Historisches und kritisches Wörterbuch: Zweiter Teil der Auswahl 9783787317868, 3787317864

Pierre Bayles "Dictionnaire historique et critique" (1. Aufl. 1697) ist als die "Bibel" oder, in den

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Historisches und kritisches Wörterbuch: Zweiter Teil der Auswahl
 9783787317868, 3787317864

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PIERRE BAYLE

Historisches und kritisches Wörterbuch Zweiter Teil der Auswahl

Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 582

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN-13: 978-3-7873-1786-8 ISBN-10: 3-7873-1786-4

© Felix Meiner Verlag 2006. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Einbandgestaltung: Jens Peter Mardersteig. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Pierre Bayle Historisches und kritisches Wörterbuch Vorrede zur ersten Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . Abdas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Acosta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 28 34

Amphiaraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anaxagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ancillon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 56 104

Andronicus, Marcus Pompilius. Arkesilaos, der Philosoph . . . . Arminius . . . . . . . . . . . . . . . Arriaga . . . . . . . . . . . . . . . .

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119 121 137 145

Aureolus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beaulieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 157

Charron . . . Conecte . . . Eva . . . . . . . Geldenhaur Gregor i. . . .

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170 195 203 231 241

Hobbes . . . . . . . Hoffmann . . . . . Jonas, der Prophet. Kainiten . . . . . .

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250 264 270 278

VI

Inhalt

Karneades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288 313 318

La Mothe le Vayer Leukipp . . . . . . . . . Lukrez. . . . . . . . . . Luther . . . . . . . . . Majus . . . . . . . . . . Mariana . . . . . . . .

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327 356 377 417 428 440

Melanchthon Mohammed . . Ovid . . . . . . . Pellisson . . . . Ruffi . . . . . . .

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451 468 542 575 588

Ruggeri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sara. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sennert, Daniel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

601 614 641

Simonides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Socinus, Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

659 683

Synergisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

716 736 746

Zenon, der Epikureer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zoroaster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

753 763

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

785

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VORWORT

Nachdem die Herausgeber im Jahr 2003 einen ersten Band mit einer Auswahl von gut dreißig Artikeln aus Bayles Dictionnaire historique et critique in neuer deutscher Übersetzung innerhalb der »Philosophischen Bibliothek« vorgelegt haben, folgt hier anläßlich des 300. Todestages Bayles (28. 12. 1706) und aufgrund der positiven Resonanz, die jener Band beim Publikum gefunden hat, der zweite und abschließende Teil der Auswahlausgabe. Wiederum wurden philosophisch relevante Artikel des Dictionnaire mit breiter Streuung der Themen ausgewählt, um Bayles Beitrag zur Diskussion damals wie heute zentraler Fragen der Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, Religionsphilosophie, Staatstheorie und Toleranz zu präsentieren. Zusammen mit den bereits publizierten liegen nunmehr gut achtzig Artikel und andere Texte aus dem Dictionnaire in neuer Übersetzung vor, die einen detaillierten Eindruck von Bayles Denken auf den verschiedensten Gebieten der Philosophie bieten und zugleich die Argumentationszusammenhänge sichtbar werden lassen, in denen und gegen die sich die europäische Frühaufklärung formierte. Anläßlich einiger kritischer Stimmen zu der Zusammenstellung der Artikel in Bd. I dieser Auswahl sei angemerkt, daß jede denkbare Teilausgabe der insgesamt 2051 Artikel des Originals Wünsche offen lassen muß und sich der ganze Reichtum der geistigen Welt Bayles dem Leser nur durch das Studium des Gesamtwerks in den alten Ausgaben oder im Nachdruck erschließt. Dieses Leseabenteuer kann die vorliegende Studienausgabe schon aufgrund ihrer im Vergleich zum Original immer noch schmalen Textbasis nicht ersetzen und erhebt auch gar nicht einen solchen Anspruch. Sie ist vielmehr für philosophisch interessierte Leser und die Verwendung im akademischen Unterricht konzipiert; aus gutem Grund erscheint sie deshalb innerhalb der »Philosophischen Bibliothek«.

VIII

Vorwort

Das sukzessive Erscheinen dieser zwei Bände bringt es mit sich, daß die Artikel nicht in alphabetischer Anordnung stehen. Dies ist jedoch lediglich ein Schönheitsfehler, der die Benutzbarkeit der Bände in keinerlei Hinsicht einschränkt, weil die einzelnen Artikel jeweils für sich stehende abgeschlossene Texteinheiten sind. Die Übersetzung und Präsentation der Artikel erfolgt gemäß den Richtlinien des ersten Bandes, über die dort Rechenschaft abgelegt wurde. Die Literaturangaben ergänzen die damalige Bibliographie um die zwischenzeitlich erschienenen einschlägigen Titel. Zu danken haben die Herausgeber den Mitarbeitern an diesem Band. Wibke Korf, Daniel Lizius und Matthias Wehry haben bei der Texterfassung, der Überprüfung der Zitate Bayles und dem Korrekturlesen geholfen. Katrin Schneider hat darüber hinaus das Namenregister erstellt. Die Druckvorlage ist wiederum von Edith Schwantzer mit der gewohnten Umsicht erstellt worden. Dank gebührt nicht zuletzt der Universitätsbibliothek Mannheim für die mitunter aufwendige Beschaffung der von uns gewünschten Literatur. Bochum und Mannheim Ostern 2006 Günter Gawlick / Lothar Kreimendahl

BIBLIOGRAPHIE

Bianchi, Lorenzo: Un dibattito sull’ateismo agli inizi del XVIII secolo. La polemica D. Durand – P. Bayle sul caso Vanini. In: Francesco Paolo Raimondi (Hg.): Giulio Cesare Vanini dal tardo Rinascimento al »libertinisme érudit«. Atti del convegno di studi, Lecce-Taurisano, 24-26 ottobre 1985. Lecce 2003, 177–212. Bost, Hubert: Intolérance, tolérance et liberté de conscience dans le »Dictionnaire« de Bayle. In: Lothar Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«. Hamburg 2004. [=Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte Bd. 16], 137–160. Brahami, Frédéric: Théories sceptiques de la politique: Montaigne et Bayle. In: Gianni Paganini (Hg.): The Return of Scepticism. From Hobbes and Descartes to Bayle. Dordrecht, Boston, London 2003, 377–392. De Lorenzis, Tommaso: I paradossi di Zenone e la critica dello spazio in Pierre Bayle. Dianoia. Annali di storia della filosofia 8 (2003), 103–134. Dierse, Ulrich: Bemerkungen über Bayles Verhältnis zu Descartes und Spinoza. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 177–190. Gawlick, Günter: Ciceros Präsenz in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 49–66. Gilardi, Roberto: Hume, Bayle e il »principio di causalità«. Parte I. Rivista di filosofia neoscolastica 88 (1996), 421–455; Parte II., 595–623. Gros, Michel: L’art d’écrire dans les Éclaircissements du »Dictionnaire historique et critique« de Pierre Bayle. Revue

X

Bibliographie

philosophique de la France et de l’Étranger 195 (2005), 21–37. Holden, Thomas: Bayle and the Case for Actual Parts. Journal of the History of Philosophy 42 (2004), 145–164. Hossenfelder, Malte: Antiker und baylescher Skeptizismus. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 21–36. Kreimendahl, Lothar (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«. Hamburg 2004. [=Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte Bd. 16]. ders.: Bayles »Klarstellung über die Manichäer« In: ders. (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 161–176. Larivière, D. Anthony / Lennon, Thomas M.: Bayle on the Moral Problem of Evil. In: Elmar J. Kremer / Michael J. Latzer (Hgg.): The Problem of Evil in Early Modern Philosophy. Papers presented at the conference held at the University of Toronto, Sept. 3–5, 1999. Toronto 2001, 101–118. Lennon, Thomas M.: Did Bayle Read Saint-Evremond? Journal of the History of Ideas 63 (2002), 225–237. ders.: Bayle on Hobbes’s Alleged Atheism. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 67–78. ders.: A Rejoinder to Mori. Journal of the History of Ideas 65 (2004), 335–341. [zu Mori 2004] Lodge, Paul / Crowe, Benjamin: Leibniz, Bayle and Locke on Faith and Reason. American Catholic Philosophical Quarterly 76 (2002), 575–600. Lomonaco, Fabrizio: Religious Truth and Freedom of Conscience in Noodt and Barbeyrac: the Confrontation with Bayle. In: Paganini (Hg.): The Return of Scepticism, a. a. O., 415–430. Lorenz, Stefan: Die Darstellung der mittelalterlichen Philosophie in Bayles »Dictionnaire historique et critique«. Beobachtungen zu Voraussetzungen, Quellen und Besonderhei-

Bibliographie

XI

ten. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 95–110. McKenna, Antony: La norme et la transgression: Pierre Bayle et le socinianisme. In: Pierre Dubois (Hg.): Normes et transgressions au XVIIIe siècle. Paris 2002, 117–136. Minerbi Belgrado, A.: Il percorso di Bayle verso l’ateismo. Rivista di filosofia, no. 1 (2002), 35–63. Mori, Gianluca: Pierre Bayle on Scepticism and »Common Notions«. In: Paganini (Hg.): The Return of Scepticism, a. a. O., 393–413. ders.: Bayle, Saint-Evremond, and Fideism: A Reply to Thomas M. Lennon. Journal of the History of Ideas 65 (2004), 323–334. ders.: A Short Reply. Journal of the History of Ideas 65 (2004), 343–344. [zu Lennon 2004] Mulsow, Martin: Einige Bemerkungen zu Pierre Bayles Beziehungen zu Deutschland. Mit einem Anhang: Ein unveröffentlichtes Gespräch mit Bayle. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 233–241. Páez, Andrés: Bayle, Hume y los molinos de viento. Ideas y Valores 113 (2000), 29–44. Paganini, Gianni: Hume, Bayle e i »Dialogues Concerning Natural Religion«. Giornale critico della filosofia italiana 83 (2002), 234–263. ders.: La philosophie du »Dictionnaire« dans les »Dialogues« de Hume. Une clef pour la palinodie de Philon? In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 213–232. ders.: Scepticisme, véracité et omnipotence divine à l’aube des lumières: le cas de Pierre Bayle. In: M. A. Bernier / S. Charles (Hgg.): Scepticisme et modernité. Saint-Etienne 2005, 25– 64. Perez, Joseph: Carlos V. en el »Diccionario« de Bayle. Iberoromania, no. 54 (2001), 119–130. Piaia, Gregorio: Pierre Bayle e il medio evo. In: Revista de filosofia 46, (2001), 457–466.

XII

Bibliographie

ders.: Gli aristotelici padovani al vaglio del »Dictionnaire historique et critique«. In: ders. (Hg.): La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità. Atti del colloquio internazionale in memoria di Charles B. Schmitt (Padova, 4–6 settembre 2000). Padua 2002, 419–443. Ryan, Todd: Bayle’s Defense of Mind-Body Dualism. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 191–211. Schachter, Jean-Pierre: Pierre Bayle, Matter, and the Unity of Consciousness. Canadian Journal of Philosophy 32 (2002), 241–266. Schröder, Winfried: Zwei ›tugendhafte Atheisten‹. Zum Verhältnis von Moral und Religion bei Bayle. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 9–20. Solère, Jean-Luc: Bayle et les apories de la science divine. In: Oliver Boulnois / Jakob Schmutz / Jean-Luc Solère (Hgg.) : Le contemplateur et les idées. Modèles de la science divine du néoplatonisme au XVIIIe siècle. Paris 2002, 271–326. Sommer, Andreas Urs: Zur ›Geschichtsphilosophie‹ in Bayles »Dictionnaire historique et critique«. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 79–94. Stricker, Nicola : Die Theologie Bayles im »Dictionnaire historique et critique«. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 111–136. Völkel, Markus: Bayles Umgang mit seinen Quellen. In: Kreimendahl (Hg.): Die Philosophie in Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, a. a. O., 37–48. Zarka, Yves Charles: L’idée de critique chez Pierre Bayle. Revue de Métaphysique et de Morale (1999), 515–524.

pierre bayle Historisches und kritisches Wörterbuch Zweiter Teil der Auswahl

Abb.: Faksimile einer Seite aus Bayles Dictionnaire historique et critique mit dem Anfang des Artikels SARA (stark verkleinert).

VORREDE ZUR ERSTEN AUSGABE

Tausenderlei Dinge hätte ich in dieser Vorrede vorzutragen, aber weil ich das nicht ohne eine Weitläufigkeit tun könnte, die den Rahmen sprengen und den Leser gleich eingangs abstoßen würde, will ich mich lieber beschränken, als seinen Geschmack zu verletzen. Ich begnüge mich daher mit fünf oder sechs Punkten.

I. Warum dieses Werk nicht gemäß dem 1692 veröffentlichten Entwurf ausgeführt worden ist (Man sehe diesen Entwurf am Ende dieses Dictionnaire, Band IV, S. 606 ff.)* An erster Stelle will ich mitteilen, daß dieses Werk nicht dasjenige ist, das ich in dem 1692 publizierten Entwurf zu einem Dictionnaire critique versprochen hatte. Der Einwand, dem ich besonders aufmerksam Rechnung getragen habe und zuvorgekommen bin, ist eben der, auf den man das größte Gewicht gelegt hatte, um den Entwurf zu verwerfen, dem ich folgen wollte; und vielleicht haben viele Leser ihn nur deshalb nicht für gut befunden, weil sie merkten, daß ich mich sehr anstrengte, den Einwand zu widerlegen. Was immer aber auch die Ursache gewesen sein mag, es wäre nicht klug gewesen, sich dem allgemeinen Geschmack zu widersetzen; vielmehr verlangte es die gute Ordnung, daß ich mein Unternehmen aufgab, weil jedermann zu dem Urteil kam, daß so gut wie all die Fehler, die ich in den  Dieser Text nicht aufgenommen in die vorliegende Sammlung. Es handelt sich dabei um die Dissertation qui fut imprimée au devant de quelques Essais ou Fragmens de cet ouvrage l’an MDCXCII, sous le titre »Projet d’un Dictionnaire Critique« (…). Die genannte Band- und Seitenangabe bezieht sich auf die vierbändige Ausgabe des Dictionnaire historique et critique von 1740. Hgg.  *

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Historisches und kritisches Wörterbuch

Artikeln des Entwurfs erwähnt hatte, für das Publikum kaum von Interesse sind. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, ein Wörterbuch der Fehler zu erstellen: Zur Vollkommenheit eines derartigen Werks ist es erforderlich, daß sämtliche Fehler, die kleinen wie die großen, darin verzeichnet sind; denn es trägt fraglos zur Vollkommenheit eines Wörterbuchs der Geographie oder einer Landkarte bei, wenn alle Kleinstädte und Dörfer darin verzeichnet sind. Weil also gerade die beste Art und Weise, meinen Entwurf auszuführen, dem Murren der Öffentlichkeit in besonderem Maße ausgesetzt gewesen wäre, weil sie viele wenig bedeutsame Anmerkungen bedingt hätte, mußte ich zu dem Entschluß kommen, den Plan aufzugeben; ich mußte glauben, daß angesichts des Zeitgeschmacks der Entwurf meines Unternehmens selbst einen wirklichen Defekt hatte, der durch die Ausführung niemals hätte behoben werden können. Wenn ich denjenigen etwas entgegenhalten soll, die behauptet haben, daß die meisten der von mir gerügten Irrtümer belanglos sind, dann dies, daß sie voraussetzen, daß nicht alle von dieser Art sind. Ich hingegen behaupte, daß es keinen Irrtum gibt, der von Bedeutung wäre, und daß allgemein gesprochen Irrtümer selbst dann, wenn sie denjenigen ähneln sollten, die von den größten Kritikern angemerkt worden sind,1 nichts zum öffentlichen Wohl beitragen können. Von derartigen Dingen hängt das Schicksal des menschlichen Geschlechtes nicht ab. Eine Erzählung, die auf gröbster Unkenntnis beruht, ist genauso geeignet, Leidenschaften zu erwecken wie die größte historische Sorgfalt. Sagt zehntausend ganz ungebildeten Leute von der Kanzel herab, daß die Mutter Coriolans von ihm dasjenige erhalten hat, was »weder das heilige Kollegium der Kardinäle, noch der Papst selbst, die ihm entgegengingen, jemals hätten erhalten können«,2 so verschafft ihr ihnen dieselbe Vorstellung von der 1

Man prüfe die Anmerkungen von Scaliger über die Chronique des Eusebius. Man wird feststellen, daß sich seine Korrekturen auf die Verwechslung eines Zeitpunkts, eines Ortes, eines Personennamens usw. beschränken. 2 In der 1693 in Holland gedruckten Recueil des bons mots, wird S. 123 versichert, daß dies tatsächlich gepredigt worden ist.

Vorrede zur ersten Ausgabe

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Macht der heiligen Jungfrau, als wenn ihr keinen Schnitzer begangen hättet. Sagt ihnen: »Ihr Christen! Es ist seltsam, daß ihr nicht von dem Anblick unseres Retters Jesus Christus berührt werdet, der am Stamm des Kreuzes und von Schlägen völlig zerfetzt hängt, wo doch der Herrscher Pompeius beim Anblick der von Pfeilen durchbohrten Elefanten des Pyrrhus von Mitleid erfaßt wurde;«3 ihr würdet damit eine ebenso große Wirkung hervorrufen, als wenn ihr etwas ganz Zutreffendes über Pompeius sagtet. Es steht also fest, daß die Aufdeckung von Irrtümern4 weder für das Wohlergehen des Staates noch der Privatpersonen wichtig oder förderlich ist. Folgendermaßen habe ich meinen Plan geändert, um den Geschmack des Publikums besser zu treffen. Ich habe meine Arbeit in zwei Teile geteilt: der eine ist rein historisch und eine kurzgefaßte Erzählung der Fakten. Der andere ist ein großangelegter Kommentar, eine Sammlung von Beweisen und Untersuchungen, in die ich die Richtigstellung verschiedener Fehler einfließen lasse und gelegentlich sogar eine Reihe philosophischer Reflexionen; kurz: genügend Abwechslung, so daß ich glauben darf, daß Leser jedweder Art an der einen oder anderen Stelle etwas ihnen Zusagendes finden werden. Diese neue Einrichtung hat alle Vorkehrungen über den Haufen geworfen, die ich getroffen hatte. Die meisten Materialien, die ich zusammengetragen hatte, konnte ich nicht mehr gebrauchen; ich mußte mit der Arbeit von vorne beginnen. Meine Hauptabsicht war es, die Fehler von Herrn Moréri und die aller anderen ähnlichen Wörterbücher aufzuzeigen. Bei der Suche nach zwingenden Beweisen zum Aufweis dieser Fehler und zu ihrer Richtigstellung fand ich, daß verschiedene antike wie moderne Autoren an denselben Stellen gestrauchelt sind. Und weil Herr Moréri weit mehr Fehler auf dem Gebiet der 3

In den Furetieriana wird S. 127 der Brüsseler Ausgabe versichert, daß Furetière dies in Flandern predigen hörte. 4 Ich spreche hier von Irrtümern im Bereich des Tatsächlichen und nehme Irrtümer bezüglich der Religion davon aus. Hinsichtlich der ersteren werde ich gelegentlich Ausnahmen machen.

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Historisches und kritisches Wörterbuch

Mythologie und der römischen Genealogie begangen hat als in der modernen Geschichte, hatte ich vornehmlich Datensammlungen über die Götter und Helden des Heidentums sowie über die großen Männer des antiken Rom zusammengetragen. Das geplante Werk hätte eine Unzahl von Artikeln ähnlich denen über ACHILLES, BALBUS und die CASSIUS meines Entwurfs enthalten. Alle diese weitläufigen Sammlungen sind für mich nutzlos geworden, denn ich begriff, daß nur sehr wenige Leute Gefallen an diesen Dingen finden und daß ein Folioband, der fast ausschließlich derartige Gegenstände behandelt, in den Magazinen der Buchhändler vermodern würde. Man wird feststellen, daß ich diese Warnung beachtet habe; es finden sich nur wenige Artikel dieser Art in meinen zwei Bänden*, und vielleicht würde man hier gar nicht auf sie stoßen, wenn sie nicht bereits völlig fertiggestellt gewesen wären, bevor ich über den Geschmack des Lesers ganz im Bilde war.

II. Gründe, weshalb dieses Werk nicht in kurzer Zeit geschrieben werden konnte Das war der eine Grund, der die Veröffentlichung dieses Werks verzögert hat. Viele andere haben ebenfalls dazu beigetragen. Ich hatte es mir zunächst als ein Gesetz vorgeschrieben, nichts über das zu sagen, was sich bereits in den anderen Wörterbüchern findet, oder zumindest die Wiederholung der dort berichteten Fakten möglichst zu vermeiden. Durch diesen Entschluß beraubte ich mich all der Materialien, die am leichtesten zusammenzutragen und zu benutzen waren. Nichts ist für die Verfasser eines historischen Wörterbuchs bequemer als von Päpsten, Herrschern, Königen, Kardinälen, Kirchenvätern, Konzilien, Häretikern, großen Herren, Städten, Provinzen usw. zu sprechen. Es ist folglich ein sehr großer Nachteil, diese Materien auszuklammern. Das muß man aber beständig tun, wenn man  Die Erstauflage des Dictionnaire historique et critique von 1697 umfaßte nur zwei Bände. Hgg.  *

Vorrede zur ersten Ausgabe

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sich vorgenommen hat, Artikel zu vermeiden, die sich schon im Dictionnaire von Moréri finden. Wenn man dieselben Artikel bieten will, die sich bei ihm finden, muß man sich auf Dinge beschränken, die dort ausgelassen sind. Die Mühe, diese von den übrigen in den zu Rate gezogenen Quellen zu trennen, ist nicht gering; allein die Mühe, sie im Anschluß an die Lücken, die sich bei ihm finden, in einen Zusammenhang zu bringen, wenn man sie von dem getrennt hat, was Moréri berichtet, ist noch viel größer. Ungeachtet all dieser Schwierigkeiten hatte ich den Entschluß gefaßt, den meisten der in der Bibel erwähnten Personen einen Artikel zu widmen, aber ich erfuhr, daß man in Lyon bald ein ganz diesem Thema gewidmetes Wörterbuch publizieren würde.5 Es war also nichts weiter zu tun, als eine Sammlung von Äußerungen der Rabbinen über diese Personen zusammenzutragen. Nachdem ich aber in Erfahrung gebracht hatte, daß in Paris die Bibliothèque orientale des verstorbenen Herrn d’Herbelot gedruckt wurde, stellte ich die Arbeit an diesen Sammlungen ein.6 Trotz ebendieser Schwierigkeiten hätte ich die Artikel verfaßt, die sich auf die Kirchengeschichte beziehen, wenn ich nicht in Erwägung gezogen hätte, daß Herr du Pin den Lesern dieses Dictionnaire bereits alles vorgelegt hat, was sie nur wünschen können. Sein Werk schickt sich sowohl für Gelehrte wie Ungelehrte. Die holländischen Ausgaben machen es der ganzen Welt bekannt; alle wißbegierigen Leute kaufen und studieren es. Es wäre deshalb tadelnswert gewesen, wenn ich von Dingen gesprochen hätte, die darin vorkommen. Warum sollte ich Anlaß dazu geben, dieselben Geschichten zweimal zu kaufen? Ich wollte deshalb lieber von einer so fruchtbaren und leicht zu findenden Materie Abstand nehmen, als dasjenige noch einmal zu sagen, was man anderswo viel bequemer in Erfahrung bringen kann. 5

Es trägt den Titel Le dictionnaire de la bible. Es ist ein Folioband, der nach Auskunft des Titelblatts 1693 gedruckt wurde und von Herrn Simon verfaßt ist, einem Priester und Doktor der Theologie. 6 Ich hatte bereits die Artikel ADAM, EVA, KAIN, ABEL, ABRAHAM usw. fertiggestellt, die sich in diesem Werk befinden.

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Historisches und kritisches Wörterbuch

Ich sah mich noch in anderen Hinsichten eingeschränkt. Kaum hatte ich mit diesem Werk begonnen, da hörte ich, daß man in London eine englische Übersetzung des Dictionnaire von Moréri mit unzähligen Ergänzungen druckte7 und daß man in Holland an einem umfangreichen Ergänzungsband zu eben diesem Dictionnaire arbeitete. Von da an hielt ich mich für verpflichtet, nicht weiter von den berühmten Leuten Großbritanniens zu berichten; ich war der Ansicht, daß sie allesamt aus der englischen Ausgabe in den holländischen Ergänzungsband übernommen würden und daß man dieselbe Sache also zweimal kaufen würde, wenn ich die gute Ordnung nicht dadurch einhalten würde, daß ich von einer so reichhaltigen und einem Wörterbuch so rühmlichen Materie Abstand nähme. Derselbe Grund hat mich dazu gebracht, die Nachforschungen nach berühmten Leuten abzubrechen, die in den Vereinigten Provinzen gelebt haben,8 und sehr wenig von der Geschichte und der Geographie dieses Landes zu sprechen. Mir leuchtete gleich ein, daß der holländische Ergänzungsband alle diese Dinge weitläufig und zuverlässig behandeln würde. Mir leuchtete ebenfalls ein, daß man in ihm sehr ausführlich erzählen würde, was sich gegenwärtig in ganz Europa abspielt. Das ist der Grund, weshalb ich auf diese modernen Geschichten nicht eingehe. Auf der anderen Seite erreichte mich die Nachricht, daß man dabei war, in Paris eine neue, stark erweiterte Ausgabe von Moréris Dictionnaire herauszubringen. Das brachte mich zu dem Entschluß, viele Dinge zu unterdrücken und meine Nachforschungen zu verschiedenen Punkten einzustellen, die ich im Vergleich mit dem, was uns die Verfasser dieser neuen Ausgabe davon zur Kenntnis bringen konnten, nur unvollkommen hätte behandeln können. Diese Leute befinden sich an Ort und Stelle und haben die alten wie die aktuellen Bücherschätze zur Hand. Man muß ihnen also diese Aufgabe ganz allein überlassen und darf ihnen nicht den Ärger bereiten, eine Materie nur oberflächlich zu be7

Wenn ich mich nicht irre, ist sie 1695 erschienen. Ich habe nur von einigen Personen gesprochen, von denen ich die Lebensbeschreibungen oder Leichenpredigten schon in Händen hielt. 8

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rühren, die mit größerer Anteilnahme gelesen würde, wenn sie dank ihrer Mittel in vollem Glanze erstrahlte, bevor andere sich ihrer annähmen. Aber außer diesen neuen Ausgaben und neuen Ergänzungsbänden zu Moréris Dictionnaire haben mich noch andere Dinge in sehr enge Schranken gezwungen. Herr Chappuzeau arbeitet seit langem an einem historischen Wörterbuch. Man kann ganz sicher sein, neben einer Unmenge anderer Dinge das darin zu finden, was die Lage der Völker, ihre Sitten, Religion und Regierung angeht sowie das, was die königlichen Häuser und die Genealogie der großen Herren betrifft.9 Insbesondere wird man dort sämtliche Kurfürsten, Fürsten, sowie alle Grafen des Reiches, ihre Allianzen, ihre politischen Absichten und ihre wichtigsten Taten sehr ausführlich beschrieben finden. Man wird darin die nördlichen Länder und den Rest des protestantischen Europa geschildert sehen. Ich hielt es daher für meine Schuldigkeit, bei diesen großen Gegenständen zu schweigen, um nicht die Leser der mißlichen Notwendigkeit auszusetzen, dieselben Dinge zweimal zu kaufen. Ich sah mich gleichfalls hinsichtlich der Gelehrten des 16. Jahrhunderts eingeschränkt, denn ich wußte, daß Herr Teissier die von ihm so sorgfältig gesammelten Kommentare über die aus Herrn de Thou gezogenen Lebensbeschreibungen mit neuen Ergänzungen drucken ließ.10 Ich befürchtete beständig, daß ich über diese Gelehrten das Gleiche sagen würde wie Herr Teissier, und dieser Gedanke hat mich oft dazu gebracht, meine Sammlung zu unterdrücken. Ich mache diese langwierigen Ausführungen nicht, um meinen Freunden Stoff für eine Apologie denjenigen gegenüber zu liefern, die mein Dictionnaire verachten und sagen werden: »War es erforderlich, die Verfertigung eines solchen Werks solange hinauszuzögern? Man würde die Fehler darin entschuldigen, wenn der Autor lediglich wenige Monate auf seine Abfassung verwendet hätte; aber ein so geringer Nutzen einer derart 9

Man sehe den Plan, den er im Jahr 1694 von seinem Dictionnaire veröffentlicht hat. 10 Diese zweite Auflage ist 1696 erschienen.

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lange dauernden Arbeit verdient keine Gnade. Die Langsamkeit ist nur dann hinnehmbar, wenn sie ein Meisterwerk hervorbringt.«11 Meine Freunde könnten antworten, daß die fleißigsten Schriftsteller Mühe hätten, ihre Sammlungen mit größerer Geschwindigkeit zusammenzustellen, wenn sie die reichhaltigsten und zugänglichsten Materien unberücksichtigt ließen, von denen sie wissen, daß andere sie schon zusammengetragen haben oder voraussehen, daß andere sie zusammentragen werden. Ich verlange jedoch nicht, daß man derartige Entschuldigungen zu meinen Gunsten anführt. Das Gesagte dient nur zur Beantwortung folgender Fragen, die man an mich richten könnte: »Warum fehlen so viele der großen Themen in deinem Buch? Warum findet man so viele unbekannte Dinge, so viele obskure Namen darin? Warum ist es bei bestimmten Dingen so knapp und bei bestimmten anderen Dingen so ausschweifend? Ist der Autor so leichtfertig zu behaupten, dasjenige leisten zu können, was Plinius für so außerordentlich schwierig hielt?12 Usw.« Ich verweise auf meine obigen Ausführungen, man findet in ihnen die Auflösung all dieser Zweifel. Ich bekenne aufrichtig, daß arbeitsame und eifrige Autoren Anlaß haben werden, mich als einen wenig fleißigen Schriftsteller anzusehen. Ich habe mehr als vier Jahre mit der Niederschrift dieser zwei Bände zugebracht.13 Außerdem sind sie mit langen Passagen durchsetzt, die mich keinerlei Mühe kosteten; nichts von dem, was ich über mich selbst sage, gibt einen Autor zu erkennen, der seine Arbeit noch einmal durchsieht und die Freimütigkeit seiner ursprünglichen Gedanken sowie die erste Anordnung seiner Worte verbessert. Wenn man also zu

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»Die Löwin braucht lange, um ein Junges zu gebären; aber dann ist es auch ein Löwe.« 12 »Es ist ein schwieriges Geschäft, dem Alten Aktualität, dem Neuen Ansehen, dem Belanglosen Glanz, dem Unklaren Deutlichkeit, dem Ekelhaften Gefallen, dem Zweifelhaften Glaubwürdigkeit zu verschaffen.« Plinius, Nat. hist., Vorrede. 13 Ich habe mit diesem Werk im Juli 1692 begonnen und es im Oktober 1696 fertiggestellt.

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dem Urteil kommt, ich sei zu langsam, so verwundert mich das nicht; ich weiß, daß das stimmt. Ich schäme mich dafür, und es wäre mir noch viel peinlicher, wenn ich nicht wüßte, daß meine sehr häufig schwankende Gesundheit, die viel Schonung verlangt, mir nicht zu tun gestattet, was man sehr robuste und arbeitsliebende Autoren ausführen sieht. Ferner weiß ich, daß die Knechtschaft des Zitierens, die ich mir aufgebürdet habe,14 zu großen Zeitverlusten führt, und daß der gewaltige Mangel an für mich sehr notwendigen Büchern meine Feder hundert Mal am Tag stocken ließ. Für ein Werk wie dieses hier ist die umfangreichste Bibliothek erforderlich, die jemals zusammengestellt wurde; ich hingegen verfüge nur über sehr wenige Bücher.15 Soll ich es zu bekennen wagen? Mein Stil ist eine weitere Ursache meiner Langsamkeit. Er ist recht nachlässig, nicht frei von unpassenden und veralteten Ausdrücken, vielleicht nicht einmal von Barbarismen. Ich gestehe es und habe deswegen fast keine Skrupel. Zum Ausgleich aber bin ich bei anderen, weit mühsameren Dingen von einer bis ins Abergläubische hineinreichenden Skrupelhaftigkeit.16 Die größten Meister und die berühmtesten Mitglieder der Académie Française machen sich frei von diesen Skrupeln; kaum drei oder vier Schrifststeller haben wir, die sich davor hüten. Es bedeutet also große Mühsal für mich, daß ich mich über diese Bagatellen nicht hinwegzusetzen vermag, die großen Zeitverlust bedingen und manchmal auch die Lebhaftigkeit und Natürlichkeit des Ausdrucks verderben, wenn man ihn in diesem Sinne verbessert. Ich bin so wenig im14

Ich führe die Seitenzahl selbst dann an, wenn ich lediglich auf andere Stellen meines Dictionnaire verweise. 15 Man hat mir mit einigen Büchern auf eine sehr verbindliche Weise ausgeholfen. Ich bin dafür sehr dankbar und würde hier gern die Namen und das Lob derjenigen hersetzen, die diese Güte hatten, wenn ich nicht fürchtete, ihre Bescheidenheit zu verletzen. 16 Wie das Vermeiden von Äquivokationen sowie Versen und den Gebrauch eines »on«, eines »il«, eines »pour«, eines »dans«, usw. mit verschiedenen Bezügen in ein und demselben Satz, und um es so anzustellen, daß ein »il« am Anfang einer Periode sich nicht auf einen obliquen Kasus bezieht, sondern auf einen vorhergehenden Nominativ, usw.

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stande, dieses drückende Joch abzuwerfen, daß im Falle eines Neudrucks dieses Dictionnaire meine hauptsächliche Sorge ganz gewiß darauf gerichtet sein wird, sämtliche sprachlichen Fehler, die in dieser Ausgabe stehengeblieben sind, gemäß den strengen Gesetzen unserer Grammatik zu verbessern.17 Eine große Anzahl davon ist noch vorhanden, denn während des ersten Jahres meiner Arbeit beschäftigten mich derartige Skrupel weit weniger. So kommt es, daß man durch das ganze Werk hindurch auf Artikel stößt, welche die abergläubischen Regeln verletzen, von denen ich gesprochen habe. Diese Artikel wurden zu jener Zeit geschrieben, und ich hatte keine Zeit, sie zu überarbeiten, weil ich sie zum Druck geben mußte. Auf vergleichbare Fehler kann man das ganze Werk hindurch stoßen, teils weil meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet war und ich sie bei der Korrektur der Druckbogen nicht bemerkt habe, teils weil die Drucker mir nicht die erforderliche Zeit zur Verbesserung dessen ließen, was mir nicht gefiel. Die nützlichen Hinweise, die mir Herr Drelincourt gegeben hat und seine richtigen und feinen Verbesserungen, die ich sorgfältig am Rand meines Exemplars notiert habe, werden mir bei der Durchsicht dieser Auflage unendlich nützlich sein.18

Was diejenigen in Betracht ziehen müssen, die finden, daß ich nicht genug Zeit auf die Verfertigung dieses Dictionnaire verwendet habe Das also hätte ich denen entgegenzuhalten, die es befremdlich finden könnten, daß mich dieses Dictionnaire so viel Zeit gekostet hat. Aber ich darf diejenigen nicht übergehen, die glauben 17

Man beachte, daß es mir nicht möglich gewesen ist, dieses Versprechen in der zweiten Auflage einzulösen. Die Drucker ließen mir nicht die erforderliche Zeit, um die erste Arbeit genau durchzusehen und die neue zu besorgen, d. h. um die sehr zahlreichen Zusätze anzubringen. 18 Medizinprofessor in Leiden. Man sehe, was über seine genaue Kenntnis der französischen Sprache in Bd. II, S. 309, Spalte 2, gesagt ist.  Diese An-

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könnten, ich hätte mich zu sehr übereilt. Viele werden erstaunt sein, daß ich in weniger als fünf Jahren zwei so große Foliobände erstellen konnte. Manche Autoren stellen ein kleines Buch nicht unter einem Jahr fertig, teils weil sie alles, was sie ohne langes Nachdenken hervorbringen, als wertlose Gedanken und Ausdrücke behandeln, teils weil sie in Geschäfte eingebunden sind, die sie oft aus ihrer Studierstube reißen, teils weil eine natürliche Faulheit oder ein allzu gewissenhafter Gehorsam dem Gebot gegenüber, das sie auf der Schule gelernt haben Interpone tuis interdum gaudia curis  Unterbrich deine Arbeit gelegentlich durch Vergnügungen , sie zu häufigeren Unterbrechungen ihrer Arbeit bewegt. Diese Herren sind schnell gegen ein Werk eingenommen, das nicht viel Zeit gekostet hat, und sie sind nicht der Ansicht, daß es viel Zeit verschlang, wenn hundert Druckbogen nicht drei oder vier Jahre verlangten. Sie werden auf mich fraglos das Sprichwort anwenden Canis festinans caecos edit catullos  Der sich übereilende Hund bringt blinde Junge zur Welt , und sie werden ihr Vorurteil durch die Lektüre der obigen Ausführungen bestätigt finden. Sie werden von der auf die Sache verwendeten Arbeit die Zeit abziehen, die ich auf die Vermeidung von Reimen19 und die Einheitlichkeit der Bezugswörter verwendet habe. Sie wissen, daß dies eine langwierige und mühsame Arbeit ist und daß nichts so viel Geduld verlangt, wie eine gute Verbindung der zitierten Stellen. Unter dem Vorwand, daß es in diesem Werk viele außergewöhnliche Materien gibt, werden sie abstreiten, daß ich sagen könnte, ich hätte es ohne Überstürzung in kurzer Zeit wachsen lassen. Denn, so werden sie sagen, es ist weit mühsamer, zahllose Passagen aus anderen Werken sinnvoll anzuwenden, als eine lange Kette von gabe bezieht sich auf die Erstauflage von 1697. Hgg.  Er hat mir außerdem mehrere gelehrte Bemerkungen mitgeteilt. Man beachte, daß ich wegen des in der voranstehenden Marginalnote genannten Grundes davon kaum Gebrauch machen konnte, ebensowenig wie von anderen, die ich am Rande notiert hatte. 19 Die französische Prosa wimmelt nur so von Reimen, wenn man nicht beständig gegen diesen Fehler auf der Hut ist.

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Vernunftschlüssen und Reflexionen anzustellen.20 Man muß diese Stellen aufsuchen, sie aufmerksam lesen, an die gehörige Stelle setzen, mit den eigenen Gedanken und untereinander verbinden. Es ist ausgeschlossen, schnell voranzukommen, wenn man dies vollkommen richtig durchführen will. Das gebe ich ihnen zu, aber ich bitte sie, nicht das canis festinans usw. auf mich anzuwenden, bevor sie mich gelesen haben. Vorurteile sind trügerisch, und wenn sie günstige Vorurteile haben wollen, so sage ich ihnen, daß ich mich ebensowohl wie sie an Catos Distichon Interpone tuis interdum gaudia curis, usw. erinnere, daß ich aber nur sehr selten Gebrauch davon mache. Vergnügungen, Lustbarkeiten, Spiele, Gastmahle, Landpartien, Besuche und andere derartige Entspannungen, die so viele Gelehrte dem Vernehmen nach nötig haben, sind meine Sache nicht; ich vergeude damit keine Zeit. Ich vertue auch keine Zeit mit häuslichen Sorgen noch mit dem Erstreben von irgend etwas oder Gesuchen oder anderen derartigen Dingen. Glücklicherweise bin ich vieler Beschäftigungen enthoben, die mir wenig angenehm waren, und ich habe die größte und angenehmste Muße gehabt, die ein Gelehrter sich nur wünschen kann. Unter solchen Umständen kommt ein Schriftsteller in wenigen Jahren recht weit. Sein Werk kann von Tag zu Tag spürbar anwachsen, ohne daß er sich dabei nachlässig zeigt.

III. Klarstellung über die befolgte Art und Weise des Zitierens Ich zweifle nicht daran, daß die von mir befolgte Methode des Zitierens von Passagen anderer Autoren kritisiert werden wird. Viele werden sagen, daß es mir nur darum zu tun war, ein großes Buch mit geringem Aufwand zu machen. Oft zitiere ich sehr lange Auszüge. Manchmal gebe ich deren Sinn in unserer Sprache wieder und zitiere sie dann sowohl auf griechisch als auch Man sehe Anm. (E) des Artikels EPIKUR.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  20

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auf lateinisch. Heißt das nicht, die Dinge ohne Notwendigkeit zu vervielfältigen? Muß man ein langes Zitat aus einem modernen Autor abschreiben, den man in allen Buchläden findet? Muß man Amyot und sein altes Französisch zitieren? Um auf diese Kritiker gehörig zu antworten, brauche ich wohl nicht zu leugnen, daß ihre Einwände den Anschein auf ihrer Seite haben. Ich gebe ihnen zu, daß sie plausibel sind und daß sie mich lange Zeit unentschlossen ließen; schließlich aber haben mich noch plausiblere Gründe zu der Wahl bestimmt, die ich getroffen habe. Ich habe in Betracht gezogen, daß ein Werk wie das vorliegende für eine große Zahl von Leuten eine Bibliothek ersetzen muß. Viele Liebhaber der Wissenschaften verfügen nicht über die Mittel, Bücher zu erwerben, andere haben nicht die Zeit, den fünfzigsten Teil der Bücher anzusehen, die sie gekauft haben. Wer aber die Zeit dazu hat, würde es ärgerlich finden, jeden Augenblick aufzustehen, um den Informationen nachzugehen, auf die man sie hinweist. Sie bevorzugen es, in dem Buch selbst, das sie vor Augen haben, die eigenen Worte der Autoren zu finden, die man als Zeugen anführt. Wenn man die zitierte Ausgabe nicht besitzt, verliert man viel Zeit, denn es ist nicht immer einfach, in der eigenen Ausgabe die Seite zu finden, die ein Schriftsteller aus der seinen zitiert. Um mich den Interessen der Leser ohne Bibliothek und der Zeitnot oder Faulheit derjenigen mit Bibliothek anzupassen, habe ich es deshalb so eingerichtet, daß sie zur gleichen Zeit die historischen Fakten wie die Beweise dieser Fakten mitsamt einer Auswahl der Diskussionen und Umstände vor Augen haben, so daß ihre Wißbegierde vollauf befriedigt wird. Man glaubt nicht, wie viele urteilsfähige Personen in dieser Hinsicht mißtrauisch geworden sind, weil beim Zitieren von Autoren viele Betrügereien begangen werden und diejenigen, die eine Passage redlich abkürzen, dabei nicht immer deren volle Stärke zu erhalten wissen. Ich kann begründeterweise sagen, daß es bei tausend Anlässen eine Art Verwegenheit wäre, das den Autoren Zugeschriebene zu glauben, wenn deren eigene Worte nicht zitiert werden. Deshalb wollte ich das Gemüt des Lesers beruhigen, und damit er meine Anführungen weder der Subreption noch der Obreption ver-

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dächtigt, habe ich jeden Zeugen in seiner Muttersprache sprechen lassen, und anstatt Castelvetro nachzuahmen, der seine Zitate durch ein »und so weiter« sogar noch vor Anführung der erforderlichen Stelle beschließt, habe ich die jeweilige Stelle gelegentlich sowohl am Anfang wie am Ende verlängert, damit man besser verstehen kann, worum es sich handelt, oder damit man nebenbei etwas anders erfährt. Ich weiß sehr wohl, daß ein solches Verfahren in einer kleinen Abhandlung zur Moral, in einem Stück zur Redekunst oder bei einer Geschichte abwegig wäre; aber das ist bei einem zusammengetragenen Werk wie diesem hier nicht der Fall, in dem ich mir vorgenommen habe, Tatsachen zu erzählen und sie sodann durch Kommentare zu erläutern. Jene Verlängerungen wären tadelnswert, wenn sie aus einem Band zwei machten oder wenn dadurch aus einem Taschenbuch ein Folio- oder Quartband würde. Aber da die Frage nur lautet, ob ein Folioband einige Seiten kürzer oder länger wird, lohnt das nicht die Mühe, sich zu beschränken. Wenn er nur 250 Bogen umfaßt, so wird er die Handlichkeit eines kleinen Buches ebenso verfehlen, als wenn er 330 Bogen enthält, denn man muß bedenken, daß diese dicken Bücher nicht gemacht sind, um Seite für Seite gelesen zu werden. Sie würden, so wird man mir entgegenhalten, etwas weniger kosten, wenn sie lediglich 200 Bogen enthielten. Ich antworte: Wenn sich ein Buchhändler nach dieser Regel richten würde, würde er niemals ein mehrbändiges Werk drucken, wenn es nicht ausnahmslos vorzügliche Gedanken ohne eine Silbe zuviel enthielte, denn es wäre für wenigbemittelte Leute immer zu teuer. Die Mühe, Amyot oder Vigenere in modernes Französisch zu übersetzen, hätte nichts genutzt; es genügt, daß meine Leser die Fakten verstehen können, die sie berichten.

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Klarstellung über die Zitate aus Brantôme und ähnlichen Autoren Ernsthafte und sittenstrenge Leute werden vor allem die Zitate aus Brantôme oder Montaigne tadeln, die allzu galante Taten und Betrachtungen enthalten. Dazu muß ich ein Wort sagen. Einige verdienstvolle Personen, denen die Interessen des Buchhändlers am Herzen lagen, waren der Meinung, daß ein so dickes Buch wie dieses Werk, das an verschiedenen Stellen mit griechischen und lateinischen Zitaten durchsetzt sowie mit wenig unterhaltsamen Diskussionen beladen ist, die ungelehrten Leser abschrecken und gelehrte Leute langweilen würde, so daß zu befürchten wäre, daß der Absatz bald sinken würde, wenn man nicht die Neugier der Leute reizte, die kein Latein verstehen. Man ließ mich wissen, daß ein Werk, das nur von Gelehrten gekauft wird, fast niemals den Verleger entschädigt, und daß, wenn mit einem Buch Gewinn gemacht werden soll, es gleichermaßen gelehrten wie ungelehrten Leuten gefallen muß; daß ich also zugunsten meines Verlegers gelegentlich das einzustreuen hätte, was diese ein wenig freizügigen Autoren publiziert haben; daß der Gebrauch derartiger Materialien der Freiheit vergleichbar ist, die man sich bei der Abfassung der eigenen Lebensgeschichte nimmt: bei einigen Leuten ist es das Zeichen eines Fehlers,21 bei anderen ist es lediglich ein berechtigtes Zutrauen in ihre guten Sitten,22 und daß ich mich zu Recht zu den letzteren zählen könnte; und schließlich daß ich, falls ich zu großen Widerwillen gegen die Befolgung dieses Rates verspüren sollte, wenigstens erlauben müßte, daß man dem Verleger derartige Nachrichten und gelegentlich auch lehrreiche

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»Die meisten Menschen sind der Ansicht gewesen, daß es eher ein Zeichen des Zutrauens in seine Sitten als der Eitelkeit ist, wenn jemand sein eigenes Leben erzählt.« Tacitus, Vita Agricolae, Kap. 1. 22 Man sehe die Anmerkungen der Artikel LA MOTHE LE VAYER und VERGIL.  Der zuletzt genannte Artikel nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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Betrachtungen übermittelt, die Aufmerksamkeit erwecken. Ich versprach ihnen, diesen Ermahnungen eine gewisse Beachtung zu schenken, und fügte hinzu, daß ich kein Recht hätte, mich ihren Ergänzungen zu widersetzen; daß ich dem Verleger völlige Freiheit gelassen habe, sogar ohne mich zu konsultieren, die Nachrichten einzufügen, die seine Korrespondenten und Freunde ihm schickten, und daß ich hinsichtlich des ganzen Buches wünschte, daß sie tun möchten, was sie an bestimmten Stellen gewillt waren zu tun, d. h., daß sie meinen Sammlungen nach ihrem Gutdünken Zusätze hinzufügten, daß sie davon etwas wegließen und sie in die Ordnung brächten, die ihnen angebracht erschien. Es steht fest, daß ich mir bei dieser Arbeit keinen anderen Anteil gewünscht habe als die Mühe des Zusammentragens; ich hätte gewünscht, daß andere die Mühe auf sich genommen hätten, die Materialien in Form zu bringen, Ergänzungen oder Streichungen vorzunehmen; und es war mir ein großes Vergnügen, als die Personen, von denen ich spreche, mir versicherten, daß sie sich an unsere Unterhaltung erinnern würden. Dies bitte ich meine Leser zu beachten. Was die gelegentlich recht weit getriebenen philosophischen Reflexionen betrifft, so glaube ich nicht, daß eine Entschuldigung für sie erforderlich ist. Denn da sie nur die Absicht haben, den Menschen davon zu überzeugen, daß der beste Gebrauch, den er von seiner Vernunft machen kann, darin besteht, seinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens gefangen zu nehmen, dürften sie eine Danksagung der theologischen Fakultäten verdienen.

