februar 1930 »Zwang zur Teilnahme an Verfassungsfeiern«; »Deutsche Zeitung« vom 29. Juni 1929 »Missbrauch der Schulkinder«; »Die Rote Fahne« (mit Artikel) vom 6. August 1930 »Zwangsfeiern in den Schulen«; »Berliner Lokal Anzeiger« vom 26. September 1929 »Jugendbegeisterung auf Befehl«; »Deutsche Zeitung« vom 16. Januar 1930 »Schon als Schulkind Zwangsbürger?«. 62 »Berliner Morgenpost« vom 23. August 1929 »Schule und Republik«.

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zeigt, ein wichtiges pädagogisches Feld in den 1920er Jahren und schon in der Weimarer Verfassung festgelegt.63 Es verliefen auch nicht alle Schulverfassungsfeiern in dem Rahmen, den sich ihre Befürworter gewünscht hatten. Beschwerden bei örtlichen Schulbehörden kamen auch von republikanischer Seite, die sich über langweilige Reden, lustlose Veranstaltungen und mangelnden republikanische Esprit in den Schulen beklagten.64 Eine andere Gruppe, die an Verfassungsfeiern teilnehmen musste und immer wieder Grund zu Beschwerden fand, war die Reichswehr. Auf Reichsebene war sie in die Formalitäten der Staatsfeiern zum Verfassungstag eingebunden, denn der Reichspräsident schritt nach dem Festakt im Reichstag eine Formation der Reichswehr ab, die ihn vor dem Parlamentsgebäude erwartete. Auf lokaler Ebene mussten Reichswehreinheiten an kommunalen Verfassungsfeiern an ihren Standorten teilnehmen. Beschwerden der Reichswehr bezüglich lokaler Verfassungsfeiern bezogen sich meist auf die angebliche »SPD - und Reichsbanner-Parteipolitik«, die ihrer Meinung nach dort stark zum Ausdruck kam. Standortälteste in Frankfurt/Oder, Kolberg, Perleberg, Fischhausen und Jüterbog argumentierten in diesem Ton. Vertreter des Militärs beanstandeten auch die gehaltenen Reden, die angeblich die kaiserlichen Farben, das Kaiserreich und auch die Reichswehr beleidigten. Preußisches Innenministerium und Reichswehrministerium versuchten einen Konsens zu erzielen; dabei zeigte sich allerdings ein Grundkonflikt: Das preußische Ministerium erklärte, dass Verfassungsfeiern staatspolitisch seien und nicht neutral sein könnten.65 Der Reichwehrminister antwortete darauf: »Unter staatspolitisch verstehe ich ein Vorgehen, dass einen möglichst großen Teil aller Bevölkerungskreise zum Staat erzieht und darüber hinaus den Grund zur freudigen Staatsbejahung legt. Verfassungsfeiern, mit denen politische Demonstrationen beabsichtigt sind und die darauf eingestellt sind, unsere Vergangenheit zu schmähen und dadurch die Bevölkerungskreise, die an dieser Vergangenheit hängen, vor den Kopf zu

63 Matthias Busch: Staatsbürgerkunde in der Weimarer Republik. Genese einer demokratischen Fachdidaktik, Bad Heilbrunn 2015. Vgl. auch Matthias Busch: Demokratielernen in der Weimarer Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 14–15 vom 30. März 2020, S. 28–34 64 Für die Probleme mit anti-republikanischen Schulfeiern im Jahre 1928 vgl. Thomas Koinzer: Die Republikfeiern. Weimarer Republik, Verfassungstag und staatsbürgerliche Erziehung an den höheren Schulen Preußens in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, in: Bildung und Erziehung 58 (2005), S. 85–103; Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 54–57. 65 Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 144 f.

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stoßen, sind dazu allerdings nicht geeignet […].«66 Formal gesehen hatte der Reichswehrminister Recht, jedoch sahen lokal stationierte Reichswehrtruppen schon die Teilnahme des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold oder eine euphorische Rede auf die Republik als politische Provokation. Das Innenministerium bestand weiterhin auf einer Teilnahme von Reichswehrvertretern an örtlichen Verfassungsfeiern. Während Anwürfe von Republikgegnern zu erwarten waren, kamen mahnende Worte auch aus einer Ecke, von der man es eigentlich nicht erwarten konnte: nämlich von Befürwortern der Republik. Diese Kritik war eine Umkehrung von seiten der nationalen Rechten mit dem Tenor: Nicht zu viel »Verfassungszwang« werde ausgeübt, sondern viel zu wenig. Die Linksintellektuellen der Zeitschrift »Die Weltbühne« verlangten eine gegen ihre Feinde wehrhafte Republik, bevor über die festliche Ausgestaltung nachgedacht wurde.67 Carl von Ossietzky warnte im August 1929, zum zehnjährigen Republikgeburtstag, dass die Republikaner sich davor hüten sollten, pompöse Paraden mit tiefen republikanischen Überzeugungen gleichzusetzen.68 Seine »Weltbühne« kritisierte schon 1927: »Man will durch laue Festivität einen Zustand heiligen, den zu ändern es an Kraft und Wille fehlt […] man hat Furcht, sich die Republik zu erkämpfen und versucht, sie zu erfeiern.«69 Erst einmal, so die Ansage, müsse die Verfassung überall im Land und auf allen Verwaltungsebenen durchgesetzt werden, damit sich kein Richter, Beamter, Schuldirektor, Polizist oder Soldat gegen die Verfassung richten könne, ohne seinen Posten zu verlieren. Diese grundsätzliche Anforderung an die Republik beantwortete allerdings nicht die Frage, ob nicht beide Bereiche gleichzeitig beachtet werden sollten, um durch populäre Feiern die Republik und ihre Verfassung in den Herzen der Deutschen zu verankern. Carl Misch antwortete, ebenfalls in »Der Weltbühne«, dass er die Kritik am Reichsbanner für sein »militärisches« Auftreten, die mitunter von linker Seite kam, für überzogen hielt. Die Verfassungsfeier des Reichsbanners in Frankfurt am Main im August 1928 empfand er als »erfreulich leger« ohne »Parademarsch, Stechschritt, Hackenzusammenschlagen oder Strammstehen«

66 GStAPK, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 6, Bl. 55, Febr. 1927: Antwort Reichswehrminister an das Ministerium des Innern. 67 Kurt Tucholskys Antwort »Die Inszenierung der Republik« in der »Vossischen Zeitung« Nr. 173 vom 12. April 1925. 68 Carl von Ossietzky: Zum Geburtstag der Verfassung, in: »Die Weltbühne« vom 6. August 1929, zitiert in Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 22. 69 Carl von Ossietzky: Nationalfeiertag, in: »Die Weltbühne«, Jg. 23, Nr. 27 vom 5. Juli 1927, S. 3.

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und mit Jacken, die von Gau zu Gau unterschiedlich waren. Misch erkannte im Reichsbanner eine »schwarz-rot-goldene freie Volksmiliz.«70 Tatsächlich waren sich nicht alle Kreise auf republikanischer Seite über den Charakter des Verfassungstages einig und schwankten zwischen der Betonung einer kämpferischen, oder zumindest dezidiert politischen, Veranstaltung und dem Versuch, weite Kreise der Bevölkerung in ein Republikbekenntnis einzubeziehen. Zuviel Volksfestatmosphäre mit einer Vielzahl von Programmpunkten, so argumentierten manche, verdecke die wichtige politische Bedeutung des Tages. Frankfurts Polizeipräsident Ludwig Steinberg reflektierte über die Verfassungsfeiern seiner Polizei und betonte dabei einen allgemeineren Punkt: »[…] ob es zweckmäßig ist, am gleichen Tage, an dem die PolizeiVerfassungsfeier begangen wird, auch das Polizeisportfest abzuhalten? Nach unseren Erfahrungen 1929 ist das nicht zu empfehlen, weil Sportler und Zuschauer, wenn sie sich einige Stunde an den Sportwettkämpfen beteiligt bzw. zugesehen haben, zu erschöpft sind, um dann abends noch in voller Frische die eigentliche Verfassungsfeier […] mitfeiern zu können.«71

V. Schluss Die Republikaner hatten verschiedene Möglichkeiten zur aktiven Mitgestaltung an und zur sichtbaren Mobilisierung für die Republik, und beide Bereiche nutzen sie mit Verve und Elan. Die Besetzung des öffentlichen Raums wurde von republikanischen Organisationen, Zeitungen und Verbänden gefördert und erwartet. Es ging nicht »nur« um die Beflaggung eines Hauses oder Schulgebäudes, sondern um ein Zeichen demokratischer Staatlichkeit auf lokaler Ebene. Die politische Inszenierung, die symbolische Besetzung des öffentlichen Raums und die Mobilisierung der Demokraten auf lokaler und staatlicher Ebene waren weder schwach noch nüchtern. Die Forderungen des einleitend zitierten Briefes von 1919, wonach das Volk die Feste der Republik aktiv gestalten und kein passiver Zuschauer bleiben sollte, bildete die Grundlage für vielfältige Inszenierungen der jungen deutschen Republik. Ambivalenzen blieben allerdings bestehen. Die republikanische Selbstdarstellung war nie frei von Angriffen und konnte dies in der pluralen Gesellschaft 70 Carl Misch: Mit der Windjacke, in: »Die Weltbühne«, Jg. 24, Nr. 49 vom 25. September 1928, S. 478–479. 71 »Winke für die Verfassungsfeier«, in: »Die Polizei«, Nr. 14 vom 20. Juli 1930, S. 321. Vgl. auch Carlo Mierendorff zitiert in Rossol, Performing the Nation [wie Anm. 2], S. 52.

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des Weimarer Staates auch nicht sein. Sie konnte auch nicht, womit Verweise auf die Inszenierungen der NS-Zeit als gelungenere Veranstaltungen endgültig ad absurdum geführt werden, mit autoritären Mittel durchgesetzt werden. Allerdings konnten sich auch die republikanischen Kräfte Weimars nicht einigen, ob ein langsames Einbeziehen aller Republikgegner oder ein kämpferisches Abgrenzen von ihnen die effektivste Strategie war. Arnold Brecht, als überzeugter demokratischer Beamter im Reichsinnenministerium tätig, unterschied deutlich zwischen der »aggressiven Propaganda für die demokratische-republikanische Idee«, die Parteien vorantreiben konnten, und der Reichsregierung, die auf das Einbeziehen der Republikgegner angewiesen war.72 Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold fand genauso wie andere republikanische Organisationen diese Haltung schwer nachvollziehbar. Problematisch gestaltete sich auch die Tatsache, dass trotz »Volksfest und Volksstaat«-Rhetorik wenig Platz für Frauen als Teil der republikanischen Darstellung gefunden wurde. Wenn das Reichsbanner betonte, der Verfassungstag sollte »Spiel, Familienfeier, Religion und politische Kundgebung« sein,73 wird darin auch klar, dass Frauen nur beim Familienfest mitgedacht waren. Allen Ambivalenzen und Uneinigkeiten im republikanischen Lager zum Trotz, lief der Weimarer Republik letztendlich die Zeit davon. Denn das Etablieren einer neuen Demokratie, ihrer Symbole, Rituale und Inszenierungen und auch das Aushandeln von Kompromissen erforderte mehr Zeit, als dem jungen republikanischen Staat zur Verfügung stand.

72 Brecht, Aus nächster Nähe [wie Anm. 3], S. 360. 73 Detlef Lehnert: »Staatspartei der Republik« oder »revolutionäre Reformisten«. Die Sozialdemokraten, in: Lehnert/Megerle (Hg.), Identität [wie Anm. 7], S. 89–114, hier S. 100.

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Von der Schwierigkeit, ein »Volk« zu repräsentieren Zur symbolischen Macht des Weimarer Reichstags

Wer über den Parlamentarismus der Weimarer Republik spricht, findet sich unversehens im Krisendiskurs wieder. Das gilt auch dann, wenn man die im Grunde selbstverständliche Ansicht teilt, dass die parlamentarische Republik keineswegs von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Als Gegenargument hilft der Verweis auf die langfristig so erfolgreiche »Weimarer Kultur« ebenso wenig weiter wie der Blick auf die zukunftsweisenden Elemente der Reichsverfassung oder auf die Chancen, die das bei vielen verhasste Versailler Vertragssystem den Deutschen ungeachtet aller psychologischen Belastungen eröffnete.1 Warum ist das so? Was sind die Gründe für die kaum bestreitbare Krisenhaftigkeit des Parlamentarismus der Weimarer Republik? Die Forschung hat eine Reihe von Faktoren herausgearbeitet. An erster Stelle lassen sich die hochfliegenden Erwartungen nennen, die im Zuge der Revolution an die Nationalversammlung gerichtet wurden. Viele dieser Hoffnungen, seien sie nun politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Natur, wurden enttäuscht. Das lag nicht zuletzt an den unterschiedlichen zeitlichen Vorstellungen der Akteure: Während die Arbeiter und Soldaten rasche Ergebnisse erwarteten, nahm die Institutionalisierung der Revolution im Parlament das Tempo aus dem Spiel.2 Die Ernüchterung gerade in den Arbeiter- und Soldatenmilieus war aber auch das Resultat einer Reihe präzise zu benennender politischer Maßnahmen der Revolutionsführer und des Rats der Volksbeauftragten, die etwa die Fragen der Sozialisierung von Schlüsselindustrien, der Kooperation mit den militärischen Eliten des Kaiserreichs oder des Einsatzes republikfeind1

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Sabina Becker: Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, Darmstadt 2018; Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018; Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, Berlin 2018. Thomas Mergel: High Expectations – Deep Disappointment. Structures of the Public Perception of Politics in the Weimar Republic, in: Kathleen Canning/Kerstin Brandt/ Kristin McGuire (Hg.): Weimar Publics/Weimar Subjects. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s, New York 2010, S. 192–210. Vgl. ferner den Beitrag von Andreas Wirsching in diesem Band.

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licher »Freikorps« betrafen. Unabhängig davon, wie man diese Entscheidungen im Einzelnen bewerten mag, riefen sie dennoch ein Gefühl der Enttäuschung hervor, das geeignet war, das Ansehen der Nationalversammlung und des Reichstags zu beeinträchtigen. Für die Krisenanfälligkeit des Weimarer Parlamentarismus waren langfristig aber die strukturellen Probleme wichtiger, die in der politischen Kultur und der in ihr eingebetteten Verfassungspraxis angelegt waren. Die Forschung hat insbesondere die Frage diskutiert, ob und wie unter den Bedingungen einer sozial und ideologisch gespaltenen Gesellschaft parlamentarisches Regieren dauerhaft möglich gewesen ist. Thomas Raithel hat in seiner politikwissenschaftlich inspirierten Untersuchung eine skeptische Antwort gefunden, indem er gravierende »Funktionsstörungen« des Reichstags bei der »regierungstragenden« und bei der Alternativ-Funktion feststellte. In der politischen Wirklichkeit bedeutete dies, dass die Möglichkeit zur Bildung stabiler bzw. alternierender Koalitionen stark eingeschränkt blieb.3 In dieses Bild fügen sich die Ergebnisse, die Thomas Mergel mit seiner kultur- und kommunikationsgeschichtlich angelegten Studie vorgelegt hat. Er konnte zeigen, dass der Reichstag als Institution zunächst durchaus in der Lage gewesen ist, Abgeordnete ganz unterschiedlicher sozialer und ideologischer Herkunft auf gemeinsame Regeln und Umgangsformen zu verpflichten. Diese erfolgversprechenden Ansätze zur Herausbildung einer allgemein akzeptierten parlamentarischen Kultur scheiterten jedoch spätestens seit 1928, als die Radikalisierung der DNVP und das Erstarken der Antisystemparteien die innerparlamentarische Kommunikation zum Erliegen brachte. 4 Der folgende Beitrag möchte den Blick von den innerparlamentarischen Faktoren abwenden und einen seltener behandelten Aspekt ins Zentrum rücken. Gemeint ist das Wechselverhältnis von Parlament und Öffentlichkeit, oder, anders gesagt, die Repräsentativfunktion des Parlaments. Die hier vertretene These lautet, dass es dem Weimarer Reichstag und seinen Mitgliedern während der Phase der »relativen Stabilität« nicht gelungen ist, genügend »symbolische Macht« zu 3

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Thomas Raithel: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen de 1920er Jahre, München 2005, S. 115–347; ders.: Funktionsstörungen des Weimarer Parlamentarismus, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 243–266; Andreas Wirsching: Koalition, Opposition, Interessenpolitik. Probleme des Weimarer Parteienparlamentarismus, in: ders.: Demokratie und Gesellschaft. Historische Studien zur europäischen Moderne, Göttingen 2019, S. 56–80 (zuerst 2004). Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 32012.

Zur symbolischen Macht des Weimarer Reichstags

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erwirtschaften, um den von ihm erhobenen Anspruch, das »Volk« zu vertreten, auf Dauer glaubhaft erfüllen zu können. Was ist damit gemeint? Folgt man der Begrifflichkeit der Dresdener Institutionensoziologie, so lassen sich zwei Arten von Macht unterschieden: die instrumentelle sowie die symbolische Variante.5 Während die »instrumentelle Macht« einer Institution, sagen wir, des Weimarer Reichstags, durch (verfassungs-) rechtliche Kompetenzzuweisungen und etablierte Verfahrensabläufe dauerhaft und auf Abruf zur Verfügung stand, beruhte seine »symbolische Macht« im Wesentlichen auf Zuschreibung. Ihr Umfang war davon anhängig, ob und inwieweit der erhobene Geltungsanspruch von einer hinreichenden Zahl von Menschen als gültig und verbindlich angesehen wurde. Die wichtigste Voraussetzung für eine plausible Geltungsgeschichte des Weimarer Reichstags bestand ohne Zweifel in ordentlich durchgeführten Wahlen. Aber mit einem arithmetisch perfektionierten Wahlsystem allein ließ sich, wie sich zeigen sollte, keine hinreichende Legitimität gewinnen. Hinzukommen musste vielmehr der subjektive Glaube des »Volks« bzw. einer hinreichend großen Zahl der Wähler, dass sie im Parlament tatsächlich in angemessener Weise repräsentiert seien. Um diese »Repräsentationsfiktion« zu erzeugen und über die Dauer der Wahlperiode und darüber hinaus aufrecht erhalten zu können, mussten der Reichstag und seine Mitglieder in eine fortwährende wechselseitige Kommunikation mit der Öffentlichkeit treten. Dabei ging es einerseits um die vom Parlament und seinen Mitgliedern ausgehende, intendierte oder unbeabsichtigte Kommunikation, und andererseits um die durch die Medien und das Publikum erfolgenden Wahrnehmungen und Zuschreibungen. Intensität, Form und Inhalt dieser Kommunikation entschieden über die symbolische Macht des Reichstags.6 5

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Zur Begrifflichkeit vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen, in: Gerhard Göhler (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84; Werner Patzelt: Parlamentarische Geltungsgeschichten, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hg.): Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 285–318; ferner Wolfram Pyta: Demokratiekultur. Zur Kulturgeschichte demokratischer Institutionen, in: Detlef Lehnert (Hg.): Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 23–46. Nur am Rande geht es dabei um die als staatliche Öffentlichkeitsarbeit zu verstehende Kommunikation, die meistens die Republik oder die Verfassung bewarb, nicht jedoch das Parlament. Vgl. dazu Christian Welzbacher (Hg.): Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in der Weimarer Republik 1918–1933, Weimar 2010; Nadine Rossol: Visualizing the Republic. State Representation and Public Ritual in Weimar Germany, in: John Alexander Williams (Hg.): Weimar Culture Revisited, New York 2011, S. 139–159. Vgl. ferner den Beitrag von Nadine Rossol in diesem Band.

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In den nachfolgenden Überlegungen sollen einige der Bedingungen benannt werden, die es dem Weimarer Reichstag und seinen Mitgliedern erschwerten, symbolische Macht zu erwerben. In einem ersten Schritt werden dazu die Folgen herausgearbeitet, die die Parlamentarisierung des Regierungssystems für die Wahrnehmung des Reichstags hatte. Sodann wird die Rolle der beiden Reichspräsidenten behandelt, die potentiell und faktisch als demokratisch legitimierte, symbolpolitische Konkurrenten des Reichstags wirkten. Schließlich wird anhand ausgewählter diskursiver und visueller Topoi untersucht, wie sich die Vorstellung der »Gesichtslosigkeit« des Reichstags durchsetzen konnte. Im letzten Abschnitt soll dann – erneut am Beispiel von Bildquellen – gezeigt werden, wie die Gegner der parlamentarischen Repräsentation die neuen Bedingungen mit zunehmendem Erfolg zu ihren Gunsten ausnutzten. Zur Schärfung des Arguments spielt der Vergleich eine besondere Rolle. Allerdings wird hier kein europäischer Vergleich mit den Parlamenten in den neugegründeten repräsentativen Demokratien der »Zwischenkriegszeit« vorgenommen, die beinahe ausnahmslos scheiterten,7 sondern ein diachroner Vergleich mit dem Reichstag des Deutschen Kaiserreichs. Als Ausgangspunkt dient dabei eine einfache Beobachtung: Der Reichstag verlor genau in dem Moment an symbolischer Macht, als das politische System parlamentarisiert wurde und seine instrumentelle Macht zweifellos erheblich zunahm. Dieser auf den ersten Blick überraschende Befund erweist sich bei näherer Betrachtung jedoch als durchaus folgerichtig.

I. Der Reichstag wird Obrigkeit – jedenfalls beinahe Im dualistisch verfassten System des Kaiserreichs hatte der Reichstag von einem Phänomen profitieren können, das Christoph Schönberger »Oppositionsrousseauismus« genannt hat.8 Aus der Perspektive genossenschaftlichen Denkens konnte das Parlament die romantische Idee beschwören, es stehe als Volksvertretung im Ganzen gegen die monarchische Obrigkeit. Mit dieser Argumentation, die eine weitgehende Identität von Volk und Volksvertretung behauptete, hatten etwa die opponierenden Liberalen nach Bismarcks konservativer Wende

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Vgl. dazu Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt a. M./New York 2016. 8 Christoph Schönberger: Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt a. M. 1997.

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gearbeitet, und während des Kulturkampfs versuchte dies mit weniger Erfolg auch die katholische Zentrumspartei. Aber vor allem die Sozialdemokratie perfektionierte das Modell. Ihre politische Agitation basierte ganz wesentlich auf dem Argument, im Reichstag die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gegen die Obrigkeit zu vertreten. Diesen Anspruch unterstrichen die Sozialdemokraten mit einer Vielzahl von parlamentsbezogenen, performativen Handlungsformen, die sie zu unangefochtenen Meistern beim Erwerb symbolischer Macht werden ließen. Davon profitierte indirekt auch der Reichstag als Institution.9 Die Parlamentarisierung des Reichs durch die Weimarer Verfassung setzte dem ein Ende. Unter dem Regime der neuen Verfassung wurde der Reichstag selbst zum Bestandteil der »Obrigkeit«, so wie es die französische Deputiertenkammer schon seit den 1880er Jahren gewesen war. In der Dritten Republik hatte deshalb auch der Antiparlamentarismus als politische Ideologie und als Bildpraxis wesentlich radikalere Züge getragen als im Kaiserreich.10 Während der Weimarer Republik geriet jetzt auch der Reichstag in das Visier der Republikgegner, die immer zugleich strikt antiparlamentarisch waren. Die Parlamentarier, die auf einmal die Verantwortung für den Staat tragen mussten, den sie als »Volksvertreter« gleichsam verkörperten, kamen mit dem Rollenwechsel nur schwer zurande. Das gilt besonders für die Sozialdemokraten. Allerdings hatten die liberalen Verfassungsautoren um Hugo Preuß gewisse »oppositionsrousseauistische« Reste in die Verfassung gemogelt. Besonders gilt das für die Gestalt des Reichspräsidenten, der nicht nur über die durch den Artikel 48 gewährten Verordnungsrechte verfügte, sondern beispielsweise auch die Reichsregierung ernannte.11 Diese ging eben nicht aus dem Reichstag hervor, sondern konnte von ihm lediglich abgelehnt werden. Manche Autoren sprechen deshalb für die Weimarer Republik von einem bloß »teilparlamentarisierten« Regierungssystem.12 Diese Spurenelemente des traditionellen   9 Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in: Andreas Biefang/Michael Epkenhans/Klaus Tenfelde (Hg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Düsseldorf 2 2010. 10 Andreas Biefang: »Kiss my Ass«. Zur Geschichte einer anrüchigen Bildfindung der Parlamentskritik, in: Marie-Luise Recker/Andreas Schulz (Hg.): Parlamentarismuskritik und Antiparlamentarismus in Europa, Düsseldorf 2018, S. 97–125. Vgl. ferner die Beiträge in: Parlement[s]. Revue d’histoire politique, Sonderheft 9 (2013): L’antiparlementarisme en France. 11 Gusy, 100 Jahre [wie Anm. 1], S. 171–205. 12 Gertrude Lübbe-Wolff: Das Demokratiekonzept der Weimarer Reichsverfassung, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 111–150.

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Dualismus, die aus dem Misstrauen gegen einen konsequent durchgeführten Parlamentarismus herrührten, ließen den Volksvertretern manche Möglichkeit, ihre »oppositionrousseauistischen« Reflexe auszuleben. Anders als im Kaiserreich konnte der Reichstag diese Schlupflöcher jedoch nicht nutzen, um seine symbolische Macht zu stärken. Im Gegenteil begünstigte die unklare Verfassungskonstruktion das Schwanken der republiktreuen Parteien zwischen regierungstragender Funktion und Oppositionsgelüsten. Und sie hielt den Reichspräsidenten als demokratisch legitimierten Konkurrenten des Reichstags im Spiel um Aufmerksamkeit und symbolische Macht.

II. Die Reichspräsidenten als symbolpolitische Konkurrenten des Reichstags Im politischen System des Kaiserreichs war die Staatsrepräsentation im Wesentlichen auf zwei Institutionen verteilt, die in symbolpolitischer Konkurrenz zueinander standen: auf den Kaiser und den Reichstag. Der Bundesrat als der eigentliche Souverän des föderalen Gebildes spielte hingegen keine öffentliche Rolle.13 Ein nationaler Monarch und ein tendenziell frei gewähltes Parlament wurden gebraucht, um dem neuen Nationalstaat sowohl eine einheitliche politische Führung als auch ein populäres, demokratisches Fundament zu geben. Nur so ließen sich die einzelstaatlichen Loyalitäten zugunsten einer größeren politischen Einheit überwinden. Auch in der Weimarer Republik wirkte der Dualismus und die dadurch bedingte symbolpolitische Konkurrenz fort, wenn auch in abgeschwächter Form und unter weniger eindeutigen Bedingungen. Anders als man erwarten könnte, verbesserten sich die Chancen des Reichstags zum Erwerb symbolischer Macht jedoch nicht. Das lag auch daran, wie die Reichspräsidenten agierten. Den Vergleichsmaßstab bot auch hier die monarchische Repräsentation im untergegangenen Deutschen Kaiserreich. Dort hatte sich spätestens Wilhelm II. an einer betont nationalmonarchischen Inszenierung versucht, die mit einer expansiven Öffentlichkeitspolitik einherging.14 Ihren Niederschlag fand sie in einer Vielzahl performativer Akte, die vom Hofzeremoniell über die Hofjagd bis

13 Andreas Biefang: Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im »System Bismarck« 1871–1890, Düsseldorf 22012. 14 Saskia Asser/Liesbeth Ruitenberg (Hg.): Der Kaiser im Bild. Wilhelm II. und die Fotografie als PR-Instrument, Zaltbommel 2002; Martin Kohlrausch: Der Mann mit dem Adlerhelm. Wilhelm II. – Medienstar um 1900, in: Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 1: 1900 bis 1949, Göttingen 2009, S. 68–75.

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zu Manövern und Stapelläufen reichten. Von herausragender Bedeutung blieb dabei das Herrscherbildnis, für das der Kaiser die Malerei und die Fotografie gleichermaßen einspannte. Selbst im gerade entstehenden Film zählte Wilhelm II. zu den frühen »Stars«.15 Mit seiner medialen Dauerpräsenz schuf er auf innovative Weise eine Form monarchischer Repräsentation, deren Integrationsleistung beachtlich war. Mit dem Übergang zur Republik fiel die monarchische Staatsrepräsentation naturgemäß weg. Was blieb, war ein Reichspräsident, der nicht nur eine neue Form der republikanischen Inszenierung erfinden, sondern sich auch darüber klar werden musste, wie er die dadurch erworbene symbolische Macht verwenden würde, nicht zuletzt in Verhältnis zum Reichstag.16 Ebert als gescheiterter »Ersatzmonarch« Auf dem Feld der wirkmächtigen Staatsrepräsentation konnte Friedrich Ebert den Kaiser nicht ersetzen.17 Die Gründe dafür sind vielfältig. Zunächst fehlte dem von der Nationalversammlung eingesetzten Ebert der Nimbus der Volkswahl, wofür er nichts konnte. Außerdem blieb während der tumultuarischen Anfangsjahre der Republik nur wenig Zeit für scheinbare Nebensächlichkeiten. Andere Probleme schienen drängender. Allerdings lagen Eberts persönliche Begabungen auch nicht auf dem Feld der öffentlichen Repräsentation. Das sahen nicht nur dünkelhafte Aristokraten wie der gern zitierte Harry Graf Kessler so, der über die kleinbürgerliche Ausstrahlung des Sattlergesellen lästerte,18 sondern auch Ebert selbst fühlte sich für das Repräsentieren kaum geeignet und widmete ihm wenig, man wird wohl sagen müssen, zu wenig Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist der größte medienpolitische Unfall der frühen Republik, die vielbesprochene Fotografie des Reichspräsidenten Ebert und des Reichswehrministers Gustav Noske in Badehose, die am 16. Juli 1919 im Seebad Haffkrug bei Travemünde an der Ostsee angefertigt worden war. Sie wurde unter dem

15 Dominik Petzold: Der Kaiser und das Kino. Herrschaftsinszenierung, Populärkultur und Filmpropaganda im Wilhelminischen Zeitalter, Paderborn 2012. 16 Eine quantitativ orientierte Übersicht der Presseberichterstattung zum »Staatsoberhaupt« in Reich und Republik bei Konrad Dussel: Bilder als Botschaft. Bildstrukturen deutscher Illustrierter 1905–1945 im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Publikum, Köln 2019, S. 315–333. 17 Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 778–869; ders.: Friedrich Ebert. Sein Leben in Bildern, Ostfildern 2019, S. 9–79; ders. (Hg.): Friedrich Ebert – Reden als Reichspräsident (1919–1925), Bonn 2017. 18 Vgl. zum Beispiel Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937, Bd. 7: 1919–1923, Stuttgart 2007, S. 157 und 265 (Einträge vom 24.2.1919 und 21.8.1919).

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24. August 1919 auf der Titelseite der auflagestarken, im weitesten Sinn liberal positionierten »Berliner Illustrirten Zeitung« offiziell veröffentlicht, kursierte aber schon am 21. August, dem Tag der Vereidigung Eberts auf die Verfassung, in Weimar.19 Für die Gegner der Republik wirkte die Veröffentlichung an so prominenter Stelle wie ein Geschenk. Die Verächter Eberts nutzten die Vorlage, um eine Vielzahl herabsetzender Gegenbilder zu entwerfen, deren agitatorische Idee darin bestand, das aus ihrer Sicht mediokre Personal der verachteten Republik mit der glanzvollen Welt der monarchischen Repräsentation des zerstörten Kaiserreichs zu kontrastieren. Führende Politiker in Badehose in der Sommerfrische gehörten zu den bevorzugten Motiven, mit denen die Satireblätter die politische Flaute der Ferienzeit überbrückten. Nicht nur Bernhard von Bülow, sondern sogar Kaiser Wilhelm II. konnte man beim Schwimmen im Nordmeer betrachten, während sein angedeutetes Hinterteil aus dem Wasser ragte (Abb. 1 u. 2). Warum rief dann das Bild Eberts trotz der etablierten Tradition der satirischen Sommerfrischebilder eine solche verheerende Wirkung hervor? Ohne Zweifel spielten Zeitpunkt und Ort der Veröffentlichung eine wichtige Rolle, wie schon der Umstand beweist, dass die Erstveröffentlichung einige zwei Wochen zuvor in der Beilage der konservativen Deutschen Tageszeitung kaum Beachtung gefunden hatte.20 Aber das allein reichte nicht aus. Für den Erfolg der teils wüsten Kampagne gegen Ebert dürfte der Wechsel des Bildmediums entscheidend gewesen sein: Bei den Karikaturen des Kaiserreichs hatte es sich einerseits um Zeichnungen gehandelt, die abstrahierend und typisierend angelegt waren und so Distanz zur realen Person des Dargestellten wahrten. Außerdem ging es bei diesem Bildtypus allein um journalistische bzw. künstlerische Zuschreibungen. Im Fall der skandalmachenden Fotografie hingegen war Ebert selbst an deren Zustandekommen beteiligt, indem er bereitwillig für die Kamera posierte. Hinzu kam, dass Fotografien in der allgemeinen Wahrnehmung als mehr oder weniger getreues Abbild der Wirklichkeit galten, obwohl es nicht nur die Fotografen eigentlich längst besser wussten. Der Fotografie wurde Dokumentencharakter zugeschrieben. Und da machte es den Unterschied, ob man einen halbnackten 19 Dazu ausführlich, allerdings mit teilweise anderer Wertung, Mühlhausen, Ebert. Leben in Bildern [wie Anm. 17], S. 1–16. 20 Allerdings hatte die Tageszeitung einen größeren Bildausschnitt gewählt, der weitere Personen umfasste. Dazu mit Wiedergabe der Abbildung Niels H. M. Albrecht: Die Macht einer Verleumdungskampagne. Antidemokratische Agitationen der Presse und Justiz gegen die Weimarer Republik und ihren ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert vom »Badebild« bis zum Magdeburger Prozeß, phil. Diss. Universität Bremen 2002, S. 51.

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Abb. 1: Gustav Brandt: »Theobald im Seebad oder Die enttäuschten Badegäste: Bernhard machte doch auch im Wasser eine viel glücklichere Figur«, in: »Kladderadatsch« Nr. 23 vom 6. Mai 1910, S. 412.

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Abb. 2: Gustav Brandt: »Sommeridyll am Balestrand«, in: »Kladderadatsch« Nr. 31 vom 3. August 1913, Titelseite.

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Kanzler in einer gezeichneten Karikatur oder leibhaftig auf einem Foto zu sehen bekam. Es handelte sich um eine fatale medienpolitische Naivität des Volksbeauftragten Ebert und seiner Entourage, die tatsächlich glaubten, wie Privatleute agieren zu können und keinerlei Bildkontrolle ausübten.21 Man hätte es besser wissen können und müssen. Dem abgedankten Kaiser wäre eine solche Panne jedenfalls nicht passiert. Eberts Ansehen wurde durch die Kampagne vornehmlich in konservativen und bürgerlichen Kreisen dauerhaft beschädigt. Eberts Suche nach einer neuen, zurückhaltenden Staatsrepräsentation, wie er sie der Republik für angemessen hielt, wurde durch den Vorfall ohne Zweifel erschwert. Das gilt auch für die Neuformulierung des »Herrscherporträts«, dessen Wahrnehmungshorizont durch Wilhelm II. definiert war.22 Dabei spielten auch ästhetische Fragen wie die Krise des für die Staatsrepräsentation so zentralen realistischen Bildnisses eine Rolle, auf die noch einzugehen ist. Jedenfalls dauerte es bis Mitte der 1920er Jahre, bis Künstler der moderaten Moderne wie Lovis Corinth und Emil Orlik einen den Bedürfnissen der Republik angemessenen, postavantgardistischen Porträtstil entwickelten. Ihre Bildnisse Friedrich Eberts, die nicht zu ihren Hauptwerken zählen, waren grundsätzlich geeignet, als offizielle Staatsporträts die Anerkennung des Publikums zu finden.23 Eberts früher Tod führte jedoch dazu, dass seine Präsidentschaft von diesen erfolgversprechenden Ansätzen einer republikanischen Porträtkunst kaum mehr profitieren konnte. So sehr Ebert sich auf dem Feld der instrumentellen Macht – etwa durch den Einsatz des Artikel 48 – für Republik und Parlament einsetzte, auf dem Feld der symbolischen Macht konnte er dem Reichstag kein Kapital zur Verfügung stellen. Ohnehin muss offenbleiben, ob Ebert nicht zu einem ernsthaften symbolpolitischen Konkurrenten des Parlaments geworden wäre, wäre er ein medienwirksamerer Präsident gewesen.

21 Zur defizitären Pressearbeit des Präsidialbüros vgl. Mühlhausen, Ebert. Leben in Bildern [wie Anm. 17], S. 17–28. Das Argument, die Pressefotografie sei ein junges Phänomen gewesen, über dessen Wirkung noch nicht genug bekannt gewesen sei, trifft nicht zu. Spätestens seit den 1890er Jahren hatten Monarchen, Regierungsmitglieder und Parlamentarier den Umgang mit dem Medium eingeübt und entsprechende Strategien entwickelt. 22 Dazu weiterhin Rainer Schoch: Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1975. 23 Zu den malerischen Porträts vgl. Mühlhausen, Ebert 1871–1925 [wie Anm. 17], S. 822– 824.

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Hindenburg als antiparlamentarischer »Ersatzmonarch« Erst dem direkt gewählten Paul von Hindenburg gelang wieder eine plausible und kraftvolle visuelle Inszenierung als Reichspräsident, indem er sein im Weltkrieg erworbenes Prestige einsetzte und durch eine geschickte Medienund Bildpolitik ergänzte, in deren Zentrum wieder das Herrscherbildnis stand. Sein bevorzugter Porträtist wurde Hugo Vogel, ein akademisch ausgebildeter Historienmaler, der Hindenburg während des Weltkriegs als Propagandist und »Hofmaler« begleitet hatte und nun mit seinem konservativen Stil auch das öffentliche Bild des Reichspräsidenten verbindlich prägte (Abb. 3).24 Die »Heilung« der Bildniskrise war spätestens zum 80. Geburtstag vollzogen, als beinahe die gesamte illustrierte Presse mit Hindenburgporträts auf der Titelseite aufmachte.25 Allerdings geschah dies nicht unbedingt im Sinne der Republik oder gar des Reichstags. Hindenburgs Auslegung des Präsidentenamts trug von Anfang an antiparlamentarische Züge, er nutzte seine demokratische Legitimation, um die Macht des Reichstags einzuschränken. Sein im Stil Vogels typisiertes Bildnis wurde deshalb von Jahr zu Jahr mehr zum Symbolbild eines angeblich »über den Parteien« stehenden, heroischen »Führers« (Abb. 4) und verwies bereit auf anders als parlamentarisch legitimierte Herrschaftsformen.

III. Die Bildlichkeit des Reichstags – Quelle symbolischer Macht? Der Weimarer Reichstag war kein Parlament ohne Bilder.26 Im Gegenteil. Die illustrierte Presse berichtete nach dem medialen Feuerwerk zur Weimarer Nationalversammlung seit Ende der Inflationskrise auch in den folgenden Jahren wieder regelmäßig. Fotografien vom parlamentarischen Leben wurden vor allem dann publiziert, wenn etwas Aufregendes passierte, also um die

24 Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2007; Jesko von Hoegen: Hindenburg. Die Visualisierung des Retter-Mythos, in: Paul (Hg.), Jahrhundert der Bilder [wie Anm. 14], S. 412–419. Ein gezeichnetes Ebert-Porträt von der Hand Hugo Vogels, ein Schulterstück im Dreiviertelprofil, war im Februar 1919 auf der Titelseite der »Berliner Illustrirten Zeitung« erschienen (Nr. 3 vom 23. Februar 1919); abgedruckt in: Mühlhausen, Ebert. Leben in Bildern [wie Anm. 17], S. 14. Die auf den Dezember 1918 datierte und im Stil des Realismus gefertigte Zeichnung, die ursprünglich den Volksbeauftragten Ebert zeigen soll, blieb unbeachtet und hatte keine Auswirkung auf künftige die Repräsentation des Reichspräsidenten. 25 Anna Menge: The Iron Hindenburg. A Popular Icon of Weimar Republic, in: German History 16 (2008), S. 357–382, hier S. 371–373. 26 So jedoch der Tenor bei Mergel, Parlamentarische Kultur [wie Anm. 4], S. 362–398.

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Abb. 3: Hugo Vogel: »von Hindenburg«, in: »Berliner Illustrirte Zeitung« Nr. 40 vom 3. Oktober 1926.

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Abb. 4: Wilhelm Schulz: »Führer. Wenn man über den Parteien steht, ist man allein«, in: »Simplicissimus« Nr. 41 vom 11. Januar 1926.

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Wahlen herum, bei Regierungswechseln, Festivitäten oder Skandalen sowie bei besonders kontroversen Debatten. Die auflagestarken Satireblätter hingegen arbeiteten sich beinahe pausenlos am Parlamentsbetrieb ab. Eine breite Publizistik informierte schließlich über die Arbeitsweise des Reichstags, stellte seine Mitglieder im Bildnis oder im Zerrspiegel der Karikatur vor. Kommerzielle Produktwerbung griff gelegentlich auf parlamentarische Motive zurück. Insgesamt partizipierte der Weimarer Parlamentarismus an der Vermehrung der Bilder im neuen Zeitalter visueller Massenmedien. Das gilt zumindest in absoluten Zahlen, auch wenn sein relativer Anteil an den publizierten Bildern im Vergleich zum Kaiserreich geringer ausgefallen sein mag.27 Seit Mitte der 1920er Jahre gab es außerdem zumindest bei den überregionalen Zeitungen verstärkte Bemühungen im künstlerischen und bildjournalistischen Bereich, zu einer parlamentsfreundlichen Ikonografie zu gelangen. So erarbeitete der Pressefotograf Erich Salomon seit 1928 vorrangig für die auflagestarken Blätter des Ullstein-Verlags eine Darstellungsweise, die den Reichstag als deliberatives Parlament und die Abgeordneten als Teil einer republikanischen gesellschaftlichen Elite zu profilieren suchte (Abb. 5 u. 6).28 Aber ungeachtet der skizzierten Bilderflut trifft die Rede vom zwar nicht bilderlosen, aber gesichtslosen Parlament einen wesentlichen Punkt der öffentlichen Wahrnehmung des Reichstags. Bildnis und politische Repräsentation Ein Grund liegt in der Krise des realistischen Porträts in der bildenden Kunst, und zwar namentlich bei denjenigen der Moderne oder der Avantgarde zuzurechnenden Künstlern, die die Revolution und die Republik zwar hoffnungsvoll begrüßt hatten, dem Parlamentarismus jedoch distanziert gegenüberstanden. Die politische Relevanz der Bildniskrise, die schon die Findung eines angemessenen Ebert-Bildnisses erschwert hatte, wird nur verständlich, wenn man sich die zentrale Bedeutung des fotografischen und malerischen Porträts für die politische Repräsentation im individualistischen 19. Jahrhundert vor Augen führt. Seit Beginn des parlamentarischen Lebens hatte sich eine Tra27 Zu den illustrierten Zeitungen und Zeitschriften (allerdings ohne ernsthaftes Interesse an ikonologischen Fragen) Konrad Dussel: Pressebilder in der Weimarer Republik: Entgrenzung der Information, Münster 2012; ders., Bilder als Botschaft [wie Anm. 16]; Katja Leiskau/Patrick Rössler/Susann Trabert (Hg.): Deutsche illustrierte Presse. Journalismus und visuelle Kultur in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2016. 28 Andreas Biefang: Das Ende der Deliberation. Erich Salomons Bilder vom Reichstag 1928–1931, in: Andreas Biefang/Marij Leenders (Hg.): Das ideale Parlament. Erich Salomon als Fotograf in Berlin und Den Haag 1928–1940, Düsseldorf 2014, S. 23–98.

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Abb. 5: Erich Salomon: »Die ersten Aufnahmen, die während einer Reichstagssitzung im Saal gemacht wurden«, in: »Berliner Illustrirte Zeitung« Nr. 29 vom 15. Juli 1928.

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Abb. 6: Erich Salomon: »Parlamentarischer Abend«, in: »Welt-Spiegel« Nr. 51 vom 16. Dezember 1928.

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Andreas Biefang Abb. 7: George Grosz: »­Republikanische Automaten«, 1920, Aquarell, 60 × 47, 3 cm [© Estate pr George Grosz. Princeton N. J./VG Bild-Kunst, Bonn 2020]

Abb. 8: Otto Dix: »Zur Erinnerung an die große Zeit«, 1923, Tusche und Aquarell, 37, 8 × 30, 1 cm [© VG Bild-Kunst, Bonn 2020 und bpk, Staatliche Kunstsammlungen Dresden]

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dition des Parlamentarierbildnisses herausgebildet, die man im politischen Raum als angemessen empfand, im Bereich der Kunst allerdings zunehmend langweilte. Die Revolution von 1918 verhalf den in der modernen Malerei schon lange ausgeprägten realismuskritischen Tendenzen zum Durchbruch, die nun für einige Jahre das Kunstgeschehen beherrschten. Expressionistische, kubistische oder konstruktivistische Bildnisse, wie sie jetzt in großer Zahl entstanden, eigneten sich jedoch kaum für die parlamentarische oder die Staatsrepräsentation, denn sie wandten sich explizit gegen die bürgerliche Vorstellung der autonomen Persönlichkeit.29 Deshalb bevölkerten in den ersten Jahren der Republik zusammengesetzte Maschinenmenschen die Bilderwelt, die wie George Grosz’ »Republikanische Automaten« auch ausdrücklich und in politischer Absicht auf das politische Personal der parlamentarischen Republik bezogen wurden (Abb. 7).30 Die Botschaft der Dekonstruktion des Individuums wurde zudem durch die reale Zerstörung so vieler menschlicher Gesichter im Krieg beglaubigt und verstärkt. »Kriegskrüppel« begegneten nicht nur auf den Straßen der Großstädte, sondern sie waren auch in den Publikationen der Kriegsgegner oder in der Kunst visuell präsent (Abb. 8).31 Die während der Weimarer Republik verstärkt wieder aufkommende Obsession für die Physiognomie, die aus dem äußeren Ansehen eines Gesichts auf den Charakter der Person schließen wollte, steht im dialektischen Zusammenhang mit der physischen und ästhetischen Dekonstruktion des Gesichts in Krieg und Kunst.32

29 Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013, S. 118–136. Allgemein zum distanzierten Verhältnis der modernen Künstler zur (parlamentarischen) Demokratie vgl. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S. 539–565; ders.: Die Stellung der künstlerischen Avantgarden zur Weimarer Republik, in: Hans-Peter Becht/Carsten Kretschmann/ Wolfram Pyta (Hg.): Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Heidelberg 2009, S. 30–49. 30 Mit zahllosen Beispielen: Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora (Hg.): Puppen – Körper – Automaten. Phantasmen der Moderne, Ausstellungskatalog, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln 1999. 31 Michael Hagner: Verwundete Gesichter, verletzte Hirne. Zur Deformation des Kopfes im Ersten Weltkrieg, in: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 78–95; Kirsten Fitzke: Helden sehen doch anders aus … Eine Begegnung zwischen Krüppeln auf der Leinwand und Invaliden auf der Straße, in: Otto Dix: retrospektiv. Zum 120. Geburtstag, Ausstellungskatalog, Kunstsammlungen Gera, Gera 2011, S. 89–94. 32 Wolfgang Brückle: Kein Portrait mehr? Physiognomik in der deutschen Bildnisphotographie um 1930, in: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 131–155.

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Sie fand ihrer Leitbilder allerdings eher im imaginierten »Volksgesicht« als im Bildnis des Volksvertreters. Folgen des Verhältniswahlrechts Die ästhetisch begründete Entindividualisierung politischer Repräsentation wurde durch die Änderung des Wahlsystems im Übergang vom Kaiserreich zur Republik noch verstärkt. Gemeint sind hier nicht die Folgen der Einführung des Frauenwahlrechts, das die Parteien zur Überarbeitung ihrer Programmatik und ihrer Wahlwerbung zwang.33 Für die hier interessierende Frage nach der symbolischen Macht des Reichstags und seiner Mitglieder war der Übergang vom absoluten Mehrheitswahlrecht zum reinen Verhältniswahlrecht wichtiger. Dabei galt der Systemwechsel den Akteuren als selbstverständlich. Er war bereits am 8. November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten dekretiert worden und fand ohne große Diskussionen Eingang in Artikel 17 der Reichsverfassung.34 Die Reform beseitigte die erheblichen Stimmenungleichgewichte des Kaiserreichs, die ein ewiges Monitum der Parteien gewesen waren, deren Hochburgen in den dichtbevölkerten Städten lagen. In der Forschung wurde die Einführung des Verhältniswahlrechts meistens unter dem Gesichtspunkt seiner Auswirkung auf die Zusammensetzung des Reichstags diskutiert, also unter dem Gesichtspunkt der Zersplitterung des Parteiensystems und der dadurch verschärften Koalitionsproblematik.35 Im Folgenden geht es jedoch weniger um die arithmetischen oder technokratischen Aspekte des Wählens, sondern um den Wandel der Wahlkultur und dessen Rückwirkung auf die symbolische Macht des Reichstags. Im Kaiserreich hatte sich das Wählen nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht für Männer zu einer Quelle symbolischer Macht entwickelt. Es entstand eine Art demokratisches Zeremoniell, bei dem die in der Verfassung nicht verankerte Volkssouveränität ersatzweise durch die Ritualisierung des Wahlkampfes und des Wahlvorgangs performativ hergestellt

33 Andreas Biefang: Frauen! Wählt sozialdemokratisch!, in: Anja Kruke/Meik Woyke (Hg.): Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung. 1848–1863–2013, Bonn 2012, S. 132–137; Julia Paulus: Die Parteien und die Frauen, in: Dorothee Linnemann/Jan Gerchow (Hg.), Damenwahl. 100 Jahre Frauenwahlrecht, Ausstellungskatalog, Historisches Museum Frankfurt, Frankfurt a. M. 2018, S. 158–161. 34 Gusy, 100 Jahre [wie Anm. 1], S. 146–149. 35 Vgl. zusammenfassend Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, München 82013, S. 183–185.

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wurde.36 Gewählt wurde in Einmannwahlkreisen. Erlangte im ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit, kam es zur Stichwahl der beiden Erstplatzierten. Die Wahlkampagnen der Parteien waren zumeist wahlkreisbezogen organisiert. Abgesehen von einigen Prominenten wie August Bebel, die in mehreren Wahlkreisen zugleich antraten, waren die Kandidaten mit den Wahlkreisen lebensweltlich verknüpft. Die jeweiligen lokalen Traditionen und die Persönlichkeit der Kandidaten spielten eine große Rolle und beeinflussten auch die jeweiligen Wahlabsprachen. Daran änderte auch die Professionalisierung der Parteiarbeit bzw. das Aufkommen von Interessenverbänden wie dem Bund der Landwirte im Grundsatz wenig. Im Laufe der Jahre entstand so eine Wahlkultur, die kollektiv eingeübt und gesellschaftlich verankert war. Zur Identifikation mit dem Wahlsystem trugen auch verschiedene Reformen der Wahlordnung bei, durch die – wie durch die Einführung der Wahlkabinen 1903 – die zunächst recht häufigen Wahlmanipulationen stark eingeschränkt wurden. Trotz ihrer Benachteiligung durch den Wahlkreiszuschnitt erlebte auch die Sozialdemokratie unter diesem Wahlregime den Aufstieg zur stimmenstärksten Partei und seit 1912 auch zur stärksten Fraktion im Reichstag. Das klare Bekenntnis zum Parlamentarismus in der Novemberrevolution wäre ohne diese Erfahrung nicht denkbar gewesen. In der Weimarer Republik kam es zum Bruch mit der etablierten Wahlkultur. Der Übergang zum Verhältniswahlrecht sowie die Reduzierung der Wahlkreise von 397 auf 35 in Verbindung mit der Einführung zentraler Wahllisten führten zur weitgehenden Entpersönlichung des Wählens. Bei den Wahlen zum Weimarer Reichstag erfolgte nicht nur die Kandidatenaufstellung zentral, sondern auch die Wahlkampfführung wurde mehr und mehr eine Angelegenheit der zentralen Parteiapparate, die den Inhalt der Kampagnen festlegten, das Werbematerial produzierten und großflächig verteilten.37 Die Kandida-

36 Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Kaiserreich, Stuttgart 2009 [zuerst engl. 2000]; Robert Arsenschek: Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871–1914, Düsseldorf 2003; Andreas Biefang: Die Reichstagswahlen als demokratisches Zeremoniell, in: Biefang/Epkenhans/Tenfelde (Hg.), Das politische Zeremoniell [wie Anm. 9], S. 233–270. 37 Die beste übergreifende Studie zur Praxis der Reichstagswahlen, die allerdings erst 1924 einsetzt, stammt von Dirk Lau: Wahlkämpfe der Weimarer Republik. Propaganda und Programme der politischen Parteien bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag von 1924 bis 1930, Marburg 2008; zu den Parteiapparaten Till Kössler: Die Parteizentrale, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 99–108.

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Abb. 9: Paul Halbe: »Die Demokratie«, in: »Ulk« Nr. 23 vom 4. Juni 1920.

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ten selbst wurden so zu bloßen Namen ohne Verankerung in den viel zu großen Wahlkreisen. Und für die Kandidatinnen galt das auch. Vermutlich wurde die öffentliche Wahrnehmung der eigentlich sensationellen Tatsache, dass Frauen wählen und gewählt werden konnten, dadurch geschwächt, dass sie gleichsam als »Listenfrauen« ins Parlament kamen. Die Parteien reagierten zunächst hilflos. Zwar setzten schon nach dem Kapp-Putsch Diskussionen um eine Reform des Wahlrechts ein, die unter anderem auf die Verkleinerung der Wahlkreise setzten oder variable Wahllisten empfahlen, um den »Kampf Mann gegen Mann« (Johann Victor Bredt) wieder möglich zu machen und die beklagte Entfremdung zwischen Wählern und Abgeordneten zu überwinden. Aber diese Debatten fanden meist außerhalb des Parlaments statt und führten zu keinen greifbaren Ergebnissen.38 In der politischen Praxis änderte sich erst einmal wenig. Die Wahlkampfführung wurde weiter professionalisiert und zentralisiert, ohne dass man die Folgen hinreichend reflektierte. Für die Herausbildung einer medial erfolgreichen parlamentarischen Führungselite, die ihr Prestige mit der Institution des Reichstags hätte verbinden können, waren das keine guten Voraussetzungen. Durch das neue Wahlrecht der Republik änderte sich die Wahrnehmung des Wählens auch auf grundsätzlicher Ebene. Im Kaiserreich hatte das Wählen stets als reformerisch-friedliche Alternative zur Revolution gegolten, und auch während der Novemberrevolution und der ersten Jahre der Republik wurde es in der sozialdemokratischen und liberalen Presse als bestes Mittel zur Vermeidung des Bürgerkriegs angepriesen. Beispielhaft für diesen Bildtypus ist eine Zeichnung von Paul Halbe, die eine weibliche Allegorie der Demokratie vor einer überdimensionierten Wahlurne zeigt, die mit ausgestreckten Armen die in bürgerkriegsähnliche Kämpfe verstrickten Radikalen in den Hintergrund drängt (Abb. 9). Im Verlaufe der Weimarer Republik jedoch wurde das Wählen semantisch mehr und mehr mit der gewaltsamen »Wahlschlacht« konnotiert. Zahlreiche Fotoberichte der illustrierten Presse, die meist aus den umkämpften Großstädten stammten, beglaubigten die Behauptung auch visuell (Abb. 10). Das Wählen galt jetzt immer weniger als Alternative zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum, sondern es wurde zunehmend

38 Zur damaligen Wahlrechtsdebatte vgl. Eberhard Schanbacher: Parlamentarische Wahlen und Wahlsystem in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 113–149; Mergel, Parlamentarische Kultur [wie Anm. 4], S. 404–407; Carolin Dorothée Lange: Genies im Reichstag. Führerbilder des republikanischen Bürgertums in der Weimarer Republik, Hannover 2012, S. 242–256.

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Abb. 10: »Bilder von der Wahlschlacht«, verschiedene Fotografen, in: »Hackebeils lZ« Nr. 39 vom 25. September 1930.

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als Teil derselben wahrgenommen.39 Als Quelle zur Schöpfung symbolischer Macht fiel das Wählen in der Republik damit weitgehend aus.

IV. Repräsentationskritische und antiparlamentarische Gegenbilder Mochte die hier angedeutete »Gesichtslosigkeit« des Reichstags, die ungeachtet zahlloser veröffentlichter Bilder die Wahrnehmung und die Debatte prägte, für sich genommen nicht ausreichen, den Weimarer Parlamentarismus in die Krise zu stürzen, so ließ sie jedoch in der Summe die polemischen Argumente der Systemgegner für viele Beobachter und Wähler plausibel erscheinen. Insbesondere das Fehlen respektierter, öffentlich anerkannter parlamentarischer Führer spielte den Gegnern des Reichstags in die Hände. Aus dem Bereich der repräsentationsfeindlichen Agitation sollen abschließend einige Bildbeispiele gezeigt werden, von denen jedes beanspruchen kann, typisch für die visuelle Auseinandersetzung um die Republik bzw. um das Parlament gewesen zu sein. Die ausgewählten Bilder sind motivisch eng miteinander verbunden und greifen zentrale zeitgenössische Debatten über Parlamentarismus und Demokratie während der Weimarer Republik auf. Parlamentarier als Funktionäre Die beiden ersten Bilder entstammen einem semantischen Umfeld, in dem die Abgeordneten als »Funktionäre« dargestellt werden. Zusammen mit den Angestellten gehörte der Typus des Funktionärs zu den neuen Sozialfiguren der Weimarer Republik, deren Analyse zu den beliebtesten Gegenständen der zeitgenössischen Soziologie zählte.40 Bei dem ersten Bildbeispiel handelt es sich um einen von Arthur Wittig, einem Mitglied der Künstlergruppe Junges Rheinland, gestalteten Buchumschlag. Man sieht einen marschierenden Abgeordneten, dessen Gang roboterhaft anmutet. Mit rotem Schriftzug ist ihm der Allerweltsname 39 Gerhard Paul: Kampf um Symbole. Symbolpublizistischer Bürgerkrieg 1932, in: ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder [wie Anm. 14], S. 420–427; Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. 40 Thomas Mergel: Der Funktionär, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1999, S. 278–300, S. 380 f.; Till Kössler/ Helke Stadtland: »Organisationsmenschen«. Thesen zur Geschichte der Funktionäre im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933, Essen 2004, S. 7–36.

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Andreas Biefang Abb. 11: Arthur Wittig: »Abgeordneter Meyer«, Umschlag zum gleichnamigen Buch von Josef Buchhorn, 1926

Meyer zugeordnet. Dieser »Abge­ordnete Meyer« war, wie man dem Roman des rechtsliberalen Reichstagsabgeordneten Josef Buchhorn entnehmen kann, Sozialdemokrat und gehörte damit in den Augen bürgerlicher Betrachter zu derjenigen Partei, deren Organisationskultur die Oligarchie der anonymen Parteifunktionäre überhaupt erst hervorgebracht hatte (Abb. 11).41 Visuell wird dieser Prototyp des Politikfunktionärs gekennzeichnet durch einen grobschlächtigen Schädel, einen Stiernacken, einen grauen Straßenanzug und eine Aktentasche unter dem Arm. Individuelle Gesichtszüge kann man nicht erkennen, es lohnt sich auch nicht, so die Botschaft der verschatteten Profilansicht, danach zu suchen. Ganz ähnlich argumentiert das zweite Beispiel, das die Titelseite eines Themenhefts des Simplicissimus zum Parlamentarismus schmückte: Der Abgeordnete, der beim Verlassen des Reichstagsgebäudes gezeigt wird, trägt Hut, Anzug, Aktentasche und Schirm, sein Körperbau und sein Kopf sind grobschlächtig wie bei seinem Kollegen Meyer. Individualisierte Gesichtszüge sind nicht zu erkennen. Durch Brille und Zigarre wird der Namenlose allerdings als »bürgerlicher« Parlamentarier gekennzeichnet. Das Motiv des Parteifunktionärs erfährt hier eine Erweiterung um das in der Weimarer Republik vieldiskutierte Motiv der politischen Korruption. 42 Der Abgeordnete wird durch die Bild41 Vgl. dazu Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.): Robert Michels’ Soziologie des Parteiwesens. Oligarchien und Eliten – die Kehrseiten moderner Demokratie, Wiesbaden 2012. 42 Annika Klein: Korruption und Korruptionsskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2014; Martin H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat?, Hamburg 2018.

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Abb. 12: Karl Arnold: »Dem Deutschen Volke. Über Diäten zum Ministerposten«, in: »Simplicissimus« Nr. 41 vom 10. Januar 1927 [© VG Bild-Kunst, Bonn 2020]

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unterschrift als Karrierist entlarvt, der sein Mandat erworben hat, um Diäten zu kassieren und dann – Höhepunkt der Laufbahn – Minister zu werden. Das überdeutlich hervorgehobene Motto »Dem Deutschen Volke« verhöhnt den Anspruch des Reichstags, »Volksvertretung« zu sein (Abb. 12). Politisch gesprochen behaupten beide Karikaturen, der moderne Abgeordnete sei kein unabhängiges bürgerliches Individuum mit eigener Meinung mehr, sondern ein Durchschnittsmensch ohne Eigenschaften und Verantwortung. Damit wird auch eine Verbindung zu dem endemischen Massediskurs der Zeit hergestellt, der mit elitären, antidemokratischen Ideologemen gespickt war. 43

Abb. 13: Erich Schilling: »Der Radio-Reichstag. Die Herren setzen so leicht Staub an«, in: »Simplicissimus« Nr. 8 vom 19. Mai 1924.

43 Stefan Jonsson: Masse und Demokratie. Zwischen Revolution und Faschismus, Göttingen 2015.

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Das Parlament als Gesetzgebungsmaschine Eng verbunden mit dem Funktionärsmotiv war auch die Vorstellung des Parlaments als entpersönlichte Gesetzgebungsmaschine, bevölkert von »republikanischen Automaten« (Abb. 7) oder gesichtslosen Lautsprechern, die – leblos und eingestaubt – im Zweifel fremde Texte hinausposaunen (Abb. 13). 44 Das Maschinenparlament aus womöglich korrupten Parteifunktionären begründet schließlich die anonyme »Herrschaft der 500«, wie der dem gemäßigten Flügel der Partei zugehörige deutschnationale Abgeordnete Walther Lambach mit gefährlicher Bosheit formuliert hat. Das Bild im Vorsatz seines Buches zeigt einen dickleibigen, anonymen Abgeordneten in Rückenansicht, der auf seinem Stuhl kippelt (Abb. 14). Man kann sich dazu den fiktiven Abgeordneten Müller-Hinterwalden vorstellen, den Lambach mit bezeichnendem Namen für sein Buch erfunden hatte. Er präsentiert sich dem Betrachter nicht mit seinem Gesicht auf offener Bühne, sondern »im Ausschuss«, dem schlecht beleumundeten Hinterzimmer. Das Ganze ist als ironische Antithese zu den traditionellen Herrscherporträts angelegt. So sieht sie also aus, die »Herrschaft der 500« – gesichtslos und dem Volk den Hintern zuwendend. Kundige Rechtsintellektuelle werden gleich erkannt haben, dass Lambach auch auf den »Rat der Fünfhundert« anspielte, Abb. 14: Jürgen von Dewitz: »Im Ausschuß«, auf das Parlament der französi22,3 × 15,1 cm, Werbezettel der Hanseatischen Verlagsanstalt zum Buch von Walther Lambach: Die Herrschaft der 500, Hamburg 1926.

44 Thomas Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–127.

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schen Direktoratsverfassung, das Napoléon Bonaparte 1799 per Staatsstreich gewaltsam hatte auflösen lassen. 45 Populistische Herrschaftsbegründungen Angesichts einer dergestalt routinisierten visuellen Diskreditierung der parlamentarischen Führungsschicht drängte sich die Frage nach möglichen Alternativen auf. Als wichtigstes Gegenmodell zur angeblichen Funktionärsherrschaft im maschinengleichen Parlament wurde die direkte Führer-Volk-Relation visualisiert, die die Herrschaftsausübung eines charismatischen Individuums unter Umgehung aller intermediären Institutionen ermöglichen sollte. Es ging um einen starken »Führer« mit »Gesicht«. 46 Dafür standen zwei Varianten einer Bildformel zur Verfügung, wobei der überdimensionierte »Führer« aus einer Volksmenge gleichsam herauswächst oder, so die Variante, wobei das »Volk« den Körper des »Führers« ausfüllt und mit ihm identisch wird. Bei den beiden Varianten dieses Bildtypus, die sich auch kombinieren ließen, handelt es sich um die wohl wichtigste Bildformel des »Populismus«, die auch deshalb erfolgreich eingesetzt werden konnten, weil sie an einen lange etablierten Bildtypus anknüpften, der durch das Frontispiz zu Thomas Hobbes Leviathan formuliert worden war und als »Urbild« des modernen Staates Karriere gemacht hatte. 47 In der Revolution wurde sie schon im Januar 1919 vom Spartakusbund bzw. der Kommunistischen Partei reaktiviert (Abb. 15). Das Werbeplakat für den Eintritt in die im Januar 1919 neugegründete KPD basierte auf einer Fotografie, die Karl Liebknecht bei seiner letzten öffentlichen Rede am 4. Januar 1919 zeigt. Seine antiparlamentarische Konzeption wurde auch dadurch bekräftigt, dass die KPD die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung abgelehnt hatte. 48 Einige Jahre später wurde das Motiv für die Darstellung Hindenburgs aufgegriffen, dessen antiparlamentarische Amtsauffassung so treffend dargestellt wurde (Abb. 6). Auch die Nationalsozialisten griffen für den von ihnen vorangetriebenen »Führerkult« um Adolf Hitler auf die Bildformel zurück

45 Zum antiparlamentarischen Bildmotiv des zugewandten Gesäßes vgl. Biefang, »Kiss my Ass« [wie Anm. 10]. 46 Mergel, Führer, Volksgemeinschaft [wie Anm. 44], hier S. 105–121. 47 Horst Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651–2001, Berlin 2003. 48 Allgemein Thomas Hertfelder: Das tote Parlament. Zur Ikonografie des kommunistischen Antiparlamentarismus in der Weimarer Republik, in: Biefang/Leenders (Hg.), Das ideale Parlament [wie Anm. 28], S. 177–216.

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Abb. 15: »Hinein in die K.P.D! (Spartakusbund)«, Werbeplakat, hrsg. von der KPD, 62,4 × 47,7 cm, 1919.

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Abb. 16: »Führer wir folgen Dir! Alle sagen Ja!«, Werbeplakat, hrsg. von der NSDAP, 1934.

(Abb. 16). 49 Die zentrale Botschaft der Bilder lautet: Der totalitäre neue »Leviathan« schließt seinen Herrschaftsvertrag direkt mit dem »Volk«, das Parlament als bloß prätendierte »Volksvertretung« wird nicht mehr gebraucht.

V. Schluss Durch die Etablierung der parlamentarischen Regierungsweise, die Konkurrenz des Reichspräsidenten, die Krise des realistischen Porträts sowie die Einführung des Verhältniswahlrechts hatten sich die Bedingungen für den Erwerb sym49 Beispiele bei Nicola Hille: Der Führerkult im Bild. Die Darstellung von Hitler, Stalin und Mussolini in der politischen Sichtagitation der 1920er bis 1940er Jahre, in: Benno Ennker/Heidi Hein-Kircher (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, Marburg 2010, S. 27–49.

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bolischer Macht geändert. Der Reichstag selbst wurde als neue »Obrigkeit« zum Gegenstand neuer Erwartungen und zog entsprechend radikale Kritik auf sich. Das Verhältniswahlrecht brach mit einer personenzentrierten Wahlkultur und vergrößerte die Distanz zwischen Wählern und Gewählten. Obwohl der Reichstag an der quantitativen Ausweitung der Bildpublizistik partizipierte, entstand der Eindruck eines »gesichtslosen« Parlaments. Aus dem Parlament hervorgehende politische Führungsgestalten konnten sich so nur schwer etablieren. Natürlich ging der Weimarer Parlamentarismus nicht in erster Linie daran zugrunde, dass er auf dem Feld der öffentlichen Repräsentation nicht reüssierte. Aber die beschriebenen Probleme bei der Generierung »symbolischer Macht« ließen seinen Geltungsanspruch, Volksvertretung zu sein, nicht in ausreichendem Maße glaubwürdig erscheinen. Das trug zur Schwächung des parlamentarischen Systems insgesamt bei und schuf Raum für entsprechende Machtgewinne konkurrierender Institutionen und Akteure.

Handlungsfelder

Kirsten Heinsohn

Verfassungsauftrag und politische Kultur Diskussionen und Initiativen zur Gleich­ berechtigung von Frauen und Männern

Aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechtergeschichte war sowohl die rechtshistorische wie auch die geschichtswissenschaftliche und sogar die politische Debatte um die Verfassung der Weimarer Republik lange Zeit schlicht nicht interessant, standen doch im deutschen Diskurs nur Fragen im Vordergrund, die gänzlich ohne geschlechterhistorische Sichtweisen auskamen: Es ging vor allem um das Scheitern der politischen Republik und die möglichen Konsequenzen daraus für die Verfassung und die Gesellschaft in Deutschland nach 1945. Das Nachdenken über die Republik von ihrem Ende her zielte auf potentielle Defizite der Verfassung oder die Schwäche der Parteien zur Kompromissbildung, und es ist damit offensichtlich, wie sehr das Weimarbild von den politischen Selbstentwürfen der Nachkriegsjahrzehnte geprägt war. »Bonn ist nicht Weimar« war dafür die einprägsamste Formel.1 Dabei hätte es schon seit den fünfziger Jahren hinreichend Anlass gegeben, anders, nämlich gesellschaftsgeschichtlich, die Weimarer Republik zu untersuchen, etwa unter der Frage, ob die deutsche Gesellschaft vor 1933 strukturell demokratieunfähig gewesen ist.2 Nur war diese Fragerichtung lange nicht opportun, weil mit ihr auch die Verantwortung gesellschaftlicher Gruppen für die zunehmende Autoritätsfixiertheit im politischen Denken und Handeln in der Weimarer Republik in den Blick geraten wäre. Auch in der Frauenforschung sind solche Fragen erst später, in den achtziger Jahren, gestellt worden und auch dann fast ausschließlich mit Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus, z. B. in

1 2

Vgl. Sebastian Ullrich: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009. Diese Frage wird z. B. in der Antisemitismusstudie von Eva Reichmann aus dem Jahre 1956 behandelt: Eva Reichmann: Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt a. M. 1956; Kirsten Heinsohn: Erfahrung und Zeitdeutung. Biographie und Werk der Soziologin Eva G. Reichmann, in: Henning Albrecht u. a. (Hrsg.): Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Festgabe für Barbara Vogel, Hamburg 2006, S. 295–308.

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der Debatte um »Haben Frauen Hitler an die Macht gebracht?«, die Frage der Mittäterschaft oder dem sogenannten Historikerinnenstreit.3 Seit einigen Jahren aber richtet sich der Blick nun vom Ende Weimars zum Anfang der Republik. Es entstand ein Interesse an einer anderen Erzählung über die Republik – ebenfalls mit identifikatorischem Hintergrund und eingebettet in erinnerungskulturelle Formen, nun jedoch mit einer ganz anderen Absicht. Die Anfänge der Demokratie und die Errungenschaften der Revolution standen spätestens im Jubiläumsjahr 2018 im Vordergrund. Aus rechtshistorischer Sicht wird schon seit einigen Jahren nach dem »demokratischen Denken« (Christoph Gusy) in Weimar gefragt, aus frauenhistorischer Perspektive nach neuen Handlungsoptionen für Frauen Ausschau gehalten oder es werden erneut die Beiträge der Weimarer Kultur, sei es im Bauen oder im Künstlerischen, gewürdigt, auch in populären Serienformaten wie in »Babylon Berlin«. Dieser veränderte Umgang mit der Geschichte der Weimarer Republik resultiert auch aus wissenschaftlichen Entwicklungen, zum einen aus einer stärker kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Sicht auf die Entwicklungen in Deutschland zwischen 1918 und 1933, die die lange vorherrschende Politikgeschichte ergänzt oder auch deren Phasenbildung tendenziell in Frage stellt. 4 Zum anderen wird die Verfassung von Weimar aus rechtshistorischer Perspektive neu bewertet, zuletzt von Christoph Gusy und Horst Dreier.5 Diese Betrachtungsweise geht wohl auch auf kulturwissenschaftliche Initiativen in der Rechtsgeschichte 3

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5

Annemarie Tröger: Die Dolchstoßlegende der Linken. »Frauen haben Hitler an die Macht gebracht«, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1976, S. 324–355. Zum Stand der Wahlforschung aus geschlechterhistorischer Sicht vgl. Helen Boak: Women in the Weimar Republic, Manchester/New York 2013, S. 67–82. Das Mittäterschaftskonzept wurde in den achtziger Jahren diskutiert, vgl. dazu Christina Thürmer-Rohr (Hrsg.): Mittäterschaft und Entdeckungslust, Berlin 1989; Susanne Lanwerd/Irene Stoehr: Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren, in: Johanna Gehmacher/Gabriella Hauch (Hrsg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 22–69. Als Beispiele dazu Michael Dreyer/Andreas Braune (Hrsg.): Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert, Berlin 2015; sowie die Diskussion zwischen Andreas Wirsching und Tim B. Müller, in: »ZEIT Geschichte« Nr. 3 vom 23. August 2016, S. 66–71; Kirsten Heinsohn: Parteien und Politik in Deutschland. Ein Vorschlag zur historischen Periodisierung aus geschlechterhistorischer Sicht, in: Gabriele Metzler/Dirk Schumann (Hrsg.): Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 279–298. Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018; Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hrsg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018.

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zurück, u. a. durch den Begriff »Verfassungskultur«, mit dem Peter Häberle das interdisziplinäre Gespräch zwischen Rechtswissenschaft, Geistes- und Sozialwissenschaften beleben möchte.6 Spätestens an diesem Punkt wird die Debatte um die Weimarer Republik und ihre Verfassung für die Frauen- und Geschlechtergeschichte wieder äußerst interessant und anregend: wie lässt sich erklären, dass die Verfassung von 1919 innovative Aussagen zur Rechtsstellung von Frauen beinhaltete, dass aber die juristische Stellung von Frauen vor allem im Privatrecht nicht geändert wurde? Diese Frage hat sich 2018 auch die Juristin Pascale Cancik gestellt, um zunächst festzustellen: »Der neue Verfassungstext änderte nichts« und zugleich zu behaupten: »Der neue Verfassungstext änderte vieles«.7 Diese widersprüchliche Antwort verweist darauf, dass die Verfassung nicht sofort die gesellschaftlichen Realitäten verändern konnte. Zugleich ermöglichte sie aber, dass Veränderungen auf den Weg gebracht werden konnten. Weil es einen Gleichberechtigungsgrundsatz gab, musste Ungleichbehandlung (eigentlich) begründet werden. Es ist bekannt, dass Argumente für die unterschiedliche Stellung oder Behandlung von Männern und Frauen nicht schwer zu finden und weit verbreitet waren – aber es machte doch historisch, in der langen Dauer jedenfalls, einen zentralen Unterschied aus, dass Ungleichbehandlung nun gerechtfertigt werden musste. Die Juristin und Historikerin Marion Röwekamp kam daher schon 2009 ebenfalls zu dem Schluss, dass »die Gleichheitsgrundrechte in der Verfassung zu schwach formuliert worden [waren], um die sofortige Umsetzung garantieren zu können«, diese aber »trotzdem […] mit ihrer moralischen Autorität nicht nur das stärkste Geschütz im täglichen Kampf um Gleichberechtigung, sondern auch die Aussicht und Hoffnung auf eine gleichberechtigte Zukunft über den positiven Bestand der Verfassung hinaus [boten].«8 Moralische Autorität, Hoffnung, Zukunft – diese Worte zeigen an, dass der Weimarer Verfassungstext zur Gleichberechtigung der Geschlechter nicht die tatsächliche gesellschaftliche Realität abbildete, son-

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Hans Vorländer: »Verfassungskultur« aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Robert Chr. Van Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hrsg.): Verfassungs-Kultur. Staat, Europa und pluralistische Gesellschaft bei Peter Häberle, Baden-Baden 2016, S. 27–38. Pascale Cancik: Der Kampf um Gleichberechtigung als Voraussetzung der demokratischen Republik, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis [wie Anm. 5], S. 151–174, hier S. 165. Marion Röwekamp: »Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte«. Weimar – Meilenstein auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter?, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt 2009, S. 235–264., hier S. 260.

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dern eine Aufforderung zur Gestaltung der Zukunft enthielt. All dies hängte sich in der Debatte in der Nationalversammlung schon an dem Wort »grundsätzlich« auf, doch war für den weiteren Verlauf viel entscheidender, dass die Mehrheit der Abgeordneten die Gleichstellung von Frauen in der Politik zwar befürwortete, daraus aber nicht ableitete, dass es auch um die soziale und rechtliche Gleichstellung im Privatrecht gehen sollte.

I. Staatsbürgerliche Gleichstellung – die Debatte in der Nationalversammlung Das Wahlrecht für erwachsene deutsche Staatsbürgerinnen war 1919 kein Streitpunkt mehr – dieser hatte sich schon mit dem ersten Aufruf des Rates der Volksbeauftragten am 12. November 1918 erledigt. Danach stellten nur wenige das Wahlrecht für Frauen überhaupt noch in Frage und sie erhielten nicht mal mehr Zuspruch aus dem konservativen Lager, wie noch wenige Wochen zuvor.9 Erklären lässt sich dieser Vorgang wohl nur damit, dass diese Frage den meisten aktiven Politikern und den vielen Arbeiter- und Soldatenvertretern als nicht mehr wichtig erschien. Denn die Formulierung im Aufruf der Volksbeauftragten lautete ja nicht: alle Sondergesetze für Frauen sind aufgehoben, sondern Frauen kamen nur an einer Stelle explizit vor, nämlich als erwachsene weibliche Personen, die auch das Recht zur Wahl haben sollten. Eine lange und hart umkämpfte Forderung der Sozialdemokratie und der Frauenbewegungen wurde damit einerseits erfüllt.10 Andererseits gab es auf Seiten der Verantwortlichen in den Räten (und später auch Parlamenten) wenig Ambitionen, aus der Gleichheit der politischen Staatsbürgerschaft abzuleiten, dass auch die private Rechtsstellung von Frauen weiter zu reformieren sei. Die Geschichte und die Diskussion des Gleichberechtigungsgrundsatz in der Weimarer Nationalversammlung stehen daher paradigmatisch für die Frage, ob das Wahlrecht als ein Zeichen für Veränderungen im Geschlechterverhältnis angesehen wurde oder nicht und inwiefern sich diese Veränderungen auch im Recht zeigen sollten. Marion Röwekamp hat dazu festgestellt: »Man besaß keine klare Vorstellung davon, welche Rechte durch die Staatsbürgerschaft

  9 Kirsten Heinsohn: Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Stuttgart 2010, S. 61–64. 10 Dorothee Linnemann (Hrsg.): Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht, Frankfurt a. M. 2018.

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der Frauen genau begründet werden sollten.«11 Dies gilt für alle Handelnden, auch die Frauenbewegungen, die sehr unterschiedliche Konzepte zur weiteren Emanzipation der Frauen propagierten.12 Positiv gesehen war die anstehende Diskussion um die Aufnahme eines Gleichberechtigungsgrundsatzes in der neuen Verfassung 1919/1920 also offen, ebenso die möglichen Konsequenzen daraus. Diese Unbestimmtheit konnte jedoch auch in konservative Beharrung umschlagen, die »natürlichen« Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens zu erhalten, und damit den von der Verfassung gesetzten Impuls wieder aufheben. Der Verfassungsentwurf von Hugo Preuß und die Debatten darüber reflektieren dieses Dilemma. Hugo Preuß selbst nahm keine Aussage zur Gleichberechtigung in seinen Entwurf auf; auch Friedrich Ebert tat dies nicht, als er vorschlug, Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen.13 Die Regierungsvorlage für die Grundrechte in der Verfassung lautete in Artikel 28: »Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleichberechtigt. Alle öffentlich rechtlichen Vorrechte oder Nachteile der Geburt sind zu beseitigen, ihre Wiederherstellung durch Gesetz oder Verwaltung sind verfassungswidrig.«14 Nach dieser Formulierung hätte es keine juristisch abgesicherten Unterschiede mehr zwischen Frauen und Männern geben können; so kann man jedenfalls die Aussage Hugo Preuß dazu in den Beratungen interpretieren. Andererseits gab es damit aber auch keine Handlungsanweisung für den Gesetzgeber, die Gleichheit von weiblichen und männlichen Deutschen umzusetzen. Ob diese Formulierung in Art. 28 die Gleichberechtigung der Geschlechter befördert hätte, ist angesichts der damals vorherrschenden Geschlechterordnung, mit ihren konservativen Zügen und der als »natürlich« angesehenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, mehr als zu bezweifeln. Die Initiative, einen entsprechenden klärenden Satz zur Geschlechtergleichheit aufzunehmen, kam von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), insbesondere von Friedrich Naumann, und zwar zuerst im Verfassungsausschuss. Es ist zu vermuten, dass er auch in Übereinstimmung mit den liberalen Frauenrechtlerinnen in der DDP-Fraktion der Nationalversammlung handelte, unter ihnen Gertrud Bäumer, Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF), und Marie Baum, Sozialpolitikerin, die in Frauenvereinen und im

11 12 13 14

Röwekamp, Männer [wie Anm. 8], S. 239. Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, Darmstadt 22020. Vgl. dazu im Folgenden Röwekamp, Männer [wie Anm. 8], S. 243–247. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 335: Anlagen zu den stenographischen Berichten, Berlin 1920, Aktenstück Nr. 59, Art. 28, S. 48–56 (51), zitiert nach Röwekamp, Männer [wie Anm. 8], S. 243.

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BDF aktiv war.15 Diese Frauenpolitikerinnen hatten ebenso wie ihre Kolleginnen in der SPD langjährige Erfahrungen mit der Diskriminierung von Frauen aufgrund einer »natürlichen« Ordnung der Geschlechter. Sie alle hatten die Auseinandersetzung um das 1900 eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) verfolgt, in dem die Unterordnung der Frau in Familie und Ehe neu kodifiziert worden war, und sie kannten die vielen Debatten um gleiche Rechte für Frauen, zum Beispiel über die Zulassung zu den Bildungseinrichtungen, zu den politischen Parteien, zur Gleichberechtigung in den Institutionen der sozialen Fürsorge, zur rechtlichen Stellung der Mutter eines unehelichen Kindes und vieles mehr. Aufgrund dieser Erfahrungen sahen es parteiübergreifend sozialdemokratische und liberale Frauenpolitikerinnen als notwendig an, einen gesonderten Grundsatz zur Gleichberechtigung der Geschlechter aufzunehmen. Nur sollte dieser eigentlich lauten: »Frauen und Männer haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«16, und nicht, wie dann in der Vorlage zur Beratung in der Nationalversammlung am 15. Juli 1919 formuliert: »Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«.17 Auch Nicht-JuristInnen war sofort einsichtig, dass diese Erweiterung des Satzes darauf abzielte, Ausnahmen zu begründen. Schon in den Beratungen des Verfassungsausschusses, bei denen diese Ergänzung vorgenommen wurde, hieß es seitens des Zentrums und der DDP, man sei »sich noch nicht ganz klar […] über die Tragweite der Bestimmung in allen möglichen Einzelheiten« und wolle daher »vorsichtigerweise nur die Richtung im allgemeinen angeben«.18 Diese Vorsicht setzte sich auch in den Beratungen der Nationalversammlung fort. Der zur Diskussion stehende Artikel 108 beinhaltete zwei grundsätzliche Ordnungsfragen, die insbesondere für die SPD zentral waren: zum einen die Gleichberechtigung von Frauen, zum anderen der Umgang mit dem Adel und

15 Marie-Elisabeth Lüders kam erst im August 1919 als Nachrückerin für den verstorbenen Friedrich Naumann in die Nationalversammlung; Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln/Weimar/Wien 2000; Ilona Scheidle: Eine Folge der gegen Frauen verhängten Schranken. Marie Baum (1874–1964), in: Markus Bitterolf/Oliver Schlaudt/Stefan Schöbel (Hrsg.): Intellektuelle in Heidelberg 1910–1933, Heidelberg 2014, S. 27–45. 16 Antrag Naumann in den Verhandlungen der Nationalversammlung 1920, zitiert nach Röwekamp, Männer [wie Anm. 8], S. 244. 17 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328: Stenographische Berichte, Berlin 1919/1920, 57. Sitzung vom 15. Juli 1919, S. 1559–1571. 18 Regine Deutsch: Die politische Tat der Frau. Aus der Nationalversammlung, Gotha 1920, S. 5.

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seinen Privilegien. Alle Redebeiträge zu Artikel 108 behandelten daher diese beiden Themen. Einige Rednerinnen, wie Marie Juchacz von der SPD, sprachen hauptsächlich über den Gleichberechtigungsgrundsatz, andere, wie der deutschnationale Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, über den Adel. Die SPD und die USPD stellten zwei eindeutige Anträge, nämlich erstens, die Worte »grundsätzlich« und »Pflichten« zu streichen, und zweitens einen Zusatz aufzunehmen, der lautete: »Die Bestimmungen des öffentlichen und bürgerlichen Rechts sind entsprechend zu ändern«19. Beide Anträge trafen auf Widerstand, und zwar auch von den Parteien der Weimarer Koalition, der DDP und der Zentrumspartei. Diese beiden Parteien begründeten, dass sie das »Extrem der Gleichmacherei« (Christine Teusch, Zentrumspartei) ablehnten und weiterhin davon ausgingen, dass »die Ausübung unserer [der weiblichen – KH] staatsbürgerlichen Pflichten der physischen und psychischen Naturanlage des Weibes gerecht bleiben müsse«.20 Der Sprecher der DDP, Hermann Luppe, stimmte diesem Gedanken ausdrücklich zu, und ergänzte, dass der Antrag der Linken nach Gleichstellung im privaten Recht nur neue Unklarheiten mit sich bringe und daher abzulehnen sei. Er erklärte dies an einem bemerkenswerten Beispiel: »Es ist praktisch ja gar nicht möglich, daß Männer und Frauen im bürgerlichen Recht in jedem Punkte die gleichen Rechte haben. Eine uneheliche Mutter hat ihrem Kind gegenüber ganz andere Rechte als der uneheliche Vater; sie hat die Pflicht und die Sorge für ihr Kind. Dem unehelichen Vater, der nicht im Haushalt lebt, kann unmöglich dasselbe Recht eingeräumt werden.«21 Und auch die staatsbürgerlichen Rechte wollte er nicht soweit angleichen, dass die untergeordnete Stellung der Ehefrau infrage gestellt wurde: »Alle Frauen sollen das Recht haben, ein Ehrenamt zu bekleiden und sollen diese Pflichten übernehmen müssen. Aber einer Ehefrau müssen Sie unbedingt das Recht einräumen, dieses Ehrenamt ablehnen zu können, wenn sie Kinder hat. Einem Manne können Sie ein solches Recht nicht einräumen; das ist bisher auch nicht geschehen.«22

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Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 17], hier S. 1560. Ebd. Ebd., S. 1567. Ebd., S. 1568.

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Luppe sprach damit den zentralen Dissens zwischen der Linken und den (männlichen) Liberalen und Zentrumsvertretern an: Sollte die Gleichstellung von Männern und Frauen im Wahlrecht auch in anderen Rechtsräumen gelten? Die Frauen der Linken und einige liberale Frauen bejahten diese Frage. Luise Zietz stellte deutlich fest: »Wir wollen, daß diese Verfassung ausspricht, daß diese Umgestaltung des bürgerlichen Rechts sofort in Angriff zu nehmen ist«23. Die Fraktion der SPD und USPD sowie die »anwesenden weiblichen demokratischen Abgeordneten«24 stimmten daher für den Antrag der Linken. Er wurde aber mit 149 zu 119 Stimmen abgelehnt.25 Der spätere Artikel 109 lautete also ebenso wie der Verfassungsausschuss vorgeschlagen hatte: »Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«. Für die Frage nach der Gleichberechtigung von Männern und Frauen war damit die Gleichheit in staatsbürgerlicher Hinsicht festgelegt, diese konnte aber für bestimmte Bereiche aufgehoben werden. In der Debatte der Nationalversammlung wurde dies vor allem an einem Thema explizit gemacht: der Wehrpflicht. Zwar machte der sozialdemokratische Abgeordnete Max Quarck darauf aufmerksam, dass es auch »eine ganze Masse von nichtwehrpflichtigen Männern gibt, die dieselben Rechte haben wie die wehrpflichtigen Männer«26, und diesen würde auch nicht unterschiedliche staatsbürgerliche oder bürgerliche Rechte zugesprochen – aber dieses Argument verhallte ohne Resonanz. Insgesamt zeigen die Diskussionen in der Nationalversammlung über Artikel 108/109, dass ein Ansatz für die Gleichstellung von Männern und Frauen auf Seiten der Weimarer Koalition vorhanden war. Allerdings bezog die Mehrheit der Abgeordneten dieses Thema nur auf die staatsrechtliche Gleichstellung, vor allem das aktive und passive Wahlrecht. Eine weitergehende Reform auch für das bürgerliche Recht, wenigstens als Absichtserklärung des Gesetzgebers, wollten nur die Linke und einige Frauen der linksliberalen Partei und damit die Minderheit in der Nationalversammlung. Der verabschiedete Text stellte einen Kompromiss zwischen konservativer Geschlechterordnung und sozialdemokratisch-liberalen Reformansätzen dar, der von der Mehrheit der Ver-

23 Ebd., S. 1563. 24 Deutsch, Die politische Tat [wie Anm. 18], S. 6. 25 Dieses Ergebnis belegt auch, dass 155 Abgeordnete der Nationalversammlung gar nicht an dieser Abstimmung teilgenommen haben. Insgesamt hatte die Versammlung 423 Abgeordnete. Es haben sich also nur 63,3 Prozent der Gewählten an dem Votum beteiligt. 26 Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 17], S. 1565.

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sammlung getragen werden konnte. Die Formulierung des Artikel 109 schloss eine faktische Gleichstellung von Frauen mit Männern zwar nicht aus, aber die Einschränkung auf »staatsbürgerliche Rechte und Pflichten« verstärkte die ohnehin schon gegebene Beschränkung durch das Wort »grundsätzlich«. Aus heutiger Sicht ist es darüber hinaus erstaunlich, dass in der Debatte über diesen Artikel seitens der DDP keine Frau das Wort ergriff. Von den 10 RednerInnen waren drei weiblich, davon sprachen zwei für die SPD, eine für das Zentrum. Die weiblichen Abgeordneten der DDP entzogen sich zwar bei der Abstimmung dem Fraktionszwang (oder blieben der Abstimmung fern wie Marie Baum27), aber sie formulierten ihre abweichende Meinung in diesen Tagen nicht öffentlich.

II. Gleichstellungsfragen und politische Kultur in der Weimarer Republik In den späteren Beratungen des Reichstages und seiner Ausschüsse haben fast ausschließlich weibliche Abgeordnete, gerade aus den Reihen der SPD und der DDP, Initiativen zur Reform des bürgerlichen Rechts und anderer Bereiche mit Blick auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ergriffen. In der Verfassung gab es noch zwei weitere Artikel, die direkt auf die rechtliche Stellung von Frauen verwiesen. Das war zum einen Artikel 119, Abs. 1: »Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter«, zum anderen Artikel 128, Abs. 2: »Alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte werden beseitigt«. Auch diese beiden Artikel beinhalteten einen Ansatz für Innovation, der jedoch in der konkreten politischen Arbeit nicht aufgenommen wurde. Die Gleichstellung der Frauen im öffentlichen Recht zog keine entsprechende Änderung im privaten Recht nach sich, vor allem nicht im Familienrecht. Die starke Diskrepanz zwischen diesen beiden Bereichen ist daher eine zentrale Ursache für die nachhaltige soziale Ungleichheit von Männern und Frauen in Deutschland im 20. Jahrhundert, ebenso wie in anderen europäischen Staaten.28 Daran hat

27 Zur Tätigkeit Marie Baums in der Nationalversammlung: Nachlaßverzeichnis Dr. Marie Baum (1874–1964). Petra Schaffrodt (Bearb.): Ein Leben in sozialer Verantwortung, Heidelberg 2000, S. 11–43, hier S. 25. 28 Ute Gerhard: Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: Ute Gerhard (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 509–546;

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die staatsbürgerliche Gleichstellung nur insofern etwas geändert, als das Frauenpolitikerinnen Zugang zu den politischen Mitbestimmungsinstitutionen erhielten und dort Reformvorschläge zur Diskussion stellen konnten – allerdings mit wenig Erfolg. Diese Erfolglosigkeit lässt sich mit fünf Gründen erklären: Erstens waren die weiblichen Abgeordneten innerhalb ihrer Fraktionen sowie innerhalb des Reichstages (und aller anderen Parlamente) stets in einer absoluten Minderheitsposition.29 Selbst ein überfraktioneller Antrag aller weiblichen Abgeordneten konnte keine politische Mehrheit erreichen – dafür waren die Frauen immer auf die Zustimmung ihrer männlichen Kollegen angewiesen. Zweitens, daran sei nochmals erinnert, gab es keinen eindeutigen Auftrag der Verfassung, die Stellung der Frau im bürgerlichen Recht zu ändern. Die vorhandenen Widersprüche zwischen den Regelungen des BGB zum Ehe- und Scheidungsrecht einerseits und Artikel 119 andererseits wurden gerade nicht als Auftrag zur Reform verstanden, da in Artikel 109 nur die »grundsätzliche staatsbürgerliche« Gleichheit von Männern und Frauen festgeschrieben worden war. Die ausdrückliche Hervorhebung der staatsbürgerlichen Gleichheit bedeutete ex negativo, dass die im BGB festgehaltene untergeordnete Rechtsstellung der Ehefrau in der Ehe nicht verändert werden musste und auch nicht reformiert wurde. Auch in der Weimarer Republik bestimmte (rechtlich gesehen) allein der Ehemann alle Fragen, die »das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffen« (§ 1354 BGB), hatte er allein das Entscheidungsrecht über Verträge (§ 1356 BGB) sowie das Recht auf Nutznießung des Vermögens seiner Frau (§ 1363 BGB) und er konnte allein, gegen den Willen der Ehefrau, die elterliche Erziehung bestimmen (§ 1364 BGB). Der Gegensatz dieser Regelungen zum Verfassungsparagrafen 119, in dem die Ehe als durch die Verfassung besonders geschützte Institution bezeichnet wurde, die auf »der Gleichberechtigung

Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000. Das skandinavische Modell zeigt diesen Zusammenhang sozusagen positiv auf. In Schweden wurde die familienrechtliche Stellung von Frauen wesentlicher früher im Sinne der Gleichberechtigung reformiert, daher sind dort die Ungleichheiten zwar nicht aufgehoben worden, aber weniger drastisch ausgefallen, vgl. dazu Kari Melby/ Anu Pylkkänen/Bente Rosenbeck/Christina Carlsson Wetterberg: The Nordic Model of Marriage, in: Women’s History Review 15 (2006), S. 651–661. 29 Vgl. dazu Heide-Marie Lauterer: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/Taunus 2002, S. 152–157; Barbara von Hindenburg: Die Abgeordneten des Preußischen Landtags 1919–1933. Biographie – Herkunft – Geschlecht, Frankfurt a. M. 2017.

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beider Geschlechter« beruhe, war eklatant, wurde aber gesellschaftlich mehrheitlich akzeptiert.30 Drittens hätte die Minderheit von weiblichen (und einigen männlichen) Abgeordneten, die an einer grundlegenden Reform der Rechtsstellung von Frauen interessiert waren, sehr viel mehr Zeit und andauernde gesellschaftliche und politische Unterstützung benötigt, um ihre Ziele zu erreichen. Beides hat es während der kurzen Periode der Weimarer Republik nicht gegeben. Auch in der Phase der relativen politischen Stabilisierung ab Ende 1923 bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 gab es keine ausreichende Unterstützung für liberale und sozialdemokratische Reformprojekte mehr – und die SPD war in diesen Jahren nicht mehr Regierungspartei. Stattdessen trat mit der Deutschnationalen Volkspartei eine deutlich konservativ ausgerichtete Partei zeitweise in die Reichsregierung ein (Kabinett Hans Luther Januar 1925 bis Januar 1926, Kabinett Wilhelm Marx Februar 1927 bis Juni 1928) und konnte damit ihren Kulturkampf gegen sozialdemokratische und liberale Reformprojekte vorantreiben, z. B. im Schulbereich, wo die DNVP erfolgreich gegen die »weltliche Schule« agitierte und dafür von den evangelischen Elternbünden mit ihren mehr als zwei Millionen Mitgliedern ausdrücklich Unterstützung erhielt.31 Schließlich zeigte auch die Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten im Jahr 1925 an, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler stärker konservativ als liberal oder sozialdemokratisch dachte. Die aufsehenerregenden Kulturmilieus in größeren deutschen Städten sowie an herausgehobenen Orten wie dem Bauhaus sollten also nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politische Kultur und die Mentalität der Weimarer Gesellschaft viel weniger progressiv geprägt war als oft angenommen wird. Vor allem mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse wurde zwar vieles diskutiert, aber nur weniges tatsächlich nachhaltig im Sinne einer Gleichstellung verändert. Im Gegenteil waren die Diskussionen über die gewünschte Geschlechterordnung eher ein Zeichen für Krisenerfahrungen als ein Hinweis auf einen realen Wandel.32 30 Jens Flemming (Hrsg.): Familienleben im Schatten der Krise. Dokumente und Analysen zur Sozialgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1988, S. 154–162; Elizabeth D. Heineman: What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany, Berkeley/Los Angeles/London 1999; Rebecca Heinemann: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004. 31 Heinsohn, Parteien [wie Anm. 9], S. 140–152. 32 Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 106; Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 198; Birthe Kundrus:

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Viertens konzentrierten sich die wenigen Frauenpolitikerinnen auf Wohlfahrtsfragen und Jugendarbeit, den Schutz von Sittlichkeit sowie »berufsständische« Fragen, etwa für Arbeiterinnen, Heimarbeiterinnen, aber auch Hausfrauen, außerdem auf weitere Reformen in der Mädchen- und Frauenbildung. All diese Themen waren schon lange von den Frauenbewegungen mit Reformforderungen verbunden worden, und diese sollten nun, in der Republik, endlich umgesetzt werden. Sie bildeten daher den Kern der parlamentarischen Frauenarbeit. Fraktionsübergreifend wurden einige Themen in der sozialpolitischen Gesetzgebung, vor allem wenn es um schutzwürdige Frauengruppen ging (z. B. beim Mutterschutz), oder im Jugendschutz umgesetzt. In allen weltanschaulich umstrittenen Feldern aber scheiterte auch in diesen »Frauenfragen« eine gemeinsame Frauenpolitik aufgrund der politischen Gegensätze.33 Dies galt etwa für das Scheidungsrecht: Die Reformkräfte auf Seiten der SPD und der DDP schlugen vor, an die Stelle des Schuldprinzips das Zerrüttungsprinzip zu setzen. Eine solche Regelung hätte u. a. bedeutet, dass Frauen, die ihre Ehemänner wegen gewalttätiger Übergriffe verlassen wollten, nicht mehr länger als Schuldige galten und daher auch Anspruch auf Unterhaltszahlungen hatten. Es ging an dieser Frage also konkret darum, die Stellung der Ehefrau im Recht zu verbessern. Doch wurde aus diesem Thema, das gleich im ersten Reichstag von der liberalen Abgeordneten Marie Elisabeth Lüders eingebracht wurde, in den folgenden Jahren ein heftiger Kulturkampf, in dem stets die konservativen Kräfte siegten. Bis 1925 wurde noch über die Reform des Scheidungsrechtes diskutiert, dann wurde diese von den bürgerlichen Kabinetten »politisch auf Eis gelegt«34. Am Scheidungsrecht zeigte sich sehr deutlich, dass die Auffassung, Männer und Frauen seien »grundsätzlich« verschieden und daher seien auch ungleiche Rechtspositionen in der staatlich geschützten Familie gerechtfertigt, so tief gesellschaftlich verankert war, dass die wenigen Frauenrechtlerinnen und Politiker, die sich für die Gleichberechtigung

Geschlechterkriege. Der Erste Weltkrieg und die Deutung der Geschlechterverhältnisse in der Weimarer Republik, in: Karen Hagemann/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/New York 2002, S. 171–187; Boak, Women [wie Anm. 3], S. 293. Vgl. zuletzt Metzler/Schumann, Geschlechter(un)ordnung [wie Anm. 4]. 33 Regine Deutsch: Parlamentarische Frauenarbeit, zweite durch einen Nachtrag erweiterte Aufl., Gotha/Stuttgart 1924, und Regine Deutsch: Parlamentarische Frauenarbeit II. Aus den Reichstagen von 1924–1928, Berlin 1928. Außerdem Lauterer, Parlamentarierinnen [wie Anm. 29], S. 120–151. 34 Dirk Blasius: Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 174.

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ohne Einschränkungen einsetzen, kaum Gehör fanden. Dieser gesellschaftliche Konsens wurde auch von Teilen der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften getragen, was sich z. B. in den Debatten um die Demobilisierung von weiblichen Arbeitskräften in der Industrie nach 1918 zeigte oder auch beim Thema des Arbeitsrechtes von verheirateten Frauen.35 Hier wird, fünftens, eine weitere Ursache für die geringe Reichweite der Reformforderungen erkennbar: die Diskrepanz zwischen den politischen Ansichten der Parteiführungen von Liberalen und Sozialdemokratie einerseits und der eigenen Parteibasis andererseits. Solche Unterschiede zeigten sich nicht zufällig am Umgang mit Frauenthemen, z. B. den Rechten von verheirateten Arbeiterinnen oder Beamtinnen. Es war weithin gesellschaftlich anerkannt, dass Ehefrauen im Zweifelsfall kein Arbeitsplatz zustehe, da sie ja »versorgt« seien. Begriffe wie »Doppelverdiener« tauchten erstmals 1919 auf und wurden während jeder Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren erneut gegen berufstätige, verheiratete Frauen verwendet. Dies lässt sich etwa am Beispiel des Umgangs mit verheirateten Beamtinnen gut nachvollziehen.36 In der Weimarer Verfassung war in Artikel 128 festgelegt, dass alle Ausnahmegesetze für weibliche Beamte aufzuheben seien. Damit war die Eheschließung einer Beamtin nicht länger ein Kündigungsgrund, wie es noch bis 1918 üblich war. In der ökonomischen Krisensituation des Jahres 1923 erließ die Regierung Gustav Stresemann (SPD, Zentrum, DDP und DVP) im Rahmen eines befristeten Ermächtigungsgesetzes eine Personalabbauverordnung, in der die Entlassung verheirateter Beamtinnen vorgesehen war (§ 14). Die weiblichen Beamten wurden damit in Widerspruch zu Artikel 128 erneut einem Ausnahmegesetz unterworfen, das ihnen außerdem soziale Rechte, z. B. Pensionsansprüche, nahm. 1925 wurde das Thema erneut im Reichstag verhandelt, diesmal mit der Lösung, dass entlassene verheiratete Beamtinnen eine Abfindungssumme erhalten sollten und die Ausnahmeregel für weibliche Beamte bis zum März 1929 befristet sein sollte – diese ging auf die Initiative weiblicher Abgeordneter zurück.37 Diese klare Diskriminierung berufstätiger, verheirateter Frauen wurden von Seiten 35 Susanne Rouette: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1993. 36 Claudia Hahn: Der öffentliche Dienst und die Frauen – Beamtinnen in der Weimarer Republik, in: Frauengruppe Faschismusforschung (Hrsg.): Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1981, S. 49–78. Die folgende Darstellung folgt Heinsohn, Konservative Parteien [wie Anm. 9], S. 158–163. 37 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 387: Stenographische Berichte, Berlin 1925, 101. Sitzung vom 24. Juli 1925, S. 3469–3481 und 3498–3501.