IV. Anmerkungen über meine Kühnheit, verschiedene Autoren zu kritisieren Ich habe nur zwei Worte zu einem Thema zu sagen, das sehr wichtig erscheint. Ich habe die Irrtümer vieler Leute mit einer gewissen Freimütigkeit berichtet. Ist das nicht ein kühnes und hochmütiges Unternehmen? Die Antwort auf diese Frage wäre sehr lang, wenn ich mich nicht auf das bezöge, was ich darüber

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bereits in meinem Entwurf gesagt habe.23 Ich bitte den Leser, dort nachzusehen. Ich will nur hinzufügen, daß man ohne die Pflicht der Demut zu verletzen, Fehler in den Büchern berühmter Männer anmerken kann; deswegen hört man ja nicht auf, sie hochzuschätzen. Wenn die untergeordneten Offiziere und sogar die Soldaten offen sagen, daß ihre Generäle im Feldzug den einen oder anderen Fehler begangen haben, haben sie manchmal recht; aber sie behaupten deshalb nicht, fähiger zur Führung einer Armee zu sein; sie erkennen sich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten wie ihres Ranges als unendlich unterlegen an.24 Das trifft auch auf mich zu. Ich füge noch hinzu, daß ich mich für nichts verbürge, was dem Andenken eines Menschen nachteilig ist; ich führe lediglich das an, was andere sagen und zitiere meine Autoren. Folglich müssen sich die Angehörigen mit ihren Klagen an diese und nicht an mich wenden. Ein moderner Geschichtsschreiber hat in einem Vorwort erklärt, daß »man sich an diejenigen wenden muß, die uns die unverletzlichen Gesetze der Geschichtsschreibung vorgeschrieben haben,‡ um sie Rechenschaft über ihre Vorschriften ablegen zu lassen, wenn man mit denselben nicht zufrieden ist, und nicht an die Geschichtsschreiber, die ihnen unbedingt gehorchen müssen und deren erhoffter Ruhm ausschließlich in der zuverlässigen Befolgung dieser Anweisungen besteht.« Um meine Sache ist es noch viel günstiger bestellt, weil ich lediglich Autoren abschreibe, die bereits gedruckt vorliegen. Von den zwei von ihm angeführten unverletzlichen Gesetzen der Geschichtsschreibung habe ich dasjenige gewissenhaft befolgt, das befiehlt, nichts Falsches zu Nummer VI. Siehe unten, Bd. IV, S. 610 f.  Diese Angabe bezieht sich auf die vierbändige Ausgabe von 1740. Hgg.  24 Man ziehe folgenden Vers von Horaz hinzu: »Wenn er von sich selbst spricht, dann nicht so, als wäre er den von ihm Getadelten überlegen.« Sat., Buch I, 10, Vers 55. ‡ »Ne quid veri non audeat, ne quid falsi audeat.« Cicero. Die Worte Ciceros in De oratore, Buch II, Blatt 74 A meiner Folioausgabe lauten: »Wer weiß nicht, daß das erste Gesetz der Geschichtsschreibung verlangt, nicht zu wagen, etwas Falsches zu sagen, und sodann, nichts Wahres zu verschweigen?« 23

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sagen; hinsichtlich des zweiten aber, das befiehlt, alles zu sagen zu wagen, was wahr ist, kann ich mir nicht schmeicheln, es immer befolgt zu haben; ich glaubte, es sei in einigen Fällen nicht nur mit der Klugheit, sondern auch mit der Religion unvereinbar. Man glaube nicht, daß ich mir schmeichele, nichts als die Wahrheit gesagt zu haben; ich kann mich nur für meine Absicht verbürgen, kann aber keine Garantien gegen meine Unwissenheit geben. Ich trage nichts als wahr vor, wenn es sich meiner Überzeugung nach um eine Lüge handelt;25 aber wie viele Sachen gibt es, die ich nicht recht verstanden habe oder deren Vorstellungen sich während der Niederschrift miteinander vermischt haben? Wie oft geschieht es nicht, daß unsere Feder unser Denken betrügt? Wir wollen eine bestimmte Zahl oder den Namen eines Menschen schreiben, und manchmal kommt es vor, daß wir aus mangelnder Aufmerksamkeit oder sogar aus zu großer Aufmerksamkeit auf andere Dinge etwas anderes schreiben. Deshalb zweifele ich nicht, daß mir außer den unzähligen Unterlassungssünden eine große Anzahl tatsächlich begangener Fehler unterlaufen ist. Ich werde mich denjenigen sehr verbunden fühlen, welche die Güte haben wollten, mich darauf aufmerksam zu machen; und wenn ich mich nicht des guten Rats verständiger und rechtschaffener Leser erfreut hätte, würde ich gemäß der Anweisung der Alten26 dieses Werk mehrere Jahre in meinem Arbeitszimmer verschlossen gehalten haben, um es zu berichtigen und der Aufmerksamkeit der Welt würdiger zu machen. Doch angesichts der Erwägung, daß ich noch Material für zwei weitere umfangreiche Bände liegen hatte, habe ich mich mit der Veröffentlichung beeilt. Denn mir war klar, daß man mir auf nützlichere und passendere Weise helfen könnte, wenn man sähe, was mir fehlt und was ich verfehle. Ich hoffe, 25

Das gilt für das, was ich selbst vortrage, und für die Aufrichtigkeit, mit der ich das anführe, was mir der wahre Sinn der von mir zitierten Stellen zu sein scheint. 26 »Es bleibe bis zum neunten Jahre unter Verschluß.« Horaz, De arte poetica.

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daß die Fortsetzung dieses Werks mit dieser Hilfe besser gelingt, als es andernfalls der Fall wäre. Ich werde unaufhörlich an ihm weiterarbeiten, solange es mir das Alter gestattet.27 Ich sehe nichts, wozu ich meiner Ansicht nach die Muße, deren ich mich erfreue, besser und angenehmer verwenden könnte; eine Muße, die meiner Meinung nach allem anderen vorzuziehen ist28 und die Leuten, die das Studium der Wissenschaften so geliebt haben, wie es sich gehört, immer schon unendlich wünschenswert erschienen ist. Denn wie viele Menschen sehnen sich nach der Zeit, wo sie sagen können: »Nunmehr erlaubt mir das Schicksal, daß ich mein Leben nach meinen Vorstellungen führe und aus eigener Kraft meine Dinge besorge.«29 Im übrigen glaube ich, begründeterweise sagen zu dürfen, daß dasjenige, was ich künftig bearbeiten werde, aufgrund der Qualität des Materials selbst weit erheblicher sein wird als dasjenige, was ich gegenwärtig präsentiere. Zufälle und Überraschungen haben daran größeren Anteil gehabt als eine wohlüberlegte Wahl, und das aus folgendem Grund: Ich schob die Verfertigung der Artikel, die mir am interessantesten und wichtigsten zu sein schienen, solange es nur ging auf. Von Tag zu Tag hoffte ich auf mehr Material und mehr Erläuterungen, und indem ich darauf wartete, bereitete ich andere Artikel vor. So kam es, daß auf der einen Seite die von mir verfertigten Artikel großen Raum einnehmen konnten, und auf der anderen Seite, daß meine Sammlungen für die von mir aufgeschobenen Artikel stark anwuchsen. Ich konnte sie deshalb also nicht in diese zwei Bände einfügen, ohne auf eine zu auffällige Art und Weise das Verhältnis zu verletzen, das es zwischen den Buchstaben des Alphabetes zu beachten gilt. Ich war folglich gezwungen, sie für spätere Zeit aufzubewahren, denn ich bringe es nicht übers Herz, nur wenig 27

»Solange wie Lachesis noch Material zum Spinnen hat und meine Beine mich noch ohne Unterstützung eines Stockes tragen.« Juvenal, Satirae III, Vers 27. 28 »Ich würde meine uneingeschränkte Muße nicht einmal gegen die Schätze Arabiens eintauschen.« Horaz, Epistulae Buch I, 7. 29 Man sehe Vergil, Aeneis, Buch IV, Vers 340.

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über einen großen Gegenstand zu sagen, wenn ich viel über ihn sagen kann. So habe ich lieber gar nichts gesagt, als ein Thema nur anzuschneiden. Die von mir beachtete Ausgewogenheit zwischen den Buchstaben des Alphabets ist der Grund dafür gewesen, daß ich einige Artikel von einem Buchstaben zu einem anderen verschoben habe. Ich mußte daher den versprochenen Artikeln den Vorzug geben,30 was dazu geführt hat, daß der Buchstabe, an den ich sie verwiesen habe, schon seinen richtigen Umfang hatte, bevor ich diejenigen fertigstellen konnte, die sehr lang werden mußten. Ich wünsche, daß meine Leser dies bedenken, wenn sie sich gelegentlich darüber wundern, gewisse Personen nicht in diesem Werk zu finden.31

V. Wie ich mich Moréri gegenüber verhalten habe An dieser Stelle muß ich darlegen, wie ich mich dem Dictionnaire von Herrn Moréri gegenüber verhalten habe. 1) Viele Themen habe ich stillschweigend übergangen, weil sie in seinem Dictionnaire ausführlich genug behandelt werden. 2) Wenn ich dieselben Artikel liefere, die sein Dictionnaire enthält, dann deshalb, weil er entweder wenig dazu sagt, oder weil ich die Lebensbeschreibung einer berühmten Person in Händen hielt und mich imstande sah, einen vollständigen Bericht zu liefern, oder weil ich aufgrund mehrerer unzusammenhängender, aber recht merkwürdiger Dinge eine angemessene Ergänzung bieten konnte. In all diesen drei Fällen habe ich sorgfältig vermieden, mich derselben Fakten zu bedienen, die er erwähnt hat. Das konnte ich im zweiten Fall nicht immer so vollständig erreichen wie in den beiden anderen Fällen, denn bei der Kürzung einer genauen Lebensbeschreibung eines großen Menschen ist es erforderlich, eine ordnungsgemäße Abfolge seiner Taten zu 30

Man beachte, daß sich einige von diesen versprochenen Artikeln nicht in diesen zwei Bänden befinden. Ich bin verpflichtet, sie auf eine andere Zeit zu verschieben. 31 Z. B. einen Scaliger, einen Saumaise, einen Seldenus usw.

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geben und einen gut in sich verknüpften und in gewissem Sinne zusammenhängenden Artikel zu verfassen. Kann man das machen, ohne überhaupt irgend etwas vorzutragen, was über diese Person nicht schon gesagt wurde? Bei einer sehr kleinen Anzahl von Artikeln dieser Art wird sich also möglicherweise herausstellen, daß das Dictionnaire von Moréri Dinge berichtet hat, die mit mehreren neuen Fakten vermischt sind, die ich berichte. Da das aber nur selten und bei wenig belangvollen Punkten vorkommt, wäre es nicht erforderlich gewesen, das hier anzumerken; ich tue es nur aus einer starken Gewohnheit heraus, allgemeine Aussagen zu vermeiden und in bestimmten Fällen auch auf die geringsten Ausnahmen zu achten – zumal man sich bei bestimmten Angelegenheiten nicht sorgfältig genug vor Schikanen in Acht nehmen kann. 3) Wenn ich irgendeine Tatsache vortrage, die mir allein aus der Zusammenstellung von Herrn Moréri bekannt ist, so führe ich dieselbe sehr sorgfältig an. Ich mißtraue ihr stark, deshalb habe ich auf eine solche Bürgschaft hin nichts riskieren wollen; ich werfe sie in die Bresche, sie muß die Angriffe selbst aushalten. 4) Wenn ich diesen Autor nicht zitiere und dennoch etwas vortrage, was sich in seinem Werk befindet, so ist das ein zuverlässiger Beweis dafür, daß ich meine Information aus einer anderen Quelle geschöpft habe. Ich könnte schwören, daß ich ihm kein Wort und keine Silbe gestohlen habe; ich zitiere ihn jedesmal, wenn ich ihm auch nur das kleinste Wort entnehme, was sehr selten geschieht; und ich verzichte nur dann darauf, ihn anzuführen, wenn ich die Dinge durch so mühselige eigene Nachforschungen ermittelt habe, als wenn er von ihnen gar nicht gesprochen hätte. 5) Ich verweise den Leser auf ihn bei Sachen, die von nur ganz geringer Bedeutung sind. Es wäre aber absurd, Rückverweise bezüglich des Geburtstages, des Namen des Vaterlandes usw. anzubringen, denn derartige Rückverweise würden mehr Platz auf einer Seite beanspruchen als die Sache selbst, auf die verwiesen wird, und würden den Leser ganz zu Recht verdrießen. 6) Ich habe dieses Verhalten nicht deshalb befolgt, weil ich fürchtete, als Plagiator zu gelten. Das wäre eine sinnlose, sehr lächerliche Angst, denn bislang ist noch niemand mit seiner Verrücktheit so weit ge-

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gangen, diejenigen als Plagiatoren zu behandeln, die Ereignisse berichten, die ein anderer schon berichtet hat, die sie aber aus den Quellen schöpfen und dabei weder die Darstellungsweise noch die Anordnung oder die Ausdrücke des anderen verwenden. Es sieht auch nicht so aus, als ob es sich jemand in der Zukunft einfallen ließe, den geistigen Diebstahl auf so törichte Weise zu definieren. Eine derart absurde Definition würde uns zu der größtmöglichen Ungereimtheit bringen, daß nämlich der hervorragendste Historiker, der es unternähme, die Lebensgeschichte Karls V. zu verfassen, zwangsläufig der Plagiator des allererbärmlichsten Chronikenschreibers wäre, der Anekdoten von den Taten dieses großen Fürsten zusammengetragen hat. 7) Ich habe die Fehler, die ich Herrn Moréri vorzuwerfen habe, in eine gesonderte Anmerkung gesetzt. 8) Ich habe die Fehler übergangen, die sich in Artikeln finden, die er bringt und die bei mir fehlen, wenngleich sie ebenso wichtig und ebenso häufig in diesen Artikeln wie in den von mir gelieferten anzutreffen sind. 9) Ich habe mich nach der Ausgabe Lyon 1688 gerichtet. Das ist die fünfte und letzte, die in Frankreich erschienen ist. Ich weiß, daß die holländischen Ausgaben weit besser sind, aber ich glaubte, mich mit meinen Korrekturen auf diese Ausgabe zugunsten vieler Leute beziehen zu sollen, die sich keiner anderen als der französischen Ausgaben bedienen und die sie noch heutzutage suchen und lieber kaufen als die sechste und siebte Auflage.32 Aus alledem ergibt sich, daß mein Dictionnaire nicht die Absicht hat, den Absatz des anderen zu schmälern, sondern daß es ihn im Gegenteil steigern und seine Lektüre gewinnbringender machen soll. Zugunsten der Jugend, die es nötig hat, daß man ihren Geschmack ein wenig formt und ihr Begriffe von größtmöglicher Genauigkeit beibringt, habe ich selbst die allergeringsten Fehler von Herrn Moréri bei den Gegenständen angemerkt, die er und ich behandeln. Denn was die Fehler an anderen Stellen betrifft, 32

Das sind die eifrigen Katholiken, die haben sagen hören, daß die holländischen Ausgaben oft den Eifer von Herrn Moréri unterdrückt haben.

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so lasse ich sie auf sich beruhen, wie ich bereits gesagt habe. Ich wünsche nicht, daß das geringschätzige Licht, das hierdurch auf seine Arbeit fallen kann, die ihm gebührende Anerkennung schmälert. Ich stimme der Ansicht des Horaz über diejenigen bei, die uns den Weg zeigen:33 Die ersten Verfasser von Wörterbüchern haben ziemlich viele Fehler begangen, haben uns aber große Dienste geleistet und einen Ruhm verdient, den ihnen ihre Nachfolger niemals streitig machen sollten. Herr Moréri hat große Mühen auf sich genommen, die jedermann zu irgend etwas gedient und die viele Leute hinreichend unterrichtet haben. Seine Mühe hat Licht an Orten ausgebreitet, an die andere Bücher es niemals hingetragen hätten und für die eine genaue Kenntnis der Umstände nicht erforderlich ist. Sie fährt fort, das Licht überall – und seit dem Erscheinen der beiden holländischen Ausgaben – mit größerer Reinheit auszubreiten. Diese Ausgaben sind unendlich besser als die französischen, denn sie sind von einem der fähigsten Autoren des Jahrhunderts durchgesehen worden. Ich spreche von Herrn Le Clerc, dessen gründliche Gelehrtheit, die von einem scharfen und durchdringenden Geist sowie von einer ausgezeichneten Urteilskraft unterstützt wird, ganz Europa bewundert. Er hat eine unendliche Anzahl von Fehlern darin korrigiert und sehr schöne Ergänzungen angebracht; niemand wäre geeigneter als er gewesen, dieses Werk zu vervollkommnen, wenn anspruchsvollere und wichtigere Beschäftigungen ihm erlaubt hätten, diese Mühe auf sich zu nehmen. Ich kann den ungerechtfertigten Eigensinn derjenigen nicht billigen, die sich über die vielen Editionen von Moréri beklagen und die Buchhändler, die sie auf den Markt bringen, als öffentliche Giftmischer ansehen.

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»Dies war meine Domäne, in der ich erfolgreicher schreiben kann als Varro Atacinus sowie einige andere, die sich hier vergebens abgemüht hatten. Aber ich bin kleiner als ihr Erfinder, und ich wage es nicht, ihm den mit großem Lob geschmückten Kranz vom Kopf zu reißen.« Horaz, Sat. Buch I, 10, Vers 46 ff.

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VI. Weshalb ich meinen Namen auf das Titelblatt dieses Werks gesetzt habe Diejenigen, die meinen Namen auf dem Titelblatt dieses Buches sehen und wissen, daß ich während der Drucklegung bei allen Gelegenheiten gesagt habe, daß ich ihn nicht dahin setzen werde, verdienen ein kurzes Wort in dieser Vorrede. Ich habe das nicht nur bei hundert Anlässen gesagt, sondern auch an verschiedenen Orten geschrieben,34 und viele Leute wissen, daß alle meine Freunde diesen Entschluß heftig bekämpft haben, ohne daß doch die unzähligen Gründe, die ihr fruchtbares Genie und ihre großmütige Güte ihnen eingaben, irgendeinen Einfluß auf mich ausgeübt hätten. Ich tadele diejenigen nicht, die ihren Namen auf das Titelblatt ihrer Werke setzen, aber ich habe insgeheim stets einen Widerwillen dagegen gehabt. Antipathien lassen sich ebensowenig begründen wie der Geschmack; ich könnte jedoch sagen, daß meine natürliche Einstellung durch das Nachdenken verstärkt worden ist. Die weise Gleichmütigkeit, welche die antike Philosophie so nachdrücklich gepredigt hat, war stets nach meinem Geschmack. Jener berühmte Mann, der sich mehr bestrebte, ein ehrenwerter Mann zu sein, als so zu erscheinen,35 der sich ständig kümmerte, wie er die Tugend ausüben wollte, niemals aber darum, ob er dafür gelobt werden würde, ist mir seit langem schon als ein sehr schönes Vorbild erschienen; und niemals ist mir eine Kritik vernünftiger erschienen als die gegen gewisse Philosophen gerichtete, die ihren Namen auf Abhandlungen setzten, in denen sie die Begierde nach Lobsprüchen verurteilten.36 Warum also tadelt ihr Leute, die

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D. h. in den von mir versandten Briefen. »Er wollte lieber ein guter Mann sein als so zu erscheinen.« Man sehe Anm. (H) des Artikels AMPHIARAUS und Anm. (L) des Artikels CÄSAR.  Der letztgenannte Artikel nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  36 Cicero berichtet die Sache, aber er zählt nicht zu denen, die sie tadeln. »Eben jene Philosophen haben ihren Namen sogar den Büchern vorangestellt, in denen sie über die Verachtung des Ruhmes schreiben. Selbst in den Büchern, in denen sie sich verächtlich über Lobpreisungen und rühmliche 35

Vorrede zur ersten Ausgabe

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auf Ruhm aus sind, wenn ihr  durch eure Schriften  selbst zu erkennen gebt, daß ihr diese Schwachheit  nicht  verdammt?* Diesen Vorstellungen zufolge erschien mir nichts schöner, als dieselbe Uneigennützigkeit, die sich laut Evangelium in allen Taten der Barmherzigkeit finden soll, auf sämtliche Dienste auszuweiten, die man sich dem Publikum zu erweisen bemüht. Das also sind die Maximen, die mich zu dem Entschluß brachten, meinen Namen nicht auf das Titelblatt dieses Dictionnaire zu setzen. Die Verleumder werden mir das nicht glauben; sie werden der Ansicht sein, daß meine Bedenken sich auf die geringe Ehre stützten, die man durch das Erscheinen auf dem Titelblatt eines großen, zusammengetragenen Werkes erwirbt, das sie eine »Kloake von Sammlungen«, »das Zusammengeschmierte eines Abschreibers« nennen werden. Von allen Unternehmungen, die man sich in der Gelehrtenrepublik vornehmen kann, so werden sie sagen, gibt es keine verachtenswertere als die der Kompilatoren; sie sind die Sherpas der großen Männer. Zwar sind sie nicht unnütz: »Solche Leute«, sagte Scaliger,37 »sind die Lastenträger der gelehrten Männer, die uns alles zusammentragen. Das hilft uns sehr, solche Leute muß es geben.« Allein sind die niedrigsten Berufe nicht notwendig, und stammt der Nutzen, den sie erbringen, aus ihrer Niedrigkeit? Es ist also mehr Eitelkeit als Bescheidenheit, wenn man nicht für einen lastentragenden Autor gehalten werden will und die Klasse der Schriftsteller verlassen möchte, deren Produkte nicht so sehr Kopf- als vielmehr körperliche Arbeit sind und die ihr Gehirn auf ihren Schultern tragen. Die Verleumder mögen glauben, was sie wollen; gegen sie muß man nicht argumentieren. Ich werde daher einzig sagen,

Erwähnungen äußern, wollen sie selbst gelobt und genannt werden.« Cicero, Pro Archia poëta, Blatt 164 D meiner Folioausgabe. Man sehe auch Tusc. disput., Buch I, S. 247 D der Folioausgabe und Valerius Maximus, Buch VIII, Kap. 14, Nr. 3, extern. *  Die Worte in spitzen Klammern sind in Anlehnung an die Übersetzung von Pierre Desmaizeaux hinzugefügt. Hgg.  37 In den Scaligerana, mit der Stimme von du Maine, S. 148 meiner Ausgabe.

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daß ich nicht aus Wankelmütigkeit, sondern aus Gehorsam dem Souverän gegenüber tue, was ich so oft gesagt habe, nicht tun zu wollen. Um den Streit einiger Buchhändler beizulegen, hat man es für ratsam befunden, daß ich mich nenne. Andernfalls hätte Herr Reinier Leers nicht das Privileg erhalten können, das er seiner Meinung nach unumgänglich benötigt. Ich gehorche folglich blindlings. Ich werde also nicht einmal den gefürchteten Richtspruch von Cato dem Zensor zu fürchten haben.38 Es bleibt mir noch, ein Wort zu meinen ›Errata‹ und zu zwei oder drei anderen Kleinigkeiten zu sagen. Ich verstehe unter dem Wort ›Errata‹ meine Zusätze und meine Korrekturen. Wenn das Verzeichnis vollständig wäre, so umfaßte es mehr Seiten, als das jetzt der Fall ist. Ich schreibe sie nicht alle den Druckern zu, wie sehr sie auch unsere Geduld strapazieren, insbesondere wenn sie nicht alle Korrekturen ausführen, die man am Rande der Druckbogen anmerkt. Ich habe in diesem Punkt das Verhängnisvolle dieses Berufs erfahren, und ich vergesse es, so gut ich kann, animus meminisse horret  Es ist ein Graus für den Geist, sich daran zu erinnern . Nichtsdestoweniger übernehme ich einen Teil der Bürde, aber ich bitte diejenigen, die mich kritisieren wollen, gut auf meine ›Errata‹ zu achten. Ich bitte sie außerdem, falls sie auf etwas stoßen werden, was ihnen schlecht erscheint, nachzusehen, ob das nicht an den Autoren liegt, die ich anführe; denn wenn meine Übersetzungen nicht wortwörtlich sind, so sind sie doch zumindest sinngetreu. Sie müssen deshalb eine gewisse Unausgewogenheit enthalten, wenn meine Autoren unklar gesprochen oder gedacht haben. Wenn einige Leute glauben, sie seien unbegründeterweise in diesem Dictionnaire kritisiert worden und zu ihrer Rechtfertigung irgendein kleines Druckwerk veröffentlichen, indem sie 38

»Postumius Albinus hatte ein Geschichtswerk in griechischer Sprache geschrieben und bat dafür um Verzeihung. Cato machte sich über ihn lustig, indem er sagte, daß ihm diese zu gewähren sei, falls er durch Beschluß der Amphiktyonen gezwungen gewesen sei, jenes Werk auf griechisch zu verfassen.« Plutarch, Cato maior, S. 343 B meiner Ausgabe.

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vom Vergeltungsrecht Gebrauch machen, so wird man, dessen bin ich mir sicher, es gutheißen, wenn ich, anstatt mich von meiner Arbeit abzuwenden, um ihnen zu antworten, den Entschluß fasse, alles dergleichen auf die Fortsetzung dieses Werks zu verweisen. Ich werde meine Fehler aufrichtig bekennen und mich von ihnen distanzieren, ohne Kniffe anzuwenden, wie so viele andere es tun. In meinen Urteilen bin ich gelegentlich entschiedener gewesen, als nötig gewesen wäre; aber in Wahrheit handelt es sich dabei lediglich um Zweifel, die ich vortrage, und wenn ich sie in einem anderen Ton äußere, dann deshalb, um vor allem die Gelehrten anzuspornen, mir ihre Belehrungen zukommen zu lassen und eifriger an der Aufhellung der Dinge mitzuwirken. Ich bin fast durchgängig der gelehrten Rechtschreibung gefolgt, habe aber ein ›y‹ wie ein ›i‹ behandelt. Im Sachregister ist dies nicht erfolgt; ich habe das etwas zu spät bemerkt. Ich bin erst ab dem Buchstaben ›M‹39 auf den Gedanken gekommen, meine Zitate von denen der Autoren zu unterscheiden, aus denen ich Passagen anführe. Ab dieser Stelle bis zum Ende des Werks stammen die mit Ziffern markierten Zitate aus den Büchern selbst, aus denen ich irgend etwas entnommen habe. Die von mir stammenden sind mit Buchstaben und manchmal mit Sternchen markiert. Vor dem Buchstaben ›M‹ sind beide auf gleiche Art markiert. Ich kann nur für die meinen einstehen. Den 23. Oktober 1696

Diese Vorrede ist leicht überarbeitet worden, um in ihr einige Ausdrücke oder Wortfolgen zu ändern. Es ist aber nichts hinzugefügt worden, abgesehen von einigen Zitaten am Seitenrand und einigen Erläuterungen.* Etwa auf S. 545.  Diese Seitenangabe bezieht sich auf die Erstauflage von 1697. Hgg.  *  Der kursiv gesetzte Zusatz findet sich ab der 2. Auflage von 1702 am Ende der Vorrede zur Erstauflage. Hgg.  39

ABDAS

abdas, Bischof in Persien zur Zeit Theodosius’ des Jüngeren, verursachte durch seinen unbesonnenen Eifer eine ganz fürchterliche Verfolgung der Christen. Die Christen genossen in Persien völlige Gewissensfreiheit, als dieser Bischof sich die Freiheit nahm, einen der Tempel zu zerstören, in denen man das Feuer anbetete. Die Magier beschwerten sich darüber sogleich beim König, der Abdas holen ließ und ihm nach einem sehr milden Verweis befahl, den Tempel wieder aufbauen zu lassen. Obwohl der Fürst ihm erklärt hatte, daß er im Falle seines Ungehorsams sämtliche Kirchen der Christen einreißen lassen würde, wollte Abdas das nicht tun. Der Fürst machte daraufhin seine Drohung wahra und überließ die Gläubigen der Gnade der Geistlichkeit seines Landes (B), welche die den Christen gewährte Toleranz mit Schmerzen angesehen hatte und daher mit großer Wut über sie herfiel. Abdas war der erste Märtyrer, der bei diesem Zusammentreffen umkam; er war, sage ich, der erste Märtyrer, wenn man einen Menschen so bezeichnen darf, der die Kirche durch seine Unbesonnenheitb (C) in so großes Unglück stürzte. Die Christen, die bereits eins der wichtigsten Stücke christlicher Geduld vergessen hatten, griffen zu einem Mittel, das ein weiteres Blutbad verursachte. Sie erflehten Hilfe von Theodosius, wodurch ein langer Krieg zwischen Römern und Persern entfacht wurde.c Es ist zwar zutreffend, daß die Perser unterlagen. Aber stand es fest, daß sie die Römer nicht besiegen würden und daß infolge ihrer Siege die spezielle Verfolgung der Christen in Persien nicht ausufern und auch alle anderen Kirchen erfassen könnte? Hier sieht man, was aus dem a

Theodoret, Hist. eccl., Buch V, Kap. 39 entnommen. Vedelius, ein protestantischer Theologe, tadelt diesen Bischof. Man sehe Voetius, Disputat., Bd. III, S. 310. c Socrates, Hist. eccl., Buch VII, Kap. 18. b

Abdas

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unbedachten Eifer eines einzelnen Menschen entstehen kann. Dreißig Jahre reichten kaum aus, um die Wut der Verfolger zu befriedigen.d Wer diesen Grund für die leidenschaftlichen Angriffe der Perser unterdrückt hat,e ist nicht zu entschuldigen. Gegen solche Leute kann man in der Gelehrtenrepublik dieselbe Klage erheben, die man vor Gericht gegen gewisse Verkäufer anstrengt, wenn sie absichtlich Informationen zurückhalten, die dem Käufer bekannt sein müßten;f und es wäre zu wünschen, daß das Publikum gegenüber Historikern, die bestimmte Dinge unterdrücken, unnachsichtiger wäre, als es der Fall ist. Es gibt so wenige Historiker, die das nicht tun, daß es an der Zeit sein dürfte, dies nach Möglichkeit zu ändern.

(B) Der Gnade der Geistlichkeit seines Landes. So nenne ich die Magier, die unter anderem Sorge für die Religion trugen. Ihnen oblag es, darauf zu achten, daß diesbezüglich keine Neuerungen eingeführt wurden. Theodoret vergleicht sie mit dem Wirbelwind, der die Meereswogen entstehen läßt. »Dreißig Jahre dauert nun schon der Aufruhr des Meeres, der von den Magiern wie von Stürmen und Unwettern ausging.«4 Das war ihre Rolle in dem Wüten, das die persische Kirche dreißig Jahre lang so heftig erschütterte. Socrates berichtet, daß sie sich verschiedener Betrügereien bedienten, um den Zuwachs der christlichen Religion zu bremsen, als sie sahen, daß die Freundschaft, die Isdegerdes für den hl. Bischof Maruthas empfand, Anlaß zu der Befürchtung gab, daß er ihre Religion verlassen könnte.5 Sie waren kühn genug, einen Menschen unterirdisch in

d e

Theodoret, Hist. eccl., Buch V, Kap. 39. Man sehe Anm. (C). f (…). Cicero, De officiis, Buch III, Kap. 16. Man sehe auch Grotius De jure belli, Buch II, Kap. 8, Nr. 7 und Pufendorf, De jure nat., Buch V, Kap. 3. 4 Theodoret, Hist. eccl., Buch V, Kap. 39. 5 Socrates, Hist. eccl., Buch VII, Kap. 8.

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dem Tempel zu verstecken, in den der König ging, um das Feuer anzubeten, und sie gaben diesem Menschen die Anweisung, in Gegenwart des Königs loszuschreien, daß man diesen Fürsten verjagen müsse, weil er die Gottlosigkeit besessen hatte zu glauben, ein christlicher Priester wäre ein Freund Gottes. Wenn das, was die Gottlosen höchst fälschlich behaupten, wahr wäre, daß nämlich die Religion lediglich eine menschliche Erfindung sei, die von den Herrschern eingeführt wurde, um das Volk unter dem Joch des Gehorsams zu halten, müßte man dann nicht zugeben, daß die Fürsten als allererste in ihre eigene Falle getappt wären? Denn weit davon entfernt, daß die Religion sie zu Herren über ihre Untertanen machte, unterwirft sie die Religion im Gegenteil ihren Völkern in dem Sinne, daß sie verpflichtet sind, nicht die Religion zu haben, die ihnen die beste zu sein scheint, sondern die ihres Volkes. Und wenn sie einer von dieser verschiedenen Religion anhängen wollen, so hängt ihre Krone an einem seidenen Faden. Man sehe, wie die Magier Persiens ihren Prinzen bedrohten, der lediglich einen Bischof freundlich behandelt hatte. Hat man nicht behauptet, daß der letzte König von Siam von Thron gestoßen wurde, weil er den christlichen Missionaren zu sehr gewogen war?6 Derselbe Socrates, der uns über die von den Magiern verwendeten Kunstgriffe informiert, mit denen sie die Verbreitung des Evangeliums aufhalten wollten, belehrt uns auch, daß sie nach dem Tod des Isdegerdes seinem Sohn einen derartigen Verfolgungsgeist einpflanzten, daß es zur Verübung entsetzlicher Grausamkeiten gegen die Christen kam. Sie hatten schon vergeblich versucht, diesen Geist seinem Vater einzuflößen, denn es fehlte nicht viel, daß er das Christentum angenommen hätte. Socrates bezeugt das, aber er tut unrecht daran, nicht freimütig zu gestehen, daß Bischof Abdas durch seinen mutwilligen Frevel den Magiern einen sehr einleuchtenden Vorwand geliefert hatte. Man vergleiche dies mit der Anmerkung (B) des Artikels JUNIUS, Franciscus, Professor in Leiden.* 6 *

Ich schreibe dies im Jahr 1693.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

Abdas

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(C) Ein Mensch, der durch seine Unbesonnenheit. Nicht alle Kirchenhistoriker haben die Unaufrichtigkeit besessen, die ich soeben Socrates vorgeworfen habe, denn Theodoret hat freimütig eingeräumt, daß der Bischof, der einen Tempel zerstörte, Anlaß zu der schrecklichen Verfolgung gegeben hat, welche die Christen in Persien erdulden mußten.7 Er streitet nicht ab, daß der Eifer dieses Bischofs unzeitig war, aber er behauptet, daß seine Weigerung, einen solchen Tempel wiederaufzubauen, bewundernswürdig sei und eine Auszeichnung verdiene. »Denn«, so fügt er hinzu, »mir scheint es eine genauso große Gottlosigkeit zu sein, dem Feuer einen Tempel zu errichten, wie es anzubeten.« Nikephoros hat dies alles von Theodoret abgeschrieben.8 Ich für meinen Teil bin der Ansicht, daß kein Mensch, sei er nun Metropolit oder Patriarch, sich jemals diesem Gesetz der natürlichen Religion entziehen kann: »Man muß den Schaden, den man seinem Nächsten zugefügt hat, entweder durch Wiedergutmachung oder auf andere Weise ausgleichen.« Nun hatte Abdas als ein schlichter Mensch ohne Staatsamt und Untertan des Königs von Persien das Gut eines anderen zerstört, und zwar ein um so privilegierteres Gut, als es der herrschenden Religion gehörte. Er war folglich schlechterdings verpflichtet, dem Befehl seines Herrschers bezüglich der Wiedergutmachung bzw. der Wiederherstellung des Gutes, das er zerstört hatte, zu gehorchen. Und es war eine schlechte Entschuldigung zu sagen, der wiederaufgebaute Tempel hätte dem Götzendienst gedient. Denn nicht Abdas hätte ihn dazu gebraucht, und nicht er wäre für den Mißbrauch verantwortlich gewesen, den seine Besitzer mit ihm hätten anstellen können. Wäre es ein gültiger Grund, die Rückgabe einer Geld7

Theodoret, Hist. eccl., Buch V, Kap. 39. 8 Buch XIV, Kap. 19. Ich finde bei Saldenus, Otia theol., S. 639, daß Socrates das, was der Bischof getan hat, eine »bemerkenswert unzeitige Aktion nennt.« Er zitiert Hist. tripart., Buch X, Kap. 30, aber es ist sicher, daß dieses Kapitel aus Theodoret entnommen ist. Voetius, Disput. theol., Bd. III, S. 310, zitiert Eusebius, der davon nichts sagen konnte.

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börse, die man jemandem gestohlen hat, mit den Worten zu verweigern, der Bestohlene sei ein Mensch, der sein Geld für Ausschweifungen verwendet? Laßt ihn nur machen, ihr habt Gott nicht Rechenschaft zu geben für den Mißbrauch, den er von seinem Geld macht; laßt ihm sein Gut, welches Recht habt ihr daran? Außerdem: war der Bau eines Tempels, ohne den die Perser weiterhin Götzendiener geblieben wären wie zuvor, vergleichbar mit der Zerstörung mehrerer christlicher Kirchen? Der Bischof mußte folglich dem letzteren Übel durch das erstere zuvorkommen, denn der Fürst hatte dies in seine Wahl gestellt. Und schließlich: Was ist geeigneter, die christliche Religion bei allen Völkern der Welt verhaßt zu machen als zu sehen, daß die Christen, nachdem sie sich als Leute eingeschmeichelt haben, die nur die Freiheit verlangen, ihre Lehre vorzutragen, sodann die Kühnheit besitzen, die Tempel der Religion des Landes zu zerstören und es ablehnen, sie wieder aufzubauen, wenn der Herrscher es befiehlt? Gibt das den Ungläubigen nicht Anlaß zu sagen: »Diese Leute verlangen zunächst lediglich die schlichte Toleranz, aber nach kurzer Zeit wollen sie Ämter und Aufgaben mit uns teilen und sodann unsere Herren werden. Anfangs schätzen sie sich sehr glücklich, wenn man sie nicht verbrennt, sodann sehr unglücklich, wenn sie weniger Rechte genießen als die anderen und schließlich noch weit unglücklicher, wenn sie nicht die allein herrschende Partei sind. Eine gewisse Zeit lang ähneln sie Cäsar, der keinen Herrn über sich, daraufhin ähneln sie Pompeius, der keinen Ebenbürtigen neben sich ertrug.« (…).9 Die Verfolger der Reformierten haben diesen Gedanken Karl IX. in böswilliger Absicht eingeflößt, der, so heißt es, sich eines Tages dieser Worte im Gespräch mit dem Admiral de Coligny bediente: »Anfänglich behaupten sie, mit ein wenig Freiheit zufrieden zu sein, sodann wollen sie ebenbürtig sein, kurz danach alleine herrschen und uns aus dem Königreich vertreiben.«10 9

Lukan, Buch I, Vers 125. Man sehe auch Florus, Buch IV, Kap. 2. Davila, Hist. delle guerre civili di Francia, Buch IV, S. 158 unter dem Jahr 1566. 10

Abdas

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Das sind die unvermeidlichen Unannehmlichkeiten, denen sich die Leute aussetzen, die so nachdrücklich behaupten, man müsse sich der Kraft des weltlichen Arms zur Durchsetzung des wahren Glaubens bedienen. Dieser Art waren auch die Grundsätze des Abdas, denn was hätte er mit bewaffneter Hand unter einem christlichen Herrscher nicht gegen die Götzendiener unternommen, wenn er schon unter einem heidnischen Fürsten, der das Evangelium tolerierte, einen Tempel zerstörte, den die Heiden in besonderem Maße verehrten? Man vergleiche hiermit das, was man in der Anmerkung (B) des Artikels BRAUN, Georg, finden wird.*

*

 Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

ACOSTA

acosta, Uriel, ein portugiesischer Edelmann, wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Porto geboren. Er wurde in der katholischen Religion erzogen, zu der sich sein Vater aufrichtig bekannte,a obwohl er aus einer der jüdischen Familien stammte, die mit roher Gewalt gezwungen worden waren, die Taufe zu empfangen. Er wurde auf die Art erzogen, die Kindern aus guter Familie zukommt: Man ließ ihn Verschiedenes lernen, zu guter Letzt die Jurisprudenz. Die Natur hatte ihn mit guten Anlagen ausgestattet, und von der Religion war er so tief durchdrungen, daß er alle Gebote der Kirche eifrig zu befolgen wünschte, um der ewigen Verdammnis zu entgehen, die er sehr fürchtete. Aus diesem Grund widmete er sich der sorgfältigen Lektüre des Evangeliums und anderer geistlicher Bücher sowie dem Studium der Lehrbücher über die Beichte. Je mehr er sich aber damit beschäftigte, desto mehr spürte er, wie seine Schwierigkeiten wuchsen, bis sie ihn schließlich so sehr überwältigten, daß er sich in tödlicher Unruhe befand, weil er keine Lösung finden konnte. Er sah keine Möglichkeit mehr, pünktlich seine Pflicht hinsichtlich der Bedingungen für die Absolution nach der Lehre guter Kasuisten zu erfüllen. Daher verzweifelte er an seinem Heil, falls es nur auf diesem Weg zu erlangen war. Da er es aber schwierig fand, eine Religion aufzugeben, an die er seit der Kindheit gewöhnt war und die durch die Kraft der Überredung in seinem Gemüt verwurzelt war, blieb ihm nur die Untersuchung, ob nicht vielleicht das, was man ihm über das andere Leben beigebracht hatte, falsch war und ob diese Lehren überhaupt mit der Vernunft übereinstimmten. Ihm schien, daß seine a

»Mein Vater war wirklich ein Christ.« Uriel Acosta in seinem Exemplar humanae vitae, abgedruckt bei Herrn Limborch am Ende seiner Amica collatio cum judaeo de veritate religionis christianae, Amsterdam 1687, in Quart.

Acosta

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Vernunft ihm sofort Gründe zu deren Bestreitung lieferte. Damals war er etwa 22 Jahre alt, und dies war die Lage, in der er sich befand: Er zweifelte, und auf welche Art auch immer entschied er, daß er auf dem Weg, den ihm seine Erziehung gewiesen hatte, niemals seine Seele retten würde. Unterdessen studierte er die Rechte und erhielt mit 25 Jahren eine Pfründe.b Da er nicht ohne Religion leben wollte und das Bekenntnis zum Papismus ihm keine Ruhe schenkte, las er Moses und die Propheten, fand bei ihnen mehr Befriedigung als im Evangelium und gelangte schließlich zu der Überzeugung, daß der Judaismus die wahre Religion sei. Da er sich in Portugal aber nicht zum Judaismus bekennen konnte, entschloß er sich, sein Land zu verlassen. Er gab seine Pfründe auf und schiffte sich nach Amsterdam ein, zusammen mit seiner Mutter und seinen Brüdern, die er – so mutig war er – im jüdischen Glauben unterwiesen hatte (B) und die völlig von seinen Ansichten eingenommen waren. In Amsterdam angekommen, schloß er sich der Synagoge an und wurde dem Brauch entsprechend beschnitten. Er änderte seinen Namen von Gabriel zu Uriel. Schon nach kurzer Zeit erkannte er, daß die Sitten und Bräuche der Juden nicht mit dem mosaischen Gesetz übereinstimmten. Über eine derartige Diskrepanz konnte er nicht schweigen, aber die Oberen der Synagoge gaben ihm zu verstehen, daß er ihren Dogmen und Bräuchen Punkt für Punkt folgen müsse und daß man ihn bei der geringsten Abweichung exkommunizieren würde. Diese Drohung schreckte ihn nicht. Er fand, daß es zu einem Mann, der die Annehmlichkeiten seines Vaterlandes für die Gewissensfreiheit aufgegeben hatte, schlecht paßte, Rabbinen nachzugeben, die keine Jurisdiktion besaßen (C), und daß er weder Mut noch Gottesfurcht zeigte, wenn er seine Ansichten in einem solchen Konflikt preisgab. Deshalb blieb er bei seiner Haltung. Er wurde auch exkommuniziert, was die Wirkung hatte, daß sogar seine eigenen Brüder – eben diejenigen, die er im jüdischen Glauben unterwiesen hatte – nicht wagten, mit ihm zu sprechen noch ihn zu grüßen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. In b

Die Würde des Schatzmeisters einer Kollegialkirche.

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dieser Situation verfaßte er eine Schrift zu seiner Rechtfertigung, in der er zeigte, daß die Bräuche und Traditionen der Pharisäer den mosaischen Schriften entgegenstehen. Kaum hatte er damit begonnen, schloß er sich der Meinung der Sadduzäer an, denn er gewann die feste Überzeugung, daß die Strafen und Belohnungen des alten Gesetzes nur dieses Leben betreffen. Er stützte sich dabei hauptsächlich darauf, daß Moses weder das Glück des Paradieses noch das Leid der Hölle irgendwo erwähnt hat. Sobald seine Gegner erfuhren, daß er diese Ansicht vertrat, waren sie höchst erfreut, denn sie sahen voraus, daß er ihnen damit eine gute Handhabe bot, um die Maßnahmen der Synagoge gegen ihn vor den Christen zu rechtfertigen usw. So kam es, daß sie noch bevor sein Werk gedruckt vorlag ein Buch über die Unsterblichkeit der Seele veröffentlichten,c das ein Arzt verfaßt hatte, der nichts ungenutzt ließ, um Acosta als Atheisten erscheinen zu lassen. Man stiftete die Kinder an, ihn auf offener Straße zu beschimpfen und sein Haus mit Steinen zu bewerfen. Acosta ließ es sich nicht nehmen, ein Werk gegen das Buch des Arztes zu veröffentlichen und darin mit aller Kraft die Unsterblichkeit der Seele zu bestreiten.d Die Juden wandten sich an die Gerichte von Amsterdam und stellten ihn als einen Menschen hin, der sämtliche Fundamente der jüdischen und der christlichen Religion umstürze. Man ließ ihn verhaften und nach acht oder zehn Tagen gegen Kaution wieder laufen; man konfiszierte die Auflage seines Buches und erlegte ihm eine Geldbuße von 300 Gulden auf. Acosta machte hier nicht Halt: die Zeit und die Erfahrung trieben ihn noch viel weiter. Er untersuchte, ob das mosaische Gesetz von Gott kam, und er glaubte, gute Gründe für die Überzeugung zu haben, daß es nur eine Erfindung des menschlichen Geistes war. Aber anstatt daraus die Folgerung zu ziehen »Ich darf nicht in die jüdische Glaubensgemeinschaft zurückkehren«, folgerte er »Warum soll ich hartnäckig für mein ganzes Leben von ihr getrennt bleic

Im Jahr 1623. Dieses Werk hat den Titel Examen traditionum philosophicarum ad legem scriptam. d

Acosta

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ben, mit so vielen Nachteilen, ich, der ich mich in einem fremden Land befinde, dessen Sprache ich nicht verstehe? Ist es nicht viel besser, mit den Wölfen zu heulen?« Aufgrund dieser Überlegungen kehrte er fünfzehn Jahre nach seiner Exkommunikation in den Schoß des Judaismus zurück, widerrief seine Thesen und unterschrieb, was man von ihm verlangte. Einige Tage später wurde er von einem Neffen angezeigt, der bei ihm wohnte. Dieser junge Bursche hatte bemerkt, daß sein Onkel die Gesetze der Synagoge weder bei seinen Mahlzeiten noch in anderen Punkten befolgte. Diese Anschuldigung hatte befremdliche Folgen, denn ein Verwandter Acostas, der ihn mit den Juden versöhnt hatte, glaubte sich nun ehrenhalber verpflichtet, ihn unerbittlich zu verfolgen (D). Die Rabbinen und ihre ganze Gemeinde schlossen sich dieser Haltung an, vor allem nachdem sie erfahren hatten, daß Acosta zwei Christen, die von London nach Amsterdam gekommen waren, davon abgeraten hatte, Juden zu werden. Man zitierte ihn vor den Großen Rat der Synagoge und eröffnete ihm, daß er noch einmal exkommuniziert würde, wenn er nicht die geforderte Genugtuung leiste. Acosta fand diese Forderungen so hart, daß er antwortete, er könne sie nicht erfüllen. Daraufhin beschlossen sie, ihn aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Es ist unbeschreiblich, welcher Schimpf ihm daraufhin angetan wurde und welche Verfolgungen er seitens seiner Verwandten erleiden mußte. Nachdem er sieben Jahre in dieser traurigen Lage zugebracht hatte, entschloß er sich, seine Bereitschaft zu erklären, sich dem Urteil der Synagoge zu unterwerfen, denn man hatte ihm zu verstehen gegeben, daß er aufgrund dieser Erklärung glimpflich davonkommen würde, weil die Richter mit seiner Unterwerfung zufrieden sein und die strenge Strafe abmildern würden. Er wurde jedoch getäuscht: Man erlegte ihm die ursprünglich zuerkannte Buße in ihrer vollen Härte auf (E). Ich habe dies, ohne etwas zu verschweigen oder zu verändern und ohne mich für die Fakten verbürgen zu wollen, einer kleinen Schrift Acostas entnommen,e die von Herrn Limborch veröffentlicht und wie

Mit dem Titel Exemplar humanae vitae.