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liberaler und sozialdemokratischer Frauengruppen ebenso verurteilt wie seitens der Spitzenfunktionäre des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, doch an der Basis der Gewerkschaften sah das mancherorts ganz anders aus.38 An dieser Frage ist also gut erkennbar, dass die konservative Geschlechterordnung nach wie vor breit gesellschaftlich verankert sowie rechtlich abgesichert war und vor allem in Krisenzeiten als Argument gegen die Gleichstellung von Frauen genutzt wurde.

Fazit War die Verfassung von Weimar also mit Blick auf das Handlungsfeld Gleichberechtigung von Frauen und Männern eine Fehlkonstruktion, defizitär und unbrauchbar? Eine solche Interpretation wäre den Zeitumständen und dem Gehalt der Verfassung nicht angemessen. Die Verfassung beinhaltete hinsichtlich der Gleichstellung von Frauen eigentlich einen Auftrag zu Reform und Innovation, auch wenn dieser nicht explizit formuliert wurde. Frauenpolitikerinnen haben diesen Auftrag sehr wohl gesehen und auch versucht, in der kurzen Zeitspanne der Republik und eines arbeitsfähigen Parlamentes dazu Initiativen zu entwickeln. Dieser Auftrag wurde aber nicht von der Mehrheit des Reichstages und auch nicht seitens der Gesellschaft geteilt, denn er harmonierte nicht mit dem kulturellen Verständnis der Aufgaben von Frauen und Männern. Die konservative Ausrichtung von Politik und Gesellschaft zeigte sich in der Weimarer Republik aber nicht nur an der Frage der Gleichberechtigung. Alle Kulturkämpfe in der Republik wurden von konservativer Seite gewonnen, so auch dieser. Das aber lag nicht an der Verfassung, jedenfalls nicht an ihr allein, sondern an den politischen Mehrheitsverhältnissen und der politischen Kultur. Aus der weiteren Geschichte des Gleichberechtigungsgrundsatzes im Grundgesetz der Bundesrepublik ist bekannt, wie lange die Umsetzung dessen, was in der Weimarer Verfassung erstmals formuliert wurde, gedauert hat, trotz veränderter Formulierung und klaren Aufträgen zum Handeln.39 In der Bundesrepublik hat erst eine nachhaltige Liberalisierung von Gesellschaft und politi-

38 Vgl. Karen Hagemann: Frauenalltag und Männerpolitik, Bonn 1990, S. 471; und Brigitte Kassel: Frauen in einer Männerwelt. Frauenerwerbsarbeit in der Metallindustrie und ihre Interessensvertretung durch den Deutschen Metall-Arbeiter-Verband (1891–1933), Köln 1997. 39 Sabine Berghahn: 70 Jahre Gleichberechtigung in der Verfassung, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, Geschlechergeschichte 75 (2019), S. 6–27.

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scher Kultur, die auf veränderten ökonomischen und sozialen Bedingungen sowie einem Wandel der Familienstrukturen aufbaute, dazu beigetragen, dass sich rechtlich und gesellschaftlich die Gleichstellung von Frauen und Männern verbesserte. 40 Das Beispiel der Verfassung und Gesellschaft der DDR zeigen ebenfalls, dass wohl politisch regulierend auf das Verhältnis der Geschlechter in Arbeitswelt und Bildung eingewirkt werden kann, dass aber auch dann die kulturelle Codierung des Geschlechterverhältnisses nur begrenzt verändert wird. 41 Insofern war die Weimarer Verfassung ein guter Start, um die Gleichberechtigung von Frauen und Männern umfassend einzuleiten oder zumindest die Voraussetzungen für die Zukunft zu schaffen. Das allseits gefeierte Wahlrecht für Frauen ist dabei eher als Endpunkt eines politischen Diskurses aus dem 19. Jahrhundert zu interpretieren. Impulse für weitergehende Veränderungen im Sozialen und Rechtlichen sind davon nicht ausgegangen bzw. hatten keine Chance zur Realisierung, denn dafür wären stabile, sozialliberale politische Verhältnisse, deutlich mehr Frauenrechtlerinnen in politischen Positionen, eine reformbereite Gesellschaft sowie Zeit für Reformen und ihrer Überprüfung durch Gerichte und vermutlich auch eine anhaltende prosperierende Wirtschaft notwendig gewesen.

40 Frevert, Frauen-Geschichte [wie Anm. 31], S. 253–272. 41 Gunilla Budde: Die emanzipierte Gesellschaft. Gleichstellung von Mann und Frau, in: Thomas Großbölting (Hrsg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Magdeburg 2009, S. 92–109; Anna Kaminsky: Frauen in der DDR, Berlin 22017.

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Inklusive Arbeitspolitik – Strukturen der kollektiven Arbeitsverfassung

I. Im Februar 1923, also am Ende der Phase, in der sich Weimars Arbeitsverfassung formierte und vor den neuen arbeitspolitischen Akzentuierungen, die dann kommen sollten, fällte der 3. Zivilsenat des Reichsgerichts ein bedeutendes Urteil.1 Der Senat – nach der Justizreform des Arbeitsgerichtsgesetzes von 1926 eine tragende Säule des Reichsarbeitsgerichts – befand damit über den Lohnanspruch solcher Arbeitnehmer, die infolge eines Arbeitskampfs einer anderen Beschäftigtengruppe wegen ausbleibender Zulieferung von ihrem Arbeitgeber nicht beschäftigt werden konnten. Die Frage sollte nicht nach dem eigentlich einschlägigen, in derartigen Fällen kompliziert gelagerten Leistungsstörungsrecht des BGB, sondern ohne viel Federlesens nach Kriterien jenseits des individualistischen Zivilrechts beurteilt werden.2 Der Kernsatz des Urteils, der in der Arbeitsrechtsgeschichte Karriere machte: »Man darf aber, um zu einer befriedigenden Lösung des Streites zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgehen, muss vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen, wie sie sich seitdem entwickelt haben und in der Gesetzgebung der neuesten Zeit auch ausdrücklich Anerkennung gefunden haben.« Das Urteil ist in mehrfacher Hinsicht spektakulär. Seine Kriterien betreffen ein »strategisches Großproblem des Arbeitskampfrechts«,3 das bis in unsere Zeit hinein immer wieder juridische und arbeitspolitische Kontroversen hervorgerufen hat. Indem es den Akzent von strikter Gesetzesbindung auf Richtermacht in einer unverblümten Weise verschiebt, trieb es die Erosion des

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Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 106 (1923), S. 272 ff. Dazu ausführlich Joachim Rückert: Unmöglichkeit und Annahmeverzug im Dienst- und Arbeitsvertrag, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 14 (1983), S. 1–29 ff. Michael Kittner: 50 Urteile. Arbeitsgerichte schreiben Rechtsgeschichte, Frankfurt a. M. 2019, S. 45 ff.

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gesetzespositivistischen Leitbildes, die auf der Ebene der Rechtstheorie bereits im späten Kaiserreich zu konstatieren war, 4 auf die vorläufige Spitze. Schließlich – und besonders hierin liegt der Belang der Entscheidung für unseren Beitrag zur Arbeitsverfassung Weimars – zeichnete ein wesentlicher Akteur der Normenproduktion sein eigenes Bild der normativen Landschaft jener Zeit, einer normativen Ordnung, die dem Reichsgericht durch eine Art kollektivistische Wende geprägt zu sein schien. »Inzwischen hat der Gedanke der sozialen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft Ausbreitung und Anerkennung gefunden, der das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern beherrscht. […] Es handelt sich nicht mehr um das Verhältnis des einzelnen Arbeiters zum Arbeitgeber, sondern um eine Regelung zwischen zwei Gruppen der Gesellschaft, dem Unternehmertum und der Arbeiterschaft.« Bei aller überdeutlich ausgeprägten Gemeinschaftsemphase, die Otto KahnFreund5 einige Jahre später in einer ideologischen Nähe zur Carta del Lavoro, dem zentralen Element der faschistischen Arbeitsverfassung, gesehen hat: im Kern ist das Fazit, das die Höchstrichter zu den gravierenden Änderungen der postrevolutionären Zeit zogen, so verkehrt nicht gewesen. Der arbeitspolitische Zyklus der frühen Weimarer Jahre,6 seine Ergebnisse und seine leitenden Prinzipien zeigen das normative Ensemble einer kooperativen Ordnung, in der die großen Arbeitsmarktkoalitionen und der neue Staat zu einer neuen Arbeitsverfassung, zu einem »großen Anfang«7 entschlossen scheinen, einer Ordnung, »geprägt vom Durchbruch des kollektiven Arbeitsrechts und seiner konstituierenden Elemente. […] Es war ein Vorgang, der die Struktur der Rechtsordnung selbst veränderte.«8 Für die neue Republik war dieser Anfang in einer Lage der extremen Instabilität und der dramatischen Zuspitzung geradezu lebenswichtig. Gustav Schmoller, ein sozialpolitisches Mastermind der alten Zeit, hatte noch tief im Kaiserreich für arbeitspolitische Innovationen und für den Aufbau konflikt-

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In der rechtshistorischen Forschung zentral Regina Ogorek: Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986. Otto Kahn-Freund: Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts: eine kritische Untersuchung zur Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, Mannheim 1931. Zum Überblick nur der Klassiker von Ludwig Preller: Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, S. 226 ff. Zur Symbolik der Weimarer Arbeitsverfassung Joachim Rückert: Koalitionsrecht, Tarifverträge, kollektives Arbeitsrecht und ihr Prinzip in Deutschland, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 50 (2019), S. 515–578. Knut Wolfgang Nörr: Zwischen den Mühlsteinen. Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Zeit, Tübingen 1988, S. 185.

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begrenzender Institutionen plädiert, wenn eine »sociale Revolution, welche unsere ganze wirtschaftliche Kultur begraben kann«, abgewendet werden solle,9 ein Plädoyer, das der Kathedersozialismus bis zum Weltkrieg in immer wieder neuen Anläufen und Variationen präsent gehalten hat.10 Und jetzt, unter den Bedingungen des Weimarer Aufbruchs schien eine zweite, über die politischen Korrekturen, die im November 1918 erfolgten, weit hinaus reichende Revolution weniger weit entfernt denn je. Eine Politik der sozialen Befriedung, der Einhegung und Zivilisierung der fundamentalen Konflikte durch »Arbeitsverfassung«11 erschien alternativlos, sollte die Dauerhaftigkeit der extremen Instabilität oder gar der Zusammenbruch nach dem Zusammenbruch vermieden werden. »Gibt es einen Ausweg?«, hat Rathenau in einer 1919 erschienenen Schrift gefragt. »Es gibt einen, nur einen. Es ist nötig, die Verantwortung des Arbeiters so gewaltig zu steigern, daß er nicht nur seinen Vorteil will, sondern auch das Gedeihen seines Gewerbes will, der Wirtschaft will, des Staates will; will und wollen muss. Hemd und Rock müssen ihm gleich wert sein.« Es werde »künftig zwei Arten von Wirtschaftsstaaten geben: solche, die den Arbeiter bekämpfen, von ihm bekämpft und zugrunde gerichtet werden; und solche, die sich mit ihm verbünden und aufsteigen«.12 Inklusive Arbeitspolitik als Gebot der Stunde, als Deus ex Machina aus der politischen Malaise der Revolutionszeit, als Bruch mit dem gescheiterten Kaiserreich, zugleich aber auch als strukturierende Entscheidung für kommenden Aufschwung und Prosperität – dies war das Programm, dem sich die Arbeitsverfassung des neuen sozialen Staats verschrieben hatte. In diesem Programm der Inklusion haben die Gewerkschaftsfrage und das damit aufs engste verbundene Thema der Tarifautonomie, auf das ich mit besonderem Nachdruck hinweisen werde, eine herausragende Position eingenommen.

  9 Gustav Schmoller: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Leipzig 1890, S. 436 f. 10 Zu diesen herausragenden Debatten siehe etwa Dieter Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik, Wiesbaden 1967. 11 Zum Makrokonzept ›Arbeitsverfassung‹ und seinen Grundlagen in der Weimarer Rechtstheorie Ruth Dukes: The Labour Constitution. The Enduring Idea of Labour Law, Oxford 2014. 12 Walther Rathenau: Der neue Staat, Berlin 1919, S. 55 f.

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II. Evidentermaßen war die Regulierung der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Sicherheit kein Thema, das mit dem politischen Regimewechsel von 1918 vom Himmel gefallen wäre. Es zählte und zählt zu den großen Themen der industriegesellschaftlichen Epoche überhaupt.13 Das historische Feld war – in Deutschland spätestens seit den 1870er Jahren – geprägt von starken Zweifeln an der Sozialverträglichkeit der neuen Marktwirtschaft, von ebenso starker Kritik des Arbeitsmarktversagens und von einem immer lauteren Ruf nach einem sozialpolitisch engagierten Staat, mit »positiver Gewerkvereinspolitik«14 statt Abstoßung und »negativer Integration«.15 Die Entschlossenheit, mit der sich der neue Staat als Staat der arbeitspolitischen Erneuerung in Szene setzte, kann auch den heutigen Beobachter noch beeindrucken. Aber bei allem Respekt für die demokratischen Eliten, ihre sozialpolitische Verve und ihre Politikfähigkeit: Man hatte, als man im November 1918 das Projekt der neuen Arbeitsverfassung in Angriff nahm, doch auch Strukturelemente vor Augen und zu beachten, die sich bereits im späten Kaiserreich ausdifferenzierten. Dieses Erbe blieb – durch die besonderen Einrichtungen der Burgfriedenszeit noch akzentuiert – auch in der Situation des Umbruchs relevant. Bei allem nur allzu verständlichen Wunsch der Politik, den Regimewechsel als große Disruption zu inszenieren, verband es die Weimarer Innovationen – ihren Glanz und ihre notorische Instabilität – mit einer Zeit, die man zutreffend als »Treibhaus der Institutionen« bezeichnet hat.16 Selbstverständlich war das Kaiserreich kein Staat der sozialen Partnerschaft, sondern ein Staat der großen arbeitspolitischen Ambivalenz. Auch nach dem Sozialistengesetz, das die Gewerkschaften schwer gefährdet hatte, enthielt das kollektive Arbeitsrecht des Staates bis zuletzt autoritäre Komponenten, die das

13 Einen profunden Überblick bietet die Längsschnittstudie von Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte – Recht – Gegenwart, München 2005. 14 Lujo Brentano: Positive und negative Gewerkvereinspolitik, in: Soziale Praxis 8 (1899), Nr. 45–49; 51–52. Siehe als besonders interessante Bestandsaufnahme zur Lage des Koalitionsrechts im Jahr der Zuchthausvorlage Carl Legien: Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter in Theorie und Praxis, Hamburg 1899. Zu diesem wesentlichen Gewerkschaftsfunktionär Karl Christian Führer: Carl Legien 1861–1920. Ein Gewerkschafter im Kampf um ein »möglichst gutes Leben« für alle Arbeiter, Essen 2009. 15 Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus: die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1973. 16 Werner Abelshauser: Kulturkampf, Kapitel II: Das Kaiserreich  – Treibhaus postindustrieller Institutionen, Berlin 2003, S. 23 ff.

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industrielle Verhandlungssystem störten und namentlich die Gewerkschaften hochgradig verstörten. Das Sonderstrafrecht des § 153 der Gewerbeordnung und die Strafrechtsprechung des Reichsgerichts, die in vielen Fällen die Streikdrohung als Erpressung im Sinne des StGB wertete, sind prominente Beispiele. Immer wieder wurde über die Verschärfung des Koalitionsrechts gesprochen und bis 1899, dem Jahr der so genannten Zuchthausvorlage, hatte sich das Parlament wiederholt mit entsprechenden Initiativen zu befassen, die allerdings chancenlos blieben. Als arbeitspolitische Option blieb ein harter Kurs der Abstoßung aber bis 1914 präsent, wie sich vor allem in den wiederkehrenden Kampagnen pro »Arbeitswilligenschutz« zeigte.17 Aber es gab auch eine andere Seite der Normativität, die dem nicht so entfernt gewesen ist, was die Republik dann ratifizierte. Anders als das Reichsgericht in Strafsachen setzte die höchstrichterliche Rechtsprechung zur zivilrechtlichen Haftung für Streikfolgen zunehmend auf Verhältnismäßigkeitskriterien, auf Einhegung des industriellen Konflikts und damit auf ein Modell der deeskalierenden Verrechtlichung,18 das die Zukunft des kollektiven Arbeitsrechts in Deutschland dann so sehr prägen sollte. Hier stiegen die Gewerkschaften – zusätzlich begünstigt durch vereinsrechtliche Entspannungsübungen – zu großen Organisationen auf. In den Arenen der Sozialpolitikwissenschaft führte man überreiche Debatten um die Modelle der Inklusion, und im Reichstag gab es glutvolle Beratungen zu Arbeitskammern und Arbeiterkammern als staatsnahen Arenen der Mitbestimmung.19 Die konsensorientierten Gewerbegerichte erwarben sich schnell hohe Legitimität und präformierten die 1926 dann konsolidierte Arbeitsgerichtsbarkeit. Die 1890 bescheiden gestarteten Arbeiterausschüsse übten sich peu à peu ein in die Praktiken des koordinierten Systems aus betrieblicher und sektoraler Regelbildung, das mit der Weimarer Arbeitsverfassung dann kommen sollte.

17 Siehe die Pionierleistung von Klaus Saul: Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich, Hamburg 1974, S. 314 ff. 18 Dazu bereits Gerd Bender: Strukturen des kollektiven Arbeitsrechts vor 1914, in: Harald Steindl (Hg.): Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte, Frankfurt a. M. 1987, S. 251–293, hier S. 280; später dann Gerd Bender: Tarifautonomie vor Gericht. Ausgangspunkte eines institutionellen Arrangements, in: Peter Collin (Hg.): Justice without the State within the State. Judicial Self-Regulation in the Past and Present, Frankfurt a. M. 2016, S. 141–154. 19 Dazu jetzt Wolfgang Däubler/Michael Kittner: Geschichte der Betriebsverfassung, Frankfurt a. M. 2020, S. 113 ff.

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Die Tarifverträge, als »gewerbliche Friedensdokumente«20 die größte Hoffnung des sozialreformerischen Lagers, gelangten in juridisch einigermaßen gesichertes Fahrwasser, als die Zivilrechtsjudikatur des Reichsgerichts die Zweifel an der schuldrechtlichen Verbindlichkeit der Kollektivverträge zurückwies, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen in einer auf breiter Front skandalisierten Entscheidung genährt worden waren.21 Einen Weg, die über die nur schuldrechtliche Bindung der Tarifvertragsparteien hinausgehende »normative Wirkung«, also die unmittelbare und zwingende Einwirkung der Tarifnormen auf die Einzelarbeitsverhältnisse, zu begründen, wie die Tarifvertragsverordnung ( TVVO) vom Dezember 1918 es dann tat, hat man im Kaiserreich allerdings nicht mehr gefunden. Ein Tarifvertragsgesetz22 kam nicht mehr zustande und die großen und großartigen Entwürfe der aufblühenden Arbeitsrechtsrechtswissenschaft erreichten bei aller Genialität nicht die erforderliche rechtsdogmatische Konsistenz.23 Dessen ungeachtet entfaltete sich das Tarifvertragswesen als Praktik der industriellen Beziehungen schnell,24 nach der Jahrhundertwende und mit der Anerkennung des Tarifvertragsprinzips durch den freigewerkschaftlichen Kongress von 1899 mit stark erhöhtem Tempo. Es blieb aber auf die konkurrenzkapitalistisch geprägten Teile der Industrie begrenzt, während sich der schwerindustrielle Sektor der tarifautonomen Regelung der Arbeitsbeziehungen verschloss. Verhandlungen mit den Arbeitnehmerkoalitionen wies man bis zum Ende des Kaiserreichs erfolgreich von sich. Vom immer tarifvertragsfreundlicheren sozialpolitischen Klima zeigte man sich unbeeindruckt. Die großen

20 Fanny Imle: Gewerbliche Friedensdokumente. Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Tarifgemeinschaften in Deutschland, Jena 1905. 21 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 73 (1910), S. 52 ff. In seiner Entscheidung – Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 36 (1903), S. 236 ff. – hatte ein Strafsenat den auf koalitionsinternen Zwang gemünzten § 153 GewO auf das Interkoalitionsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit erstreckt. Dies hätte die Ausdehnung auch des § 152 Abs. 2 GewO (nach ganz herrschender Auffassung keine rechtliche Bindungskraft koalitionsinterner Vereinbarungen) in diesen Bereich zur Folge gehabt – mit desaströsen Folgen für die Tarifvertragsbindung. Dazu Rainer Schröder: Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach a. M. 1988, S. 365 ff. mit weiteren Nachweisen. 22 Hugo Sinzheimer: Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags. Brauchen wir ein Arbeitstarifgesetz?, Jena 1913. 23 Noch immer zentral Thilo Ramm: Die Parteien des Tarifvertrags. Kritik und Neubegründung der Lehre vom Tarifvertrag, Stuttgart 1961, S. 36 ff. 24 Zum Ganzen Kittner, Arbeitskampf [wie Anm. 13], S. 239 ff.

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Unternehmen blieben gewerkschaftsfrei, armiert mit schwarzen Listen und hausgemachten gelben Vereinigungen. Hierin lag die schwerste und, wie sich in der Konsenskrise, die nach 1923 einsetzte, wieder zeigen sollte, langlebigste Hypothek, die auf der arbeitspolitischen Ordnung lastete. Im Ergebnis kann man sagen: Viele Elemente des sozialpartnerschaftlichen Systems, von dem wir anlässlich der Weimarer Reichsverfassung und der sie begleitenden Gesetzgebungsakte sprechen, sind in der Vorweltkriegszeit bereits sichtbar. Aus der politischen Konstellation des Kaiserreichs heraus, blieb es aber bei widerstreitenden Prinzipien, die sich gegenseitig paralysierten und eine integrale Sozialpolitik, eine kohäsiv zu denkende Arbeitsverfassung nicht möglich werden ließen. Die normative Ordnung der Vorweltkriegszeit war reich auch an Elementen einer inklusiven Arbeitspolitik. Aber in der Gesellschaft der arbeitspolitischen Blockade ist es bei Stückwerk geblieben. Es war der Weimarer Republik vorbehalten, dieses reichhaltige Stückwerk, welches das Kaiserreich hinterließ, zu ordnen und die Präsenz der kollektiven Arbeitsmarktkoalitionen im System einer inklusiven, in eine kollektive normative Ordnung eingebetteten Arbeitspolitik zu normalisieren.

III. Die Gesetzgebung der Revolutionszeit hat inmitten des Chaos, in dem man lebte,25 den Stier in einer Weise bei den Hörnern gepackt, die auch heute noch beeindruckt. Binnen kürzester Zeit ist die normative Arbeitsverfassung26 der neu gegründeten Republik entstanden, beginnend mit der TVVO vom 23. Dezember 1918 als erster großer arbeitspolitischer Maßnahme der neuen Regierung überhaupt, weitergeführt durch die neue Reichsverfassung mit ihrem Gefüge der arbeitspolitischen Institutionen und abgeschlossen durch das postkonstitutionelle Betriebsrätegesetz des Jahres 1920.27 Mit dieser großen Institutionalisierung hatte die Republik im Konzert der industriellen Nationen

25 So Hugo Sinzheimer an prominenter Stelle: Grundzüge des Arbeitsrechts. Eine Einführung, Jena 1921, S. 7. 26 Dukes, Labour Constitution [wie Anm. 11], S. 4 zur begrifflichen Ambivalenz von ›Arbeitsverfassung‹: »… the German Verfassung has two meanings: ›constitution‹ in the legal and/or political sense, and, alternatively, the ›state‹ or ›condition‹ of a thing.« 27 Zum Ensemble sehr klar Thilo Ramm: Die Arbeitsverfassung der Weimarer Republik, in: Franz Gamillscheg u. a. (Hg.): In Memoriam Sir Otto Kahn-Freund, München 1980, S. 225–246.

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eine führende Rolle übernommen mit unübersehbaren Ausstrahlungen in den transnationalen Raum.28 Die neue Verfassung legte die neue Ordnung auf ein Leitbild fest, das die Kultur der sozialpartnerschaftlichen Kooperation und des sozialen Interessenausgleichs – ganz im Sinne des reichsgerichtlichen Resümees – zum Maßstab einer guten arbeitspolitischen Governance erhob. Grundlegend war die Bestimmung des Artikels 165 (Abs. 1 S. 1) der Weimarer Reichsverfassung (WRV ) mit einem Bekenntnis zur Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit der Arbeitsmarktkoalitionen.29 Zusammen mit der Gewährleistung der Koalitionsfreiheit in Artikel 159 WRV veränderte sich die normative Ordnung in einer gravierenden Weise zugunsten der jetzt »legal befestigten«30 Gewerkschaften. Sie waren es, die dem Programm der Arbeitsverfassung folgend über die Lohn- und Arbeitsbedingungen gleichberechtigt zu befinden hatten. Sie, im Kaiserreich nur geduldet und in vielen Hinsichten in prekärer Lage, sahen sich jetzt als anerkannter wesentlicher Akteur an der Seite des Staates und auf Augenhöhe mit den Unternehmen und deren Verbänden. Das für das Gewerkschaftsdenken so zentrale Ziel der Parität schien mit Weimar erreicht. Zugleich – und jenseits der Verfassungssymbolik in hohem Maße relevant – partizipierten sie als Mitinhaber der ›Tarifautonomie‹ am zentralen, von heute aus gesehen epochemachenden Regelungsmechanismus der neuen sozialen Ordnung und der damit verknüpften arbeitspolitischen Macht. Diese Tarifautonomie – im Verfassungstext fast beiläufig erwähnt,31 durch die prä-

28 Zur globalen Dimension des Weimarer Projekts siehe etwa den Fokus »Translating Weimar« in: Rechtsgeschichte 27 (2019), S. 174 ff. 29 »Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.« 30 Zum Begriff Goetz Briefs: Theorie der Gewerkschaften, in: Goetz Briefs: Ausgewählte Schriften, Band 2, hg. von Heinrich Basilius Streithofen/Rüdiger von Voss, Berlin 1980, S. 801–802. Von »realer Befestigung« lässt sich dann sprechen, wenn nicht nur der legale Status, sondern auch die ›politische‹ Macht auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen konsolidiert und verstetigt ist. Zu dieser Theorie der institutionellen Evolution siehe Joseph Zrinyi: The Changing Status of Unionism: A Labor Theory, in: Johannes Broermann u. a. (Hg.): Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Geburtstag, Berlin 1968, S. 273–293. 31 Art. 165 Abs. 1 S. 2: »Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.« Dazu Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 361. Die von einer vorherrschenden Rechtsansicht verfochtene Vorstellung, es handele sich um delegierte und nicht um autonome Regelungsmacht, blieb über Weimar hinaus wirksam.

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konstitutionelle TVVO und durch das Arbeitskampfrecht der Richter aber detaillierend geregelt und durch das kommende Betriebsverfassungsrecht funktional ergänzt – stellte die bestimmende Institution der neuen Gesamtordnung dar. Durch staatliches Recht geregelte Normerzeugung durch die Koalitionen des Arbeitsmarkts, »regulierte Selbstregulierung«32 avant la lettre: dies ist in Weimars Gründungstagen der Inbegriff der jetzt inaugurierten kooperativen Ordnung, ein Königsweg des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die stärkste Bastion des arbeitspolitischen Neubeginns. Aber bei aller Anerkennung der staatlich-legislatorischen Präsenz: es war nicht der Staat allein – und vielleicht noch nicht einmal in erster Linie –, der die normative Landschaft in jenen Tagen geprägt hat. Als der Weimarer Gesetzgeber mit seiner regulatorischen Troika aus TVVO, Sozialverfassungsteil der Reichsverfassung und Betriebsrätegesetz (BRG) die postrevolutionäre Arena betritt, war der normative Raum der neuen Republik bereits nicht mehr leer. Es waren die zentralen Akteure am Arbeitsmarkt, die Gewerkschaften und die Arbeitsgeberverbände, die dem staatlichen Gesetzgeber mit einer eigenen Normierung, mit einem »selbstgeschaffenen Recht der Wirtschaft«,33 vorausgegangen waren und sich an die Spitze der arbeitspolitischen Modernisierung gesetzt hatten. Das Arbeitsgemeinschaftsabkommen vom November 1918, wie das Stinnes-Legien-Abkommen offiziell betitelt worden war, sein Prinzip, seine Buchstaben und seine daran anschließende Praxis stellen, wer wollte es bestreiten, einen eminenten Vorgang in der deutschen Sozialgeschichte dar, das den Leistungen des Staates zumindest ebenbürtig gewesen ist.34 Als Produkt der Revolutionstage von Taktik und kurzfristigen Macht- und Überlebensfragen mitgeprägt und mitveranlasst, verwies es auch auf Grundsätzlicheres 32 Zur Entstehung dieses Konzepts und seiner Bedeutung in der rechtshistorischen Forschung Peter Collin: »Gesellschaftliche Selbstregulierung« und »Regulierte Selbstregulierung« – ertragreiche Analysekategorien für eine (rechts-)historische Perspektive, in: ders. u. a. (Hg.): Selbstregulierung im 19. Jahrhundert. Zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen, Frankfurt a. M. 2011, S. 3–32. Ein Versuch zwischen Gesellschaftstheorie und Arbeitsrechtsgeschichte bei Gerd Bender: Tarifautonomie, Regulierte Selbstregulierung, Korporatismus. Eine Skizze, in: Peter Collin u. a. (Hg.): Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat, Frankfurt a. M. 2012, S. 53–68. 33 Hans Großmann-Doerth: Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht, Freiburg 1933. 34 Hierzu jetzt umfassend Dieter Krüger: Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924. Voraussetzungen, Entstehung, Umsetzung und Bedeutung, Berlin 2018; Petra Weber: Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat, München 2010, S. 191 ff.

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und Nachhaltigeres, auf einen Problem- und Möglichkeitsraum, der über seinen Entstehungskontext der Republikgründungszeit hinausreichte. Vor allem sah mit diesem Abkommen alles so aus, als sei die Arbeitspolitik von ihrer schwersten historischen Last nunmehr befreit. Unter der Federführung von Hugo Stinnes, einer Galionsfigur der Schwerindustrie, schien der notorische Widerstand dieser Industriefraktion gegen inklusiv-kooperative Muster der Arbeitspolitik, gegen kollektive Lohnfindung und Tarifautonomie aufgegeben. Das November-Agreement war von den großen industriellen Koalitionen schon im einstürzenden Kaiserreich vorbereitet worden und wurde dann wenige Tage nach dem deutschen Revolutionstermin unterzeichnet. Es war der erste wesentliche Normsetzungsakt der Revolutionszeit überhaupt, für Max Weber – schon zu Kaisers Zeiten ein großer und leidenschaftlicher Freund des Verbändewesens und der privaten Interessenregime – eine ausgesprochen »wertvolle sozialpolitische Leistung« im tosenden »Revolutionskarneval«.35 Es brachte erhebliche Verbesserungen mit sich, so die Errichtung eines gemeinsamen Arbeitsnachweises, vor allem aber die gemeinsame Festlegung auf den Achtstundentag bei vollem Verdienstausgleich. Besonders im Bereich der industriellen Beziehungen enthielt das Abkommen weitreichende Regelungen, die – bedenkt man das, was bis 1914 galt – für grundlegende Verschiebungen in der Arena des industriellen Verhandelns standen. Ziffer 7 machte für größere Betriebe mit mindestens 50 Beschäftigten den Arbeiterausschuss obligatorisch und übertrug im Vorgriff auf das Modell des Betriebsrätegesetzes dem Ausschuss die Aufgabe »darüber zu wachen, daß die Verhältnisse des Betriebs nach Maßgabe der Kollektivvereinbarungen geregelt werden«. Symbolisch besonders bedeutsam war die den Arbeitgebern auferlegte Pflicht, die verhassten und verachteten gelben Werkvereine fallenzulassen. Ganz zentral schließlich aber das Bekenntnis zum Flächentarifvertrag, unterfüttert durch das Verbot jeglicher Beschränkung der Koalitionsfreiheit. Die Ziffern 10 und 11 enthielten Organisationsnormen zur Durchführung des Abkommens, die auch als Grundlage der am 12. Dezember 1919 ins Leben gerufenen »Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands«, kurz ZAG, fungierten und durch deren Satzung weiter konkretisiert wurden. Aus dem Abkommen ragte die Ziffer 1 noch einmal heraus. Ein Satz nur, aber ein Satz von großer symbolischer Wirkung: »Die Gewerkschaften werden als berufene Vertreter der Arbeiterschaft anerkannt.« 35 Max Weber: Das Neue Deutschland (Bericht der »Frankfurter Zeitung« über eine Rede Webers am 1. Dezember 2018), in: Max Weber: Gesammelte politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann Tübingen 31971, S. 484–486, hier S. 486.

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Zusammen mit dem Verbot der Koalitionsfreiheitsbeschränkung und dem Bekenntnis des gesamten Unternehmerlagers zu den Tarifverträgen führte diese kaum verhohlene Preisgabe des berüchtigten Herr-im-Hause-Standpunkts die Gewerkschaften ans Ziel jener Träume von einer inklusiven Ordnung, die sie während des Kaiserreichs so lange vergeblich geträumt hatten.36 Die Grundlagen eines sozialpartnerschaftlichen Produktionsregimes schienen mit dem Novemberabkommen fixiert. Zwischen Novemberrevolution und Betriebsrätegesetz, mit dem der normative Zyklus der Gründungsjahre endet, sehen wir die großen Organisationen des Wirtschaftssystems und den Gesetzgeber auf einer gemeinsamen Linie. Mag es zwischen den Beteiligten auch fraglich gewesen sein, wer Chef im Ring des neuen Arrangements sein sollte, der Staat oder die Akteure einer wirtschaftlichen Selbstregierung,37 so folgten doch beide Seiten jetzt einem nahezu identischen normativen Programm. Die Rechtlichkeit des Staates und die Rechtlichkeit der privaten Mächte formten das konzise wirkende Gesamtbild einer neuen, einer ›besseren‹ Governance. Die normative Ordnung einer regulierten Selbstregulierung, wie sie jetzt in der Gründungszeit der Weimarer Arbeitsverfassung zutage trat, entsprach nicht nur dem staatlichen Wollen, sondern war auf den Grundkonsens der Arbeitsmarktkoalitionen gebaut. Die in den Turbulenzen der Revolutionszeit generierte Innovation dieses gemischten Regimes war für Weimar eine Zukunftschance, eine Chance, die sich, wie die Systemgeschichte gezeigt hat, erst in der Bonner Republik unter deren eigenen, ungleich günstigeren Bedingungen für Regierbarkeit in dauerhafte und systemtragende Strukturen ausmünzen ließ.38 Im Jahr 1916, noch vor Weimar und im Zeichen des Burgfriedens, hat der sozialdemokratische Rechtspolitiker Hugo 36 Kittner, Arbeitskampf [wie Anm. 13], S. 379 hart pointierend zur Lage der Gewerkschaften vor dem Weltkrieg: »Der Befund kann bezogen auf die Gewerkschaften nicht anders als niederschmetternd bezeichnet werden.« 37 Zur nicht-etatistischen Dimension des Abkommens Michael Ruck: Weimarer Republik: Aufstieg und Absturz – Konsolidierung und Untergang der Gewerkschaften, in: Jörg Hofmann/Christiane Benner (Hg.): Geschichte der IG Metall. Zur Entwicklung von Autonomie und Gestaltungskraft, Frankfurt a. M. 2019, S. 55–77, hier S. 56: »Allerdings lag der Akzent dieses »Korporatismus« jetzt stärker auf der autonomen Entscheidungsund Rechtsetzungsgewalt der vereinigten Arbeitsmarktparteien gegenüber staatlichen Institutionen. Jahrelang waren die gewerkschaftlichen Forderungen zur Beseitigung bestehender Einschränkungen des Koalitionsrechts […] auf politisch-parlamentarischer Ebene fruchtlos geblieben. Jetzt trat der Staat nur noch als Notar Ihrer beiderseitigen Vereinbarungen auf den Plan.« 38 Zu den historischen Grundlagen der breiten Debatte der 1980er und 1990er Jahre nur Ulrich Nocken: Korporatistische Theorien und Strukturen in der deutschen Geschichte

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Heinemann dem Staat nahegelegt, »die Konsequenz daraus zu ziehen (…), daß auch die Gewerkschaften mehr tun können, als die Rechte ihrer Mitglieder schützen, daß sie damit viel mehr zugleich die Interessen der Produktion, des Gewerbes, des Staates wahrnehmen. Dieser greife nur zu. Die Organe der Selbsthilfe können mancherlei leisten, was der Staat mit seinen Mitteln gar nicht oder nur unvollkommen zu erreichen vermag.«39 Unter hochgradig prekären Umständen geschaffen, hat Weimars Arbeitsverfassung dieses Modell der kooperativ-inklusiven Ordnung auf den historischen Weg gebracht.

IV. Die Wende der Schwerindustrie zu einer auf Tarifautonomie basierten Arbeitsverfassung signalisierte, wie bereits betont, das Ende der alten Beschränkungen, die sich in den langen Jahren des Kaiserreichs vor einer Modernisierung der industriellen Beziehungen aufgetürmt hatten. Aus den Umständen der Revolutionszeit selbst aber entstand mit der radikalen Rätebewegung jetzt eine neue Herausforderung, die in den Augen der Zeitgenossen große Risiken für die postrevolutionären Errungenschaften barg. Die jetzt anlaufende Stinnes-Legien-Logik schien durch dieses neue Element im großen Spiel der Arbeitsverfassung in gefährlicher Weise konterkariert und gestört. Diese neue soziale Bewegung sorgte für erhebliche arbeitspolitische Turbulenz und für Zweifel an der Tragfähigkeit des neuen Kurses. 40 Die in wichtigen Betrieben verankerten Räte – signifikant repräsentiert durch die Berliner Revolutionären Obleute – stellten für die Gewerkschaften ein neues, ihrer »zentralistischen

des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Ulrich von Alemann (Hg.): Neokorporatismus, Frankfurt a. M. 1981, S. 17–42. 39 Hugo Heinemann: Die soziale Kraft der Koalition, in: Alfred Bozi/Hugo Heinemann (Hg.): Recht, Verwaltung und Politik im Neuen Deutschland, Stuttgart 1916, S. 1–18, hier S. 17. 40 Die große Verunsicherung spiegelte sich in Hugo Sinzheimers Text von 1919 »Die Zukunft der Arbeiterräte«, abgedruckt in: Sinzheimer: Arbeitsrecht und Rechtssoziologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Frankfurt a. M./Köln 1976, S. 351 ff. Sinzheimer, der führende Konstrukteur einer auf voluntaristischen Verbandspluralismus gebauten Ordnung dachte hier über Gewerkschaften als Zwangsorganisationen nach. Jahrzehnte später noch fassungslos, wertete Otto Kahn-Freund dies »ganz einfach als eine Verirrung […], und man muss sich weigern, diesen Artikel als den Eindruck wirklicher Überzeugungen Sinzheimers zu akzeptieren.« (Kahn-Freund: Hugo Sinzheimer (1875–1914), in: Sinzheimer, Arbeitsrecht [wie oben], S. 18.)

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Mentalität«41 zutiefst fremdes Phänomen dar. Mit syndikalistisch inspiriertem Pathos formulierte es das Gegenmodell zum kooperativen Konzept der Arbeitsgemeinschaft zwischen Kapital und Arbeit. 42 In ihrer Einstellung zum gewerkschaftlichen Organisationsprinzip zumindest ambivalent, ließen die revolutionären Betriebsräte keinen Zweifel daran, dass die Kooperationslinie der gewerkschaftlichen Generalkommission für sie völlig unannehmbar war. Gewerkschaften und revolutionäre Räte gehörtem allem Anschein nach unterschiedlichen politischen Welten an. Der Konkurrenzkampf der Akteure war entbrannt. Für die Verbände ging es jetzt um die Kanalisierung und Pazifizierung der Räte im arbeitspolitischen Gesamtsystem, vor allem aber darum, ihnen jeden Zugriff auf die Kernkompetenz der Regelung der Arbeitsbedingungen und hier insbesondere der Lohnfindung zu verwehren. 43 Über die bereits im Kaiserreich angelegte, im Novemberabkommen fortgeschriebene und in den Bestimmungen der TVVO zu den Arbeiterausschüssen bestätigte Subordination der Betriebsvertretungen unter das Tarifsystem der Verbände sollte trotz Rätedynamik keinesfalls hinausgegangen werden. Der Räteartikel der Reichsverfassung von 1919 mit seinen drei Stufen44 ließ sich in diesem Kontext als programmatische Adresse an die Rätebewegung lesen, als eine Art symbolischer Politikgebrauch, mehr als taktische Maßnahme im sozialpolitischen Pulverdampf der frühen Weimarer Jahre denn als ein großes Zugeständnis an die grassierende Räteidee. Nicht Förderung, sondern Deckelung und Einhegung war das politische Prinzip, dem der Räteartikel verpflichtet gewesen ist. Dass die Mitbestimmung auf der Meso- und Makroebene, wie man weiß, dann nicht über bescheidenste Ansätze hinausgekommen ist, stellte somit auch keine Abweichung vom Programm der Reichsverfassung dar, sondern entsprach der Position des Räteminimalismus, mit der maßgebliche Kräfte in

41 Hans Mommsen: Staatliche Sozialpolitik und gewerkschaftliche Strategie in der Weimarer Republik, in: Ulrich Borsdorf u. a.: Gewerkschaftliche Politik, Reform aus Solidarität, Köln 1977, S. 61–80, hier S. 72. 42 Signifikante Dokumente finden sich in Dieter Schneider/Rudolf Kuda: Arbeiterräte in der Novemberrevolution, Frankfurt a. M. 1968. 43 Zur Rätepolitik der Freien Gewerkschaften etwa Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 21985, S. 197 ff. 44 Siehe die einflussreiche Kommentierung des Art. 165 durch Edgar Tatarin-Tarnheyden, in: Hans Carl Nipperdey: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 3, Berlin 1930, S. 519–598.

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die Verfassungsgebung hineingegangen waren. 45 Gleichwohl aber war das, was vom ›Rätesystem‹ der Reichsverfassung dann doch blieb, doch mehr als bloßer Fensterschmuck. Bei aller Taktik im Dienst der Deeskalation: Die Aussagen zu den ›Räten‹ im Artikel 165 Abs. 2 ff. WRV mochten das Fanal für eine Politik verstärken, die den Interessen der Arbeiterschaft gegenüber nicht länger kalt blieb. In symbolischer Hinsicht konnte die Verfassungsprogrammatik einer komplexen Räteordnung doch irgendwie ›positiv‹ zu Buche schlagen, so sehr es auch manöverhaft vage und im Ungefähren blieb. Ungleich wichtiger aber: ganz konkret fungierte der Räteartikel mit seinem Absatz 2 als Ausgangspunkt der Betriebsverfassung und der Gesetzgebung von 1920. Zusammen mit der Regelung der Tarifautonomie durch die vorkonstitutionelle Tarifvertragsverordnung mit der unmittelbaren und zwingenden Wirkung der Tarifverträge als Großinnovation begründete das Betriebsrätegesetz  – weit über die vom Kaiserreich her überkommenen »Arbeiterausschüsse« hinaus – die lange Entwicklungslinie des ›dualen Systems der industriellen Beziehungen‹46 aus verbandspluralistischem Tarifvertrag und mitbestimmungsbasierter Betriebsvereinbarung als rechtlich und verbandspolitisch koordinierter ›Gesamtvereinbarungen‹. Erst mit dieser Verbindung von ›Tarifautonomie‹ und ›Betriebsautonomie‹, die durch das BRG erreicht wurde, ist die Formierung der Arbeitsverfassung Weimars und die Formierung der Arbeitsverfassung des demokratischen deutschen Sozialstaats überhaupt abgeschlossen. Das BRG folgte in seinen wesentlichen Punkten den Vorstellungen, wie sie die Gewerkschaften in ihren »Richtlinien über die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften«47 zur Positionierung der Betriebsräte in den industriellen Beziehungen entwickelt hatten. Ganz auf Gewerkschaftslinie verwirklichte das Gesetz den Grundsatz des Vorrangs der Gewerkschaften gegenüber den Betriebsräten und des Tarifvertrags gegenüber der Betriebsvereinbarung mit ihren betriebsbezogenen Normen. Aufbauend auf der grundlegenden Kooperationsnorm des § 8 finden sich im Gesetz »zahlreiche Sicherungsbestimmungen der 45 Näheres bei Michael Stolleis: Die soziale Programmatik der Weimarer Reichsverfassung, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Reichsverfassung, München 2018, S. 195–218, hier S. 215. 46 Hierzu Berndt Keller: Einführung in die Arbeitspolitik. Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarkt in sozialwissenschaftlicher Perspektive, München 72008, S. 120 ff. Zur Normsetzung durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen generell Ferdinand Kirchhof: Private Rechtssetzung, Berlin 1987, S. 181 ff. 47 Abgedruckt in Reinhard Crusius/Günter Schiefelbein/Manfred Wilke (Hg.): Die Betriebsräte in der Weimarer Republik, Bd. 2, Berlin 1978, S. 137 ff.

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Gewerkschaften dagegen, daß die Organisationen durch die Betriebsräte verdrängt oder in ihrem Aufgabenkreis beeinträchtigt werden«. 48 Von größtem Belang war die zukunftsweisende Kompetenzverteilungsnorm des Paragraphen 78 Ziff. 2. Sie räumte den Betriebsräten zwar einerseits die Befugnis ein, Betriebsvereinbarungen zu schließen und führte insofern das vielleicht wichtigste Element des dualen Systems in die betriebsverfassungsrechtliche Ordnung ein. Zugleich wurde diese Kompetenz zur tarifvertragsähnlichen Normsetzung aber auf tarifvertragsfreie Räume begrenzt und setzte auch dort das Benehmen mit den zuständigen Koalitionen voraus. Die Unterordnung der Betriebsautonomie unter die Tarifautonomie war zum gesetzlichen Leitbild erhoben worden. Georg Flatow, ein wesentlicher Experte des neuen Betriebsverfassungsrechts, notierte: »Der Kampf zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften ist damit arbeitsrechtlich in der gleichen Weise entschieden worden, wie ihn die Arbeiterbewegung selbst in den Jahren 1918–1920 entschieden hat, indem sie die Betriebsrätebewegung zu einem Gliede der Gewerkschaftsbewegung gemacht und damit verhindert hat, daß die im BRG schlummernde Tendenz des Betriebsegoismus, des Syndikalismus und seines Widerparts, des (gelben) Werkvereins, über den gewerkschaftlichen Gedanken einer beruflichen Arbeiterpolitik siegte.«49 Die koordinierenden Normen des BRG, vor allem aber auch die gewerkschaftliche Betriebspolitik, die sofort nach der Novemberrevolution Fahrt aufnahm, sorgten dafür, dass die Räte des Betriebsrätegesetzes eng mit den Gewerkschaften verzahnt waren, »einrangiert«50 als »verlängerter Arm«51 der Verbände im Betrieb. Es war diese spezifische und für die Fortentwicklung des kollektiven Arbeitsrechts in Deutschland auch im weiteren historischen Verlauf so überaus bezeichnende Koppelung von Tarifautonomie und Betriebsautonomie, die »Eingliederung der Räte in die Gewerkschaftsbewegung«, die Ernst Fraenkel von 1929 aus zurückblickend als das »soziale Meisterstück der deutschen Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit« einstufte.52 Mit der Domestizierung der Räte hatten sich die Verbände eines gefährlichen Rivalen um die Macht in den industriellen Beziehungen entledigt. Zugleich – und dies war in der längerfristigen Perspektive ungleich wichtiger – festigte 48 Ernst Fraenkel: Zehn Jahre Betriebsrätegesetz, in: Thilo Ramm (Hg.): Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918–1933, Neuwied/Berlin-Spandau 1966, S. 97–112, hier S. 103. 49 Georg Flatow: Betriebsräte und Gewerkschaften, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 4 (1924), Sp. 386–395, hier Sp. 388. 50 Siegfried Nestriepke: Die Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, Stuttgart 21923, S. 157. 51 Flatow, Betriebsräte [wie Anm. 49], S. 398. 52 Ernst Fraenkel: Kollektive Demokratie, in: Ramm (Hg.), Arbeitsrecht [wie Anm. 48], S. 79–96, hier S. 88.

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das Regelungsmodell des BRG die Position der Gewerkschaften im Betrieb, steigerte den Zugriff der Verbände auf die Anwendung der Arbeitskraft im Prozess der Produktion und war somit angelegt als Treiber und Optimierer der systemtragenden Institution der Tarifautonomie. Das Geflecht der Strukturen, das die Republik in der großen postrevolutionären Turbulenz konfiguriert hat, war mit dem BRG komplett.

V. Im weiteren Verlauf ließ sich das Regime der inklusiven Arbeitspolitik nicht stabilisieren. In der großen Ordnungskrise, in der Weimar enden sollte, erwies es sich nicht als Stütze. Aber bereits in den Jahren der relativen Normalität leisteten die zwischen Novemberabkommen und Betriebsrätegesetz entstandenen Strukturen weniger für die Synthesis der hochgradig fragilen Gesellschaft als von Vielen erhofft. Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen, der Gründung der ZAG und mit den Gesetzgebungsakten der Weimarer Arbeitsverfassung schien es für einen historischen Moment lang so, als habe der Kollektivvertrag in der Arbeitspolitik die unbestrittene Herrschaft angetreten und den individuellen Arbeitsvertrag definitiv in den rechtshistorischen Hintergrund gedrängt. Tatsächlich war und blieb das Zutrauen in die Kraft des freien Arbeitsvertrags über die Spanne Weimars hinweg in hohem Maße angeschlagen. Daran änderte sich nichts. Schnell zeigte sich aber, dass auch die so wohlgeformte Rechtsinstitution Tarifautonomie als praktisch wirksame Institution des Wirtschaftssystems weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Der Aufstieg der lohnamtsähnlichen Zwangsschlichtung nach 1923,53 besonders aber auch die marktradikalen Akzente, wie sie die Wirtschaftstheorie jetzt setzte, spiegelten eine prekäre Struktur jenseits einer faktischen Befestigung. Das Alte ging nicht mehr – und das Neue ging auch nicht. Wie mit einem letzten Paukenschlag markierte die im Jahre 1923 erfolgte Auflösung der Zentralarbeitsgemeinschaft die arbeitspolitische Klimawende. Allerdings erfolgten diese Auflösung und der damit verbundene Abschied von der Stinnes-Legien-Logik keineswegs wie aus heiterem Himmel. Denn

53 Dazu als Überblick Martin Becker: Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis während der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 103 ff. Vorschriften zur Schlichtung enthielt bereits die TVVO; dort handelte es sich aber um ein liberales Modell ohne Zwang. Anders aber das Demobilmachungsrecht, an das man 1923 jenseits der Demobilmachung anschloss.

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tatsächlich setzte schon bald nach der Gründung der ZAG der Umschwung ein.54 Was sich eben noch in einer machtbewussten Satzung als bipartistischer Königsweg aus den allfälligen Regierbarkeitsproblemen des postrevolutionären Staates und als Fundament der neuen Arbeitsverfassung inszenierte, wurde jetzt selbst zum Problem. Wie jeder sehen konnte, taten sich beide Seiten zunehmend schwer damit, in ihrem jeweiligen Lager für Folgebereitschaft zu sorgen. Man schlitterte hinein in eine Krise der »Verpflichtungsfähigkeit«55 mit verheerenden Folgen für die institutionelle Stabilität. Die Arbeitgeber genossen den Abschwung der revolutionären Welle und begannen zögernd, dann immer schneller, damit, die Muster des Kaiserreichs zu reaktivieren. Man frondierte, November-­Abkommen hin oder her, gegen den Achtstundentag, gegen ein überhöhtes Niveau der Tariflöhne und ganz generell mehrten sich die Fragezeichen, mit denen man die Kompromisslinie des Novemberabkommens versah. Auf der anderen Seite wurde die Gewerkschaftsführung der inneren Opposition kaum noch Herr. Auf den Versammlungen konnten peinliche Abstimmungsniederlagen nur noch mit Hängen und Würgen, bald aber gar nicht mehr vermieden werden. Mit dem frühen Abgang des mächtigen Metallarbeiter-Verbands war für die Beteiligung des ganzen ADGB der Anfang vom Ende für jeden erkennbar eingeleitet worden.56 Ereignis für Ereignis, Konflikt für Konflikt – und davon gab es auch jenseits des für die ZAG besonders zermürbenden Kapp-Putsches viele – wurde der Konsens brüchiger. Jede Seite büßte in den Augen des ›Partners‹ Vertrauen ein, sodass das Bild der Gemeinschaftlichkeit, das der ganzen bipartistischen Unternehmung doch zugrunde lag, zunehmend verblasste. Je weniger der so genannte Inflationskonsens trug, je weniger man sich also auf Kosten Dritter miteinander vertragen konnte, je klarer zutage trat, dass die Zeit der ökonomischen Stabilisierung bald anbräche, umso weniger stand den Arbeitsgemeinschaftlern der Sinn nach dem Mitregieren. Als der ADGB die ZAG verlässt, ist das Selbststeuerungsspiel am Ende angelangt. Die Regimeversion des sozietalen, staatsfernen, ja in Augenblicken besonderer Kühnheit als staatsersetzend gedachten Korpora54 Als Übersicht über die Vorgänge noch immer herausragend Gerald D. Feldman/Irmgard Steinisch: Industrie und Gewerkschaften 1918–1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart 1985 mit einer Wiedergabe wichtiger Quellen. 55 Zum Begriff Hansjörg Weitbrecht: Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, Berlin 1969, S. 28 f. 56 Zur Lage im DMV Michael Kittner: Autonome Handlungs- und Konfliktfähigkeit von DMV und IG Metall: Mitglieder, Tarifbindung, Arbeitskampf, in: Hofmann/Benner (Hg.), Geschichte [wie Anm. 37], S. 101–228, hier S. 121 f.

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tismus hatte allen Glanz verloren, und mit dem Wendejahr 1923 machte der Staat sich daran, seine angestammte Chefrolle in der Arena der Regulierung zurückzugewinnen. Die Zeit des Novemberabkommens, in der die Verbände sich anschickten, am großen politischen Rad zu drehen, war abgelaufen. Als sich die ZAGler am 3. März 1924 zu einer letzten Sitzung des geschäftsführenden Vorstands trafen, war die neue Zwangsschlichtungsverordnung schon in Kraft. Der Vorständler Carl Friedrich von Siemens ließ als einer der letzten ZAG -Redner überhaupt im allgemeinen Gezänke der finalen Sitzung immerhin noch sein Bedauern protokollieren, »daß der Weg der freien Verständigung, der durch die Arbeitsgemeinschaft angebahnt werden sollte, mehr und mehr verlassen worden sei zugunsten staatlicher Regelung. Das sei eine Kurzsichtigkeit gewesen, die auch von Herrn Legien bekämpft worden sei.«57 Das neue Schlichtungsrecht war der normative Kern des staatsgetriebenen Systems der industriellen Beziehungen, das jetzt in den Vordergrund rückte,58 erst recht, nachdem eine Ausführungsverordnung den Einmann-Schlichtungsspruch durch den staatlich-neutralen Vorsitzenden zuließ.59 Die Gewerkschaften waren von der Zwangsschlichtung angesichts ihrer schmerzlich empfundenen Schwäche am Arbeitsmarkt hin- und hergerissen. Die radikalen Fraktionen der Arbeitgeber gingen auf Konfrontation gegen »politische Löhne und Tariffesseln«, wie es jetzt seit der tiefschürfenden Kontroverse um die Thesen des Ökonomen Gustav Cassel hieß. Und es ist durchaus bezeichnend, dass diese Kontroverse sich an der letzten großen Gesetzgebung Weimars zur Sozialverfassung, am Gesetz über Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG), entzündete, speziell an der faktischen Lohnuntergrenze, wie sie die Leistungen an Arbeitslose temporär fixieren.60 57 Niederschrift über die letzte Sitzung des geschäftsführenden Vorstandes der ZAG am 3. März 1924, abgedruckt in: Feldman/Steinisch [wie Anm. 54], S. 212. 58 Wichtig aber auch die Hinweise, dass in den nicht-schwerindustriellen Sektoren mit ihrer historisch ausgeprägteren Verhandlungskultur die Zwangsschlichtung nicht alles überlagerte. Siehe vor allem Werner Plumpe: Tarifsystem und innerbetriebliche Konflikte in der Weimarer Republik, in: Karl Christian Führer (Hg.): Tarifbeziehungen und Tarifpolitik in Deutschland im historischen Wandel, Bonn 2004, S. 26–63. 59 Dies war einer der Hauptpunkte der legendären Ruhreisenstreit-Entscheidung des Reichsgerichts von 1929. Dazu umfassend Kittner, Arbeitskampf [wie Anm. 13], S. 482 ff.; Martin Otto: »Die Materie war rechtlich schwierig.« Das Arbeitsrecht der Weimarer Republik in Wissenschaft und Praxis am Beispiel des »Ruhreisenstreits«, in: Martin Löhnig/Mareike Preisner (Hg.), Weimarer Zivilrechtswissenschaft, Tübingen 2014, S. 23–55. 60 Zu dem in die Kritik geratenen Zusammenhang von Tarifautonomie, staatlicher Schlichtung und rechtlich verbindlicher Arbeitslosenversorgung aus öffentlichen Kassen siehe

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Die Erosion der Sozialpartnerschaft, der Grundlage der im November 1918 begonnenen Arbeitsverfassung, die 1927 bereits nicht mehr zu übersehen war, kulminierte dann unter Wirtschaftskrisenbedingungen. Die verschiedenen ›Lösungsversuche‹, die bis zum Ende hin noch unternommen wurden, blieben samt und sonders in den Verwerfungen der Krisenökonomie stecken. Dies galt für – schüchterne –Versuche, die ›Kultur‹ der sozialen Partnerschaft zu erneuern,61 für Bemühungen um die Dezentralisierung des industriellen Verhandlungssystems zugunsten der Betriebsautonomie und unternehmensbezogener Lösungen62 und für die Radikalisierung der staatlichen Lohnpolitik im Komplex der Notverordnungen.63 Die Arbeitspolitik erwies sich als blockiert, ihre glanzvolle Normativität entwickelte sich in großer Beschleunigung zum Papierwert, zu einem Denkmal der großen Erwartungen von einst. Mit den 1930ern hatte sich die Sozialpartnerschaft in weitesten Bereichen der Arbeits- und Sozialbeziehungen als gesellschaftliche Praxis erledigt. Das einflussreiche Jahrbuch des Arbeitsrechts berichtete dazu lakonisch: »Das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ist 1931 unverändert geblieben. Der Grundcharakter war Fremdheit. […] So stehen sich die Klassenfronten unverändert im Willen zur Selbstbehauptung, wenn auch beiderseits durch die Krise geschwächt und zu offenen Kämpfen weder willens noch fähig, gegenüber.«64 Diese Arbeitsmarktkoalitionen standen in der Folge als Ordnungskräfte nicht zur Verfügung. Sie konnten jene Möglichkeiten, die in den Tagen von Arbeitsgemeinschaftsabkommen und Verfassungsgebung in einer kurzen Spanne erkennbar waren, nicht auf Dauer stellen. Jetzt in der großen Krise kamen sie – aus fehlendem Willen oder aus fehlendem Vermögen – für Kooperationen aller Art nicht mehr in Betracht, für bipartistische

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Gerd Bender: Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik – Ein sozialrechtshistorischer Überblick, in: Hans-Peter Benöhr (Hg.): Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte, Tübingen 1991, S. 137–160, hier S. 155–157 zu Arbeitslosenversicherung und Lohnpolitik; S. 158–160 speziell zur Cassel-Kontroverse. Zur Entstehungsgeschichte des AVAVG generell Karl Christian Führer: Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland 1902–1927, Berlin 1990. Siehe Gerald D. Feldman: Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise, Göttingen 1984, S. 228 f. Umfassend dazu Bernd Weisbrod: Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Wuppertal 1978, S. 393 ff.; pointierende zeitgenössische Kritik mit jeweils unterschiedlicher Stoßrichtung bei Fraenkel, Zehn Jahre [wie Anm. 48], S. 103 und Ernst Rudolf Huber: Lockerung der Tarifverträge, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 12 (1932), Sp. 211–218. Dazu nur Kittner, Arbeitskampf [wie Anm. 13], S. 487 ff. Jahrbuch des Arbeitsrechts 12 (1932), S. 32.

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nicht und für tripartistische unter der Regie des schlingernden Staates schon gar nicht. Die Normativität der WRV, die Normativität des kooperativen Staates war zusehends ohne Halt und ohne gesellschaftliche Deckung.

VI. Am Ende meines Versuchs zu den Strukturen der Arbeitsverfassung noch eine Art Epilog. Wir blicken dazu ins Jahr 1930, in dem sich die notorischen Strukturprobleme Weimars unter dem Eindruck des ökonomischen Einbruchs zur Regimekrise verdichteten. Zum Auftakt der Notverordnungszeit veröffentlichte Carl Schmitt seinen Vortrag »Staatsethik und pluralistischer Staat«. An eine konstruktive gesellschaftstragende Kraft der Verbände, über die wir gesprochen haben, hat dieser Autor nie geglaubt, im Gegenteil: Er hat keine Gelegenheit versäumt, den »quantitativ totalen«, den Verbänden dienenden Staat als armseligen Staat der Schwäche zu geißeln und hat »den Verfall des ordnenden Staates in immer neuen apokalyptischen Bildern beschworen, als das Ende der Staatlichkeit überhaupt, als steuerlos treibendes Schiff, als die Schlachtung und Verspeisung des Leviathan durch egoistische Partikularmächte […].«65 Schmitt treibt die Argumentation dann aber über die bei ihm übliche Beschreibung des unter Verbandseinfluss knochenerweichten Staates hinaus und geht auf die Situation der sozialen Kräfte, die sich gemeinsam mit dem Staat im politischen System gruppieren, näher ein. Ihre Ethik bestünde, sagt Schmitt, aus dem Prinzip des pacta sunt servanda. Diese Kräfte seien aneinander nur noch durch ein »vertragliches Band gebunden«. »Was es an Einheit gibt, ist nur das Resultat eines kündbaren Bündnisses. Der Vertrag hat dann nur den Sinn eines Friedensschlusses zwischen den paktierenden Gruppen, und ein Friedensschluß hat, ob die Parteien wollen oder nicht, immer einen Bezug auf die, wenn auch vielleicht entfernte Möglichkeit eines Krieges. Im Hintergrund dieser Art Vertragsethik steht daher immer eine Ethik des Bürgerkriegs.«66 Dem Weimarer Ende entgegen musste diese Beschreibung nicht Wenigen ziemlich plausibel erscheinen. Wenn man von ihrem Ende her auf die Arbeitsgemeinschaft blickt, die der Novemberkontrakt begründete, dann mag es 65 Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Sonderausgabe, München 2002, S. 102. 66 Carl Schmitt: Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, Berlin 31994, S. 144 f.

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einem fast so vorkommen, als habe der schnelle Absturz des Abkommens und seiner ZAG den Überlegungen Schmitts Pate gestanden.67 Wie dem auch immer war: So zerbrechlich das Stinnes-Legien-Abkommen, jenes sozietale Pendant zu Verfassung und verfassungsnaher Gesetzgebung auch war, so opportunistisch die Motive der Beteiligten vielleicht gewesen sind: gemeinsam mit der staatlichen Normenproduktion ist es Teil einer bedeutenden Episode, in der die neuen Möglichkeiten der arbeits- und industriepolitischen Regierbarkeit greifbar waren und dies trotz problematischer Erbschaften und unter schwierigsten Umständen. Die Gesellschaft von Weimar war an solchen konsensgeprägten Episoden arm und noch ärmer an der Fähigkeit, das Rare zum Aufbau robuster Strukturen zu nutzen. Schmitt hat die Erfahrung der Weimarer Krise vor Augen und denunziert die gemischten Regime der ausdifferenzierten Gesellschaften ganz generell. Wir heutigen, die in den Errungenschaften des organisierten Pluralismus, des liberalen Neo-Korporatismus,68 der nicht so ganz erfolglosen gemischten Regime leben,69 können erahnen, dass Schmitt unter dem Eindruck des Niedergangs die Potentiale einer komplexen Governance verkennt, die sich in der Weimarer Frühzeit erstmals zeigten.70 Diese Potentiale sind ein Prunkstück der Verfassung.

67 Näheres zum Stinnes-Legien-Bezug: Carl Schmitt: Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Berlin 32006, S. 41 f. und dann S. 53, dort mit Bezug zum AOG-Modell, dem NS-Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit. 68 Siehe dazu nur den wegweisenden Beitrag von Philippe C. Schmitter: Still the Century of Corporatism?, in: The Review of Politics 36 (1974), S. 85–131. 69 Zu deren Stabilität und Resilienz Gunther Teubner: Transnationale Wirtschaftsverfassung. Franz Böhm und Hugo Sinzheimer jenseits des Nationalstaats, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 74 (2014), S. 1–28, hier S. 16–18. Prägnant zur Regimestabilität infolge der »langfristigen Pfadabhängigkeiten, z. B. in der Sozialpolitik«, die den »neoliberalen Ideen« Grenzen setzten, äußert sich Lutz Raphael in: Journal of Modern European History 17 (2019) (Europa in der Krise. Gespräch mit Kiran Klaus Patel und Lutz Raphael über die Geschichte der europäischen Integration und den gesellschaftlichen Strukturwandel westeuropäischer Gesellschaften seit den 1970ern), S. 412–421, hier S. 420. Ausführlich Gerd Bender: Herausforderung Tarifautonomie. Normative Ordnung als Problem, in: Thomas Duve/Stefan Ruppert (Hg.): Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, Berlin 2018, S. 697–725., insbes. S. 710 ff. 70 Dies unterstreichend Toni Pierenkemper: »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …« – leider aber auch der Kern eines Scheiterns: »Sozialpartnerschaft« in Deutschland 1918–2018, in: Sozialer Fortschritt 67 (2018), S. 839–848, hier S. 846.

Diskursthemen

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Die politische Kultur des Kompromisses in der Weimarer Republik

I. Die Weimarer Debatte um den Kompromiss-Charakter der Verfassung Die Weimarer Republik ist bekannt für ihre grundsätzlich geführten Meinungskämpfe um zentrale Begriffe und Kategorien des Politischen, wie etwa um den Begriff des Politischen selbst, den Begriff des Staates oder den der Verfassung. Was zuvor mehr oder weniger technische Selbstverständlichkeiten zu sein schienen, die in Spezialdiskursen wie dem der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs erörtert wurden, avancierte nun zum Fokus erbittert geführter Debatten um die gedanklichen Grundlagen der politischen Ordnung insgesamt. Hierzu gehört auch die Debatte um den Begriff »Kompromiss«, die im Folgenden vor allem anhand von vier Autoren skizziert werden soll: Hans Kelsen, Carl Schmitt, Otto Kirchheimer und Rudolf Smend. Der Ausdruck »Kompromiss« fand in Weimar eine überwiegend pejorative Verwendung. Die Kritiker Weimars benutzten ihn dazu, die politischen In­ stitutionen als Phänomene des Übergangs zu charakterisieren. Nicht nur der Parlamentarismus als der klassische Ort des Kompromisses wurde auf diese Weise diskreditiert, auch die Verfassung sollte auf diese Weise delegitimiert werden: Das Parlament war der Ort fortlaufender Kompromisse, die Verfassung war das Ergebnis eines Kompromisses. Es gab allerdings auch Anhänger des Kompromisses, die in dem mutmaßlichen Kompromiss-Charakter der Verfassung keine Schwäche, sondern eine Stärke sahen. Die Schwierigkeiten einer Analyse der Debatte beginnen mit dem Begriff des Kompromisses selbst. Nicht nur die Weimarianer konnten auf keinen festen Begriffsgebrauch zurückgreifen, auch heute noch finden sich unter dem Begriff des Kompromisses verschiedenste Ansätze. Die durch die Ethik geprägte Betrachtungsweise, die große Teile der Erforschung des Kompromisses der letzten Dekaden prägte, neigt dazu, ihn als moralisches Problem des wertenden Individuums zu stilisieren. Hier zeigt sich auch, dass dem Kompromiss weiterhin der Odem des Nachgebens und der mangelnden Prinzipienfestigkeit anhaftet. Der Kompromiss muss eigens ethisch gerechtfertigt werden, um wenigstens

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das zu vermeiden, was ein »rotten compromise« genannt wird,1 eine Einigung um ihrer selbst willen ungeachtet der Inhalte. Herausforderungen wie der Klimawandel und die Erfahrung, wie schwerfällig sich auf Kompromisse abzielende demokratische Politiken erweisen können, diesen Herausforderungen entschlossen und konsequent zu begegnen, lassen die generelle Kritik am Kompromiss wieder aufleben.2 Ungeachtet dessen findet sich ein auf Institutionen Bezug nehmender Ansatz. Hier wird der Kompromiss als Teil der politischen Praxis, zumal der demokratischen betrachtet und nach institutionellen Arrangements gesucht, welche den Kompromiss ermöglichen,3 und zwar auch und gerade unter den Bedingungen ernsthafter, wertethisch anspruchsvoller Konflikte. 4 Im Kontext von konkreten Institutionen entwickeln sich Praktiken, die nicht ohne weiteres auf andere Institutionen oder andere Lebensbereiche übertragbar sind. Man kann hier sogar von einer »Institutionenkultur« sprechen, die Formen des Handelns und Verhaltens prägt, welche außerhalb der entsprechenden Institution nur schwer zu finden sind, so beim »Staat«,5 aber auch bei einzelnen Institutionen wie dem Parlament. Hier ist dann die Rede von der »Parlamentskultur«, die Interaktionen von Akteuren über ideologische und parteipolitische Grenzen hinweg erlaubt.6 In den Rechtswissenschaften wird der Kompromiss eher dort erörtert, wo gerade keine rein dogmatische Analyse Aufklärung

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Avishai Margalit: On Compromise and Rotten Compromises, Princeton 2010. Ciara Lepora: On compromise and being compromised, in: The Journal of Political Philosophy, Bd. 20 (2012), S. 1–22. Vgl. ferner Chiara Lepora/Robert E. Goodin: On Complicity and Compromise, Oxford 2013. Martin Greiffenhagen: Kulturen des Kompromisses, Opladen 1999; Klaus Günther: Politik des Kompromisses. Dissensmanagement in pluralen Gesellschaften, Wiesbaden 2006. Ulrich Willems: Wertekonflikte als Herausforderung der Demokratie, Wiesbaden 2016, insbesondere das Kapitel »Der Kompromiss als Instrument der Zivilisierung von Wertekonflikten«, S. 245–268. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 3. Aufl. 2002, S. 125–140. Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2. Aufl. 2005. Hier wird der Kompromiss aber nur am Rande (S. 252 f.) erwähnt.

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verspricht,7 oder aber als Mittel des Verfassungsvergleichs.8 In diesem Kontext wird dann heute auch vom Kompromiss als der politischen Kultur der Demokratie gesprochen. Doch diese Perspektive geht allzu schnell dazu über, die Kompromissbereitschaft als Ausweis der demokratischen Gesinnung von Akteuren anzusehen, so dass man wieder bei der ethischen Perspektive ist. Die Demokratie setzt Kompromissbereitschaft voraus, die Sozialisation in demokratischen Institutionen vermittelt Kompromissbereitschaft, offenkundig ein Zirkel, der am ehesten in stabilen Demokratien plausibel erscheint, nicht aber in jungen, gerade erst gegründeten politischen Ordnungen wie namentlich der Weimarer Republik. Die Weimarer Debatte stellte sehr grundsätzliche Fragen: Was sind geeignete Inhalte von Kompromissen, in welchem Verhältnis stehen sie zur »Entscheidung«, was sind Grenzen des Kompromisses? Zum einen wurde der Kompromiss als Kultur begriffen im Sinne einer praktischen Technik des kollektiven Handelns, die Kunst nämlich, über unterschiedliche Weltanschauungen, Werturteile und Interessen hinweg zu gemeinsamem Handeln zu gelangen. Zum anderen wurde gefragt, ob auch die politischen Grundlagen der Demokratie selbst Ergebnis eines Kompromisses sein können und ob diese Fundamente von weiteren Kompromissen verändert werden können bzw. dürfen. Generell sollte man die wissenschaftliche Erörterung des Kompromisses danach unterscheiden, ob sich die Bezeichnung auf die Entstehung einer Vereinbarung bezieht oder auf deren Inhalt. In pejorativer Verwendung wird der Ausdruck in beiden Hinsichten als Hervorhebung eines Mangels oder einer Schwäche gebraucht: Da die Entstehung nur ein Kompromiss war, ist die Vereinbarung weniger legitim, oder man kann sagen, da die Vereinbarung nur einen inhaltlichen Kompromiss zustande gebracht hat, ist dieser Inhalt wertlos oder jedenfalls von geringerem Wert als andere Vereinbarungen. Geht man davon aus, dass die einen Kompromiss schließenden Akteure so gegensätzlich sind, dass es eben nur zu einem Kompromiss kommen konnte, so überträgt sich der Gegensatz auf den Inhalt: Er konnte nicht anders als untauglich sein und es ist nur eine Frage der Zeit oder der Gelegenheit, bis die Bindekraft des

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Andreas Voßkuhle: Verfassungsstil und Verfassungsfunktion. Ein Beitrag zum Verfassungshandwerk, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 119 (1994), S. 35–60, insbes. S. 38–43: Die Verfassung als politischer Kompromiss; Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, in: Der Staat, Bd. 52, Nr. 2 (2013), S. 157–186. Stylianos-Ioannis G. Koutnatzis: Kompromisshafte Verfassungsnormen. Grundlagen und Konsequenzen für die Auslegung und Anwendung der Verfassung, Baden-Baden 2010.

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Kompromisses aufgehoben wird. Verwendet man den Ausdruck aber technischneutral, so ist nicht ausgeschlossen, dass der Inhalt der Vereinbarung, obschon sie in Hinblick auf ihre Entstehung nur ein Kompromiss war, sich dennoch durchsetzen wird. Umgekehrt kann es sich um einen alleine entscheidenden Akteur handeln, dessen Entscheidung aber inhaltlich nur einen Kompromiss darstellt, etwa weil versucht wurde, Unvereinbares zu vereinbaren. Die Weimarer Debatte zeigt, dass die beteiligten Autoren die genannten Aspekte auf unterschiedliche Weise verknüpften.

II. Der Weimarer Verfassungskompromiss Es ist die gefestigte Forschungsmeinung der letzten Jahre, die Weimarer Reichsverfassung als »Kompromiss« zu bezeichnen.9 Vom Kompromiss zu sprechen dient jeweils dazu, Mängel oder Schwächen der Verfassung hervorzuheben, ob auf der institutionellen Ebene bezüglich der letztlich unverträglichen Kombination des parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystems oder im Grundrechtsteil, der wie eine Auflistung vieler unterschiedlicher, miteinander oft unvereinbarer Werte und Überzeugungen wirkt. Nun findet sich allerdings kaum eine Verfassung in der Geschichte, die nicht auf die eine oder andere Weise aus Kompromissen bestünde. Dazu gehören auch als sehr erfolgreich geltende Verfassungen wie die US-Constitution von 1787 oder das Bonner Grundgesetz von 1949.10 Die amerikanische Verfassung besteht in ihrem Kern aus einer Reihe von Kompromissen (»Connecticut compromise«, »President election compromise«, »Massachusetts compromise«), etwa in der Frage des Machtverhältnisses kleiner und großer Einzelstaaten oder von Sklavenhalterstaaten und solchen, die auf die Sklaverei verzichteten (3/5-Clause und »slavery compromise«). Bei allem Nimbus dieser Verfassung darf man nicht vergessen, dass es das Scheitern des Sklaverei-Kompromisses   9 Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 78 f.; Klaus Günther: Politik des Kompromisses. Dissensmanagement in pluralen Gesellschaften, Wiesbaden 2006, S. 79–85. Heinrich August Winkler spricht von den Basiskompromissen der Weimarer Republik noch vor der Nationalversammlung und zählt hierzu das EbertGroener-Bündnis, das Stinnes-Legien-Abkommen und die Aufrechterhaltung der alten Ministerialbürokratie: Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 2. Aufl. 1985, S. 68–96. 10 Marcus Llanque: Verfassungskompromisse, in: ders./Daniel Schulz (Hg.): Verfassungsidee und Verfassungspolitik, München/Wien 2015, S. 387–393.

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war, der zum Bürgerkrieg führte und danach zur Änderung der Verfassung. Im Falle des Grundgesetzes sei nur daran erinnert, dass die heutige Institution des Bundesrates das Ergebnis des »Ehard-Menzel-Kompromisses« war, so dass die eigentlich von einer Mehrheit befürwortete Senats-Lösung für die Vertretung der Länder einem Kompromiss in Fragen des Finanzverhältnisses von Bund und Ländern zum Opfer fiel. Dieser Kompromiss war allerdings so erfolgreich, dass man heute gar nicht mehr weiß, dass es ihn einmal gegeben hat. Schließlich kann man nicht übersehen, dass auch die Bismarcksche Reichsverfassung aus Kompromissen bestand.11 Bismarck selbst betonte in einer Reichstagsrede von 1887, in welcher er eine Art Vortrag über die Kunst des Kompromisses hielt: »Keine Verfassung kann ohne Kompromiss existieren«.12 Nur haftete der Bismarckschen Verfassung in der Weimarer Debatte nicht die Wertung an, ein Kompromiss gewesen zu sein, vielmehr wurde sie schon in der Nationalversammlung immer wieder den Kompromissen gegenübergestellt, welche die Entwürfe zur Weimarer Reichsverfassung kennzeichneten. Für den Kompromisscharakter der Verfassung machte Rudolf Heinze von der DVP das Fehlen eines »einheitlichen Gesichtspunkts« des Gesamtwerks verantwortlich, worin sie sich nachteilig von der »Klarheit« und dem »großen Zug« der Bismarckschen Verfassung unterscheide.13 Der Ausdruck »Kompromiss« wurde in der Nationalversammlung überwiegend negativ verwendet. Mal wurde behauptet, dass die »Unabhängigen Sozialdemokraten die faulste Kompromisslergesellschaft seien«,14 während diese der Koalitionsregierung vorwarfen, »von Kompromiss zu Kompromiss gedrängt« zu werden und so »immer tiefer auf die schiefe Ebene« zu geraten.15 Schließlich wurde der Verfassung vorgehalten »im Wege des Kompromisses Scheingebilde aufzurichten«, was »eines Verfassungswerkes unwürdig« sei.16

11 Christoph Gusy: Die unzeitgemäße Verfassung. Die Reichsverfassung von 1871, in: Gilbert Krebs/Gérard Schneilin (Hg.): La Naissance du Reich, Paris 1995, S. 130–144; Koutnatzis, Kompromisshafte Verfassungsnormen [wie Anm. 8], S. 101–140. 12 Otto von Bismarck, Keine Verfassung kann ohne Kompromiß existieren, Rede im Reichstag vom 12. Januar 1887, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 93, 1886/1887, S. 380. 13 Rudolf Heinze, Rede vom 28. Februar 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326: Stenographische Berichte, Berlin 1920, S. 396 C. 14 Gustav Noske (SPD), Rede vom 15. Februar, in: ebd., S. 110D. 15 Luise Zietz (USPD), Rede vom 20. Februar, in: ebd., S. 232D. 16 Konrad Beyerle (BVP) am 3. März 1919, in: ebd., S. 465D.

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Diese kleine Sammlung ließe sich in großer Fülle ergänzen. Sie zeigt, wie pejorativ der Ausdruck Kompromiss gebraucht wurde. Auch Weimarer Autoren, die nicht verdächtig waren, die Demokratie in Frage zu stellen, sahen im Kompromiss kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. »Schließen wir ’nen kleinen Kompromiß! Davon hat man keine Kümmernis. Einerseits – und andrerseits – So ein Ding hat manchen Reiz …« dichtete Kurt Tucholsky bissig mit Bezug auf das Bündnis von Friedrich Ebert und der militärischen Führung unter Wilhelm Groener.17 Richard Thoma, der den Gedanken der Demokratie gegen Carl Schmitt verteidigte, konnte nicht umhin, in jeglicher Koalitionsregierung die Gefahr einer »lendenlahmen Kompromißpolitik« zu erblicken.18 Der Kompromiss wurde in Weimar »das« Kompromiss genannt, waren sich die im gymnasialen Latein geschulten Publizisten doch im Klaren darüber, dass es sich bei »compromissum« um ein Neutrum handelte. Als Rechtswissenschaftler kannten sie den römisch-rechtlichen Hintergrund des »compromissum« im Sinne der (rechtlich nur sehr eingeschränkt verbindlichen) Schlichtung eines Arbiter.19 Doch dieses Vorbild spielte keinerlei Rolle; man erforschte nicht die Kompromiss-Praxis auf kasuistische Weise und fragte nicht nach den institutionellen Kontexten, in welchen er glückt. Der Kompromiss wurde zumindest von den vielen Kritikern als eine Kultur angeprangert, die zur falschen Zeit der politischen Leidenschaft und Prinzipienfestigkeit ermangelt.

17 Kurt Tucholsky: Das Lied vom Kompromiss (Kaspar Hauser, in: Die Weltbühne vom 13. März 1919, Nr. 12, S. 297), in: ders.: Gesamtausgabe. Texte und Briefe, hg. von Stefan Ahrens, Antje Bonitz und Ian King, Bd. 3: Texte 1919, Reinbek bei Hamburg 1999, No. 33: S. 81–82. 18 Richard Thoma: Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegenwart, in: Melchior Palyi (Hg.): Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, 2 Bde, München/Leipzig, 1923, Bd. 2, S. 37–64, Nachdruck in: ders.: Rechtsstaat, Demokratie, Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen, hg. von Horst Dreier, Tübingen 2008, S. 91–119, hier S. 116. 19 Der Begriff findet sich im Corpus Iuris Civilis, s. Digesten 4,8,17,5, Ulpian 13 ed. Vgl. auch den Eintrag in Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, 7. Halbbd., Stuttgart 1900, S. 796 f.

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Man darf aber nicht übersehen, dass in der Nationalversammlung auch Akteure waren, die sich zum Kompromiss als Mittel der Politik bekannten. Dazu gehörten Eduard David (SPD) und Hugo Preuß (DDP). David verteidigte nicht nur das eigene Verfassungswerk gegen den Vorwurf, ein Kompromiss zu sein, er sah darin sogar dessen Stärke und begründete dies auf eine sehr interessante Weise. Der Kritik, »die Vorlage sei ein Kompromiss, sei nicht aus einem Guss« hält er entgegen: »Die Kunst der Politik, glaube ich, kann auch gar nichts anderes schaffen als Kompromisse; denn im Unterschied zu anderen Künsten ist der Politiker niemals mit dem Stoff allein, den er zu gestalten hat. Immer sind die Hämmer und Meißel zahlreicher Mitarbeiter dabei, die ihm in seine Arbeit hineinfahren, und als Kollektivwerk entspricht es niemals dem Ideal, das dem einzelnen Mitarbeiter oder Beschauer vorschwebt. […] In der Politik sind die Ideen billig wie Brombeeren, und ideale Forderungen zu erheben ist ein Kinderspiel. Die Ideen zu verwirklichen, die Forderungen durchzusetzen – da beginnt erst die Kunst«.20 Als Kunstwerk begriffen beruht der Verfassungskompromiss also auf einem bestimmten Handwerk, das sich durch die Kenntnis des Materials ausweist, in welchem etwas zustande kommt. Zu dem Werkstoff des Verfassungsgebens gehört die Fähigkeit, soweit Positionen einzubeziehen, dass man am Ende eine Mehrheit findet. Den Kompromiss als »Kunst« zu bezeichnen verweist hier auf den technischen Charakter des Kompromisses. Der Kompromiss war für Politiker wie David weder ein Werturteil noch eine Gesinnung, sondern eine Fähigkeit, den politischen Willen einvernehmlich umzusetzen. Voraussetzung des Erfolgs dieser Technik war keine prästabilisierte Harmonie unter den Beratenden oder eine gemeinsame geteilte Ideologie, aber ein gemeinsames Handlungsziel. Diese Gemeinsamkeit als Voraussetzung des Kompromisses hatte schon Hugo Preuß in den ersten Tagen der Beratungen benannt, als er in der Nationalversammlung unermüdlich den unausweichlichen Kompromiss-Charakter seiner Verfassungsentwürfe verteidigte. Er appellierte, hinter aller sachlichen Kritik an einzelnen Aspekten doch immer auch die Kompromissbereitschaft der Parteien als Willen zur Einheit in der Hauptsache zu erkennen. Bereits in seiner Rede vom 8. Februar 1919 bezeichnete Hugo Preuß vor der National20 Eduard David, Rede vom 4. März 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 13], Bd. 326, S. 498 A/B.

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versammlung den Entwurf des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt als einen »Kompromissentwurf«.21 Preuß meinte das nicht abschätzig, sondern als Einladung an alle Fraktionen, aufeinander zuzugehen. »Wie es bei einem Kompromissvorschlag nicht anders sein kann«, führt Preuß in dieser Rede aus, »wird das, was vorgeschlagen wird, beiden Teilen nicht gefallen, den einen zu viel, den anderen zu wenig geben.« Hier zeige sich »der Gedanke der Vereinbarung, der Gedanke, auf dem Wege des möglichst geringen Widerstandes nun das zunächst Notwendige zu schaffen«, nämlich »unserem neuen Reich eine anerkannte Regierung so schnell als möglich zu geben«.22 Es ist also die Gemeinsamkeit des Wunsches, Regierungsgewalt wieder aufzurichten, die Kompromisse erlaubt. Die Kompromissbereitschaft hat mit gemeinsamen politischen Zielen zu tun. Diese Überlegungen leiteten dann auch Preuß’ Beitrag zur Verfassungsdebatte. Die parteiübergreifende Zustimmung zur Verfassung scheint Preuß recht gegeben zu haben. In den ersten Weimarer Jahren gab es nicht wenige Stimmen, welche die Verfassung gerade um ihres Kompromiss-Charakters willen wertschätzten und achteten. Gerhard Anschütz hob in seiner Rektoratsrede vom November 1922 voller Anerkennung die Leistung der Verfassungsgeber hervor, überhaupt zu einem Ergebnis gekommen zu sein:23 »Das Werk von Weimar ist zustande gebracht worden als mühsames, schließlich aber mit achtunggebietender, ja imponierender Mehrheit beschlossenes Kompromiss zwischen großen staatsbildenden Kräften, zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft; es gilt, dieses Kompromiss zu ehren in dem allbeherrschenden Interesse der im Innern zu bewahrenden, nach außen zu bewährenden nationalen Einheit«. Noch 1924 war es ohne weiteres möglich, die Weimarer Reichsverfassung als Kompromiss zu bezeichnen, ohne damit eine Kritik äußern zu wollen, sondern als Erklärung für die verschiedenartigen Bestandteile der Verfassung.24 In diese Zeit findet sich auch der erste Versuch, den Kompromiss theoretisch zu erfassen, bei Hans Kelsen.

21 Ebd., S. 13 C., 22 Ebd., S. 15 C. Die Rede auch in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, hg. von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen 2015, S. 196–203, Zitate dort S. 199 und S. 203. 23 Gerhard Anschütz: Die drei Leitgedanken der Weimarer Verfassung (Rede gehalten bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1922), Tübingen 1923, S. 26. 24 Johann Victor Bredt: Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, Berlin 1924, S. 71–77.

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III. Der politische Kompromiss als Technik: Hans Kelsen Den Kompromiss als soziale Technik der Konfliktbearbeitung analysierte Hans Kelsen. Der Rechtstheoretiker der Normenlogik widmete einen erheblichen Teil seiner publizistischen Arbeit nach 1918 politisch-theoretischen Fragen, vor allem jenen der Demokratietheorie. In »Von Wesen und Wert der Demokratie«, zunächst 1920 als Aufsatz, dann 1929 in erweiterter Form vorgelegt,25 definierte er: »Kompromiss bedeutet: Zurückstellung dessen, was die zu Verbindenden trennt, zugunsten dessen, was sie verbindet. Jeder Tausch, jeder Vertrag ist ein Kompromiss, denn Kompromiss bedeutet: sich vertragen«.26 In Kelsens Augen ist der Kompromiss das Kennzeichen aller parlamentarischen Arbeit und damit die »Politik der Demokratie«,27 denn Kelsen lässt nur die parlamentarische Form der Demokratie als deren moderne, weil arbeitsteilige Gestalt gelten. Es ist in seinen Augen geradezu der Vorzug von Koalitionsregierungen, organisierte Formen des Kompromisses zu sein.28 Der Kompromiss wird bei Kelsen zum Inbegriff des modus operandi der Demokratie. Dies umso mehr, als er damit auch erklärt, wie Mehrheit und Minderheit im Parlament kooperieren, obwohl sie doch rein äußerlich betrachtet, gegeneinander arbeiten.29 Denn der Kompromiss ist nicht nur die äußere Gestalt des Mehrheitswillens, die aus mehreren Fraktionen zusammengesetzt ist, sondern das Ergebnis eines Prozesses, an dem auch die Minderheit aktiv beteiligt ist, erfolgen doch die Vereinbarungen der Mehrheit immer im Lichte der widerständigen Minderheit. Die Oppositions-Tätigkeit verhindert so manchen Inhalt des Kompromisses oder macht diesen oft erst nötig, weshalb am Ende auch die Minderheit von sich behaupten kann, wenigstens indirekt am Kompromiss beteiligt gewesen zu sein, insofern sie »Schlimmeres« verhindern

25 Marcus Llanque: Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920), in: Manfred Brocker (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2018, S. 129–144 zu den Wandlungen der beiden Fassungen und zur Stellung des Kompromiss-Begriffs darin. 26 Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920, 2. Aufl. 1929, S. 57. Vgl. zu Kelsens Kompromiss-Begriff: Karl G. Kick: Politik als Kompromiss auf einer mittleren Linie: Hans Kelsen, in: Hans J. Lietzmann/Wilhelm Bleek (Hg.): Moderne Politik. Politikverständnisse im 20. Jahrhundert. Opladen 2001, S. 63–80; Robert Chr. van Ooyen: Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, Berlin 2003, S. 100 ff. 27 Kelsen, Vom Wesen [wie Anm. 26], S. 13. 28 Ebd., S. 62. 29 Ebd., 53–68.

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konnte. Insofern herrscht kein Diktat der Majorität über die Minderheit, sondern ein »dialektisch-kontradiktorisches Verfahren« gegenseitiger Beeinflussung. Der Kompromiss ist der Ausgleich der politischen Gegensätze und ist daher das Gegenteil einer »absoluten Wahrheit«. Er besteht formal gesehen aus »der mittleren Linie zwischen den einander entgegengesetzten Interessen« und ist zugleich die Resultante der einander entgegenwirkenden sozialen Kräfte.30 Die Betonung der Mitte erinnert an die aristotelische Denkweise, wonach das Mittlere zwischen den Extremen immer die bessere Lösung sei (»Mesotes-Ideal«). Dieser Gegenüberstellung von Kompromissen aus Mehrheitsverfahren zur absoluten Wahrheits-Suche gibt Kelsen am Ende des kleinen Buches noch einmal eine dramatische Wendung, wenn er über jene Weltanschauung zu sprechen kommt, die mit der Demokratie korrespondiert.31 Grundsätzlich sieht Kelsen alles politische Denken in zwei Hauptformen aufgeteilt, der empirischrelativistischen und der metaphysisch-absolutistischen Weltanschauung. Nur jene ist mit der Demokratie vereinbar, die absolutistische führt hingegen zu autokratischen Ordnungen. Kelsen spitzt diese Gegenüberstellung in der Konfrontation von Jesus von Nazareth mit Pontius Pilatus zu. Während Jesus für sich die Wahrheit in Anspruch nimmt, lässt Pilatus, der als Römer »gewohnt ist, demokratisch zu denken«, die Frage durch eine Abstimmung entscheiden – und das Volk entscheidet für Barabbas: »Vielleicht wird man, werden die Gläubigen, die politisch Gläubigen einwenden, dass gerade dieses Beispiel eher gegen als für die Demokratie spreche. Und diesen Einwand muss man gelten lassen; freilich nur unter einer Bedingung: Wenn die Gläubigen ihrer politischen Wahrheit, die, wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muss, so gewiss sind wie – der Sohn Gottes«.32 Das von Kelsen angesprochene Problem berührt die Auseinandersetzung zwischen Demokratien und Autokratien. Was Kelsen offen lässt, ist die Konfrontation von relativistischer und absolutistischer Weltanschauung »innerhalb« einer Demokratie, die für die Weimarer Republik kennzeichnende Konfliktkonstellation. Es wäre nun naheliegend gewesen, wenn Kelsen aus dieser Überlegung heraus die Konsequenz gezogen hätte, alle Verfechter einer absoluten Weltanschauung, wenn nicht aus der Demokratie, so doch auf jeden Fall aus 30 Ebd., S. 58. 31 Ebd., S. 98–104. 32 Ebd., S. 104.

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der parlamentarischen Willensbildung der Demokratie auszuschließen. Diesen Schritt ist Kelsen nicht gegangen. Das hat mit seiner Neigung zu tun, die relativistische Weltanschauung nicht nur als die adäquate demokratische Einstellung zu sehen, sondern als Ausdruck einer modernen Weltanschauung. Die absolute Weltanschauung betrachtet Kelsen hingegen als Überreste einer atavistischen Einstellung. 1920 konnte Kelsen noch den Eindruck haben, dass mit dem Ende des Ersten Weltkrieges das Zeitalter der Demokratie angebrochen sei. Die Akzeptanz der Demokratie als einzig verbliebener Form der politischen Legitimität war ihm geradezu selbstverständlich, der Widerstand hiergegen wirkte wie eine Kette von Nachzüglergefechten jener, die den epochalen Wechsel von Autokratien zu Demokratien noch nicht begriffen hatten. Bekanntlich erholten sich die Verfechter absoluter Weltanschauungen sehr rasch. Dieses Wiedererstarken konnte Kelsen nicht mehr mit eigenen begrifflichen Mitteln erfassen und entsprechend darauf reagieren. Kelsen charakterisiert Pilatus als »Mensch einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur«.33 Das deutet darauf hin, dass die Kelsensche Demokratie erst in einer Phase der kulturellen Entwicklung zu voller Blüte gelangen kann, in welcher die Kontrahenten nicht mehr mit äußerster Leidenschaft ihren Idealen folgen und so Kompromisse unmöglich machen. Die skeptische Haltung erlaubt es, in der Suche nach der von Kelsen genannten »mittleren Linie« keine Schwäche zu erkennen, sondern im Kompromiss das unausweichliche Resultat, dem man am Ende auch innerlich zustimmen kann. Die Weimarer Debatte aber war nicht müde, und sie war auch nicht »lendenlahm«, um Richard Thomas Ausdruck aufzugreifen. Die politische Leidenschaft wurde nicht durch die Verteidiger des politischen Kompromisses entfacht, sie zeigte sich bei jenen, die den Kompromiss bekämpften. Das gab ihnen einen Vorteil in der Debatte, sachlich war dies freilich kein Ausweis der Plausibilität ihrer Argumentation.

IV. Der Kompromiss und sein Verhältnis zur Entscheidung: Carl Schmitt und Otto Kirchheimer Es findet sich in der Weimarer Debatte kein vehementerer Kritiker des Kompromisses als Carl Schmitt. Er blickte anfangs wie so viele andere auf den Kompromiss mit Verachtung herab, begann dann aber stärker zu differenzieren und

33 Ebd., S. 103.

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die Gefahren des Kompromisses für den demokratischen Staat zu erörtern. Im Verlauf der gesamten Debatte beharrte Schmitt auf einer strengen Entgegensetzung von Kompromiss und Entscheidung. Schmitts Beitrag beschränkt sich nicht auf die berühmte Formel vom »dilatorischen Formelkompromiss«, wenn gleich der größte Teil der Forschung zu Schmitts Kompromiss-Theorie sich auf diesen Aspekt konzentriert.34 Schmitt macht die Möglichkeit eines Kompromisses von einer vorhandenen Entscheidung über die Grundlagen der politischen Ordnung abhängig, welche seiner Ansicht nach die Verfassung darstellt. Eine solche Entscheidung kann nicht wiederum selbst nur ein Kompromiss sein. Kompromisse über Grundsatzfragen können Entscheidungen nicht ersetzen, sie verweisen möglicherweise darauf, dass diese Entscheidungen nicht mehr im Rahmen der Verfassung erfolgen. Schmitts Kampf gegen den Kompromiss begleitet seine gesamten Weimarer Schriften. In der »Politischen Theologie« von 1922 vermittelt er zunächst den Eindruck, in leidenschaftlicher Gegnerschaft zum Liberalismus Kompromiss und Entscheidung als unvermittelbare Gegensätze zu etablieren. Die Einstellung zum Kompromiss ist demnach Ausdruck der jeweiligen politischen Metaphysik: der Liberalismus auf Seiten des Kompromisses ist die Metaphysik des Sowohl-als-auch, die Entscheidung aber ist die »anspruchsvolle moralische Entscheidung«,35 die nur ein Entweder-oder kennt: »Wie der Liberalismus in jeder politischen Einzelheit diskutiert und transigiert, so möchte er auch die metaphysische Wahrheit in eine Diskussion auflösen. Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren«.36 »Jener Liberalismus mit seinen Inkonsequenzen und Kompromissen lebt […] nur in dem kurzen Interim, in dem es möglich ist, auf die Frage: Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer

34 Günther, Politik des Kompromisses [wie Anm. 3], S. 26 ff. 35 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München/Leipzig 1922, S. 56; neuere Ausgabe als unveränd. Nachdruck der 2. Aufl. von 1934, Berlin 1985, S. 83. 36 Ebd.; Ausgabe 1922, S. 54; Nachdruck 2. Aufl. 1985, S. 80.

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Untersuchungskommission zu antworten.37 Eine solche Haltung ist nicht zufällig, sondern in der liberalen Metaphysik begründet«.38 Das war eine indirekte Anspielung auf Kelsens Parabel von Jesus und Pilatus. Die Situation ist aber auch in Schmitts Augen komplizierter, denn nicht nur der Liberalismus, auch der Sozialismus will das Politische ersetzen durch die Sachlichkeit der Wirtschaft, durch ein Bewusstsein, in der alle Fragen zu »organisatorisch-technischen« und »ökonomisch-soziologischen« Aufgaben deformiert werden können, was Schmitt in dem Satz zusammenfasst, dass der moderne Staat nun endgültig Max Webers Prognose verwirklicht habe, nämlich ein »großer Betrieb« zu sein.39 Schmitts anfänglich vehemente Kritik wich in den folgenden Jahren jedoch einer differenzierenden Betrachtungsweise. Denn das »Interim« des liberalen Zeitalters hielt an und die angeblich anspruchsvolle moralische Entscheidung konnte sich gerade nicht gegen den technischen Kompromiss der mittleren Linie behaupten. Das versuchte Schmitt mit der Kennzeichnung der Gegenwart als einem »Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« zu erklären. 40 Die Technik ist demnach die prägende Denkweise der Gegenwart, sie erlaubt die Annahme, man könne »neutral« sein in der Frage zwischen widersprüchlichen Wertannahmen. Doch Schmitt warnt: »Aus der Immanenz des Technischen heraus ergibt sich keine einzige menschliche und geistige Entscheidung«. 41 Die Gefahr besteht seiner Auffassung nach nicht nur in kulturkritischer Manier in der Nivellierung und dem Mangel an anspruchsvollen Entscheidungen, sondern in der durch diese Haltung geförderten, wenn nicht gar verschleierten Praxis, solche Entscheidungen nicht mehr im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung des Staates vorzunehmen, sondern im gesellschaftlichen Hintergrund des Staates, wo intransparente soziale Mächte wirken. Auf der Suche nach dem Restbestand des Staates hat Schmitt nicht nur den Begriff des Politischen mobilisiert als Voraussetzung des Begriffs des Staates, er hat auch die Verfassung in diese Suche einbezogen und sie in seiner »Ver37 Den Gründen für die unterschiedliche Schreibweise von Kelsen und Schmitt von demjenigen, der an Stelle Jesu freigesprochen wurde, wurde hier nicht nachgegangen. 38 Ebd.; Ausgabe 1922, S. 53 f.; Nachdruck 2. Aufl. 1985, S. 78. 39 Ebd.; Ausgabe 1922, S. 55 f.; Nachdruck 2. Aufl. 1985, S. 82. 40 So nannte er eine Rede aus dem Oktober 1929, die er als ein Kapitel in den »Begriff des Politischen« in der Fassung von 1932 aufnahm: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 8. Aufl. 1963, S. 79–95. 41 Ebd., S. 90.