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derlegt worden ist.f Man glaubt, daß er sie wenige Tage vor seinem Tod verfaßt hat und nachdem er sich entschlossen hatte, aus dem Leben zu scheiden. Er führte diesen entsetzlichen Entschluß aus, kurz nachdem er seinen Hauptfeind verfehlt hatte.g Denn da die Pistole versagte, mit der er ihn töten wollte, als er ihn vor seinem Haus vorbeigehen sah, verschloß er seine Tür, nahm eine andere Pistole und tötete sich selbst.h Das geschah in Amsterdam, aber man weiß nicht genau, in welchem Jahr (F). Dies ist ein Beispiel zugunsten derer, welche die Freiheit verdammen, über Religionsdinge zu philosophieren, denn sie berufen sich vor allem darauf, daß eine solche Denkweise in kleinen Schritten zum Atheismus oder zum Deismus führe (G). Ich werde kurz auf die Betrachtung eingehen, die Acosta darüber anstellte, daß die Juden ihn noch verhaßter zu machen suchten, indem sie gern behaupteten, er sei weder Jude noch Christ noch Mohammedaner (H).

(B) Die er – so mutig war er – im jüdischen Glauben unterwiesen hatte. Er vergißt nicht, die Umstände zu erwähnen, die das Opfer verdeutlichen können, das er seiner Religion brachte. Er sagt, er habe einen einträglichen und ehrenvollen Posten ebenso aufgegeben wie sein schönes Haus, das sein Vater im vornehmsten Viertel der Stadt gebaut hatte.2 Er führt auch die Gefahr der Einschiffung an. Denn wer von Juden abstammt, darf das Königreich nicht ohne eine Sondererlaubnis des Königs verlassen. (…).3 Schließlich sagt er, daß man ihn hingerichtet hätte, wenn bekannt geworden wäre, daß er seine Mutter und seine Brüder f g

Man sehe oben Fußn. (a). Es handelt sich um seinen Bruder oder um seinen Cousin. Limborch in der Vorrede zum Exemplar vitae hum. h Limborch, ebd. 2 Uriel Acosta, Exemplar humanae vitae, S. 347. 3 Ebd.

Acosta

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im Judaismus unterwiesen hatte. Seine Liebe zu ihnen brachte ihn dazu, diese Gefahr zu mißachten. (…).4 Hier sehen wir übrigens, daß die Spanier und Portugiesen alles getan haben, was die ausgeklügeltste und härteste Politik zur Stützung einer Partei ersinnen kann. All das haben sie zur Unterstützung des Christentums und zur Vernichtung des Judaismus eingesetzt, und man würde ihnen schweres Unrecht antun, wenn man sie beschuldigte, sie hätten nach Art von Menschen, die seelenruhig die Wirkung ihrer Gebete abwarteten, die Kirche dem Schutz des Himmels überlassen. (…). Man könnte vielmehr sagen, sie haben entsprechend den Vorwürfen gehandelt, die Cato den Römern machte, als er sie dafür tadelte, daß sie sich auf die Hilfe der Götter verließen; sie helfen niemals den Trägen, fügte er hinzu, denn die Trägheit ist ein Zeichen dafür, daß der Himmel zürnt. (…).6 Schließlich möchte man sagen, daß die Lektion, für welche die Spanier und Portugiesen am empfänglichsten sind, der letzte Teil des Grundsatzes ist, den ein moderner Autor so formuliert hat: »Man muß sich sozusagen der Vorsehung Gottes überlassen, als ob alle menschliche Klugheit nutzlos wäre, und sich nach den Regeln menschlicher Klugheit richten, als ob es keine Vorsehung gäbe.«7 Sie würden sich fraglos über jeden Autor lustig machen, der sie tadeln wollte, weil sie das Christentum wie einen alten Palast behandelten, der auf allen Seiten gestützt werden muß, weil er einzustürzen droht, und den Judaismus wie eine Festung, die man unablässig mit Granaten und Bomben belegen muß, wenn man sie schwächen will. Gewisse Methoden, die gute Sache zu unterstützen, muß man mit Recht verurteilen, aber letztlich braucht sie Unterstützung, und das Mißtrauen ist die Mutter der Sicherheit. (…).

4

Ebd. Sallust, Bellum Catilin., S. 160. 7 Cotin, Oeuvres galantes, Bd. I, im Discours sur la verité des songes, S. 260. 6

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(C) Rabbinen, die keine Jurisdiktion besaßen. Zweifellos besteht ein großer Unterschied zwischen den Gerichten, die unser Acosta in seiner Heimat zu fürchten hatte, und dem Gericht der Amsterdamer Synagoge. Dieses kann nur Kirchenstrafen verhängen, aber die christliche Inquisition kann die Todesstrafe verhängen, denn sie liefert die von ihr Verurteilten dem weltlichen Arm aus. Ich wundere mich also nicht, daß Acosta die jüdische Inquisition weniger fürchtete als die portugiesische. Er wußte, daß die Synagoge keine Gerichte hatte, die sich in Zivil- und Strafprozesse einmischten. Daher betrachtete er seine Exkommunikation als ›kalten Blitzschlag‹; er sah als Konsequenz dieser Kirchenstrafe weder den Tod oder eine andere Aktion des Henkers noch das Gefängnis noch Geldstrafen. Er glaubte daher, daß er, der mutig genug war, seine Religion in Portugal nicht zu verraten, mit weitaus besserem Grund den Mut haben müßte, unter den Juden seinem Gewissen entsprechend zu reden, selbst wenn sie ihn dann exkommunizieren sollten; denn das war alles, was Leute ohne eigene Gerichtsbarkeit tun konnten. (…).8 Es erging ihm jedoch wie fast allen Menschen, die über miteinander verbundene Übel urteilen: Sie bilden sich ein, das Unglück bestehe in der Verbindung von zwei oder drei Strafen, und man sei nicht sehr zu bedauern, wenn man nur eines dieser Übel erdulden müsse. Sobald die Vorsehung sie nur eines dieser zwei oder drei Übel durchmachen läßt, machen sie die Erfahrung des Gegenteils. Sie empfinden es viel stärker als sie erwartet hatten. Die portugiesische Inquisition erschien dem Juden Acosta fürchterlich. Warum? Weil er sie mit der unmittelbaren oder mittelbaren Macht verbunden sah, Menschen einzukerkern, zu foltern, zu verbrennen. Wenn er sie als Institution betrachtet hätte, die nur exkommunizierte, so hätte er sie nicht sehr gefürchtet. Das ist der Grund, warum er sich über die Drohungen der Amsterdamer Synagoge hinwegsetzte. Die Erfahrung lehrte ihn jedoch, daß die bloße Macht der Exkommunikation schrecklich genug 8

Acosta, Exemplar humanae vitae, S. 347.

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ist, auch wenn sie von den Funktionen des weltlichen Arms völlig getrennt ist. Nach seiner Exkommunikation betrachtete man ihn als einen Aussätzigen. Seine eigenen Brüder wagten ihn nicht mehr zu grüßen. (…).9 Auf der Straße liefen die kleinen Kinder schreiend hinter ihm her und verfluchten ihn; sie rotteten sich vor seiner Wohnung zusammen und warfen mit Steinen. (…). Weder drinnen noch draußen fand er Ruhe. (…).10 Durch die Exkommunikation sah er sich so schweren Übeln ausgesetzt, daß er sie schließlich nicht mehr ertragen konnte. Denn so sehr er auch die Synagoge haßte, wollte er doch lieber mittels einer vorgetäuschten Versöhnung zu ihr zurückkehren, als offen von ihr getrennt zu sein. Daher sagte er auch einigen Christen, die Juden werden wollten, daß sie nicht wüßten, welches Joch sie sich auf den Hals luden. (…).11 Doch wie groß waren seine Schwierigkeiten, als er sich nicht der schimpflichen Buße unterziehen wollte, die ihm die Synagoge auferlegte, und er sich folglich immer noch in den Fesseln der Exkommunikation sah! Man spuckte aus, wenn man ihm begegnete, und hielt auch die Kinder dazu an. (…).12 Seine Verwandten verfolgten ihn, niemand kam ihn in seinen Leiden besuchen. Machen wir es kurz. Man drangsalierte ihn auf vielerlei Arten, so daß man schließlich die geforderte Unterwerfung aus ihm herauspreßte. (…).13 Wir werden in Anmerkung (E) sehen, welche Strafe man ihm auferlegte. Er wußte nun besser als je zuvor, wie schrecklich selbst solche Leute sind, die ohne jede Jurisdiktion die Gesetze der Kirchenzucht handhaben. Ich hüte mich davor, die Argumente der Independenten zu billigen. Diese Leute finden es ganz schlecht, daß die Kirche das Recht der Exkommunikation beansprucht, d. h. das Recht, Strafen zu verhängen, die manchmal schimpflicher sind als ein Brandzeichen und die einen Menschen mehr zeitlichen Übeln 9 10 11 12 13

Ebd. Ebd. A. a. O., S. 348. A. a. O., S. 349. Ebd.

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aussetzen als die körperlichen Züchtigungen, die bürgerliche Richter verhängen. Der Richterspruch unterbindet nicht Handlungen und Pflichten der Humanität, noch viel weniger Pflichten der Blutsverwandtschaft. Die Exkommunikation hingegen läßt mitunter Väter gegen ihre Kinder die Waffe erheben und umgekehrt, sie erstickt sämtliche natürlichen Gefühle, sie zerreißt die Bande der Freundschaft und der Gastlichkeit, sie bringt Menschen in die Lage von Pestkranken und sogar in noch viel größere Verlassenheit.

(D) Ein Verwandter (---) glaubte sich verpflichtet (---), ihn unerbittlich zu verfolgen. Dies sind die Übeltaten dieses Verwandten: Acosta war im Begriff, eine zweite Ehe einzugehen; ein großer Teil seines Vermögens befand sich in den Händen eines seiner Brüder, und Acosta hatte ein großes Interesse daran, die Geschäftsbeziehungen mit diesem aufrechtzuerhalten. Sein Verwandter durchkreuzte alle diese Pläne. Er verhinderte die Heirat und veranlaßte den Bruder, Acostas Geld einzubehalten und keine weiteren Geschäfte mit ihm zu machen. Dieses Vorgehen muß als einer der Gründe angesehen werden, die Acosta in seiner gottlosen Haltung bestärkten. Denn er redete sich zweifellos ein, daß diese Leidenschaften und Ungerechtigkeiten mit gewissen Stellen des Alten Testaments gerechtfertigt werden könnten, wo das Gesetz Brüdern, Vätern und Ehegatten befahl, das Leben ihrer Brüder, Kinder und Ehefrauen nicht zu schonen, falls sie sich gegen die Religion erhoben.14 Man muß wissen, daß Acosta sich dessen als Beweis gegen das mosaische Gesetz bediente, denn er behauptete, ein Gesetz, das die natürliche Religion umstürzte, könne nicht von Gott, dem Urheber dieser Religion, stammen.15 »Denn«, so sagte er, »die natürliche Religion knüpft Bande der

14 15

Man sehe Deuteronomium, Kap. 13. Acosta, Exemplar humanae vitae, S. 352.

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Liebe zwischen Verwandten.« Man sehe, was Herr Limborch auf diesen Sophismus erwidert hat.16

(E) Die ursprünglich zuerkannte Buße in ihrer vollen Härte. Hier ist seine eigene Darstellung: In der Synagoge war eine große Menge von Männern und Frauen zusammengekommen, um das Schauspiel anzusehen. Er kam herein, bestieg zur festgesetzten Zeit die Kanzel und verlas mit lauter Stimme ein Schriftstück mit seinem Bekenntnis, daß er tausendfach den Tod verdient habe, weil er weder den Sabbat noch sein Glaubensgelübde eingehalten und konversionswilligen Menschen vom Bekenntnis des Judaismus abgeraten hatte; daß er zur Sühnung dieser Verbrechen bereit sei, alles zu erdulden, was man ihm auferlegen würde, und daß er gelobe, nie wieder in derartige Sünden zurückzufallen. Nachdem er von der Kanzel herabgestiegen war, befahl man ihm, sich in eine Ecke der Synagoge zu begeben, wo er sich bis zum Gürtel entblößte und die Schuhe auszog. Dann band der Türsteher seine Hände an eine Säule, und der Vorsänger gab ihm 39 Peitschenhiebe, nicht mehr und nicht weniger, denn bei derartigen Zeremonien achtet man darauf, die vom Gesetz vorgeschriebene Anzahl nicht zu überschreiten. Danach kam der Prediger und befahl ihm, sich auf den Boden zu setzen, und sprach ihn von der Exkommunikation los, so daß das Tor zum Paradies nicht mehr wie zuvor für ihn verschlossen war. (…).17 Acosta zog seine Kleider wieder an und legte sich dann an der Tür der Synagoge auf den Boden; alle, die hinausgingen, schritten über ihn hinweg. Ich glaubte, der Leser würde diesen kleinen Ausschnitt aus den jüdischen Zeremonien hier ganz gern sehen.18

16 17 18

Philipp van Limborch in der Refutat. Urielis Acostae, S. 361 ff. Acosta, Exemplar humanae vitae, S. 350. Er ist Acostas Exemplar humanae vitae, S. 349 f. entnommen.

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(F) Aber man weiß nicht genau, in welchem Jahr. Vieles spricht dafür, daß er sich kurz nach der Lossprechungszeremonie tötete, voller Zorn über die Behandlung, die er entgegen seiner Hoffnung auf eine mildere Strafe erlitten hatte. Daraus läßt sich jedoch nicht der genaue Zeitpunkt bestimmen, weil wir das Jahr nicht kennen, in dem er diese Buße leistete. Wenn man wüßte, wie lange er im Zustand der Exkommunikation gelebt hat, nachdem das Buch des Arztes im Jahr 1623 veröffentlicht worden war, wäre die genaue Berechnung nicht schwer. Denn er gibt an, daß seine erste Exkommunikation fünfzehn Jahre und die zweite sieben Jahre dauerte und daß die zweite bald auf die erste folgte. In der Bibliothèque universelle heißt es, daß er sich etwa im Jahr 1647 tötete;19 andere sagen jedoch, daß es 1640 war.20

(G) Eine solche Denkweise führt in kleinen Schritten zum Atheismus oder zum Deismus. Acosta dient ihnen als Beispiel. Er wollte sich nicht mit den Entscheidungen der katholischen Kirche zufriedengeben, weil er fand, daß sie mit seiner Vernunft gar nicht übereinstimmten, und er nahm den Judaismus an, weil er in ihm mehr Übereinstimmung mit seinen Einsichten antraf. Danach verwarf er unzählige jüdische Traditionen, weil er zu dem Urteil kam, daß sie nicht in der Schrift enthalten waren; sogar die Unsterblichkeit der Seele verwarf er unter dem Vorwand, das göttliche Gesetz sage nichts davon. Zuletzt leugnete er die Göttlichkeit der Bücher Mose, weil die Befehle dieses Gesetzgebers nach seinem Urteil nicht mit der natürlichen Religion übereinstimmten. Wenn er sechs oder sieben Jahre länger gelebt hätte, dann hätte er vielleicht sogar die natürliche Religion geleugnet, weil seine 19

Biblioth. univers., Bd. VII, S. 327. Joh. Helvicus Willemerus in der Dissertat. philologica de Sadducaeis, letzte Seite. Er zitiert Müller, Judaïsm., Vorrede, S. 71. 20

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erbärmliche Vernunft ihm Schwierigkeiten in der Lehre von der Vorsehung und dem freien Willen des ewigen und notwendigen Wesens gezeigt hätte. Wie dem auch sei, es gibt niemanden, der beim Gebrauch seiner Vernunft nicht den Beistand Gottes nötig hätte, denn ohne Beistand ist sie ein Führer, der in die Irre geht. Man kann die Philosophie mit stark ätzenden Pulvern vergleichen, die zunächst das wilde Fleisch einer Wunde verzehren, dann das gesunde Fleisch angreifen, die Knochen anfressen und bis ins Mark zersetzen. Die Philosophie widerlegt zunächst die Irrtümer, aber wenn man ihr hier nicht Einhalt gebietet, greift sie die Wahrheiten an; und wenn man sie nach Gutdünken walten läßt, geht sie so weit, daß sie nicht mehr weiß, wo sie ist, und keinen Ruheplatz mehr findet. Das muß man der Schwäche des menschlichen Geistes oder dem Mißbrauch seiner vorgeblichen Kräfte anlasten. Zum Glück oder vielmehr: durch eine weise Anordnung der Vorsehung sind nur wenige Menschen in der Lage, in diesen Mißbrauch zu verfallen.

(H) Sie behaupteten gern, er sei weder Jude noch Christ noch Mohammedaner. In dieser Behauptung, erwiderte Acosta, steckt sowohl Bosheit als auch Unwissenheit. Denn wenn er Christ gewesen wäre, hätten sie ihn als einen abscheulichen Götzendiener betrachtet, der ebenso wie der Begründer des Christentums vom wahren Gott als Abtrünniger zu bestrafen gewesen wäre. Wenn er der mohammedanischen Religion gefolgt wäre, hätten sie nicht weniger haßerfüllt von ihm gesprochen. Er konnte sich also auf keine andere Art vor ihrer üblen Nachrede schützen als dadurch, daß er sich demütig den pharisäischen Traditionen anschloß. (…).21 Er gibt noch eine weitere Antwort, denn er fragt seine Gegner, ob sie außer den drei genannten Religionen, von denen die zwei letzten in ihren Augen weniger eine Religion als vielmehr ein Aufstand gegen Gott waren, noch eine andere 21

Acosta, Exemplar humanae vitae, S. 351.

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Religion anerkennen. Er setzt dabei voraus, daß sie eine natürliche Religion als wahr und als das Mittel anerkennen, das ausreicht, das Wohlgefallen Gottes zu erlangen und alle Völker außer den Juden zu retten. Es ist die Religion, die in den sieben Geboten enthalten ist, die Noah und seine Nachkommen bis zu Abraham befolgten. »Folglich«, so sagt er, »gibt es nach Eurer Meinung eine Religion, auf die ich mich verlassen kann, obwohl ich von Juden abstamme. Denn wenn auch meine Gebete Euch nicht dazu bringen können, daß Ihr mir gestattet, mich unter die Menge der anderen Völker zu mischen, so werde ich mir auch weiterhin diese Freiheit nehmen.« Hierauf singt er das Loblied der natürlichen Religion.

Wie sehr die Idee der Neutralität in Religionsdingen die Menschen schockiert und empört Aus seiner ersten Antwort läßt sich leicht ersehen, daß die Juden ihm einen eher trügerischen als starken Einwand machten. Dieser war weniger solide als glänzend, eher ihren Zwecken dienlich als den Gesetzen genauen Denkens gemäß. Er war im Grunde ein wenig betrugsverdächtig. Sein Glanz kommt daher, daß der Geist des Menschen so angelegt ist, daß ihn aufgrund des ersten Eindrucks die Neutralität in der Gottesverehrung heftiger verstört als eine falsche Gottesverehrung. Sobald er also davon hört, daß bestimmte Leute die Religion ihrer Väter verlassen haben, ohne sich einer anderen Religion anzuschließen, wird er von stärkerem Abscheu erfüllt, als wenn er erfährt, sie seien von der besseren zur schlechteren Religion übergetreten. Dieser erste Eindruck verblüfft und bewegt ihn derart, daß er sich daraufhin sein Urteil über jene Leute bildet und dementsprechend starke Leidenschaften ihnen gegenüber empfindet. Er hat nicht die nötige Geduld, gründlich zu prüfen, was wirklich besser ist: sich unter die Fahne des Teufels in einer der falschen Religionen zu stellen, die dieser Feind Gottes und der Menschen gestiftet hat, oder aber Neutralität zu wahren. Man darf also glauben, daß die Pharisäer, die Acosta verfolgten, ihren Ein-

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wand nur geltend machten, weil sie ihn brauchbar fanden, um das Volk aufzuscheuchen und die Christen in den Streit hineinzuziehen. Ich gebe zu, daß sie weniger Lärm gemacht hätten, wenn er in Amsterdam das Christentum oder in Konstantinopel den Mohammedanismus angenommen hätte; aber sie hätten ihn dann nicht weniger verloren, verdammt und abtrünnig gefunden: Ihre Zurückhaltung wäre nur politisch bedingt und die Wirkung berechtigter Furcht vor dem Groll der herrschenden Religion gewesen. Nach dem ersten Eindruck zu urteilen, gibt es kaum Protestanten, die auf die Meldung hin, jemand habe die reformierte Kirche verlassen, ohne in eine andere Glaubensgemeinschaft einzutreten, nicht sagen würden, er sei ein schlimmerer Übeltäter, als wenn er Papist geworden wäre. Ich möchte diese Protestanten aber gern fragen: »Habt Ihr gute Gründe dafür? Habt Ihr gut überlegt, was Ihr sagen würdet, wenn er ein glühender Bekenner des Papismus geworden wäre, wenn man sehen würde, wie er mit Reliquien beladen zu allen Prozessionen läuft, kurzum, wenn er all die Ausschweifungen des Götzendienstes und des Aberglaubens der Mönche praktizieren würde? Könntet Ihr antworten, daß Ihr anders sprechen würdet, wenn Ihr hörtet, er sei Jude oder Mohammedaner oder Anbeter der chinesischen Pagoden geworden?« Noch einmal: Der Geist des Menschen ist so angelegt, daß der erste Eindruck die Richtschnur seiner Leidenschaften ist, daß er sich den Augenblick zunutze macht und nicht fragt, was er unter anderen Umständen sagen würde. Dieser Mensch hat uns verlassen und sich keiner anderen Partei angeschlossen; deswegen muß man ihn angreifen, seine Indifferenz muß jetzt sein größtes Verbrechen sein. Wenn er Heide geworden wäre, würden wir ihn deswegen angreifen und sagen oder zumindest denken: »Wenn er wenigstens neutral geblieben wäre und sich dem Gros der natürlichen Religion zugesellt hätte, möchte das noch durchgehen; so aber usw.« Durch die zweite Antwort nahm Acosta seinen Gegnern einen großen Vorteil: Er ging in Deckung vor dieser starken Batterie »Es ist besser, eine falsche Religion zu haben, als gar keine«. Nichtsdestoweniger wollen wir abschließend sagen, daß er ein

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verabscheuungswürdiger Mensch und ein mißratener Geist war, der elendiglich auf den Irrwegen seiner falschen Philosophie verlorenging.

AMPHIARAUS

amphiaraus, einer der größten Propheten des Heidentums, war der Sohn des Oïkles und ein Urenkel des Melampus, der einen Teil des Königreichs Argos als Geschenk erhalten hatte, weil er den Frauen dieses Landes einen großen Dienst erwiesen hatte. a Diese Teilung des Königreichs war ein Keim der Zwietracht, deren große Auswirkungen sich noch zur Zeit des Königs Adrastos von Argos bemerkbar machten, der sich gezwungen sah, sein Land zu verlassen, weil er sich nicht gegen die Partei des Amphiaraus behaupten konnte.b Dieser hatte Talaus, den Vater des Adrastos, töten lassen und die Krone an sich gerissen.c Der Streit wurde durch die Heirat des Amphiaraus mit Eriphyle, der Schwester des Adrastos, beigelegt, so daß letzterer den Thron wiedererlangte. Davon spreche ich an anderer Stelled, ohne dabei die neuen Streitigkeiten zu vergessen, die Eriphyle, die zur Schiedsrichterin gewählt wurde, zugunsten des Adrastos und zum Nachteil ihres Gatten entschied. Der Streich, den sie ihrem Gatten während der Vorbereitungen des Feldzugs gegen Theben spielte, war eine schändliche Tat. Amphiaraus, der dank seiner Sehergabe voraussah, daß er in diesem Krieg umkommen werde, wollte nicht daran teilnehmen und verbarg sich. Seine Gattin wurde jedoch durch ein Geschenk dazu gebracht, sein Versteck zu verraten.e Er mußte daher gegen seinen Willen die anderen Fürsten auf dem Zug gegen Theben begleiten. Dieser

Man sehe den Artikel MELAMPUS.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  b Pindar, Od. IX, Nemeor., S. 608. c Man sehe Benoits Kommentar zu Pindar, a. a. O., S. 608 f. d In Anm. (F) des Artikels ADRASTUS.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  e Man sehe den Artikel ALKMAION, Sohn des Amphiaraus.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  a

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ging sehr unglücklich aus, und Amphiaraus kam auf erstaunliche Weise um: Durch einen Blitzschlag tat sich eine Erdspalte auf, und er wurde mitsamt seinem Wagen von dem Abgrund verschlungen. Wer behauptet, dieses Unglück sei ihm an demselben Tag widerfahren, an dem sich das Heer Theben näherte,f täuscht sich. Er starb erst am Tag des Rückzugs, nachdem die Belagerung eine ganze Zeitlang gedauert hatte. Dieses traurige Ereignis ist von zahlreichen Autoren berichtet worden, weshalb die Umstände nicht immer übereinstimmend dargestellt sind. Es hat recht abwegige Betrachtungen über diese Todesart gegeben. So hat man geglaubt, Amphiaraus sei aus der Hölle wiedergekommen, und man hat den Ort seiner Wiederauferstehung angegeben.g Er wurde in die Schar der Götter aufgenommen; man weihte ihm Tempel, und sein Orakel war hochberühmt. Die Spiele, die man ihm zu Ehren abhielt,h erregten Aufsehen. Man glaubt, daß er vor allem durch die Deutung von Träumen hervorstach, aber er beschränkte sich nicht darauf: Er war der Erfinder der Weissagung mittels des Feuers. Gegen seine Gattin empfand er so heftigen Groll, daß er den Kindern, die er von ihr hatte, befahl, sie zu töten, sobald ihr Alter es erlaubte.i Man hat ihm hohes Lob gezollt, u. a. auch dieses, daß er sich bemühte, ehrenhaft zu sein und es nicht bloß zu scheinen – ein großartiges Thema für Betrachtungen (H). Wenn ich nicht irre, ist Apollodor der einzige, der ihn in das Verzeichnis der Argonauten aufgenommen hat,k denn weder Apollonius noch Hyginus noch Valerius Flaccus haben das getan. Man zählt ihn zu den weisen Männern, die das Unglück hatten, in Unternehmungen verwickelt zu werden, die von Toren geleitet wurden. Dies ist zweifellos ein trauriges Schicksal, das aber nur zu gewöhnlich f

Charles Etienne und Lloyd in ihren Wörterbüchern, Olivier zu Val. Max., Buch VIII, gegen Ende, sowie mehrere andere. g Man sehe Fußn. (45).  Nicht aufgenommen in dieses Sammlung. Hgg.  h Man sehe Benoit zu Pindar, Ode VII, Olymp., S. 143. i Das hat dann sein Sohn Alkmaion ausgeführt. Man sehe seinen Artikel.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  k Apollodorus, Buch I, S. 53.

Amphiaraus

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ist. Die Art, wie er eine Frau tröstete, die ihren toten Sohn beweinte, verlangt eine Anmerkung. Ich wüßte gern Näheres über den Prozeß, den die Steuereinnehmer gegen seine Priester führten. Ich habe an anderer Stellel die Nichtigkeit des Arguments aufgezeigt, mit dem man die Gewißheit seiner Prophezeiungen beweisen wollte. Er hinterließ zahlreiche Kinder, von denen eines die Stadt Tibur in Italien gründete. Plinius notiert dies in seinem Bericht von sehr sonderbaren Dingen bezüglich des langen Lebens der Bäume.

(H) Seine Maxime, sich zu bemühen, eher ehrenhaft zu sein als bloß zu scheinen, ist ein großartiges Thema für Betrachtungen. Zuerst will ich das Faktum berichten. Aristides »war niemals stolz wegen der Ehre, die man ihm erwies, noch war er niedergeschlagen oder beunruhigt wegen einer erfahrenen Ablehnung oder Verweigerung; denn er war der Meinung, daß ein guter Bürger sich immer bereithalten sowie Körper und Geist im Dienst der öffentlichen Angelegenheiten einsetzen muß, ohne einen äußeren Lohn in Form von Geld, Ehre oder Ruhm zu erhoffen oder zu erwarten. Nun trug man eines Tages im Theater gewisse Verse aus einer Tragödie des Aischylos vor, die den alten Seher Amphiaraus priesen und deren Tenor dieser war: ›Er will nicht gerecht scheinen, sondern es sein, da er die Tugend aus tiefstem Herzen liebt, woraus gewöhnlich, wie wir sehen, weiser Rat zum Besten erwächst.‹ Da richteten sich unverzüglich alle Augen auf Aristides als denjenigen, dem vor allen anderen das Lob für eine so hohe Tugend mit Recht gebührte, denn er widerstand fest und unerschütterlich nicht nur Gunst und Gewogenheit, sondern auch Zorn und Haß. Und wo es um die Gerechtigkeit ging, hat er weder aus Freundschaft etwas für seine Freunde noch aus Feindschaft etwas gegen seine Gegner In Anm. (F) des Artikels MELAMPUS.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  l

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unternommen.«86 Das ist das schönste Lob der Welt. Amphiaraus war zu bewundern, wenn er es verdiente; Aristides, der es zu verdienen schien, war ein unvergleichlicher Mann. (…). Wir wollen einige Betrachtungen zu einem Thema anstellen, das eine Unzahl von Reflexionen nahelegt. I. Wenn die Heiden auch nicht die wahre Tugend ausübten, so haben sie sie doch wenigstens gut kennen müssen, denn sie haben diejenigen gelobt, die sich von einer guten Tat weder einen finanziellen Vorteil noch öffentliche Anerkennung als Lohn versprachen, und sie haben diejenigen verachtet, die mit ihrem tugendhaften Verhalten auf den guten Ruf, den Ruhm oder den Beifall ihrer Mitmenschen abzielten. Ihr mögt am Profit, am Erlangen von Reichtümern oder Posten so desinteressiert sein wie ihr wollt – wenn ihr es nicht auch hinsichtlich des Lobes seid, so kriecht ihr nur: Ihr seid dann nicht von der Krankheit der Eigenliebe geheilt, ihr habt euch dann erst von den gröbsten Fesseln befreit, ihr tragt nur eine feinere Kette. Kurz: ihr werdet euer Abbild in Herrn Esprits Abhandlung La fausseté des vertus humaines finden. Wendet auf alle Tugenden an, was Seneca für die Freigebigkeit vorschreibt, und sie werden wirkliche Tugenden sein. Ohne dieses sind sie es mitnichten. Hier ist die Sittenlehre dieses Philosophen; er beantwortet diesen Einwand: (…). »Wie also? Er soll nicht wissen, von wem er es empfangen hat? Zunächst soll er es nicht wissen, falls eben das ein Teil der Wohltat ist, aber danach will ich noch viel mehr tun, ihm vieles zukommen lassen, woran er dessen Urheber erkennen kann. Zuletzt soll er nicht wissen, daß er empfangen hat; ich aber werde wissen, daß ich gegeben habe. Du sagst, ›das ist zu wenig‹. Zu wenig, wenn du an Zinsen denkst; wenn du nur ans Geben denkst, wirst du so geben, wie es dem Empfänger am meisten nützt, und damit zufrieden sein, daß du es weißt. Anderenfalls freut dich nicht die gute Tat, sondern der Anschein, Gutes getan zu haben. ›Ich will, daß er es weiß‹, sagst du. Du suchst einen Schuldner. ›Ich 86

Plutarch in der Vita Aristidis, S. 120. Ich bediene mich der Übersetzung von Amyot. Man sehe auch Plutarch, Apophthegmata, S. 186 und De audiendis poetis, S. 32.

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will auf jeden Fall, daß er es weiß.‹ Was, wenn es für ihn nützlicher ist, es nicht zu wissen? Wenn es ehrenhafter, wenn es angenehmer ist? Wirst du dann nicht deine Meinung ändern? ›Ich will, daß er es weiß.‹ So willst du ihn nicht im Dunkeln lassen? Ich leugne nicht, daß man nach dem Willen des Empfängers Freude empfinden kann, wenn die Sachlage es erlaubt. Wenn es aber nötig ist, daß ihm geholfen wird, und er sich dessen schämt; wenn meine Gabe beleidigt, falls sie nicht verborgen bleibt, dann lasse ich von meiner Wohltat nichts verlauten. Was also? Ich werde ihm nichts von meiner Gabe sagen, weil es zu den ersten und notwendigsten Geboten gehört, ihm eine Wohltat nicht vorzuhalten, ihn nicht einmal daran zu erinnern. Denn dies ist das Gesetz der Wohltätigkeit zwischen Geber und Empfänger: Der eine soll seine Gabe sofort vergessen, der andere aber niemals, daß er sie empfangen hat.«87 Meine II. Betrachtung lautet, daß die Absicht, Lob zu ernten, nur selten der einzige Zweck derjenigen ist, die sich nicht mit dem Zeugnis ihres Gewissens begnügen. Wenn man die Personen sorgfältig beobachtet, die diese beiden Dinge anstreben: einerseits ehrenhaft zu sein und andererseits auch so zu scheinen, wird man sehen, daß sich ihr Ehrgeiz nicht darauf beschränkt, die Wirklichkeit der Tugend mit ihrem äußeren Anschein zu verbinden. Der feine Duft des Weihrauchs genügt ihnen nicht, sie wünschen, daß sich etwas Gröberes damit vermischt. Die bloße Reputation kommt ihnen wie eine allzu geistige Belohnung vor, sie bemühen sich, sie in Annehmlichkeiten des Lebens zu verwandeln, und sie benutzen Lob und Anerkennung häufig dazu, sich das Wohlwollen derer zu erwerben, die Posten zu vergeben haben; und dann benutzen sie dieses Wohlwollen, um sich zu bereichern oder um alle ihre Leidenschaften zu befriedigen. Daher besteht das sicherste Mittel, die Reinheit der Seele zu bewahren, darin, eben das zu tun, was man von Amphiaraus und Aristides gesagt hat: Bemüht euch, ehrenhaft zu sein, das sei euer großes Ziel. Strebt nicht danach, ehrenhaft zu scheinen, denn dieses Streben hat gefährlichere Folgen als ihr denkt. 87

Seneca, De beneficiis, Buch II, Kap. 10.

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III. Sokrates wird das Wort zugeschrieben, daß es keinen kürzeren Weg zur Tugend gibt, als sich zu bemühen, ganz der zu sein, als der man erscheinen möchte. (…). Dieser Rat ist sehr vernünftig, denn die Begierde, sich eines ausgezeichneten Rufs zu erfreuen und öffentliche Anerkennung zu bekommen, ist bei den gleichen Leuten, die nicht viel Lust haben, innerlich tugendhaft zu sein, so stark und so weit verbreitet, daß man jedem großen Fortschritt in der Tugend versprechen kann, der sich bemüht, zwischen dem wirklichen Zustand seiner Seele und der Meinung, die man wunschgemäß von ihr haben soll, vollkommene Übereinstimmung herzustellen. Man muß jedoch einräumen, daß es auf diesem Weg weniger Uneigennützigkeit gibt als auf dem des Amphiaraus »Man erscheine ehrenhaft, und man sei es auch; man genieße einen guten Ruf, aber man sei seiner auch würdig, man erschleiche sich nicht die Achtung seiner Mitmenschen.« Das war der Rat des Sokrates. Er wollte niemandem den Glanz der Lobsprüche nehmen. Amphiaraus hätte gesagt: »Seid ehrenhaft und kümmert euch nicht darum, ob man es weiß und ob man euch dafür lobt.« IV. Man wird mir einwenden, das eine gehe nicht ohne das andere, und weil man mit falschen Tugenden, d. h. mit der Geschicklichkeit, eine sündige Seele unter dem Anschein der Ehrenhaftigkeit zu verbergen, am Ende einen guten Ruf erlangt, werde man denselben noch zuverlässiger durch wirkliche Tugenden erlangen. Daraus wird man schließen, daß Amphiaraus und seinesgleichen es sich zur Ehre anrechneten, etwas zu verachten, von dem sie sehr wohl wußten, daß es ihnen nicht fehlen würde. Ich erwidere euch aber, daß es oft genug viel leichter ist, ehrenhaft zu sein, als dafür gehalten zu werden, und daß es keineswegs ein notwendiges Folgeverhältnis zwischen diesen beiden Dingen gibt, von welchem Ende man auch anfängt. Um ehrenhaft zu sein, ist es nur nötig, seine Leidenschaften zu besiegen; aber um dafür gehalten zu werden, muß man gegen die Leidenschaften der anderen kämpfen und über sie triumphieren. Ihr habt listige und heftige Feinde, die hunderterlei Verleumdungen gegen euch ausstreuen. Wer sie hört, glaubt sie und verbreitet seinerseits Verleumdungen. Wer sie aber nicht glaubt,

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bringt Einwände vor und lehrt dadurch eure Feinde, wie man die Verleumdungen vorbringen muß, damit sie wahrscheinlicher werden. Manchmal wißt ihr nichts von diesen Machenschaften, und wenn ihr sie ganz oder teilweise kennt, könntet ihr euch Punkt für Punkt rechtfertigen? Wenn ihr ehrenhaft seid, wie ich bei euch voraussetze, seid ihr vertraut mit den Schurkereien eurer Feinde und mit den Winkelzügen, mit denen man gewöhnliche Köpfe einnimmt? Würdet ihr es nicht vorziehen, den Pöbel in seinem Irrtum zu belassen, als eure ganze Muße darauf zu verwenden, den Verleumdern entgegenzutreten? Würde eure Wachsamkeit jemals ausreichen, um das Lügengebäude einzureißen, das deren Bosheit in leichtgläubigen und mißratenen Gemütern errichtet hat, die sich weitaus stärker vom Vorgehen jener Leute beeindrucken lassen als von eurer ganzen Beredsamkeit und allen euren Argumenten? (…).

ANAXAGORAS

anaxagoras, einer der berühmtesten Philosophen der Antike, wurde um die 70. Olympiade in Klazomenai in Ionien geboren und war ein Schüler des Anaximenes. Seine adlige Herkunft, sein Reichtum und seine Großmut, mit dem er sein gesamtes Erbe seinen Verwandten überließ (A), verschafften ihm hohes Ansehen. Er widmete sich voll und ganz der Naturforschung und mischte sich nicht in öffentliche Angelegenheiten. Das gab Anlaß zu der Frage, ob er sich gar keine Sorgen um sein Vaterland mache. Seine Antwort war bewundernswert, christliche Philosophen könnten keine bessere geben. »Ja«, sagte er mit zum Himmel erhobenen Händen, »ich mache mir ernstlich Sorgen um mein Vaterland.«a Ein andermal fragte man ihn, wofür er geboren sei, und er antwortete, »um die Sonne, den Mond und den Sternenhimmel zu betrachten.«b Dementsprechend bestimmte er das höchste Gut oder das Ziel des menschlichen Lebens als die Kontemplation und den Zustand der Freiheit, den sie herbeiführt.c Er war erst zwanzig Jahre alt, als er in Athen zu philosophieren begann.d Einigen Autoren zufolge hat er als erster die Lehre der Philosophie dorthin gebracht, die seit ihrer Begründung durch Thales in Ionien in Blüte gestanden hatte. Das werde ich in dem Artikel ARCHELAOS, der Philosoph, untersuchen.* Fest steht jedenfalls, daß er in Athen berühmte Schüler hatte, vor allem Perikles und Euripides. Einige rechnen auch Themistokles und Sokrates dazu, aber hinsichtlich des Themistokles werden sie von der Chronologie widerlegt.e Nichts a b c d * e

Aus Diogenes Laertius, Buch II, Nr. 6 f. Ders., a. a. O., Nr. 10. Klemens von Alexandrien, Stromata, Buch II, S. 416. Diog. Laert., Buch II, Nr. 7.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Plutarch, Themistokles, S. 112.

Anaxagoras

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kann wohl eine vorteilhaftere Vorstellung der Tüchtigkeit des Anaxagoras vermitteln als die Art der Fortschritte, die Perikles unter seiner Anleitung machte, denn er legte ihm das ernste und würdevolle Auftreten nahe, das ihn befähigte, die Republik zu regieren.f Er legte den Grundstein für die erhabene und siegreiche Beredsamkeit, die ihm soviel Macht verschaffte,g und er lehrte ihn, die Götter zu fürchten, ohne abergläubisch zu sein.h Es kommt hinzu, daß seine Ratschläge Perikles halfen, die schwere Bürde des Regierens zu tragen.i Was ihn auszeichnete, war die Neuheit und Eigentümlichkeit seiner Lehren. So lehrte er, daß es Hügel, Täler und Bewohner auf dem Mond gebe und daß die Sonne ein durch und durch feuriger Materieklumpen sei (B), größer als die Peloponnes.k Ihm zufolge ist der Schnee schwarz,l wofür er einen wenig überzeugenden Grund nannte; er berief sich nämlich darauf, daß einerseits der Schnee verdichtetes Wasser und andererseits Schwarz die eigentümliche Farbe des Wassers sei.m Ganz allgemein nahm er an, daß die Augen nicht die wahre Farbe der Gegenstände ausmachen könnten und daß unsere Sinne trügerisch seien, weshalb das Urteil über die Dinge nicht ihnen, sondern der Vernunft zukomme.n Nach seinen Worten sind die Himmel aus Steino und werden durch ihre schnelle Bewegung am Herabfallen gehindert.p Anderen Berichten zufolge hat er eingeräumt, daß der Himmel »seinem Wesen nach die Natur des Feuers habe« und daß er durch die f g

Ders., Perikles, S. 154. Man sehe Anm. (E) des Artikels PERIKLES, am Ende.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  h Man sehe die Anmerkungen (A) und (B) des Artikels PERIKLES.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  i Man sehe Fußn. (19). k Diog. Laert., Buch II, Nr. 8. l Cicero, Academ. quaest., Buch II, Kap. 23 und 31. Laktanz, Buch V, Kap. 3. m Sextus Empiricus, Pyrrhon. hypotypos., Buch I, Kap. 13. n Ders., Adv. mathem., Buch VII, S. 153. o Man sehe Anm. (I), am Anfang. p Diog. Laert., Buch II, Nr. 12.

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Wucht seiner Kreisbewegung Steine von der Erde nach oben reiße und entzünde, so daß sie zu Gestirnen würden.q Ferner habe er gelehrt, daß die Lebewesen anfänglich aus Erde und warmer Feuchtigkeit gebildet wurdenr und sich später eins aus dem anderen zeugten, die Männchen auf der rechten, die Weibchen auf der linken Seite.s Er nahm so viele Grundbestandteile an, wie es zusammengesetzte Körper gibt, denn er glaubte, daß jeder Körper aus vielen kleinen, einander ähnlichen Teilen gebildet ist, die er wegen dieser Gleichförmigkeit ›Homöomerien‹ nannte. Das führte ihn jedoch zu einer These, die sein System belastet,t nämlich daß alle Samen oder die Grundbestandteile jeder Art sich in jedem Körper finden. Moréri hat diese Ansicht sehr schlecht wiedergegeben, Lukrez hingegen hat sie sehr gut erklärt und gründlich widerlegt. Das gibt mir Gelegenheit, einige Betrachtungen über diese Lehre anzustellen. Besonders schön am System des Anaxagoras war dies: Während man bis dahin über den Weltenbau räsoniert hatte, indem man einerseits nur eine völlig ungestaltete Materie annahm und andererseits nur den Zufall und eine blinde Notwendigkeit, die jene in eine Form brachte, hat er als erster angenommen, daß eine Intelligenz die Bewegung der Materie verursachte und das Chaos ordnete (D). Das war zweifellos der wahre Grund, warum dieser große Philosoph den Beinamen Νος, d. h. ›Geist‹ oder ›Verstand‹ erhielt.u Seine Rechtgläubigkeit war nicht sehr lauter (E), sondern mit zahlreichen Mängeln behaftet, was weniger befremdlich ist als die Tatsache, daß seine Vorgänger in der Naturphilosophie die Wahrheit nicht kannten, die er gewahr wurde, obwohl sie so leicht zu erkennen war und die Dichter sie so oft besungen hatten (F). Ich will untersuchen, ob die Lehre q

Plutarch, De placitis philos., Buch II, Kap. 13. Ich bediene mich der Übersetzung Amyots. r Diog. Laert., Buch II, Nr. 12. s Ders., a. a. O., Nr. 9. t Man sehe Anm. (G). u Man sehe Anm. (C), Ziffer II.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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von den Homöomerien nicht eine Menge Widersprüche enthält (G); mir scheint, daß sie von vorn bis hinten damit gespickt ist und daß überhaupt die Vorstellungen der Alten, die vom Chaos gesprochen haben, nicht weniger verworren waren als das Chaos selbst. Sagen wir, um jeden Hauch von Übertreibung zu vermeiden, daß sie zumindest schwerlich angemessen waren und daß die Alten kein Recht zu der Behauptung hatten, daß dieser Zustand des Durcheinander nicht mehr bestehe (H). Wie man berichtet, hat Anaxagoras vorhergesagt, daß der Stein, der vom Himmel in den Aegos fiel und wie eine heilige Reliquie aufbewahrt und verehrt wurde, vom Körper der Sonne herabfallen würde. Man schreibt ihm auch einige andere Vorhersagen zu.x Er hat die Geometrie weit vorangebracht;y wie sich herausstellte, hatte er im Gefängnis über die Quadratur des Kreises geschrieben.z Sein universaler Geist war allem gewachsen: den schwierigsten Naturphänomenen, den Kometen, der Milchstraße, Erdbeben, Winden, Blitz und Donner,aa der Nilüberschwemmung,bb Sonnen- und Mondfinsternissen und ähnlichen Dingen, deren Ursachen er entdeckte. All das, verbunden mit astronomischen und geometrischen Spekulationen, hinderte ihn nicht, die Gedichte Homers mit dem Eifer eines Mannes zu studieren, der Geheimnisse entdecken und die Literatur bereichern will. Er war der erste, der sie als Lehrbuch der Moral verstand, in dem Tugend und Gerechtigkeit durch allegorische Erzählungen erklärt werden.cc Umstände und Ausgang des Prozesses, der ihm in Athen wegen Gottlosigkeit gemacht wurde, werden verschieden geschildert; die einen sagen, daß er verurteilt, die anderen, daß er freigesprochen wurde (K). Perikles, der ihn in dieser Angelegenheit unterstützte, geriet in den Verdacht des Atheismus, weil er einen derartigen Lehrmeix y z aa bb cc

Man sehe Anm. (I). Proklos Diadochos, Buch II über das erste Buch des Euklid. Plutarch, De exilio, S. 607. Diog. Laert., Buch II, Nr. 9. Diodorus Siculus, Buch I, Kap. 38. Diog. Laert., Buch II, Nr. 12.