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fassungslehre« von 1928 als die Gesamtentscheidung eines Volkes über seine politische Existenz definiert. Schmitt verfeinert hier seine Kritik am Kompromiss, indem er ihn nicht mehr pauschal der Entscheidung gegenüberstellt, sondern fragt, in welchem Verhältnis der Kompromiss zur Entscheidung steht. Im Ganzen unterscheidet Schmitt drei Rangstufen von Vereinbarungen: »echte Entscheidungen«, »echte Kompromisse« und »unechte Kompromisse«. 42 Die »echten Entscheidungen« sind den prinzipiellen Fragen vorbehalten und erfolgen auf der Ebene der verfassunggebenden Gewalt. 43 Im Unterschied zu den Entscheidungen sind bei den »echten Kompromissen in nicht-prinzipiellen Einzelheiten« sachliche Regelungen möglich, die »im Wege beiderseitigen Nachgebens« zustande kommen. Schließlich kennt Schmitt die »unechten Kompromisse«, die er auch »dilatorische Formelkompromisse« nennt 44 und die Vereinbarungen nur in dem Sinne sind, dass sie Entscheidungen vermeiden. Das kann politisch »klug und vernünftig« sein, 45 aber sie sind dann verfassungsrechtlich belanglos, denn sie enthalten »nur ein äußerliches, sprachliches Nebeneinander sachlich unvereinbarer Inhalte«. 46 Man kann Entscheidungen von echten Kompromissen dahingehend differenzieren, dass Erstere das »unvermeidliche Entweder-oder« anstreben, während Letztere solche Fragen in ein »harmonisches Sowohl-als-auch verwandeln« möchten. In prinzipiellen Fragen gibt es aber keinen »Sachkompromiss«. 47 Schmitt ist bemüht, die Weimarer Reichsverfassung als Ganzes mit der »existenziellen Totalentscheidung des deutschen Volkes« zu identifizieren und hiervon die einzelnen Verfassungsnormen abzusetzen. Wäre die Verfassung keine solche Entscheidung, dann müsste man annehmen, sie sei »eine Summe zusammenhangloser […] Einzelbestimmungen, welche die Parteien der Weimarer Regierungskoalition auf Grund irgendwelcher ›Kompromisse‹ in den Text zu lancieren verstanden«. 48 Die Verfassung ist aber eine Entscheidung für die Demokratie, für die Republik, den Bundesstaat sowie den »bürgerlichen Rechtsstaat« mit Grundrechten und Gewaltenunterscheidung. 49 Schmitts Auflistung der genannten Grundprinzipien als Kernelemente der Verfassung wird man leicht zustimmen können. Aber wie kann es sich hier um eine »Ent42 43 44 45 46 47 48 49

Carl Schmitt: Verfassungslehre, München/Berlin 1928, S. 31. Ebd., S. 66. Ebd., S. 31. Ebd., S. 34. Ebd., S. 32. Ebd., S. 66. Ebd., S. 24. Ebd., S. 21 f.

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scheidung« handeln, wie kann die Feststellung einer abschließenden Liste von Prinzipien bereits die mit einer Entscheidung erhoffte Klarheit und Eindeutigkeit schaffen, die Schmitt der Entscheidung zubilligt, dem Kompromiss aber abspricht? Demokratie und bürgerlicher Rechtsstaat befinden sich nicht in einem begrifflich eindeutigen Verhältnis zueinander, wie Schmitt selbst nicht müde wird zu betonen. Leichter erkennbar wird das, was Schmitt unter »Entscheidung« versteht, wenn Schmitt die Entscheidung für die Republik als Entscheidung gegen die Monarchie50 wie auch gegen eine Sowjet-Republik deutet.51 In solchen Fragen, Monarchie oder Republik bzw. Demokratie oder Rätediktatur, »wäre ein Kompromiss unmöglich gewesen«.52 Solche Entscheidungen können nicht in Gestalt von Kompromissen fallen, auch nicht, wenn sie eine verfassungsändernde Mehrheit umfassen. Andererseits weist die Weimarer Reichsverfassung Schmitt zufolge einen generellen »Kompromisscharakter« auf.53 Er erstreckt sich auf die einzelnen »verfassungsgesetzlichen Regelungen«. Da ist die Liste lang. Schmitt nennt das parlamentarische Regierungssystem und vor allem den Grundrechtsteil der Verfassung. Bezüglich des parlamentarischen Regierungssystems ist Schmitt der Auffassung, die Verfassung habe eine Entscheidung zwischen den – wie er meinte – vier möglichen Typen des parlamentarischen Regierens unterlassen und statt dessen Elemente aller vier Typen in den Verfassungstext aufgenommen, so dass sich für jede dieser Typen Argumente aus der Verfassung ableiten lassen.54 Vor allem aber ist es der Grundrechtsteil, auf den sich Schmitts KompromissKritik bezieht. Hier kann nicht Schmitts Grundrechts-Theorie rekonstruiert werden. Erinnert sei nur an die begriffliche Strategie, zwischen »echten Grundrechten« und Programmsätzen zu unterscheiden: Da die Grundentscheidung der Verfassung für den bürgerlichen Rechtstaat gefallen sei, können demzufolge auch nur die bürgerlichen Freiheitsrechte (heute würde man eher von negativen sprechen) als echte Grundrechte angesehen werden, in dem Sinne, dass sie auch nicht durch ein verfassungsänderndes Gesetz angetastet werden dürfen,55 denn sonst wäre die Grundentscheidung der Verfassung verletzt.

50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 24. Ebd., S. 26. Ebd., S. 30. Ebd., S. 28–36. Ebd., S. 340–353. Ebd., S. 177.

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Keine »echten Grundrechte« sind demnach jene Rechte, die Vereinigungen »Kampfmöglichkeiten« an die Hand geben (Koalitionsrecht, Streikrecht), ferner auch nicht die »sozialistischen« Rechte sowie sozialen Forderungen.56 Anders wiederum die »demokratischen Grundrechte«, also die politischen Freiheitsrechte des Individuums, die Ausdruck der Gesamtentscheidung der Verfassung für die Demokratie sind. Die Verwirrungen, Irrtümer und Fehler bei der Grundrechtsauslegung, die Schmitt immer wieder moniert, haben seiner Ansicht nach mit dem Zustandekommen des zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung zu tun: Die dort aufgelisteten Rechte sind nur eine »Nebeneinanderstellung verschiedenartiger Prinzipien«, sie entsprechen einem »interfraktionellen Kompromissprogramm«.57 In diesem Programm werden bürgerlich-individualistische Garantien, sozialistische Programmsätze und katholisches Naturrecht zu einer »etwas wirren Synthese« vermengt.58 Da man in der Rechtswissenschaft Entscheidungen nicht von Kompromissen zu unterscheiden versteht, vermag man auch nicht zwischen echten und unechten Grundrechten zu unterscheiden. Eine Folge dieser von Schmitt beklagten Wirrnis besteht darin, dass die Akzeptanz von Kompromissen in prinzipiellen Fragen dazu führt, dass die Entscheidungen an anderen Stellen als den verfassungsrechtlich vorgesehenen vorgenommen werden. Das aber genau fürchtet Schmitt: dass an Stelle der verfassungsgebenden Gewalt andere Stellen Festlegungen vornehmen, die vielleicht gar nicht dafür vorgesehen sind. Dann drohen »apokryphe Souveränitätsakte«, die eigentlich der verfassungsgebenden Gewalt vorbehalten sind, und die stattdessen durch einfaches Gesetz erfolgen oder aber durch die Rechtsprechung.59 Würden Gerichte die Lücken zu füllen haben, welche dilatorische Formelkompromisse der Verfassungsgeber hinterließen, werden sie zu »hochpolitischen Instanzen«, und es droht die »Politisierung der Justiz«.60 Abgesehen von den oft zweifelhaften theoretischen Prämissen seiner Beweisführung, vor allem der – allerdings auch bei anderen zu findenden – Grundidee, ein Kollektivsubjekt »Volk« könne eine Entscheidung treffen in der Art, wie man etwa von Entscheidungen von Verfassungsorganen spricht, bedenkt Schmitt eine Wirkung seiner Kritik am Kompromiss-Charakter der Verfassung nicht: Wenn an so bedeutenden Abschnitten der Verfassung wie dem

56 57 58 59 60

Ebd., S. 165 und S. 169. Ebd., S. 162. Ebd., S. 30. Ebd., S. 29. Ebd., S. 118–119.

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Regierungssystem und den Grundrechten von Kompromissen gesprochen wird, dann ist am Ende doch der ganzen Verfassung der kompromisslose Charakter einer Entscheidung abgesprochen. Diese Konsequenz zog Otto Kirchheimer. Otto Kirchheimer wird gelegentlich als eine Art sozialistischer Schüler Carl Schmitts begriffen.61 Auf der Suche nach einer sozialistischen Verfassungslehre entnahm Kirchheimer der Schmittschen Verfassungstheorie einige Anregungen, distanzierte sich aber auch von anderen Überlegungen Schmitts, so auch beim Kompromiss-Begriff.62 Für Kirchheimer verleiht erst die Revolution einer Verfassung den Charakter einer politischen Entscheidung. Nicht der Gedanke der Demokratie, aber der Sozialismus hätte der Weimarer Verfassung den historischen Sinn verliehen »die Organisation einer neuen Gesellschaftsordnung« zu initiieren.63 Die Demokratie kann nur die Form sein, mit welcher dieses Programm umgesetzt wird, es kann dieses nicht ersetzen. Doch das Proletariat hatte keine Willenskraft besessen, die »sozialistische Demokratie« durchzusetzen. Stattdessen wurden »alle sozialen Fragen durch Kompromisse auf dem Rücken der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung ›erledigt‹«,64 das soll heißen, die Form der Demokratie wurde gegen die Interessen der eigentlichen Bevölkerungsmehrheit missbraucht. Wenn man unter einem Kompromiss eine Lösung versteht, »die durch Nachgeben beider Teile gewonnen wird und eine bestimmte Sachlage für eine gewisse Zeitspanne endgültig, eindeutig und abschließend regeln will«,65 dann trifft dies laut Kirchheimer und entgegen

61 Die Diskussion schwelt seit langem: Volker Neumann: Verfassungstheorien politischer Antipoden: Otto Kirchheimer und Carl Schmitt, in: Kritische Justiz, Bd. 14 (1981), S. 235–254; Frank Schale: Zwischen Engagement und Skepsis. Eine Studie zu den Schriften von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2006, S. 71–80; Reinhard Mehring: Otto Kirchheimer und der Links-Schmittismus, in: Rüdiger Voigt (Hg.): Der Staat des Dezisionismus. Carl Schmitt in der internationalen Diskussion, Baden-Baden 2007, S. 60–82; Riccardo Bavaj: Otto Kirchheimers Parlamentarismuskritik in der Weimarer Republik. Ein Fall von ›Linksschmittianismus‹?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 55 (2007), S. 33–51. 62 Marcus Llanque: Otto Kirchheimer und die sozialistische Verfassungslehre, in: Robert von Ooyen/Frank Schale (Hg.): Kritische Verfassungspolitologie. Das Staatsverständnis von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2011, S. 69–86. 63 Otto Kirchheimer: Weimar … und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung (1930), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik, hg. von Hubertus Buchstein, Baden-Baden 2017, S. 209–250, hier S. 248. 64 Otto Kirchheimer: Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag (1929), in: ebd., S. 171–174, hier S. 173. 65 Kirchheimer, Weimar [wie Anm. 63], S. 230.

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der Wortwahl von Carl Schmitt auf den Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung nicht zu. Kirchheimer lehnt es ab, hier von einem dilatorischen Formelkompromiss zu sprechen. Da die entgegengesetztesten Kultur- und Sozialanschauungen nebeneinandergestellt wurden, »sind die Weimarer Grundrechte in ihren entscheidenden Punkten kein Kompromiss, sondern eine in der Verfassungsgeschichte bisher unbekannte, einzigartige Nebeneinanderordnung und Anerkennung der verschiedensten Wertsysteme«.66 Das Problem besteht nun darin, dass es anfangs zu einer Zusammenarbeit von »Sozialdemokratie und Bürgertum« gekommen sei, die in Form »ständig sich erneuernder Kompromisse« gemeinschaftliche Aufgaben erledigten. Das habe dann dazu geführt, den Kompromiss »fälschlicherweise als das eigentliche Charakteristikum der Demokratie in unserm Zeitalter« anzusehen,67 kritisiert Kirchheimer in der Sache Kelsen. Diese Kompromisspolitik setzt eine Art gegenseitige Gewähr gesetzgeberischen Spielraums im Parlament voraus. Mit der Präsidialregierung habe sich das Bürgertum aber wieder zu einer Klasse vereinigt und die Kooperation mit der Arbeiterschaft aufgekündigt. So ist die Grundlage der Politik des Kompromisses aufgebrochen und der Klassenkampf die einzig verbleibende und auch überzeugende Konsequenz.68 Schmitt hat Kirchheimers Argumentation für beachtlich befunden, aber abgewiesen: Der Schritt von der Infragestellung einiger Teile der Verfassung zur Bewertung, die Verfassung sei im Ganzen irrelevant geworden und an ihrer Stelle trete der offenen Klassenkampf, ging selbst Schmitt zu weit. Seine begriffliche Innovationskraft war ungebrochen, als er in den letzten Jahren der Weimarer Republik immer wieder aufs Neue versuchte, Ankerpunkte in der Verfassung zu finden, die es erlaubten, die von ihm befürchtete Zerrüttung des Staates zu verhindern. Bekannt sind seine Überlegungen, den Reichspräsidenten und mit ihm die obere Beamtenschaft zu Hütern der Verfassung zu erheben, die als »pouvoir neutre« in den parteipolitischen Konflikten die

66 Ebd., S. 230. 67 Otto Kirchheimer: Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems (1930), in: ebd., S. 349–353, hier S. 351. 68 In seiner 1941 veröffentlichten Abhandlung zum Kompromiss geht Kirchheimer nicht mehr auf die Weimarer Debatte ein, sondern stellt den Kompromiss als Technik dar, deren Gestaltwandel er vom liberalen Zeitalter der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zum Zeitalter des Faschismus untersucht: Otto Kirchheimer: Strukturwandel des politischen Kompromisses (1941), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus, hg. von Hubertus Buchstein und Henning Hochstein, Baden-Baden 2018, S. 271–300.

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letzte Entscheidung behalten.69 Zwar reservierte Schmitt weiterhin für die entpolitisierenden, nicht-staatlichen, also in Schmitts Augen parteipolitischen und sozio-ökonomischen Mächten der Gesellschaft den Ausdruck »Kompromiss«; aber in seiner Beschreibung der Tätigkeit des Hüters der Verfassung kam Schmitt auch nicht sehr weit darüber hinaus zu konstatieren, dass der Reichspräsident vermittelt und so also schlichtet. Das aber ist dann wenig anderes als die bereits erwähnte römisch-rechtliche Praxis des »compromissum« im Sinne der Schlichtung. Schließlich experimentierte Schmitt 1932 auch noch mit der Überlegung, angesichts der Blockade der Regierungsorgane doch noch im zweiten Hauptteil der Verfassung deren Kern zu erblicken. Was »Weimarer Verfassung« genannt werde, sei in Wahrheit zwei Verfassungen, zwischen welchen man sich entscheiden müsse. Er plädiert für eine Entscheidung für den zweiten Hauptteil, wenn man diesen vorher von seinen »Selbstwidersprüchen und Kompromissmängeln« befreit hat.70 Schmitt war nicht imstande, die mögliche politische Stärke des Kompromisses und jener politischen Kräfte, die bereit waren, miteinander Kompromiss zu schließen und sie auch aufrecht zu erhalten, zu erfassen, da er den Kompromiss aus der Perspektive der ideal modellierten Entscheidung wahrnahm. Dabei stand ihm wohl sein Politikverständnis im Wege. An dieser Stelle setzte die Kritik von Rudolf Smend an Schmitt an. Smend versuchte, über den Gedanken der Integration eine konstruktive Alternative anzubieten für das, was sonst so oft pejorativ Kompromiss genannt wurde.

V. Der Kompromiss als Mittel der politischen Integration: Rudolf Smend In seinem Beitrag zum Handbuch des Staatsrechts von Gerhard Anschütz und Richard Thoma zitierte Schmitt aus der Einleitung zu einer Textausgabe der Reichsverfassung von 1929: »In der Kompromisslinie dieses Programms findet sich das deutsche Volk in der Weimarer Verfassung zusammen – in der Durchführung dieses Programms soll der Staat der Weimarer Verfassung dauernd seinen Inhalt finden, sich verwirklichen«.71 Das war von Schmitt abschätzig

69 Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung (1931), unveränderter Nachdruck, Berlin 3. Aufl. 1985. 70 Carl Schmitt: Legalität und Legitimität (1932), 4. unveränderter Nachdruck, Berlin 1988, S. 98. 71 Carl Schmitt: Grundrechte und Grundpflichten, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts § 101, Bd. 2, 1932, S. 572–606, zitiert

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gemeint und als ein Beleg herangezogen für eine Einstellung zur Verfassung, die er vor allem bei Rudolf Smend am Werk sah. In Schmitts Augen war Smend bereit, den zweiten Hauptteil als »Programm künftiger Rechtsentwicklung« zu sehen, wie es Adelbert Düringer in der Nationalversammlung gesagt hatte, der den zweiten Hauptteil auch als »Niederschlag der gegenwärtigen deutschen Rechtskultur« bezeichnet hatte.72 Tatsächlich kann man in der Frage des Kompromisses Rudolf Smend als Antipoden zu Carl Schmitt begreifen. Auch wenn beide als Kontrahenten zu Hans Kelsen oder Hermann Heller gelten, lohnt es sich, die Debatte selbst genauer zu betrachten, und man wird entdecken, dass Smend auf seine Weise den Kompromiss verteidigte und dabei Schmitt scharf attackierte. Es ist eine reizvolle Aufgabe, die Integrationstheorie von Rudolf Smend daraufhin zu überprüfen, ob es mit ihr zu einer positiven Umdeutung des Kompromiss-Begriffes kam.73 Smend hat den Ausdruck vermieden. In der Sache hat er aber die Elemente der Verfassung, die von den Kritikern des Kompromiss-Denkens abschätzig als »Kompromiss« bezeichnet wurden, sehr positiv bewertet. Smend hat sich zudem sowohl von Kelsen wie von Schmitt und auch von Kirchheimer abgegrenzt und insofern eine eigene Position bezogen, als sie sich insbesondere auf den Begriff der Kultur stützt. Hier kann nicht die Integrations-Theorie Smends in aller Ausführlichkeit untersucht werden.74 Es muss ausreichen, daran zu erinnern, dass Smend mit ihrer Hilfe versuchte, eine andere, umfassendere Perspektive auf das Verfassungs- und Staatsrecht zu entwickeln, das er unter dem Begriff der Verfassungspolitik zu vereinen suchte. Noch vor Schmitt hat Smend darauf aufmerksam gemacht, dass der demokratisierte Staat der Weimarer Republik sich über das Verhältnis von Politik und Recht neu im Klaren werden müsse.75 Smend be-

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nach: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-–954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 194. Adelbert Düringer, Rede vom 11. Juli 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 13], Bd. 328, Berlin 1920, S. 1496 A; zitiert bei Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze [wie Anm. 71], S. 194. Koutnatzis, Kompromisshafte Verfassungsnormen [wie Anm. 8], S. 201–217, hat Smends Integrationslehre als Beurteilungsmaßstab für Verfassungskompromisse herangezogen, die Nähe zum Denken in Kompromissen aber nicht eigens thematisiert. Marcus Llanque: Die politische Theorie der Integration: Rudolf Smend, in: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hg.): Politische Theorien der Gegenwart, Bd. 1. Eine Einführung, Opladen 2002, S. 317–343, 2. erw. und aktualisierte Auflage, Opladen/Farmington Hills 2006, S. 313–340. Rudolf Smend: Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl, Tübingen 1923,

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hauptete nicht, von Geburt an ein gekorener Demokrat oder Republikaner zu sein, er war konservativer Anhänger des Nationalstaates, aber kein unkritischer Nationalist. Er besaß jedenfalls ein Gespür für den Verlust, den alte nationale Monarchisten empfanden, die Mühe hatten, sich im gleichen Maße mit der neuen politischen Ordnung zu identifizieren, wie sie es mit dem nachträglich glorifizierten Kaiserreich getan hatten. Smends Vorschlag bestand darin, die hierfür geeigneten Verfassungselemente an jene Stelle zu rücken, welche zuvor die Monarchie eingenommen hatte.76 Dazu zählte Smend neben den symbolischen Elementen (etwa die Reichsfarben) vor allem die Grundrechte. Statt wie die herrschende Lehre aus den »scheinbar inneren Widersprüchen in den Grundrechten« die Konsequenz zu ziehen, alles Programmatische und Bekenntnishafte aus ihnen auszuschließen, sieht er gerade darin ihren verfassungspolitischen Wert.77 Die Grundrechte sind nicht einfach nur negative Schranken des von ihnen unabhängigen Staates, sondern sie regeln die Inhalte, die es neben den organisatorischen Formen ermöglichen, dem Staat überhaupt erst eine Einheit zu geben.78 Smend zieht hierfür eine ideengeschichtliche Auslegung der Menschenrechte heran, die in den Grundrechten nicht einfach nur negative Schutzrechte des dem Staat entfremdeten Untertans sehen, sondern sie als »Verstärkungen des Staats und der Staatsgewalt« begreifen, »deren Akte, weil im Namen dieser Rechte vollzogen, darum um so wirksamer sein sollen«.79 Die Grundrechte formen durch Auslegung ein System, dass Ausdruck der Kultur ist, deren Werte sie vereinigt: »So ist der Staat der Weimarer Grundrechte der Staat eines bestimmten Kultursystems, sofern eine Anzahl grundlegender Elemente dieses Kultursystems als oberstes Gesetz des Landes normativ anerkannt sind – darunter bezeichnenderweise auch Minderheitswerte und Kompromisse«.80

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zitiert nach: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 2. Erw. Aufl. 1968, S. 68–88. Rudolf Smend: Das Recht der freien Meinungsäußerung (Mitbericht auf der Staatsrechtslehrertagung in München 1927), in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4, Berlin/Leipzig 1928, zitiert nach: ebd., S. 89–118, hier S. 92 f. Ebd., S. 90. Ebd., S. 91. Ebd., S. 93. Ebd., S. 92.

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Das heißt, auch Minderheitsrechte und kompromissartig zustande gekommene Programmsätze sind genuiner Bestandteil der Grundrechte, da auch sie Ausdruck der Kultur sind. An dieser Stelle wird nicht ganz klar, ob Smend, der auch ein protestantischer Kirchenrechtler war, an die spezifische deutsche Kultur der Parität als Form der Konflikthemmung zwischen den Konfessionen im Alten Reich erinnern will. Doch diese der deutschen politischen Kultur von jeher anhaftende Diversität hat sich in der Moderne noch einmal verstärkt. Angesichts der heutigen »geistigen und sozialen Inhomogenität des Volksganzen« ist es nicht mehr so einfach, dieses Kultursystem eindeutig zu erkennen. Man kann nicht mehr von der »überzeugenden Eindeutigkeit gerade der obersten und grundlegenden Grundrechtsprinzipien« ausgehen.81 Es ist vielmehr eine von Smend ganz offen »geisteswissenschaftlich« genannte Aufgabe, die in der Verfassung versammelten Werte als Ausdruck von Kulturwerten zu begreifen und miteinander zu vermitteln. Wenn der Prozess der Integration ein offener und andauernder ist, so ist er doch kein gleichgültiger und relativistischer. Smend hebt sich dabei von Kelsen ab. Um das klar zu stellen, greift Smend auf das damals bekannte Beispiel der einzelstaatlichen Gesetzgebung in den USA zurück und ihren Versuch, an den staatlichen Schulen den Unterricht der Darwinschen Evolutions-Lehre zu unterbinden (Anti-Evolution Statute in Tennessee 1925). Für diesen Fall reklamiert Smend das Grundrecht der Lehrfreiheit, dass die Lehrer nicht zuletzt im Kontext der übrigen Grundrechte vor solchen gesetzlichen Imperativen schützt. Smend marginalisiert diesen amerikanischen Fall nicht mit Hinweis auf die dortigen Besonderheiten; »biblizistische« Einschränkungen der Lehrfreiheit scheinen ihm in Deutschland tatsächlich weniger wahrscheinlich. Er rechnet aber mit künftigen Versuchen ihrer Einschränkung aus »marxistischer« oder »fascistischer« Richtung, eine Gefahr, die plausibel wirkt, wenn man den »anti-liberalen Zug der Zeit« berücksichtigt. Diese 1927 formulierte, 1928 publizierte Meinung Smends zeigt, dass die Grundrechte vielleicht keine eindeutige Entscheidung des Inhalts erlauben, aber sicherlich klar machen, dass es Werte gibt, vor deren Einfluss die »Schutzmauer der Verfassung« aufgestellt werden kann und auch muss.82 Smends Ablehnung eines dogmatischen Marxismus überrascht nicht, seine Ablehnung des »Fascismus« wird hier deutlich und seine Zurückweisung eines dogmatischen Biblizismus ist durchaus bemerkenswert, denn Smend war sicherlich kein Agnostiker. In dieser Hinsicht überzeugt es, wenn Smend den Relativismus von Kelsen zurückweist und betont, dass auch 81 Ebd., S. 92. 82 Ebd., S. 111.

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die Demokratie auf der »Einigkeit in sachlichen Werten« beruht.83 Nur muss diese Einigkeit nicht Resultat einer klaren Entscheidung sein und sie muss auch nicht inhaltliche Kompromiss vermeiden. Liegt in den Grundrechten eher eine Aufgabe als eine Entscheidung, so gewinnt die Interpretation einen besonderen Stellenwert. Es macht laut Smend einen erheblichen Unterschied, aus welchem Politikverständnis heraus man diese Interpretation vornimmt; hierbei kritisiert er vor allem Carl Schmitt. In Smends letztem Beitrag zur Weimarer Debatte unterscheidet er zwei Formen des liberalen Denkens, die des Bourgeois von jener des Bürgers im Sinne des »antiken Bürgers« oder des »Staatsbürgers«. Smend beklagt, dass gegenwärtig dieser Staatsbürger verloren zu gehen droht und an seine Stelle der »Anhänger der politischen Konfession« der »großen politischen Bewegungen« mit ihren »absorptiven, religionsähnlichen Ansprüchen« tritt.84 Er wirft dabei Autoren wie vor allem Carl Schmitt vor, die Weimarer Verfassung einseitig interpretiert zu haben, so dass ihre eigentliche Aufgabe, »ein Volk in die Form zu bringen, in der es handelnde Einheit wird«,85 nicht mehr gesehen wird. Schmitts Kritik am Liberalismus lässt Smend nur gelten, sofern man unter dem Bürgertum nur die Menge an Bourgeois versteht, die ausschließlich ihre partikularen Interessen verfolgen. Mit diesem Verständnis des Bürgers muss die Verfassung, muss jede Verfassung als Ansammlung von »Halbheiten« und »Kompromissen« erscheinen und ihre Bürger als »Interessentenhaufen«, die »mit mehr oder weniger Glück, wie ein bourgeoiser Rentner, ihr Schäfchen ins Trockene gebracht« haben.86 Aber betrachtet man die Verfassung aus der Perspektive des Staatsbürgers, so hat das »Nebeneinander« von Werten, unter welchen sich die Bürger vereinen und die sie in der Verfassung festlegen, nichts Unentschiedenes oder Kompromisslerisches. Der Sinn der einzelnen Grundrechte ergibt sich nicht aus der Summe ihrer Teile, sondern aus dem Sinngefüge des Ganzen. Dazu gehört beispielsweise auch, nicht künstlich den ersten von dem zweiten Hauptteil zu trennen, sondern ihre gegenseitige Verwiesenheit zu betrachten. Was die einen als ein »überfraktionelles Parteiprogramm« denunzieren (mit unverhohlener Anspielung auf Schmitts Wortwahl) oder als Gegensatz von »bürgerlichem« und »sozialistischem« Wertesystem herabwürdigen, formu-

83 Ebd., S. 93. 84 Rudolf Smend: Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (Rede zur Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1933), zitiert nach: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen [wie Anm. 75], S. 309–325, hier S. 324. 85 Ebd., S. 323. 86 Ebd., S. 323.

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liert aus Smends Sicht einen internen Zusammenhang, der sich sinnvoll aus der Praxis des Verfassungslebens erklärt. Die Koalitionsfreiheit des Arbeiters, die Eigentumsgarantie oder das Berufsbeamtentum sind nicht unzusammenhängende Partikularinteressen. Die Bedeutung der erwähnten Grundrechte liegt darin, »dass sie verschiedene Bevölkerungsteile mit Freiheiten und Sicherungen ausstattet, die für diese Gruppen als Voraussetzung wirklicher, nicht nur formaler staatsbürgerlicher Freiheit und ihrer Betätigung« bedeutsam sind.87 Die Betonung der Bedeutung der Interpretation zeigt zugleich die Problematik des Smendschen Ansatzes. Hängt das Verständnis der gegenseitigen Verwiesenheit aller Elemente der Verfassung und hängt die Bedeutung der Relevanz von Verfassungsnormen von der Interpretation ab, dann muss man aus der Logik des Smendschen Arguments auch die Interpretationskultur aus dem Kulturwerte-System, in dessen Horizont beispielsweise die Grundrechte auszulegen sind, ermitteln können. Das hat er aber nicht weiter erörtert.

VI. Resümee: Der Kompromiss in Weimar Im Ergebnis lassen sich die vorgestellten Überlegungen zum Kompromiss in der Weimarer Debatte wie folgt zusammenfassen: Kelsen hat seine Diskussion des Kompromisses auf den Aspekt der Entstehung konzentriert. Hinsichtlich des Inhalts geht er davon aus, dass es sich immer um die »mittlere« Linie handelt. Kelsen thematisiert aber selbst eine Konstellation, in welcher eine solche mittlere Linie schwer vorstellbar ist. Sie ist nur möglich zwischen Vertretern einer relativistischen Weltanschauung, nicht zwischen solchen einer absolutistischen. Wie demokratische Relativisten mit autokratischen Absolutisten umgehen sollen, hierzu sagt Kelsen nichts. Carl Schmitt sieht das Problem im Inhalt. Zwar stellt er Entscheidung und Kompromiss in einen Gegensatz, und man könnte geneigt sein, darin den Ausdruck eines existenzialistischen Dezisionismus zu sehen. Mit Blick auf den Kompromiss betont Schmitt dagegen, dass bestimmte Inhalte einer Entscheidung bedürfen, während andere durch Kompromisse entschieden werden können, am gefährlichsten aber Kompromisse über Inhalte sind, die eigentlich einer kompromisslosen Entscheidung bedürfen. Maßgeblich ist die Frage, ob der Gegenstand der Vereinbarung ein »Entweder-oder« verlangt (dann bedarf es einer klaren und eindeutigen Entscheidung) oder ob ein »Sowohl-als auch«

87 Ebd., S. 319.

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ausreicht, was in der Regel immer eine bereits vorhandene Entscheidung über die Grundsätze zur Voraussetzung hat, die dann nur im Detail weiter festgelegt werden soll. Kirchheimer geht davon aus, dass sich die Gegensätze der Akteure, die zu einer Vereinbarung gelangen, auf den Inhalt ihrer Vereinbarung übertragen. Stehen diese Akteure im Klassenkampf, dann kann es nur taktische Vereinbarungen geben, dann sind Kompromisse nur Waffenstillstands-Vereinbarungen, welche die grundsätzliche Feindseligkeit gar nicht erst in Abrede stellen, für eine bestimmte Situation aber, etwa im Gleichgewicht des Klassenkampfes, sich für beide Seiten als nützlich erweisen. Smend schließlich versucht die Gegensätze der Akteure und die Unklarheiten des Inhalts ihrer Vereinbarung noch einmal in ein anderes Licht zu stellen. Können die Akteure im weitesten Sinne die Zugehörigkeit zur selben Kultur reklamieren und versuchen nun, die verschiedenen Werte derselben miteinander zu verknüpfen, so muss die Lösung nicht in einer Entscheidung liegen, denn zu solchen Fragen sind einmalige oder endgültige Entscheidungen schwer denkbar; vielmehr bedeutet Verfassungspolitik den Auftrag der Integration. Die Entscheidung beruht eher darin, zu klären, was nicht integriert werden kann. Smend ist sich aber auch im Klaren darüber, dass nicht alle Festlegungen einer Verfassung ohne weiteres eine integrierende Wirkung haben, manche auch eine desintegrierende. Das aber hat seiner Ansicht nach damit zu tun, mit welchem Politikverständnis man der Verfassung entgegentritt. Während sich die Anhänger des Kompromisses nicht im Letzten klar darüber wurden, was Bedingungen der Möglichkeit des Kompromisses sind, machten die Kritiker des Kompromisses auf diesen Umstand nur um so schärfer aufmerksam, ohne ihrerseits die Bedingungen der Möglichkeit dessen zu klären, was an die Stelle des Kompromisses treten soll, bei Schmitt etwa die Entscheidung, bei Kirchheimer der Klassenkampf. So wurde man sich nicht einig darüber, was die Perspektive des Kompromisses an Entscheidungselementen birgt: überhaupt miteinander kooperieren zu wollen und wenigstens auszuschließen, was keinesfalls legitimer Inhalt einer solchen auf Kooperation angelegten Vereinbarung sein kann. Der Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung war gewiss ein Kompromiss, aber er umschloss nicht jeglichen Wert und jegliches politische Programm. Der Begriff »Rasse« beispielsweise findet sich in der Verfassung weder erwähnt, noch lässt sich dieser aus ihrem Text herauslesen. In der Politik reichen für bestimmte Zeiten Bindungen, die auf negativer Gemeinsamkeit beruhen: Man muss nicht immer präzise wissen, was man gemeinsam will, so lange man präzise weiß, was man vermeiden möchte. Die Kultur des Kom-

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Marcus Llanque

promisses als einer Form der Kooperation in bestimmten Institutionen wie dem Parlament verträgt nicht die Inklusion aller denkbaren Werte und Überzeugungen, beispielsweise solche nicht, die explizit jeglichem Parlamentarismus den Kampf angesagt haben. Hier dennoch in demokratischer Offenheit zur Kooperation einzuladen, wo sie von vornherein sinnlos ist, ist ein falsches Verständnis der Bedingungen der Möglichkeit des politischen Kompromisses. Das mussten freilich nicht nur die Demokraten in Weimar lernen, sondern auch etwas später die europäischen Diplomaten am Verhandlungstisch in München 1938. Die daraus gezogene Lehre war nachvollziehbar, dass nämlich mit Akteuren, die sich nicht an Institutionen wie der internationalen Kooperation gebunden fühlen, diplomatische Kompromisse nicht möglich sind, so dass nur verblieb, die Forderung der bedingungslosen Kapitulation zu verlangen. Das ist eine Entscheidung, die sich nicht gegen Kompromisse ausspricht, sondern die Bedingungen ihrer Möglichkeit realistisch sondiert hat.

Kathrin Groh

Zur Problematik des Volkswillens Einige Aspekte der Parlamentarismuskritik

I. Einleitung Die Revolution hatte das Legitimationsprinzip von Staatsgewalt ausgewechselt. An die Stelle des monarchischen Prinzips des Konstitutionalismus war die Volkssouveränität der Demokratie getreten. Staatsgewalt musste auf das Volk zurückgeführt werden können.1 Staatswille und Volkswille hingen miteinander zusammen, denn Demokratie ist auf die Herrschaft des Volkswillens gerichtet.2 Wie das Volk seine Herrschaft ausübt, organisiert die Verfassung. Der Wortlaut der Weimarer Verfassung gab über das Verhältnis von Volks- und Staatswillen einen ersten Aufschluss. Die Verfassung erklärte in Art. 1 Abs. 2 WRV, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgehe, benannte also mit dem souveränen Volk den Träger der Staatsgewalt. Art. 5 Abs. 1 WRV präzisierte, dass auf Reichsebene die Staatsgewalt von den Reichsorganen ausgeübt werde. Die Trägerschaft der Staatsgewalt und ihre Ausübung fielen also grundsätzlich auseinander. Art. 5 WRV zeigte an, dass sich die Regierungsform der Weimarer Republik grundsätzlich an der mittelbaren Demokratie orientierte. Der Verfassunggeber hatte sich bewusst gegen die in den Rätemodellen der Revolution angelegte Illusion von der Identität von Regierenden und Regierten entschieden. Nicht die Identität, sondern das Prinzip der Repräsentation bildete die Grundlage des Regierungssystems. Die juristische Kommentarliteratur zu den beiden genannten Verfassungsartikeln gibt nicht viel her.3 Wenn Demokratie aber als Organisation eines 1 2 3

Horst Dreier: Das Problem der Volksouveränität, in: Pirmin Stekeler-Weithofer/Benno Zabel (Hg.): Philosophie der Republik, Tübingen 2018, S. 37–56, hier S. 39. Christoph Gusy: Demokratische Repräsentation, in: Zeitschrift für Politik 36 (1989), S. 264–285, hier S. 268. Hermann Heller: Die Souveränität, in: Martin Drath/Christoph Müller (Hg.): Hermann Heller. Gesammelte Schriften, Bd. 2: Recht, Staat, Macht, Leiden 1971, S. 31–202, hier S. 98: »Es ist wahrlich bemerkenswert, was unsere Verfassungsjuristen zu dem Satz: ›Die Staatsgewalt geht vom Volke aus‹, nicht zu sagen wissen.«

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Kathrin Groh

menschlichen Verbandes betrachtet wurde, die auf gleichem Wahl- und Stimmrecht der Bürger beruhte, proklamierte der erste Verfassungsartikel eben diesen Grundsatz und die nachfolgenden Artikel buchstabierten die Organisation der Demokratie aus. 4 Das Parlament als repräsentatives Organ wurde dabei – so zumindest die Lippenbekenntnisse der meisten Kommentatoren der Reichsverfassung – in den Mittelpunkt der Staatswillensbildung gerückt.5 Es erhielt den Primat in der Gesetzgebung, weil es durch seine direkte Wahl dem demokratischen Souverän am nächsten stand.6 Allerdings führte die Furcht vor einem Parlamentsabsolutismus und vor allem die Furcht des Bürgertums, von der Sozialdemokratie im Parlament majorisiert und gesellschaftlich sozialisiert zu werden, zur Beimischung plebiszitärer Komponenten in das Weimarer Regierungssystem.7 Zu diesen Komponenten zählten das Volksbegehren und der Volksentscheid. Vor allem aber der Reichspräsident, der ebenfalls durch direkte Wahl aus dem »reinen Volkswillen« (Bruno Ablaß, DDP) hervorging,8 wurde vom Verfassunggeber gegen den Absolutismus des Parlaments in Stellung gebracht. Er galt als neutral. Mit dem Einbau seines Amtes und seiner Befugnisse in die Staatsorganisation positivierte der Verfassunggeber den so genannten »echten Parlamentarismus«, der sich für ihn dadurch auszeichnete, dass das Parlament einer Gegenkontrolle durch eine neutrale Instanz unterlag.9

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Richard Thoma: Das Reich als Demokratie, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 186–200, hier S. 187. Z. B. Hugo Preuß: Deutschlands republikanische Reichsverfassung, Berlin 21923, S. 78. Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs, Berlin 11921, S. 71; Hans Boldt: Parlamentarismustheorie. Bemerkungen zu ihrer Geschichte in Deutschland, in: Der Staat 19 (1980), S. 385–412, hier S. 403. Thoma, Reich [wie Anm. 4], S. 192: »Dabei entspringen auch die plebiszitären Elemente des Verfassungsbaus nicht so sehr einer Ideologie […] als dem Bedürfnis eines Korrektivs gegen Entartungen des Parlamentarismus und Erstarrungen der Parteien […].« Horst Möller: Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik. Die Frage des »besonderen« Weges zum parlamentarischen Regierungssystem, in: Manfred Funke u. a. (Hg.): Demokratie und Diktatur: Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, S. 140–157, hier S. 148 f.; Hans Liermann: Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs-Staatsrecht der Gegenwart, Berlin/Bonn 1927, S. 195: Beim Reichspräsidenten fühle (!) man, dass hinter ihm das Gemeinschaftsvolk steht. Robert Redslob: Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. Eine vergleichende Studie über die Verfassungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich, Tübingen 1918; dazu Armel Le Divellec: Robert Redslobs Theorie des Parlamentarismus. Eine einflussreiche verfassungsvergleichende »Irrlehre«?, in: Detlef Lehnert (Hg.): Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970, Berlin 2017, S. 107–138.

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II. Staatsrechtliche Parlamentarismustheorie Staatsrechtliche Parlamentarismustheorie beginnt bei der Frage, wer genau das Volk ist, fragt dann, ob es einen Willen hat oder wie es ihn bildet, und schließlich wie dieser Wille in Herrschaft bzw. den Staatswillen transformiert wird, und weswegen er für das Volk verbindlich sein soll. Oder anders formuliert: Wie muss politische Willensbildung beschaffen sein, um demokratisch genannt zu werden? Das parlamentarische Regierungssystem als repräsentative Demokratie ist dabei vor dem Ideal einer unmittelbaren Demokratie augenscheinlich rechtfertigungsbedürftig. Denn idealerweise meint die Freiheit der Demokratie die Selbstregierung des Volkes und damit die unmittelbare Entscheidung aller Betroffenen über ihre eigenen Angelegenheiten.10 Die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf staatliche Leitungsorgane schränkt die demokratische Freiheit des Volkes folglich ein. Die repräsentative Demokratie wird deshalb in der Regel pragmatisch als zweitbeste Staatsform gerechtfertigt.11 1. Wer ist das Volk und was ist sein Wille? Volk und Volk waren in Weimar nicht dasselbe. Am Volksbegriff lassen sich liberale, konservative, organische, autoritäre und insbesondere parlamentarische und antiparlamentarische Modelle zum Regierungssystem unterscheiden. Vor allem der Begriff des Volkswillens wurde inflationär gebraucht und diente auch antiparlamentarischen Denkern als Rechtfertigung für ihre Alternativmodelle zur repräsentativen Demokratie. In der liberalen politischen Theorie müssen politische Entscheidungen an den Willen des Einzelnen gekoppelt sein. Die liberale Demokratietheorie, die die gesellschaftlichen Bedingungen von Staat nicht ignorieren oder aufheben wollte, rechnete also mit dem Volk im Plural. Sie stellte das Volk als verfassungsrechtlichen Begriff unter die Verfassung und konstruierte es juristisch. Die demokratische Staatsrechtslehre Weimars verstand unter dem Volk die Summe 10 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3: Demokratie – Bundesorgane, Heidelberg 32005, S. 31–54. 11 Ulrich Scheuner: Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems. Zugleich eine Kritik der Lehre vom echten Parlamentarismus, in: Archiv des öffentliches Rechts 52 (1927), S. 209–233, hier S. 215 f.: Man müsse die im politischen Leben brauchbaren Folgerungen aus dem Grundsatz der Selbstregierung ziehen. Ebenso Hugo Preuß: Denkschrift (1919), in: ders.: Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, Hildesheim 1964 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1926), S. 368–393, hier S. 386.

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aller Staatsbürger. Als politisches Volk dezimierte sie es noch einmal auf die Summe aller Wahlbürger und schloss damit eine Vielzahl von Bürgern aus Willensbildungsprozess und Willenstransfer aus.12 Die gesellschaftliche Realität fand das Volk ferner als Vielheit und nicht als Einheit vor. Einzelinteressen und Gruppensubjektivitäten standen sich in der Gesellschaft gegenüber wie Feuer und Wasser.13 Ein einheitlicher Volkswille konnte also nur eins sein: eine Schimäre.14 Damit kamen juristische Zurechnungsfragen aufs Tapet.15 Politische Willensbildung in Gesellschaft und Staat war dabei ein umfassendes verfassungsrechtliches Thema, das sich sowohl in den grundrechtlichen als auch in den verfahrens- und organisationsrechtlichen Regelungen der Verfassung spiegelte.16 a. Politische Willensbildung des Volkes Der demokratische Souverän hat nie schon einen Willen, weder einen einheitlichen noch einen vorgefassten. Der Volkswille muss deshalb zunächst in der Gesellschaft argumentativ gebildet werden. Die liberalen Theoretiker in Weimar verankerten die politische Freiheit des Einzelnen bei der Volkswillensbildung in den kommunikativen Grundrechten der Meinungs-, Presse-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit.17 Bereits in der Gesellschaft fanden eine sukzessive Willenskonzentration und eine Interessenaggregation statt, die in der Wahl des Parlaments als Körperschaft, die das Volk repräsentierte, vorläufig endeten. 12 Gerhard Anschütz: Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, S. 24. 13 Richard Thoma: Diskussionsbeitrag, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 3 (1927), S. 58–59, hier S. 59. 14 Hans Kelsen: Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 358. 15 Hans Kelsen: Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, Tübingen 1911, S. 58: »Das ist das Wesen des Staatswillens: eine zum Zwecke der Zurechnung vollzogene normative Konstruktion«. Richard Thoma: Rezension zu Dietrich Schindler »Über die Bildung des Staatswillens in der Demokratie«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 50 (1923), S. 512–513, hier S. 513: »Der sog. ›Staatswille‹ ist […] der Wille psychischer Personen, der kraft Rechtssatzes dafür gilt, ›Wille‹ des […] Volkes zu sein«. 16 Walter Schelcher: Das parlamentarische System, in: Archiv des öffentlichen Rechts 41 (1921), S. 257–363, hier S. 290 f. 17 Kurt Häntzschel: Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Gerhard Anschütz/ Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 651–675, hier S. 652; Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 21923, S. VIII; Preuß, Reichsverfassung [wie Anm. 5], S. 60; Hermann Heller: Die Staatslehre, in: Drath/Müller (Hg.), Heller [wie Anm. 3], Bd. 3: Staatslehre als politische Wissenschaft, S. 203–412, hier S. 388.

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Der Einzelne alleine hat keine politische Macht. Deshalb benötigt er nicht bloß zur Vorformung, sondern auch zur Durchsetzung seines politischen Willens gesellschaftliche Verbände und vor allem politische Parteien als Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Staat. Die Parteien stellen das Personal im Parlament und transformieren den Wählerwillen in den Staatswillen.18 Die parlamentarische Demokratie setzt also Parteien voraus. Deren grundsätzlich positive Bewertung, wenn nicht gar offensive Verteidigung als konstitutive Komponenten von parlamentarischer Demokratie war deshalb ein Markenzeichen der demokratischen Staatsrechtslehre Weimars.19 Antiparlamentarische Staatsdenker diffamierten die Parteien dagegen als extrakonstitutionelle Erscheinungen.20 Die konservative Revolution wollte sie gleich mit »Feuer und Schwert« austilgen.21 Das vom Personal der Parteien besetzte Parlament bildet anschließend den Staatswillen. Seine Entscheidungsverfahren sind prozedural verfasste Verfahren zur Konsens- oder Mehrheitsbildung, in denen divergierende Interessen vereinheitlicht werden.22 Sie sind in den Worten der Weimarer Staatsrechtslehre dialektisch-kontradiktorisch.23 Spielt der politische Wille der Einzelnen bei der Staatswillensbildung damit überhaupt noch eine Rolle? Muss Repräsentation als Legitimationsprinzip von Staatsgewalt nicht wenigstens inhaltlich durch das Gemeinwohl aufgeladen werden? Ist der Staatswille an den Volkswillen gebunden, Repräsentation also eine rechtliche Kategorie? Die Koppelung des Staatswillens an den Volkswillen ist zunächst jedenfalls eine juristische Zurechnungsfrage und damit notwendig formal. Bei Paul Laband hieß es hierzu noch: »Nur bei der Bildung des Reichstags hat das Volk, d. h. die Summe aller einzelnen wahlberechtigten Reichs18 Hermann Heller: Europa und der Fascismus, in: Drath/Müller(Hg.), Heller 2 [wie Anm. 3], S. 463–610, hier S. 554 f. 19 Z. B. Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie (21929), Aalen 1963, S. 22; Richard Thoma: Staat (Allgemeine Staatslehre), in: Ludwig Elster/Adolf Weber/Friedrich Wieser (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7: Religions- und kirchliche Statistik –Tamassia, Jena 41926, S. 724–756, hier S. 744; Theodor Heuss: Die neue Demokratie, Berlin 1920, S. 59 und S. 64 f. 20 Heinrich Triepel: Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berlin 1928, S. 29 ff.; Edgar Tatarin-Tarnheyden: Volksstaat oder Parteienstaat?, Rostock 1931, S. 22. 21 Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen (31930), Toppenstedt 2013, S. 246. 22 Ingeborg Maus: Zur Transfomation des Volkssouveränitätsprinzips in der Weimarer Republik, in: Peter Nahamowitz/Stefan Breuer (Hg.): Politik, Verfassung, Gesellschaft. Traditionslinien und Entwicklungsperspektiven. Otwin Massing zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1995, S. 107–126. 23 Scheuner, Gestaltungen [wie Anm. 11], S. 218 f.

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angehörigen, eine rechtliche Mitwirkung am staatlichen Leben des Reichs«.24 Danach koppelt sich der Staats- vom Volkswillen für den Juristen anscheinend ab. b. Die Wahl: Einsetzung von Führungseliten oder Interessenrepräsentation? Der Volkswille manifestierte sich in der konstitutionellen Theorie also hauptsächlich in der Wahl. Das Wahlvolk handelte hier ausschließlich als Kreationsorgan. Einige liberale, vor allem aber die konservativen Weimarer Staatsrechtslehrer verengten ihren Blick auf diesen Aspekt der Wahl, nämlich auf die Legitimierung von Funktionseliten. Nach der Wahl trat das Volk ohne Willen dann nur noch als Objekt einer obrigkeitsstaatlichen, wenn auch guten Herrschaft auf den Plan.25 Zum größten Teil verbanden diese Theoretiker ihre Elitentheorien mit der Forderung nach Einführung des Mehrheitswahlrechts, damit das Parlament wieder von Honoratioren und damit echten Vertrauensmännern des Volkes besetzt werde.26 In Weimar war das Proportionalwahlrecht dagegen verfassungsrechtlich verankert (Art. 22 Abs. 1 WRV ). In der Verhältniswahl entscheidet das Wahlvolk zwar auch über das politische Personal. Da in der starren Listenwahl Weimars aber vor allem Parteien und ihre Programme gewählt wurden, stellte die Wahl eine sachliche Richtungswahl dar. Sie war Ausdruck und Gewichtung der politischen Präferenzen in der Gesellschaft. Die Verfassung überbetonte an dieser Stelle die Aufgabe des Parlaments, die Gesellschaft gerecht zu repräsentieren. Ohne nennenswerte Sperrklauseln gelangte regelmäßig eine Vielzahl an Parteien und Interessen, die sie vertraten, in den Reichstag. Gerade die Integrationsfunktion dieser Parlamentsbesetzung bei der Staatswillensbildung stellten demokratische Staatsrechtslehrer aber heraus,27 auch solche, die sich sonst der Affinität zur output-lastigen Elitentheorie verdächtigt gemacht hätten.28 Im Parlament war die »Existenz von fünf Fraktionen güns-

24 Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Aalen 1964 (Neudruck der 5. Aufl. von 1911), S. 297. 25 Richard Thoma: Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Melchior Palyi (Hg.): Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München/Leipzig 1923, S. 37–64, hier S. 62. 26 Gerhard Leibholz: Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 7 (1932), S. 159–188, hier S. 167 ff. 27 Hans Kelsen: Der Staat als Integration, Wien 1930, S. 53 f.; ders., Wesen [wie Anm. 19), S. 13. 28 So zu Thoma vgl. Christoph Schönberger: Elitenherrschaft für den sozialen Ausgleich: Richard Thomas »realistische« Demokratietheorie im Kontext der Weimarer Diskussion,

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tiger als die von drei Fraktionen und die einer noch größeren Zahl günstiger als die von fünf, solange nur ein Übermaß an Zersplitterung vermieden wird und es sich um regierungsfähige und grundsätzlich regierungswillige Parteien« handelte.29 Das Parlament als Spiegelbild aller relevanten gesellschaftlichen Interessen fungierte in diesen Theorien als Stätte der Kompromissbildung.30 Die Abgeordneten repräsentierten das Volk also auch dort nicht in seiner imaginären Einheit, sondern in seiner realen Vielschichtigkeit. Ihre Aufgabe war es also nicht, als Vertreter des ganzen Volkes in Distanz zu sich selbst und ihren Parteien zu gehen, um, frei von Eigennutz und Interessen, einen – an welchen Maßstäben auch immer gemessenen – höheren Gemeinwillen zu bilden. Der Staatswille stand vielmehr erst als Ergebnis von Verhandlungen am Ende des parlamentarischen Verfahrens fest, wurde dem Volk formal als sein Wille zugerechnet und sollte deshalb möglichst viele Interessen des Volkes in sich vereinen.31 c. Zwischen den Wahlen: Inhaltliche Repräsentation und öffentliche Meinung Dem Formalismus der repräsentativen Demokratie galt die Feindseligkeit eines Großteils der Weimarer Theoretiker. Die Frage, inwieweit neben der formalen Theorie der Zurechnung des Staats- auf den Volkswillen eine inhaltliche Repräsentation des Volkswillens durch die politischen Leitungsorgane des Volkes erforderlich ist, führte zu den unterschiedlichsten Antworten, mit denen in der Regel die Notwendigkeit eines übergeordneten Gemeinwillens – sei es als volonté générale, wahrer Volkswille, Volksgeist oder sei es als Staatsnotwendigkeit – in das parlamentarische System hineingelesen wurde. In Weimar diente die Theorie der inhaltlichen Repräsentation daneben aber vor allem dazu, die vermeintliche Mittelmäßigkeit der deutschen Politik und der deutschen Politiker anzuprangern und zu bekämpfen. Die Volksvertretung,

in: Christoph Gusy (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, BadenBaden 2000, S. 156–190, hier S. 189. 29 Richard Thoma: Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, in: Anschütz/Thoma, Handbuch 1 [wie Anm. 4], S. 503–511, hier S. 510. 30 Richard Thoma: Sinn und Gestaltung des deutschen Parlamentarismus, in: Bernhard Harms (Hg.): Recht und Staat im Neuen Deutschland, Bd. 1, Berlin 1929, S. 98–126, hier: S. 105: »Und ist nicht Kompromiss das Wesen aller Politik, die nicht mit dem Schwert gemacht wird«? Dazu Kurt Kluxen: Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, Frankfurt a. M. 1983, S. 181. 31 Umfassend Kurt Lenk: Wie demokratisch ist der Parlamentarismus?, Stuttgart 21974, S. 12 ff.

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die mit ihrem Proportionalwahlrecht auf der Idee der gerechten Repräsentation beruhte, wurde hier mit einer ganz anderen Repräsentationsidee konfrontiert. Der ideale Repräsentant der normativ aufgeladenen Repräsentationstheorie vertrat das Volk nicht so wie es war, sondern so wie es sein sollte. Man erwartete von den Abgeordneten keine technisch gute Politik, sondern hatte hohe Moralvorstellungen an die Politiker, die diese Moralvorstellungen nur enttäuschen konnten und deshalb als korrupt galten. Und so konnte Carl Schmitt beobachten, dass die Politik in der Praxis aufgehört hatte, Angelegenheit einer Geisteselite zu sein.32 Sie war zu dem »ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden«.33 Im Parlament saß allenfalls die zweite Garnitur. Der Anteil der hoch geschätzten Berufe im Parlament nahm ab. Stattdessen zogen mit den verhassten Partei- und Verbandsfunktionären reine Interessenvertreter dort ein.34 Sollte das Parlament aber sowieso nur als Hilfsmittel zur inhaltlichen Erkenntnis des wahren Volkswillens dienen, dann erwies es sich dazu als höchst unfähig. Denn es repräsentierte nicht. Repräsentieren ließen sich nämlich nur höhere Werte und nicht niedere private oder ökonomische Interessen der Gesellschaft.35 Im Parlament der Republik saßen dagegen bloß korrupte Nullen als Schergen ihrer Parteien, die ihre eigenen und die Sonderinteressen ihrer Parteien durchzudrücken versuchten und eines nicht konnten: das Gemeinwohl erkennen.36 Mit dieser normativen Repräsentationstheorie wollte vor allem Schmitt dem parlamentarischen Interventionsstaat, der die bürgerliche in eine sozialdemokratische Gesellschaft transformieren sollte, die Legitimationsgrundlage entziehen. Ein Beharren auf der Theorie der inhaltlichen Repräsentation taugte deshalb als 32 So auch Gerhard Leibholz: Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentationssystems. Ein Beitrag zur allgemeinen Staats- und Verfassungslehre, Berlin/Leipzig 1929, S. 32, S. 52 f. und S. 73. 33 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München/ Leipzig 21926, S. 8. 34 So Friedrich Lent: Parlamentarismus und Führertum. Die Erneuerung des Führertums in der Gegenwart, Langensalza 1929, S. 6; Hans Apel: Der deutsche Parlamentarismus. Unreflektierte Bejahung der Demokratie?, Reinbek b. Hamburg 1968, S. 33; kritisch dazu Albrecht Mendelssohn Bartholdy: Der Volkswille. Grundzüge einer Verfassung, München 1919, S. 7: Man streite dem gemeinen Mann das Recht zum Urteil ab, weil man glaube, das führe nur abwärts. 35 Carl Schmitt: Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 210; dazu Hanns Kurz: Volkssouveränität und Volksrepräsentation, Köln 1965, S. 281 ff. 36 Tatsächlich besaßen die Interessenparteien ein Erpressungspotential. Sie unterstützten die Regierung nur, wenn im Gegenzug ihre Sonderinteressen bedient wurden, vgl. Apel, Parlamentarismus [wie Anm. 34], S. 31.

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Rechtfertigung für bürgerliche Elitentheorien, Expertokratien und korporative Alternativ- und Ergänzungsmodelle zum Parlament. Die Notwendigkeit einer inhaltlichen Repräsentation des Volkswillens verschob das politische Gewicht zudem auf die Seite der Exekutive.37 Anders ausgedrückt leistete sie der Ersetzung parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen durch überparteiliche, vernünftige, qualitativ hochwertige, sachgemäße, konfliktfreie und damit unpolitische oder gewichtete Entscheidungen Vorschub. Das Parlament mit seinen unfruchtbaren Diskussionen sollte hier durch eine autoritäre Staatsführung abgelöst werden, die ungegliederte Masse und der gesellschaftliche Pluralismus in eine gegliederte Gesellschaftsordnung überführt werden.38 In der demokratischen Staatsrechtslehre Weimars mit ihren formalen Zurechnungstheorien wurde anstelle einer inhaltlichen Repräsentation im Parlament eher das Verhältnis von Volks- und Staatswillen zwischen den Wahlen virulent. Hier kam statt eines feststehenden Gemeinwohls, das alle Betroffenen als solches anerkennen mussten, die öffentliche Meinung als Resonanzboden im Sinne von Responsiveness oder Bedürfnisorientierung und ihre partizipative Funktion39 ins Spiel. Während ein Teil der bürgerlichen Theoretiker forderte, dass die Politiker nach der – selbstverständlich bürgerlich definierten – öffentlichen Meinung regieren sollten, in der sich der wahre Volkswille verkörperte, 40 stellten parlamentarismusfreundliche Theoretiker die Echo- und Kontrollfunktion der öffentlichen Meinung heraus: Der Volkswille (im Medium der öffentlichen Meinung) beherrsche, so Richard Thoma, die Demokratie nämlich nur insofern, als keine politische Entscheidung gegen ihn bzw. die Wählermassen aufrecht erhalten und nichts eingeführt werden könne, von dem nicht wenigstens eine Mehrheit überzeugt werden könne. 41

37 Richard Schmidt: Der Volkswille als realer Faktor des Verfassungslebens und Daniel Defoe, Leipzig 1924, S. 5 ff.; Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Ein Grundriß der Politik, Charlottenburg 21920, S. 29 und S. 40 ff.; Ferdinand Tönnies: Demokratie und Parlamentarismus, in: ders.: Soziologische Studien und Kritiken, Bd. 3, Jena 1929, S. 40–84, hier S. 52. 38 Hermann Hefele: Demokratie und Liberalismus, in: Hochland 22 (1924/25), Bd. 1, S. 34–43, hier S. 38 ff.; dazu Lenk, Parlamentarismus [wie Anm. 31], S. 45 ff. 39 Heller, Staatslehre [wie Anm. 17], S. 285 f.; Hugo Preuß: Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1928, S. 52. 40 Ernst Faenkel: Parlament und öffentliche Meinung, in: Wilhelm Berges/Carl Hinrichs (Hg.): Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld anläßlich seines 65. Geburtstages, Berlin 1957, S. 163–186, hier S. 170 ff. 41 Thoma, Staat [wie Anm. 19], S. 744.

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2. Im Parlament: Erkenntnis, Darstellen und Herstellen des Volkswillens Die parlamentarismusaffine Staatsrechtslehre Weimars traf insbesondere auf autoritäre, organische oder auch völkische Theorien, die am Volksbegriff ansetzten, um die rationalisierenden Verfahren der demokratischen Volks- und Staatswillensbildung zu diskreditieren. Hier entspann sich eine demokratietheoretische Grundlagendebatte. Die Beobachtung der parlamentarischen Realität machte allerdings kaum einen Staatsrechtslehrer glücklich. Spätestens seit 1923/24 stieß das parlamentarische Regierungssystem Weimars auch in bürgerlichen und liberalen Kreisen als undeutsches Regierungssystem42 auf überwiegende Ablehnung43 und verlockte zu rückwärtsgewandten Utopien. Während nämlich im Konstitutionalismus das Parlament Politik allenfalls hatte verhindern, keinesfalls aber aktive Politik hatte machen können, schien es nun, als habe man den Staat den Parteien im Parlament ausgeliefert. Der Konstitutionalismus hatte die Gesellschaft in ihrem Gegenüber zum Staat festgefroren. Nun hatte die Gesellschaft in ihrer bunten Heterogenität den Staat erobert. Staat und Gesellschaft verschränkten sich. Das Parlament, das den Staatswillen zu bilden hatte, spiegelte die Zerrissenheit, den Egoismus und die Interessenvielfalt der Gesellschaft wider. Einen einheitlichen, starken oder vernünftigen Staatswillen schien es nicht mehr bilden zu können. 44 a. Alternativen zum Parlament: Führer und Gefolgschaft Die Anti-Parlamentaristen demontierten deshalb die parlamentarische Demokratie in mehreren Schritten. Ihr Ausgangspunkt war ein Volksbegriff, der ein 42 Hugo Preuß auf der 25. Sitzung am 8. April 1919: »Man beobachtet nämlich, wie wesensfremd den Anschauungen unseres Volkes auch in seinen fortschrittlichsten politischen Richtungen eigentlich das Parlamentarische System erscheint«; Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336: Stenographische Berichte, Berlin 1920, S. 275. Allgemein Horst Möller: Zwei Wege des deutschen Parlamentarismus: Preußen und Reich in der Weimarer Republik, in: Adolf M. Birke/ Kurt Kluxen (Hg.): Deutscher und Britischer Parlamentarismus, München u. a. 1985, S. 135–148. 43 Z. B. Schmidt, Volkswille [wie Anm. 37], S. 4: Das Parlament begünstige alle krankhaften Erscheinungen wie Pfründenhunger, Gratifikationenjagd, Klüngelwirtschaft, die demagogische Komödie geheuchelter Parteienkämpfe. 44 Trotzdem schrieb Thoma noch 1932, dass er Gewaltkuren am bestehenden System nicht befürworte, weil das Parlament ungeheure Aufgaben bewältigt und erfolgreiche Arbeit geleistet habe, vgl. Richard Thoma: Grundbegriffe und Grundsätze, in: Anschütz/Thoma (Hg.), Handbuch 2 [wie Anm. 17], S. 108–159, hier S. 137; ders., Sinn [wie Anm. 30], S. 111.

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präexistentes und homogenes Volk mit einem imaginären und einheitlichen Willen ins Zentrum des politischen Systems stellte. Der liberal übersteigerte Individualismus sollte überwunden werden. Die Fragmentierung der Gesellschaft und die Sehnsucht nach Einheit gingen in Weimar Hand in Hand. Über die Substanz des eingebildeten Einheitsvolkes bestand jedoch keine Einigkeit. Der Volksbegriff adressierte als Volksgemeinschaft zum Beispiel das Einheitserlebnis aus dem August 1914, 45 als organischer Begriff adressierte er Volkskörper und Volksgeist, als geistiger oder emotionaler Begriff adressierte er das dem Gesellschaftsvolk überlegene souveräne Gemeinschaftsvolk, 46 als politischer Begriff adressierte er eine substanzielle Homogenität des Volkes. 47 Egal unter welchem Etikett: Der verklärte Volksbegriff sollte die Fragmentierung der Gesellschaft verschleiern, ein Verhältnis stabilisierter Harmonie zwischen Einzelnem und Staat suggerieren und die Illusion überparteilicher Konfliktregelungsmöglichkeiten aufrecht erhalten. 48 Das war Identitätsdenken, das die Verfassung gerade nicht zu ihrer Grundlage gemacht hatte, kein Integrationsdenken. War ein einheitlicher Wille nämlich latent vorhanden, z. B. in Form des Volksgeistes49 oder der volonté générale, wurde jede rechtlich organisierte Willensbildung überflüssig, weil der Volkswille zu einem erkenntnistheoretischen Problem avancierte. Die politischen Organe des Volkes stellten dann keinen Willen her, sondern sie bildeten den Volkswillen lediglich ab. An die Stelle der Bildung eines politischen Willens trat seine Erkenntnis. Das Parlament mit seiner Vielstimmigkeit und seinen mehrheitsbildenden Verfahren wurde dann

45 Umfassend Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. »Die Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, S. 65 ff. 46 Liermann, Volk [wie Anm. 8]. 47 Schmitt, Verfassungslehre [wie Anm. 35], S. 226. Kritisch Heller, Staatslehre [wie Anm. 17], S. 264 ff.: Die demoliberale Idee einer Volksvertretung als eines Spiegels des Volkswillens lebe von der Fiktion eines gegensatzlosen Volkswillens. 48 Stefan Grüner: Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: Horst Möller/Manfred Kittel (Hg): Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002, S. 219–250, hier S. 226 ff. Kritisch Hugo Preuß: Es sei eine Illusion, die Parteiengegensätze durch eine Volksgemeinschaft aufheben zu wollen. Dabei käme keine Lebenskraft, sondern bloß schaler Einheitsbrei heraus, zitiert nach Jörn Retterath: Was ist das Volk? Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924, München 2016, S. 291 f. 49 Erich Kaufmann: Zur Problematik des Volkswillens, Berlin 1931, S. 7: »Der Begriff des Volkswillens setzt den des Volksgeistes voraus.«

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als nur eines von mehreren möglichen Willensorganen nicht mehr benötigt. Die Vielstimmigkeit des Parlaments verfälschte sogar den Volkswillen.50 Ein einheitlicher Volks- und Staatswille war besser in einer Person aufgehoben, die ihn in seiner Einheitlichkeit repräsentierte.51 Der organische Volkswille sollte von einer starken, plebiszitär legitimierten Führungsperson erkannt und umgesetzt werden, die gleichzeitig auch die Staatseinheit symbolisieren konnte. Als Alternativen zum Parlament boten Praktiker und Juristen an: den Monarchen, die Beamten, das Heer – und damit den zurückgesehnten Staat des Konstitutionalismus – vor allem aber den Reichspräsidenten52 oder eine andere starke Führungspersönlichkeit. Die neue Ordnung sollte also vor allem auf dem Konzept von Führer und vertrauensvoller Gefolgschaft beruhen. Damit stand das Parlament auch hier im Abseits, weil es nicht einmal zur Auslese von Führungspersönlichkeiten taugte. Die Regelhaftigkeit und der Normkonformismus einer parlamentarisch verfassten Demokratie drängten sich als Synonyme für die Mittelmäßigkeit der deutschen Politik ja geradezu auf. Das irrationale Charisma eines Führers ließ sich nämlich nicht in rationalen Verfahren einfangen. Es fragt sich allerdings, wie in diesen Theorien ein einzelner Repräsentant das Klein-Klein der immer komplexer und länger werdenden Gesetze im einheitlichen Volkswillen finden sollte.53 Der einfache Tatbestand des Vertrauens des Volkes in seine mit ihm angeblich54 identischen Führer musste die komplexe Organisation der Demokratie mit ihren juristischen Zurechnungsregeln ersetzen. Staatswille, Organwille und Volkswille wurden logisch in eins ge-

50 Schmitt, Verfassungslehre [wie Anm. 35], S. 83 und S. 242 ff. 51 Alexander Graf zu Dohna: Die Weimarer Reichsverfassung und die Krisis des Parlamentarismus, in: Willy Hellpach/Alexander Graf zu Dohna (Hg.): Die Krisis des deutschen Parlamentarismus. Vorträge auf der Tagung deutscher Hochschullehrer in Weimar 1927, Karlsruhe 1927, S. 21–35, hier S. 21: Die Diktatur des starken Mannes stelle bekanntlich eine durchaus demokratische Figur dar. 52 Carl Schmitt: Hüter der Verfassung, Berlin 21969 (Nachdruck der 1. Aufl. von 1931), S. 158 f.: Die Verfassung gebe dem Reichspräsidenten die Möglichkeit, sich unmittelbar mit dem politischen Gesamtwillen des deutschen Volkes zu verbinden. 53 Kelsen, Hauptprobleme [wie Anm. 17], S. 699; Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur?, in: Drath/Müller (Hg.), Heller, [wie Anm. 3], S. 443–462, hier S. 455: Jede Diktatur baue auf der Lüge auf, »daß die Willensentscheidungen des ganzen Volkes in allen irgendwie wichtigen Fällen übereinstimmen mit dem Willen eines einzigen Menschen«. 54 Oliver Lepsius: Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: Gusy, Demokratisches Denken [wie Anm. 28], S. 366–414, hier S. 378: Wie könne begriffslogisch der große Kreis der Repräsentierten mit einem Repräsentanten identisch sein?

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setzt und mussten alle miteinander von vornherein einheitlich sein. Die für diese Systemvariante zwingenden Voraussetzungen benannte Carl Schmitt: »Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen«.55 Die Widerrede Hans Kelsens blieb in der parlamentarischen Logik, verfing aber nicht: Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit. Der Begriff der Mehrheit setzt die Existenz einer Minderheit begriffslogisch voraus.56 b. Zur integrativen Wirkung von Vielstimmigkeit Die demokratische Staatsrechtslehre überfrachtete das Parlament also weder mit dem Anspruch, dass es eine für alle geltende politische Wahrheit herausdiskutieren oder den wahren Willen des Volkes erkennen müsse, noch hielt sie es für überflüssig oder seine Verfahren für überholt und undeutsch. Stattdessen würdigte sie die zum Teil offenen, zum Teil auch arkanen Verfahren der Willenskonzentration in und zwischen den Parteien und Fraktionen positiv. Staatswillensbildung fand im Vorfeld des Parlaments und auch außerhalb des Plenums statt. Sie führte über außerparlamentarische Gremien und über runde Tische in die Fraktionshinterzimmer. Sie verlangte Fraktionsdisziplin in den Ausschüssen und im Parlament. Es wurde hart um die Durchsetzung von Interessen verhandelt und eben nicht langwierig mit besseren Argumenten überzeugt.57 So jedenfalls konnte effizient unter ständigem Zeitdruck und auf unsicherer Tatsachengrundlage vernünftig entschieden werden. Das Parlament entwickelte sich vom Rede- zum Arbeitsparlament. Seine Grundlage war das fair play mit dem innenpolitischen Gegner. Sein Mittel die Konfliktbewältigung durch institutionelle Arrangements und Verfahren, die Gegensätze verdauen konnten.58 Etwas idealistischer ließ sich dieses Procedere auch als notwendig integratives Vorspiel betrachten, um letztlich eine mittlere Linie zwischen Koalitionspartnern, politischen Mehrheiten und duldenden Minderheiten zu erzielen. Der politische Kompromiss des Parla55 Schmitt, Parlamentarismus [wie Anm. 33], S. 14. 56 Kelsen, Wesen [wie Anm. 19], S. 57. 57 Richard Thoma: Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925), S. 212–231, hier S. 214; ders.: Die Reform des Reichstags, in der »Germania«, der Zeitung der Zentrumspartei, 1925: »Man glaube doch ja nicht, daß im Reichstag keine schöpferische Diskussion mehr geleistet werde … Nur aus dem Plenum ist sie verschwunden«; zitiert nach Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010, S. 367. 58 Thoma, Ideologie [wie Anm. 57], S. 214; Heller, Staatslehre [wie Anm. 17], S. 356.

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ments in Form der Mehrheitsentscheidung setzte sich zusammen aus Mehrheits- und Minderheitsinteressen, die sich auf dem Weg zur politischen Entscheidung gegenseitig beeinflusst und abgeschliffen hatten.59 Nur so konnte der Majorz Verbindlichkeit auch für die Opposition beanspruchen. Wenn schon nicht alle über sich selbst bestimmen konnten, dann doch zumindest eine valable Mehrheit. Das System ließ der Minderheit die Chance, beim nächsten Mal zur Mehrheit zu werden. Die Stimmen wurden gezählt und nicht gewichtet. Der Mehrheitswille wurde juristisch als Wille des Parlaments, der Organwille des Parlaments als allgemein bindender Staatswille und dieser wiederum als Volkswille fingiert. Ein über dem Interesse der parlamentarischen Majorität stehendes Gesamtinteresse gab es nicht.60 Grundlage der Zurechnung des Staats- auf den Volkswillen war damit weder die besondere Qualität der Repräsentierenden noch eine besondere Qualität der Entscheidungen selbst.61 Die demokratische Staatsrechtslehre ging mit der zutreffenden Beobachtung, dass im Plenum des Parlaments keine ergebnisoffenen Diskussionen mehr stattfanden, konstruktiv um. Tatsächlich stellte das Plenum die politische Entscheidung nicht mehr her. Nach Carl Schmitt hatte es sich deshalb überlebt, weil es nicht mehr mit dem altvorderen, liberalen Ideal zusammenpasste, nach dem ein vernünftiger Gemeinwillen durch deliberatives Parlamentieren gebildet wurde.62 Die demokratische Staatsrechtslehre unterschied dagegen zwischen der Herstellung und der Darstellung von politischen Entscheidungen. Gesellschaftliche Konfliktlinien bildeten sich im Parlament ab. Ihrer Sichtbarkeit wurde eine befriedende Funktion zugeschrieben: Die öffentliche Kritik konnte sich an den Parlamentsdebatten abreagieren. Wo antiparlamentarische Köpfe die Plenardebatten des Parlaments als Reden aus dem Fenster heraus 59 Die Behauptung, die Abgeordneten verträten allein Partei- und Eigeninteressen, und die gleichzeitige Klage über lendenlahme Kompromisse widersprachen einander. So auch Retterath, Volk [wie Anm. 48], S. 378 f. 60 Hans Kelsen: Das Problem des Parlamentarismus (1926), Darmstadt 1968, S. 31 f. 61 Kelsen, Staatslehre [wie Anm. 53], S. 40: Ein Gesetz gelte, weil es formell gültig erlassen wurde, nicht dagegen, weil es die Volksüberzeugung oder den Volksgeist auspreche; ebd., S. 166: »Das von der Mehrheit des Parlaments beschlossene […] Gesetz […] ist Staatswille auch dann, wenn es noch so sehr gegen den sogenannten ›Volkswillen‹ verstößt«. Kritisch Schelcher, System [wie Anm. 16], S. 293: Oft genug stehe hinter der Minderheit im Parlament die Mehrheit des Volkes. Das entziehe der Rechtsfiktion den Boden. 62 Schmitt, Parlamentarismus [wie Anm. 33], S. 41 ff.; ausführlich dazu Andreas Wirthensohn: Dem »ewigen Gespräch« ein Ende setzen: Parlamentarismuskritik am Beispiel von Carl Schmitt und Hans Herbert von Arnim – nur eine Polemik?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), S. 500–534, hier S. 503 ff.

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diffamierten, sahen demokratische Staatsrechtslehrer die integrative Wirkung dieses Schauspiels für das responsive Zusammenwirken von Parlament und öffentlicher Meinung.63 3. Fazit Realistische Theoretiker der parlamentarischen Demokratie in Weimar nahmen den Begriff des Volks-, Gemein-, oder Gesamtwillens insgesamt eher selten in den Mund und wenn, dann nannten sie ihn einen sogenannten Volkswillen, betrachteten ihn als Schimäre und nackte Fiktion oder sie setzten ihn in Gänsefüßchen. Denn bei ihnen herrschte nicht der »Volkswille«, sondern der Organwille des Parlaments.64 Den Organwillen des Parlaments fingierten sie juristisch als Staatswillen und diesen Staatswillen rechneten sie dem Volk als eigenen Willen zu.65 Das Volk war bei ihnen keine Willens-, sondern eine Zurechnungseinheit. Es war nicht verpflichtet, der Parlamentsentscheidung inhaltlich zuzustimmen. Auch im demokratischen Staat als organisierter Entscheidungs- und Wirkungseinheit galt das Gesetz der Herrschaft der kleinen Zahl. Das Volk konnte über sich selbst nur herrschen, indem es Leitungsorgane einsetzte und diese Organe mit einem gewissen Maß an Entscheidungsfreiheit ausstaffierte.66

63 Kelsen, Wesen [wie Anm. 19], S. 64 f.; Thoma, Ideologie [wie Anm. 57], S. 214. 64 Thoma, Staat [wie Anm. 19], S. 744: »Im kleinen und einzelnen herrscht nicht der ›Volkswille‹, sondern in der oberen Herrschaftsstufe der Gruppenwille der Regierenden […]«. Hans Julius Wolff: Organschaft und juristische Person, Untersuchungen zur Rechtstheorie und zum öffentlichen Recht, Bd. 1: Juristische Person und Staatsperson (Kritik, Theorie und Konstruktion), Aalen 1968 (1. Aufl. 1933), S. 265: »Ob nämlich durch die Tat irgendjemandes der Volkswille repräsentiert wird, kann man aus nichts anderem entscheiden als aus der Kenntnis jenes Volkswillens selbst, die voraussetzungsgemäß nur durch seine Repräsentanten möglich ist.« 65 Ob dabei eine rechtliche oder politische Zurechnung stattfand, war strittig. Vgl. einerseits Kelsen, Staatslehre [wie Anm. 53], S. 325; ders., Wesen [wie Anm. 19], S. 10 f.: »nackte Fiktion«; andererseits Heller: Souveränität, in: Drath/Müller (Hg.), Heller [wie Anm. 3], S. 99: juristisch gebundene magistratische Repräsentation. 66 Dazu Dian Schefold: Gesellschaftliche und staatliche Demokratietheorie. Bemerkungen zu Hermann Heller, in: Gusy, Demokratisches Denken [wie Anm. 28], S. 256–285, hier S. 278 ff.

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III. Instrumente des unmittelbaren Volkswillens Dass die unmittelbare Demokratie als sekundäres Verfahren neben der Staatswillensbildung im Parlament als Zielwert erstrebenswert blieb, stand der Bejahung der repräsentativen Demokratie nicht entgegen. Um einen absorptiven Parlamentsabsolutismus zu verhindern und die Rückkoppelung des Parlaments an den Wählerwillen zu erhöhen, bedarf es der Korrigierbarkeit von Entscheidungen der Leitungsgewalt, sei es durch Abberufung des Personals oder durch eigene Sachentscheidungen des Volkes.67 Die Weimarer Reichsverfassung enthielt an mehreren Stellen, vor allem aber in Art. 73 WRV eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Durch Volksbegehren und Volksentscheid konnte das Volk bzw. die Mehrheit der wahlberechtigten Bürger hier unmittelbar als Gesetzgeber auftreten. Volks- bzw. Wähler- und Staatswillen fielen zusammen. Die Einführung der Instrumente der direkten Demokratie in Weimar war aber durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet.68 Einzig der Appel au Peuple, mit dem der Reichspräsident das Volk nach Art. 73 Abs. 1 WRV als Schiedsrichter gegen unpopuläre Parlamentsentscheidungen anrufen konnte, fand zunächst größere Zustimmung. Die Schiedsrichterrolle des Volkes kam all denjenigen Vorstellungen von Demokratie entgegen, die im (wahren) Willen des Volkes ein Gegengewicht gegen den Absolutismus des Parlaments suchten. Die Volksbefragung durch das Staatsoberhaupt sollte die Abweichungen zwischen Volks- und Parlamentswillen möglichst gering halten.69 Von Art. 73 Abs. 1 WRV wurde jedoch kein Gebrauch gemacht. Für die identitären Demokratievorstellungen, die in den Kategorien von Führern und Gefolgschaften dachten, entpuppten sich auch die Instrumente der direkten Demokratie in der Verfassung als defizitär. Die Volksgesetzgebung nach der Weimarer Verfassung adressierte das Volk nämlich nicht als verfassunggebende Gewalt, sondern als verfasste Gewalt. Das Volk stand auch in

67 Böckenförde, Willensbildung [wie Anm. 10], S. 37 f. 68 Hugo Preuß auf der 28. Sitzung am 11. April 1919: »Sie machen deren Wirkung illusorisch, wenn sie über dieses parlamentarische System das Damoklesschwert der reinen Demokratie hängen.« Verhandlungen Nationalversammlung [wie Anm. 42], S. 309. 69 Preuß, Reich [wie Anm. 39], S. 266; Ernst Fraenkel: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt a. M. 1990, S. 153–203, hier S. 197; Dieter Grosser: Die Diskussion um die parlamentarische Demokratie in Deutschland vor 1918, in: Politische Bildung 1 (1967), S. 3–18, hier S. 16.

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der Volksgesetzgebung nicht höher als das Parlament.70 Seine Entscheidungen konnten gegebenfalls durch den Reichstag aufgehoben werden. Die Wahlbürger mussten in den vorgegebenen rechtlichen Formen stimmen und sie mussten heimlich über eine Sachfrage abstimmen. In den identitären Demokratietheorien existierte das Volk aber nur in der »Sphäre der Publizität«.71 Damit fand auch in den Formen der direkten Demokratie der Reichsverfassung eine organisierte Verfälschung des wahren Volkswillens statt. Theoretiker wie Carl Schmitt fanden den höchsten Ausdruck demokratischer Entscheidung und demokratischer Identität dagegen in der Akklamation, also dem unmittelbaren Hervorbrechen des Willens des öffentlich versammelten Volkes.72 Dass das Volk seinen Führern öffentlich zujubelt, hat allerdings nichts mit eigenen Sachentscheidungen des Volkes im Rahmen einer geltenden Verfassungsordnung zu tun. In der liberalen Staatsrechtslehre sollten sich die Instrumente der unmittelbaren Demokratie dagegen nicht als Gegengewalt zum Parlament mobilisieren lassen, um das Parlament letztlich auf die Funktion zu reduzieren, die öffentliche Meinung stets akribisch zu exekutieren. Allein die Drohung mit der Möglichkeit sollte ausreichen, um responsive Politik zu garantieren. Praktiker und Staatsrechtler rieten deshalb insgesamt zu einem vorsichtigen Umgang mit der direkten Demokratie. Nach der demokratischen Staatsrechtslehre sollten im normalen Gang der Staatsgeschäfte die politischen Entscheidungen einer kleinen Zahl von Abgeordneten in Parlament und Regierung anvertraut bleiben und nicht der Masse der ungeschulten Aktivbürgerschaft überantwortet werden. Ihre Rechtfertigung leiteten Volksbegehren und Volksentscheid aus ihrer Funktion als Sicherheitsventil und als Instrument der Opposition her, mit denen eventuelle Repräsentationsdefizite punktuell in strittigen Sachfragen ausgeglichen werden konnten. Von Beginn bis Ende der Republik herrschte

70 Strittig, vgl. Albert Hensel: Die Rangordnung der Rechtsquellen insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung, in: Anschütz/Thoma, Handbuch 2 [wie Anm. 17], S. 313–329, hier S. 317 f.; Thoma, Grundbegriffe [Wie Anm. 44], S. 114 ff. 71 Schmitt, Parlamentarismus [wie Anm. 55], S. 22. 72 Carl Schmitt: Volksentscheid und Volksbegehren, Berlin 1927, S. 34; ders., Verfassungslehre [wie Anm. 35], S. 83 f., S. 243 f. und S. 278 f.; Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung, in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Bd. 1: Öffentliches Recht, Berlin 1929, S. 233–277, hier S. 243: Das deutsche Volk habe »als beseelte Volksgemeinschaft einen realen Gemeinwillen, der sich […] in zustimmender und ablehnender Akklamation […] äußert.«

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ein zum Teil resignativer,73 zum Teil erleichterter Konsens74 darüber, dass die Verfassungsbestimmungen über die direkte Demokratie keine große Bedeutung entfalteten. Ihre einengenden Vorwirkungen auf unpopuläre Parlamentsentscheidungen blieben rar.75 Aus den drei Volksbegehren auf Reichsebene (Fürstenenteignung, Panzerkreuzerverbot und Youngplan) resultierten zwei Volksentscheide. Beide scheiterten. Hohe Verfahrenshürden und eine kreative Verfassungsauslegung schützten den Reichstag davor, vom Volk überstimmt zu werden. Die Volksgesetzgebung war sowohl auf Verfassungsebene als auch auf einfachgesetzlicher Ebene mit hohen Quoren eingehegt worden. Sie wurde gleichzeitig durch eine großzügige Interpretation ihrer Bereichsausnahmen abgedrosselt. Zudem spielten die Gegner konkreter Volksentscheide so virtuos auf der Boykottklaviatur, dass das Parlament nichts zu befürchten hatte.76 Die Durchsetzungschancen von Volksgesetzgebung in Weimar waren daher gering.77

73 Leo Wittmayer: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, S. 437: Die Volksgesetzgebung ist »nur eines der vielen leerlaufenden Räder in der verwickelten deutschen Reichsmaschine […]«. 74 Nach Richard Thoma: Recht und Praxis des Referendums im Deutschen Reich und seinen Ländern, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 7 (1928), S. 489–507, hier S. 490, hat die Weimarer Reichsverfassung die direkte Demokratie »mit besonderer Sorgfalt« in das Regierungssystem eingewoben. Gerhard Anschütz sprach noch 1933 von einem gelungenen Mittelweg zwischen dem plebiszitären und dem parlamentarischen Modell, vgl. Werner Frotscher: Direkte Demokratie in der Weimarer Verfassung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 104 (1989), S. 541–549, hier S. 544. 75 Ottmar Jung: Die Weimarer Erfahrungen mit der Volksgesetzgebung, in: Jahrbuch für Politik 3 (1993), S. 63–92, hier S. 77. 76 Heinrich Triepel: Das Abdrosselungsgesetz, in: Deutsche Juristen-Zeitung 31 (1926), S. 845–850; Wilhelm Merk: Volksbegehren und Volksentscheid. Staatsrechtliche Betrachtungen zu dem Entwurf eines Gesetzes gegen die Versklavung des Deutschen Volkes (des sog. »Freiheitsgesetzes«), in: Archiv des öffentlichen Rechts 58 (1930), S. 83–127, hier S. 88 ff.; Reinhard Schiffers: Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, Düsseldorf 1971, S. 202 ff. 77 Kelsen, Wesen [wie Anm. 19], S. 38 ff., forderte z. B. einen Abbau der formalen Hürden der Volksgesetzgebung, um die mit der Repräsentationsfiktion verdeckte Einflusslosigkeit des Volkes auf politische Entscheidungen auszugleichen. Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 2006, S. 39.

Zur Problematik des Volkswillens

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IV. Ergebnis Die Weimarer Demokratielehre, die einen pragmatisch-juristischen Umgang mit dem Begriff des Volkswillens pflegte und ihn parlamentarismusfreundlich einsetzte, befand sich in der Defensive. Sie war in Grundlagendebatten verstrickt und kämpfte in einem Mehrfrontenkrieg gegen andere Staatsformdesigns wie z. B. das rätedemokratische Modell, die berufsständische Repräsentation, das Präsidialsystem, den Faschismus, die Diktatur und selbst die konstitutionelle Monarchie und fand dabei nicht immer den – nach heutigen Maßstäben für parlamentarische Demokratie – richtigen Ton. Aus den mehr oder weniger dichten Fragmenten ihrer Theorien lässt sich aber insgesamt eine Lösung für die Problematik des Volkswillens herausschälen, die heutigen Standards entspricht.

Almut Neumann

Demokratischer Föderalismus als Herausforderung und Chance der Weimarer Verfassung

Das Prinzip eines demokratischen Föderalismus stellte für die Weimarer Verfassung eine bedeutsame Herausforderung dar. Zugleich bot der demokratische Föderalismus aber auch herausragende Chancen für die junge Republik. Diesem Spannungsfeld widmet sich der folgende Beitrag. Vor allem soll dabei der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese sich bietenden Chancen genutzt wurden und wie sich dies jeweils in der nachfolgenden Verfassungspraxis auswirkte. Der Blick wird hier zudem auf einen speziellen Bereich der zeitgenössischen politischen Kultur geworfen: auf den Diskurs in der Staatsrechtslehre.1 Dieser Diskurs fand an der Schnittstelle von Recht, Politik und Gesellschaft statt und ist als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der Verfassungsinterpretation und teilweise auch der Verfassungstheorie besonders aussagekräftig für die fachliche Rezeption der Verfassung, die dann wiederum auf die Gesellschaft als Ganzes ausstrahlte.2 Abschließend wird ein Rückbezug zu aktuellen Verfassungsentwicklungen hergestellt, welche insbesondere aufgrund der Verbindungen zwischen Weimarer Verfassung und Grundgesetz aufschlussreich erscheinen.

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Vgl. zum Begriff der politischen Kultur: Gunnar Folke Schuppert: Politische Kultur, Baden-Baden 2008; Bettina Westle/Oskar W. Gabriel (Hg.): Politische Kultur. Eine Einführung, Baden-Baden 2009. Zum verwandten Begriff der Verfassungskultur vgl. Hans Vorländer: ›Verfassungskultur‹ aus politikwissenschaftlicher Perspektive – Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Martin H. W. Möllers/ Robert Chr. van Ooyen (Hg.): Verfassungs-Kultur. Staat, Europa und pluralistische Gesellschaft bei Peter Häberle, Baden-Baden 2016, S. 25–38, hier S. 25 ff. Zur Nähe der Staatsrechtslehre zum Fachbereich der Politik siehe Michael Stolleis: Staatsrechtslehre und Politik (1996), in: Stefan Ruppert/Milosˇ Vec (Hg.): Michael Stolleis. Ausgewählte Aufsätze und Beiträge (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 265), Bd. 2, Frankfurt a. M. 2011, S. 973–992, hier S. 973 ff., insbes. S. 977; An­ dreas Voßkuhle: Staatsrechtslehre: Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, in: Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.): Staatsrechtslehre als Wissenschaft (Die Verwaltung, Beiheft 7), Berlin 2007, S. 135–157, hier insbes. S. 138 ff.

Demokratischer Föderalismus als Herausforderung und Chance

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I. Die Herausforderung eines demokratischen Föderalismus für die Weimarer Verfassung Der demokratische Föderalismus der Weimarer Republik war ein Novum in der deutschen Geschichte und stellte einen der stärksten verfassungsrechtlichen Brüche mit dem System des Kaiserreichs dar. Denn während das Kaiserreich zwar auch föderal organisiert war, so galt dort die These, dass eben dieser Föderalismus – mit dem Zentralorgan des Bundesrats – einer demokratischparlamentarischen Entwicklung entgegenstehe. So glaubte die Mehrzahl der Staatsrechtler des Kaiserreichs – insbesondere Georg Jellinek und Erich Kaufmann –, dass ein demokratischer Parlamentarismus zu einer nicht rückgängig zu machenden Zentralisierung führen und den Föderalismus schließlich verdrängen würde.3 Föderalismus und parlamentarische Demokratie galten in Deutschland also weithin als nur schwer miteinander vereinbar. Anders sah das Hugo Preuß, der spätere Vater der Weimarer Verfassung. Dieser linksliberale Berliner Staatsrechtslehrer nahm im wissenschaftlichen Betrieb des deutschen Kaiserreichs eine wahre Außenseiterrolle ein. Preuß folgte der Genossenschaftslehre seines akademischen Lehrers Otto von Gierke. Den Föderalismus konzeptualisierte er deshalb als Staatsaufbau von unten nach oben, bei dem die Gemeinden die untersten Ebenen des öffentlichen Gemeinwesens bildeten und der nach oben hin Raum für die internationale Ebene ließ. Jede dieser Ebenen sollte für Preuß demokratisch-parlamentarisch organisiert sein, um den Willen der die Gemeinwesen zusammensetzenden Bürger zu repräsentieren. 4 Dieses Preuß’sche Föderalismusverständnis stand 3

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Georg Jellinek: Das Reich, Preußen und der Bundesrat (1909), in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, Göttingen 51992, S. 39–43, hier S. 42. Ähnlich bereits ders.: Bundesstaat und parlamentarische Regierung (1907), in: ders. (Hg.): Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 2, Neudruck d. Ausgabe Berlin 1911, Aalen 1970, S. 439–447, hier S. 445 ff.; Erich Kaufmann: Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, Berlin 1917, S. 97 f. Siehe zu diesem Diskurs auch Christoph Möllers: Der parlamentarische Bundesstaat – Das vergessene Spannungsverhältnis von Parlament, Demokratie und Bundesstaat, in: Josef Aulehner u. a. (Hg.): Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit? 37. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung »Öffentliches Recht«, München 1997, Stuttgart u. a. O. 1997, S. 81–112, hier S. 84 ff., sowie Almut Neumann: Preußen zwischen Hegemonie und »Preußenschlag«. Hugo Preuß in der staatsrechtlichen Föderalismusdebatte, Tübingen 2019, S. 60 ff. Auf letztgenanntem Beitrag beruht die Mehrzahl der hier vorgestellten Thesen und Ideen. Hugo Preuß: Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, insbes.

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Almut Neumann

nun im diametralen Gegensatz zur herrschenden monarchisch-konservativen und einer parlamentarischen Demokratie skeptisch gegenüber stehenden Föderalismuskonzeption des Kaiserreichs, die zudem auch nur zwei Ebenen (diejenige des Reichs und die der Einzelstaaten) anerkannte, nicht etwa solche der Gemeinden oder der internationalen Ebene. Mit der Revolution 1918 und dem Systemumsturz stand Hugo Preuß als Verfassungsbeauftragter der Volksbeauftragten vor der Herausforderung, dieses überkommene Föderalismusverständnis zu verabschieden. Dass dies nicht einfach sein würde, war ihm klar: Er beklagte, dass die »Doktrin von dem Gegensatz zwischen ›Parlamentarismus‹ und ›Föderalismus‹ […] unter der Autorität Bismarcks jahrzehntelang unablässig den deutschen Gehirnen eingehämmert worden [sei] zu dem bewußten Zweck, im Namen eines unwahren Föderalismus die notwendige Entwicklung des Parlamentarismus zu verhindern.«5 Zugleich war früh klar, dass die künftige Verfassung eine föderale Struktur irgendeiner Art haben sollte: Die Revolution hatte nicht etwa zu einer stärkeren Zentralisierung geführt, sondern durch ihren dezentralen



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S. 38 f. (Übernahme von Gierkes), S. 207 ff. (Staatsaufbau von unten nach oben), S. 217 f. und S. 231 (demokratisch-parlamentarische Organisation auf allen Ebenen), S. 256 (Öffnung zum internationalen Recht hin); ders.: Zur preußischen Verwaltungsreform. Denkschrift verfaßt im Auftrage der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin (1910), in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, hg. von Dian Schefold, Tübingen 2009, S. 645–731, hier S. 716; s. a. prägnant ders.: Selbstverwaltung, in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften (1924), in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 5: Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik, hg. von Christoph Müller, Tübingen 2012, S. 703–716, hier S. 713. Näher zu Preuß’ Konzeption siehe nur Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biographie eines Demokraten, Stuttgart 2018, insbes. S. 111 ff.; Siegfried Graßmann: Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck/Hamburg 1965, S. 79 ff.; Detlef Lehnert: Hugo Preuß als moderner Klassiker einer kritischen Theorie der »verfassten« Politik. Vom Souveränitätsproblem zum demokratischen Pluralismus, in: Politische Vierteljahresschrift 1992, S. 33–54; ders.: Hugo Preuß in der europäischen Verfassungsgeschichte. Konzepte des modernen demokratischen Bundesstaats, in: ders. (Hg.): Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 73–104; Marcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 68 ff.; Neumann, Preußen [wie Anm. 3], S. 42 ff.; Christoph Schönberger: Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt a. M. 1997, S. 373. Hugo Preuß: »Republik und Monarchie« – »Reich und Preußen« (1921), in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, hg. von Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 185–189, hier S. 186.

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Verlauf die bestehenden föderalen Strukturen übernommen. Der Bundesrat bestand außerdem zunächst weiter und wurde dann zum Staatenausschuss – auch er trat dafür ein, dass die Länder mit eigenen Rechten bestehen bleiben sollten. Hinzu kam, dass der Anschluss von Österreich an Deutschland, von dem anfangs viele ausgingen, ebenfalls eine föderale Struktur vorausgesetzt hätte.6 Deshalb stand Preuß vor der Aufgabe, dem herkömmlichen Föderalismusverständnis ein neues, demokratisches Föderalismusverständnis entgegenzusetzen – oder anders gesagt: die traditionelle Gliederung des Reiches in Länder (bzw. Einzelstaaten) in die neue, demokratisch-parlamentarische Staatsform zu integrieren.

II. Die drei Chancen der Verbindung von Föderalismus und Demokratie für die Weimarer Verfassung Dies leitet über zur Frage, welche Chancen diese Ausgangslage für Hugo Preuß und andere Akteure im Hinblick auf die Verbindung von Demokratie und Föderalismus im Rahmen der Verfassungsgebung bot. Hierbei können drei besonders wichtige Chancen ausgemacht werden: 1. Die Chance eines demokratischen Mehrebenensystems Die Weimarer Verfassung enthielt in ihrem Art. 17 eine sogenannte Homogenitätsklausel, wonach die Länder – ebenso wie das Deutsche Reich selbst – als demokratische Republiken ausgestaltet sein mussten. Außerdem schrieb der Artikel die Geltung der weitgehend gleichen Wahlgrundsätze auch für die Gemeindewahlen vor; hinzu trat der Selbstverwaltungsgrundsatz für die Gemeinden.7 Diese heute so selbstverständlich erscheinenden Normen waren ein absoluter Bruch mit dem System des Kaiserreichs, bei dem die Einzelstaaten ihre Staatsform frei hatten wählen können und zumeist als konstitutionelle Monarchien mit ganz unterschiedlichem Wahlrecht für die Volksvertretungen ausgestaltet gewesen waren. Vor allem das Dreiklassenwahlrecht in Preußen war

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Vgl. dazu nur Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München Neuausgabe 2018, S. 27 ff. und S. 99 ff. Zum Prinzip föderaler Homogenität siehe Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 227 ff., sowie seinen Beitrag in diesem Band; Gertrude Lübbe-Wolff: Das Demokratiekonzept der Weimarer Reichsverfassung, in: Horst Dreier/ Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 22018, S. 111–149, hier S. 143 ff.

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berühmt-berüchtigt gewesen, und es war im Kaiserreich (trotz vieler Reformbestrebungen) bis zuletzt nicht gelungen, dieses dem Reichstagswahlrecht anzugleichen.8 Mit der Weimarer Verfassung aber war – erstens – das Prinzip »föderaler Homogenität« im Sinne einer notwendigen demokratisch-republikanischen Ausgestaltung der föderalen Ebenen verfassungsrechtlich verankert. Um demokratische Selbstbestimmung »von unten nach oben« auf allen Ebenen materiell zu ermöglichen, organisierte und sicherte man sie auf höchster Ebene: auf derjenigen der Reichsverfassung und damit »von oben nach unten«.9 Hinzu kam, dass diese Ebenen – zweitens – nicht nur Reich und Länder umfassten, sondern insoweit auch die Gemeinden mit einbezogen sowie durch einen verfassungsrechtlichen Verweis auf das Völkerrecht zumindest in Ansätzen auch die internationale Ebene.10 Es gelang also, diese Chance zu nutzen und in der Weimarer Verfassung ein demokratisches Mehrebenensystem und insofern ein auf mehreren Ebenen gestuftes pluralistisches System zu etablieren. Zwar erhielt das Reich innerhalb dieses föderalen Systems im Vergleich zu den Ländern eine sehr starke Stellung.11 Dies dürfte vor allem mit dem Misstrauen von Hugo Preuß und anderen Akteuren gegenüber den Ländern zu erklären sein, welches noch aus dem Kaiserreich stammte, in dem das Reich politisch oftmals weitaus progressiver und demokratischer gewesen war als die Einzelstaaten, allen voran Preußen.12 Auch wurde das von Preuß gewünschte Staatenhaus als zweite legislative Kammer mit von den Länderbevölkerungen direkt gewählten Abgeordneten nicht

  8 Zu den Einzelstaaten siehe Heiko Holste: Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867– 1933), Berlin 2002, S. 130 ff.; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, S. 187 ff.; zum preußischen Dreiklassenwahlrecht siehe Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947, München 32008, S. 573 f.   9 Vgl. Neumann, Preußen [wie Anm. 3], S. 144. 10 Art. 4 WRV lautete wie folgt: »Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts.« Hugo Preuß: Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches (1928), hg. von Gerhard Anschütz, in: Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Das Verfassungswerk von Weimar, hg. von Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen 2015, S. 299–476, hier S. 364, erhoffte sich von dieser Regelung die Weiterentwicklung zu einer »die ganze Menschheit umfassende[n] Gemeinschaft [, der] ›civitas maxima‹[, der bislang noch] die geschlossene Organisation zum politischen Gemeinwesen« fehle. 11 Näher zur bundesstaatlichen Zuständigkeitsverteilung Gusy, Reichsverfassung [wie Anm. 7], S. 235 ff. mit weiteren Nachweisen. 12 Neumann, Preußen [wie Anm. 3], S. 150 ff.