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ster gehabt hatte. Davon spreche ich an anderer Stelle.dd Diogenes Laertius hat bei der Wiedergabe eines geistreichen Ausspruchs von ihm einen chronologischen Schnitzer gemacht, der zu meiner Überraschung erst sehr spät entdeckt worden ist. Die Gefaßtheit, mit der dieser Philosoph die Nachricht von seiner Verurteilung und vom Tod seiner Söhne aufnahm, läßt uns staunen. Es machte ihm nichts aus, fern der Heimat zu leben und zu sterben;ee und er wußte sehr genau, was die glücklichsten Lebensumstände sind (N). Einige Autoren erzählen, daß man ihn niemals lachen oder auch nur lächeln sah.ff Cicero legt ihm großen Ernst bei: »Groß war der Ruhm seines Ernstes und seines Geistes.«gg Er starb in Lampsakus, wo man ihm ein ehrenvolles Begräbnis und ein rühmendes Grabmal gab. Man ging sogar soweit, ihm einen Altar zu errichten. Kurz vor seinem Tod besuchten ihn die Honoratioren der Stadt und fragten ihn, ob er einen letzten Willen äußern wolle. Er antwortete ihnen, daß er weiter keinen Wunsch habe, außer daß man den Kindern erlaube, jedes Jahr in seinem Sterbemonat frei zu haben.hh So geschah es, und der Brauch hielt sich noch zu der Zeit des Diogenes Laertius. Es heißt, er sei 72 Jahre alt geworden.ii Unsicher bleibt, ob er die Lehre von der Vorherbestimmung vertreten hat. Er war der erste Philosoph, der Bücher veröffentlicht hat. Sokrates, der darin auf bestimmte Dinge zu treffen hoffte, war mit ihrer Lektüre nicht zufrieden. Das war anscheinend seine eigene Schuld (R), wie ich in den Betrachtungen zeigen werde, die ich über seine Ausführungen anstellen muß. Die Astronomie vernachlässigte er, u. a. deswegen, weil Anaxagoras, der sie höchst leidenschaftlich betrieben hatte, dabei arg auf Irrwege In den Anmerkungen (C) und (D) des Artikels PERIKLES.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  ee Man sehe Anm. (M).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  ff Aelian, Var. histor., Buch VIII, Kap. 13. Plutarch, im Leben des Perikles. gg Cicero, Academ. quaest., Buch II, Kap. 23. hh Diog. Laert., Buch II, Nr. 14. Man sehe Anm. (A), gegen Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  ii Ders., a. a. O., Nr. 76. dd

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geraten war (S). Was man von seiner Abhandlung über die Sonnen- und Mondfinsternisse sagt, ist bemerkenswert. Man wird es gegen Ende der Anmerkung (B) des Artikels PERIKLES lesen.* Vergessen wir nicht zu erwähnen, daß der Berg Mimas in der Nähe von Klazomenai der Ort war, von dem aus Anaxagoras die Sterne beobachtete.kk Noch weniger dürfen wir übergehen, daß die Kraft und die Erhabenheit seines Geistes, seine Arbeit, seine Hingabe und die Fülle seiner Entdeckungen ihn nur in Ungewißheit stürzten; denn er beklagt, daß alles voller Dunkelheit sei.ll Das war möglicherweise der Grund seiner Bemerkung, daß alles nur Meinung ist und daß die Dinge alles Beliebige sind, d. h. dieses oder jenes, je nachdem sie uns als dieses oder jenes erscheinen.mm Obwohl er übrigens lehrte, daß die menschliche Seele ein Luftwesen ist,nn hielt er sie für unsterblich.oo Damit erwies er ihr mehr Ehre als der Welt, denn er zählte zu denen, die Himmel und Erde für vergänglich hielten;pp und auf die Frage, ob die Berge von Lampsakus eines Tages Teil des Meeres sein würden, antwortete er: »Ja, vorausgesetzt, daß ihnen genügend Zeit bleibt.«qq An anderer Stellerr habe ich seine Ansicht über die Tierseele wiedergegeben. Es ist schade, daß er kein Freund des Demokrit gewesen ist und daß diese beiden großen Geister ihre Lehren nicht miteinander abgestimmt haben. Man hätte die Mängel der einen durch die Vorzüge der anderen beheben können; es bestand jedoch keine Verbindung zwischen ihnen. Anaxagoras war auf Demokrit nicht gut zu sprechen, weil ihm der Besuch bei diesem abgeschlagen wurde, den er  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Philostrat, Vita Apollon., Buch II, Kap. 2. ll Man sehe Anm. (G), gegen Ende. mm Aristoteles, Metaphys., Buch III, Kap. 5, S. 671 G. nn Theodoret., De graec. affect., Sermo 5, S. 547. oo Ders., a. a. O., S. 548. pp Man sehe die Jesuiten von Coimbra zu Arist., De caelo, Buch I, Kap. 3, S. 65. qq Diogen. Laert., Buch II, Nr. 10. rr In Anm. (R) des Artikels PEREIRA.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  *

kk

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gern gemacht hätte.ss Servius und Sidonius Apollinaris haben seine Lehren nicht gekannt. In den Ausführungen dieses Artikels wird man viele griechische Passagen finden. Das wird denen gefallen, die diese Sprache beherrschen und aufgrund des Originalwortlauts der als Zeugen herangezogenen Autoren über die Dinge urteilen wollen. Denen, die das Griechische nicht beherrschen, darf es nicht mißfallen, denn abgesehen davon, daß der Artikel dadurch für sie kürzer ausfällt, werden sie einen Abriß des Inhalts der griechischen Passagen auf französisch finden. Das sei ein für allemal gesagt. Um diesem Artikel nicht noch mehr zu überfrachten, habe ich einige chronologische Erörterungen, die hier erforderlich wären, an einen anderen Ort verwiesen.tt

(A) Er überließ sein gesamtes Erbe seinen Verwandten. Schon bevor das Evangelium die Menschen lehrte, daß man auf die Welt und ihre Schätze verzichten muß, wenn man auf dem Weg zur Vollkommenheit zügig voranschreiten will, hat es Philosophen gegeben, die das begriffen und sich ihrer Güter entledigt haben, um sich freier dem Studium der Weisheit und der Erforschung der Wahrheit zu widmen. Sie hielten die Sorge um Familie und Erbe für Fesseln, die sie hinderten, zu dem Ziel voranzuschreiten, das unsere Liebe am meisten verdient. Zu ihnen zählten Anaxagoras und Demokrit.1 »Wie«, sagt Cicero,2 »glauben wir denn, daß es Homer oder irgendeinem anderen Gelehrten jemals an geistiger Freude und Genuß gefehlt hat? Wenn es so wäre, hätten dann Anaxagoras und eben dieser Demokrit ihre ererbten Felder aufgegeben und sich ss

Diogen. Laert., Buch II, Nr. 14. In Anm. (A) des Artikels ARCHELAOS, der Philosoph.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  1 Man sehe Anm. (B) des Artikels DEMOKRIT.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  2 Cicero, Tusc. disput., Buch V, gegen Ende. tt

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aus vollem Herzen dieser göttlichen Freude des Lernens und Forschens hingegeben?« Einen derartigen Verzicht glaubt Anaxagoras dem Wissen zu schulden, das er erworben hatte, oder seinem ›Heil‹, wie er sich ausdrückte. (…).3 Mit seiner gewohnten Ironie zeigt Sokrates, daß die Sophisten zu seiner Zeit mehr Weisheit besaßen als Anaxagoras, weil sie, statt wie er auf ihr Erbe zu verzichten, leidenschaftlich an ihrer Bereicherung arbeiteten, so enttäuscht waren sie von der Dummheit der alten Zeit und so überzeugt, daß man vor allem zu seinem eigenen Vorteil weise sein müsse, d. h. geschickt in der Anhäufung von Reichtum.4 (…). Das erinnert mich an eine Unterscheidung, die ich bei Aristoteles gelesen habe. »Man sieht«, sagt er,5 »daß Anaxagoras und Thales sowie andere Philosophen weise waren, aber nicht klug; denn sie haben außer Acht gelassen, was ihnen nützlich war. Sie wußten abstruse, erhabene, bewundernswerte, göttliche Dinge, die ihnen jedoch zu nichts dienten, denn sie suchten nicht die Güter und Vorteile dieses Lebens.« Das ist der Geschmack unzähliger Menschen: Sie verurteilen jede Beschäftigung, die nicht dazu beiträgt, ein Vermögen zu machen. Alles, was sich nicht um den Broterwerb dreht oder nicht dazu dient, den Kochtopf zu füllen, wie man heute sagt, erscheint ihnen eitel und überflüssig.7 Anaxagoras stand der Denkweise dieser Leute ganz fern. Er überlies seine Ländereien der Fürsorge der Schafe, um sich ausschließlich mit Astronomie und Naturphilosophie zu befassen. Philon,8 Plutarch,9 Philostrat,10 Himerius11 und Suidas sprechen darüber. Wenn man auf die3

Valerius Maximus, Buch VIII, Kap. 7, Nr. 6, extern. Platon, Hippias maior (und nicht Phaidros, wie Ménage zu Diog. Laert., Buch II, Nr. 6, S. 1246 sagt). 5 Aristoteles, Eudem. Ethik, Buch V, Kap. 7, S. 184. 7 Man sehe Ziffer VIII des Entwurfs zu diesem Wörterbuch, am Ende des letzen Bandes.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  8 Philon, De vita contemplativa. 9 Ich zitiere seine Worte in Anm. (B) des Artikels DEMOKRIT.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  10 Philostrat, Vita Apollon., Buch I, Kap. 8. 11 Himer. bei Photios, S. 1088. 4

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ses Thema kommt, kann man Demokrit und Krates schwerlich übergehen. Sogar die Kirchenväter erwähnen es;12 der hl. Chrysostomos13 erklärt jedoch, das Verhalten dieser Philosophen sei Torheit und Dummheit gewesen, nicht aber Verachtung des Reichtums. »Der Teufel«, sagt er weiter, »ist immer bestrebt gewesen, die Geschöpfe Gottes wegen ihrer Unfähigkeit, den richtigen Gebrauch von ihrem Geld zu machen, herabzusetzen und zu verleumden.« Heißt das nicht, es den Heiden mit gleicher Münze heimzuzahlen, die all die Christen, die auf ihr Erbe verzichteten und sich in die Einöde zurückzogen, als Narren und Verrückte behandelten?14 So findet man in allem etwas Gutes oder etwas Schlechtes, je nach den Vorurteilen, von denen man geprägt ist. Man beachte, daß Apollonius von Tyana das Verhalten des Anaxagoras milde als das eines Philosophen kritisierte, der mehr auf den Vorteil der Tiere als der Menschen bedacht war.15 Diese Kritik ist unfair, denn abgesehen von den Vorteilen, die öffentliche Weideflächen für die Menschen bedeuteten – ist es nicht klar, daß Anaxagoras mit Recht annahm, die von ihm aufgegebenen Ländereien würden von seinen Verwandten bewirtschaftet? (…). Eusebius urteilte mit mehr Billigkeit über Anaxagoras als Apollonius von Tyana, denn er spricht von der Aufgabe seiner Ländereien als einem Beweis dafür, daß seine Hingabe an die Naturphilosophie größer war als die aller anderen Philosophen. (…).16 Mir bleibt noch, einige Bemerkungen über die Uneigennützigkeit des Anaxagoras zu machen. Er war ein Mann, der öffentliche Ämter sehr gut wahrgenommen hätte, denn seine Ratschläge waren für den Regenten der Athener nicht nur sehr

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Laktanz, Buch III, Kap. 22. Origenes, Contra Celsum, Buch II. Man sehe seine 7. Homilie über die Apostelgeschichte, S. 67 der Ausgabe Paris 1636. 14 Man sehe Rutilius Numatianus in seinem Itinerarium. Ich zitiere einige Worte von ihm weiter oben, am Ende der Anm. (E) des Artikels ADAMITEN.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  15 Philostr., Vita Apollonii, Buch I, Kap. 8. (…). 16 Euseb., Praeparat. evangel., Buch XIV, Kap. 14, S. 750. 13

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hilfreich, sondern dieser hatte sie auch sehr nötig.17 Dennoch dachte er niemals daran, sich in Regierungsangelegenheiten einzumischen; er wollte nie einen Vorteil aus der Autorität und dem Ansehen des Perikles ziehen, um zu Führungsstellen aufzusteigen. Er beschränkte sich auf philosophische Spekulationen und hütete sich sorgfältig vor dem Ehrgeiz, den unzählige andere Gelehrte nicht unterdrücken können, obwohl sie im Gegensatz zu ihm weder Kenntnis der politischen Angelegenheiten noch Fürsprache und Gunst der Mächtigen besitzen. Ich zweifle nicht, daß Cicero in erster Linie ihn zu den großen Persönlichkeiten gerechnet hat, von denen er sagt, es gereiche den Staaten zum Schaden, daß sie sich voll und ganz der Naturforschung gewidmet hätten. (…).18 Nicht nur Ehrenstellen waren ihm gleichgültig, er kümmerte sich auch nicht darum, sich die notwendigen Subsistenzmittel zu verschaffen. Er schenkte den Gelegenheiten zum Erwerb eines Vermögens, die Ansehen und Freundschaft des Perikles ihm verschaffen konnten, ebensowenig Beachtung wie der Vorsorge für das Alter. Die Erforschung der Naturgeheimnisse absorbierten alle seine anderen Leidenschaften. Zuletzt merkte er, daß er in der Verachtung des Reichtums nicht so weit hätte gehen dürfen: Im Alter hatte er nichts, wovon er leben konnte. In dieser Notlage faßte er ruhig den Entschluß zu verhungern. Perikles erfuhr das jedoch und verhinderte es. Hören wir Plutarch:19 »Mit seinem Reichtum unterstützte Perikles mehrere Arme, u. a. sogar Anaxagoras. Von ihm erzählt man, daß er sich im Alter von allen im Stich gelassen sah, da Perikles mit anderen Dingen so beschäftigt war, daß er keine Zeit hatte, an ihn zu denken. Anaxagoras verhüllte sein Haupt und legte sich mit dem Entschluß nieder, den Hungertod zu sterben. Als Perikles das erfuhr, eilte er sogleich in großer Sorge zu ihm und beschwor ihn so inständig, wie er 17

Man sehe die Worte des Plutarch weiter unten in Fußn. (19). Cicero, De oratore, Buch III, Kap. 15 (und nicht Buch II, wie Ménage zu Diog. Laert., Buch II, Nr. 7 sagt), Blatt 91 B. 19 Plutarch in der Vita des Perikles, S. 162. Ich bediene mich der Übersetzung Amyots. 18

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nur konnte, wieder Lebensmut zu schöpfen; dabei beklagte er nicht Anaxagoras, sondern sich selbst, weil er einen so treuen und so weisen Berater in den Wechselfällen der Politik verliere. Da deckte Anaxagoras sein Gesicht auf und sagte: ›Wer das Licht einer Lampe braucht, Perikles, füllt Öl nach, um sie am Brennen zu halten.‹« Wollt ihr einen weiteren Beweis dafür, daß dieser Philosoph wenig Ehrgeiz hatte? Man bot ihm an, sein Andenken auf jede gewünschte Weise zu ehren. Er aber lehnte jeden Gunsterweis ab und bat nur darum, daß sein Todestag ein Feiertag für die Schulkinder werde. (…).20 War das nicht gleichbedeutend mit dem Wunsch, daß sein Tod für viele ein Grund zur Freude und nicht zur Trauer sei? Und zeigt sich hierin nicht äußerste Verachtung für alles, was die Eitelkeit der Sterblichen am meisten aufbläht? Wir wollen zwei kurze Betrachtungen über diese Stelle der Perikles-Biographie anstellen. Sie lehrt uns, daß Anaxagoras sich sehr wohl auf die Politik verstand, obwohl er nur die spekulative Philosophie lehrte. Warum sollten wir also nicht glauben, daß er die Abhandlung De regno verfaßt hat, aus der Aelian zitiert?21 Angenommen, sie stammte von einem andren Anaxagoras, wie Meursius und Ménage glauben,22 so ist es dennoch wahr, daß der von Ménage dafür genannte Grund schwach ist.23 Er hätte das selbst eingesehen, wenn er sich an jene Stelle bei Plutarch erinnert hätte. Soweit meine erste Betrachtung. Die zweite ist, daß das Alter, das man unserem Philosophen beilegt, nicht zu den Zeugnissen stimmt, die besagen, er sei mit zwanzig Jahren nach Athen gekommen und habe dort dreißig Jahre gelebt. Danach hätte Perikles den von Plutarch erwähnten Besuch machen müssen, noch bevor Anaxagoras älter als fünfzig war. (…). 20

Ders., in Praecept. reip. gerendae, S. 820 D. Wie man im Corpus des Artikels sieht, schildert Diog. Laert. die Umstände ein wenig anders. 21 Aelian, Var. hist., Buch IV, Kap. 14. 22 Man sehe die Anmerkungen von Kuhn zu dieser Stelle bei Aelian. 23 »Es war daher ein anderer Anaxagoras usw.« Ménage zu Diog. Laert., Buch II, Nr. 7. Er leitet diese Schlußfolgerung daraus ab, daß Anaxagoras sich nicht mit Politik befaßt hat.

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(B) Er lehrte, daß die Sonne in Wirklichkeit ein feuriger Materieklumpen sei. Diesen allgemeinen Ausdruck habe ich gewählt, weil sich die Interpreten über die wahre Bedeutung dieser Worte des Diogenes Laertius nicht einig sind: τòν λιον µúδρον ε ναι διáπωρον.25 Die einen verstehen darunter eine Masse glühenden Eisens, andere eher einen brennenden Stein, wieder andere einen Feuerball, der weder Eisen noch Stein ist. (…). Die Mehrzahl derer, die diese Lehre des Anaxagoras wiedergeben, hat sich auf die zweite Erklärung festgelegt, die vorzüglich zu dem System dieses Philosophen stimmt. (…). Zitieren wir zunächst Xenophon (…)28 in der Übersetzung von Charpentier: »Ferner sagte er, daß die Sonne nur ein brennender Stein ist, wobei er übersah, daß ein Stein im Feuer nicht glänzt und nicht lange besteht, sondern sich innerhalb kurzer Zeit verzehrt, während die Sonne ewig dauert und eine unerschöpfliche Quelle des Lichts ist.« Mein zweiter Zeuge soll Platon sein. Er läßt Sokrates auf die Anschuldigung, nach seiner Lehre sei die Sonne ein Stein und der Mond eine Erde,29 erwidern (…):30 »Du glaubst wohl, Anaxagoras anzuklagen, lieber Meletos. Damit zeigst Du, daß Du diese Leute hier verachtest, als ob sie nicht wüßten, daß die Bücher des Anaxagoras von Klazomenai von solchen Meinungen nur so wimmeln. Das soll die Jugend von mir lernen? Sie kann sie ja gelegentlich für höchstens eine Drachme kaufen und dann Sokrates im Theater auslachen, wenn er sie als seine Lehre hinstellen wollte, zumal sie so absurd sind.«31 Der hl. Kyrillos von Alexandrien32 und der hl. Augustinus33 gehören ebenfalls zu denen, die sagen, daß Anaxagoras zufolge die Sonne ein feu-

25 28 29 30 31 32 33

Diog. Laert., Buch II, Nr. 8. Xenophon, Memorabil., Buch IV. Platon, Apologia Socratis, S. 21 A  recte: 26 D . Ders., ebd. Plutarch, De superstit., S. 169 E. Kyrillos, Contra Julian., Buch VI. Augustinus, De civitat. dei, Buch XVIII, Kap. 41.

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riger Stein ist. Suidas erklärt die Worte µúδρον διáπωρον bei Diogenes Laertius mit πúρινον λíθον. Ich wundere mich daher, daß Charpentier es vorzieht zu sagen, nach Anaxagoras’ Worten sei »die Sonne nichts weiter als eine Masse glühenden Eisens«.34

(D) Er hat als erster angenommen, daß eine Intelligenz die Bewegung der Materie verursachte und das Chaos ordnete. Das sind gut bezeugte Tatsachen. »Er stellte als erster den Geist neben die Materie, denn am Beginn seines Werks sagt er in eingängiger und erhabener Sprache: ›Alle Dinge waren zusammen, dann trat der Geist hinzu und ordnete sie.‹«57 Ich hielt es für zweckmäßig, mit dieser Passage aus Diogenes Laertius anzufangen, weil wir hier die eigenen Worte des Anaxagoras haben.58 Wir wollen sehen, was Aristoteles zu diesem Thema sagt. Er kritisiert die Philosophen, die bei der Angabe der Prinzipien immer bei der materialen Ursache stehenbleiben und nicht nach der Wirkursache des Entstehens und Vergehens fragen. »Die materiale Ursache«, so sagt er, »verändert sich nicht von selbst, das Kupfer verwandelt sich nicht von selbst in die Statue, das Holz nicht in das Bett; es gibt ein weiteres Prinzip dieser Veränderung. Dieses Prinzip zu suchen, heißt bis zum Ersten Beweger aufzusteigen.« (…).59 Weiter sagt er: I. Nachdem man das Unvermögen der Elemente erkannt hatte, nötigte die Kraft der Wahrheit die Naturforscher, einen anderen Beweger zu suchen. II. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Feuer, Erde usw. die Ursache für den guten Zustand bestimmter Dinge und für das Entstehen anderer sind, auch nicht, daß die alten Philosophen das glaubten. III. Es wäre nicht vernünftig, eine so große Wirkung dem 34

Charpentier, Vie de Socrate, S. 7. Diog. Laert., Anaxagoras, Buch II, Nr. 6, am Anfang. 58 Man findet sie auch bei Plutarch, De placitis philosoph., Buch I, Kap. 3, S. 876 D. 59 Arist., Metaphys., Buch I, Kap. 3, S. 645 H. 57

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Zufall oder dem Glück zuzuschreiben. (…).60 Mit seiner Erklärung, daß ein Geist der Urheber der Welt und der Ordnung in der Natur ebenso wie in den Lebewesen ist, erschien Anaxagoras deshalb als Mann von gesundem Verstand, verglichen mit seinen Vorgängern in der Naturforschung, die mit großen Worten nichts sagten. Das Original ist viel kraftvoller als meine Wiedergabe. Wer das Griechische gut versteht (…), wird finden, daß sie wahrheitsgetreu ist. (…). Wenn diese Zeugnisse schon sehr aussagekräftig sind, so ist es das Zeugnis Plutarchs vielleicht noch mehr. Betrachten wir die Worte dieses Autors. »Seine Zeitgenossen nannten ihn (Anaxagoras) ›Geist‹, entweder weil sie seinen einzigartigen und hervorragenden Scharfblick in der Naturforschung bewunderten oder weil er als erster dem Ganzen nicht den Zufall oder die Notwendigkeit als Ordnungsprinzip beigab, sondern einen reinen und lauteren Geist, der die ähnlichen Partikel von all den anderen absonderte, mit denen sie vermengt waren.« (…).62 (…). Meiner Ansicht nach will er sagen, daß dieser immaterielle Geist die mit allen übrigen Körpern vermengten Homöomerien absonderte. (…). Ich habe einen weiteren Grund für die Annahme, daß Plutarch das sagen wollte, was ich ihm zuschreibe. Denn abgesehen von dem, was ich von Tertullian anführen werde,65 sehe ich bei Aristoteles, daß Anaxagoras lehrte, der Geist, der die Materie in Bewegung setzte, sei frei von jeder Beimischung. (…).66 Das kommt noch klarer heraus in den folgenden Worten: »Anaxagoras sagt, alles außer dem Geist sei vermischt; dieser allein sei unvermischt und rein.«67 Hier kommt ein Zeugnis Plutarchs, das sehr deutlich zeigt, daß Anaxagoras die erste Hervorbrin-

60

Ders., a. a. O., S. 646 C. Plutarch, Perikles, S. 154 B. 65 In Anm. (E). 66 Aristoteles, De anima, Buch I, Kap. 2, S. 479 D. Man sehe auch Buch III, Kap. 4, S. 503 G, wo es heißt, Anaxagoras zufolge müsse der Verstand frei von jeder Mischung sein, damit er herrschen könne. (…). 67 Aristoteles, Metaphys., Buch I, Kap. 7, S. 651 E. 62

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gung von Bewegung und Ordnung Gott beilegt. »Anaxagoras lehrte, daß die Körper zu Beginn unbewegt existierten und daß der Geist Gottes sie ordnete und die Entstehung aller Dinge bewirkte. Platon hingegen behauptete, daß die ersten Körper nicht unbewegt existierten, sondern in ungeordneter Bewegung waren. ›Gott sah jedoch, daß Ordnung besser ist als Unordnung, und ordnete sie.‹«68 Man merkt, daß hier zwischen Anaxagoras und Platon ein riesengroßer Unterschied besteht: der eine nahm an, daß Gott die Körper im Ruhezustand vorfand, der andere im Gegenteil, daß er sie in Bewegung vorfand. Ich bin erstaunt, welche Betrachtung Plutarch über diese beiden Lehren anstellt. Denn sie enthält nicht allein eine abscheuliche Gottlosigkeit, sondern auch einen groben Widerspruch. Er hatte die Philosophen getadelt, die nur ein Prinzip anerkannten. »Es ist unmöglich«, hatte er gesagt,69 »daß die Materie das einzige Prinzip aller Dinge ist; man muß die Wirkursache hinzunehmen, denn Silber genügt nicht zu Herstellung eines Gefäßes, wenn man darüber hinaus nicht einen Handwerker hat, der das Gefäß herstellt. Das Gleiche gilt von Bronze, Holz und jedem anderen Material.« Auf derselben Seite hatte er Anaxagoras dafür gelobt, daß er eine Intelligenz annahm, welche die ähnlichen Partikel angeordnet hat (…);70 d. h. daß er die Wirkursache zu dem passiven Gegenstand und damit den Handwerker zur Materie hinzugefügt hat. (…).71 Was soll es also, daß er fünf Seiten weiter Anaxagoras und Platon kritisiert, jenen, weil er Gott Bewegung und Anordnung der Körper, diesen, weil er ihm deren Anordnung zugesprochen hatte? »Ihr gemeinsamer Irrtum«, sagt er, »besteht in der Annahme, daß Gott sich um die Angelegenheiten der Menschen kümmert und zu diesem Zweck eine Welt geschaffen hat.« (…).72 Hiernach breitet er die blendendsten Gründe aus, die ein Atheist gegen diejenigen anführen 68 69 70 71 72

Plutarch, De placit. philosophor., Buch I, Kap. 7, S. 881 A. Ders., a. a. O., Kap. 3, S. 876. Ders., ebd. Ders., ebd. Ders., a. a. O., Kap. 7, S. 881 A.

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könnte, die Gott die Erschaffung und Lenkung der Welt beilegen. Wie also? Er heißt es gut, daß Anaxagoras eine Intelligenz annimmt, die der Erste Beweger der Körper und die Wirkursache der Welt gewesen ist, und er tadelt ihn, weil er diesen Ersten Beweger und dieses handelnde Wesen für Gott hält? Kann man erbärmlicher und inkonsequenter argumentieren? Und wenn man darauf beharrt, daß hier kein Widerspruch vorliegt, muß man dann nicht wenigstens zugeben, daß er an dieser Stelle unzählige andere Passagen in seinen Büchern widerlegt, in denen er die Vorsehung annimmt? Es würde zu weit führen, wenn ich alle Zeugnisse bringen wollte, welche die eine oder die andere oder sogar beide der folgenden Wahrheiten untermauern. I. daß Anaxagoras eine Intelligenz angenommen hat, welche die Materie bewegt und die Welt durch die Auswahl der Homogenitäten gestaltet hat; II. daß er der erste Philosoph war, der dieses System vortrug. Begnügen wir uns daher mit diesen Namen: Platon,73 Tertullian,74 Klemens von Alexandrien,75 Eusebius,76 Themistios,77 der hl. Augustinus,78 Theodoret,79 Proklos,80 Simplicius.81 Mit Cicero verfahre ich in dieser Hinsicht anders: Ich werde seine Worte zitieren, weil sie eine untersuchungsbedürftige Einzelheit enthalten. »Hiernach hat Anaxagoras«, sagt er,82 »der sich in seiner Lehre an Anaximenes anschloß, als erster gelehrt, daß Anordnung und Maß aller Dinge von der Macht und Vernunft eines unendlichen Geistes entworfen und geschaffen wurden. Dabei übersah er, daß es weder eine mit Sinnesempfindung verbundene und ins Unendliche reichende Bewegung noch überhaupt 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Platon, Phaidon, S. 72. Tertullian, De anima. Klemens von Alexandrien, Stromata, Buch II, S. 364. Eusebius, Praepar. evangel., Buch XIV, Kap 14, S. 750. Themistios, Orat. XV. Augustinus, De civitate dei, Buch VIII, Kap. 2. Ich bringe seine Worte weiter unten in Fußn. (115). Proklos zu Platons Timaios. Simplicius zu Aristoteles, De physica auscul. Cicero, De natura deorum, Buch I, Kap. 10 und 11.

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eine Empfindung geben kann, ohne daß dabei eine empfindende Natur selbst durch einen äußeren Anstoß empfindet. Wenn er ferner seinen Gott gleichsam als ein Lebewesen versteht, wird es etwas Innerlicheres geben, nach dem dieses Lebewesen benannt wird. Aber was ist innerlicher als der Geist? Er ist also von einem äußeren Körper umgeben. Weil das nicht akzeptabel ist, scheint ein reiner, einfacher Geist, der keine Verbindung zu etwas anderem hat, das empfinden kann, unsere Verständnis- und Vorstellungskraft zu übersteigen.« Es ist einigermaßen erstaunlich, daß Cicero diesen Vorrang dem Philosophen Anaxagoras zuschreibt, nachdem er kurz zuvor gesagt hatte, daß Thales83 einen Verstand oder einen Gott angenommen hatte, der alle Dinge aus dem Wasser geschaffen hat. (…).84 Ist es möglich, daß Cicero seine eigenen Worte so schnell vergessen hat? Ist es vorstellbar, daß er sagen wollte, Thales habe Gott nur die Tätigkeit zugewiesen, Wasser in andere Körper zu verwandeln, Anaxagoras hingegen habe Gott zum Urheber der Ordnung und der schönen Symmetrie in der Welt gemacht? Ich sehe in alledem nichts Wahrscheinliches und möchte lieber vermuten, daß diese Passage verderbt ist. Die Verwirrung und Dunkelheit, die man in den darauf folgenden Worten antrifft, können meine Vermutung nachdrücklich bestätigen. Wie dem auch sei, ich möchte nicht, daß dieses Zeugnis Ciceros dasjenige so vieler berühmter Autoren der Antike aufwiegt, die einhellig versichern, daß Anaxagoras der erste war, der die Wirkursache zur materialen Ursache hinzufügte, d. h. der eine Intelligenz als Urheber der Einrichtung und Architektur des Universums annahm. Der hl. Augustinus mißt diesem Zeugnis Ciceros so wenig Gewicht bei, daß er an eben der Stelle, wo er die Ansichten der Philosophen der ionischen Schule im übrigen in Übereinstimmung mit Cicero schildert, ihm hinsichtlich des Thales ausdrücklich widerspricht. (…).85 Man beachte, daß Cicero selbst in einem anderen Buch Thales den Vorrang in diesem Punkt abspricht 83 84 85

Er war der vierte vor Anaxagoras. Cicero, De natura deorum, Buch I, Kap. 10. Augustinus, De civitate dei, Buch VIII, Kap. 2, S. 711.

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und ihn einzig und allein dem Philosophen Anaxagoras gibt. Ich werde seine Worte in der Anmerkung (F) anführen. Der Jesuit Lescalopier versucht den Widerspruch durch die Annahme auszuräumen, daß Anaxagoras der erste war, der diese Lehre veröffentlichte, während seine Vorgänger in der Philosophie sich damit begnügten, sie in ihren Hörsälen vorzutragen.86 Diese Erklärung ist schwerlich überzeugend. Denn da man wußte, was die Vorgänger des Anaxagoras lehrten und worin sie sich voneinander unterschieden, da man dies wußte, sage ich, obschon Anaxagoras der erste war, der Bücher veröffentlichte, hätte man da nicht ebensogut gewußt, was sie über die Wirkursache der Welt lehrten? Was die Einwände gegen die Lehre dieses Philosophen angeht, die in der oben zitierten Passage aus Cicero enthalten sind, so verweise ich den Leser auf die gründliche Widerlegung durch den hl. Augustinus.87

(E) Seine Rechtgläubigkeit war nicht sehr lauter. Tertullian tadelt ihn wegen seiner Inkonsequenz. Einerseits habe er Gott eine reine und einfache Intelligenz genannt, andererseits habe er ihn mit der Seele vermischt und vermengt. (…).88 Schon Aristoteles hatte die Bemerkung gemacht (…), daß Anaxagoras allen Tieren eine Seele beigelegt hat, der er den gleichen Namen ›Verstand‹ gab wie dem Ersten Beweger der Materie und Architekten des Weltbaus. (…).89 Aristoteles sagt ferner, daß Anaxagoras eine Intelligenz nur wie einen Deus es machina bei der Erschaffung der Welt eingesetzt hat, d. h. er griff nur in der Not zu ihr, wenn alle anderen Erklärungen versagten. (…).90 Zweifellos ist das der Grund für die Bemerkung des Klemens von Alexandrien, Anaxagoras habe Recht und Würde der Wirkursache 86 87 88 89 90

Lescalopier zu Cicero, De natura deorum, S. 40. Man sehe den 56. Brief des hl. Augustinus, S. 27 f. Tertullian, De anima. Aristoteles, De anima, Buch I, Kap. 2, S. 478 G. Ders., Metaphys., Buch I, Kap. 4, S. 636 H.

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nicht gewahrt, deren Eigenschaften er einem Geist beilegte; er habe nämlich von bestimmten Umlaufbewegungen gesprochen, die ohne Wissen und Mitwirkung dieses Geistes geschähen. Das ist, wenn ich mich nicht täusche, der wahre Sinn der griechischen Termini dieses Kirchenvaters. (…).91 Ohne Zweifel hat Eusebius diese Passage vor Augen gehabt, als er ihr eine andere Wendung gab und sagte, Anaxagoras habe seine Lehre, derzufolge eine Intelligenz der Erschaffung der Dinge voranstehe, nicht heil und sicher bewahrt. (…).92 Er beweist das mit dem Argument, daß Anaxagoras über die Natur philosophiert und ihre Erscheinungen erklärt habe, ohne diese Intelligenz vorauszusetzen. Wie ich sehr wohl weiß, kann man mir entgegenhalten, daß Eusebius die Sache anders versteht und nur behauptet, Anaxagoras führe physische Gründe an, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Drei Argumente überzeugen mich jedoch, daß meine Deutung von Klemens von Alexandrien und Eusebius dem überlegen ist. I. An erster Stelle ist es ein schlechter Beweis dafür, daß ein Philosoph die Hypothese der Vorsehung und der universellen Tätigkeit Gottes preisgibt oder aufweicht, wenn man sagt, daß er manchmal unsachgemäß, töricht oder regelwidrig argumentiert. Alle philosophischen Schulen unter den Christen erheben diesen Vorwurf gegeneinander, ohne sich aber gegenseitig der Heterodoxie hinsichtlich der universellen Mitwirkung Gottes, der ersten Ursache alles Seienden, zu beschuldigen. Wenn man keine andere Beschwerde gegen Anaxagoras vorbringen könnte, als daß er bei der Erklärung einiger Naturerscheinungen schlecht, unverständig oder unzutreffend argumentierte, würde man ihm daher großes Unrecht mit dem Vorwurf antun, er habe die Annahme einer Intelligenz, die der Erschaffung der Welt voranstand, preisgegeben oder aufgeweicht. Man hätte diesen Vorwurf also nicht auf die unsachgemäßen Erklärungen gründen dürfen, die er möglicherweise gab, sondern darauf, daß er Erklärungen zum Nachteil dieser Intelligenz oder ohne Rekurs auf sie gab. II. Zweitens 91 92

Klemens von Alexandrien, Stromata, Buch II, S. 364. Eusebius, Praepar. evangel., Buch XIV, Kap. 14, S. 750.

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stützt sich Eusebius auf eine lange Passage, in der Platon beklagt, daß Anaxagoras die Dinge ohne Rekurs auf die Intelligenz oder auf die Gründe der Schönheit und Ordnung der Welt erklärt, sondern bei Luft, Äther, Wasser usw. als den Ursachen des Seienden stehenbleibt.93 Wer entnimmt dem nicht, daß Eusebius höchst wahrscheinlich von demselben Mangel sprechen wollte? III. Drittens sage ich, daß Anaxagoras, wie Plutarch uns zeigt, gelehrt hat, daß bestimmte Dinge aus Notwendigkeit geschehen, andere durch das Schicksal, durch Überlegung oder durch Glück, wieder andere durch Zufall. (…).94 Es erlaubt keinen Zweifel, daß er durch die Details dieser unerklärlichen Unterscheidungen der göttlichen Intelligenz einige Ereignisse entzog, was Anlaß zu der Klage des Klemens von Alexandrien gab, die Eusebius ihm nachgesprochen hat. Ich weiß nicht, ob man das, was Anaxagoras von der menschlichen Hand sagt, zu seinen Irrtümern rechnen muß. Er versichert nämlich, daß sie die Ursache der Weisheit und des Fleißes des Menschen gewesen ist. Plutarch greift ihn deswegen heftig an. »Das Gegenteil ist wahr«, sagt er;95 »denn der Mensch ist nicht das weiseste unter den Lebewesen, weil er Hände hat, sondern weil er seiner Natur nach vernünftig und erfinderisch ist, hat er von der Natur auch derartige Werkzeuge bekommen.« Da die Bücher des Anaxagoras nicht erhalten sind, ist nicht auszumachen, ob er Anlaß zu diesem Tadel gegeben hat. Ich vermag aber nicht zu glauben, daß er ihn verdient. Sein Lehrgebäude ließ ihn hierüber ganz anders denken als jene Philosophen, welche die Entstehung alles Seienden, aus dem sich die Welt zusammensetzt, dem Zufall zuschreiben. Diese gottlose Lehre ließ sie behaupten, daß die Organe dem Menschen nicht

93

Man sehe, was ich hierüber in Anm. (R) sage. Plutarch, De placit. philosophor., Buch I, letztes Kapitel, S. 885. Man sehe auch die Passage, die von Ménage zu Diog. Laert., Buch II, Nr. 6 zitiert wird und die aus einem Buch stammt, das fälschlich Galen beigelegt wird, und zwar aus φιλοσóφοω στορíα. 95 Plutarch, De amicitia fraterna, am Anfang, S. 478. Ich bediene mich der Übersetzung Amyots. 94

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gegeben seien, damit er sich ihrer bedient, sondern daß er die Eigung seiner Organe zu bestimmten Aufgaben herausfand und sie dann dazu gebrauchte. Man sehe Buch IV des Lukrez.96 Man beachte diese Worte eines Kirchenvaters: »Anaxagoras mit dem Beinamen ›der Atheist‹ aber vertrat die Lehre, daß die Lebewesen aus Samen entstanden sind, die vom Himmel fielen. Diese Leute haben das auf den Samen ihrer Mütter übertragen und gegenüber Menschen von Verstand bereitwillig zugegeben, daß dieser Samen sie selbst ist und daß sie selbst der Samen des gottlosen Anaxagoras sind.«97 Hier sieht man, daß Anaxagoras den Beinamen ›der Atheist‹ hatte und daß der hl. Irenäus ihn als einen Gottlosen behandelt. Vossius hat dagegen nichts einzuwenden und sagt nur, daß Justinus Martyr ihn in seiner Ermahnung der Griechen einen Atheisten nennt; er stellt einige Betrachtungen hierüber an.98 In diesem Buch des Justinus Martyr habe ich aber nichts Entsprechendes gefunden, und ich denke, Vossius hätte seine Entschuldigungen besser für den hl. Irenäus aufgespart. Wenn Justinus Martyr sie nötig hat, dann allein deswegen, weil er die Lehre des Anaxagoras verstümmelt hat. Er verschweigt ihre schöne Seite; er sagt nichts vom Verstand als ›Erstem Beweger‹; er begnügt sich damit, von seinen Homöomerien zu sprechen.99

(F) Seine Vorgänger in der Naturphilosophie kannten die Wahrheit nicht (---), welche die Dichter so oft besungen hatten. Ich könnte eine Menge Zeugen dafür beibringen, daß Anaxagoras der erste Philosoph war, der die Anordnung der Materie der Intelligenz eines Ersten Bewegers zuschrieb.100 Thales, Anaximander und Anaximenes, seine Vorgänger in der ionischen 96 97 98 99 100

Lukrez, Buch IV, Vers. 821 f. Irenäus, Advers. haeres., Buch II, Kap. 19. Vossius, De orig. et progr. idololat., Buch I, Kap. 1, S. 5. Justin. Martyr, Oratio ad graecos, S. 4. Man sehe oben Fußn. (73)–(82).

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Schule, hatten alles ohne eine solche zu erklären versucht. »Als erster kommt Thales, einer der sieben Weisen, dessen Überlegenheit die anderen sechs anerkannt haben sollen; er hat als erster gelehrt, daß alles aus dem Wasser entstanden ist. Seinen Landsmann und Freund Anaximander konnte er davon jedoch nicht überzeugen. Dieser bezeichnete nämlich die Unbegrenztheit der Natur als Ursprung von allem. Nach ihm hat sein Schüler Anaximenes gelehrt, daß die Luft grenzenlos ist, alles daraus Entstandene aber begrenzt; entstanden seien aber Erde, Wasser und Feuer und aus diesen dann alles Übrige. Anaxagoras hat eine unbegrenzte Materie angenommen, aus der kleine, einander ähnliche Teile hervorgegangen sind, die zunächst vermischt waren, später dann vom göttlichen Geist geordnet wurden.«101 Wer wundert sich nicht, daß so große Männer in so krasser Unwissenheit befangen waren? Darüber hat der Jesuit Pererius diese Betrachtung angestellt: »Pherekydes Syrus und Anaxagoras, die führenden Köpfe unter den Philosophen«, sagt er,102 »sollen die Griechen gelehrt haben, der eine, daß die Seele unsterblich ist, der andere, daß Gott, den er ›Geist‹ oder ›Verstand‹ nannte, der Schöpfer der Welt und aller Dinge ist. Daher ist es höchst verwunderlich, daß die früheren Philosophen, die das nicht wußten, sich des Namens eines Weisen und entsprechenden Ansehens erfreuten, und daß diese beiden Lehren, deren Kenntnis allen Sterblichen äußerst erwünscht und für ein gutes und gottesfürchtiges Leben notwendig ist, den Griechen erst so spät bekannt geworden sind.« Père Thomassin äußert hierzu einen bemerkenswerten Gedanken. »Alle Dichter«, sagt er,103 »die die ältesten Philosophen waren, sowie alle Weisen des sogenannten mythologischen Zeitalters haben in ihren Schriften keine andere Ursache gesucht und gefeiert als die erste Ursache und die höchste Gottheit. Wie konnte es also geschehen, daß 101

Cicero, Academ. quaest., Buch IV, Kap. 37. Pererius, De communibus omnium rerum naturalium principiis, Buch IV, Kap. 4, S. 206. 103 Thomassin, Méthode d’étudier et d’enseigner la philosophie, Buch I, Kap. 14, S. 162 f. Man sehe auch S. 165. 102

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so bald nach ihnen Thales und seine ersten Nachfolger nicht wußten oder schweigend übergingen, was alle Weisen und alle Zeiten seither beschäftigt hat? Es ist daher wahrscheinlich, daß diese ältesten Philosophen Ioniens von der ersten Wirkursache aller Dinge voraussetzten, was unbestreitbar ist und bis dahin auch unbestritten war, und nur von den Zweitursachen sprachen, die bis dahin unbekannt geblieben, ja nicht einmal gesucht worden waren. Sie fürchteten, daß, wenn sie alle besonderen Wirkungen bis zu Gott zurückverfolgten, man dann in die alte Gewohnheit zurückfallen würde, die Untersuchung aller Zweitursachen zu unterlassen und sich mit der ersten Ursache zu begnügen. Genauso verhält es sich mit den Engeln. Homer und die übrigen Dichter und die uralten Philosophen machten sie zu alleinigen Urhebern aller Dinge unter dem Befehl Gottes. Um die Wirksamkeit der körperlichen unmittelbaren Ursachen geltend zu machen, sahen die Schüler des Thales davon ab, die Engel zu erwähnen. (---). Schließlich kam Anaxagoras zu dem Urteil, daß die Welt zu seiner Zeit imstande war, die Verbindung und die Unterordnung der körperlichen Ursachen unter die Engelwesen und die der einen wie der anderen unter die Weisheit und allmächtige Hand Gottes zu begreifen. (---). Nur weil sie (---) die Teilgebiete der Philosophie voraussetzten, die alle Welt schon genügend kannte, und die ganze Aufmerksamkeit auf das Teilgebiet lenkten, das noch nicht ausgebaut war, sprachen Thales und seine Schüler weder von der Moral noch von der Metaphysik. Sobald man aber gewahr wurde, daß die Erkenntnis der Zweitursachen wenig Gewißheit bot und zu befürchten stand, daß sie das Wissen von Gott, den Engeln und den Sitten vergessen machen würde, das am verläßlichsten, nützlichsten und nötigsten war, gaben Anaxagoras, Sokrates und Platon der Theologie und der Moral ihren Glanz und ihr altes Ansehen zurück.« Das ist ein schöner Gedanke, eine geistreiche Idee; sie ist jedoch eher blendend als solide, weil wir sehen, daß Anaximenes, der Lehrer des Anaxagoras, die Philosophie keineswegs wie jemand betrieb, der voraussetzt, daß die Existenz Gottes als der ersten Ursache so bekannt wäre, daß es sich erübrigt, davon zu

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sprechen. Er sprach von Göttern; aber weit davon entfernt, sie als Prinzipien zu betrachten, behauptete er, daß sie selbst ihre Existenz dem Prinzip verdankten, das er aufstellte. »Er (Anaximenes) führte die Ursache alles Seinden auf die grenzenlose Luft zurück; die Götter hat er weder geleugnet noch verschwiegen; er glaubte jedoch nicht, daß sie die Luft geschaffen hätten, sondern daß selbst sie aus der Luft entstanden seien.«104 Eine ähnliche Auffassung schreibt Cicero Anaximander zu, dem Lehrer des Anaximenes. (…). Man beachte, daß die zwei Schüler des Anaximenes105 die Lehre ihres Meisters korrigiert haben, sei es durch die Annahme einer von den Körpern verschiedenen Intelligenz und Weltursache, sei es durch die Annahme, daß die Luft, das Prinzip aller Dinge, nur insofern ein Prinzip ist, als sie mit göttlichem Geist begabt ist. Die erste dieser beiden Hypothesen ist die des Anaxagoras, die zweite die des Diogenes von Apollonia. (…).106 All dies spricht gegen Père Thomassin. Es geht nicht mehr um Naturphilosophen, welche die Lehre vom Dasein Gottes mit Stillschweigen übergangen haben, sondern um solche, die davon gesprochen haben, aber auf eine Art und Weise, die derjenigen der Dichter und des Anaxagoras strikt entgegengesetzt war. Ich füge hinzu, daß ihr bloßes Schweigen viel beweisen würde, denn zu jener Zeit drangen die Naturforscher bis zum Chaos vor, bis zum ersten Ursprung der Dinge.107 Sie mußten sich also dazu äußern, was sie vom Wesen Gottes glaubten, und die ganze Lehre vom ersten Prinzip ausschöpfen; danach waren sie dann völlig frei, Rechenschaft von den besonderen und alltäglichen Wirkungen der Natur zu geben,

104

Augustinus, De civit. dei, Buch VIII, Kap. 2. Man sehe auch Cicero, De nat. deorum, Buch I, wo er sagt: »Anaximenes lehrte, daß die Luft Gott ist und daß sie entstanden ist.« 105 Nämlich Anaxagoras und Diogenes von Apollonia. 106 Augustinus, De civitate dei, Buch VIII, Kap. 2. Man sehe auch Cicero, De nat. deor., Buch I, wo er sagt: »Was ist mit der Luft, die Diogenes von Apollonia als Gott gebraucht?« 107 Man sehe Cicero, Tuscul. disput., Buch V, am Anfang, und Vergil, Ekloge VI, Vers 31.

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ohne bis zur ersten Ursache aufzusteigen. Heutzutage schauen die Naturforscher nur auf die Zweitursachen, die Materie, die Form usw. Das tun sie aber nicht etwa, weil sie voraussetzten, daß die Erkenntnis Gottes als der ersten Ursache schon genügend entwickelt wäre, sondern weil sie von ihr ausführlich und mit viel gelehrtem Aufwand in einem Teil ihrer philosophischen Lehrgebäude handeln, der von der Physik verschieden ist.108 Wie dem auch sei, wir wollen festhalten, daß die alten Philosophen sehr wohl wußten, was die Dichter von Gott gesagt hatten. Wie kommt es also, daß sie sie nicht nachgeahmt haben? Weil sie keinen großen Respekt vor Dichtungen hatten, in denen sie so viele Bagatellen und populäre Meinungen fanden, die einer philosophischen Prüfung nicht standhielten?109 Aristoteles deutet diesen Grund an.110 Oder urteilten sie darüber wie Sokrates, wenn er sagt, daß die Dichter den Besessenen ähneln und daß die einen wie die anderen nicht wissen, was sie sagen? (…).111 Gewiß haben die rechtgläubigsten Dichter hinsichtlich des Wesens Gottes sehr geirrt; denn Orpheus, der in seinem Gesang Gott den Schöpfer des Himmels nennt, bezeichnet ihn nur als den Erstgeborenen unter den Geschöpfen und die Luft als dessen Vater. (…).112 Diogenes Laertius behauptet, daß Anaxagoras eine seiner Lehren vom Dichter Linus übernahm,113 aber das betraf nicht die Intelligenz als Ersten Beweger. Man beachte, daß Aristoteles in diesem Punkt einen großen Unterschied zwischen Anaxagoras und Thales macht.114 Wir wollen dieses Thema mit einer schönen Passage aus Theodoret abschließen. Darin sehen wir, daß die Vorgänger des Mannes, von dem dieser Artikel handelt, nichts über die erste Ursache wußten. 108

D. h. in der Metaphysik. Wie in der Theogonie des Hesiod, wo so viele Absurditäten in Bezug auf die Götter vorkommen und wo sogar das Chaos den Göttern vorausgeht, wie Laktanz in seinen Institutiones, Buch I, Kap. 5 beklagt. 110 Aristoteles, Metaphys., Buch III, Kap. 4, S. 662 B. 111 Platon, Apologia Socratis, S. 17 F. 112 Laktanz, Buch I, Kap. 5. 113 Diog. Laert., Prooemium, Nr. 4. 114 Aristoteles, De anima, Buch I, Kap. 2, S. 479. 109

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»Während die Philosophen, die seine Vorgänger waren, nicht über das Sichtbare hinaus dachten, hat Anaxagoras als erster gesagt, daß ein Geist der Welt vorsteht, der die Elemente aus der Vermengung in eine Ordnung gebracht hat.«115

(G) Ich will untersuchen, ob die Lehre von den Homöomerien nicht eine Menge Widersprüche enthält. Die Argumente des Aristoteles, so scharfsinnig und solide sie auch sein mögen, will ich nicht heranziehen;116 und wenn sich herausstellen sollte, daß meine Betrachtungen Ähnlichkeit mit seinen haben, so wäre das ein reiner Zufall. I. Wir haben gesehen,117 warum Anaxagoras sagte, daß alles aus ähnlichen Teilchen besteht: Er wollte damit ausschließen, daß ein Körper aus nichts geschaffen wird. Da nun die einfachsten Nahrungsmittel der Stoff sein können, mit dem alle Teile eines Lebewesens ernährt werden, müßte er einräumen, daß das Gras einer Wiese tatsächlich Knochen, Nägel, Hörner, viel Blut und Fleisch, viel Haut und Haare usw. enthält. Es ist also nicht aus ähnlichen Teilchen zusammengesetzt, es ist eher eine Ansammlung von Heterogenitäten aller Art. Was soll daher die Lehre von den Homöomerien? Hätte er sie nicht in jedem einzelnen Fall preisgeben müssen, nachdem er sie im allgemeinen vorausgesetzt hatte? Trifft das vom Gras Gesagte nicht auch auf die Milch, den Wein, das Wasser, das Brot und unzählige andere Dinge zu? Gibt es irgendeinen Körper, der bei den Veränderungen, die wir ›Entstehen‹ und ›Vergehen‹ nennen, nicht vielen anderen Körpern als Stoff dient? Diese ersten Grundbestandteile sind also homogen und nicht homogen. Sie sind es nach der Voraussetzung, die Anaxagoras machte; sie sind es nicht 115

Theodoret, De graec. affect., Sermo 2, S. 489. Man sehe Buch I, Kap. 7 seiner Metaphysik und Buch I, Kap. 4 seiner Physik. 117 Oben in Anm. (C).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  116

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in der Wirklichkeit. Denn weil die zusammengesetzten Dinge ihm zufolge von derselben Natur sein müßten wie ihre Grundbestandteile, aber nur Ansammlungen unähnlicher Teile sind, ergibt sich, daß die Grundbestandteile heterogen sind. Unter Ziffer V werde ich hierauf zurückkommen. II. Darüber hinaus zeigt sich, daß sämtliche Namen schlecht gewählt sind. Wenn z. B. das gesamte Blut der Tiere in dem Gras enthalten gewesen wäre, das sie gefressen haben, müßte dieses eher Blut als Heu heißen. Anaxagoras antwortete, daß in einem zusammengesetzten Körper bestimmte Teilchen zahlreicher oder an der Oberfläche vorkommen und ihn daher als gleichförmig erscheinen lassen, was ihm einen spezifischen Namen verschafft.118 Aufgrund der kontrafaktischen Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, hat Lukrez diese Antwort widerlegt. »Daraus würde resultieren«, sagt er,119 »daß man beim Zerstampfen von Korn einige Teilchen Blut oder einen der anderen Bestandteile unseres Organismus erhält. Das widerspricht aber der Erfahrung.« (…). Diese Widerlegung ist nicht schlecht. Denn in der Tat: man mische nach Belieben mehrere Arten von Getreide, man nehme Weizen und Gerste im Verhältnis 100:1 und bette immer so viele Gerstenkörner wie möglich in eine Umhüllung aus Weizenkörnern: was hat man gewonnen? Kann man irgend jemand glauben machen, daß da nur Weizen ist? Würde jemand auch dann bei diesem Irrtum bleiben, wenn der Haufen zerstreut worden wäre? Würden nicht stets einige Gerstenkörner zum Vorschein kommen? Das sind lauter Märchen und Träumereien. Anaxagoras hätte diesen Einwand nur durch die Annahme auflösen können, daß jeder sinnlich wahrnehmbare Teil eines Weizenkorns derart beschaffen ist, daß die Heterogenitäten darin den kleineren Anteil ausmachen und von Teilen des Weizenkorns umgeben sind und daß wir deshalb niemals die heterogenen Teile sehen, wenn wir den Weizen zwischen zwei Mühlsteinen zermahlen. Wenn wir die Zerkleinerung aber bis zu den sinn118 119

Man sehe Aristoteles, Physica, Buch I, Kap. 4, S. 456. Lukrez, Buch I, Vers 874.

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lich nicht mehr wahrnehmbaren Teilen fortsetzten, dann würde sich feineren Augen als den unsrigen das Blut, das Fleisch, die Knochen usw. zeigen. Mit einem Wort, er könnte sich aus dieser Klemme nur durch die Annahme der unendlichen Teilbarkeit befreien, und das hieße einen Menschen nachzuahmen, der sich Hals über Kopf in einen unvorstellbar tiefen Abgrund stürzt, um einem Säbelhieb zu entgehen. Wir wollen uns aber nur mit den Schwierigkeiten befassen, die irgendeine Art von Widerspruch enthalten. III. Drittens sage ich, daß Anaxagoras annehmen mußte, daß sich die ähnlichen Teilchen sowohl in größerer als auch in kleinerer Anzahl im Brot finden: in größerer Anzahl, weil diese Zusammensetzung ›Brot‹ genannt wird; in kleinerer Anzahl, weil das Brot wenige Stunden nach dem Verzehr ›Speisesaft‹ genannt wird und in allen seinen wahrnehmbaren Teilchen nur die Eigenschaften des Speisesaftes aufweist. Diesen Einwand versteht man leichter, wenn man den Teig mit dem Weizen oder das Brot mit dem Teig vergleicht. Dann sieht man, daß dieser Philosoph der Meinung sein muß, daß die Homogenitäten in ein und derselben gemischten Substanz insgesamt sowohl zahlreicher als auch weniger zahlreich vorhanden sind, z. B. im Teig. Denn solange er Teig ist, enthält er mehr Teigkorpuskeln als Korpuskeln von Körpern anderer Art; aber wenn er in Brot verwandelt ist, enthält er weniger Teig- als Brotkorpuskeln; nichtsdestoweniger kommen die Brotkorpuskeln nur vom Teig. IV. Hier kommt ein weiterer Widerspruch. Es heißt sich zu widersprechen, wenn man eine Lehre einführt, die eine Schwierigkeit, die man auf der einen Seite ausräumen will, auf der anderen Seite wiederbringt. Das ist die Schwäche, die dem System des Anaxagoras anhaftet. Nachdem er angenommen hatte, daß sich die Teile der Materie von Ewigkeit her in einem Zustand der Vermengung befanden, d. h. daß die kleinsten homogenen Teilchen auf allen Seiten von heterogenen Körpern eingeschlossen waren, nahm er nun an, daß eine Intelligenz diese Unordnung schließlich beseitigte, indem sie die ähnlichen Teilchen von denen trennte, die ihnen nicht ähnlich waren. Diese Annahme stürzte er jedoch selber um, weil er sich zu dem Eingeständ-

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nis gezwungen sah, daß alle Arten von Homöomerien in allen Körpern vermischt sind, und dies auch hinsichtlich der nicht wahrnehmbaren Teilchen. Ihm zufolge gibt es unzählige kleine Knochen und kleine Blutstropfen usw. in jedem Grashalm und in jedem Brotkrümel. Alles ist mit allem vermischt, weil alles aus allem entsteht. (…).120,121 Welche größere Verwirrung wollt ihr sehen als diese hier? Platon urteilte ebenso; denn mehr als einmal führt er die Lehre des Anaxagoras als Sinnbild des Chaos an. (…).122,123 Ménage berichtet, daß Luther diejenigen als anaxagoreische Theologen bezeichnete, die in jedem Bibelwort jedweden Sinn entdeckten. (…).124 V. Seine ersten Grundbestandteile waren welche und waren es nicht. Sie waren welche der Voraussetzung nach; sie waren es nicht in der Wirklichkeit. Sie waren nämlich genauso zusammengesetzt und vergänglich wie irgendein anderer Körper. Er ließ die unendliche Teilbarkeit zu und mußte daher sagen, daß es im kleinsten Wassertropfen eine Unendlichkeit von Korpuskeln gibt und er folglich keine geringere Anzahl von ihnen enthält als die gesamte Erde. Im übrigen ist diese unendliche Anzahl von Korpuskeln eine Anhäufung von Heterogenitäten aller Art. Sie ist daher nicht einfacher als ein Baum, und insofern unterscheidet sie sich nur dadurch von den sogenannten gemischten Körpern, daß das menschliche Auge die unendlichen Teile nicht entdecken kann, so wie es sie in einem Baum entdeckt. Schließlich kann der Verstand, der die Materie in Bewegung versetzt hat, diese vorgeblich ersten Prinzipien ebensoleicht bis ins Unendliche teilen, wie das Feuer das Holz teilt. Sie sind daher ebenso vergänglich wie das Holz. Daraus folgt, daß, wenn sie in der Wirklichkeit existierten, sie keine ersten Prinzipien wären. Außerdem: Kann man sich eine größere Absurdität vorstellen, als etwas als Prinzipien aufzustellen, was überhaupt 120 121 122 123 124

Aristoteles, Phys., Buch I, Kap. 4, S. 256 C. Ders., Metaphys., Buch III, Kap. 5, S. 671 C. Platon, Phaidon, S. 54. Ders., Gorgias, S. 317. Ménage zu Diog. Laert., Buch II, S. 71.

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nicht existiert? Gemäß der Hypothese des Anaxagoras ist es aber gewiß, daß es keine Homöomerien im Universum gibt. Wir wollen eine Antwort prüfen, die Anaxagoras hierauf geben könnte. Er könnte antworten, daß das Wesen der Homöomerien nicht in der Ähnlichkeit aller ihrer Teile besteht, sondern in der Gleichförmigkeit zwischen der Anordnung der Heterogenitäten z. B. eines kleinen Knochens und der Anordnung der Heterogenitäten jedes anderen Knochens. »Ich behaupte gar nicht«, könnte er sagen, »daß ein Knochen von 10 Zoll, den man in 100 000 Teile oder, was nach meiner Hypothese auf das Gleiche hinausläuft, in 100 000 kleine Knochen zerteilt, überhaupt keine Korpuskel enthielte, die nicht allen anderen ähnelte. Ich räume ein, daß jeder von diesen kleinen Knochen eine Mischung von Grundbestandteilen aller Art ist: Er enthält Fleisch, Blut, Membranen usw. Aber da diese verschiedenen Materialien in jedem dieser kleinen Knochen in der gleichen Symmetrie angeordnet ist, kann ich mit Recht behaupten, daß die Ansammlung von 100 000 dieser kleinen Knochen eine homogene Zusammensetzung oder ein Haufen von Homöomerien ist. Und weil ich von ihnen annehme, daß der Verstand, der sie ausgewählt hat, sie fertig vorgefunden hat, kann ich sagen, daß jeder für sich genommen unzerstörbar ist, denn sie haben immer aus sich selbst existiert.« Diese Antwort enthält zwei Hauptpunkte. Der eine ist die Erklärung der Lehre hinsichtlich der Bedeutung des Wortes ›Homöomerien‹, der andere betrifft die Unzerstörbarkeit dieser Homöomerien. Den ersten Punkt will ich durch ein Beispiel erklären. Man bringe alle Exemplare desselben Buches im gleichen Einband in eine Bibliothek. Das wird ein Haufen ähnlicher Bücher, ein homogener Haufen sein, nicht weil jeder dieser Bände aus Teilen zusammengesetzt ist, die sich vollkommen ähneln, sondern weil Schwarz und Weiß, die Abstände, die Buchstaben, die Akzente, die Punkte, die Kommata und die anderen heterogenen Teile in einem Band die gleiche Symmetrie aufweisen wie in allen anderen. Wir wollen diese Erklärung des Anaxagoras auf sich beruhen lassen und uns damit begnügen, den zweiten Punkt anzugreifen.

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VI. Ich frage ihn nicht, warum diese Intelligenz, die er anerkennt, die Homöomerien während der ganzen Ewigkeit in ihrer Vermengung bestehen ließ oder warum sie sich so spät entschlossen hat, sie zu bewegen und zu vereinigen, oder warum er leugnet, daß etwas aus nichts hergestellt werden kann, wo er doch einräumt, daß die Bewegung einen Anfang gehabt hat. Diese drei Einwände sowie einige andere beunruhigen diejenigen auf befremdliche Weise, die eine ewige, unerschaffene und vom göttlichen Wesen verschiedene Materie annehmen. Aber da das Schwierigkeiten sind, die man ebensogut gegen andere Philosophen geltend machen kann wie gegen Anaxagoras, wäre es unangebracht, hierauf zu insistieren. Ich will nur die letzte von ihnen ein wenig erläutern. Die Hervorbringung einer Eigenschaft, die von ihrem Träger verschieden ist, unterscheidet sich sicherlich nicht von einer wahren Schöpfung. Das beweisen die modernen Philosophen125 auf demonstrative Art den Aristotelikern, die unzählige substantielle und akzidentielle, von der Materie verschiedene Formen annehmen. Denn da diese aus keinem schon vorher vorhandenen Stoff zusammengesetzt sind, folgt, daß sie aus nichts geschaffen sind. Die beste Antwort, die den Anhängern des Aristoteles möglich ist, besteht darin, den Einwand zurückzugeben und zu sagen, daß die Cartesianer somit anerkennen müssen, daß Bewegung nur durch Schöpfung entstehen kann. Die Cartesianer räumen diese Folgerung ein: Die Erzeugung von Bewegung sprechen sie allein Gott zu und sagen, die Materie bewegen heiße nichts anderes, als sie jeden Augenblick an verschiedenen Orten zu erschaffen. Man schließe aus alledem, daß Anaxagoras und mehrere andere sich widersprachen, wenn sie einerseits bestritten, daß man etwas aus nichts erschaffen kann, und andererseits zugaben, daß die Bewegung oder irgendeine andere Modifikation im ewigen Chaos angefangen hat.126 Aber lassen wir das und befassen wir uns nur mit den Schwierigkeiten, die Anaxagoras betreffen.

125 126

Man sehe Gassendi, Phys., Buch VIII, Kap. 3, Abschn. 1. Methodios bei Photios, Col. CCXXXVI, S. 943.

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VII. Folgenden Grundsatz führe ich gegen ihn ins Feld: »Alles, was voneinander verschieden ist, kann voneinander getrennt werden,« und ich schließe daraus, daß jedes Homöomerion bis ins Unendliche geteilt werden kann, denn es ist aus vermischten Grundbestandteilen aller Art zusammengesetzt. Da aber Bewegung ein notwendiges Prinzip der Teilung ist und Gott die Bewegung in der Materie hervorgebracht hat, folgt, daß er mittels dieser Bewegungskraft die Auflösung in jeden Teil des Universums tragen und jedes beliebige Homöomerion, das ihr für eine Einheit haltet, in Stücke zerlegen kann. Wenn es sich um ein Atom im Sinne Epikurs handeln würde, um einen vollkommen einfachen, vollkommen einheitlichen Körper ohne jede Zusammensetzung, so gestehe ich, daß nichts ihn teilen könnte. Anaxagoras kannte jedoch keine derartigen Körper noch irgendein Homöomerion, das nicht bei aller Kleinheit eine Unendlichkeit von distinkten, sogar in ihren Eigenschaften verschiedenen Korpuskeln enthielte. Was er ›erste Grundbestandteile‹ nennt, ist daher in Wahrheit ebenso der Zerstörung unterworfen wie die komplexesten aller Körper, z. B. ein Stier. Das ist vollkommen wahr, sage ich, selbst unter der Annahme, daß die Homöomerien von Ewigkeit her durch sich selbst existieren, denn es genügt, daß eine äußere Ursache sie vom Bewegungs- in den Ruhezustand versetzen kann, wenngleich diese weder die Macht hat, die Homöomerien ins Dasein zu rufen noch zu vernichten. Die Berufung auf den ›Progressus in infinitum‹ dürfte in diesem Fall nutzlos sein. Man kann mir nicht erwidern, daß die Homöomerien aus unendlich vielen Korpuskeln zusammengesetzt sind und daß diejenigen, die einen kleinen Knochen ergeben, bis ins Unendliche geteilt werden können, ohne daß sie aufhören, ein kleiner Knochen zu sein und nach jeder Teilung nur ein noch kleinerer Knochen werden. Diese Erwiderung wäre nicht gut. Denn bei jedem Homöomerion ist zweierlei zu betrachten: I. daß es unendlich viele Teilchen enthält; das ist ihm mit den anderen gemeinsam; II. daß die Teilchen auf eine bestimmte Art und Weise angeordnet sind, das ist ihm eigentümlich: Und das ist seine spezifische Form, sein Wesen, und das macht, daß es eher ein kleiner Knochen oder ein kleiner Blutstropfen als irgend-

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eine andere Art von ersten Grundbestandteilen ist. Um also einem Homöomerion eines Knochens sein Wesen und seine Art zu nehmen, reicht eine neue Anordnung der Korpuskeln aus, die es bilden. Da nun ein Verstand als Erster Beweger die Körper teilen und die einen von den anderen trennen kann, kann er den Korpuskeln eines jeden einzelnen Homöomerion ihre bisherige Anordnung nehmen und ihnen eine neue geben; er kann sie also die Art wechseln lassen, wie man es mit dem Mehl macht, wenn man es zu einem Teig knetet, d. h. wenn man seine Korpuskeln durcheinanderbringt und neu ordnet. Ich werfe diesem Philosophen nicht vor, daß er einen Unterschied zwischen den Teilen der Materie annahm, bevor sie in Bewegung versetzt worden sind. Dieser Einwand ist mir immer sehr schwach erschienen; ich begreife nämlich ganz klar, daß Teilung eine Unterscheidung voraussetzt und daß ein eiserner Nagel, der in einem Stück Holz steckt und sich in völliger Ruhelage inmitten des völlig ruhenden Holzes befindet, ebenso vom Holz verschieden ist, wie wenn er und auch das Holz sich bewegten. VIII. Ich komme zum letzten Einwand. Was würde geschehen, wenn man diesem Philosophen gutwillig zugestünde, daß die gleiche Notwendigkeit, welche die Körper existieren läßt, sie in unendlich vielen Homöomerien unterschieden existieren läßt, von denen ein jedes für immer unversehrt bleibt, weil die Natur der Dinge es mit sich bringt, daß es für jede Art feste Grenzen gibt, so wie man bei Lebewesen gewöhnlich von einem minimum quod sic  einem Kleinsten seiner Art  spricht.127 Würde dieses gutwillige Zugeständnis der Lehre des Anaxagoras viel nützen? Würde es ihm nicht die Unzerstörbarkeit und innere Unveränderlichkeit seiner ersten Grundbestandteile schenken? Würden sie nicht ein so kleiner Knochen sein, daß sie schon bei geringerer weiterer Verkleinerung durch wirkliche Teilung ihrer Partikel nicht länger ein Knochen wären, und entsprechend bei den anderen Arten? Und wäre das nicht ein 127

D. h. ein Grad der Kleinheit, unterhalb dessen ein Lebewesen, z. B. eine Ameise, keine Ameise mehr sein könnte.

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Hinweis, daß die Naturnotwendigkeit sie unteilbar gemacht hat? Ich würde es gern zugestehen, aber man würde nur ein Übel durch ein anderes ersetzen. Ich würde dann nämlich folgenden Fehler in dem System finden: daß der Νος oder der Verstand regelwidrig ins Spiel käme, denn man würde ihn für die leichteste Aufgabe in Anspruch nehmen, nachdem man die schwerste einer blinden Notwendigkeit übertragen hat. Ganz allgemein gesagt ist es gewiß völlig richtig, daß jeder Philosoph, der gute Gründe für die in den Teilen des Universums sichtbare Ordnung anführen will, eine Intelligenz voraussetzen muß, die diese schöne Ordnung geschaffen hat. Er braucht nicht zu befürchten, daß vernünftige Menschen ihm vorhalten könnten, daß er gewisse Dichter nachahmt, die einen Deus ex machina in das Theater herabsteigen lassen, um Schwierigkeiten auszuräumen, die nicht der Mühe wert sind. Aber wenn er zunächst voraussetzt, daß die Homöomerien ohne Lenkung durch eine intelligente Ursache gebildet wurden, dann aber eine derartige Ursache annimmt, die sie entwirrt und geordnet hat, könnte man ihm entgegenhalten, daß er jene Dichter unter Mißachtung der Regeln nachahmt.128 Man erkennt leicht die Stärke dieses Einwands, wenn man nur bedenkt, daß es viel schwerer ist, gute Uhren herzustellen, als sie aus einem Haufen von Münzen und Muscheln, unter die sie gemischt waren, herauszuholen und sie dann zu ordnen und auf eine bessere Art zu arrangieren. Ein Lehrling, ein Kind könnte dieses Aussortieren und Neuordnen vornehmen. Jedermann wird mir zugeben, daß die Bildung von Menschen129 eine Aufgabe ist, die mehr Planung und Geschicklichkeit erfordert als die Kunst, sie in einer militärischen Formation aufzustellen. Die meisten modernen Philosophen nehmen an, daß die allgemeinen Naturgesetze genügen, um den Fötus wachsen zu lassen, vorausgesetzt daß er im Samen gut gestaltet 128

»Gott soll nicht ins Spiel kommen, es sei denn, es ergäbe sich eine Verwicklung, die den Erretter verdient.« Horaz, De arte poetica, Vers 191. 129 Damit ist nicht gemeint, was Väter und Mütter dazu beitragen, nicht die materiale, sondern die wirkende Ursache, die den Fötus organisiert und diese erstaunliche Maschine baut.

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und organisiert ist; aber sie nehmen auch an, daß diese kleinen Lebewesen im Samen das Werk des unendlich mächtigen und unendlich geschickten Schöpfers sind. Sie glauben also, daß die Hauptschwierigkeit, die am dringendsten die Planung durch eine Intelligenz verlangt, in der ersten Bildung einer organisierten Maschine besteht, d. h. in der Bildung jener kleinen Lebewesen, die ihrer Annahme zufolge im Samen sind. Jedes dieser kleinen Lebewesen ist, genau genommen, ein Homöomerion des Anaxagoras. Es ist also schwieriger, Homöomerien zu bilden, als die Lebewesen durch Ernährung wachsen zu lassen. Also hat man hauptsächlich zur Erklärung der Bildung der Homöomerien einen Verstand nötig, denn jedes Homöomerion ist eine bestimmte Ansammlung von unendlich vielen Arten von Körpern; und diese Ansammlung muß nach bestimmten Verhältnissen und räumlichen Beziehungen gemacht sein. Eine Ansammlung, die für ein Homöomerion des Knochens nötig ist, ist eine andere als die für ein Homöomerion des Fleisches nötig ist; und wenn man diese Symmetrie nicht genau befolgt, wird man nicht die ersten Grundbestandteile des Blutes oder des Knochenmarks, sondern die einer anderen Mischung erhalten. Anaxagoras hat aber nicht geglaubt, eine Intelligenz sei nötig, um unendlich viele Arten von Homöomerien zu bilden, von denen jedes eine bestimmte Ansammlung von Körpern aller Art ist, die so miteinander vermischt sind, daß die Homöomerien einer Art in größerer Anzahl vertreten und vielmehr auf eine Art als auf eine andere angeordnet sind, und daß ganz allgemein jeweils vielmehr diese Proportion und Symmetrie als jede andere herrscht. Für das Schwierigste hat er somit nur eine blinde Notwendigkeit als Ursache angegeben. Er hat daher nicht folgerichtig räsoniert, als er für das weniger Schwierige eine Intelligenz für erforderlich hielt. Seiner Lehre zufolge sind dies sämtliche Funktionen einer Intelligenz: das Ungeordnete in eine Ordnung bringen, das Ruhende in Bewegung versetzen, das Vermischte trennen, das Schmucklose schmücken. (…).130 Er kann von vorn und hinten angegriffen werden. »Du tust entweder zu viel«, 130

Hermias in seiner Philosophorum irrisio. Dieses Werk des Hermias

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könnte man ihm vorhalten, »oder zu wenig. Wenn Du glaubst, die Natur habe all die Homöomerien ohne Lenkung oder Erkenntnis gebildet, mußt Du auch glauben, daß sie sie bewegt, entwirrt und neu verteilt hat: der Verstand ist dann überflüssig. Wenn Du glaubst, er sei nötig für die Trennung und Neuverteilung der Homöomerien, mußt Du ihm auch deren Bildung übertragen: Du dehnst seinen Einfluß nicht überall dorthin aus, wo er gebraucht wird. Somit ruiniert ein Teil Deines Systems den anderen. Du hast es nicht aus gut abgestimmten und gut miteinander verbundenen Teilen zusammengesetzt.«131 Wenn wir seine Schriften besäßen oder alle Werke Theophrasts,132 würden wir vielleicht sehen, daß er einige der von mir vorgetragenen Schwierigkeiten diskutiert und eingeräumt hat, daß seine Hypothesen ihn nicht befriedigten und daß er von der Last der Geheimnisse der Natur überwältigt war. Er sagte, alles sei voller Dunkelheit. (…).133 Diese Klage stimmten auch mehrere andere Philosophen an; sie stellen sich sogar vor, daß die von Moses erwähnte Finsternis, die über der Tiefe lag, bevor Gott das Licht schuf,134 nur hinsichtlich der Augen beseitigt worden ist, »denn was die Finsternis des Geistes angeht«, sagen sie, »so schwebt sie immer noch über der Tiefe. Das Licht der Wahrheit, das in dem Abgrund eingeschlossen ist, kommt nie heraus; es sendet nur einige Strahlen aus, die nach so vielen Ablenkungen und Brechungen und nachdem sie ihre Helligkeit in den düsteren Weiten, die sie durchquert haben, mit so vielen dunklen Korpuskeln vermischt haben, in unseren Geist gelangen, daß sie nur noch dazu taugen, falsche Bilder zu erzeugen.«

findet sich in der Bibliothèque des pères und am Ende der Werke von Justinus Martyr in den Ausgaben Paris 1646 und Köln 1686. 131 Man sehe unten in Fußn. (195)  recte: Fußn. (198)  eine Passage aus Aristoteles. 132 Er hatte ein Buch De Anaxagorae decretis geschrieben. Man sehe Diog. Laert., Theophrast, Buch V, Nr. 42. 133 Laktanz, Buch III, Kap. 28, S. 217. 134 Man sehe Genesis, Kap.1.

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(H) Die Vorstellungen der Alten, die vom Chaos gesprochen haben, (---) waren schwerlich angemessen, und sie hatten kein Recht zu der Behauptung, daß dieser Zustand des Durcheinander nicht mehr bestehe. Ich hatte beschlossen, hier einige Betrachtungen über dieses Thema zu präsentieren. Weil aber die einzelnen Anmerkungen und die noch folgenden diesen Artikel hinlänglich umfangreich und sogar mehr als das werden lassen, habe ich meinen Entschluß aus Furcht vor Weitläufigkeit geändert. Es werden sich noch genügend Gelegenheiten zur Darlegung dessen geben, was ich hier unterdrücke.

(K) Was den wegen Gottlosigkeit gegen ihn geführten Prozeß angeht, so sagen die einen, daß er verurteilt, die anderen, daß er freigesprochen wurde. Er wurde von Kleon wegen Gottlosigkeit angeklagt, weil er gesagt hatte, daß die Sonne ein feuriger Materieklumpen ist; und obgleich Perikles sich für ihn einsetzte, wurde er zur Verbannung und zu einer Buße von fünf Talenten verurteilt. So erzählt Sotion die Sache.146 Andere Berichte besagen, daß Thukydides ihn angezeigt und ihn nicht allein der Gottlosigkeit, sondern auch des Verrats beschuldigt hat und daß der Angeklagte in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde.147 Wieder andere sagen, daß er im Gefängnis war, als das Todesurteil gegen ihn verhängt wurde. Sie fügen hinzu, Perikles habe die Richter gefragt »Glaubt Ihr, daß er irgendein Verbrechen begangen hat?«, und als er merkte, daß man ihm keines vorwarf, habe er gesagt »Ich bin sein Schüler. Richtet ihn also nicht zugrunde, weil Ihr von Verleumdungen voreingenommen seid. Glaubt lieber mir und gebt ihm die Freiheit zurück.« Damit setzte er sich durch, 146

Sotion in den Successiones philosophorum, bei Diog. Laert., Buch II, Nr.12. 147 Satyros in den Vitae, bei Diog. Laert., Buch II, Nr. 13.

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aber der Angeklagte empfand so großen Kummer über diesen Prozeß, daß er sich entschloß, aus dem Leben zu scheiden.148 Andere erzählen, daß er von Perikles vor die Richter geführt wurde, aber vor Kummer so abgemagert und geschwächt war, daß er nur mit großer Mühe gehen konnte; er wurde daher freigesprochen, weniger weil man ihn für unschuldig hielt, als weil er Mitleid erregte.149 An anderer Stelle habe ich gesagt,150 daß Perikles kein besseres Mittel zur Rettung dieses Philosophen einfiel, als ihn aufzufordern, Athen zu verlassen. Man schenke vier Punkten kurz Aufmerksamkeit. I. Die Ankläger des Anaxagoras151 gehörten zu der Partei, die gegen Perikles opponierte. Sie verfolgten diesen Philosophen also nicht aus Religionseifer, sondern in der Absicht, ihrer Clique zu dienen und die Autorität des Perikles zu schwächen, indem sie tükkischerweise den Verdacht der Irreligion auf ihn lenkten. Das konnten sie nicht besser erreichen als dadurch, daß sie Anaxagoras der Gottlosigkeit anklagten. Das ist fast immer die erste Triebfeder bei Prozessen dieser Art: Man will sich an jemandem rächen oder ein Hindernis auf dem Weg zu Autorität und Vermögen ausräumen, und man ruft mittels des falschen Anscheins, die Interessen Gottes stünden auf dem Spiel, die Leidenschaften des Volkes zu Hilfe. II. Es trifft nicht zu, daß die Ankläger des Anaxagoras sich darauf stützten, daß er den göttlichen Verstand als Schöpfer der Welt anerkannte; vielmehr stützten sie sich darauf, daß er der Sonne mit der These, sie sei ein Stein, den Rang eines Gottes absprach. Das war auch der Grund seiner Verurteilung.152 Daher enthalten diese Worte des Vossius einen Fehler: »Dank der Mühe des Laertius sind uns die eige-

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Hermippos in den Vitae, bei Diog. Laert., Buch II, Nr. 13. Hieronymos in Buch II der Commentarii varii, bei Diog. Laert., Buch II, Nr. 12. 150 In Anm. (M) des Artikels PERIKLES, etwa in der Mitte.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  151 Kleon oder Thukydides. Man sehe Plutarch, Perikles, S. 170 und 155. 152 Man sehe Josephus, Gegen Apion, Buch II, S. 1079 F. Kyrillos, Gegen Julian, Buch VI. 149

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nen Worte des Anaxagoras erhalten. Sie lauten: ›Alles war vermischt; dann kam der Geist und ordnete es.‹ Wie deutlich hat er hier den Werkmeister von seinem Werk unterschieden! Das konnten die Athener nicht ertragen und nannten es ›Gottlosigkeit‹ oder ›Irreligion‹.«153 Genau genommen wurde Anaxagoras nicht deshalb verurteilt, weil er einen Unterschied zwischen Gott und seinen Werken machte, sondern weil er nicht wie die Dichter lehrte, daß die Sonne ein Werk Gottes und zugleich ein Gott ist; denn nach dem volkstümlichen Glauben, der aus den Werken der Dichter geschöpft war, war die Sonne Apollo, der Sohn des Jupiter und eine der größten Gottheiten. Vossius’ Fehler hat große Ähnlichkeit mit dem, den man beginge, wenn man die Inquisition beschuldigte, sie verurteile jemanden zum Tode aufgrund seiner Lehre, daß nur Gott, dem Urheber, Erhalter und souveränen Herrn aller Dinge die höchste Verehrung zusteht und daß kein Geschöpf im Paradies unsere Anrufung und Verehrung verdient. Diese Lehre enthält zwei Punkte, und lediglich für den zweiten würde man jemanden in Salamanca bestrafen. Hätte ein Protestant nicht unrecht, wenn er sagte, man habe diesen Menschen wegen des ersten Punktes bestraft? Nichtsdestoweniger hat Eusebius Recht, wenn er es seltsam findet, daß Anaxagoras fast als Atheist gesteinigt worden wäre, ungeachtet seiner Rechtgläubigkeit in Bezug auf einen Gott als Urheber dieser Welt; eine Lehre, die er als erster von allen Griechen vertreten hatte. (…).154 Das, sage ich, ist erstaunenswert, denn schließlich – und das ist meine III. Bemerkung – kann man sich kaum vorstellen, daß in einer so kultivierten Stadt wie Athen ein Philosoph die Eigenschaften der Gestirne nicht mit physikalischen Gründen erklären konnte, ohne sein Leben zu riskieren. Ist es nicht ein bejammernswertes Los, wenn ein Mensch mehr Verstand besitzt als ein abergläubisches Volk, das von unverständigen Personen regiert wird? Wozu dient diese Überlegenheit an Begabung und Kenntnis inmitten solcher Leute? Bietet sie nicht Gelegenheit zu Verbrechen? Setzt sie 153 154

Vossius, De orig. et progres. idololatr., Buch I, Kap. 1, S. 5. Eusebius, Praepar. evangel., Buch XIV, Kap. 14, S. 750 C.

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den Menschen nicht tausend Verleumdungen, tausend Gefahren aus? Würde er sich der Annehmlichkeiten des Lebens nicht besser erfreuen, wenn er im Strom der Unwissenheit und des Aberglaubens mitschwämme? »Wer sich in vorchristlicher Zeit bemühte, die Dinge der menschlichen Vernunft gemäß zu betrachten, zu erforschen und zu erklären, wurde als gottloser und neugieriger Mensch vor die Schranken des Gerichts gezerrt.«155 IV. Ich sage viertens, daß man bestürzt sein muß, daß ein so spektakulärer Prozeß wie der gegen Anaxagoras, von dem auch Perikles, die führende Persönlichkeit Athens, so sehr betroffen war, den Historikern nicht genauer bekannt war. Ihre Berichte darüber differieren in tausendfacher Hinsicht. Einige versichern in Bezug auf den Hauptpunkt das genaue Gegenteil von dem, was andere behaupten. Das gereicht dem Altertum nicht zur Ehre. (…).

(N) Er wußte sehr genau, was die glücklichsten Lebensumstände sind. Anaxagoras glaubte, daß die Lebensumstände am glücklichsten sind, die es am wenigsten zu sein scheinen, und daß man die Menschen, die wahres Glück genießen, nicht unter den Reichen und allseits Geehrten suchen muß, sondern unter denen, die ein kleines Stück Land beackern oder die sich ohne Ehrgeiz den Wissenschaften widmen. (…).175

(R) Sokrates (---) war mit der Lektüre der Bücher des Anaxagoras nicht zufrieden. Das war anscheinend seine eigene Schuld. Ich will zweierlei tun: eine Kurzfassung der Klage des Sokrates geben und danach einige Betrachtungen anstellen.

155 175

Justinus Martyr, Apologia I, S. 48. Valer. Maxim., Buch VII, Kap. 2, Nr. 9, extern, S. 604.

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»Als ich gehört hatte«, sagte er,190 »daß Anaxagoras in einer Schrift behauptet, daß ein Verstand alles lenkt und erschafft,191 war ich sehr zufrieden mit dieser Art von Ursache und stellte mir als Konsequenz hieraus vor, daß jedes Wesen auf die allerbeste Art ausgerüstet und plaziert worden sei. Mit größter Freude hoffte ich also, in diesem Buch des Anaxagoras endlich einen Meister zu finden, der mich die Ursachen eines jeden Dinges lehrt, der mir zunächst sagt, ob die Erde rund oder flach ist, und der mir dann den Grund für seine Entscheidung nennt. Weil ich glaubte, daß dieser Grund auf der Idee der höchsten Vollkommenheit beruht, hoffte ich, er würde mir zeigen, daß der wirkliche Zustand der Erde der bestmögliche ist, und daß er, falls er die Erde in den Mittelpunkt stellen sollte, darlegen würde, warum diese Stellung die beste von allen ist. Ich entschloß mich, keine andere Art von Ursache zu suchen, falls er mir das hinreichend klar machte, und später in Bezug auf das Verhältnis von Geschwindigkeit und Umlauf, das zwischen der Sonne, dem Mond und den übrigen Gestirnen besteht, nur nach dem besten Grund zu fragen, warum diese Körper mit ihrer Aktivität und Passivität sind, was sie sind; denn ich habe mir niemals vorstellen können, daß ein Philosoph, der einen Verstand zum Lenker aller Dinge erklärt hat, eine andere Ursache hierfür anführt als den Nachweis, daß der Zustand, in dem sie sich befinden, der bestmögliche ist. Ferner glaubte ich, daß er, nachdem er die besondere Natur eines jeden Körpers durch eine derartige Ursache erklärt hat, ganz allgemein ihre gemeinsame Vollkommenheit erklären würde. Von dieser guten Hoffnung erfüllt machte ich mich mit Feuereifer an die Lektüre seiner Schriften, um schnell in Erfahrung zu bringen, was im höchsten Grade vortrefflich und was schlecht ist. Ich fand jedoch heraus, daß dieser Philosoph weder den Verstand noch irgendeine Ursache der Ordnung verwendet, sondern den Ursprung aller Dinge auf die Luft, den Äther, das Wasser und andere solche unpas190

Platon, Phaidon, S. 72 f. »Daß der Verstand alles schön ordnet und alles erschafft.« Platon, Phaidon, S. 72. 191

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senden Dinge zurückführt.192 Das ist, als wenn jemand zu mir sagte, daß ich alles, was ich tue, mit Verstand tue, und danach die Ursache meiner einzelnen Handlungen etwa so bestimmte: Sokrates sitzt, weil sein Körper aus Knochen und Nerven besteht, die nach den Regeln der Mechanik bewirken, daß er seine Gliedmaßen beugen und krümmen kann. Er spricht, weil die Bewegung seiner Zunge der Luft Impulse gibt und der Druck sich bis zu den Ohren fortpflanzt usw. Ein solcher Mensch würde die wahre Ursache vergessen, nämlich daß die Athener entschieden haben, es sei besser, mich zu verurteilen, und ich gedacht habe, es sei besser, hier zu sitzen, und es sei gerechter, die Strafe zu erleiden, die sie verhängt haben. Wenn jemand einwendet, daß ich ohne meine Knochen und meine Nerven nicht ausführen könnte, was ich will, so hat er recht; aber wenn er behauptet, daß ich es aufgrund meiner Knochen und meiner Nerven usw. ausführe und nicht aufgrund meiner Wahl des Besten, ich, der ich seiner Meinung nach mit Verstand handle, so steckt in seiner Rede eine große Absurdität.«193 Hier zeigt sich deutlich der Geschmack des Sokrates. Er hatte das Studium der Naturwissenschaft aufgegeben und sich voll und ganz auf die Moral verlegt. Deshalb verlangte er, daß man die gesamte Natur mit moralischen Gründen, mit Ideen der Ordnung und der Vollkommenheit erklärt. Ich möchte die Behauptung wagen, daß seine Kritik an Anaxagoras unangebracht ist. Jeder Philosoph, der einmal angenommen hat, daß ein Verstand die Materie bewegt und die Teile des Universums geordnet hat, ist nicht länger verpflichtet, auf diese Ursache zurückzugreifen, wenn es darum geht, den Grund einer jeden Wirkung der Natur anzugeben. Vielmehr muß er das Wachstum der Pflanzen, die Meteore, das Licht, die Schwerkraft, die Undurchsichtigkeit, den Flüssigkeitszustand durch Aktion und Reaktion der Körper, durch die Eigenschaften der Elemente, die Gestalt der Materieteilchen usw. erklären. So verfahren die christlichen Philosophen, welcher Sekte sie auch immer angehö192 193

(…) Platon, Phaidon, S. 73 D. Ders., ebd. S. 74 A.

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ren mögen. Die Scholastiker haben ein Axiom: Ein Philosoph darf sich nicht auf Gott berufen, »Non est philosophi recurrere ad Deum«; sie nennen einen solchen Rückgriff ›das Asyl der Unwissenheit‹. In der Tat, was kann absurder sein, als in einem naturwissenschaftlichen Werk zu sagen, »Die Steine sind hart, das Feuer heiß, die Kälte läßt die Flüsse zufrieren, weil Gott es so gewollt hat.« Selbst die Cartesianer, die Gott nicht nur zum ersten, sondern auch zum einzigen, ununterbrochenen und immerwährenden Beweger der Materie machen, berufen sich nicht auf seinen Willen und sein Handeln, um die Wirkung des Feuers, die Eigenschaften des Magneten, der Farben, der Geschmäcke usw. zu erklären; sie fassen nur die Zweitursachen ins Auge, die Bewegung, die Gestalt und Lage der kleinen Körper. Daher wäre die oben194 angeführte Bemerkung des Klemens von Alexandrien sehr ungerecht, wenn sie sich nur auf die Rede des Sokrates stützte. Um sie berechtigt zu finden, müßten wir wissen, nicht daß Anaxagoras viele Dinge ohne Erwähnung des göttlichen Verstandes erklärt hat, sondern daß er sie ausdrücklich und förmlich ausgeschlossen hat, als er einen Teil der Naturphänomene erklärte. Vielleicht gab es in seinen Werken gewisse Stellen, wo er das sagte, was sein Schüler Euripides später gesagt hat, nämlich das Gott sich mit den großen Dingen befaßt und die kleinen dem Zufall überläßt,195 wie wenn das Universum dem Gerichtshof der Prätoren ähnelte, De minimis non curat praetor  Um Kleinigkeiten kümmert sich der Prätor nicht . Oben196 haben wir gesehen, daß dieser Philosoph einige Wirkungen dem Zufall, einige andere der Notwendigkeit usw. zuschrieb und daß er die göttliche Intelligenz nur dann zu Hilfe rief, wenn er nicht zeigen konnte, wie die Notwendigkeit ein bestimmtes Ding hervorgebracht hat.197 Man kann ganz allgemein annehmen, daß sein System nicht gut entwickelt war; er hat es weder gut geglättet noch gut abgerundet, und er hat viele 194 195 196 197

In Anm. (E), Fußn. (91). (…) Plutarch, Praecepta reipublicae gerendae, S. 811 D. In Anm. (E), Fußn. (94). Oben, Fußn. (90).

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Teilstücke schlecht angeordnet. Aristoteles legt dies nahe, wenn er von den Naturforschern spricht, die als erste zwei Ursachen angesetzt haben, die materiale und die wirkende. Er vergleicht sie mit Leuten, welche die Fechtkunst nie gelernt haben und trotzdem oft genug gute Treffer setzen. Sie tun das, ohne die Regeln zu befolgen: So besaßen auch diese Naturforscher kein Wissen von ihrem Gegenstand. (…).198 Man wird an anderer Stelle sehen,199 daß Anaxagoras bestimmte Dinge nicht erklärt hat, die er aber unweigerlich zugegeben hätte, wenn jemand sie ihm entdeckt hätte, und daß man sehr schöne Lehren erhalten könnte, wenn man seine Prinzipien und Gedanken weiterentwickelte. Ich würde Sokrates nicht verurteilen, weil er sich eine Erklärung der Welt wünschte, wie er sie beschrieb, denn was könnte schöner oder interessanter sein, als deutlich und in allen Einzelheiten zu wissen, warum die Vollkommenheit der Weltmaschine es erforderte, daß jeder Planet die Gestalt, Größe, Stellung und Geschwindigkeit hat, die er hat, und ebenso alles Übrige. Dieses Wissen ist jedoch nicht für den Menschen bestimmt, und es war sehr ungerecht, es von Anaxagoras zu erwarten. Solange wir die Idee nicht in vollem Umfang kennen, die Gott mit der Erschaffung der Welt verfolgte, können wir unmöglich die Erklärung geben, die Sokrates wünschte.

Warum der Mensch nicht mittels einzelner Gründe zeigen kann, daß alle Körper im Universum im bestmöglichen Zustand sind Alles, was die größten Philosophen dazu sagen können, läuft hierauf hinaus: Weil die Erde rund ist und sich in der gegebenen Entfernung von der Sonne befindet, waren diese Gestalt und diese Stellung für die Schönheit und Symmetrie des Universums notwendig, weil der Urheber dieser ungeheuren Ma198 199

Aristoteles, Metaphys., Buch I, Kap. 4, S. 646 G. Ders., a. a. O., Kap. 7, S. 651 C.

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schine unendlich intelligent und weise ist. Von daher wissen wir im allgemeinen, daß in dieser Maschine alles recht läuft und daß sie keine Fehler aufweist. Wenn wir aber versuchen sollten, im einzelnen zu zeigen, daß sich alles im bestmöglichen Zustand befindet, würden wir unweigerlich sehr schlechte Gründe angeben. Wir würden wie ein Bauer vorgehen, der ohne eine Ahnung von einer Uhr zu haben, zu beweisen suchte, daß das Rad, das er durch einen Spalt sieht, von dieser Dicke, dieser Größe und genau an dieser Stelle sein muß, denn wenn es kleiner, schmaler oder woanders angebracht wäre, würden daraus große Nachteile folgen. Er würde über diese Maschine wie ein Blinder über Farben urteilen und dabei zweifellos erbärmlich räsonieren. Die Philosophen sind kaum besser in der Lage, über die Weltmaschine zu urteilen als dieser Bauer über eine große Uhr. Sie kennen nur einen kleinen Teil davon, und ihnen ist weder der Plan des Werkmeisters bekannt noch seine Ansichten und Absichten noch das wechselseitige Verhältnis aller Teile. Man trage irgend jemandem vor, daß die Erde rund sein muß, damit sie sich leichter um ihren Mittelpunkt dreht: er wird erwidern, daß sie besser viereckig wäre, damit sie sich langsamer drehe und uns längere Tage beschere. Welche vernünftige Antwort könntet ihr geben, wenn ihr den Wirrwarr darlegen müßtet, in den das Universum stürzen würde, falls der Merkur größer und der Erde näher wäre? Würde Herr Newton, der so viel mathematische und mechanische Schönheit am Himmel entdeckt hat, sich dafür verbürgen, daß die Welt ein unregelmäßiges, schlecht entworfenes und schlecht gebautes Werk wäre, falls die Dinge hinsichtlich Größe, Entfernung und Geschwindigkeit nicht so wären, wie er annimmt? Ist die Intelligenz Gottes nicht unendlich? Er hat daher Ideen von unendlich vielen Welten, die voneinander verschieden, aber allesamt im höchsten Grade schön, regelmäßig und mathematisch exakt sind. Glaubt ihr nicht, daß er mit einer viereckigen Erde, die dem Saturn näher stünde, den gleichen Nutzen schaffen könnte wie mit unserer Erde? Halten wir fest: Sokrates durfte sich nicht einbilden, daß Anaxagoras ihm mit detaillierten Gründen beweisen würde, daß der gegenwärtige Zustand jedes Dinges der beste

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ist, den es haben kann. Gott allein könnte das auf diese Art beweisen. Wie sollten wir leisten, was Sokrates hinsichtlich der Weltmaschine forderte, wir, die wir nicht wissen, wie wir das hinsichtlich eines Lebewesens trotz so vieler Sektionen und Anatomievorlesungen leisten sollten, die uns Zahl, Lage und Nutzen seiner wichtigsten Organe gelehrt haben? Mit welchen Argumenten könnten wir im einzelnen beweisen, daß die Vollkommenheit des Menschen und der Welt es erforderte, daß unsere zwei Augen da sitzen, wo sie sitzen, und daß sechs Augen, rund um den Kopf angebracht, Unordnung in unseren Körper und in das Universum bringen würden? Man könnte plausibel behaupten, daß es für die Ausstattung des Menschen mit sechs Augen rund um den Kopf ohne Preisgabe der allgemeinen Gesetze der Mechanik nötig gewesen wäre, daß die anderen Organe so angeordnet werden müßten, daß der menschliche Körper nach einem anderen Plan gebaut und eine andere Art Maschine geworden wäre. Man könnte aber keine speziellen Gründe dafür nennen, denn alles, was wir zu sagen vermöchten, könnte mit Einwänden bestritten werden, die ebenso wahrscheinlich sind wie unsere Beweise. Man muß deshalb bei dieser allgemeinen Begründung stehen bleiben: Die Weisheit des Werkmeisters ist unendlich, sein Werk ist daher so, wie es sein soll. Die Einzelheiten übersteigen unsere Kräfte, und wer sich trotzdem daranwagt, macht sich oft lächerlich.200 Im übrigen können wir mit der obigen Rede des Sokrates beweisen, daß er nicht Schüler des Anaxagoras gewesen ist, denn hätte er andernfalls erst von einem Leser der Werke des Anaxagoras erfahren müssen, daß er in ihnen einen Verstand als Ursache aller Dinge angibt?201

200

Man sehe die Discours anatomiques des Pariser Arztes Guillaume

Lamy. 201

Platon, Phaidon, S. 72 ff.