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umgesetzt.13 Nichtsdestotrotz war die Weimarer Verfassung damit die erste deutsche Verfassung, die demokratisch-republikanische Grundsätze etablierte, und dies auf allen (weit verstandenen) föderalen Ebenen. Dieses demokratische Mehrebenensystem sorgte für einige Kritik in der Staatsrechtslehre – sie gipfelte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in dem von Carl Bilfinger geprägten, negativ konnotierten Begriff des »Parteienbundesstaats«.14 Bilfinger verstand ihn als Gegenbegriff zu der idealisierten »Einheit des Staates«, für die auch Carl Schmitt eintrat und die gegen Ende der Weimarer Republik zum neuen Leitbild einer anti-pluralistischen Staatsrechtslehre werden sollte.15 Allerdings funktionierte die Mehrebenen-Demokratie der Weimarer Verfassung in weiten Teilen gar nicht schlecht. Das demokratische System war in vielen Ländern nämlich weitaus stabiler als auf Reichsebene: Man denke nur an Preußen, in dem rund 12 Jahre lang fast ununterbrochen Otto Braun als Ministerpräsident im Amt war – im Vergleich zu den rund 20 verschiedenen Kabinetten auf Reichsebene in der Weimarer Zeit.16 Was genau der Grund für diese teilweise erstaunliche Stabilität gewesen sein mag, lässt sich wohl nicht abschließend sagen. Dabei wird jedenfalls das Fehlen eines Staatsoberhauptes in den Ländern eine wichtige Rolle gespielt haben.17 Hinzu kommen sicherlich noch andere Faktoren wie beispielsweise bestimmte Personen, die besonderes Vertrauen in der Bevölkerung genossen (wie Otto Braun), oder auch die Tatsache, dass die Landespolitik sehr viel mehr unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit und der Presse ablief und die Be-

13 So im ursprünglichen Verfassungsentwurf I von Hugo Preuß vom 3. Januar 1919, in: Preuß, Gesammelte Schriften 3 [wie Anm. 10], S. 536. Zum Preuß’schen Vorschlag des Staatenhauses siehe auch Holste, Bundesstaat [wie Anm. 8], S. 280; Michael Dreyer: Der Preuß’sche Neugliederungsplan von 1919 und sein Scheitern, in: Lehnert (Hg.), Preuß [wie Anm. 4] S. 279–300, hier S. 292 ff.; Detlef Lehnert: Das pluralistische Staatsdenken von Hugo Preuß, Baden-Baden 2012, S. 156 f. 14 Carl Bilfinger: Exekution, Diktatur und Föderalismus, in: Deutsche Juristen-Zeitung 37 (1932), Sp. 1018–1021, hier Sp. 1018. 15 Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 94 ff.; zur zeitgenössischen Debatte um die Einheit des Staates siehe Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Weimarer Republik und Nationalsozialismus, München Sonderausgabe 2002 (urspr. 1999), S. 101 ff.; Holste, Bundesstaat [wie Anm. 8], S. 407 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 16 Karl Dietrich Bracher: Dualismus oder Gleichschaltung: Der Faktor Preußen in der Weimarer Republik, in: ders./Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobson (Hg.): Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 1998, S. 538. 17 Ebd., S. 539; vgl. dazu auch den Beitrag von Christoph Gusy in diesem Band.

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völkerungen der Länder insoweit weniger polarisierte.18 Was auch immer der genaue Grund gewesen sein mag – die Pluralität von verschiedenen Ebenen sorgte jedenfalls dafür, dass es trotz aller Wirren der Zeit zumeist doch auch mehrere Gemeinwesen mit ruhigeren politischen Verhältnissen gab. Insofern kann man es als relativen Stabilitätsfaktor bezeichnen, dass die Weimarer Republik auf mehreren Ebenen – also: föderal – demokratisch organisiert war. 2. Die Chance eines symmetrischen Föderalismus Hugo Preuß war großer Verfechter eines symmetrischen Föderalismus. Die einzelnen föderalen Glieder sollten für ihn einander vergleichbar sein, insbesondere was die Bevölkerungsanzahl, aber auch das Territorium und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anging. Nur so konnte für ihn demokratische Willensbildung auch im föderalen Zusammenspiel realisiert werden: Ein »wirklicher Bundesstaat [sei hingegen] undenkbar, wenn eines seiner Glieder vier Siebentel des Ganzen umfa[sse].«19 Eine derartige von Preuß gewünschte Symmetrie existierte im Kaiserreich nicht: Preußen war dort der mit Abstand größte Einzelstaat und umfasste etwa 2/3 der deutschen Bevölkerung und des Territoriums.20 Um dies zu ändern, machte Preuß bei den Verfassungsberatungen einen gewagten Vorschlag: Preußen sollte nach seiner Vorstellung in mehrere kleine Länder aufgeteilt werden.21

18 Vgl. Holste, Bundesstaat [wie Anm. 8], S. 423. 19 Hugo Preuß: Pressegespräch zum Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt (Eigenbericht 1919), in: Preuß, Gesammelte Schriften 4 [wie Anm. 5], S. 78; ähnlich ders: Denkschrift zum Verfassungsentwurf (3./20. Januar 1919). Entwurf der künftigen Reichsverfassung (allgemeiner Teil), in: Preuß, Gesammelte Schriften 3 [wie Anm. 10], S. 134–153, hier S. 139. 20 Wolfgang Köllmann: Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte. Bevölkerungs-Ploetz, Bd. 4: Bevölkerung und Raum in neuerer und neuester Zeit, Würzburg 31965, S. 86. 21 Preuß, Denkschrift [wie Anm. 19], passim. Zum Preuß’schen Neugliederungsplan siehe Dreyer, Neugliederungsplan [wie Anm. 13]; Holste, Bundesstaat [wie Anm. 8], S. 276 ff.; Günther Gillessen: Hugo Preuß: Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2000 (Diss. 1955), S. 116 ff.; Jasper Mauersberg: Ideen und Konzeption Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, Frankfurt a. M. 1991, S. 189 ff.; Detlef Lehnert: Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß – Beiträge zur demokratischen Institutionenlehre in Deutschland, Baden-Baden 1998, S. 217 ff.; Ders./Dian Schefold: Einleitung zu, Preuß, Gesammelte Schriften 3 [wie Anm. 10], S. 1–78, hier S. 22 ff.

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Der Aufschrei hiergegen war laut, und Preuß’ Vorschlag scheiterte bald. Zwar gab es für seine Idee einige prominente Unterstützer – zu nennen sind hier Gerhard Anschütz und Friedrich Meinecke.22 Jedoch war der Widerstand aus Preußen selbst, aber auch aus anderen Regionen Deutschlands zu groß, und dies quer über alle Parteigrenzen hinweg. Die Gründe waren mannigfaltig: Da war die Angst vor separatistischen Strömungen, insbesondere im Rheinland; außerdem wurden die historische Tradition Preußens sowie machtpolitische Gründe angeführt: dass nämlich die starke Einheit Preußens eine Machtquelle darstelle, die man nicht opfern dürfe.23 In der Literatur wird der Vorschlag von Hugo Preuß aufgrund dieser heftigen Ablehnung vorwiegend als unrealistische Idee eines weltfremden Theoretikers bewertet.24 Überzeugender erscheint jedoch die gegenteilige Bewertung: dass es Preuß gerade besonders auszeichnet, diesen mutigen Schritt wenigstens versucht zu haben.25 Ihm war durchaus bewusst, dass es schwierig sein würde, eine »Zerschlagung Preußens« (so das pejorative Schlagwort) durchzusetzen. Allerdings fürchtete er, dass ohne eine Aufteilung des größten Einzelstaates ein »ständige[r] Kampf[…] zwischen dem Reiche und Preußen« drohe.26 Deshalb wollte er diese – wenn auch geringe – Chance der Umbruchsituation zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik nicht ungenutzt verstreichen lassen.

22 Gerhard Anschütz: Die kommende Reichsverfassung, in: Deutsche Juristen-Zeitung 24 (1919), Sp. 113–122, hier 116 f.; Friedrich Meinecke: Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik (1918/1919), in: Georg Kotowski (Hg.): Friedrich Meinecke. Werke, Bd. 2: Politische Schriften und Reden, Darmstadt 1958, S. 280–298, hier S. 284. 23 Erich Kaufmann: Grundfragen der künftigen Reichsverfassung, Berlin 1919, S. 8. ff.; Heinrich Triepel: Die Entwürfe zur neuen Reichsverfassung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 43 (1919), S. 459–510, hier S. 466; Karl Binding: Die staatsrechtliche Verwandlung des Deutschen Reiches, Leipzig 1919, S. 36 f.; Otto Hoetzsch: Preußen und das Reich, in: Joh. Viktor Bredt (Hg.): Das Werk des Herrn Preuß oder Wie soll eine Reichsverfassung nicht aussehen?, Berlin 1919, S. 43–56, hier S. 49. Robert Friedberg: Preußen in dem Entwurf der künftigen Reichsverfassung, in: Deutsche Juristen-Zeitung 24 (1919), Sp. 193–199. Auch Preuß’ Lehrer Otto von Gierke: Der germanische Staatsgedanke, Berlin 1919, S. 25, wandte sich gegen den Vorschlag seines Schülers und konnte sich »keine schlimmere Versündigung an Deutschlands Zukunft« als eine Aufteilung Preußens vorstellen. 24 Horst Möller: Preußen von 1918 bis 1947: Weimarer Republik, Preußen und der Nationalsozialismus, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.): Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 2001, S. 149–316, hier S. 173; Gillessen, Preuß [wie Anm. 21], S. 121; Dreyer, Neugliederungsplan [wie Anm. 13], S. 285. 25 Vgl. zu alledem auch Neumann, Preußen [wie Anm. 3], S. 173. 26 Preuß, Denkschrift [wie Anm. 19], S. 164.

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So jedoch realisierte sich diese Chance nicht und es blieb beim asymmetrischen Föderalismus, welcher auch schon das Kaiserreich gekennzeichnet hatte. Das Reich und das immer noch etwa 2/3 große Preußen standen sich letztlich mit ihren zwei Zentralregierungen gegenüber.27 Das führte zu Mitbestimmungsproblemen der kleineren Länder, zu Reibereien zwischen Reich und Preußen sowie zu verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen informellen Absprachen zwischen den beiden Ebenen.28 Zwar klappte dies alles zunächst weitaus besser als von Hugo Preuß anfangs prophezeit. So unterstützte Preußen das Reich im Jahr 1923 während der Zeit der Konflikte zwischen dem Reich und Bayern sowie anderen Ländern wie Sachsen.29 Aber der Diskurs um das problematische Verhältnis zwischen dem Reich und den (unterschiedlich großen) Ländern blieb bestehen. So wandelte sich gerade die »preußische Frage« immer mehr zum Krisendiskurs, sowohl in der Staatsrechtslehre als auch in der Politik.30 Artikel 18 der Weimarer Verfassung ließ eine Neugliederung

27 Köllmann, Bevölkerung [wie Anm. 20], S. 172 f.; Möller, Preußen [wie Anm. 24], S. 224. 28 Siehe nur Ludwig Biewer: Preußen und das Reich in der Zeit der Weimarer Republik. Grundsätzliches und ausgewählte Beispiele, in: Oswald Hauser (Hg.): Preußen, Europa und das Reich, Köln/Wien 1987, S. 331–356, hier S. 340 ff. 29 Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 21977, S. 432 ff.; Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919–1930, Berlin u. a. O. 1963, S. 486 ff. Vgl. auch den Beitrag von Walter Mühlhausen in diesem Band. 30 So plädierten für die Schaffung eines ›Reichslandes‹ Preußen Wilhelm Kitz: Reichsland Preußen. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Verwaltungsreform, Düsseldorf 1926, insbes. S. 16 ff.; Walter Becker: Föderalistische Tendenzen im deutschen Staatsleben seit dem Umsturze der Bismarckschen Verfassung. Eine politisch-staatsrechtliche Studie, Breslau 1928, S. 162 f.; Hermann Höpker-Aschoff: Deutscher Einheitsstaat. Ein Beitrag zur Rationalisierung der Verwaltung, Berlin 1928, S. 20 ff.; Bund zur Erneuerung des Reiches: Reich und Länder. Vorschläge, Begründung, Gesetzentwürfe, Berlin 1928, S. 8; Adolf von Batocki: Preußen, der Kern der deutschen Verfassungsfrage, Berlin 1928, S. 14; kritisch zu einem Reichsland Preußen hingegen Richard Schmidt: Reich und Preußen, preußische Provinzen und deutsche Länder, in: Deutsche Juristen-Zeitung 32 (1927), Sp. 408 (411). Preußen zum Kern eines Einheitsstaates machen wollte der preußische Ministerpräsident Otto Braun: Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem?, Berlin 1927, S. 32; ähnlich Erich Cohn: Die Stellung Preußens im Deutschen Staatsrecht, Berlin 1922, S. 56; Erich Koch-Weser: Einheitsstaat und Selbstverwaltung, Berlin 1928, insbes. S. 39 ff.; Willibalt Apelt: Vom Bundesstaat zum Regionalstaat. Betrachtungen zum Gesetzentwurf über den endgültigen Reichswirtschaftsrat, Berlin 1927, S. 51 ff. Für eine Wiederherstellung des Bismarck’schen Modells einer rechtlichen Hegemonialstellung Preußens plädierte in antidemokratischer Ausrichtung Otto Koellreutter: Der

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der Länder ausdrücklich zu und wurde von vielen gar als Verfassungsauftrag gedeutet.31 Damit kreierte er einen »Modus der Verheißung« im Sinne eines perfekt austarierten Reich-Länder-Verhältnisses.32 Als es jedoch nicht gelang, einen der vielen guten Reformvorschläge vor allem gegen Ende der 1920er Jahre in der Reichsreformdebatte umzusetzen, schlug diese Verheißung in Enttäuschung um.33 Letztlich wurde das als ›Problem‹ identifizierte Verhältnis zwischen Preußen und Reich, diese ›Konstruktion‹ der Krise, brutal durch den sogenannten ›Preußenschlag‹ 1932 gelöst, in dem die rechtsgerichtete Reichsexekutive die ›rote‹ preußische Regierung staatsstreichartig entmachtete.34 Der ›Preußenschlag‹ leitete das Ende der Weimarer Republik ein.35 Der verfassungskulturelle Rahmen in Form des krisenhaften Diskurses in Staatsrechtslehre und Politik hatte hierfür mit den Boden bereitet. Es steht zu vermuten, dass ein mehr auf Symmetrie ausgerichtetes föderales System einen derartigen



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deutsche Staat als Bundesstaat und als Parteienstaat, Tübingen 1927, S. 35; ähnlich bereits zuvor Karl (später: Carl) Bilfinger: Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 1: Der deutsche Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten, Berlin/Leipzig 1924, S. 35–57 (insbes. S. 38). Der bayerische Ministerpräsident Heinrich Held: Das preußisch-deutsche Problem, München u. a. O. 1929, S. 25, hatte vor allem bayerische Landesinteressen im Blick, wenn er eine Gleichstellung der Länder forderte und damit eine relative Schlechterstellung Preußens insinuierte. Zur sog. »Kultur der Krise« in Weimar und den daraus resultierenden Diskursen, siehe Moritz Föllmer/Rüdiger Graf/Per Leo: Einleitung: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005, S. 9–44, hier S. 11. Preuß, Reich und Länder [wie Anm. 10], S. 341; Fritz Poetzsch-Heffter: Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 31928, S. 148. Zum »Modus der Verheißung« siehe Bernd Weisbrod: Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln 2000, S. 13–41, hier S. 31. Zur Reichsreformdebatte siehe Anke John: Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung (1918–1933), Wien/Köln/Weimar 2012, S. 101 ff. Siehe zum ›Preußenschlag‹ nur Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart u. a. O. 1981, S. 1015 ff.; Clark, Preußen [wie Anm. 8], S. 731 ff. Reinhart Koselleck: Nation oder Föderation? Erfahrungen der deutschen Geschichte, in: Martin Sabrow (Hg.): Abschied von der Nation? Deutsche Geschichte und europäische Zukunft, Leipzig 2003, S. 29–44, hier S. 40.

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Krisendiskurs und in der Folge auch ein dem Preußenschlag vergleichbares Vorgehen des Reichs hätte vermeiden können.36 3. Die Chance eines rechtsstaatlichen Föderalismus Die Weimarer Verfassung enthielt in ihrem Artikel 19 den Reich-Länder-Streit: Dieser ermöglichte es, bei Kompetenzüberschreitungen im Verhältnis von Reich und Ländern den Staatsgerichtshof anzurufen, anstatt – wie zuvor – derartige Konflikte machtpolitisch austragen zu müssen.37 Dies war die Grundlage einer rechtsstaatlichen Absicherung des demokratischen Föderalismus. Erstaunlicherweise kam der Vorschlag zu dieser Regelung nicht von Hugo Preuß, sondern wurde erst später von Preußen während der Beratungen zur Verfassung eingebracht.38 Diese Auslassung von Preuß ist deshalb verwunderlich, da er bereits im Kaiserreich die Verknüpfung von Demokratie und Rechtsstaat erkannt hatte. Diese bezog er nicht nur auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern auch – und das war das Besondere – auf das Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten. Die Beziehungen zwischen den föderalen Ebenen sollten seiner Ansicht nach rechtlich geregelt und auch gerichtlich durchsetzbar sein.39 In der Weimarer Verfassung schlug Preuß jedoch dann derartige rechtsstaatliche Sicherungen nur teilweise vor – nur als Mittel des Reichs gegen die Länder, nicht anders herum. 40 Ihm stand die Situation aus dem Kaiserreich mit dem demokratisch-progressiven Reich und dem undemokratisch-reaktionären Preußen zu sehr vor Augen: Dass sich das Reich undemokratisch entwickeln könnte und seine Grenzen gegenüber den Ländern unrechtmäßig überschreiten könnte, war für ihn kaum vorstellbar. Das »Trauma

36 Ausführlich zu dieser Deutung Neumann, Preußen [wie Anm. 3], S. 241 ff. 37 Zur Situation in der Weimarer Republik Gusy, Reichsverfassung [wie Anm. 7], S. 209 ff.; Horst Dreier: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik, in: Thomas Simon/ Johannes Kalwoda (Hg.): Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte, Berlin 2014, S. 318–372, hier S. 346 f.; zur Situation im Kaiserreich siehe Holste, Bundesstaat [wie Anm. 8], S. 239 ff. 38 Erst im Entwurf IV vom 21. Februar 1919 wurde der Reich-Länder-Streit aufgenommen; siehe dazu Wolfgang Wehler: Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Die politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Bonn 1979, S. 49 f. 39 Preuß, Gebietskörperschaften [wie Anm. 4], S. 92. 40 Der aus Preuß’ Feder stammende Entwurf I zur Weimarer Reichsverfassung sah in seinen §§ 10, 13 zwar die Schaffung eines Staatsgerichtshofs vor, dieser sollte aber lediglich für Streitigkeiten innerhalb eines Landes und zwischen einzelnen Ländern zuständig sein.

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Preußen« wog für ihn zu schwer. 41 Insofern entbehrt es nicht der Ironie, dass gerade ein Vorschlag des Landes Preußen in den Verfassungsverhandlungen dann zur Verwirklichung der theoretischen Überlegungen von Preuß führte. Die Institution des Reich-Länder-Streites funktionierte in der Weimarer Republik über einen langen Zeitraum vergleichsweise gut. Es gab mehrere Rechtsstreitigkeiten zwischen Reich und Ländern, die durch den Staatsgerichtshof beigelegt werden konnten – zwischen den Jahren 1920 und 1928 wurden 21 derartige Entscheidungen gefällt, wenn auch eher im Bereich von technischen Detailfragen, zum Beispiel auf dem Gebiet des Rechts der Wasserstraßen oder des Eisenbahnwesens. 42 Beim Preußenschlag im Jahr 1932 jedoch versagte die Schutzfunktion des Staatsgerichtshofs: Das Gericht fällte ein ambivalentes Urteil, das Preußen im Ergebnis nicht vor den Maßnahmen des Reichs schützte. Denn der Gerichtshof bejahte das Vorliegen einer Notstandslage aufgrund der – vermeintlich – ungenügenden Bekämpfung kommunistischer Unruhen durch die preußische Regierung. Zwar sah das Gericht das Bestehen einer »eigenwüchsigen Landesregierung« als Grenze für mögliche Notstandsmaßnahmen des Reichs an, allerdings meinte es, dass die vorübergehende Übertragung der Regierungstätigkeit in Preußen auf Reichskommissare diese Grenze nicht überschreite, da die Landesregierung formal als »Organ des Landeswillens bestehen« bleibe – auch wenn sie damit faktisch materiell entmachtet war. 43 Die richterliche Zurückhaltung bei der Prüfung der Maßnahmen des Reichs dürfte sich aus einer Kombination mehrerer Faktoren erklären lassen. Am entscheidendsten dürfte hierbei gerade nicht der Verfassungstext sein. Eine stärkere Verankerung von Länderrechten in der Verfassung hätte also nicht unbedingt zu einem anderen Ergebnis geführt. Sondern es dürfte vor allem 41 Vgl. zu diesem »Trauma Preußen« Neumann, Preußen [wie Anm. 3], S. 153 f. und S. 156 ff. Zur »Hegemonie eines Gliedstaates« als »historische[m] Trauma des Föderalismus« Josef Isensee: Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: ders./Paul Kirchhof (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6: Bundesstaat, Heidelberg 32008, § 126, Rn. 148. 42 Dreier, Verfassungsgerichtsbarkeit [wie Anm. 37], S. 346 f.; s. a. Gusy, Reichsverfassung [wie Anm. 7], S. 213. 43 Staatsgerichtshof: Urteil vom 25. Oktober 1932 – StGH. 15, 16, 17 und 19/32 –, abgedruckt in: Arnold Brecht (Hg.): Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932, Berlin 1933, insbes. S. 511 ff. Siehe dazu nur Henning Grund: »Preußenschlag« und Staatsgerichtshof im Jahre 1932, Baden-Baden 1976; Joachim Vetter: Die Bundesstaatlichkeit in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs der Weimarer Republik, Baden-Baden 1979, S. 126 ff.; Gusy, Reichsverfassung [wie Anm. 7], S. 264 ff.

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die allgemeine politisch-staatsrechtliche Diskussionslage maßgeblich für die konkrete Entscheidungspraxis gewesen sein. Diese ließ, wie oben gezeigt, das Verhältnis zwischen Preußen und Reich als unbedingt reformbedürftig erscheinen und beeinflusste so auch die Richter am Staatsgerichtshof. Deshalb steht zu vermuten, dass sich vor allem mit dieser zeitgenössischen politischen Kultur ihre richterliche Zurückhaltung erklären lässt.

III. Fazit Beim Blick auf die drei Chancen eines demokratischen Föderalismus ergibt sich ein gemischtes, insgesamt aber doch eher positives Bild. Wenngleich diese Chancen nicht vollumfänglich genutzt werden konnten, so gelang dies zumindest in einigen wichtigen Teilen. Und dort, wo sie genutzt wurden, funktionierten sie trotz aller Probleme jedenfalls über einen gewissen Zeitraum hinweg verhältnismäßig gut. Oftmals korrespondierte damit allerdings nicht der staatsrechtliche Diskurs, der hier als ein Ausschnitt politischer Kultur betrachtet wurde und der teilweise – vor allem gegen Ende der Weimarer Zeit mit dem Gegenideal der Einheit des Staates – geradezu apokalyptische Züge annahm. Die Grundfrage des demokratischen Föderalismus, ob nämlich alle föderalen Ebenen demokratisch ausgestaltet sein müssen, beantwortete die Weimarer Verfassung mit einem klaren »ja« und bezog in diese Ebenen auch die Gemeinden sowie in Ansätzen die internationale Ebene mit ein – wenngleich diese Ebenen von der herrschenden Staatsrechtslehre freilich weiterhin nicht als föderal bezeichnet wurden und auch heute zumeist nicht so bezeichnet werden. 44 Eine Mehrebenenausgestaltung mit demokratischen Homogenitätsklauseln finden wir heute jedoch sowohl im Grundgesetz, welches hier die Regelungen der Weimarer Verfassung zum Vorbild nahm, als auch auf der Ebene der EU. 45 Und auch theoretisch ist das pluralistische Ideal eines demo44 Siehe aus der Weimarer Zeit nur Hans Peters: Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preussen, Berlin 1926, S. 41 mit weiteren Nachweisen; aktuell siehe nur Karl-Peter Sommermann: Art. 20, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2: Artikel 20 bis 82, München 62010, Art. 20, Rn., S. 1–166, hier 26 f. mit weiteren Nachweisen. 45 Nach Art. 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Grundgesetzes muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen; in den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. In Art. 2 des

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kratischen Föderalismus mittlerweile zum ›common sense‹ der Politikwissenschaft und der Staatsrechtslehre avanciert. 46 Man kann meines Erachtens sagen, dass die Weimarer Verfassung und ihr ›Vater ‹ Hugo Preuß diese theoretische Debatte vorweggenommen haben – gerade auch in dem Modell eines über zwei Ebenen hinausgehenden Föderalismus. Mit Blick auf den symmetrischen Föderalismus versuchte Hugo Preuß die Chance der Verfassungsgebung und des Systemumbruchs zu nutzen, um einen solchen zu etablieren. Für die Weimarer Verfassung zu diesem Zeitpunkt scheiterte er zwar mit diesem Vorschlag, so dass diese Chance nicht realisiert werden konnte. Jedoch wirkt Preuß insofern weiter, als die Westalliierten es nach Kriegsende als eines der wichtigsten Ziele betrachteten, in Deutschland einen symmetrischen Föderalismus ohne preußische Hegemonie zu etablieren. 47 Auch wenn ich keine direkte Bezugnahme der Alliierten auf Preuß und seine Vorschläge ausfindig machen konnte, so steht doch zu vermuten, dass sie seine Vorschläge kannten und berücksichtigten. 48 Jedenfalls gleicht die heutige Landkarte Deutschlands in weiten Teilen der von Preuß vorgeschlagenen

EU-Vertrages werden die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte als allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Werte bezeichnet. 46 Siehe dazu nur die Zusammenfassung bei Ines Härtel: Alte und neue Föderalismuswelten, in: dies. (Hg.): Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Berlin/Heidelberg 2012, S. 3–22, hier S. 18; Isensee, Föderalismus [wie Anm. 41], Rn. 260 ff., S. 281 und S. 328 ff. mit weiteren Nachtweisen. 47 Am 25. Februar 1947 lösten die Alliierten Preußen durch Kontrollratsbeschluss auf: Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrates in Deutschland über die Auflösung des Staates Preußen, Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 14, S. 262. In Westdeutschland mahnten die Alliierten dann bei der Schaffung des Grundgesetzes an, dass »im Vergleich mit den anderen Ländern [kein Land] entweder zu groß oder zu klein« sein dürfe, Aufforderung der Militärgouverneure an die Ministerpräsidenten, Frankfurter Dokument Nr. 1 vom 1. Juli 1948, abgedruckt in: Klaus-Berto Doemming/ Rudolf Werner Füsslein/Werner Matz, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 1 neue Folge: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes im Auftrage der Abwicklungsstelle des Parlamentarischen Rates und des Bundesministers des Innern auf Grund der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, Tübingen 1951, S. 263. 48 So standen die Alliierten in engem Kontakt mit Gerhard Anschütz und griffen beispielsweise bei der Schaffung des Landes Hessen auf Vorschläge von Preuß zurück, so Walter L. Dorn: Zur Entstehungsgeschichte des Landes Hessen, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 191–196, hier S. 193. Deshalb kann vermutet werden, dass die Alliierten auch weitere Vorschläge und Texte aus der Weimarer Zeit kannten; siehe hierzu auch Neumann, Preußen [wie Anm. 3], S. 243.

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Aufteilung. 49 Und das Ideal eines symmetrischen Föderalismus ist im Grundgesetz – insbesondere mit dem Verfassungsauftrag der Einheitlichkeit bzw. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – besonders stark (manche würden sagen: zu stark) durchgesetzt.50 Bei den föderalen Sicherungen wiederum konnte die Chance durch die Verfassungsgebung genutzt werden, indem in der Weimarer Verfassung der Reich-Länder-Streit etabliert wurde. Damit vermochte der Staatsgerichtshof oftmals – wenn auch, wie gezeigt, nicht immer – für effektiven rechtstaatlichen Schutz der föderalen Ebenen und Klärung ihrer Konflikte zu sorgen. Heute enthält das Grundgesetz ebenfalls die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Bund-Länder-Streitverfahrens anzurufen.51 Dieser rechtsstaatliche Föderalismus funktioniert gut, setzt aber letztlich wie so oft und wie auch zur Weimarer Zeit viele Faktoren voraus, die außerhalb der Verfassung und mehr im Bereich der politischen Kultur liegen.52 Es sei erinnert an das berühmte Böckenförde-Diktum: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«53 Zugleich zeigt derzeit der Blick auf Polen und Ungarn, wie schwierig es für eine Ebene – in diesem Fall: die EU – sein kann, andere Ebenen – hier: Polen und Ungarn – zur Beachtung grundlegender demokratischer und rechtsstaatlicher Standards anzuhalten. Welche Rolle hier dem Rechtsstaatsverfahren nach Art. 7 EUV, aber auch dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren zukommt, bleibt abzuwarten. Der Europäische Gerichtshof hat jedenfalls bereits die umstrittenen Zwangspensionierungen am polnischen Obersten Gerichtshof für europarechtswidrig befunden sowie 49 Heiko Holste: Weichenstellung Weimar – Der Tagungsort der Nationalversammlung als Vorentscheidung über Föderalismus oder Zentralismus, in: Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen, Erfurt 2009, S. 107–117, hier S. 116; Dreyer, Neugliederungsplan [wie Anm. 13], S. 289. Diese Einteilung ist insofern auch nicht überraschend, da Preuß sich bei seinem Vorschlag bereits weitgehend an bestehenden Provinzgrenzen orientiert hatte. 50 Kritisch gegenüber einer zu starken integrationistischen föderalen Tendenz Stefan Oeter: Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht. Untersuchungen zur Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, Tübingen 1998, S. 565 ff. 51 Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 des Grundgesetzes. 52 Vgl. zur Weimarer Verfassung jüngst auch den treffenden Untertitel bei Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018. 53 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders. (Hg.): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 42–64, hier S. 60.

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die polnische Disziplinarkammer, die Richter*innen und Staatsanwält*innen entlassen kann, einstweilen für rechtswidrig erklärt.54 Dies weist in die Richtung, dass der Europäische Gerichtshof bereit ist, eine starke Rolle bei der Durchsetzung der grundlegenden föderal-demokratischen Grundwerte der EU einzunehmen.55 Das zeigt: Die Fragen der Verbindung von Föderalismus und Demokratie, die sich vor rund 100 Jahren stellten, begegnen einem heute – wenn auch in anderem Gewand – wieder. Dies führt die Aktualität dieser Fragen vor Augen. Die Weimarer Verfassung hat es geschafft, mit der Verbindung von Föderalismus und Demokratie die Herausforderung des Systembruchs zum Kaiserreich – und der These der weitgehenden Inkompatibilität von Föderalismus und parlamentarischer Demokratie – zu bewältigen. Sie hat die Chancen eines demokratischen Föderalismus in weiten Teilen ergriffen. Zugleich hat sie so ein Erbe geschaffen, welches das deutsche Grundgesetz und unser Verfassungsverständnis bis heute beeinflusst.

54 Europäischer Gerichtshof (Große Kammer), Urteil vom 24. Juni 2019 – C-619/18 –; Beschluss vom 8. April 2020 – C-791/19 R -. 55 Vgl. auch Ulrich Karpenstein: Europa zeigt Zähne. Dreimal Polen, dreimal Neuland: Kommission und EuGH machen nun ernst, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2018, S. 97 f., hier S. 98.

Synthesen

Alexander Gallus

›Verfassungskultur‹ in der Weimarer Republik Über den schwierigen Ort einer Konstitution im Kontext mit Option zur Erfolgsgeschichte

Ist eine »Synthese«, wie dieser Schlusskommentar zu unserem Symposion »Verfassungskultur in der Weimarer Republik«1 sich im Programm angekündigt findet, so etwas ähnliches wie ein Kompromiss – jener Kompromiss, von dem hier wie auch an anderer Stelle mit Blick auf die Weimarer Verfassung und die Weimarer Geschichte überhaupt gelegentlich die Rede war? In der Theorie also ganz wunderbar, in der Praxis aber zum Scheitern verurteilt? Ich befürchte es fast und stimme kurz mit Tucholsky in das »Lied vom Kompromiss« vom März 1919 ein:2 Manche tanzen manchmal wohl ein Tänzchen immer um den heißen Brei herum, kleine Schweine mit dem Ringelschwänzchen, Bullen mit erschrecklichem Gebrumm. Freundlich schaun die Schwarzen und die Roten, die sich früher feindlich oft bedrohten. Jeder wartet, wer zuerst es wagt, bis der eine zu dem Andern sagt: (Volles Orchester) »Schließen wir ’nen kleinen Kompromiß! Davon hat man keine Kümmernis. Einerseits – und andrerseits –

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Der Vortragscharakter des Textes wurde beibehalten. Für die nur leicht überarbeitete Druckfassung habe ich insbesondere Zitatnachweise in den Fußnoten ergänzt. Kaspar Hauser [Kurt Tucholsky]: Das Lied vom Kompromiß, in: »Die Weltbühne« Nr. 12 vom 13. März 1919, S. 297, abgedruckt in: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke, Bd. 2: 1919–1920, Reinbek 1975, S. 57 f.

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so ein Ding hat manchen Reiz … Sein Erfolg in Deutschland ist gewiß: Schließen wir nen kleinen Kompromiß!« Schließen wir also einen Kompromiss und wagen uns an eine Synthese: Sie soll zunächst in der heutigen Zeit ansetzen und Konstellationen von 1918/19 mit jenen von 2018/19 konfrontieren, bevor ich einige sehr knappe allgemeine Bemerkungen zu Tendenzen der neueren Weimar-Forschung machen werde. Der zweite, ausführlichere Teil meiner Überlegungen wird sich dann Fragen der Weimarer ›Verfassungskultur‹ im Speziellen zuwenden und in mehr oder weniger punktueller Form den einen oder anderen Gedanken zu den einzelnen Beiträgen dieser Tagung formulieren.

I. Wer von heute aus auf Kriegsende, Revolution, Republikbegründung und Verfassungsgebung blickt, tut dies nicht nur aufgrund des Zentenariums. Das hoben auf dieser Tagung ganz explizit Dirk Schumann, Andreas Wirsching und Marcus Llanque hervor. Der Rückblick erfolgt auch aus einem Interesse an unserer Gegenwart, die von größerer Verunsicherung als in früheren Jahrzehnten der alten, voll konsolidierten Bundesrepublik gekennzeichnet ist. Jene Stimmen, die vor einem unheilvollen Rückgriff oder gar Rückfall in die Geschichte warnen, sind angesichts gesellschaftskritischer Impulse in den zurückliegenden Jahren lauter geworden. Neben einer Zeit neuer Kriege auf internationaler Ebene ist dann vor allem von krisengeschüttelten Demokratien die Rede. Sie drohten – das suggeriert eine Reihe zeitdiagnostischer Zwischenrufe – »abzusterben«, durch autoritäre politische Systeme ersetzt zu werden, in einem Zeitalter der Unfreiheit oder sogar einem neuen Faschismus zu enden.3 Solch mahnende Retrospektive mit Aktualitätsbezug entspringt nicht länger einem spezifischen »Weimar-Komplex«4, wie er die deutsche Debatte über

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Vgl. als Auswahl Steven Lewitsky/Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018; Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland – Amerika – Europa, München 2018; Madeleine Albright: Faschismus. Eine Warnung, Köln 2018. Die Formel findet sich bei Sebastian Ullrich: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik. 1945–1959, Göttingen 2009.

›Verfassungskultur‹ in der Weimarer Republik

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Jahrzehnte hinweg bestimmt hat, sondern einer grenzüberwölbenden, transnationalen Krisendiagnostik im gesamten »Westen«.5 Vor dem Hintergrund von Krisensymptomen innerhalb Europas wie der westlichen Demokratien allgemein und eines neuen kräftigen Populismus, der sich nunmehr auch in der deutschen Parteienlandschaft niederschlägt, erörtern Historiker und Intellektuelle die Frage nach »Weimarer Verhältnissen« als »historische Lektionen für unsere Demokratie« allerdings ebenfalls wieder von Neuem.6 Der Bundespräsident meldete sich angesichts einer wachsenden Zahl von Schmähungen in den sozialen Medien, gegen Politiker wie Verfassungsorgane, sorgenvoll zu Wort. Frank-Walter Steinmeier beklagte dort eine Sprache, die ihn »an die Missachtung und Verächtlichmachung der demokratischen Institutionen in der Weimarer Demokratie« erinnere.7 Zudem würden Kontrahenten im Diskurs nicht mehr respektiert, vielmehr allzu häufig, wie in früheren Tagen, zu politischen Feinden gestempelt. Berthold Kohler, Mitherausgeber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, teilte diese Kritik an einer erodierenden demokratischen Streitkultur, die mehr und mehr von antipluralistischen und radikalen Tendenzen gekennzeichnet sei. »Die Erinnerung Steinmeiers daran, was am Anfang vom Ende der Weimarer Republik stand«, so die Schlussfolgerung, »ist keine Übertreibung.«8 Ich will es bei diesen Andeutungen belassen. Sie genügen als skizzenhafter Beleg dafür, dass die Formel »Weimar war Weimar«9 als Ausdruck einer von Gegenwartskonstellationen unbelasteten Historisierung noch immer nicht aufzugehen verspricht. Weimar bleibt somit weiterhin Teil einer Zeitgeschichte als Problemgeschichte der Gegenwart. Dabei wird jeder Historiker, der sich für die Sicht der damaligen Zeitgenossen und erfahrungsgeschichtlich mit Reinhart Koselleck für »vergangene

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Vgl. auch Heinrich August Winkler: Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika, München 2017. In differenzierter, historisch fundierter Weise tun dies Andreas Wirsching/Berthold Kohler/Ulrich Wilhelm (Hg.): Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Ditzingen 2018. Schauen Sie sich die Beschimpfungen an? »Ja, leider!«. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über seinen Umgang mit wütenden Bürgern, über sein Treffen mit den Nationalspielern Özil und Gündogan – und zur Frage, ob er gegenüber der SPD ein schlechtes Gewissen hat, in: »Die Zeit« Nr. 24 vom 7. Juni 2018. Berthold Kohler: Das Sagbare, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 160 vom 13. Juli 2018. Benjamin Ziemann: Weimar was Weimar. Politics, Culture and the Emplotment of the German Republic, in: German History 28 (2010), S. 542–571.

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Zukunft«10 interessiert, eine rückwärtsgewandte Teleologie des Scheiterns als unzulässige Geschichtskonstruktion ablehnen. Über eine polarisierte und allzu reflexhafte Geschichtssicht ist die Weimar-Forschung inzwischen weit hinausgelangt, nicht zuletzt auch durch Impulse einer modernen politischen Kulturgeschichte, für die eine Erfolg-Scheitern-Dichotomie von nachrangiger Bedeutung ist, vielmehr Fragen nach Ausdrucks- und Kommunikationsformen, Repräsentationsstilen und Symbolik sowie Wahrnehmungsweisen, Diskursstrategien und Bewusstseinswelten nach vorne rücken. Es entwickelte sich so eine »new openness to diversity and contingency«, wie es Moritz Föllmer 2012 einmal ausdrückte.11 Geht es um eine ergebnisoffene Historisierung der Weimarer Republik rückt die Weimarer Republik als Lebensform oder wenigstens »Lebensversuch« einer modernen Demokratie,12 rücken ihre »lebende Verfassung« (so ein von Dolf Sternberger geprägter Begriff13), eine Republik der Republikaner, deren Vorstellungen von Staat und Demokratie oder deren Überlegungen zur Stabilität oder Instabilität in den Fokus. Untersucht werden Prozesse und Praktiken der demokratischen Ordnung. Dies schließt regional vergleichende, über Berlin hinausweisende Studien ein. Auch wird die Weimarer Republik immer mehr als konstitutive Phase der deutschen Demokratie und als »Ort der Demokratiegeschichte«14 wahrgenommen. Globale Vergleiche15 – die Anfang und Ende 10 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. 11 Moritz Föllmer: Which Crisis? Which Modernity? New Perspectives on Weimar Germany, in: Jochen Hung/Godela Weiss-Sussex/Geoff Wilkes (Hg.): Beyond Glitter and Doom. The Contingency of the Weimar Republic, München 2012, S. 19–30, hier S. 21; zum Stand der Politische-Kulturforschung zu Weimar siehe auch Dirk Schumann: Die Weimarer Republik. Teil III, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), S. 342–362, insbes. S. 342–355. 12 Vgl. Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; auch ders.: Von der »Whig Interpretation« zur Fragilität der Demokratie. Weimar als geschichtstheoretisches Problem, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 430–465. 13 Dolf Sternberger: Lebende Verfassung. Studien über Koalition und Opposition, Meisenheim am Glan 1956. 14 Unter diesem Schlagwort richtete der Verfasser gemeinsam mit Ernst Piper im Juni 2019 die Chemnitzer Tagung »Die Weimarer Republik als Ort der Demokratiegeschichte« aus. Siehe den Tagungsbericht von Sebastian Schäfer: Die Weimarer Republik als Ort der Demokratiegeschichte, in: H-Soz-Kult, 29. Juli 2019,  (17. Oktober 2019). 15 Siehe dazu u. a. Tim B. Müller/Adam Tooze (Hg.): Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015.

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dieser Tagung, nach Westen wie nach Osten blickend, rahmten – stützen den Abschied vom ›deutschen Sonderweg‹ einer Leiterzählung als ›Defizitgeschichte‹. Wenn wir uns an die Re-Evaluation der Weimarer Verfassung und ihrer ›Verfassungskultur‹ wagen, dann begeben wir uns in diesen im weitesten Sinne ›kulturellen‹ – hier nur kurz umrissenen – Experimentierraum demokratischer Innovationen und Traditionen.

II. ›Verfassungskultur‹ muss etwas sehr Wichtiges sein. Sonst hätte der habilitierte Verfassungsjurist und Chef des Militärischen Abschirmdienstes Christof Gramm diesem Thema im Jahr 2017 wohl kaum eine ganze Seite unter der Rubrik »Staat und Recht« in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« widmen können.16 Er argumentiert darin grundsätzlich, um ›Verfassungskultur‹ als (neue) Leitkultur und wichtige gesellschaftliche Bindekraft des bundesdeutschen Staates stark zu machen. Sein Resümee stimmt optimistisch: »Deutschland wird heute jedenfalls ganz wesentlich auch durch eine Verfassungskultur zusammengehalten, bei der Menschenwürde und Grundrechte, Gewaltverzicht und Friedlichkeit, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Gleichberechtigung, Respekt vor anderen, sozialer Schutz, die Trennung von Staat und Religion und – nicht zuletzt – eine auf diesen Grundlagen beruhende staatsbürgerliche Verantwortungsethik die Eckpfeiler darstellen.« Dies zusammengenommen würde so etwas wie eine »gemeinsame Identität im Staat des Grundgesetzes« formieren. Ungeachtet der Frage, wie sehr man den Frohmut der Zustandsbeschreibung für die aktuelle Bundesrepublik teilt, ist diese Aussage doch ein Fingerzeig für den hohen Rang von ›Verfassungskultur‹. In ihrer Bedeutung scheint sie als Identitätsstifter der Verfassung selbst kaum nachgeordnet zu sein, eventuell sogar über sie hinauszuweisen. Die historische Beschäftigung mit ›Verfassungskultur‹ erhebt in jedem Fall den Anspruch, Verfassungsgeschichte in kultur- und gesellschaftsgeschichtlicher Absicht zu betreiben, es nicht bei einer Textexegese als einem exklusiven Gegenstand der Juristen zu belassen. Wenn ich es richtig sehe, hat indes mit Peter Häberle ein Fachmann des Öffentlichen Rechts den Begriff der ›Verfassungskultur‹ erstmals in die De-

16 Christof Gramm: Verfassungskultur. Menschenwürde, Gewaltverzicht, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Gleichberechtigung, sozialer Schutz, Trennung von Staat und Religion – unsere Identität, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 166 vom 20. Juli 2017.

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batte geworfen.17 Aufgegriffen wurde er sodann insbesondere von dem Politikwissenschaftler Hans Vorländer. Liest man in seinen »Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft« nach, so erfahren wir beispielsweise einiges über die kulturelle Rückbindung von Normen, das Spannungsfeld zwischen (Verfassungs-)Text und Kontext, kollektive Vorstellungen, gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse und soziale Praktiken sowie – Häberle zitierend – über die ›Verfassungskultur‹ als einem »spezifischen Aggregatzustand« der politischen Kultur.18 Letztgenannter Begriff – jener der politischen Kultur – war im übrigen in mehreren Vorträgen (so von Christoph Gusy, Andreas Biefang und Kirsten Heinsohn, aber auch durch Wolfram Pytas Verweis auf Karl Rohe19) bevorzugt zu vernehmen, anders als jener der Verfassungskultur (den Hélène Miard-Delacroix und Dietmar Müller zwar aufgriffen, aber weniger als zentrale Kategorie ihrer Untersuchungen). Anthony McElligott nannte den Begriff einen unklaren und suchte nach historischer Konkretisierung durch die Frage nach der Veralltäglichung von ›Verfassungskultur‹, also nach ihren Produktions- und Bestandsbedingungen insbesondere im Spannungsfeld zwischen Reichs- und regionaler Ebene. Nadine Rossol sprach statt von ›Verfassungskultur‹ – in einem für ihr symbolpolitisches Thema spezifischen Sinne – von Demokratie- und Festkultur. Hier ist insgesamt also eine gewisse Skepsis gegenüber dem analytischen Mehrwert, der Präzision und methodisch fruchtbringenden Operationalisierung dieser Formel mindestens erkennbar gewesen. Dennoch dürfte ungeachtet der Begriffsverwendung kaum ein Zweifel daran bestehen, wie wichtig es ist, Konstitutionen im Kontext zu erschließen, und wie wenig Verfassungen nur vom Text allein leben.20 Um die normative Prägekraft, die gesellschaftlich-kulturelle Wirkung oder Misserfolge und Scheitern 17 Peter Häberle: »Verfassungskultur« als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften, in: Detlef Lehnert (Hg.): Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation, Köln u. a. O. 2014, S. 167–185. Der Text fußt auf dem Vortrag »›Verfassungskultur‹ in Europas Geschichte und Gegenwart« (2005). Siehe auch ders.: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1998. 18 Hans Vorländer: »Verfassungskultur« aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Lehnert, Konstitutionalismus [wie Anm. 17], S. 187–197, Häberle-Zitat: S. 189. 19 Siehe u. a. Karl Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321–346. 20 Vgl. Hans Vorländer: Verfassungen leben nicht vom Text allein. Wie die normative Kraft von Verfassungen erzeugt wird, in: Karénina Kollmar-Paulenz u. a. (Hg.): Kanon und Kanonisierung. Ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im interdisziplinären Dialog, Basel 2011, S. 79–97.

›Verfassungskultur‹ in der Weimarer Republik

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genauer taxieren können, ist auf die Ausgestaltung der ›Realverfassung‹ oder der ›Verfassungswirklichkeit‹ zu blicken, wie es in früheren Jahren für gewöhnlich hieß. Vom Scheitern der Weimarer Verfassung und ihren Konstruktionsfehlern, die im Verfassungstext bereits einen zentralen Grund für den Niedergang der Weimarer Republik erkennen lassen, war über Jahrzehnte hinweg die Rede, als sich die Bundesrepublik als Anti-Weimar definierte. Auf dieser Tagung, die eine gewisse Weimarer Verfassungseuphorie erkennen ließ, habe ich diese Auffassung nicht einmal als Minderheitsvotum wahrnehmen können. An die Stelle negativer Ableitungen traten allenfalls Ambivalenzen. Die Überführung von Verfassungstheorie in Verfassungswirklichkeit gestaltete sich mithin grundsätzlich ergebnisoffen und war vor allem abhängig von politischen Konstellationen, von gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontexten. Das schien mir eine Art Grundkonsens zu bilden. Für die Weimarer Verfassung bestand somit die Option zur Erfolgsgeschichte. Sie war »eine gute Verfassung in schlechter Zeit«, wie es Christoph Gusy neuerdings in eine griffige Formel gefasst hat.21 Christian Waldhoff stellte jüngst darüber hinaus eine anschauliche kontrafaktische Überlegung an, um das Potenzial der Weimarer Verfassung zu unterstreichen: »Ein Staat mit den politisch-sozialen Startbedingungen der Bundesrepublik hätte – zumindest lange Zeit – auch mit der Weimarer Reichsverfassung glänzend reüssiert.«22 Entfaltete das Grundgesetz also nur eine beachtliche gesellschaftsintegrierende Kraft, weil die Rahmenbedingungen, die Kontexte stimmten – oder war schon der Text dazu besser geeignet als jener der Weimarer Verfassung? Eine »Weimar-Probe« habe das Grundgesetz zum Glück nicht oder noch nicht bestehen müssen, wie die Leitartikler sowohl der »Süddeutschen Zeitung« (Heribert Prantl) als auch der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (Jasper von Altenbockum) anlässlich des Hundertjahresjubiläums der ersten deutschen Demokratie hervorhoben.23

21 Christoph Gusy: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018. Diese Formel zitierte prominent Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum Festakt »100 Jahre Weimarer Reichsverfassung« am 6. Februar 2019 in Weimar, unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2019/02/190206-Weimar-100 Jahre-Reichsverfassung.pdf;jsessionid=8F5F07B13 F2B5DB419E6234F33B00C55.1_cid362?__blob=publicationFile (17. Oktober 2019). 22 Christian Waldhoff: Folgen – Lehren – Rezeptionen: Zum Nachleben des Verfassungswerks von Weimar, in: Horst Dreier/ders. (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 289–315, hier S. 306. 23 Jasper von Altenbockum: Die Weimar-Probe, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 32 vom 7. Februar 2019; Heribert Prantl: 100 Jahre Weimarer Republik: Die Euro-

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Für die Bundesrepublik war schon bald sogar von einem »Verfassungspatriotismus« die Rede – erst während der 1970er Jahre bei Dolf Sternberger, dann ab dem »Historikersteit« auch bei Jürgen Habermas.24 Diese bundesdeutsche Form eines ›Constitutionalism‹ sollte eine emotionale Verbundenheit der Bürger mit der Verfassung ihres Staates zum Ausdruck bringen. Ein vergleichbares Phänomen ließ sich für Weimar angesichts eines ausgeprägten ideologisch verfestigten Freund-Feind-Denkens und abgeschotteter, fragmentierter sozialmoralischer Milieus kaum ausmachen. Dabei bildeten anfangs das parlamentarische Vertrauen oder sogar Ur-Vertrauen, von dem Andreas Wirsching sprach, neben einer eindeutigen parlamentarischen Machtposition durchaus eine hoffnungsvoll stimmende Basis für einen auf die Zukunft setzenden »Modus der Verheißung« (Bernd Weisbrod), der allerdings schon ab 1920 in einen Modus der Enttäuschung umschlagen und andersartige Modi der Verheißung in Form eines überschießenden Utopismus und Dezisionismus als erstarkende Konkurrenz erhalten sollte. Wie schwer es grundsätzlich war, im Übergang zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik eine neue symbolische Macht zu erzeugen, das unterstrich Andreas Biefang. Und dennoch: An Versuchen, eine entsprechende Bindekraft sogar ganz aktiv zu erzeugen, mangelte es keineswegs. Die Verfassungsfeiern am 11. August, die uns Nadine Rossol nochmals so plastisch bis in die Alltagswelt reichend vor Augen führte, gaben dem Ausdruck. Es fragt sich indes, ob hier nicht noch stärker innere Spannungen innerhalb der wohl wichtigsten republikstützenden Kraft, der gemäßigten Sozialdemokratie, gegenüber dieser bürgerlichen Verfassung herauszustreichen sind. Es war ihren Anhängern nicht leicht zu vermitteln, weshalb die neue Verfassung nicht vorrangig an den Massen der Arbeiterbewegung ausgerichtet war, hatten sie doch wesentlich die Revolution im Herbst 1918 vorangetragen. Die Reduktion auf eine »bürgerliche Umgestaltung«, so der von Wirsching zitierte Friedrich Naumann, hielt ein erhebliches Reservoir für Frustration und Unruhe bereit. Daraus entsprang der Wunsch nach einer nachholenden oder ›zweiten Revolution‹. päer müssen den Ernst der Stunde erkennen (5. Februar 2019), unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/weimarer-republik-eu-europawahl-1.4317124 (17. Oktober 2019). 24 Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 23. Mai 1979; siehe auch ders.: Verfassungspatriotismus, Frankfurt a. M. 1990; Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/ Zürich 1987, S. 62–76, hier S. 75 (zuerst in: »Die Zeit« Nr. 29 vom 11. Juli 1986). Zur Einordnung siehe Jan-Werner Müller: Verfassungspatriotismus, Berlin 2010.