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(S) Sokrates vernachlässigte die Astronomie (---), weil Anaxagoras, der sie höchst leidenschaftlich betrieben hatte, dabei auf Irrwege geraten war. Damit die Ansichten des Sokrates hierüber deutlicher sichtbar werden, will ich die Worte seines Historikers etwas ausführlicher zitieren. »Er war der Meinung, daß man einige Zeit auf die Astronomie verwenden sollte, damit man die Tagesstunde an den Sternen ablesen und wissen kann, welchen Tag des Monats und welche Jahreszeit wir haben; damit man ferner weiß, wann eine Wache in der Nacht abgelöst werden muß, wann es ratsam ist, in See zu stechen oder eine Reise anzutreten. Er fügte hinzu, daß man dies leicht von denen lernen kann, die zur See fahren oder die des Nachts auf die Jagd gehen. Aber tiefer eindringen zu wollen, etwa bis zu der Erkenntnis, welche Gestirne nicht in der gleichen Deklination sind, all die verschiedenen Bewegungen der Planeten erklären und wissen zu wollen, wie weit sie von der Erde entfernt sind, wieviel Zeit sie für einen Umlauf brauchen und welchen Einfluß sie haben – davon hat er entschieden abgeraten, denn diese Wissenschaften schienen ihm völlig nutzlos, nicht weil er sie nicht näher kannte, sondern weil sie den ganzen Menschen verlangen und ihn von anderen guten Beschäftigungen ablenken. Mit einem Wort, er wollte nicht, daß man zu neugierig die bewundernswerte Kunstfertigkeit erforscht, mit der Gott das ganze Universum angelegt hat, weil das ein Geheimnis ist, das der menschliche Geist nicht begreifen kann, und weil es den Göttern nicht gefällt, wenn wir aufzudecken suchen, was sie vor uns verbergen wollten. Er glaubte ferner die Gefahr zu sehen, daß der Geist sich in diesen hohen Spekulationen verirrt, so wie es Anaxagoras ergangen war, der damit prahlte, wie gut er sich darauf verstand. Denn als er lehrte, daß die Sonne das Gleiche wie das Feuer ist, hat er übersehen, daß das Feuer nicht die Augen blendet, daß es aber unmöglich ist, das Sonnenlicht auszuhalten.«202 Ich sage nichts 202

Xenophon, Memorabilien des Sokrates, Buch IV, S. 384 f. Ich bediene mich der Übersetzung Charpentiers.

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über zwei weitere Argumente, die der Historiker gegen diese Lehre des Anaxagoras anführt: Sie sind nicht besser als das erste und verdienen nicht soviel Aufmerksamkeit wie die Vorstellung, die Sokrates sich von den Göttern machte. Er glaubte, sie seien sehr eifersüchtig auf ihre Geheimnisse und sehr geneigt, sich über Menschen zu ärgern, die ihre Neugier so weit treiben. (…).203 Man beachte, daß Aristoteles eine günstigere Meinung von der Gottheit hatte: Er leugnete nicht, daß sie – falls sie Neid kennen sollte – dem Menschen in erster Linie die allererhabenste Wissenschaft neiden würde, aber er leugnet, was die Dichter vom angeblichen Neid der Götter sagen. Seine Worte sind sehr bemerkenswert. »Wenn die Dichter die Wahrheit sagen und es in der Natur der Gottheit liegt, Neid zu empfinden, ist das wahrscheinlich hierbei am ehesten der Fall, und alle werden unglücklich, die sich hierin hervortun. Die Gottheit kann jedoch nicht Neid empfinden, und wie das Sprichwort sagt, erzählen die Dichter viele Lügen.«204

203 204

Xenophon, Apomn., Buch IV, S. 474. Aristoteles, Metaphys., Buch I, Kap. 2, S. 644 E.

ANCILLON

ancillon, David, Prediger der reformierten Kirche von Metz, seiner Heimatstadt,a wurde am 17. März 1617 geboren. »Sobald er neun oder zehn Jahre alt war«, studierte er am Jesuitenkolleg, dem damals einzigen Ort in Metz, »wo er die schöne Literatur kennenlernen konnte.«b Von Anfang an gab er Anlaß zu so großen Hoffnungen, daß die Oberen des Jesuitenordens »alles taten, um ihn Geschmack an ihrer Religion finden zu lassen und ihn für sich zu gewinnen.« Er aber widerstand ihnen tapfer und »faßte daraufhin den Entschluß, Theologie zu studieren.«c Er arbeitete unermüdlich,d und es bedurfte oftmals der väterlichen Autorität, damit er seine Lektüre unterbrach, denn »seine Art zu studieren hatte etwas Übertriebenes und, wenn ich so sagen darf, etwas Maßloses.«e Im Jahr 1633 ging er nach Genf,f wo er seine philosophische Ausbildung unter du Pang und die theologische unter Spanheim, Diodati und Tronchin erhielt, die ihn ganz besonders liebten und schätzten.h Im April 1641 verließ er Genf, um sich der Synode von Charenton vorzustellen und dort den Grad eines Predigers zu erwerben.i Seine Intelligenz erregte die Bewunderung seiner Prüfer und seine Bescheidenheit die der Prediger von Parisk. Die ganze Versammlung war dermaßen zufrieden mit ihm, daß sie ihm »die

a b c d e f g h i k

Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 6 A. a. O., S. 8. A. a. O., S. 9. A. a. O., S. 13. A. a. O., S. 13 f. A. a. O., S. 14. A. a. O., S. 18. A. a. O., S. 20 f. A. a. O., S. 31. A. a. O., S. 35.

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bedeutendste der gerade vakanten Kirchen übertrug.«l Es war die von Meaux. Dort übte er das Amt des Predigers zu aller Zufriedenheit bis 1653 aus, herzlich geliebt von seiner Gemeinde. Er heiratete sehr vorteilhaft. Durch sein Wissen, seine Beredsamkeit und seine Tugend breitete sich sein Ansehen überallhin aus; selbst die Römisch-Katholischen behandelten ihn mit großer Hochachtung. Noch wirkungsvoller und erfolgreicher stellte er seine erstaunlichen Talente in seiner Heimatstadt unter Beweis, wo er von 1653 bis zur Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685 Prediger war. Nach diesem unheilbringenden Ereignis zog er sich nach Frankfurt zurück.m Als er in der französischen Kirche von Hanau gepredigt hatte, »war die gesamte Versammlung so sehr erbaut, daß man sogleich eine Zusammenkunft der Familienoberhäupter forderte, um ihn um die Übernahme des Predigtamtes bei ihnen zu bitten.n (---). Der Antrag wurde angenommen« und ihm durch Abgesandte vorgetragen; »sie bekamen, was sie wünschten. Gegen Ende« des Jahres 1685 »nahm er seine Amtsgeschäfte in dieser Kirche auf.«o Wir werden sehen, warum er bald nach Frankfurt zurückkehrte, wo er sich niedergelassen hätte, wenn die Situation seiner »zahlreichen« Familie ihn nicht genötigt hätte, »an einen Ort zu gehen, wo er ihr eine Heimstatt geben konnte.«p Er wählte Berlin und wurde vom Kurfürsten von Brandenburg sehr gnädig aufgenommen.q Er wurde zum Prediger von Berlin ernannt und durfte mit Freude erleben, daß sein ältester Sohn als »Richter und Vorsteher der Franzosen in dieser Stadt« eingesetzt wurde,r während sein zweiter Sohn mit einer Pension geehrt, von der Universität Frankfurt an der Oder eingestellt und schließlich als ordentlicher Prediger in die Hauptstadt be-

l m n o p q r

A. a. O., S. 36. A. a. O., S. 352. A. a. O., S. 353. A. a. O., S. 354. A. a. O., S. 366. A. a. O., S. 372 ff. A. a. O., S. 375.

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rufen wurde.s Er hatte außerdem das Vergnügen, seinen Bruder »zum Richter über alle Franzosen in den brandenburgischen Staaten« und seinen Schwiegersohn, Herrn Cayart, zum Ingenieur des Kurfürsten ernannt zu sehen.t Dieser und einiger anderer Annehmlichkeiten erfreute er sich bis zu seinem Tod, und er beschloß sein Leben am 3. September 1692 in Berlin im Alter von 75 Jahrenu mit all den gottesfürchtigen Empfindungen, die einem wahrhaften Diener Jesu Christi zukommen. Ich hätte diesen Artikel viel länger machen können, denn das Buch, aus dem ich zitiere, enthält viele Details, aber da es viel leichter ist, dieses Werk zu Rate zu ziehen als sich dieses Dictionnaire zu verschaffen, halte ich es für zweckmäßiger, den Leser dorthin zu verweisen, als viele Auszüge daraus zu bringen.x Ich würde anders verfahren, wenn ich mich auf handschriftliche Aufzeichnungen stützte. Nur bei zwei Dingen will ich mich aufhalten. Das eine betrifft die Bibliothek des seligen Ancillon und seine Art zu studieren (D), das andere die Bücher, die er veröffentlicht hat. Im übrigen will ich ganz allgemein sagen, daß seine Lebensbeschreibung ihn als einen Menschen von wirklich außerordentlichen Verdiensten darstellt, genauer gesagt, als Urbild des vollkommenen Pastors: gelehrt, beredt, weise, gottesfürchtig, bescheiden, barmherzig, im Tadeln je nach Lage des Falls sanft oder nachdrücklich, als Mann, der so handelt, wie er es predigt,y einzig und allein mit den Aufgaben seines Amtes beschäftigt (F), ohne sich wie so viele andere in Dinge einzumischen, die nur Laien zukommen, und ohne sein Haus Zuträgern und Klatschtanten zu öffnen. Man könnte nicht besser als aus der Schrift, von der ich oben spreche, ersehen, wie gelehrt seine

s

A. a. O., S. 397. A. a. O., S. 395. A. a. O., S. 487. x Sein Titel lautet Discours sur la vie de feu Mr. Ancillon, et ses dernières heures. Es wurde in Basel 1698 gedruckt und umfaßt 500 Seiten in Duodez. y Zu der Unordnung, die aus anderem Verhalten resultiert, sehe man eben den Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 175 ff. t u

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Unterhaltung war. An anderer Stellez werde ich einige Fragen erörtern, die einen Kupferstich von ihm betreffen. Ich darf nicht unerwähnt lassen, daß er der Sohn eines fähigen Juristen war, daß einer seiner Vorfahren »Leitender Präsident an einem der bedeutendsten Obergerichte Franreichs gewesen ist und daß Georgin Ancillon, einer der führenden Männer der Kirche von Metz, auch zu den ersten Gründern und Leitern dieser Kirche gehörte.«aa

(D) Ich will von seiner Bibliothek und von seiner Art zu studieren sprechen. Das Vermögen, das er durch seine Heirat erwarb, ermöglichte es ihm, »seine Hauptleidenschaft zu befriedigen;16 daher kaufte er alle bedeutenden Werke, die man die ›Säulen einer großen Bibliothek‹ nennen könnte, z. B. Bibeln, die durch die Edition oder durch die Erläuterungen besonders wichtig waren, die verschiedenen Wörterbücher, die besten Kommentare zu den Büchern der Schrift, die Werke der Kirchenväter, Sammlungen der Konzilien, Kirchengeschichten und mancherlei anderes von dieser Art. Er hatte die schönsten Ausgaben dieser Werke ausgesucht.17 Er ging auch später stets nach dieser Maxime vor und führte gute Gründe dafür an. Es würde ein wenig weit führen, sie wiederzugeben, aber hier ist wenigstens ihr Kern in ein paar Worten. Er sagte, je weniger Mühe die Augen bei der Lektüre eines Werks hätten, desto freier könne gewiß der Geist darüber urteilen. So wie man klarer sieht und die Vorzüge und Schwächen eines Werks leichter bemerkt, wenn es gedruckt ist, als wenn es in der Handschrift vorliegt, so sieht man über das In Anm. (F) des Artikels FERRI.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  aa Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 7. 16 Er selbst sagte einmal, daß er an Bibliomanie leide, der Büchersucht, a. a. O., S. 105. 17 Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 77. z

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Werk auch klarer, wenn es in schönen Lettern und auf gutem Papier, als wenn es auf schlechtem Papier und in unschönen Lettern gedruckt ist. Nachdem er einen soliden Grundstock seiner Bibliothek gelegt hatte, vermehrte er sie nach und nach durch alle guten und wichtigen Neuerscheinungen der Folgezeit. In den Genuß der Neuerscheinungen kam er, weil sie ihm von seinen Freunden in Paris, Holland, England, Deutschland, in der Schweiz und in Genf, mit denen er in regem Briefwechsel stand, zugeschickt wurden, sobald sie zu kaufen waren. Die Ansicht derer, die sagen, Erstausgaben seien minderwertig, weil sie ihren Verfassern nur dazu dienten, sie zu verbessern, konnte sich gegen seine Neugier nicht durchsetzen. (…). Er kannte zwar die Einschätzung anderer, der zufolge die Erstausgaben der Bücher nur als unfertige Versuche zu betrachten seien, die von ihren Verfassern den Gelehrten vorgelegt würden, um deren Meinung darüber einzuholen. Aber all das störte ihn nicht in seinem Eifer, und da der Gang der Dinge ihm dann zeigte, daß er dabei wenig riskierte,18 hat sein Eifer auch nicht nachgelassen. In der Tat hat man bis heute nur wenige Autoren gesehen, die es in dieser Hinsicht mit dem Kardinal du Perron hielten, der im Interesse seiner Werke weder Mühe noch Sorgfalt noch Kosten scheute und sie stets zweimal drucken ließ: das erste Mal, nur um einige Exemplare an besondere Freunde zu verteilen, damit sie ihre Bemerkungen dazu machen könnten, das zweite Mal, um sie dem Publikum in der endgültigen Form zu geben, zu der er sich letztlich entschlossen hatte. Damit sie nicht gegen seinen Willen in der vorläufigen Form verbreitet würden, ließ er nur in seinem Haus daran arbeiten, wo er eine eigene Druckerei hatte.« Ancillons Bibliothek war »sehr interessant und sehr groß, und er erweiterte sie ständig um alle wichtigen Neuerscheinungen in der Gelehrtenrepublik, so daß sie schließlich eine der schönsten Privatbibliotheken im Königreich war. Die neugierigen Fremden, die durch Metz kamen, versäumten wegen ihres Seltenheitswerts nicht, sie zu besichtigen.«19 Sobald er das 18 19

Man sehe unten, Fußn. (29). Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 102 f.

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Verzeichnis »angeblich häretischer Bücher« gesehen hatte, das der Erzbischof von Paris 1685 anfertigen ließ, schaffte er alle die Bücher auf die Seite, »deren Unterdrückung angeordnet worden war;20 sie machten danach im Ausland seine Bibliothek aus.21 Da seine Bücher nach dem Widerruf des Edikts von Nantes sozusagen zur Plünderung freigegeben waren, wäre ihm keines davon geblieben, wenn nicht die von ihm versteckten Bücher der Habgier entzogen gewesen wären, mit der man die anderen raubte. (---). Schon lange waren die Mönche und die Geistlichen von Metz und Umgebung gierig auf Ancillons Bibliothek gewesen.22 Seine erzwungene und überstürzte Abreise gab ihnen einen passenden Vorwand, um sie sich anzueignen. Einige schlugen vor, sie en bloc zu kaufen, andere verlangten den stückweisen Verkauf; aber weder die einen noch die anderen hatten die Absicht, den Preis für sie zu bezahlen. Sie suchten nur Mittel und Wege, sich ihrer zu bemächtigen. Man wählte den letzteren Weg, weil das für die ungerechte Absicht günstiger war. Eine Horde von Geistlichen aus allen möglichen Orden fiel über diese schöne und reichbestückte Bibliothek her, die über vierzig Jahre mit Liebe und Verstand aufgebaut worden war und die nur aus seltenen und des Interesses der größten Gelehrten würdigen Büchern bestand. Sie bildeten größere oder kleinere Haufen davon und gaben im Weggehen einem Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren, das ihnen zuschaute, etwas Geld, damit sie sagen konnten, sie hätten den Preis für die Bücher entrichtet. Somit sah Ancillon die von ihm zusammengetragene wertvolle Sammlung auseinandergerissen, in die er seine Neigung und sozusagen sein Herzblut investiert hatte.« Man beachte, daß der Untergang dieser Bibliothek auch den Verlust unzähliger Briefe bedeutete, die Ancillon von einer Vielzahl bedeutender Männer erhalten und deren Veröffentlichung er sich vorgenommen hatte.23 In erster Linie waren die Briefe 20 21 22 23

A. a. O., S. 328. A. a. O., S. 383. A. a. O., S. 342. A. a. O., S. 219.

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dafür bestimmt, die ihm Daillé, sein engster Freund, geschrieben hatte.24 Welch ein Verlust!

Betrachtung über das Schicksal einiger Bibliotheken und die Gleichgültigkeit derer, die Zweitausgaben abwarten Dies kann Gegenstand verschiedenster Überlegungen werden, denn stimmt es nicht traurig, wenn man sieht, wie es nur eines einzigen Tages bedarf, um das zu zerstören, was über viele Jahre hinweg mit tausend Anstrengungen, tausend Mühen und sehr großen Kosten geschaffen wurde? Ist es nicht ein beklagenswertes Schicksal, wenn man in einem Augenblick verliert, was man über eine lange Zeit auf unschuldige Weise erworben und sich als ununterbrochene und dauernde Quelle eines völlig legitimen Vergnügens und ehrlichen Erkenntnisgewinns verschafft hatte? Sich auf einen Schlag unzähliger Bände beraubt zu sehen, die man sorgfältig gesammelt hatte und an denen man sich erfreute – ist das nicht ein hartes und grausames Schicksal? Wir würden uns leichter trösten, wenn sie den Flammen zum Opfer gefallen wären. Aber ohne eine besondere Gnade Gottes können wir es nicht ertragen, daß sie die Beute eines unrechtmäßigen Besitzers sind, den sie nur die Mühe gekostet haben, sie nach Hause zu schleppen. Das Triumvirat enteignete Menschen, die ein Leben lang ihr Land beackert hatten, und gab es Menschen, die nichts zu seiner Kultivierung beigetragen hatten; aber damit verursachte es keinen so starken Schmerz wie den der Gelehrten, die sahen, wie ihre Bibliotheken zerstreut wurden und in die Hände eines Verfolgers fielen, der Haß verdiente, wenn er gegen sein Gewissen handelte, oder Mitleid, wenn falscher Religionseifer ihn überredete, daß er damit Gott einen Dienst erwiese. (…). Wenn möglich, wollen wir aber den unglückseligen und unheilvollen und von so vielen Ungerechtigkeiten begleiteten Wider24

Statt mit der gewöhnlichen Anrede ›Mein Herr‹ redeten sie sich mit ›Mein lieber Atticus‹ an. Ebd.

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ruf des Edikts von Nantes vergessen. Werfen wir vielmehr einen Blick auf Dinge, die keinen Sturm der Leidenschaften erregen. Man lobe mit mir den guten Geschmack dieses fähigen Theologen! Er wollte die Erstausgaben der Bücher, obwohl es sehr wahrscheinlich war, daß sie mit Zusätzen und Berichtigungen neu gedruckt werden würden.29 Das heißt sich auszukennen, das kann man Liebe zu Büchern und Hunger nach Erkenntnis nennen, wohingegen diejenigen, die mit dem Kauf eines Buches in aller Ruhe warten, bis es erneut gedruckt ist, zeigen, daß sie sich mit ihrer Unwissenheit abgefunden haben und daß sie die Ersparnis von ein paar Talern dem Erwerb von Wissen vorziehen. Ich spreche von denen – und ihre Zahl ist sehr groß –, die einerseits überzeugt sind, daß ein neues Buch sie tausend Dinge lehren wird, und die andererseits zwar über die Mittel verfügen, es zu kaufen, aber den Kauf aufschieben, weil sie gehört haben, daß man bessere oder weniger teure Ausgaben drucken wird. Diese Geduld kann man nicht genug tadeln: Es ist eine dumpfe und kaltsinnige Zustimmung zum Mangel an Wissen. Eines Tages erzählte mir Herr Bigot, daß ein Genealoge aus Rouen gern von den Werken des Père Anselm profitiert hätte; er würde sie jedoch nicht kaufen, sondern auf die zweite Ausgabe warten. Sie ist niemals erschienen, und dieser Mann ist anscheinend gestorben, ohne daß er seine Neugier befriedigen konnte. Herr Bigot stellte ihm mehr als einmal vor Augen, daß es viel besser sei, zwei Ausgaben eines Buches zu besitzen, als sich des Vorteils zu berauben, den die Lektüre der Erstausgabe bringen kann, und daß man den Wert der Dinge sehr schlecht beurteilt, wenn man drei oder vier Taler diesem Vorteil vorzieht. Wer die Kosten aufbringen kann, ist am besten beraten, wenn er sich die Erstausgaben verschafft. Ich gebe zu, daß die im Ausland gedruckten Ausgaben preiswerter sind; aber sind sie auch ganz zuverlässig? Ist darin nichts verändert, nichts hinzugefügt? Hat sich der Abbé de la Roque nicht öffentlich beklagt,30 daß die 29

Er mußte oft feststellen, daß diese Wahrscheinlichkeit nicht eintrat. Man sehe oben Fußn. (18). 30 In einer Vorrede seines Journal des savans. Man sehe auch Anm. (F)

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holländischen Drucker sein Werk entstellt hätten? Man hat mir vor wenigen Tagen versichert, daß die Geschichtswerke von Davila und von Strada, die in Holland gedruckt sind, nicht mit den italienischen Ausgaben übereinstimmen: die Buchhändler von Flandern haben einigen berühmten Familien zu Gefallen bestimmte Dinge unterdrückt oder geändert. Man wird mir entgegenhalten, daß der Verfasser in der zweiten Ausgabe Fehler zu berichtigen pflegt: das räume ich ein, aber es sind nicht immer echte Fehler. Es sind vielmehr Änderungen, die er aus Gründen der Klugheit, seiner Ruhe oder der Ungerechtigkeit seiner übermächtigen Kritiker vornimmt. Die zweite Ausgabe, die Mézeray von seinem Abrégé chronologique drucken ließ, ist korrekter, denn er hat darin Fehler ausgemerzt; er hat aber auch Wahrheiten ausgemerzt, die Mißfallen erregt hatten. Deshalb bemühen sich die Wißbegierigen, die Quartausgabe aufzutreiben, welche die erste war, und zahlen dafür einen stolzen Preis. Ich will nichts von dem Gewinn sagen, den man aus dem Vergleich zweier Ausgaben ziehen kann. Wenn es sich um einen tüchtigen Autor handelt, der sein Werk sorgfältig revidiert hat, ist der Gewinn so groß, daß sein erster Versuch verdient, aufbewahrt zu werden. All das macht begreiflich, daß Ancillon sich auf Bibliotheksdinge gut verstand. Sprechen wir nun von seiner Art zu studieren. »Er verschwendete keinen Augenblick auf eitle und unnütze Studien. Er las zwar Bücher aller Art, sogar die alten und die neuen Romane. Er besaß aber kein Buch, von dessen Nützlichkeit für ihn er nicht überzeugt war. Oft zitierte er diese Worte, die man Vergil zuschreibt: ›Ich suche Gold im Mist des Ennius.‹31 ›Bei gewissen vergessenen Autoren‹, sagte er gelegentlich, ›findet man sehr bemerkenswerte Dinge, die man woanders nicht antrifft; bei ihnen stößt man immer auf etwas Beachtliches, und sei es nur der Stil.‹ Intensiver und mit Hingabe befaßte er sich jedoch nur mit wichtigen Werken und ernsthaften Themen. (---). Er machte eides Artikels PELLISSON, gegen Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  31 Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 207.

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nen großen Unterschied zwischen der Lektüre von Büchern, die er nach eigenem Bekunden nur zur Kenntnis nahm, um nichts zu übersehen, und von solchen, die ihm in seinem Beruf nützten. Die einen las er nur einmal, und zwar kursorisch – ›wie ein Hund, der vom Nilwasser trinkt und weiterläuft‹ heißt es in einem lateinischen Sprichwort –, die anderen aber aufmerksam und gründlich. Diese las er mehrmals. Die erste Lektüre sollte ihm nur eine allgemeine Vorstellung vom Gegenstand vermitteln, die zweite sollte ihm seine Schönheiten zeigen. Die Register, die von anderen bedeutenden Männern die ›Seele der Bücher‹ genannt worden sind, waren für ihn ohne jeden Nutzen, weil er ein Werk so aufmerksam und so oft las, daß er es sich ganz aneignete, und weil er ein sehr gutes – insbesondere räumliches – Gedächtnis besaß, das den Gelehrten sehr zustatten kommt. Er las die Bücher genau, bis hin zum Titel, dem Namen des Druckers sowie dem Ort und dem Jahr des Drucks. Seiner Ansicht nach hatte alles seinen Nutzen. Beim Lesen machte er Anstreichungen und brachte am Rand Hinweise auf andere Autoren an, die denselben Gegenstand behandelt oder etwas gesagt hatten, was sich auf den Gegenstand seiner Lektüre bezog.32 (---). Gelegentlich wechselte er die Lektüre, und dieser Wechsel diente ihm als Erholung.‡ Nicht immer las er die Bücher vom Anfang bis zum Ende. Manchmal studierte er einen Gegenstand gründlich, und dann zog er alle Autoren zu Rate, die ihn behandelt hatten. Oft fand er ein und dasselbe Thema in verschiedenen Werken behandelt, aber das verdroß ihn nicht; im Gegenteil, er sagte, das seien so viele neue Farbnuancen, aus denen sich die Vorstellung zusammensetzte, die er sich gebildet hatte und die sie zur Vollendung brachten. Die Vielzahl der Autoren, die er zu Rate zog, waren der Grund dafür, daß mitten in seinem Zimmer ein großer Tisch stand, an dem er arbeitete und der gewöhnlich völlig mit zumeist aufgeschlagenen Büchern bedeckt war.33 Der berühmte Fra Paolo, von dem ich vorhin sprach, studierte auf 32

A. a. O., S. 109. »Eine Abwechslung in der Mühe ist wie eine Erholung.« 33 Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 111. ‡

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die gleiche Art: er hörte nicht auf, so berichtet uns sein genauer und getreuer Biograph, bis er alles gesehen hatte, d. h. bis er Autoren, Orte, Zeiten und Meinungen miteinander verglichen hatte. Er machte sich dies zur festen Gewohnheit, um keinen Anlaß mehr zu Zweifeln und erneuten Überlegungen in der Sache zu haben, sondern um sich ein für allemal festzulegen, so weit dies natürlicherweise möglich ist. So verfuhr auch Ancillon manchmal bei seinen Studien, und man hat ihn oft diese Gründe für seine Art zu studieren anführen hören. Da er viel las, fand er vieles, was seine Aufmerksamkeit erregte; und obwohl er ein bewundernswertes Gedächtnis besaß, hatte er Kladden, in denen er festhielt, was ihm am wichtigsten schien. Er wußte natürlich, daß z. B. ein Govean, der nicht einmal ein Tintenfaß in seinem Studierzimmer duldete, oder ein Saumaise, ein Ménage und mehrere andere große Männer solche Exzerptsammlungen ablehnten, weil sie ihnen nicht als Mittel zur Arbeitserleichterung und zur Aneignung der Wissenschaften galten, sondern im Gegenteil als Hindernisse, die den Fortgang der Lektüre und des Nachdenkens unterbrechen und uns unausweichlich seiner Früchte berauben. Ancillon hingegen war anderer Ansicht: So wie infolge eines Unglücks, das unser Jahrhundert getroffen hat, es nicht genügt, die Dinge von Grund auf zu verstehen, ihre Erklärungen und sämtliche Gründe zu kennen, wenn man nicht auch Autoritäten anführt und einschlägige Texte zitiert, war es notwendig, daß er ein Buch hatte, das ihn wie eine Wasserader oder ein Rinnsal zuverlässig zur Quelle führte; um so mehr als er öffentlich vor gewissen Leuten sprechen mußte, die eher Spione als Zuhörer waren und die ihn oft nach den Autoritäten und den Beweisen für das Vorgetragene fragten. Es war also sozusagen eine Notwendigkeit, daß er ein Repertorium zur Unterstützung seines Gedächtnisses hatte, damit er nicht lange nach dem suchen mußte, was er unter Umständen brauchen konnte.« Das sind Dinge, die meiner Ansicht nach vielen Lesern nützen können. Weiter unten werden wir von seiner Ausdauer beim Studieren sprechen.34 34

In Anm. (F).

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(F) Er war einzig und allein mit den Aufgaben seines Amtes beschäftigt. Wer sich dem Amt eines Seelenhirten geweiht hat, »braucht seine gesamte Zeit zum Studieren und Arbeiten und um seinen Amtspflichten gebührend nachzukommen. Aus diesem Grunde besagt die sechste der sogenannten apostolischen Regeln, daß sich kein Bischof, Priester oder Diakon mit weltlichen Geschäften befassen noch ein öffentliches Amt übernehmen darf, und die sechste afrikanische Regel verbietet, daß Personen dieses Standes Geschäfte oder Prozesse für andere übernehmen. Der Zeitverlust bei diesen weltlichen Beschäftigungen ist nicht das geringste Motiv für diese hervorragenden Bestimmungen, aber ich glaube nicht, daß dies die einzige Erwägung ist, die hier Platz greift. Die Erfahrung hat gelehrt, daß die Intrigen der Welt, die Plackereien mit Geschäften und die Bemühungen, den Mächtigen seine Aufwartung zu machen, drei Klippen sind, die den Seelenhirten immer Verderben gebracht haben und immer bringen werden. Ohne es zu merken, entfernen sie sich von der apostolischen Schlichtheit, die eine ihrer Hauptzierden sein soll. Sie erlernen die Grundsätze des Zeitalters, sie gewöhnen sich an deren Spitzfindigkeiten, Biegsamkeit und Kunstgriffe, und ohne es zu merken, praktizieren sie diese später selbst.«47 Der Prediger, von dem ich spreche, vermied alle diese Klippen. Er liebte das Studieren, die Ruhe und die Zurückgezogenheit; er belastete sich nicht mit weltlichen Geschäften.48 »Gemäß den Gesetzen des Landes und gegen seinen Willen wurde er zum Vormund seines Bruders und seiner Schwester bestellt, aber er überließ die Verwaltung des Vermögens und die Führung der Geschäfte seinem Bruder, der trotz seiner Minderjährigkeit darin viel Geschick besaß (---), so daß nach Beendigung der Vormundschaft durch Volljährigkeit das Mündel dem Vormund Rechenschaft ablegte und danach, nur der Form halber, der Vormund den Mündeln – ganz im Gegensatz zum gewöhnlichen, natürlichen 47 48

Discours sur la vie de Monsr. Ancillon, S. 95 f. A. a. O., S. 100.

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und allgemein üblichen Verfahren. Ancillon kümmerte sich überhaupt und im buchstäblichen Sinne nicht um weltliche Geschäfte. Wie ein wahrer Einsiedler stand er den menschlichen Geschäften fern und dachte nur an Gott und an seine Kirche.49 Er besaß eine hochinteressante, riesige Bibliothek. (---). Dort konnte man ihn mit Sicherheit jederzeit antreffen.50 (---). Er verließ sein Haus nicht, außer um zur Kirche zu gehen oder um anderswo eine Amtspflicht wahrzunehmen. Nur dafür ließ er seine Bücher liegen, und als ob die Tage nicht lang genug wären, verbrachte er einen Teil der Nächte mit Nachdenken oder Studieren. Obwohl er mehrere Landhäuser besaß und man ihm eins in unmittelbarer Nähe der Stadt gekauft hatte, um ihn leichter dazu zu bringen, dort ein paar Tage oder wenigstens ein paar Stunden zu verweilen, hat man ihn in den 32 Jahren seiner Predigertätigkeit in Metz nur drei- oder viermal dort gesehen. Er hielt sich ohne Unterbrechung ruhig in seinem Zimmer auf, unfähig zu Mißgunst, die anderen Männern so viele schlechte Stunden bereitet. So lebte er friedlich zu Hause und gab sich wenig Mühe, das Ansehen zu erwerben, das häufige Besuche, ermüdende Geschäfte und ausgreifende Unternehmungen, die man genau im Auge behalten muß, verschaffen.« Nach diesem Vorbild sollten sich alle Diener des Evangeliums richten. Sie haben alle wie Maria den guten Teil erwählt,51 aber einige von ihnen ahmen ständig Martha nach, die »sich sorgte« und um vieles kümmerte.52 Sie mischen sich in politische Angelegenheiten, stecken ihre Nase in lokale Intrigen, bemühen sich um Neuigkeiten aller Art und verbreiten sie weiter, um sich damit beliebt zu machen. Manchmal sind sie so vermessen, Ratschläge zur Kriegsführung und zu Verhandlungen zu geben, und lassen sich auch nicht durch die Verachtung abschrecken, die man ihnen wegen ihrer falschen Ansichten auf versteckte Weise bezeigt. Oft sieht man sie in den Vorzimmern der Mächtigen, wo 49 50 51 52

A. a. O., S. 102. A. a. O., S. 103. Lukas 10, 42. A. a. O., Vers 41.

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sie ungeduldig auf eine Gelegenheit warten, sich vorzustellen. Dabei geht es ihnen nicht etwa um Gewissensfragen, sondern darum, tausenderlei Gunstbezeugungen zu erbitten und ihre Kinder, Eltern, Freunde für angesehene und einträgliche Posten zu empfehlen. Sie erfahren prompt, wenn eine Stelle frei wird, und tun alles, damit sie ihren Empfehlungen gemäß besetzt wird. Man würde sie loben, wenn sie ihren Einfluß nur geltend machten, um diejenigen in Lohn und Brot zu bringen, denen es daran fehlt; sie verwenden ihn jedoch hauptsächlich zugunsten von Leuten, die schon wohlhabend sind und die es nicht wagen würden, auf ihre Empfehlung zurückzugreifen, wenn sie sie für wahre Diener Jesu Christi hielten, denn in diesem Fall würden sie einen Tadel erwarten und befürchten, daß man ihnen das Pauluswort entgegenhält, wonach es uns genügen muß, wenn wir Nahrung und Kleidung haben.53 Ein Pastor hat nicht die Aufgabe, seinen Schäfchen eine stärkere Bindung an irdische Güter zu verschaffen, er muß sie vielmehr davon lösen und ihre Begehrlichkeit und ihren Ehrgeiz zügeln. Zweifellos würde er das tun, wenn er selber frei von der nagenden Sorge um eitlen Ruhm wäre. Aber da es ihm ein leidenschaftliches Bedürfnis ist, daß die kommunalen Ämter in den Händen von Leuten sind, die ihm dafür verpflichtet sind und die aus Dankbarkeit oder in der Hoffnung auf neue Gunsterweise stets bereit sind, ihm zu dienen, unternimmt er alles Mögliche, um sie voranzubringen; er lobt sie für ihren Ehrgeiz; und um sich in dieser Position zu halten, muß er sich überall einmischen und überall seine Vertrauensleute haben. Einem solchen Menschen müßte man das Gleiche androhen wie es gelegentlich den Bischöfen geschieht, die ihre kirchenrechtlich vorgeschriebene Residenzpflicht verletzen; er bedenkt nicht, daß sein Beruf von einer Art ist, daß sämtliche menschlichen Kräfte kaum dafür ausreichen. Wer es aber bedenkt, ahmt Ancillon nach und verwendet nicht so viel Zeit auf eigennützige Besuche. (…). Man beachte, daß diejenigen, die sein Verhalten nicht nachahmen, sich auch manchmal für Menschen einsetzen, denen es nicht gutgeht; aber wenn man 53

1. Timotheus 6, 8.

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darauf achtet, wird man feststellen, daß es sich hierbei um Personen handelt, die man ›dienstbare Leute‹ nennt, die zu allem bereit und sehr geneigt sind, ihre ganze freie Zeit den Vorlieben ihres Beschützers zu opfern, der ihnen diese freie Zeit verschafft hat. Sie machen ihn zu ihrem Gott, (…), wissen sich als seine Kreatur und erfüllen die Pflichten einer solchen.

ANDRONICUS, Marcus Pompilius

andronicus, Marcus Pompilius, ein Syrer, lehrte Grammatik in Rom. Da er sich zu sehr dem Studium der Philosophie widmete (A), ging er seinem Beruf eines Grammatiklehrers nicht mit dem erforderlichen Fleiß nach, so daß seine Schule keinen Zulauf hatte. Als er sah, daß man ihm nicht nur Antonius Gniphon, sondern auch andere Grammatiker, die selbst diesem unterlegen waren, vorzog, wollte er nicht länger unterrichten und auch nicht in Rom bleiben. Er zog sich nach Cumae zurück und widmete seine freie Zeit dem Verfassen von Büchern. Diese Beschäftigung half ihm jedoch nicht aus dem Elend; er war so arm, daß er gezwungen war, das beste seiner Werke zu einem Spottpreis zu verkaufen. Das Werk wurde unterdrückt, aber Orbilius hat es zurückgekauft und unter dem Namen seines Verfassers veröffentlicht; zumindest rühmt er sich dessen. Andronicus gehörte der epikureischen Schule an und lebte zur Zeit Ciceros.a Moréri hat hier viele Fehler gemacht.

(A) Er widmete sich zu sehr dem Studium der Philosophie. Die Worte Suetons sind sehr passend. »Man meinte, daß er durch seine Zugehörigkeit zur epikureischen Schule für den Beruf eines Grammatikers zu gleichgültig und für die Zwecke einer Schule wenig geeignet war.«

a

Sueton, De illustribus grammat., Kap. 8, entnommen.

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Warnung für diejenigen, die einen bestimmten Beruf ausüben Das ist eine Lektion für all diejenigen, die eine große Zahl Schüler an sich ziehen wollen. Dazu ist erforderlich, daß sie sich entweder völlig auf ihren Beruf legen oder dafür sorgen, daß man nicht weiß, daß sie sich mit anderen Dingen beschäftigen. Ein Philologe, der den Philosophen spielen möchte, der neugierig auf naturwissenschaftliche Erfahrungen ist, der mit Hingabe untersucht, ob Descartes es besser getroffen hat als Gassendi, geht ein großes Risiko ein, seine Schule verlassen vorzufinden. Ein Arzt, der sehr an Münzen interessiert ist sowie an der Mathematik und an Genealogien, wird sehen, daß die Zahl seiner Patienten von Tag zu Tag abnimmt. Deswegen war es ein gelungener Schachzug von Herrn Spon, dem Publikum mitzuteilen, daß man mit der Annahme ganz falsch läge, das Studium der Altertümer sei seine Hauptbeschäftigung.1 Er wußte aus Erfahrung, daß diese Meinung für die Ausübung seines medizinischen Berufs sehr nachteilig sein würde. Es ist gleichermaßen unzweifelhaft, daß ein Professor, von dem man weiß, daß er mit der Abfassung mehrerer Bücher befaßt ist, nicht als allzu geeignet gilt, gute Schüler auszubilden; man meint, er habe keine Zeit dafür. Wer also durch die Unterweisung der Jugend reich werden will, wäre sehr schlecht beraten, wenn er sich bemühte, Autor zu sein.

1

Man sehe den Brief, den er an den Verfasser der Nouvelles de la république des lettres, Januar 1685, Artikel V, geschrieben hat.  Bayle selbst war damals der Redakteur dieser Zeitschrift. Hgg. 

ARKESILAOS, der Philosoph

arkesilaos, einer der berühmtesten Philosophen des Altertums, stammte aus Pitane in Äolien. Er war Schüler des Mathematikers Autolykos, seines Landmanns, und folgte ihm nach Sardes. Später kam er nach Athen und war Schüler des Xanthos, danach des Theophrast und zuletzt des Krantor. Unter Hipponikos studierte er auch noch die Geometrie.a Er hatte eine Neigung zur Poesie und las sehr gern Homer. Der Wunsch, Philosoph zu sein, überwog jedoch alle anderen Neigungen. Er wurde Nachfolger des Krates in der Leitung der Platonischen Akademie, wo er sich als Neuerer erwies, denn er begründete eine Schule, die man die ›zweite Akademie‹ nennt, um sie von derjenigen Platons zu unterscheiden. Zu den Dogmatikern stand er in krassem Gegensatz, denn er behauptete nichts, zweifelte an allem, argumentierte für und gegen eine Sache und hielt sein Urteil in der Schwebe. »Das tue ich«, sagte er, »weil nichts gewiß ist.« Alles, was die anderen Schulen lehrten, griff er mit großer Stärke an (E), weswegen man ihn als Störer der öffentlichen Ruhe auf dem Gebiet der Philosophie betrachtete.b Einige sagen, daß er keine Bücher schreiben wollte, weil er keine Evidenz fand, die ihn davon abgehalten hätte, gleichermaßen zwischen Bejahung und Verneinung zu schwanken;c andere versichern jedoch, daß er welche geschrieben hat, streiten aber darüber, ob er auch welche veröffentlicht hat. Die einen bejahen das, die anderen sagen, er habe seine Schriften ins Feuer geworfen.d Nichtsdestoweniger heißt es, er habe einige Bücher dem Fürsten Eumenes von Pergamos gewidmet und er habe nur diesem Fürsten welche gewid-

a b c d

Diogen. Laertius, Buch IV, Nr. 32. Man sehe Anm. (E), Fußn. (49). Diogen. Laertius, Buch IV, Nr. 32. Ders., ebd.

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met.e Wir werden sehen, wie ihn ein Kirchenvater bekämpft hat (F). Da er eine sehr gewinnende Eloquenz besaß und sie beharrlich für sein Hauptziel einsetzte sowie im übrigen scharfsinnig und glücklich auf Einwände antwortete, zog er viele Schüler an, obwohl er auch herbe Kritik an ihnen übte. Im Grunde war man von seinen guten Absichten hierbei überzeugt; auch machte er ihnen Hoffnung: Das verhinderte, daß sie sich über seinen allzu heftigen Tadel ärgerten.f Einige versichern, daß er den Skeptiker nur spielte, um seine Schüler auf die Probe zu stellen, und daß er danach auf andere Art lehrte (H). Er ging außerordentlich großzügig mit seinem Geld um; von seiner Freigebigkeit wird Erstaunliches erzählt (I). Man beschuldigte ihn, eitel zu sein und den Beifall des Volkes mit allzu großer Hingabe zu suchen.g Die anderen Philosophen machten sich ein Vergnügen daraus, ihn anzugreifen,h aber waren sie so bescheiden und neidlos wie er? Hielten sie ihre Schüler an, auch andere Lehrer zu hören? Das tat er nämlich.i Er führte sogar einen seiner Schüler, der zu erkennen gegeben hatte, daß ihm die Schule eines Peripatetikers besser gefallen würde, er führte ihn, sage ich, zu diesem Lehrer und empfahl ihn diesem.k Ein anderes Mal schloß er einen seiner Schüler, der in einem Komödienvers Kleanthes beleidigt hatte, von seiner Schule aus und nahm ihn nicht eher wieder in Gnaden auf, als bis der Beleidigte Genugtuung bekommen hatte.l Wie verdienstlich diese Handlungsweise war, erkennt man besser, wenn man weiß, daß Kleanthes der Nachfolger Zenons war, des großen Gegners von Arkesilaos. Letzterer machte nicht den Fehler der Plagiatoren: Er erklärte, daß er nichts lehre, was er nicht in den Büchern anderer gefunden hatte.m Er benutzte sie anscheinend zu dem Zweck, seinen Lehren mehr Autorität zu e f g h i k l m

Ders., ebd. Ders., Buch IV, Nr. 37. Ders., Buch IV, Nr. 41. Ders., ebd. Ders., a. a. O., Nr. 42. Ders., ebd. Plutarch, De discrim. adulat. et amici, S. 55 C. Man sehe oben, Fußn. (47) die Stelle aus Plutarch.

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verschaffen und zur Besänftigung des Hasses, den die Bezeichnung ›Neuerer‹ ihm eintrug. Er mischte sich ungern in die Politik ein,n nichtsdestoweniger nahm er den Auftrag an, bei den Verhandlungen mit dem König Antigonos über eine Angelegenheit in Demetrias die Interessen seines Vaterlandes zu vertreten, nachdem er dazu gewählt worden war. Er kehrte erfolglos zurück, möglicherweise weil er nicht bereit gewesen war, diesem Fürsten den Hof zu machen noch ihn auch nur aufzusuchen noch ihm einen Trostbrief nach einer verlorenen Seeschlacht zu schreiben,o wie es mehrere andere taten.p Er war dem Befehlshaber über den Piraeus in enger Freundschaft verbunden,q und er empfing mehrere schöne Geschenke von Eumenes, dem Fürsten von Pergamos.r In Bezug auf den Tod kam ihm ein sehr guter Gedanke, denn er sagte, von allen Übeln sei dies das einzige, das nie einem Menschen durch seine Anwesenheit lästig gefallen ist und das nur in seiner Abwesenheit Kummer macht.s Seine Lehren hatten die Tendenz, sämtliche Vorschriften der Moral umzustürzen, und nichtsdestoweniger kann man feststellen, daß er sie befolgte. Das Zeugnis, das Kleanthes ihm hierüber ausstellte, seine Antwort und dessen Erwiderung sind sehr bemerkenswert (K). Arkesilaos hat nie geheiratet,t obwohl er vom Temperament her die Frauen liebte und seiner natürlichen Neigung nur allzu sehr nachgab, und das bis zum schändlichen Exzeß. Er blühte um die 120. Olympiadeu und starb, nachdem er zuviel getrunken hatte, im Alter von 75 Jahren im Delirium.x Das war im 4. Jahr der 134. Olympiade.y Er rühmte sich großer n

Diogenes Laertius, Buch IV, Nr. 40. Ders., a. a. O., Nr. 39. p Ders., ebd. q Ders., ebd. r Ders., a. a. O., Nr. 38. s Plutarch, De consolat. ad Apollonium, S. 110 A. t Diog. Laertius, Buch IV, Nr. 43 u Apollodoros, bei Diog. Laertius, Buch IV, Nr. 45. x Ders., a. a. O., Nr. 44. y Diog. Laertius datiert in Nr. 61 den Anfang der Leitung der Akademie durch Lakydes, den Nachfolger des Arkesilaos, auf dieses Jahr. o

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Geduld beim Ertragen der Gichtschmerzen. Diogenes Laertius hat keineswegs Bion als seinen Nachfolger genannt, wie Père Rapin sich grundlos eingebildet hat. Moréri habe ich nur einen Fehler vorzuwerfen, nämlich daß nach seiner Darstellung Arkesilaos unter Xanthos und Theophrast studierte, bevor er nach Athen kam. Bei Sidonius Apollinaris habe ich einen sehr groben Fehler bemerkt.

(E) Alles, was die anderen Schulen lehrten, griff er mit großer Stärke an. Man hätte unrecht, wollte man behaupten, daß er den Titel eines Neuerers nicht verdiente, aber Diogenes Laertius irrt, wenn er ihn für den ersten hält, der den Brauch einführte, eine Sache von zwei Seiten zu erörtern. (…).40 Das war nämlich das Verfahren des Sokrates, das Platon beibehalten hat. Ich werde Cicero anführen, der uns berichtet, daß die Methode des Arkesilaos, gegen alles ihm Vorgetragene zu disputieren, schon die des Sokrates gewesen war und daß Arkesilaos durch die Bücher Platons und durch die vorgeblich von Sokrates geführten Gespräche im Pyrrhonismus41 unterwiesen worden war. »Es war Arkesilaos, ein Schüler des Polemon, der erstmals aus den diversen Schriften Platons und den sokratischen Gesprächen den Gedanken herausarbeitete, es gebe nichts Gewisses, was man mit den Sinnen oder dem Verstand begreifen könnte. Von ihm heißt es, er habe in ganz bemerkenswert geistreichem Argumentationsstil jedwedes Sinnen- und Verstandesurteil zurückgewiesen und als erster – wenngleich genau dies der Grundsatz des Sokrates gewesen war – nicht seine eigenen Ansichten vorgetragen, sondern dasjenige angegriffen, was ein jeder als seine Meinung ausgab.«42 In einer anderen Schrift sagt Cicero, daß 40

Diog. Laert., Buch IV, Nr. 28. Ich verwende diesen Terminus, ohne mich auf Pyrrho als Person zu beziehen. 42 Cicero, De oratore, Buch III, Kap. 18. 41

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die Methode des Sokrates zunächst nicht weitergeführt wurde und daß erst Arkesilaos sie wieder aufgenommen hat. Darin besteht die Innovation des letzteren, und daher sind die Worte des Diogenes Laertius ungenau, denn es ist ersichtlich, daß ein Philosoph, der erklärtermaßen alle Antworten auf seine Fragen angreift, die Methode praktiziert, das Pro und das Contra zu behaupten. Man beachte diese Worte Ciceros: »Er (Sokrates) pflegte durch Fragen und Nachfragen die Meinungen seiner Gesprächspartner ans Licht zu bringen und sich zu ihnen zu äußern, wenn es ihm geboten schien. Dieser Brauch ist von den Späteren nicht beibehalten worden, aber Arkesilaos nahm ihn wieder auf und verfuhr so, daß Leute, die ihn hören wollten, nicht seine Meinung erfragten, sondern ihre eigene Meinung vortrugen. Wenn sie das getan hatten, sprach er dagegen, und seine Hörer verteidigten ihre Meinung, so gut sie konnten. Bei den anderen Philosophen aber schweigt derjenige, der etwas wissen will, und so verfährt man jetzt auch in der Akademie.«43 Wenn euch dieses Zeugnis nicht ausdrücklich genug erscheint, was sagt ihr von diesem hier, das versichert, die Akademie des Arkesilaos sei keine andere als diejenige Platons? »Sie nennen das ›die neue Akademie‹, was mir die alte zu sein scheint, wenn wir nämlich Platon zur alten Akademie rechnen, in dessen Büchern nichts behauptet, vieles von beiden Seiten erörtert, alles in Frage gestellt und nichts mit Gewißheitsanspruch ausgesagt wird.«44 Andernorts führe ich eine weitere Passage an, die nicht weniger aussagekräftig ist als diese.45 Falls jemand zur Abwechslung etwas Griechisches möchte, will ich es ihm geben. Irgendwo habe ich gelesen, daß Epikur nicht ohne Kummer den Ruhm des Arkesilaos sah, des angesehensten Philosophen seiner Zeit, und daß er ihm vorwarf, er habe sein Ansehen bei den Unwissenden erworben, ohne etwas Eigenes zu leisten. (…).46 43

Ders., De finibus, Buch II, Kap. 1. Ders., Academ. quaestion., Buch I, letztes Kap. 45 In Anm. (B) des Artikels KARNEADES, Fußn. (6). Diese Passage stammt aus Cicero, De natura deorum, Buch I, Kap. 5. 46 Plutarch, Adv. Colotem, S. 1121 E. 44

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Es trifft zu, daß Arkesilaos sich keiner Entdeckung rühmte: Er gab Sokrates, Platon, Parmenides und Heraklit die Ehre für die Entdeckung der Epoché und der Akatalepsie. (…).47 Man beachte bitte, daß nach dem Eingeständnis des Diogenes Laertius unser Arkesilaos nichts weiter tat, als die platonische Methode streitbarer zu machen: das war die ganze Veränderung, die er vornahm. (…).48 Trotzdem konnte man sagen, er sei der erste Störer der öffentlichen Ruhe der Philosophen gewesen; denn abgesehen davon, daß er eine Vorgehensweise wieder belebte, die kaum noch in Erinnerung war, setzte er das sokratische Prinzip rücksichtsloser ein, als es vor ihm geschehen war, und zeigte sich lebhafter, hartnäckiger und ungeduldiger als dessen erste Erfinder. Deshalb hat man von ihm gesagt, was ich jetzt anführe: »Hat sich nicht, als die wichtigsten philosophischen Disziplinen schon etabliert waren, Arkesilaos – ganz ähnlich wie Tiberius Gracchus in unserem bestens eingerichteten Staatswesen – als Ruhestörer erhoben, der die etablierte Philosophie umstürzte und sich hinter der Autorität derer versteckte, die leugneten, daß man irgend etwas wissen oder begreifen kann?«49 Man hat nach dem Grund für das Vorgehen des Arkesilaos gesucht und ihn in der scharfen Konkurrenz zwischen ihm und seinem Mitschüler Zenon zu finden geglaubt. Sie hatten beide bei Polemon studiert50 und suchten sich gegenseitig zu übertreffen.51 Zenon trat jedoch der Partei der Dogmatiker bei: Er stellte Definitionen und Lehrsätze auf, die Arkesilaos lebhaft bekämpfte; und um hierbei größeren Erfolg zu haben, zögerte er nicht, die gesamten Grundlagen der Wissenschaften umzustürzen und alles ungewiß zu machen. Die Passage, die ich jetzt zitieren werde, bezeugt dies, aber zugleich auch 47

Ders., ebd. 48 Diog. Laert., Buch IV, Nr. 28. 49 Cicero, Academ. quaestion., Buch II, Kap. 5. 50 Ders., a. a. O., Buch I, Kap. 9. Numenios bei Eusebius, Praep. evangel., Buch XIV, Kap. 6, S. 729, 731. 51 Numenios bei dems., ebd.

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den geringen Erfolg dieses Unterfangens,52 obgleich es sich auf eine sehr gewinnende Beredsamkeit stützte. »Jene alten Lehren mögen vielleicht keine wirklichen Erkenntnisse gewesen sein, wenn ihr so wollt. Ist man deswegen aber nicht durch weitere Untersuchungen vorangekommen, seit Arkesilaos, wie man glaubt, Zenon mit der Behauptung kritisierte, er habe nichts Neues entdeckt, sondern nur die Fehler der Vorgänger durch Veränderung der Wörter berichtigt, und der in dem Bestreben, Zenons Definitionen zu erschüttern, völlig klare Sachverhalte in Dunkelheit zu hüllen suchte? Obwohl er sich durch Scharfsinn und eine bewundernswert elegante Ausdrucksweise auszeichnete, fand seine Lehre zu Beginn nicht viel Anklang und wurde zunächst nur von Lakydes angenommen.«53 Andere sagen, es sei die Furcht gewesen, von gewissen Leuten, die mit Vergnügen die Philosophen ärgern, mit Einwänden in Verlegenheit gebracht zu werden, die Arkesilaos zwang, nichts zu behaupten. Er stellte die Epoché wie eine Schutzwand vor sich auf: Sie war die Nacht, in deren Schutz er der Verfolgung durch den Sophisten Bion und die Anhänger des Theodoros, der ständigen Peiniger der Philosophen, zu entkommen hoffte. Numenios merkt an, daß sich Diokles von Knidos dieser Vermutung anschloß; er selbst weist sie zurück; wie mir scheint, mit Recht. Denn obwohl man sich vor tausend verfänglichen Schwierigkeiten dadurch bewahren kann, daß man sich weder für noch gegen etwas entscheidet, so geht man doch ein großes Risiko ein: einerseits braucht man dann die erheblichen und ernsthaften Einwände, die Retorsionen und argumenta ad hominem, diese gewöhnliche und unvermeidliche Klippe der Dogmatiker, weniger zu fürchten, andererseits setzt man sich mehr dem Hohn und Spott der Spaßmacher aus. Nun steht fest, daß Bion, der größte Spötter seines Jahrhunderts, weniger furchterregend war, wenn er räsonierte als wenn er spottete. Allgemein gesprochen, ist man in einer sehr mißlichen Lage, wenn man leicht lächerlich Das stimmt nicht zu dem in Anm. (G) Berichteten.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  53 Cicero, Academic. quaestion., Buch II, Kap. 6. 52

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gemacht werden kann. Arkesilaos selbst verspottete diejenigen, die das Zeugnis der Sinne verwarfen.54 (…). Man beachte, daß einer der Gesprächspartner bei Cicero behauptet, Arkesilaos sei der Partei der Epoché nicht deshalb beigetreten, um Zenon zu widersprechen, sondern aus dem Wunsch heraus, die Wahrheit aufzufinden.56 Nach seinen Worten ist Arkesilaos der erste gewesen, der folgenden Satz aufgestellt und gebilligt hat: »Es ist möglich, daß ein Mensch von unsicheren Dingen weder etwas bejaht noch etwas verneint, und der Weise ist dazu verpflichtet. (…).«57 Er sagt weiter, dieser Philosoph habe Zenon gefragt: »Was würde geschehen, wenn der Weise nichts klar erkennen kann und nichts zulassen darf, was nicht evident wahr ist?« Zenon habe hierauf geantwortet: »Er wird bestimmte Dinge klar erkennen und folglich nichts Dunkles zulassen.« Daraufhin mußte er das Kriterium für klar erkannte Dinge angeben. Das von Zenon benannte Kriterium wurde von Arkesilaos bestritten, der ihm vorhielt, daß das Falsche in derselben Gestalt erscheinen könne wie das Wahre, und daß daher Wahr und Falsch nicht zu unterscheiden seien. Zenon räumte ein, daß man nichts erkennen könnte, wenn das, was nicht ist, uns in derselben Gestalt erscheinen könnte wie das, was ist; aber er leugnete die Übereinstimmung zwischen den Ideen von dem, was ist, und dem, was nicht ist. Arkesilaos hingegen bestand auf dieser Übereinstimmung. (…).58 Das ist der Angelpunkt ihres Streits. Es war zuvor in diesem Werk Ciceros gesagt worden, daß es die Dunkelheit der Dinge und nicht die Hartnäckigkeit oder der Siegeswille war, der Arkesilaos in den Streit mit Zenon verwickelte.59 Ich habe gesagt, daß Arkesilaos die Lehre von der Ungewißheit weiter trieb als Sokrates, und ich hatte Grund dazu. Denn er wollte nicht einmal wie Sokrates sagen, er wisse, daß 54 56 57 58 59

Diog. Laert., Buch IV, Nr. 34. Cicero, Academic. quaestion., Buch II, Kap. 24. Ders., ebd. Ders., ebd. Man sehe unten Fußn. (62).

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er nichts wisse. Er hielt sein Urteil allgemein in allen Dingen in der Schwebe, und er disputierte nur, um sich zu überzeugen, daß die Gründe, etwas zu bejahen, nicht besser waren als die Gründe, es zu verneinen. »Arkesilaos leugnete, daß man irgend etwas wissen könne, nicht einmal das Wenige, was Sokrates für sich übriggelassen hatte. Er war der Ansicht, daß alles im Dunkeln verborgen liegt und es nichts gibt, was erkannt oder verstanden werden kann. Daher dürfe niemand etwas sagen oder behaupten oder in einer Aussage billigen, sondern jeder müsse sich zurückhalten und sich vor jedem Straucheln, jeder Überstürzung hüten, die dann offensichtlich wäre, wenn etwas Falsches oder Unverstandenes gebilligt würde. Aber nichts sei schimpflicher, als wenn Behauptung und Billigung dem Erkennen und Begreifen vorauseilten. In Übereinstimmung mit diesem Leitsatz verfuhr er so, daß er gegen die Lehrmeinungen aller Philosophen disputierte, um die meisten von den ihrigen abzubringen und, weil sich bei ein und demselben Gegenstand ein Gleichgewicht der Gründe auf den entgegengesetzten Seiten herausstellte, um die Enthaltung von der Zustimmung auf beiden Seiten zu erleichtern.«60 Er war es, der die Akatalepsie oder Unbegreiflichkeit der Dinge ausdrücklicher lehrte, als es zuvor der Fall gewesen war, und er trieb die Dinge so weit, daß Karneades, der sie besser hätte verteidigen können als er, sich verpflichtet glaubte, eine gewisse Modifikation an ihr vorzunehmen.61 Es ist jedoch sicher, daß Arkesilaos nur entfaltete und weiterentwickelte, was die größten Meister gesagt hatten. »Arkesilaos führte die ganze Auseinandersetzung mit Zenon (---) wegen der Dunkelheit der Dinge, die schon Sokrates zu dem Eingeständnis seiner Unwissenheit gebracht hatte, und schon vor ihm Demokrit, Anaxagoras, Empedokles und fast alle alten Philosophen. Diese sagten nämlich, nichts könne erkannt, nichts begriffen, nichts gewußt werden, die Sinne seien eng, Cicero, Academ. quaestion., Buch I, Kap. 12.  Die Übersetzung folgt im letzten Satz der Lesart des lateinischen Textes in modernen Ausgaben. Hgg.  61 Man sehe den Artikel KARNEADES. 60

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der Verstand schwach, das Leben kurz und (so Demokrit) die Wahrheit verberge sich in der Tiefe; alles werde von Meinungen und Konventionen beherrscht, nichts bleibe der Wahrheit, alles sei in Finsternis gehüllt.«62 Unter dem Schutz des Ansehens dieser großen Männer griff er die Dogmatiker an.63 Er hätte auch noch andere Namen anführen können, wie man aus dem zweiten Buch der Academicae quaestiones ersehen kann.64 Nichtsdestoweniger begründet Numenios, der sich sehr heftig gegen Arkesilaos ereifert, seine Empörung mit der Revolte, die er ihm zuschreibt.65 Einige Spuren seines Zorns finden sich in der Beschreibung, die er von der Unbeständigkeit dieses Philosophen gibt. »Er war ein Mensch«, sagt er, »der dieselben Dinge sowohl verneinte als auch bejahte; er warf sich blindlings auf die rechte und die linke Seite; er rühmte sich, den Unterschied von Gut und Böse nicht zu wissen; er verkündete die erstbeste Phantasterei, die ihm in den Kopf kam, und gleich darauf stürzte er sie mit noch mehr Argumenten um, als er für sie aufgeboten hatte. Er war eine Hydra, die sich selbst zerfleischte.« Die Ausdrücke des Originals sind noch kraftvoller und entsetzlicher. (…).66,67 Im übrigen erkannte er die Hand Gottes in der Unwissenheit des Menschen, denn er lobte oft einen Vers Hesiods, in dem es heißt, daß die Götter den menschlichen Verstand hinter einem Vorhang halten. (…).68

Cicero, Academ. quaestion., Buch I, Kap. 12.  Die Übersetzung folgt im ersten Satz der Lesart des lateinischen Textes in modernen Ausgaben. Hgg.  63 Ders., a. a. O., Buch II Kap. 5. Man sehe Fußn. (49). 64 Kap. 24. 65 Numenios bei Eusebius, Praeparat. evangel., Buch XIV, Kap. 5, S. 731. 66 Ders., a. a. O., Kap. 5, S. 730 A. 67 Ders., a. a. O., Kap. 6, S. 730 C. 68 Eusebius, a. a. O., Kap. 4, S. 726 D. 62

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(F) Wie ein Kirchenvater Arkesilaos bekämpft hat. Ich spreche von Laktanz. Er gibt vor, die gesamte Philosophie in Trümmer zu legen, indem er mit Sokrates zeigt, daß man nichts wissen kann, und mit Zenon, daß man nur glauben darf, was man weiß. (…).69 Zur Bestätigung seiner Ansicht führt er die große Anzahl der Schulen an, in welche die Philosophie zerfiel. Jede von ihnen nahm Wahrheit und Weisheit für sich in Anspruch und überließ Irrtum und Torheit anteilig den anderen. Welche Schule man daher auch im einzelnen verdammte, man hatte die Stimmen der Philosophen für sich, die ihr nicht angehörten; man konnte der Stimmen der Mehrzahl sicher sein, wenn man alle verdammte. Denn jede einzelne hätte das Urteil über alle anderen gebilligt und einem nur das Zeugnis entgegenhalten können, das sie sich selbst in eigener Sache gab und das daher unglaubwürdig war. Das ist die Art, wie Laktanz alle antiken Philosophenschulen zerstörte: »Sie schneiden sich gegenseitig die Kehle durch, keine von ihnen überlebt«, sagt er. »Der Grund dafür ist, daß sie zwar ein Schwert haben, aber keinen Schild; sie haben die Kraft zu Angriffskriegen, aber nicht zur Verteidigung.« (…).71 »Arkesilaos sah das«, fährt er fort, »ergriff die Waffen gegen alle und gründete eine neue Schule der Philosophie, deren Prinzip es war, nicht zu philosophieren.« (…).72 Seither hat es zwei Parteien gegeben: die eine erhebt den Anspruch auf Wissen, die andere widerlegt ihn. Jene kommt zu Fall, wenn die Natur der Dinge nicht erkannt werden kann; diese ist verloren, wenn sie es kann. Wenn sie gleich stark sind, geht die Philosophie trotzdem zugrunde, weil sie gespalten wird. »Wenn unsere elende Lage, wie ich gezeigt habe, nicht zuläßt, daß der Mensch ein Wissen im eigentlichen Sinne besitzt, dann trägt Arkesilaos den Sieg davon; er wird sich aber nicht behaupten können, denn es ist nicht möglich, daß man gar nichts weiß: Man würde notwendigerweise zugrunde gehen, 69 71 72

Laktanz, Divin. institution., Buch III, Kap. 4, S. 153. Ders., a. a. O., S. 154. Ders., ebd.

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wenn man nicht wüßte, was für das Leben förderlich und was verderblich ist.« (…).73 Laktanz gibt im folgenden Einzelheiten über verschiedene Dinge an, welche die Menschen wissen, und macht sich über Arkesilaos lustig, der die anderen nicht herabsetzen konnte, ohne sich selbst herabzusetzen, denn sie konnten ihm erwidern: »Wenn Ihr beweist, daß wir überhaupt kein Wissen haben und folglich keine Philosophen sind, seid Ihr es auch nicht mehr, denn Ihr bekennt ja, daß Ihr nichts wißt.« Er schnitt sich also mit demselben Dolch die Kehle durch, mit dem er die anderen tötete. (…).74 Laktanz tadelt ihn aber nicht in allen Punkten; er lobt ihn dafür, daß er die Torheit derjenigen erkannte, die glauben, Vermutungen über die Wahrheit seien ein Wissen. (…).75 Aber er hält sich beim Loben nicht auf, sondern geht gleich zu dem Vorwurf des Widerspruchs über, den man den Pyrrhoneern so oft macht: »Eben dadurch, daß Ihr nichts wißt, wißt Ihr etwas.« »Arkesilaos führt die σúστατον genannte Art des Philosophierens ein, die man ›instabil‹ oder ›unbeständig‹ nennen kann. Wenn man nämlich wissen muß, daß nichts gewußt werden kann, dann muß etwas gewußt werden: denn wenn man überhaupt nichts weiß, dann wird der Satz ›Es kann nichts gewußt werden‹ aufgehoben. Wer daher gleichsam als Prinzip behauptet, daß nichts gewußt wird, der behauptet dies als eine Vorschrift oder Erkenntnis, also kann etwas gewußt werden. Hiermit vergleichbar ist jenes Beispiel für die instabile Redeweise, das man in den Schulen anführt: Jemand hat geträumt, er dürfe Träumen nicht glauben. Wenn er diesem Traum glaubt, dann folgt, daß Träumen nicht zu glauben ist; wenn er ihm aber nicht glaubt, dann folgt, daß ihnen zu glauben ist. Entsprechend ist es notwendig, wenn nichts gewußt werden kann, daß eben dies gewußt wird, daß nichts gewußt wird. Wenn es aber gewußt wird, daß nichts gewußt werden kann, dann ist der Satz falsch, daß nichts gewußt werden kann. So wird ein Lehrsatz eingeführt, der sich selbst widerspricht 73 74 75

Ders., a. a. O., S. 155. Ders., a. a. O., Kap. 5, S. 156. Ders., a. a. O., Kap. 6, S. 157.

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und sich aufhebt.«76 Zum Schluß bekennt Laktanz, daß es in der Naturphilosophie kein Wissen gibt und daß man es dort auch nicht suchen soll. (…).77 Wir wollen einige kurze Anmerkungen zu diesem Streit machen. I. Das von Laktanz zur gegenseitigen Vernichtung aller Philosophenschulen vorgebrachte Argument beweist zuviel. Ein Atheist, der es heute vorbrächte, um das gesamte Christentum zu stürzen, würde schlecht räsonieren. Die christlichen Sekten verdammen sich gegenseitig, das gebe ich zu. Aber wenn man eine einzelne von ihnen in allen ihren Lehrstücken verdammte, würde man nicht die Zustimmung aller anderen erhalten. II. Laktanz widerspricht sich auf erbärmliche Weise. Er räumt ein, daß Arkesilaos den Sieg davonträgt, wenn es kein Wissen unter den Menschen gibt, und er gibt vor, bewiesen zu haben, daß wir zu schwach sind, um zum Wissen zu gelangen. Warum also fügt er sogleich hinzu, daß Arkesilaos nicht siegt, weil es doch mehrere Wissenschaften unter den Menschen gibt? III. Die Beispiele, die er hierfür nennt, sind nichtig, denn wenn man gute Nahrungsmittel von schlechten zu unterscheiden weiß, ist das kein Wissen in dem Sinne, in dem das Wort in diesem Streit genommen wird. Diese Art des Wissens ist von den Akataleptikern überhaupt nicht in Zweifel gezogen worden. IV. Der Vorwurf des Widerspruchs hat weniger Solidität als falschen Glanz, er ist eher eine Haarspalterei als ein überzeugendes Argument. Der gesunde Menschenverstand klärt diese Verwirrung schnell auf. Wenn ich träume, daß ich Träumen nicht glauben darf, dann bin ich in eine Falle gegangen. Denn wenn ich meinem Traum nicht glaube, dann werde ich Träumen glauben, und wenn ich ihm glaube, dann werde ich ihnen nicht glauben. Wer sieht nicht, daß man hier den Traum, der mich davor warnt, Träumen zu glauben, von den anderen Träumen absondern muß? Man sehe bei Sextus Empiricus, was die Skeptiker auf diesen Einwand geantwortet haben. V. Das Zugeständnis, das Laktanz in Bezug auf die Naturphilosophie macht, paßt kaum 76 77

Ders., ebd. Ders., ebd., S. 158.

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zu seiner Absicht; man hätte daraus einen Vorteil gegen sein Anliegen ziehen können.

(H) Man sagt, daß er den Skeptiker nur spielte, um seine Schüler auf die Probe zu stellen. Sextus Empiricus sagt zunächst, daß Arkesilaos sich nicht von den Pyrrhoneern zu unterscheiden scheint, fügt dann aber hinzu, daß er, wenn man gewissen Gerüchten Glauben schenken dürfe, nur scheinbar ein Pyrrhoneer war, weil er im Grunde der Methode der Dogmatiker folgte. Die Zweifel, die er seinen Hörern vortrug, um festzustellen, ob sie begabt genug waren, um Platons Lehren zu begreifen, ließen ihn als einen Philosophen erscheinen, der nichts behauptet; denen aber, bei denen er eine große Geisteskraft gefunden hatte, verkündete er die platonische Lehre affirmativ.83 Es ist schwer feststellbar, ob dieser Bericht zutrifft. Man sehe die Abhandlungen des Herrn Foucher über die Philosophie der Akademiker84 und die angegebene Erläuterung von Thomas Aldobrandin.85

(I) Von seiner Freigebigkeit wird Erstaunliches erzählt. Er tat Gutes und wollte nicht, daß es bekannt würde. (…).86 Das hieß das Evangelium praktizieren, bevor es verkündet war. Als er den kranken Ktesibios besuchte, dem es am Nötigsten fehlte, steckte er ihm geschickt eine volle Geldbörse unter das Kopfkissen.87 Seneca berichtet das. (…).88 Plutarch erzählt dieselbe Geschichte ausführlicher, aber er nimmt an, daß es sich bei dem 83 84 85 86 87 88

Sextus Empiricus, Pyrrhon. hypotypos., Buch I, Kap. 33. Foucher, Buch I, S. 32 und Buch III, S. 54 f. Th. Aldobrand. zu Diog. Laertius, Buch IV, Nr. 28. Diog. Laertius, Buch IV, Nr. 37. Ders., ebd. Seneca, De benef., Buch II, Kap. 10, S. 25.

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Kranken nicht um Ktesibios, sondern um Apelles von Chios handelte.89 Fügen wir dem noch hinzu, daß Arkesilaos einem Freund, der ein Festmahl geben mußte, silbernes Geschirr lieh und es nicht zurückverlangte. Er setzte voraus, daß es geschenkt und nicht geliehen war. Einige sagen, daß er mit Rücksicht auf die Bedürftigkeit dieses Freundes das Geschirr nicht annehmen wollte, als man es ihm zurückbrachte.90

(K) Das Zeugnis, das Kleanthes ihm in Bezug auf den Gegensatz zwischen seinen Lehren und seiner Praxis ausstellte(---)ist sehr bemerkenswert. Sobald man behauptet, daß nichts gewiß, sondern alles unbegreiflich ist, erklärt man, daß es nicht gewiß ist, ob es Laster und Tugenden gibt. Nun scheint eine solche Lehre die Gleichgültigkeit gegenüber der Rechtschaffenheit und den Pflichten des Lebens zu fördern. Daher tadelten die Gegner Arkesilaos wegen der Vernachlässigung aller dieser Pflichten. Sie gaben vor, er lebe nach seinen eigenen Prinzipien. Kleanthes hingegen ergriff seine Partei, obwohl er einer Schule angehörte, die diesem Philosophen strikt entgegengesetzt war. »Schweigt«, sagte er zu einem der Kritiker, »tadelt Arkesilaos nicht; er stürzt die Pflichten zwar mit seinen Worten um, aber mit seinen Taten setzt er sie wieder in Kraft.« (…).91 Arkesilaos antwortete ihm, daß er Schmeicheleien nicht schätze. »Heißt es Dir zu schmeicheln«, gab Kleanthes zurück, »wenn man sagt, daß Du so auf die eine Weise redest und auf die andere handelst?«92 Diese Erwiderung war sehr geistreich. Offensichtlich spielte er damit auf die Homer-Verse an, denen zufolge Betrüger und Heuchler, deren Gedanken ihren Worten widersprechen, es verdienen, wie

89 90 91 92

Plutarch, De discrim. amici et adulator., S. 63. Diog. Laertius, Buch IV, Nr. 38. Diog. Laertius, Kleanthes, Buch VII, Nr. 171. Ders., ebd.

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die Hölle verabscheut zu werden.93 Nichtsdestoweniger lobte Kleanthes im Grunde das ehrenhafte Leben des Arkesilaos. Man beachte, daß es in der Lehre der größten Pyrrhoneer eine Theorie gab, die förderlich für die Tugend war. Denn wie auch immer ihnen zufolge das Wesen der Dinge beschaffen war, sie lehrten, daß man sich in der Lebenspraxis den Erscheinungen anpassen müsse. Wie dem auch sei, das wahre Prinzip unserer Sitten liegt so wenig in unseren spekulativen Urteilen über die Natur der Dinge, daß nichts gewöhnlicher ist als rechtgläubige Christen, die schlecht, und Freigeister, die ehrenhaft leben.

93

Homer, Ilias, Buch IX, Vers. 312 f.

ARMINIUS

arminius, Jakob, Theologieprofessor in Leiden, wurde 1560 in Oudewatera in Holland geboren. Er war noch ein Kind, als sein Vater starb. Seinen ersten Unterricht hatte er einem guten Priester zu verdanken, der Geschmack an den Ansichten der Reformierten gefunden hatte und der häufig seinen Wohnort wechselte, um nicht die Messe lesen zu müssen. Arminius studierte in Utrecht, als ihm der Tod diesen Gönner nahm. Dieser Verlust hätte ihn in große Schwierigkeiten gestürzt, wenn er nicht das Glück gehabt hätte, von seinem Landsmann Rudolph Snell unterstützt zu werden, der ihn 1575 mit nach Marburg nahm. Kaum war er dort angekommen, da hörte er, daß sein Heimatland von den Spaniern verwüstet worden war. Diese Nachricht betrübte ihn zutiefst; er mußte nach Holland zurückkehren, um mit eigenen Augen zu sehen, wie die Dinge dort standen. Nachdem er aber festgestellt hatte, daß seine Mutter, seine Schwester, seine Brüder, seine Bekannten und fast sämtliche Einwohner von Oudewater umgebracht worden waren, ging er wieder nach Marburg und legte diesen ganzen Weg zu Fuß zurück. Als er von der Gründung der Universität in Leiden hörte, brach er sofort nach Holland auf und studierte an dieser neuen Universität mit so großem Eifer und Erfolg, daß er sich ein ganz besonderes Ansehen erwarb. Im Jahr 1582 wurde er auf Kosten des Magistrats von Amsterdam nach Genf geschickt, um dort seine Studien zu vervollkommnen. Er hörte hauptsächlich die Vorlesungen von Theodore Beze, der zu dieser Zeit den Römerbrief erklärte. Unglücklicherweise mißfiel er einigen wichtigen Lehrern der Universität, weil er sich öffentlich und mit großen Nachdruck für die ramistische Philosophie a

Dieses flämische Wort bedeutet ›altes Wasser‹, und das ist der Grund, weshalb Arminius auf den Titelblättern seiner Bücher nach seinem Geburtsort Veteraquinas genannt wird.

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einsetzte und sie in Privatstunden lehrte. Folglich mußte er Genf verlassen. Er ging nach Basel, wo er mit Beifall empfangen wurde. Dort hielt er öffentliche Vorlesungen und erlangte solches Ansehen, daß die theologische Fakultät ihm gebührenfrei die Doktorwürde verleihen wollte. Er lehnte die Annahme dieser Ehre bescheiden ab und ging wieder nach Genf, wo er die Gegner des Ramismus weniger hitzig vorfand und daraufhin auch seinen Eifer mäßigte. Er wollte nach Italien reisen, hauptsächlich um in Padua die philosophischen Vorlesungen des berühmten Jacob Zabarella zu hören. Diesen Wunsch erfüllte er sich und verwandte sechs oder sieben Monate auf die Reise. Im Anschluß daran kehrte er nach Genf und dann nach Amsterdam zurück, wo er erfuhr, daß man ihn wegen seiner Reise nach Italien übel verleumdet hatte, was die Zuneigung des Magistrats, seiner Förderer und Gönner etwas hatte abkühlen lassen. Bei vernünftigen Leuten rechtfertigte er sein Verhalten mühelos, aber es gab auch schwache und argwöhnische Geister, die an diesem Stein des Anstoßes nicht vorbeikamen,b bis er der ganzen Kirche das schöne Talent zum Predigen vorführte, das er besaß. Auf diese Weise gewann er jedermanns Liebe und Hochachtung. Seine Kollegen lobten seine Kenntnisse und gestanden, daß seine Predigten ihnen nützlich waren. Martin Lydius, Theologieprofessor in Franeker, hielt ihn für hervorragend geeignet, eine Schrift zu widerlegen, in der die Prädestinationslehre des Theodore Beze von einigen Predigern aus Delft bestritten worden war. Arminius folgte seiner Bitte und machte sich daran, dieses Werk zu widerlegen, aber im Zuge seiner scharfen Untersuchung und der Abwägung der Gründe pro und contra trat er zu der Meinung über, die er widerlegen wollte und ging darin sogar noch weiter als jene Prediger von Delft gegangen waren. Er verurteilte mit ihnen den Supralapsarismus von Beze und erkannte daraufhin nur die Gnadenwahl an, die darauf beruhte, daß die Sünder auf den Ruf Gottes durch Jesus Christus hörten. Man machte ihm deswegen in Amsterdam Schwierigkeiten und beschuldigte ihn, von der allgemeinen Lehre abzuweichen, aber b

(…). Bertius, Oratio funebris J. Arminii.

Arminius

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durch die Autorität des Magistrats wurde diese Auseinandersetzung unterdrückt. Im Jahr 1603 wurde er auf die Professur für Theologie nach Leiden berufen; alle Hebel mußten in Bewegung gesetzt werden, um seine Entlassung aus Amsterdam zu erwirken. Das gelang schließlich, und nachdem er den üblen Eindruck aus der Welt geschafft hatte, den man mit seiner Lehre verbunden hatte, wurde er in Leidenc zum Doktor der Theologie gemacht und in die Stelle des Professors Franciscus Junius eingewiesen. Er hatte sein Predigeramt in der Kirche von Amsterdam 15 Jahre lang ausgeübt. Die Streitereien über die Gnadenwahl wurden in der Universität bald darauf äußerst hitzig geführt, so daß die Regierung dieser Provinz Gespräche zwischen ihm und seinen Gegnern anordnen mußte. Er wurde etliche Male nach Den Haag bestellt, um dort Rechenschaft über seine Lehre abzulegen. Diese Auseinandersetzung, sein unermüdlicher Arbeitseifer sowie der Verdruß, sein Ansehen durch unzählige Verleumdungen befleckt zu sehen,d schwächten seine Gesundheit derart, daß er sich eine Krankheit zuzog, die er mit großer Frömmigkeit und Geduld trug und der er am 19. Oktober 1609 erlag.e Es wäre zu wünschen gewesen, daß er einen besseren Gebrauch von seinen Einsichten gemacht hätte (E); denn wenngleich seine Absichten wahrscheinlich gut waren, kann man doch sagen, daß er ohne Notwendigkeit und unter solchen Umständen mit Neuerungen begann, wo diese eine Quelle von Unruhen wurden, die in einem Schisma endeten. Er hinterließ sieben Söhne und einige Mädchen sowie eine große Anzahl von Schülern, welche die Auseinandersetzung so heftig fortsetzten, daß schließlich die Autorität einer Landessynode erforderlich wurde. Auf ihr wurden sie verurteilt, unterwarfen sich jedoch nicht, sondern bildeten eine eigene Sekte, die noch heute existiert und die sich nach und nach mit mehreren andec

Er war der erste, dem dieser Titel in der Universität von Leiden feierlich übertragen wurde. Franz Gomarus erteilte ihn ihm. Bertius, Oratio funebris J. Arminii. d Nicht was seine Sitten, sondern was seine Ansichten betraf. e Aus seiner Leichenpredigt gezogen, die Pierre Bertius gehalten hat.

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ren weit erheblicheren Irrtümern belastet hat. Die Amsterdamer Ausgabe von Moréri führt einige Schriftsteller an, die über diesen berühmten Streit Auskunft geben können. Ich füge dem die Geschichtswerke von Triglandius und Boxhornius sowie ein ganz neues Werk eines Tübinger Professorsf hinzu. Dieser große Streit brachte eine Menge von Schriften auf beiden Seiten hervor. Ein Kölner Theologieprofessor, der sich hinter einem falschen Namen versteckte,g hat ein chronologisches Verzeichnis von ihnen in einem Werk angelegt, dem er den Titel Pacificatorium dissecti belgii gab. Ich bezweifle die Vollständigkeit dieser Liste. Angesichts einer solchen Menge von Schriften ist es schwierig, keine zu vergessen. Was die Schriften des Arminius angeht, so sehe man die letzte Anmerkung.

(E) Es wäre zu wünschen gewesen, daß er einen besseren Gebrauch von seinen Einsichten gemacht hätte. Ich meine, daß er sich nach der Regel des hl. Paulus gerichtete hätte. Dieser große von Gott inspirierte und unmittelbar durch den hl. Geist geleitete Apostel hielt sich bei allem, was er schrieb, den Einwand vor Augen, den die Vernunft gegen die Lehre von der absoluten Prädestination erheben kann. Er begriff die ganze Stärke des Einwandes, er trug ihn ohne auch nur die geringste Abschwächung vor. »So erbarmt sich Gott nun, wessen er will, und verstockt, welchen er will.«11 Das ist die Lehre des hl. Paulus, und so lautet die Schwierigkeit, die er sich macht: »Nun sagst du zu mir: Was beschuldigt er uns dann noch? Wer kann denn seinem Ratschluß widerstehen?«12 Man kann diesen Einwand nicht weitertreiben: volle zwanzig Seiten der subtilsten f

Joh. Wolfgang Jäger. Sein Werk trägt den Titel Historia ecclesiastica saeculi XVII. Die erste Dekade wurde im Jahr 1692 gedruckt. g Aegidius Afhackerius. Er nahm den falschen Namen Salomon Theodotus an. Man sehe Val. Andreas, Biblioth. belg., S. 22. 11 Römerbrief 9, 18. 12 A. a. O., Vers 19.

Arminius

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Molinisten könnten nicht mehr sagen. Was könnten sie mehr folgern, als daß Gott der Lehre Calvins zufolge will, daß die Menschen sündigen? Das ist nun genau das, wovon der hl. Paulus wußte, daß man es ihm entgegenhalten könnte. Aber was antwortet er? Hält er nach Distinktionen und Abmilderungen Ausschau? Leugnet er das Faktum? Gibt er nur einen Teil davon zu? Geht er auf Einzelheiten ein? Räumt er sprachliche Zweideutigkeiten aus? Nichts von alledem: Er zieht nur die Allmacht Gottes und das höchste Recht des Schöpfers heran, mit seinem Geschöpfen umzugehen, wie es ihm gut erscheint. »Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?«13 Er erkennt hier eine Unbegreiflichkeit an, die allen Streiterein ein Ende setzen und unserer Vernunft ein tiefes Stillschweigen auferlegen muß. »O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!«, ruft er aus,14 »wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege.« Alle Christen sollten darin ein definitives Urteil in letzter Instanz und ohne Berufungsmöglichkeit bezüglich der Streitereien um die Gnade finden, oder vielmehr sie sollten durch dieses Verhalten des hl. Paulus lernen, niemals über die Prädestination zu streiten und gleich zu Anfang allen Subtilitäten des menschlichen Geistes, mögen sie sich nun von selbst darbieten, wenn man über dieses große Thema nachdenkt, oder mögen sie uns von einem anderen Menschen vorgetragen werden, diese Barriere entgegenzusetzen. Das Beste und Kürzeste ist es, den Fluten an Vernunftschlüssen gleich anfangs dieses starke Bollwerk entgegenzusetzen und jenes definitive Urteil des hl. Paulus als ruhenden Fels inmitten der Wogen zu betrachten, gegen den sich die allerstärksten Wellen vergeblich auftürmen; sie schäumen und tosen umsonst und brechen in sich zusammen. Allen Geschossen, die man gegen einen derartigen Schild richten kann, wird es so ergehen wie denen des Priamos. »So sprach der Greis und warf den Speer ohne Wucht und auf un13 14

A. a. O., Vers 20. A. a. O., Kap. 11, Vers 33.

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kriegerische Weise; mit dumpfem Ton prallt er von dem Erz ab und hängt kraftlos vom Schildbuckel herunter.«15 So muß man sich in diesem Streit verhalten, wenn er unter Christen ausgetragen wird. Hält man es für angebracht, dem Geist mit derartigen Fragen eine gewisse Beschäftigung zu geben, so sollte man wenigstens zur rechten Zeit zum Rückzug blasen und sich hinter dem Schutzwall verschanzen, von dem ich gesprochen habe. Hätte Arminius das jedes Mal getan, wenn seine Vernunft ihm Einwände gegen die Lehre der Reformatoren nahelegte oder er sich aufgerufen fühlte, den Streitenden zu antworten, dann hätte er sich vollkommen weise und apostolisch aufgeführt und seine Verstandeseinsichten so eingesetzt, wie es sich gehört. Wenn er auf Härten in der gewöhnlichen Lehre gestoßen wäre und er sich durch die Annahme einer weniger rigiden Auffassung erleichtert gefühlt hätte, so hätte er sich ihrer für seinen persönlichen Gebrauch bedienen können, aber er hätte diese Annehmlichkeit stillschweigend genießen sollen, d. h. ohne die herrschenden Überzeugungen anzugreifen, weil er sie nicht angreifen konnte, ohne dadurch gefährliche Stürme in der Kirche auszulösen. Sein Schweigen hätte auch ihm selbst viele Übel erspart; er hätte gut daran getan, sich an ein altes Gleichnis zu erinnern: »Wenn der Rabe es verstünde, beim Essen still zu sein, hätte er mehr Nahrung und weit weniger Streit und Neid.«16 Man sehe die Anmerkung (D) des Artikel HALL, Joseph.* »Aber«, so werden einige sagen, »hätte er nicht seine Pflicht verletzt und wäre er nicht des Priesteramts unwürdig gewesen, wenn er es verabsäumt hätte, an der Unterweisung seiner Hörer zu arbeiten, die, wie er glaubte, einer falschen Lehre anhingen?« Darauf ist zu antworten, daß er durch zwei Hauptgründe davon entbunden war, das Wort zu ergreifen: der eine war, daß er nicht glaubte, daß die von ihm mißbilligte Lehre der Erlangung des Heils nachteilig sei; der andere, daß seine neue Lehrart nicht dazu taugte, die Hauptschwierigkeiten zu 15 16 *

Vergil, Aeneis, Buch II, Vers 544 ff. Horaz, Epist., Buch I, 17, Vers 50 f.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

Arminius

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beheben, die sich in der Prädestinationsfrage auftun. Wir wollen einräumen, daß, absolut gesprochen, die kleinste Wahrheit wert ist, vorgetragen zu werden, und daß es keinen noch so unbeträchtlichen Irrtum gibt, von dem man nicht besser frei wäre, als in ihm zu verharren. Wenn aber die Orts- und Zeitumstände es nicht gestatten, daß man Neuerungen, so wahr sie auch sein mögen, vorträgt, ohne damit tausenderlei Unruhen in den Universitäten, Familien und im ganzen Staat zu stiften, so ist es hundertmal besser, die Dinge so zu belassen, wie sie sind, als es in Angriff zu nehmen, sie zu reformieren. Das Heilmittel wäre schlimmer als das Übel. Man muß sich hierbei so verhalten wie bei gewissen kranken Menschen, denen man keine Medizin verabreichen kann, ohne die Bildung mehrerer übler Säfte auszulösen, deren Wirkung schädlicher ist als die Gerinnung.17 Ich nehme die Fälle hiervon aus, in denen es sich um das Heil der Seelen handelt und es darum geht, sie dem Rachen des Teufels zu entreißen; dann nämlich darf es die Nächstenliebe nicht gestatten, daß man Ruhe bewahrt, wie groß die Erregung auch immer sein mag, die man zufälligerweise verursacht. Hinsichtlich all dieser Folgen muß man sich der Fürsorge der Vorsehung anvertrauen. Unter diesem Gesichtspunkt gab es nichts, was Arminius gezwungen hätte, sich der allgemeinen Lehre zu widersetzen. Er glaubte nicht, daß jemand auch nur das geringste Risiko für sein Seelenheil einging, wenn er den Lehren Calvins folgte. Wir wollen nun den anderen Gesichtspunkt betrachten, aus dem er unentschuldbar ist. Er setzte an die Stelle eines Lehrsystems, das voller erheblicher Schwierigkeiten war, ein anderes, das offengestanden nicht weniger erhebliche nach sich zog. Man kann von seiner Lehre das sagen, was ich über die Neuerungen von Saumur gesagt habe:18 Sie ist besser verknüpft und 17

»Es war für den gleichsam kranken und verwundeten Staat hilfreich, auf jede erdenkliche Art zur Ruhe zu kommen, damit die Wunden nicht durch die Heilmittel selbst wieder aufgerissen wurden.« Florus, Buch III, Kap. 23. 18 Man sehe oben Anm. (E) des Artikels AMYRAUT.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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ungezwungener als es die Ansichten von Herrn Amyraut sind, aber zu guter Letzt ist es ein nur scheinbar wirksames Heilmittel, denn kaum haben die Arminianer gewisse Einwände beantwortet, die, wie sie behaupten, im Lehrsystem Calvins nicht widerlegt werden können, so finden sie sich mit Argumenten konfrontiert, denen sie nicht anders als durch ein freimütiges Eingeständnis der Schwäche unseres Verstandes entkommen können oder durch die Erwägung der unendlichen Unbegreiflichkeit Gottes. Lohnte das die Mühe, Calvin zu widersprechen? Mußte Arminius deshalb zu Beginn den Empfindlichen spielen, um in der Folge dann doch gezwungen zu sein, sich in dieses Asyl zu retten? Warum fing er nicht gleich hiermit an, wo er doch früher oder später zu diesem Punkt kommen mußte? Man darf sich nicht einbilden, daß ein großer Diskutant, wenn man sich auf ein Streitgespräch mit ihm eingelassen hat, einem den Sieg unter dem Vorwand lassen wird, daß man anfangs einen gewissen Vorteil über ihn errungen hatte. Ein Wettkämpfer, der nach einem Drittel oder der Hälfte der zurückzulegenden Strecke einen Vorsprung vor seinem Gegner hat, verdient dafür nicht den Siegeskranz: den gibt man ihm erst, falls er am Ende der Strecke vorne ist. Dasselbe gilt für intellektuelle Auseinandersetzungen: Es genügt nicht, die ersten Streiche abzuwenden, man muß auch den Repliken und weiteren Einwürfen genügen, bis alle Zweifel restlos aufgeklärt sind. Das vermag nun weder die Lehre des Arminius noch die der Molinisten und auch nicht die der Sozinianer.19 Die Lehre der Arminianer taugt lediglich dazu, einen gewissen Vorteil in den Vorgeplänkeln des Kampfes zu erreichen, in den man die verlorenen Posten für die ersten Scharmützel schickt. Wenn es aber zur entscheidenden Schlacht kommt, muß sie sich wie die anderen Lehrsysteme hinter das Bollwerk des unbegreiflichen Mysteriums zurückziehen.

19

Man sehe Jurieu, Jugement sur les methodes rigides, et relâchées d’expliquer la grace.

ARRIAGA

arriaga, Rodriguez von, ein spanischer Jesuit, wurde am 17. Januar 1592 in Lucrona geboren. Er trat am 17. September 1606 in die Gesellschaft Jesu ein und lehrte mit großem Beifall Philosophie in Valladolid und Theologie in Salamanca. Nachdem er aus den Briefen des Ordensgenerals erfahren hatte, daß es dem höchsten Ruhme Gottes sehr förderlich wäre, wenn einige spanische Jesuiten nach Böhmen gingen,a um dort die höchsten Wissenschaften zu lehren, bot er sich zu diesem Dienst an. Im Jahr 1624 kam er in Prag an. Er lehrte dort dreizehn Jahre lang scholastische Theologie und war zwanzig Jahre ununterbrochen Generalpräfekt der Studien sowie zwölf Jahre Kanzler der hohen Universität. Er erhielt in einer feierlichen Zeremonie den Doktorhut der Theologie und erwarb großes Ansehen. Die Provinz Böhmen entsandte ihn dreimal als Deputierten nach Rom, um dort den allgemeinen Kongregationen des Ordens beizuwohnen.b Mehrere Male ermahnte man ihn vergeblich, nach Spanien zurückzukehren. Von Urban VIII., Innozenz X. und Kaiser Ferdinand III. wurde er außerordentlich geschätzt. Am 17. Juni 1667 starb er in Prag.c Er hat mehrere Werke veröffentlicht, in denen er viel Scharfsinn bewies. Man muß feststellen, daß er viel geschickter bei der Zerstörung dessen war, was er verneinte, als bei der Begründung dessen, was er bejahte. Deshalb wird behauptet, daß er den Pyrrhonismus begünstigt habe (B), obwohl er zu erkennen gab, daß er kein Pyrrhoneer war. Fraglos beginge man eine große Ungerechtigkeit, wenn man ihn auch nur der geringsten Pflichtverletzung a

Die Jesuiten haben vor kurzem aus diesem Land eine Ordensprovinz gemacht, die von der Provinz Österreich getrennt ist. Sotuel, Biblioth. scriptorum Societ. Jesu, S. 728 f. b Der 8., 10. und 11. c Entnommen aus Sotuel, Biblioth. scriptorum Societ. Jesu, S. 728 f.