›Verfassungskultur‹ in der Weimarer Republik

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Eine Traditionsbildung in affirmativer Absicht gestaltete sich vor diesem Hintergrund alles andere als einfach und eindeutig, wie die unterschiedlichen Auffassungen über die »richtige« Gestaltung der Zehn-Jahres-Feiern in den Jahren 1928 belegen sollten. Innerhalb der Sozialdemokratie konkurrierte der 9. November als der Tag der Revolution schon seit längerem mit dem 11. August als dem Tag der Verfassung. Eine gewisse innere Zerrissenheit zeigte sich auch, als das sozialdemokratisch dominierte »Reichsbanner« 1928 mit schwarzrotgoldenen Fahnen die Republikgründung feierte, während auf der SPD -Feier im Berliner Sportpalast rote Fahnen das Bild dominierten. Hob der Festredner auf der »Reichsbanner«-Kundgebung zur »Geburtsstunde der Republik« die staats- und demokratiepolitische Verantwortung der Sozialdemokratie hervor, die »manchmal ohne Rücksicht auf Parteiinteressen bis an die letzte Grenze des Tragbaren« zu gehen hatte, so schlug mit Wilhelm Dittmann der Festredner auf der SPD -Veranstaltung einen klassenkämpferischen Ton an, noch feierlich umhüllt vom gemeinsamen Singen der »Internationale«.25 War das republikanische Repräsentationsdefizit, so betrachtet, nicht doch größer, als es alle Staatssymbolik suggerieren mochte? Es erweckte zuweilen den Anschein, als schlügen zwei Herzen in der Brust der Sozialdemokratie, die sich einerseits als klassenbewusste Partei der Revolution verstand, andererseits ihre klassenübergreifende Verantwortung als Hüterin von Demokratie und Verfassung betonte. Das nicht zu leugnende Sozialismus-Defizit der Neuordnung bot dauerhaft eine Angriffsfläche. Auch dies sorgte für beständigen Missmut und für eine blockierte ›Verfassungskultur‹. Hinter dem angedeuteten Problemkomplex schimmert die weiter gesteckte, nicht leicht zu beantwortende Frage durch: Wie republikanisch waren die Republikaner eigentlich? Sie verdient weitere Untersuchung, statt die mittlerweile – freilich zu Recht – verneinte Formel von der ›Republik ohne Republikaner‹ in eben dieser Weise gebetsmühlenartig zu wiederholen. Wie verhielten sich schließlich die Begriffe ›republikanisch‹, ›demokratisch‹ und ›parlamentarisch‹ zueinander, welche zeitgenössischen Verständnisse bestanden, und auf welchen Traditionen beruhten sie? Wenn von einer blockierten ›Verfassungskultur‹ die Rede ist, darf nicht unterschlagen werden, dass es nicht an Versuchen mangelte, Blockaden zu lösen. So gab der Grundrechteteil der Weimarer Verfassung einer sozial-integrierenden Absicht von Anfang an Ausdruck. Der Grundrechteteil war – für Horst Dreier – »als Symbol der Einigkeit und des Aufbruchs in eine neue, sozial gerechtere, 25 Vgl. Friederike Schubart: Zehn Jahre Weimar – Eine Republik blickt zurück, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 134–159, Zitate S. 145.

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von den Ideen der Freiheit und Gleichheit beherrschte und von einem starken Bürgersinn geprägte Gesellschaft konzipiert«.26 Auch ein sozialpolitischer Anspruch der Verfassung war sehr hoffnungsvoll und konstruktiv vorhanden, wie beispielhaft Gerd Bender, bei allen Tücken auf dem Weg der Verwirklichung, plausibel machen konnte. So schwierig die Kontextbedingungen sich erwiesen, wurde damals doch zukunftsweisend das Fundament eines demokratischen Sozialstaats mit Potenzial gelegt. Diesen nannte Anselm Doering-Manteuffel 2012 sogar modellhaft – und nach dem Zweiten Weltkrieg: in konkreter Form modellbildend.27 Mit Blick auf den Weimarer Föderalismus und Hugo Preuß als Innovator hat Almut Neumann Vergleichbares gezeigt.28 In dieselbe Richtung zielten ganz allgemein in den letzten Jahren diverse Überlegungen Tim B. Müllers zum Entstehungs- und Formungsprozess einer liberalen und sozialen Demokratie – eine Art »Töpferkurs in Demokratie« – während der Zwischenkriegszeit.29 Dies ist zugleich als Mahnung zu verstehen, die Weimarer Republik und ihre Verfassungsordnung nicht in geradezu idealtypischer Weise am Konzept einer voll ausgebildeten westlich-pluralistischen Demokratie zu messen, stattdessen stärker vielfältige Zeiterfahrungen und widersprüchlich erscheinende Zeitschichtungen zu berücksichtigen, für die uns Andreas Wirsching erneut sensibilisierte. Hélène Miard-Delacroix sprach zu Recht von der Einübung und Erprobung des Pluralismus, der noch nicht als selbstverständlich galt und sich vielfach im Widerstreit mit zeitgenössischen Einheits- wie Homogenitätsbedürfnissen befand, auf die auch Kathrin Groh und Wolfram Pyta hinwiesen. Christoph Gusy erwähnte die »Herausbildung von Pluralismustheorien«, die aber erst »langfristig zukunftweisend werden sollten«. Zum Zeitpunkt der Begründung der Weimarer Republik mag man in ihnen sogar eine Überforderung der kontinuitäts- und harmoniebedachten Bevölkerung erkennen.30 Auf das 26 Horst Dreier: Grundrechtsrepublik Weimar, in: ders./Waldhoff: Anatomie [wie Anm. 22], S. 175–194, hier S. 193. 27 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Weimar als Modell. Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36 Nr. 6 (2012), S. 23–36. 28 Vgl. neuerdings auch Almut Neumann: Preußen zwischen Hegemonie und »Preußenschlag«. Hugo Preuß in der staatsrechtlichen Föderalismusdebatte, Tübingen 2019; sowie allgemein: Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, Stuttgart 2018. 29 Siehe dazu meine Würdigung von Müller/Tooze, Normalität [wie Anm. 15]: Alexander Gallus: Experimente mit einer dynamischen Staatsform. Töpferkurs: Tim B. Müller und Adam Tooze erhellen die Geschichte der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 261 vom 10. November 2015. 30 Vergleichbare Gedanken finden sich zur Novemberrevolution bei Karl Heinrich Pohl: Eine »schädliche Revolution«. Überlegungen zu den Ereignissen im Winter 1918/19,

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spannungsreiche Verhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie, auf die schwierige Genese und den langwierigen wechselseitigen Aneignungsprozess von liberalem und demokratischem Denken machte Markus Llanque aufmerksam. Weimar war ein ideengeschichtlicher Experimentierraum, weit entfernt vom fertigen Produkt eines kompromissgeneigten Konsensliberalismus.31 Seit jeher hatte die Weimarer Verfassung mit Kritik zu kämpfen, zumal in der gedanklich ganz im Kaiserreich verhafteten Staatsrechtslehre. So bemerkte der große Religionssoziologe Ernst Troeltsch einmal bissig, wie sehr »in manchen juristischen Kollegien«, sobald nur das Wort »Reichsverfassung« falle, »gescharrt« werde.32 Aber auch der grundsätzlich mit ihr sympathisierende linke Staatsrechtler Otto Kirchheimer nannte sie im Jahr 1930 eine »Verfassung ohne Entscheidung«.33 Dies führt zu der Frage, ob es überhaupt eine Verfassung mit Entscheidung auf dem Papier geben kann, oder ob dies nicht den Einfluss derer, die sie in je spezifischen Situationen ausüben und interpretieren, unterschätzt. Vielfältige Argumente dafür, Kirchheimer zu widersprechen, lieferten die Betrachtungen Walter Mühlhausens und Wolfram Pytas zu den beiden Reichspräsidenten und Kathrin Grohs zum schweren Stand einer demokratischen Staatsrechtslehre.34 Konservative Beharrungskräfte, sei es in Gestalt konkreter Personen, universitärer Strukturen oder gesellschaftlicher Traditionen konnten durch die Verfassung nicht hinwegentschieden werden. Wie weit Verfassungstext, -auslegung und -wirklichkeit auseinanderliegen konnten, dies verdeutlichte auch Kirsten Heinsohn an Fragen von Geschlechterordnung und Gleichberechtigung.

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in: Andreas Braune/Michael Dreyer (Hg.): Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort, Stuttgart 2019, S. 271–288. Dazu nun so umfassend wie grundlegend Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018. Ernst Troeltsch, Die Welle von rechts (Januar 1920), in: ders.: Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), hg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Nikolai Wehrs, Berlin 2015, S. 218–228, hier S. 222. Otto Kirchheimer: Weimar … und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung [1930], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik, hg. von Hubertus Buchstein, Baden-Baden 2017, S. 209–250, hier S. 246. Siehe auch deren große Studien dazu: Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006; Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2007; Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010.

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III. Wie sehr Ideal und Wirklichkeit, Verfassungstext und ›Verfassungskultur‹ auseinanderklaffen konnten, das hat diese Tagung ebenso nüchtern wie detailliert evaluiert – so müsste es im heutigen Universitätsdeutsch wohl heißen. Emotionaler und sprachlich eleganter tat Kurt Tucholsky in der ›Weltbühne‹ regelmäßig sein Leiden am Auseinanderdriften von Anspruch und Wirklichkeit der von ihm an sich geschätzten Weimarer Verfassung gegenüber einer anders gearteten politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit kund. Ihm kam das Ganze wie ein regelrechter »Verfassungsschwindel« vor, so formulierte er es Ende Oktober 1926 einmal. Also nach der Zäsur von 1925, die Jörn Leonhard betonte, und im Einklang mit 1926, dem Wendejahr, das Anthony McElligott hervorhob. Kathrin Groh hatte darüber hinaus bereits 1923/24 im Angebot – eine Jahreswende, die gemeinhin für den Beginn einer Stabilitätsperiode steht, obwohl sich bei genauerer Betrachtung ab jener Zeit das Krisenszenario eines parlamentarischen Systems verstärkte, das sich einer zunehmenden Kritik ausgesetzt sah, wie sie in besonders wirkungsvoller Weise Carl Schmitt in seinen Betrachtungen »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« (1923/1926) formulierte. Dies verweist auf die weiter zu behandelnde Frage nach der Periodisierung ›verfassungskultureller‹ Prozesse zwischen 1918 und 1933. Nun aber zum Abschluss nochmals Tucholsky: Ich zitiere ihn nicht, weil darin eine Art resümierende Wahrheit liegen würde, sondern weil Tucholsky selbst Teil einer spannungsreichen Wahrnehmungs- und Aneignungsgeschichte ist, wie sie einer Konfrontation aus Erwartung und Erfahrung entspringt und die den zeitgenössischen Horizont ohne den nachträglich erhobenen Zeigefinger gelten lässt. Ich zitiere ihn außerdem, weil es sich grundsätzlich fast immer lohnt Tucholsky zu zitieren, so kompromisslos wie irrtumsanfällig und jeder abwägenden Synthese abhold er war. Nach den Hindenburg-Wahlen von 1925 zweifelte er noch mehr als ohnehin am realrepublikanischen Charakter, wie er von der Verfassung ausstrahlen sollte. Mit einer Mischung aus Spott und Resignation hieß es über sie: Diese da ist ein Hütchen, das sich ein gänzlich ungewandelter Koloss spaßeshalber aufs linke Ohr setzt – eine Papiertüte zum politischen Bockbierfest und für höhere Feiertage. Bei der Arbeit nimmt man sie ab.35 35 Ignaz Wrobel [Kurt Tucholsky]: Verfassungsschwindel, in: »Die Weltbühne« Nr. 43 vom 26. Oktober 1926, S. 646–648, hier S. 646, wieder abgedruckt in: Kurt Tucholsky:

›Verfassungskultur‹ in der Weimarer Republik

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Ab jener Zeit nahmen Tucholskys Zweifel an der Verwirklichung einer vitalen und politisch durchdringenden ›Verfassungskultur‹ weiter zu. Auch bei prinzipiellen Unterstützern der Weimarer Verfassung machte sich Skepsis gegenüber ihrer Erfolgsoption unter den konkreten Kontextbedingungen breit. Für Tucholsky jedenfalls schien sich die Schlussformel seines Kompromiss-Liedes mehr und mehr zu bewahrheiten: Und durch Deutschland geht ein tiefer Riß. Dafür gibt es keinen Kompromiß.36

Gesammelte Werke, Bd. 4: 1925–1926, Reinbek 1975, S. 527–529, hier S. 528. 36 Hauser, Lied [wie Anm. 2].

Anna-Bettina Kaiser

Integration durch Verfassungsrecht? Die Weimarer Verfassungskultur auf dem Prüfstand

I. Integration als Schlüsselbegriff der Tagung Eine Tagungssynthese fragt nach dem Verbindenden der Vorträge, nach einem Schlüsselbegriff der drei Veranstaltungstage. Tatsächlich ließ sich auf dieser Tagung ein derartiger Schlüsselbegriff ausmachen. Es gab einen Begriff, der in nahezu allen Vorträgen auftauchte, mal zentral, mal beiläufig, der aber doch immer präsent war. Dieser Schlüsselbegriff war derjenige der Integration.1 In der Tat sind alle oder fast alle Vorträge explizit oder implizit der Frage nachgegangen, inwiefern Verfassungsrecht, einfaches Recht, vor allem aber auch die Verfassungskultur der Weimarer Zeit integrativ oder desintegrativ wirkten. Teilweise wurden auch verwandte Begriffe verwendet wie derjenige des Kompromisses – denn was leistet der Kompromiss anderes, als zwei oder mehr divergierende Positionen zu integrieren? Relativierend ist hinzuzufügen, dass die Vorträge den Integrationsbegriff sicher unterschiedlich verwendet haben. Die Multiperspektivität dieser Tagung ergab sich aber weniger aus den unterschiedlichen Integrationsbegriffen als vielmehr aus der Betonung ganz unterschiedlicher Integrations- und Desintegrationsfaktoren. Das soll im Folgenden entfaltet werden.

II. Integration als Brückenbegriff Vorab ein methodischer Hinweis: Dass wir auf dieser Tagung zum 100-jährigen Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung unterschiedliche Integrations- und Desintegrationsfaktoren in den Blick nehmen konnten, verdanken wir dem 1

Explizit auf das Begriffswort Integration nehmen Bezug Bender, Mühlhausen, MiardDelacroix, Gusy, Groh, Müller, Biefang und Rossol.

Integration durch Verfassungsrecht?

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kulturwissenschaftlichen Ansatz, der dem Tagungskonzept zugrunde lag.2 Dementsprechend hat diese Tagung explizit nach der Integrationsleistung der Weimarer Reichsverfassung gefragt.3 Dabei ist freilich entscheidend, dass deren Integrationskraft, dem kulturwissenschaftlichen Ansatz gemäß, nicht einseitig am Verfassungstext festgemacht wurde, sondern an der Implementierung der Verfassung. Um mehr über die Verfassungspraxis zu erfahren, wurde dezidiert die damalige Verfassungskultur in den Blick genommen. Auf diese Weise wurde das Reden über Verfassung »aus einer juristischen Engführung«4 befreit, und das aus gutem Grund: Wenn wir mit Hans Vorländer davon ausgehen, dass Verfassungen »symbolische, keine feststehenden Ordnungen« sind, die »Ordnungsbehauptungen und Geltungsansprüche« aufstellen, »sie aber von sich aus nicht einlösen« können,5 dann richtet sich das Augenmerk zwangsläufig auf weitere Integrationsfaktoren, die eine Integration durch Recht überhaupt erst ermöglichen. Dieser Ansatz hat seinerseits Weimarer Wurzeln, geht er doch maßgeblich auf die Integrationslehre Rudolf Smends zurück.6 Auch Smend wollte den Staat nicht als statisches Gebilde begreifen, sondern vielmehr als dynamischen Vorgang, dem die Aufgabe der Integration zukommen sollte.7 Und er betonte bekanntlich in methodischer Hinsicht die Notwendigkeit eines geisteswissenschaftlichen Ansatzes. Dementsprechend unterschied auch er bereits zwischen verschiedenen Integrationstypen:8 der persönlichen Integration, die Führung und Repräsentation in den Vordergrund stellt; der funktionellen Integration, die auf Vorgänge abstellt, »deren Sinn eine soziale Synthese ist« – zu denken ist etwa an Wahlen und die Arbeit im Parlament; und schließlich der sachlichen Integration, die auf den gemeinsamen Wertebestand, eine verbindende Kultur anspielt.

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Siehe die Einleitung zu diesem Band. Vgl. auch Hans Vorländer (Hg.): Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002. So im Anschluss an Peter Häberle die Forderung von Hans Vorländer: »Verfassungskultur« aus politikwissenschaftlicher Perspektive – Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hg.): Verfassungs-Kultur. Staat, Europa und pluralistische Gesellschaft bei Peter Häberle, Baden-Baden 2016, S. 27–37, hier S. 35. Vorländer, »Verfassungskultur« [wie Anm. 4], S. 35. Vorländer [wie Anm. 4] bezieht sich auf Häberle und damit auf die Smend-Schule. Rudolf Smend: Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S. 119 (136). Siehe auch Manfred Mols: Art. Integration, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Dritter Bd., Freiburg 71987, Sp.  111–118.

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Der hier nur angedeutete geisteswissenschaftliche Ansatz Smends ermöglichte in der Vergangenheit ein wissenschaftliches Gespräch zwischen (unter anderem) Politikwissenschaftlern, Historikern und Verfassungsrechtlern. Integration wurde zum Brückenbegriff zwischen den verschiedenen Disziplinen, auch auf dieser Tagung. In der folgenden Synthese soll differenziert werden zwischen Integration durch Verfassunggebung, durch den Verfassungstext, dann aber durch die implementierenden Praxen, nämlich einfaches Recht, Amtsinhaber, Parteien als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft, verwendete Symbole u. v. m. Gerade in dieser Differenzierung zeigt sich, dass das Funktionssystem des Rechts nicht überschätzt werden darf, sondern von anderen gesellschaftlichen Systemen abhängig ist. Freilich: All die genannten Faktoren können sich auch als Desintegrationsfaktoren erweisen. Wir wissen, dass sich die zerstörerischen Kräfte in der Weimarer Republik am Ende durchsetzten. Doch welches waren die maßgeblichen Integrations- und Desintegrationsfaktoren, die auf dieser Tagung herausgearbeitet wurden?

III. Integrations- und Desintegrationsfaktoren 1. Integration durch Verfassunggebung Beginnen möchte ich mit dem Verfassunggebungsprozess. Christoph Gusy hat in seinem Vortrag ein Paradox präsentiert: In einer denkbar fragmentierten Gesellschaft unter »desaströsen äußeren Rahmenbedingungen« fand in der Nationalversammlung ein Verfassunggebungsprozess statt, der »pluraler, informierter, politisch und gesellschaftlich anschlussfähiger, offener und besser legitimiert« nicht hätte sein können. Bemerkenswert sei überdies die hohe Konsensbereitschaft gewesen.9 Auch Andreas Wirsching und Kathrin Groh sprachen im Hinblick auf die Weimarer Nationalversammlung von einer »Sternstunde«. In der Tat, mehr kann von Verfassunggebung als integrierendem Prozess nicht erwartet werden. Wie außergewöhnlich dieser Prozess war, zeigte zum einen Gusys Vergleich mit der Verfassunggebung in den einzelnen Ländern. Dort herrschte – zugespitzt gesagt – Mittelmaß; ein Visionär, wie es Hugo Preuß für die Reichsebene war, fehlte. Zum anderen konnte Dietmar Müller an Beispielen aus

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Christoph Gusy, in diesem Band (Zitate auf S. 97).

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Osteuropa belegen, dass dort bereits der Verfassunggebungsprozess durch Fragmentierung geprägt war. Es ist bedenklich – und darauf hat vor allem Kathrin Groh hingewiesen –, wie schnell die Sternstunde der Nationalversammlung kleingeredet wurde. Auch diese Destruktion ist Teil der Weimarer Verfassungskultur. 2. Integration durch Verfassungsrecht? Doch wie verhält es sich mit dem Ergebnis des Verfassunggebungsprozesses, der Weimarer Reichsverfassung? In einem kürzlich erschienenen Beitrag von Gertrude Lübbe-Wolff heißt es dazu: »An der grundlegendsten Aufgabe jeder Verfassung, […] an der Aufgabe der Integration der Bürger zu friedlicher politischer Einheit, ist die Weimarer Verfassung gescheitert.«10 (Auch Lübbe-Wolff spricht bezeichnenderweise von Integration!) Stein des Anstoßes ist für LübbeWolff insbesondere das »Weimarer Demokratiekonzept«.11 Diese Tagung kam insgesamt – gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Integration – zu einer deutlich positiveren Einschätzung der Weimarer Reichsverfassung. Zwar hat insbesondere Andreas Wirsching zu Recht herausgestrichen, dass die Mischung unterschiedlicher Demokratiekonzepte (hier also das Zusammentreffen von Elementen parlamentarischer, präsidentieller und direkter Demokratie) zu Reibungen, Widersprüchen und letztlich zu Desintegration führen könne, man denke auch an Großbritannien und das gegenwärtige BrexitDrama. Doch legten die Vorträge von Walter Mühlhausen, Wolfram Pyta, aber auch Anthony McElligott nahe, dass für das Scheitern der Weimarer Republik weniger das constitutional design als die verschiedenen Amtsinhaber verantwortlich zu machen sind.12 Marcus Llanque wendete den Dualismus ReichstagReichspräsident sogar ins Positive, würdigte ihn als positiven Kompromiss der Verfassung und grenzte sich damit deutlich von der Kritik Carl Schmitts an den »dilatorischen Formelkompromissen« der Weimarer Reichsverfassung ab. Weitere integrierende Faktoren der Weimarer Reichsverfassung, die auf dieser Tagung positiv hervorgehoben wurden, kommen hinzu. Hier ist zunächst an den Föderalismus zu denken. Für eine Integration sorgte insoweit insbesondere

10 Gertrude Lübbe-Wolff: Das Demokratiekonzept der Weimarer Reichsverfassung, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 111–149, hier S. 114. 11 Lübbe-Wolff, Demokratiekonzept [wie Anm. 10], S. 148. 12 Siehe auch Hans Boldt: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, München 1990, S. 253: »In dieser krisenhaften Position kam es vielmehr auf das Verhalten der Personen in den entscheidenden Positionen an.«

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die im Vergleich zur Bismarck’schen Reichsverfassung neu eingeführte Homogenitätsklausel des Art. 17 WRV; sie sicherte den neu geschaffenen demokratischen Föderalismus ab, wie Almut Neumann unterstrich. Desintegrierende Wirkung mag zwar weiterhin dem Übergewicht Preußens zugekommen sein. Hugo Preuß hatte sich mit seiner Vorstellung eines symmetrischen Föderalismus gerade nicht durchgesetzt. Doch entwickelte sich bekanntlich ausgerechnet Preußen zum »Hort der Demokratie«, so dass sich nicht sagen lässt, dass sich die Desintegrationsgefahr des asymmetrischen Föderalismus realisiert habe. Weitere Beispiele für die integrative Kraft der Verfassung nannten Kirsten Heinsohn im Hinblick auf die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern (wenn auch abgestuft, man denke an das relativierende Wort »grundsätzlich« in Art. 109 Abs. 2 WRV ) und Gerd Bender/Eberhard Eichenhofer mit Bezug auf die in der Verfassung verankerte Sozialpartnerschaft. Dass eine Regelung ambivalent, also integrativ und desintegrativ zugleich wirken kann, machte das Zusammenspiel der Vorträge von Kathrin Groh und Hélène Miard-Delacroix einerseits sowie Andreas Biefang andererseits zum Verhältniswahlsystem nach Art. 22 Abs. 1 S. 1 WRV deutlich. Während dem Verhältniswahlsystem von Groh und Miard-Delacroix eine große integrative Kraft bescheinigt wurde, bildet dieses Wahlsystem doch die Gesellschaft in ihrer Vielfarbigkeit ab, konnte Biefang zeigen, dass das (absolute) Mehrheitswahlrecht des Kaiserreichs auf andere Weise integrativ gewirkt hatte, nämlich durch die Identifikation eines Wahlkreises mit seinem Kandidaten. Und doch kann insgesamt als Zwischenergebnis festgehalten werden: Die Integrationschancen, die mit dem Prozess der Verfassunggebung 1919 verbunden waren, wurden durch die konkrete Ausgestaltung der Verfassung überwiegend auch ergriffen. 3. Desintegration durch mangelnden Verfassungsvollzug Der dritte Punkt nimmt die Desintegration durch mangelnden Verfassungsvollzug in den Blick. An dieser Stelle sei an den Ausspruch von Hugo Preuß erinnert, den Walter Mühlhausen an den Anfang seines Vortrags gestellt hat: Die eigentliche Verfassungsarbeit beginne erst mit Verabschiedung der Verfassung. Auch Preuß stand also deutlich vor Augen, dass der Verfassungstext allein noch nicht viel besagt, vielmehr die tägliche Verfassungskultur über Wohl und Wehe der Republik entscheiden würde. Doch gerade die letztgenannten Beispiele, nämlich Geschlechtergerechtigkeit und Sozialpartnerschaft, haben sehr deutlich gemacht: Die hohen Integrationserwartungen, die die WRV versprach, konnten häufig nicht eingelöst werden. So wurde das einfache Recht nicht zugunsten der Frau geändert, es blieb bei

Integration durch Verfassungsrecht?

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deren Diskriminierung im Ehe- und Scheidungsrecht und in vielen anderen Bereichen. Heinsohn resümierte: Die Verfassung war zwar (relativ) innovativ und integrativ, wurde aber nicht ausreichend umgesetzt. Diese Einsicht lässt sich auch auf andere Grundrechte übertragen. Der Befund führte zu drei Zwischenergebnissen der Tagung: – Durch den mangelnden Verfassungsvollzug entpuppte sich die Weimarer Reichsverfassung als Verfassung der »Verheißung«13. – Durch ihren Modus der Verheißung hat die Weimarer Reichsverfassung die Desintegration bzw. Polarisierung sogar vorangetrieben. – Auch das Grundgesetz musste erst eine Verfassungskultur entwickeln, die dem Verfassungstext, gerade dem Grundrechtsteil, die Bedeutung verlieh, die ihm heute zukommt. Der Weimarer Reichsverfassung fehlte hierzu schlicht die Zeit. 4. Integration und Desintegration durch Akteure und Symbole Der vierte Punkt der Synthese geht auf die Akteure des Verfassungsvollzugs sowie auf Symbole und deren Rolle in der täglichen Verfassungskultur ein. Dass der Reichstag den progressiven Rahmen der Verfassung häufig konservativ ausfüllte, wurde bereits anhand der Beispiele Geschlechtergerechtigkeit und Sozialpartnerschaft erwähnt. Diese Tagung hat das Augenmerk aber vor allem auf die beiden Reichspräsidenten gelegt. Ebert wurde von Walter Mühlhausen als Reichspräsident skizziert, der seine Kompetenzen und Befugnisse zwar weit und großzügig interpretierte (auf die Kosten hierfür wies Jörn Leonhard hin), aber nie gegen die Republik einsetzte; er erwies sich als echte Integrationsfigur. Ganz anders Hindenburg: Eindrücklich war die Schilderung Wolfram Pytas von der Lektüre der Reichsverfassung durch Hindenburg, die dieser wie einen Schlachtplan verstand: Seine Befugnisse unterstrich er blau, die des Reichstags in feindesrot. Dass jemand, der so denkt, nicht der geeignete Hüter der Verfassung einer Krisenrepublik sein würde, ist offensichtlich. Wie Obstruktion und Aushöhlen der Verfassung durch die Verwaltung vor Ort aussehen konnte, machte McElligott am Beispiel Herbert von Bismarcks anschaulich, der von 1918 bis 1931 Landrat im Pommerschen Kreis Regenwalde war und seine mangelnde Unterstützung für die erste deutsche Demokratie

13 Begriff nach Bernd Weisbrod: Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und die Formveränderung der Politik, Köln u. a. 2000, S. 13–41, hier S. 31.

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durch fehlendes Hissen der Fahne und ähnliche symbolische Handlungen deutlich dokumentierte. Für eine Tagung, die einem kulturwissenschaftlichen Ansatz folgt, ist schließlich die Frage nach der Integration durch Symbole und durch Repräsentation zentral. Insoweit haben wir zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Ansätze präsentiert bekommen. Während Andreas Biefang die Schwächen der Repräsentation der neuen Ordnung herausgearbeitet hat, relativierte Nadine Rossol den Befund durch den Hinweis, die Weimarer Republik habe durchaus Symbolpolitik betrieben, etwa durch Verfassungstage. Bei näherem Hinsehen ergänzen sich die beiden Einschätzungen. Gerade weil insbesondere Reichspräsident Ebert (siehe Mühlhausen und Biefang), aber auch der Reichstag (Biefang) zu einer Integration durch Repräsentation nicht ausreichend in der Lage waren, versuchte das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold diese Lücke zu füllen. 5. Desintegration durch fehlende demokratische Praxen Dass Erfahrungen mit demokratischen Praxen zentral sind, darauf wies MiardDelacroix hin. Für Frankreichs weitere Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg sei nicht nur der Sieg in diesem Krieg wesentlich gewesen, sondern vor allem die Praxis der 3. Republik: »Das Anschließen oder eben Nicht-anschließen-Können an eine demokratische Erfahrung in einer Zeit der extremsten Erschütterung scheint im deutsch-französischen Vergleich ausschlaggebend gewesen zu sein.« Eben dieser Erklärungsansatz könnte sich auch für die aktuelle politische Entwicklung als entscheidend erweisen, wenn es darum geht zu erklären, weshalb gegenwärtig mehrere osteuropäische Länder den demokratischen Weg verlassen.

IV. Integration durch Verfassungsrecht setzt den »Willen zur Verfassung« voraus Das Ende ist bekannt: Die Weimarer Republik ist gescheitert, was lange Zeit gerade auch der Weimarer Reichsverfassung angelastet wurde. Diese Tagung hat das überkommene Narrativ ein Stück weit relativiert. Die Weimarer Verfassung war überwiegend integrativ konzipiert, konnte aber in der Praxis nicht alle Integrationsversprechen einlösen und wirkte dadurch wiederum desintegrierend. Vor allem aber war sie – wie jede andere Verfassung auch – auf den »Willen zur Verfassung« (Konrad Hesse) angewiesen. Ein solcher Wille fehlte vielen zentralen Weimarer Akteuren. Sie haben die Weimarer Republik bewusst zerstört.

Anhang

Abkürzungen ADAP Akten zur deutschen auswärtigen Politik ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund AdR Akten der Reichskanzlei AVAVG Gesetz über Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung BarchB Bundesarchiv Berlin BDF Bund Deutscher Frauenvereine BGB Bürgerliches Gesetzbuch BRG Betriebsrätegesetz DDP Deutsche Demokratische Partei DMV Deutscher Metallarbeiter-Verband DNVP Deutschnationale Volkspartei Drucks. Drucksachen DVP Deutsche Volkspartei EUV EU-Vertrag (Vertrag über die Europäische Union) FRUS Foreign Relations of the United States GStAPK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Hg./hg. Herausgeber/herausgegeben ILO International Labour Organization KPD Kommunistische Partei Deutschlands LAB Landesarchiv Berlin OHL Oberste Heeresleitung PAAA Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin PPC The Paris Peace Conference Prot. Protokoll/e RGbl. Reichsgesetzblatt RM Reichsmark SFIO Section française de l’Internationale ouvrière SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StGB Strafgesetzbuch StGH Staatsgerichtshof TVVO Tarifvertragsverordnung USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VRT Verhandlungen des Reichstags WP Wahlperiode WRV Weimarer Reichsverfassung WTB Wolff’s Telegraphisches Büro ZAG Zentralarbeitsgemeinschaft (der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands)

Personenregister Personen im Fließtext werden generell hier aufgeführt. Ausgenommen sind Verfasser und Verfasserinnen der vorliegenden Beiträge, soweit sie im Zusammenhang mit den Aufsätzen in diesem Band erwähnt werden. Von den in den Fußnoten genannten Personen werden nur die zeitgenössischen gelistet. Namen in Literaturangaben bleiben unberücksichtigt. Abegg, Wilhelm  198, 200 Ablaß, Bruno  39, 324 Agulhon, Maurice  56 Albert, Heinrich  147 Alexandar (I.) Karađorđević, König von Jugoslawien  134 Allemann, Fritz René  9 Altenbockum, Jasper von  367 Anschütz, Gerhard  20, 40, 43, 75, 83, 153, 169, 210, 304, 315, 340, 349, 355 Arnold, Karl  251 Barabbas  308 Baranowski, Shelley  193 Bauer, Gustav  144 Baum, Marie  263, 267 Bäumer, Gertrud  45, 263 Bebel, August  245 Behrend, Hans-Karl  189 Bender, Gerd  378 Berndt, Emil  206 Bessel, Richard  13 Beyerle, Konrad  158, 301 Bilfinger, Carl  347 Bismarck, Hedwig von (geb. Harnier)  190 Bismarck, Herbert von  28, 185, 190 f., 194–200, 379

Bismarck, Herbert von (Sohn)  191 Bismarck, Maria von  190 Bismarck, Otto von  41, 43, 167, 186, 190 f., 229, 301, 344, 350, 378 Bismarck, Philipp von  190 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  27, 356 Boldt, Hans  60 Bonhoeffer, Dietrich  200 Boris (III.), König von Bulgarien  134 Bracher, Karl Dietrich  9 f., 40, 159 Brandt, Gustav  233 f. Braun, Otto  102, 153 f., 196, 200, 347, 350 Brecht, Arnold  188, 205, 224 Bredt, Johann Victor  247 Briand, Aristide  63 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf  71, 77, 150 Bröger, Karl  213 Brüning, Heinrich  152, 156, 178 f. Bülow, Bernhard von  232 Busch, Matthias  220 Büttner, Ursula  9, 14 Cabanes, Bruno  53 Cancik, Pascale  261 Carol II., König von Rumänien  134 Cassel, Gustav  291 f.

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Personenregister

Clark, Christopher  92 Clemenceau, Georges  53, 59, 64, 81–83 Cohn, Oskar  37, 40, 61, 187 Corinth, Lovis  235 Cuno, Wilhelm  62, 142, 145–147 Darwin, Charles  318 Daudet, Léon  63 David, Eduard  36, 303 Delbrück, Clemens von  33 Deschamps, Louis  55 Deschanel, Paul  62 Dewitz, Jürgen von  253 Di Fabio, Udo  185, 187 Dietrich, Hermann  210 Dittmann, Wilhelm  369 Dix, Otto  242 Doering-Manteuffel, Anselm  370 Dohna, Alexander Graf zu  42 Dreier, Horst  43, 260, 369 Duguit, Léon  110 Düringer, Adelbert  316 Ebert, Friedrich  20, 25, 28, 33, 35 f., 41, 62, 70, 103, 137–158, 168 f., 206, 209, 211, 231 f., 235 f., 239, 263, 300, 302, 379 f. Ehard, Hans  301 Eichenhofer, Eberhard  378 Elias, Norbert  52 Erzberger, Matthias  152 Fehrenbach, Constantin  144 Fischer, Richard  41, 62 Flatow, Georg  288 Föllmer, Moritz  204, 364 Fraenkel, Ernst  42, 288 Friesenhahn, Ernst  10

Gadamer, Hans-Georg  163 Gaus, Friedrich  82 Gayl, Wilhelm von  180, 205, 210 Georg II., König von Griechenland 134 Gessler, Otto  137, 148 f., 155, 157 Gierke, Otto von  343 f. Goethe, Johann Wolfgang von  209 Graf, Rüdiger  204 Gramm, Christof  365 Gröber, Adolf  47 Groener, Wilhelm  179, 300, 302 Grosz, George  242 f. Gusy, Christoph  260, 367 Haas, Ludwig  42 Haase, Hugo  37 Häberle, Peter  261, 365 f. Habermas, Jürgen  368 Haenisch, Konrad  146 Halbe, Paul  246 f. Halfern, Carl von  196 Hamburger, Ernst  190 Hardtwig, Wolfgang  15 Harnier, Hedwig von (siehe Bismarck, Hedwig von) Hauptmann, Gerhart  210 Haußmann, Conrad  72, 74 f., 77–79, 168 Heine, Wolfgang  42 Heinemann, Hugo  285 Heinze, Rudolf  33, 41, 301 Heller, Hermann  20, 26, 316 Hergt, Oskar  147 Herriot, Edouard  61 Hesse, Konrad  380 Heuss, Theodor  138, 208 Hieber, Johannes von  185 Hindenburg, Oskar von  160 f.

Personenregister

Hindenburg, Paul von  28, 62 f., 68, 103, 150, 152, 155 f., 158–183, 185, 196, 198–200, 236–238, 254, 269, 372, 379 Hintze, Otto  66, 85 Hitler, Adolf  130, 160, 179, 181 f., 199 f., 254, 260 Hobbes, Thomas  254 Hodža, Milan  133 Höhnen, Leopold  193 f., 196 Höltermann, Karl  216 Höpken, Wolfgang  131 Horne, John  53 Horthy, Miklós  115, 133 Huber, Ernst Rudolf  67 Hugenberg, Alfred  181, 196, 200 Hummel, Hermann  209 Jahn, Friedrich Ludwig  209 Jarres, Karl  210 Jauß, Hans Robert  161 Jellinek, Georg  342 Jesus (von Nazareth)  306, 309 Juchacz, Marie  265 Kahl, Wilhelm  75 Kahn-Freund, Otto  275, 285 Kapp, Wolfgang  144, 148, 189, 247, 290 Kardorff, Siegfried von  210 Katzenstein, Simon  73 Kaufmann, Erich  343 Kelsen, Hans  20, 26, 74, 297, 304–307, 309, 314, 316, 318, 320, 335 Kessler, Harry Graf  231 Kirchheimer, Otto  297, 307, 313 f., 316, 321, 371 Kleist-Retzow, Jürgen von  190

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Kleist-Retzow, Maria (siehe Bismarck, Maria von) Koeth, Joseph  55 Kohler, Berthold  363 Koselleck, Reinhart  34, 363 Köster, Adolf  211 Krumeich, Gerd  64 Külz, Wilhelm  210 Kun, Béla  133 Laband, Paul  168, 327 Lambach, Walther  253 Landsberg, Otto  36, 156 Lassalle, Ferdinand  46 Leber, Julius  188, 195 Legien, Carl  282, 285, 289, 291, 294, 300 Lepsius, Oliver  175 Lersner, Kurt Freiherr von  81–83, 173 Liebknecht, Karl  151, 254 Lippmann, Julius  193 f. Liszt, Franz von  74 Löbe, Paul  33 Lübbe-Wolff, Gertrude  377 Ludendorff, Erich  68 Lüders, Marie-Elisabeth  264, 270 Luppe, Hermann  217, 265 f. Luther, Hans  269 Lüttwitz, Walter von  144, 148, 189 Luxemburg, Rosa  151 Mac Mahon, Patrice Graf de  62 Maniu, Iuliu  133 Mann, Heinrich  186 f. Mann, Thomas  210 Marx, Wilhelm  147 f., 171, 269 Maurras, Charles  63 Max, Prinz von Baden  141

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Personenregister

Mayer, Eugen  171 Meinecke, Friedrich  38, 47, 61, 349 Meissner, Otto  155, 181 f. Menzel, Walter  301 Mergel, Thomas  226 Metaxas, Ioannis  134 Mierendorff, Carlo  223 Millerand, Alexandre  62 Misch, Carl  222 f. Molkenbuhr, Hermann  61 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de  166 Mosse, George L.  57 Müller, Hermann  144 Müller, Tim B.  370 Mun, Albert de  60 Muncy, Lysbeth  190, 198 Napoléon Bonaparte  254 Naumann, Friedrich  35, 47 f., 139, 263 f., 368 Noske, Gustav  40, 148, 151, 231, 301 Oncken, Hermann  185 Orlik, Emil  235 Ossietzky, Carl von  222 Papen, Franz von  42, 154 f., 179– 181 Päts, Konstantin  133 Payer, Friedrich von  33 Petersen, Carl  139, 210 Peukert, Detlev  14 Pfannkuch, Wilhelm  50 Pichon, Stéphen  81 Pilatus, Pontius  306 f., 309 Piloty, Robert  97 Piłsudski, Józef  127, 133

Pinkerneil, Friedrich August  187 Platz, Hermann  210 Pohl, Heinrich  84 Poincaré, Raymond  63, 70 Polk, Frank L.  83 Posadowsky-Wehner, Arthur Graf von  36, 265 Prantl, Heribert  367 Preuß, Hugo  27–42, 44, 47, 61, 71, 73, 76–78, 92, 95–97, 137 f., 157, 169, 229, 263, 303 f., 333, 338, 343–350, 352 f., 355 f., 370, 376, 378 Pünder, Hermann  179 Quarck, Max  75 f., 79, 266 Radbruch, Gustav  186, 188, 195, 200, 210 Raithel, Thomas  226 Rathenau, Walther  141, 149 f., 152, 205 f., 276 Redslob, Edwin  211–214, 217 Redslob, Robert  39 Rohe, Karl  14 f., 366 Rojek, Sebastian  164 Rosen, Frederic  149 Röwekamp, Marion  261 f. Salomon, Erich  239–241 Scheidemann, Philipp  36, 47 f., 51, 139, 144 Schilling, Erich  252 Schleicher, Kurt von  162, 173, 179 Schmitt, Carl  17, 67, 82, 86, 90, 158, 162, 176, 293 f., 297, 302, 307–316, 319–321, 330, 335 f., 339, 347, 372, 377 Schmoller, Gustav  275

Personenregister

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Schönberger, Christoph  228 Schücking, Walther  50 Schulz, Wilhelm  238 Scott, James Brown  83 Seeckt, Hans von  146–149 Severing, Carl  185, 188, 195, 197 f., 210 Siemens, Carl Friedrich von  291 Simson, Ernst von  77, 79 Sinzheimer, Hugo  285 Smend, Rudolf  17, 26, 297, 315– 321, 375 f. Smetonas, Antanas  133 Sollmann, Wilhelm  206 Spahn, Martin  181 Stambolijski, Aleksandŭr  132 Stampfer, Friedrich  158 Stegemann, Hermann  171 f. Stein, Adolf  177 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum  209 Steinberg, Ludwig  223 Steiner, Zara  130 Steinmeier, Frank-Walter  363, 367 Sternberger, Dolf  364, 368 Stinnes, Hugo  282 f., 285, 289, 294, 300 Stresemann, Gustav  146 f., 149, 271 Švehla, Antonín  133

Troeltsch, Ernst  371 Tucholsky, Kurt  161, 302, 361, 372 f.

Tantzen, Theodor  149 Teusch, Christine  265 Thoma, Richard  20, 302, 307, 315, 331 f.

Zechlin, Walter  161 Zietz, Luise  266, 301 Zogu, Ahmet (Zogu I., König von Albanien)  133

Ulmanis, Kãrlis  133 Unruh, Fritz von  210 Vaillant, Edouard  60 Venizelos, Eleftherios  130 Vogel, Hugo  236 f. Vorländer, Hans  187, 366, 375 Waldhoff, Christian  367 Weber, Max  33, 47, 61, 140, 283, 309 Weisbrod, Bernd  34, 368 Welzbacher, Christian  211 Wiedfeldt, Otto  150 Wilhelm II., deutscher Kaiser  11, 35, 141, 149, 174, 186, 230–232, 235 Wilson, Woodrow  68–72, 85 Wirth, Joseph  145, 150 f., 185, 187, 209 f. Witos, Wincenty  133 Wittig, Arthur  249 f. Wittmayer, Leo  83 Wolff, Theodor  161 Wolgast, Ernst  79 Young, Owen D.  196, 340

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Gerd Bender, Wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (Arbeitsrechtsgeschichte, industrielle Beziehungen, Rechtssoziologie), Frankfurt a. M.; Veröffentlichungen u. a.: Herausforderung Tarifautonomie. Normative Ordnung als Problem, in: Thomas Duve/Stefan Ruppert (Hg.): Rechtswissenschaft in der Berliner Republik (2018), S. 697–725; Verbetrieblichung. Historische Aspekte, in: Olaf Deinert u. a. (Hg.): Demokratisierung der Wirtschaft durch Arbeitsrecht (2018), S. 34–39; Tarifautonomie vor Gericht. Ausgangspunkte eines institutionellen Arrangements, in: Peter Collin (Hg): Justice without the State within the State (2016), S. 141–154. Andreas Biefang, Dr. phil., stellvertretender Geschäftsführer bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Veröffentlichungen u. a.: Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im »System Bismarck« 1871–1890 (2009); Hg. mit Marij Leenders: Das ideale Parlament. Erich Salomon als Fotograf in Berlin und Den Haag 1928–1940 (2014); Leopold Braun (1868–1943). Kunst, Politik, Bohème und die Frage: Wozu malt man ein Parlament? (2018). Alexander Gallus, Dr. phil., Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz; Veröffentlichungen u. a.: Hg.: Die vergessene Revolution von 1918/19 (2010); Heimat »Weltbühne«. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert (2012); Mithg.: Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik (2020). Kathrin Groh, Dr. jur., Professorin für Öffentliches Recht, Staatslehre und Staatskirchenrecht an der Universität der Bundeswehr München; Veröffentlichungen u. a.: »Mit Ihren Gedanken werden Sie in Bayern schön auflaufen«. Der Preuße Hugo Preuß, die Weimarer Reichsverfassung und die Bayern (2018); Sozialstaatspostulate und Grundrechtsdimensionen. Normative Wurzeln des Grundgesetzes in der Weimarer Reichsverfassung (2019); Räterepublik in Theorie und Verfassungsrecht. Hans Kelsen und Robert Piloty (2020). Christoph Gusy, Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte in Bielefeld; Veröffentlichungen u. a.: Weimar – die wehrlose

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Republik? (1991); Die Weimarer Reichsverfassung (1997); 100 Jahre Weimarer Verfassung (2018). Kirsten Heinsohn, Dr. phil., stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg; Veröffentlichungen u. a.: Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive (2010); Hg. mit Klaus Weinhauer und Anthony McElligott: Germany 1916–1923. A Revolution in Context (2015); mit Claudia Kemper: Geschlechtergeschichte, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden (2012), S. 329–351. Anna-Bettina Kaiser, Dr. jur., LL.M., Professorin für Öffentliches Recht und Grundlagen des Rechts an der Humboldt-Universität zu Berlin; Veröffentlichungen u. a.: Die Kommunikation der Verwaltung. Diskurse zu den Kommunikationsbeziehungen zwischen staatlicher Verwaltung und Privaten in der Verwaltungsrechtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland (2009); Hg.: Der Parteienstaat. Zum Staatsverständnis von Gerhard Leibholz (2013); Ausnahmeverfassungsrecht (2020). Marcus Llanque, Dr. rer. soc., Professor für Politische Theorie, Universität Augsburg; Veröffentlichungen u. a.: Hg. mit Gérard Raulet: Die Geschichte der Politischen Ideengeschichte (2018); Hermann Heller and the Republicanism of the Left in the Weimar Republic, in: Jus Politicum, Bd. 23 (2019); Paternalismus und bürgerschaftliche Selbstregierung: Elemente republikanischer Argumentation bei den Gründern des Grundgesetzes, in: Alexander Gallus/Sebastian Liebold/Frank Schale (Hg.): Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik (2020). Anthony McElligott, PhD., Emeritus Professor of History, University of Limerick (Irland); Veröffentlichungen u. a.: Rethinking the Weimar Republik: Authority and Authoritarianism, 1916–1936 (2013); Hg. mit Klaus Weinhauer und Kirsten Heinsohn: Germany 1916–1923: A Revolution in Context (2015); Hg. mit Jeffrey Herf: Antisemitism Before and Since the Holocaust: Altered Contexts and Recent Perspectives (2017). Hélène Miard-Delacroix, Dr. phil., Professorin für Deutsche Geschichte und Kultur an der Sorbonne Université Paris; Veröffentlichungen u. a.: Willy Brandt (frz. 2013) (engl.: Willy Brandt, Life of a Statesman, 2016); Im Zeichen der

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Europäischen Einigung. 1963 bis in die Gegenwart. Deutsch-französische Geschichte Band 11 (2011); mit Andreas Wirsching: Von Erbfeinden zu guten Nachbarn. Ein deutsch-französischer Dialog (2019) (frz.: Ennemis héréditaires? Un dialogue franco-allemand, 2020). Walter Mühlhausen, Dr. phil., Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Stiftung Reichspräsident-Friedrich Ebert-Gedenkstätte, apl. Professor an der Technischen Universität Darmstadt; Veröffentlichungen u. a.: Friedrich Ebert (1871–1925). Reichspräsident der Weimarer Republik (2007); Das große Ganze im Auge behalten. Philipp Scheidemann – Oberbürgermeister von Kassel 1920–1925 (2011); Das Weimar-Experiment. Die erste deutsche Demokratie 1918–1933 (2019). Dietmar Müller, PD Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-­Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) sowie am LeibnizInstitut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO); Veröffentlichungen u. a.: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzeptionen, 1878–1941 (2005); Hg. mit Anna Kaminsky und Stefan Troebst: Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer (2011); Bodeneigentum und Nation. Rumänien, Jugoslawien und Polen im europäischen Vergleich (1918–1948) (2020). Almut Neumann, Dr. jur., Licence en droit und LL.M. (LSE), Richterin in Berlin; Veröffentlichungen u. a.: Preußen zwischen Hegemonie und ›Preußenschlag‹ – Hugo Preuß in der staatsrechtlichen Föderalismusdebatte (Tübingen 2019). Marcus M. Payk, Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte an der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg; Veröffentlichungen u. a.: Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg (2018); Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik (2008); Hg. mit Roberta Pergher: Beyond Versailles. Governance, Legitimacy, and the Formation of New Polities after the Great War (2019). Wolfram Pyta, Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart; Veröffentlichungen u. a.: Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik (1987); Hindenburg (2007); Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse (2015).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Nadine Rossol, PhD, Senior Lecturer in Modern European History, University of Essex (Großbritannien); Veröffentlichungen u. a.: Performing the Nation in Interwar Germany 1926–1936 (2010); Hg.: Kartoffeln, Frost und Spartakus. Weltkriegsende und Revolution 1918/19 in Essener Schüleraufsätzen (2018); Hg. mit Benjamin Ziemann: The Oxford Handbook of the Weimar Republic (2021). Dirk Schumann, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen; Veröffentlichungen u. a.: Politische Gewalt in der Weimarer Republik: Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg (2001); Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik (2013); Hg. mit Gabriele Metzler: Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik (2016) Andreas Wirsching, Dr. phil.; Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München– Berlin und Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Veröffentlichungen u. a.: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft (2. erw. Aufl. 2008); Hg. mit Berthold Kohler und Ulrich Wilhelm: Weimarer Verhältnisse. Historische Lektionen für unsere Demokratie (2018); Hg. mit Elizabeth Harvey, Johannes Hürter und Maiken Umbach: Private Life and Privacy in Nazi Germany (2019); mit Hélène Miard-Delacroix: Von Erbfeinden zu guten Nachbarn. Ein deutsch-französischer Dialog (2019) (frz.: Ennemis héréditaires? Un dialogue franco-allemand, 2020).