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verdächtigen und für einen falschen Freund der Glaubenslehrer halten würde. Denn wenn er seine gesamte Kraft aufbietet, um eine große Zahl von Meinungen zu widerlegen, so gebraucht er sie ebenfalls zur Stärkung der von ihm vertretenen Ansichten. Es ist leicht zu sehen, daß er hierbei aufrichtig vorgeht und sein Bestes gibt und daß, wenn die Beweise schwächer sind als seine Einwände, dies der Natur der Dinge anzulasten ist. Die Hingabe, mit der er all die Subtilitäten widerlegt hat, die von den Scholastikern erfunden worden sind, um mit ihnen zu zeigen, daß zwei kontradiktorische Sätze manchmal wahr und manchmal falsch sind (C), genügt, um uns zu überzeugen, daß ihm die von den Glaubenslehrern gegen die Pyrrhoneer verfolgten Interessen am Herzen lagen. Er hat in mehreren Fragen der Naturforschung die verbreitetsten Ansichten der Schule hinter sich gelassen, z. B. die über die Zusammensetzung des Kontinuums, über die Verdünnung der Luft usw. und hat sich deshalb für die Rechtfertigung der Neuerer auf dem Gebiet der Philosophie eingesetzt.d Es ist schade, daß ein so feiner und durchdringender Geist nicht mehr Erkenntnis von den wahren Prinzipien gehabt hat, denn er hätte sie sehr weit vorantreiben können. Eine geringe Kenntnis der Hydrostatik hätte ihn den Erklärungsgrund einer Erfahrungstatsache finden lassen (D), mit der er sich unnötig abgequält hat. Seine Bemühungen, seine Beispiele und seine Geschicklichkeit in diesen Dingen lassen es uns bedauern, daß er bei soviel Tatkraft den rechten Weg verfehlt hat.

(B) Man behauptet, daß (---) er den Pyrrhonismus begünstig habe. Dies ist die Ansicht von Herrn de Villemandy: »Einige andere wiederum«, sagt er,4 »greifen (die heiligen Lehren des Glaubens) auf noch gefährlichere Weise an, darunter Arriaga in seinen Disputationes theologicae zu Thomas; sie lassen nämlich keinen Stein auf dem anderen, um die Lehren aller anderen mit d 4

Im Vorwort seines Cours de philosophie. Pierre de Villemandy, Scepticismus debellatus, Kap. 2, S. 13.

Arriaga

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ihren Betrachtungen und Einwänden zu zerstören, ohne in der Regel selbst eine Lehre zu errichten. (---). Unter den römischkatholischen Scholastikern ist jener Roderich Arriaga berühmt dafür. (---). Er behandelt sowohl die Philosophie wie die Theologie in vielen dickleibigen Bänden, traktiert jedoch jede einzelne Frage auf solche Weise, daß er sich bemüht, die Ansichten beinahe aller anderen mit verschiedenen Argumenten zu entkräften, seine eigenen aber nur schwach begründet. Wenn man aus diesem Verfahren seine Geisteshaltung beurteilen sollte, dann muß er als ein wahrhaftiger Pyrrhoneer angesehen werden. Da er jedoch seine eigenen Meinungen, so weit es ihm möglich ist, untermauert und beständig an ihnen festhält, kann man ihn legitimerweise nicht so nennen.«5 Man kann sicher sein, daß, wenn die Lektüre der Schriften dieses Jesuiten die Leser mit dem pyrrhonischen Geist inspiriert, dies nur zufälligerweise und gegen seine Absicht geschieht, denn er ist genau wie jeder andere entschlossen und darauf aus, seine Behauptungen zu begründen. Doch sei es nun wegen der Schwäche des menschlichen Verstandes oder wegen der Schwierigkeit der Materie, er befand sich jedenfalls in der Lage unzähliger Schriftsteller, die auf bewundernswerte Weise die Schwachstellen einer Lehre aufzeigen, aber niemals deren Stärke zu entdecken vermögen. Sie gleichen Soldaten, die das Feindesland in Schutt und Asche legen, ohne ihre eigenen Grenzen verteidigen zu können. Ancillon fand, daß dieser Jesuit über eine »ganz bemerkenswerte Schreibweise verfügte«, und daß er freier war »als die anderen, die aufgrund einer unwürdigen Knechtschaft es nicht wagten, die Ansichten der Schriftsteller ihres Ordens aufzugeben, sondern ihnen mit peinlicher Genauigkeit folgten, als wenn sie unfehlbar wären. (---). Als er die Meinung von Vasquez referiert, sagt er frei heraus, daß er, ›nachdem er alles wohl erwogen habe, auf die Lösung von Père Vasquez nicht viel gebe‹.6 Ich habe bei meiner Lektüre von Arriaga und Oviedo festgestellt«, fügt Ancillon hinzu, »daß immer dann, wenn einer dieser beiden Jesuiten ei5 6

Ders., a. a. O., Kap. 4, S. 32. Man sehe die Mélange critique de litterature, Bd. I, S. 208.

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nen Satz bejaht, der andere ihn verneint. Das trifft man selbst bei den Doktoren der römisch-katholischen Religion ganz allgemein recht selten an, und ich habe so etwas kaum gesehen, außer bei Cornelius a Lapide und Estius.« Es kommt nicht selten vor, daß sich die Jesuiten über unendlich viele Fragen sowohl der Philosophie als auch der scholastischen Theologie gegenseitig widerlegen. Man kann sogar sagen, daß dies ganz gewöhnlich ist. Suarez und Vasquez sind Beispiele dafür.

(C) Er hat mit Hingabe all die Subtilitäten der Scholastiker widerlegt, mit denen sie zeigen, daß zwei kontradiktorische Sätze manchmal wahr und manchmal falsch sind. Er hat all diese Sophismen sehr gut aufgeklärt. Man sehe seine zweite Disputation über die Summulae der Logik.7 Ich habe Professoren gesehen, die in große Verlegenheit gerieten, als man ihnen diese Einwände vortrug, die in Wahrheit nur als Spitzfindigkeiten gelten dürfen, die von Leuten mit zu viel freier Zeit ganz unpassend ausgedacht worden sind; Leuten, die allerdings nicht wie Heraklit behauptet haben, daß ein und dieselbe Sache tatsächlich sein und nicht sein könne. Sie wollten lediglich ihrem Geist eine gewisse Übung verschaffen. Man beachte, daß Aristoteles nicht glaubt, daß Heraklit, wenn er dies gesagt haben sollte, es auch gedacht hat: »Denn es ist unmöglich, daß jemand annimmt, dieselbe Sache sei und sei nicht, wie Heraklit das nach Ansicht einiger vertreten hat. Es ist nämlich nicht notwendig, daß jemand das, was er sagt, auch wirklich meint.«8

7 8

Abschnitt V, Unterabschnitt III f., S. 19 f. in der Ausgabe Paris 1639. Aristoteles, Metaphysica, Buch III  recte: IV  Kap. 3, S. 667 G.

Arriaga

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(D) Er war nicht in der Lage, die Erklärung für eine Erfahrungstatsache zu finden, mit der er sich unnötig abgequält hat. Diese Erfahrungstatsache ist, daß Holz, das viel leichter ist als Wasser, sich hinsichtlich seiner Dicke dennoch nicht ganz über Wasser hält. Ein Holzstamm, der in einem Fluß schwimmt, ist teilweise unter und teilweise über Wasser. Das kann man nicht mit den gewöhnlichen Prinzipien von Schwere und Leichtigkeit erklären, und das war der Grund für die vergeblichen Anstrengungen von Arriaga.9 Die modernen Philosophen finden darin keinerlei Schwierigkeit. Man sehe die Theorie von Herrn Gadroys.

9

Arriaga, Disputat. IV de generat., Abschnitt V, De elementis, Unterabschnitt VI, S. 519.

AUREOLUS

aureolus, Pierre, ein Benediktinermönch und nachmals Erzbischof von Aix, war einer der scharfsinnigsten und berühmtesten Theologen seiner Zeit. Seine Blütezeit war gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Er wurde in Verberie an der Oise geboren und nannte sich Oriol.a Weil er aber nur unter dem latinisierten Namen bekannt ist, den er sich gab, behandele ich ihn hier und mache es nicht wie Moréri, der uns von ›Aureole‹ nach ›Oriol‹ verweist. Man würde ihm diesen Querverweis gern verzeihen, wenn man in seinem Artikel über Oriol alles das fände, was man mit Recht von einem Historiker erwarten darf, der die Lebensbeschreibung dieses berühmten Erzbischofs von Aix zitiert,b aber das findet man dort nicht. Ich kann diese Lücke nicht schließen, denn ich glaube nicht, daß es in den ganzen Vereinigten Provinzen der Niederlande jemanden gibt, der mir das Werk zur Verfügung stellen könnte, an dessen Anfang sich diese Lebensbeschreibung des Aureolus befindet. Was ich mitteilen kann, beschränkt sich auf folgendes. Aureolus war Professor für Theologie an der Universität Paris.c Man legte ihm den Titel ›Doctor facundus‹d bei. Er war Provinzial von Aquitanien, als man ihn zum Erzbischof von Aix ernannte,e und er lebte nicht mehr lange, nachdem er zu dieser großen Würde gelangt war. Man hat gesagt, daß er zum Kardinal erhoben worden ist. Er war ein scharfsinniger Geist, aber zu begierig darauf, sich durch neue Ansichten hervorzutun (B). Es wird behauptet, er habe die Unmöglichkeit der Schöpfung a

Labbe, Dissert. de scriptor. ecclesiast., Bd. II, S. 183. b »Sie steht«, sagt er, »am Anfang des Kommentars von Oriol über den Magister Sententiarum, der 1595 in Rom gedruckt wurde.« c Labbe, De script. ecclesiast., Bd. II, S. 183. d Ders., ebd. e Bellarm., De script. ecclesiast., S. 365.

Aureolus

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vertreten (C). Die Dominikaner hatten in ihm einen fürchterlichen Gegner und ließen ihn von einer ihrer besten Federn sehr energisch widerlegen (D). Ich werde etwas über seine Schriften sagen. Man findet in der Anmerkung (A) das Datum seines Todes.*

(B) Er war zu begierig darauf, sich durch neue Ansichten hervorzutun. Das ist eine sehr gefährliche Charaktereigenschaft, eine Klippe, vor der man sich sehr in Acht nehmen muß. Man sieht so gut wie nie, daß Leute, die über genügend Genie und Wissen verfügen, um die überlieferten Ansichten durchschlagend anzugreifen, auch über genügend Urteilsfähigkeit verfügten, an der richtigen Stelle anzuhalten und das zu erkennen, was nicht die Mühe der Verbesserung lohnt. Hier ist eine Passage, in der ein gesundes Urteil über diese Art von Geistern gefällt wird; unser Aureolus wird darin namentlich erwähnt. »Aus dieser Klasse von Leuten sind zwei hervorragende Köpfe – Durandus und Aureolus – in ein wenig schlechten Ruf gekommen, weil sie ihre außergewöhnlichen Begabungen so frei und bei allen Anlässen einsetzten und dabei die gewöhnlichen Pfade einzig aus dem Grund verließen, um neue Ansichten auszudenken und in Umlauf zu bringen. Es ist aber fraglos ein Kennzeichen eines wenig kultivierten und nicht genügend ausgereiften und geschärften Urteilsvermögens, leichthin und ohne zwingenden Grund vom überlieferten Weg abzuweichen; so daß es schließlich bei jeder beliebigen Frage das Beste ist, auch wenn sie nur scholastische Spitzfindigkeiten betrifft und keinerlei Schaden für die Glaubenslehre oder für die Reinheit der Sitten zu befürchten ist, nicht von den alten Ansichten abzuweichen, solange kein offensichtlicher Grund dazu zwingt.«3 Gleichwohl muß man ein-

* 3

 Diese Anm. nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Théoph. Raynaud, Erotem. de malis ac bonis libr., Nr. 430, S. 250.

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räumen, daß diese neuerungssüchtigen4 und etwas Verwirrung stiftenden Geister manchmal notwendig sind, denn könnte man ohne sie zu beträchtlichen Fortschritten gelangen? Würden wir nicht unter dem Vorwand einschlafen, alles sei bereits gefunden und man müsse sich mit den Ansichten unserer Vorfahren wie mit ihrem Land und ihrem Himmel zufriedengeben? Die Streitereien und Verwirrungen, die von ehrgeizigen, kühnen und furchtlosen Geistern ausgelöst wurden, sind niemals ein bloßes Übel gewesen. Sie mögen ein so großes Übel sein, wie man nur will, aber sie sind nützlich für die Wissenschaften und die Kultivierung des Geistes. Selbst von den Bürgerkriegen kann man gelegentlich dasselbe behaupten. Ein sehr ehrenwerter Mann hat das von den Bürgerkriegen gesagt, die Frankreich im 16. Jahrhundert verwüsteten. Er behauptet, daß sie den Geist oder die Sprache einiger Leute verfeinerten, daß sie das Urteilsvermögen anderer reinigten, daß sie den einen als Reinigungsbad dienten und den anderen als Striegel, um ihren Schmutz abzukratzen. Hier sind seine Worte. Mir scheint, er meinte sich gut genug ausgedrückt zu haben, um es zu verdienen, daß ich ihn hier anführe. »So wie Widrigkeiten oft unerwartet Gutes hervorbringen, so mag dieses größte öffentliche Unheil die Ursache für die Kultivierung des Geistes, Schärfung des Verstandes, Erweiterung des Urteilsvermögens, Verbesserung der Sprache und Reinigung des Stils bei einigen Personen gewesen sein. Man muß deshalb anerkennen, daß die Schicksalsstürme, deren Macht wir verspürt haben, einigen als Bad gedient haben, um den Schmutz abzuwaschen, anderen als Striegel zum Abkratzen des Schmutzes und wieder anderen als Feuer, das Überflüssiges und Unnützes verzehrte. Wenn wir die Sache schließlich richtig beurteilen wollen, sehen wir nun ein, daß dasjenige, was ein öffentliches Unglück war, sich im Privaten und für den Einzelnen als Schleifstein erwiesen hat, an dem er sich schärfte, und als Flamme, durch die das Beste entfacht wurde, was in den Einzel-

4

Darunter verstehe ich keineswegs Leute, die auf notwendige Verbesserungen hinarbeiten.

Aureolus

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nen angelegt war.«5 In Wahrheit würde die Öffentlichkeit gern von derartigen ätzenden Laugen oder Striegeln oder Feilen oder Wetzsteinen oder wie man sie nennen will verschont sein. Es ist besser, krank zu bleiben, als die Heilung so teuer zu erkaufen. Wie dem auch sei, hier haben wir einen Gelehrten, der sich rühmt, in seinem Kommentar über den Magister Sententiarum niemandes Ansicht gefolgt zu sein. Andererseits aber ist er mit seiner Ansicht allein geblieben. Jedermann machte sich ein Vergnügen daraus, ihn zu bekämpfen; man hat ihn mit Ismaël verglichen. »Antonius sagt von ihm (Petrus Aureolus), dieser habe so über das Buch der Sentenzen geschrieben, daß, weil er gegen alle anschrieb, die schon vorher darüber geschrieben hatten, nun auch alle gegen ihn anschrieben.«6

(C) Es wird behauptet, er habe die Unmöglichkeit der Schöpfung vertreten. Ich habe hierüber nur sehr wenige Nachrichten, denn ich kann lediglich versichern, daß Théophile Raynaud, nachdem er einige Gründe des Averroes als sehr schwach zurückgewiesen hat, hinzufügt, daß die Argumente, mit denen Aureolus seinem Verstand eine schlechte Beschäftigung gab, um die Unmöglichkeit der Schöpfung aufzuzeigen, auf dasselbe hinausliefen. (…).7 Man beachte, daß er den Aureolus nicht gelesen hat und dessen Lehre nur insoweit kannte, wie sie von seinem Gegner Capreolus berichtet wurde. Damit ist eine weitere Notwendigkeit für mich gegeben, mich hier nur vorsichtig zu äußern; dennoch glaube ich, mich mit der folgenden Vermutung nicht zu täuschen. Ich nehme an, daß Aureolus die Möglichkeit der Schöpfung nicht schlechthin und absolut geleugnet hat, denn damit hätte er eine dem römischen Glauben sehr entgegengesetzte Meinung vorgetragen. Er hat lediglich behauptet, daß 5 6 7

Carolus Paschalius, De optimo genere elocutionis, S. 124. Spondanus, ad annum 1337, Nr. 10, S. 460. Théoph. Raynaud, Theol. naturalis, Dist. VIII, Nr. 334, S. 1039.

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er es aus diesen und jenen Gründen unmöglich finden würde, daß ein Wesen aus nichts geschaffen wird, wenn der Glaube ihn nicht lehrte, daß die Worte, deren sich die Schrift hinsichtlich der ersten Schöpfung der Welt bedient, im Sinne einer eigentlichen Schöpfung verstanden werden müßten. Nachdem er sich hinter diesem Schutzschild erst einmal in Sicherheit gebracht hatte, konnte er ungestraft seine ganze Geisteskraft aufbieten, um die Unmöglichkeit der Schöpfung zu beweisen: er riskierte nur einen philosophischen Streit, in dem er nicht fürchtete, daß es ihm an den fachtypischen Spitzfindigkeiten und Ausflüchten fehlen würde. Ich bin überzeugt, daß diejenigen Leser, die in ihrem Arbeitszimmer ein Exemplar von Capreolus haben, es neugierig aufschlagen werden, wenn sie dies lesen, um sich darüber zu informieren, ob dieser große Gegenspieler des Aureolus den ganzen Umfang der Streitfrage getreu darlegt. Viele Leute würden sich unter solchen Umständen an der Vorstellung erfreuen, einen Gelehrten zu widerlegen, der die Unmöglichkeit der Schöpfung behauptet hatte, und die verheerenden Konsequenzen dieser Lehre übertrieben auszuführen, ohne darauf hinzuweisen, daß dieser Gelehrte die Interessen der Orthodoxie absichert und noch die scharfsinnigsten Argumente, die das natürliche Licht ihm darbietet, der Autorität der Tradition unterwirft. Ich weiß, daß sich Aureolus in einem anderen Fall auf die Art und Weise verhalten hat, der er, wie ich annehme, hinsichtlich der Schöpfungsfrage gefolgt ist, und das verleiht meiner Vermutung zusätzliche Wahrscheinlichkeit. Er hat gesagt, daß nichts außer der Autorität der Heiligen ihn zu dem Glauben brächte, daß die Transsubstantiation eine wahrhafte Verwandlung des gesamten Brotes in den gesamten Körpers unseres Herrn ist. Das habe ich in einem Werk des Herrn Allix gelesen. (…).8

8

Petrus Allix, Historica de dogmate transsubstantiationis, Vorwort, S. 66.

Aureolus

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(D) Die Dominikaner ließen ihn (---) von einer ihrer besten Federn widerlegen. Das geschah durch eben jenen Capreolus, den ich soeben erwähnt habe. Man ziehe seinen Kommentar über den Magister Sententiarum hinzu. Er attackiert in ihm den Kommentar des Aureolus über eben dieses Buch sehr lebhaft und dringt mit aller Kraft auf ihn ein. (…).9 Er insinuiert, daß die falschen Auslegungen, auf die Aureolus sich stützte und die ihm als Grundlage dienten, um daraus hassenswerte Konsequenzen abzuleiten, nicht immer ihren einzigen Grund in den Dunkelheiten des Geistes hatten, sondern daß die Leidenschaften des Herzens daran beteiligt waren. Ich weiß das nur von Père Baron, der sich folgendermaßen ausdrückt: »Ich erinnere mich, daß Capreolus irgendwo in den Quaestionen zu Buch I der Sentenzen, nachdem er ein Argument des Aureolus zurückgewiesen hat, das dieser aus einer falschen Interpretation unserer Auffassung hergeleitet hatte und das etwas monströs Gottloses und Absurdes darstellte, folgendes bescheiden hinzufügt: Aus unserer Antwort wird klar, daß dieser Einwand des Aureolus aus einem verderbten Verstand hervorgegangen ist, was auch immer die Leidenschaft dazu beigetragen haben mag.«10 Man beachte, daß Constantinus Sarnanus, ein Franziskanermönch und Kardinal, ein Buch verfaßt hat, in dem er vorgibt, die Ansichten von Aureolus mit denen von Capreolus zu versöhnen.11 Er bemüht sich, die gleiche Übereinstimmung zwischen den Lehren des Thomas von Aquin und des Duns Scotus aufzuzeigen.12 Auf gleiche Weise hat man versucht, ein gutes Einvernehmen zwischen Platon und Aristoteles aufzuzeigen. Das heißt, die Leser zum Besten zu haben oder diejenigen unbeabsichtigterweise wahrhaft lächerlich zu machen, die man zu versöhnen sucht. Ein solcher Friede ist schändlich für beide Parteien, und wer das Amt des Vermittlers 9 10 11 12

Labbe, De script. ecclesiast., Bd. II, S. 184. Vincent. Baron., Apologet., Buch I, Abschn. 2, S. 240. Oldoinus, Athen. Roman., S. 176. Ders., ebd.

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übernehmen wollte, hätte schlimme Vorwürfe zu befürchten, wenn die Hauptpersonen der Auseinandersetzung wieder auf die Welt kämen. »Was«, würden sie sagen, »Ihr behauptet, daß hier nur ein Streit um Worte vorliegt und daß wir dieselben Lehren vertreten, ohne das zu merken? Hat uns die Leidenschaft derart überwältigt und uns daran gehindert zu wissen, was wir sagen? Das ist eine regelrechte Satire. Wir wollen keinen Frieden unter so entehrenden Bedingungen. Macht Euch mit Euren Vereinigungsplänen aus dem Staub. Wir wollen den Krieg lieber fortsetzen, als ihn zur Schande unseres Geistes und unserer Kenntnisse beendet zu sehen.« Man beachte, daß bei einigen Angelegenheiten die hitzigsten Kontroversen nur auf einem Mißverständnis beruhen, aber ich glaube nicht, daß man so über den Thomismus und den Skotismus urteilen darf und folglich auch nicht über den Unterschied, der zwischen dem Skotisten Aureolus und dem Thomisten Capreolus besteht.

BEAULIEU

beaulieu, Louis le Blanc, Herr von, ein Prediger und Theologieprofessor in Sedan im 17. Jahrhundert, der sich durch Gelehrsamkeit und Tugend auszeichnete. Er ließ eine große Anzahl theologischer Theses verteidigen, die nach seinem Tod in einem Band versammelt und in England gedruckt wurden. Das Publikum zeigte sich damit so zufrieden, daß diese Ausgabe bald vergriffen war und man 1683 eine weitere Ausgabe in diesem Land druckte.a Wäre er nicht Franzose gewesen, hätte man an den Anfang der ersten oder zweiten Auflage eine Vorrede mit der Biographie dieses Autors gesetzt; denn nur Franzosen sind m.W. so gleichgültig, daß sie die Geschichte und das Leben eines ihrer Vorfahren in Vergessenheit geraten lassen, der sich durch Geist und Werke hervorgetan hat. Einer solchen Gleichgültigkeit muß man die Tatsache anlasten, daß es mir unmöglich ist, Geburtsort und -jahr von Louis le Blanc, den Zeitpunkt seiner Beförderung zum Predigeramt und zur Theologieprofessur sowie andere derartige historische und chronologische Fakten anzugeben. Ich kann nur mitteilen, daß er im Februar 1675 gestorben ist und große Hochachtung seitens des Marschalls de Fabert genoß,b eines der größten Genies seiner Zeit. In Sedan ließ man 1675 einige seiner Predigten drucken. In ihnen hat man aber nicht das größte Verdienst dieses begabten Autors zu suchen, sondern in seinen Theses. Hier behandelt er mit bewundernswerter geistiger Klarheit und großem Scharfsinn die wichtigsten Fragen der Theologie und gibt sich Mühe, Mißverständnisse zu beseitigen, welche die Streitigkeiten stark vermehrt haben. Er ermittelt den Stand der Frage, klärt Äquivokationen auf und zeigt, daß sich viele Streitigkeiten, bei denen es angeblich um a

Es ist die dritte Auflage. Die erste ist die von Sedan in Quart. Die beiden in England gedruckten Ausgaben sind in Folio. b Er war Gouverneur von Sedan.

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die Sache geht, nur um Worte drehen. Man kann kaum glauben, wie sehr ihm das bei unzähligen unwissenden Menschen geschadet hat, die sich einbildeten, er suche in Wahrheit nur, die Reformierten in die römische Kirche zurückzuführen. Wer seine Tugend und Gottesfurcht kannte, kam nicht auf den Gedanken, ihn dessen zu verdächtigen, auch nicht, wer seine Theses sachlich zu beurteilen vermochte. In den entlegenen Provinzen gab es jedoch viele Leute, die ihn nur daher kannten, weil sie gehört hatten, er habe gezeigt, daß die Theologen beider Parteien in bestimmten Dingen nicht so weit voneinander entfernt seien, wie man glaubte. Teils weil diese Leute fürchteten, daß das Trennende, das sie lieber vermehrt sehen wollten, verringert würde, teils weil sie aus schlechter Gewohnheit den Dingen eine üble Deutung gaben oder denen leichtfertig glaubten, die allen Handlungen ihrer Mitmenschen eine böse Absicht unterlegen – jedenfalls stellten sie sich Herrn de Beaulieu als einen falschen Bruder vor, der an dem großen Vorhaben arbeitete, das sich Kardinal Richelieu in den Kopf gesetzt hatte, nämlich die Reunion der Kirchen. Sein eindringender Verstand veranlaßte diesen Professor dazu, gewisse überlieferte und sonst übliche Ausdrücke zu vermeiden, die er ein wenig hinderlich fand. Insbesondere war das beim Thema ›Heilsgewißheit‹ der Fall, was Arnauld Gelegenheit zu einem Streit mit ihm gab. Herr de Beaulieu hatte keine Kinder; seine Witwe, eine sehr verständige und tugendhafte Frau, hat bei der letzten Verfolgung eine heroische Standhaftigkeit bewiesen.c Man hat sie niemals zwingen können, durch ihre Unterschrift ihrem Glauben zu entsagen; nach vieler Drangsal, die sie erleiden mußte, ist sie gestorben, ohne einen Makel auf ihrem Bekenntnis zu hinterlassen. Herr le Blanc, Rat beim Obergericht von Sedan, der Bruder des Herrn de Beaulieu, hat, nachdem er seine Unterschrift geleistet hatte, zweimal versucht, nach Holland zu fliehen, wurde aber unterwegs gefaßt und an seinen Heimatort zurückgebracht.d c

Mr. Quick spricht von ihr in seinen Prolegomena zum Synodicon in Gallia reformata. d Der König erließ ihm die Galeerenstrafe, zu der er verurteilt worden

Beaulieu

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Herr de Beaulieu wurde in den Streit zweier französischer Prediger hineingezogen, bei dem es u. a. um das Prinzip des Glaubens ging. Was ich aus deren Schriften anführe, kann über seine Ansichten und seinen Charakter Aufschluß geben und ist daher nicht überflüssig (E). Manche Leute reden sich ein, daß es in dieser Auseinandersetzung viele Mißverständnisse gibt (F). Er wurde auch wegen seiner Lehre über die Wirksamkeit der Taufe angegriffen. Man sehe das Werk, das ich zitieree und das 1695 in Amsterdam erschienen ist; man sehe darin S. 5 der Vorrede und die Abhandlung am Schluß sowie Herrn Saurins Examen de la théologie de Mr. Jurieu, S. 522 und 550 ff. Übrigens habe ich soeben erfahren, daß Herr de Beaulieu in Plessis-Marly geboren wurde,f wo sein Vater Prediger war, und daß er im Alter von sechzig Jahren und sechs Monaten gestorben ist.

(E) Er wurde in den Streit zweier französischer Prediger hineingezogen (---). Was ich aus deren Schriften anführe, kann über seinen Charakter Aufschluß geben. Beginnen wir mit einer Passage von Herrn Saurin. Er hat gerade gesagt, der Name le Blanc sei »bei uns weniger eine Autorität als vielmehr eine Berühmtheit«12 und fügt folgendes hinzu: Was Herr Jurieu von Herrn le Blanc berichtet, »ist eher geeignet, seine Lehre in Verruf zu bringen als ihr Anerkennung zu verschaffen. Ist es z. B. nicht eine schöne Art, das Ansehen der Schrift und die Wahrheit der christlichen Religion zu verteidigen, wenn man sagt,* ›Es ist notwendig, daß das erste Prinzip des Glaubens weder durch sich selbst noch durch ein anderes

war, weil er das Königreich entgegen dem Verbot verlassen wollte. Remarques sur la confession de Sancy, S. 555 der Ausgabe von 1699. e Recueil de divers traités concernant l’efficace et la nécessité du baptême. f Eine Gutsherrschaft im Besitz des Herrn du Plessis-Mornay. 12 Saurin, Examen de la théologie de Mr. Jurieu, S. 260. * S. 24, Sp. 1.

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Prinzip bewiesen wird und daß es jedenfalls nicht evident ist, weil es genauso wie in den menschlichen Wissenschaften so auch in der Lehre vom Glauben gewisse erste Prinzipien gibt, von denen alle anderen abhängen‹. Wer die Anfangsgründe und das ABC der Kunst zu denken und zu schließen kennt, weiß auch, daß ein Satz, der weder aus sich selbst erhellt noch mittelbar oder unmittelbar durch einen anderen aus sich selbst klaren Satz bewiesen wird, nicht allein kein Prinzip des Wissens oder des Glaubens sein kann, sondern nicht einmal als wahrer Satz gelten kann, solange er in dieses Dunkel gehüllt ist. (---). Herr Jurieu fügt hinzu, daß Herrn le Blanc zufolge ›zwar die Schrift‹, d. h. die Göttlichkeit der Schrift, ›nicht selbstevident ist und sich auch nicht selbst beweisen kann, daß man aber trotzdem daraus nicht schließen kann, daß dies nicht das Prinzip des Glaubens sei und daß man ihre Autorität woandersher borgen müsse.‹13 Diese Worte machen weder der rechten Vernunft noch dem Wort Gottes Ehre. Die Göttlichkeit der Schrift ist durch ihre Merkmale evident. (---). Herr de Beaulieu schließt nicht regelgerecht, wenn er die Einwände, welche die Feinde des Christentums gegen die hl. Schrift vorbringen, folgendermaßen zurückweist: ›Was die frechen Fragen betrifft, die man uns stellt, nämlich wie wir beweisen, daß die Apostel ihre Bücher aufgrund göttlicher Inspiration geschrieben haben, so antworten wir, daß man etwas Unmögliches von uns verlangt, nämlich etwas Unbeweisbares zu beweisen. Wir bekennen daher gern, daß wir das nicht beweisen können, d. h. nicht mathematisch beweisen und demonstrieren können. Aber wir bestreiten, daß daraus folgt, diese Bücher könnten nicht die erste und verläßliche Glaubensregel sein, weil es den Prinzipien des Glaubens eigentümlich ist, daß sie nicht evident sind.‹«14 Man sehe in dem Buch des Herrn Saurin, wie er diese Maximen widerlegt. Hier muß ich die Erwiderung des Herrn Jurieu anbringen. »Es ist eine seltsame Sache«, sagt er,15 »Herrn Saurins stolze, 13 14 15

Saurin, Examen de la théologie de Mr. Jurieu, S. 261. Ebd., S. 262. Jurieu, Défense de la doctrine universelle de l’église, S. 372 f.

Beaulieu

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anmaßende, harte und zornige Worte gegen Herrn de Beaulieu zu lesen, den er an anderer Stelle einen hervorragenden Menschen nennt. Aber weil er die Ansicht des Herrn Jurieu und der gesamten Kirche von der Inevidenz des Glaubensprinzips teilt, muß seine Rechtgläubigkeit hier sehr suspekt sein, muß er den Papismus und den Arminianismus begünstigt haben, ein großer Latitudinarier sein, so viele Menschen gerettet haben, wie er nur konnte, und Absurditäten vorgebracht haben, die es rechtfertigten, ihn noch als ABC-Schützen zu betrachten und es als unklug erscheinen lassen, sich als sein Schüler zu bekennen. Tatsächlich ist es schwer, hier seinen Augen zu trauen. An dieser Stelle sieht man, welchen Vorteil die Lebenden gegenüber den Toten haben, wie der Weise sagt. So einer zupft den toten Löwen am Bart, an den er sich, als er noch lebte, nicht näher als tausend Schritte entfernt heranwagte. (---). Wer den verstorbenen Herrn de Beaulieu gekannt hat, weiß, daß er höchst zurückhaltend in der Offenlegung seiner eigenen Ansichten war: Als ein getreuer Historiker der Meinungen anderer, wenigstens so weit er konnte, aber als sehr verschwiegen, was seine eigenen anging, legte er sich nur in allgemein bekannten und von allen Theologen akzeptierten Dingen fest. Man muß daher glauben, er sei von Sinnen gewesen, wenn man sich einbildet, er habe sich offen zu Sätzen geäußert, die schwer zu verteidigen sind, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß er auf der breiten Heerstraße schritt. Er, der es sich zur Aufgabe machte, die Ansichten aller Theologen zu kennen, und der sich selten für oder wider eine Meinung entschied, sollte eine Tatsache nicht gekannt haben, die Herr Saurin kannte, der große Bibliotheken nur von außen gesehen hat? Oder sollte Herr de Beaulieu so verrückt und so bösartig gewesen sein, eine Gottlosigkeit, die er sich selbst ausgedacht hatte, als die herrschende Meinung hinzustellen? Wem hofft Herr Saurin das einreden zu können? Wer den ersten Teil dieses Werks über die Tatsachenfrage gelesen hat, wird sich für Herrn Saurins Leichtfertigkeit schämen, weil er sehen wird, daß sich all unsere rechtgläubigen Theologen seit Calvin wie Herr de Beaulieu geäußert haben und daß er hier wie fast überall nur Historiker ist. Aber hat Herr de Beaulieu

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in dieser Frage nicht harte, ihm eigentümliche Dinge gesagt? Z. B.« † daß die Beweise für die Göttlichkeit der hl. Schrift nicht den Rang derjenigen haben, die man in den Schulen de fide  Beweise des Glaubens  nennt, daß sie weder aus einem Glaubensprinzip noch aus einer Glaubensregel abgeleitet sind und daß sie für sich allein keinen Glaubensartikel begründen. »Hat irgend jemand das gesagt? Ja, in der Tat, Calvin hat es in kräftigeren Ausdrücken gesagt: Er hat das Vorgeben derer, die den Glauben auf den Buchstaben der Schrift gründen wollen, ›dumm‹ und ›impertinent‹ genannt.«16 Diese Beweise gehören nicht zu denen, die man ›Beweise des Glaubens‹ nennt. (---). »Die andere Beschuldigung, die man gegen Herrn de Beaulieu erhebt,± nämlich ›ein Latitudinarier zu sein, den Weg des Heils zu verbreitern und so viele Menschen zu retten, wie er nur kann‹, ist ebenfalls lächerlich, weil sie mit der Theologie, die Herr Saurin ihm zum Vorwurf macht, unvereinbar ist.17 Er gehörte zu den Strengen in der Frage der Gnade und er glaubte, daß der hl. Geist die Gewißheit des Glaubens unvermittelt bewirkt, wie man soeben gesehen hat. (---). Diese Beschuldigung (---) gründet sich einzig und allein darauf, daß er den Stand einiger Fragen anders erklärt hat, als man sich ihn gemeinhin vorstellt. Falls er sich aber getäuscht haben sollte, wäre das ein reiner Tatsachenirrtum, denn er hat niemals eine laxe Meinung begünstigt noch die Indifferenz der Religionen noch die generelle Duldung aller Sekten vertreten, wie Herr Saurin es tut.« Schließen wir mit Herrn Saurins Erwiderung. »Ich spreche von Herrn de Beaulieu mit all der Achtung und dem Respekt, den er verdient, und ich mache einen großen Unterschied zwischen ihm und Herrn Jurieu: nicht aus dem Grund, den Herr Jurieu mir unterstellt, nämlich daß der eine tot und der andere am Leben ist, sondern weil der noch Lebende dem Toten nicht in allem ähnlich ist. Ich merke jedoch die Fehler des † 16 ± 17

Disput. Bd. IV, De S. Script., Nr. 9. Jurieu, Défense de la doctrine universelle de l’église, S. 378 f. Saurin, S. 399. Jurieu, Défense de la doctrine universelle de l’église, S. 381.

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Herrn de Beaulieu als die Fehler eines großen Mannes an. Das ist erlaubt. Ich schicke ihn nicht zu den ABC-Schützen zurück, wie Herr Jurieu mir zwei- oder dreimal vorwirft. Ich sage nur, daß‚ ›wer die Grundlagen und das ABC der Kunst zu denken und zu schließen kennt, auch weiß usw.‹18 (---). Das ist gewiß, und diese Ausdrucksweise ist denen erlaubt, die überzeugt sind. (---).19 Ich tue Herrn de Beaulieu kein Unrecht an, wenn ich ihn als Latitudinarier bezeichne. Er war es nicht in dem abschätzigen Sinn, den Herr Jurieu dieser Bezeichnung gibt, indem er unter einem Latitudinarier so etwas wie einen Atheisten versteht. Bis zu einem gewissen Grad war er das aber. Die Art, wie er den Stand einiger unserer Streitigkeiten mit den Papisten und den anderen Religionsgemeinschaften über die Rechtfertigung, die Heilsgewißheit und andere Gegenstände erklärt, ist ein Beweis dafür, und unsere fähigen und aufrichtigen Theologen sind sich darüber einig.« Da Herr Jurieu hierauf nicht erwidert hat, beschließe ich hiermit diese Anmerkung.

(F) Es gibt viele Mißverständnisse in dieser Auseinandersetzung. Man erwäge genau die Worte des Herrn de Beaulieu, die ich oben angeführt habe.20 Sie zeigen, daß er glaubte, die Inspiration der heiligen Bücher lasse sich nicht mathematisch demonstrieren. Man vergleiche das mit dieser Erwiderung des Herrn Saurin: »Wenn Herr le Blanc unter einer mathematischen Demonstration eine solche versteht, gegen die Fleisch und Blut keine Einwände erheben können, dann kann man zugeben, daß die Göttlichkeit der Schrift sich nicht mathematisch demon18

Saurin, Défense de la véritable doctrine de l’église réformée, S. 164 f. 19 Man beachte, daß Herr Saurin nicht gesagt hat, wie ihm sein Gegner unterstellt und worauf er seine heftigen Worte gründet, »Wer das ABC kennt«, sondern »Wer das ABC der Kunst des Denkens kennt«. Die Weglassung dieser letzten Worte ist ein hinterlistiger Streich. 20 Fußn. (14).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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strieren läßt. Aber das hindert nicht, daß sie moralisch demonstriert wird auf eine Art, die jeden Zweifel ausschließt, was Herrn Jurieus Prinzipien strikt zuwiderläuft.«21 Zeigt nicht der Vergleich dieser beiden Passagen, daß Herr de Beaulieu und Herr Saurin im Grunde dasselbe lehren? Der eine wie der andere gibt zu, daß die Göttlichkeit der Schrift nicht mathematisch bewiesen werden kann. »Behauptet Herr Saurin aber nicht«, werdet ihr sagen, »daß sie durch eine moralische Demonstration bewiesen werden kann?« Ich räume es ein, aber ich müßte mich sehr täuschen, wenn er beweisen könnte, daß Herr le Blanc nicht dasselbe gelehrt hat. Ich bin sicher, daß dieser Theologe nie bestritten hat, daß die Beweise für die Göttlichkeit der Schrift als moralische Demonstration gelten können. Er hat kein Interesse daran, das zu bestreiten, denn aus dem Eingeständnis, daß sich etwas nicht durch mathematische Demonstration beweisen läßt, folgt nicht, daß man mit gültigem Schluß behaupten darf, daß es nicht moralisch demonstriert werden kann. Gehen wir näher auf das Mißverständnis ein. Herr Saurin bildet sich ein, daß nach dem Prinzip seines Gegners die Beweise für die Göttlichkeit der Schrift nicht jeden Zweifel ausschließen. Das ist voll von Äquivokationen. Sein Gegner behauptet gar nicht, daß allen denjenigen, die das Gewicht und die Kraft dieser Beweise begriffen haben, noch irgendwelche Zweifel bleiben müssen, er nimmt ihnen weder die volle Gewißheit noch die feste Überzeugung; er behauptet nur, daß sie nicht sehen, daß das Gegenteil unmöglich ist, wie man das bei Dingen sieht, die mathematisch demonstriert worden sind. Es passiert uns alle Tage, daß wir von einer Sache völlig überzeugt sind und nicht im geringsten an ihr zweifeln, obwohl wir wissen, daß das Gegenteil möglich ist. Ein Reisender, der in eine Schenke einkehrt, deren Wirt er überhaupt nicht kennt, ißt ohne Bedenken, was man ihm am Tisch serviert. Er weiß wohl, daß die Speisen vergiftet sein könnten, und daß die Annahme, daß durch Zufall oder böse Absicht ein Gift in diese Lebensmittel gelangt ist, weder einen metaphysischen noch einen physischen noch einen 21

Saurin, Examen de la théologie de Mr. Jurieu, S. 262 f.

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moralischen Widerspruch bedeutet. Ihm ist bekannt, daß es Beispiele für derartige Fälle gibt, und doch ist er überzeugt, daß er bei dieser Gelegenheit nichts zu befürchten hat. Er ißt in der festen Überzeugung, daß er nicht vergiftet wird. Noch weniger Zweifel haben wir, wenn wir bei einem Freund essen; nichtsdestoweniger sind wir fest von der Möglichkeit überzeugt, daß die Speisen vergiftet sein könnten. Man darf daher einen Theologen nicht kritisieren, der versichert, daß wir von der Wahrheit der Lehren, die unsere Pastoren uns verkünden, vollkommen überzeugt sind, obwohl die Gründe, auf die sie sie stützen, uns nicht erkennen lassen, daß es sich unmöglich anders verhalten kann. Erinnern wir uns, daß Herr Saurin auf den Anspruch geometrischer Beweise verzichtet; er begnügt sich mit einer moralischen Demonstration, gegen die Fleisch und Blut keine Einwände vorbringen können. Nun ist just dies die Lehre seines Gegners; sie haben sich also gestritten, ohne zu wissen warum. Herr Jurieu erklärt, er habe nichts gesagt, was darauf hindeuten könnte, daß er »die Überzeugung des Gewissens ausschließt«;22 er behauptet, gezeigt zu haben, daß die Merkmale der Göttlichkeit, die sich in der Schrift finden, »bei einem billig urteilenden und unvoreingenommenen Menschen ohne die Hilfe des göttlichen Geistes eine Art Gewißheit erzeugen können. Aber erstens gibt es keinen vorurteilsfreien Menschen in der Welt; denn alle, die noch nicht bekehrt sind, stecken in den Vorurteilen des Fleisches. Außerdem verlangen wir nicht irgendeine Gewißheit, sondern eine solche, die alle Gewißheit übertrifft, sogar die der demonstrationsfundierten Wissenschaften. (---).23 Diese Merkmale sind sicherlich nicht von der Art, daß sie bei einem wohldisponierten Menschen eine theoretische Gewißheit erzeugen können, die der Gewißheit der geometrischen Wissenschaft gleichkommt. (---).24 Er sagt 1) daß es vor der Gewährung der Gnade keinen dieser wohldisponierten Menschen in der Welt gibt; 2) daß ein billig urteilender und vorurteilsfreier Mensch 22 23 24

Jurieu, Défense de la doctrine universelle de l’église, S. 341. A. a. O., S. 344. A. a. O., S. 345.

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sogar ohne Gnade eine Art Gewißheit von der Göttlichkeit der Schrift erlangen könnte; 3) daß die Gewißheit, die wir verlangen, eine solche ist, die jede Gewißheit geometrischer Demonstrationen übertrifft.«25 Man beachte auch noch dies: Herr Jurieu erklärt, der Sinn seiner Worte sei gewesen, »daß diese inneren und äußeren Merkmale, die unsere Gelehrten gemäß der Kunst der Logik und der Rhetorik in ihren Werken zusammengestellt und geordnet haben, indem sie zunächst selbstevidente Prinzipien zugrunde legten und dann den Verstand von einer Schlußfolgerung zur anderen führten, einen Beweis für den Verstand ergeben, der stärker ist als die gewöhnlichen moralischen Demonstrationen. Wenn dieselben Merkmale aber nackt und kunstlos präsentiert werden, ergeben sie keine moralische Demonstration, vor allem nicht für die schlichten Gemüter, die man an die Hand nehmen muß und die sonst nicht an den Stellen vorbeikommen würden, die einen scharfen Geist und gründliches Studium verlangen. Die Mehrzahl unserer schlichten Gemüter hat niemals bewußt auf die Demonstration geachtet, die man ›moralisch‹ nennt. Aber alle diese Merkmale zusammengenommen, die keine moralische Demonstration für den Verstand ausmachen, insbesondere nicht für die schlichten Gemüter, ergeben einen Beweis des Gefühls, der über jeden Einwand erhaben und ebenso lebhaft ist wie die Einwirkung der Sonne auf die Augen.«26 Da sieht man also schließlich, daß diese Herren gleicher Meinung sind. Der eine behauptet nicht, daß es hier mathematische Demonstrationen gibt, der andere verzichtet auf sie. Der eine verlangt, daß man ihm moralische Demonstrationen zugesteht, der andere stimmt dem zu. Das Plausibelste, das sich zugunsten von Herrn Saurin sagen läßt, ist, daß Herr Jurieu seine Meinung anfangs nicht gut entwickelt hat und daß er sie anscheinend – wie gewohnt – in Widerspruch zu sich selbst entwickelt hat. Außerdem glaube ich, daß er zu Beginn seiner Überlegungen zu diesem Thema die Natur moralischer Demonstrationen nicht recht eingesehen hat. Er hat sich eine zu hohe 25 26

Ebd. A. a. O., S. 343.

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Vorstellung von ihnen gemacht, und das ist anscheinend der Grund gewesen, weshalb er nicht zu behaupten wagte, daß die Beweise für die Göttlichkeit der Schrift einen so hohen Grad der Evidenz erreichen. Wenn er die wahre Natur dieser Art von Demonstration gekannt hätte, hätte er sich weniger exponiert. Im Unterschied zu geometrischen Demonstrationen besteht eine moralische Demonstration nicht in einem unteilbaren Punkt. Sie läßt ein Mehr oder Weniger zu und reicht von großer bis zu sehr großer Wahrscheinlichkeit. Das sind Grenzwerte, und daher ist es ein weiter Weg von der Stelle, wo unsere Beweise anfangen, den Namen ›moralische Demonstration‹ zu verdienen, bis zu der Stelle, wo sie anfangen, zu Recht eine physische oder metaphysische oder geometrische Demonstration zu heißen. Vielleicht hat dies Herrn Jurieu getäuscht: Er sah, daß die Gewißheit und Evidenz, mit der wir erkennen, daß es einen Julius Cäsar, eine römische Republik usw. gegeben hat, nicht als Wissen gilt, sondern nur als menschlicher Glaube, als Meinung, allerhöchstens als Ergebnis einer moralischen Demonstration; und da er nicht sah, daß die Inspiration der Schrift mit ebenso überzeugenden Argumenten bewiesen werden kann wie die Existenz eines Cicero, scheute er sich zu sagen, daß es eine moralische Demonstration für diese Inspiration gibt. Falls er so dachte, verkannte er das Wesentliche der Sache. Denn es trifft nicht zu, daß eine schlichte moralische Demonstration die Grundlage der Gewißheit und Evidenz ist, mit der wir erkennen, daß es eine römische Republik gegeben hat; es trifft auch nicht zu, daß unsere Überzeugung hiervon ein Akt menschlichen Glaubens oder eine Meinung ist. Es ist ein Wissen im eigentlichen Sinne des Wortes, es ist der Schlußsatz eines Syllogismus, dessen Ober- und Untersatz klare und notwendig wahre Aussagen sind. Es gibt hier zumindest eine physische Demonstration. Die Schulphilosophen haben das gewußt. »Dies ist kein Akt des Glaubens, sondern des Wissens, denn er stützt sich nicht auf menschliches Zeugnis, sondern auf den physischen Widerspruch, den ich darin sehe, daß so viele Menschen sich darauf verständigt haben sollen zu lügen. (…). Jene Zustimmung beruht auf zwei Prinzipien, denen wir beipflichten müs-

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sen: Das erste lautet: Es ist unmöglich, daß so viele Menschen in so vielen Jahrhunderten sich darauf verständigten zu lügen. Das zweite Prinzip lautet: Das sagen so viele Menschen in so vielen Jahrhunderten.27 Wie dem auch sei, Herr Jurieu hat sich am Ende besser erklärt.

Betrachtung darüber, daß Herr Saurin die Einwände der Ungläubigen dem Fleisch und Blut zuschreibt Ein Wort zu Herrn Saurins Bemerkung, daß »wenn Herr le Blanc unter einer mathematischen Demonstration eine solche versteht, gegen die Fleisch und Blut keinen Einwand erheben, er dann anerkennen würde, daß die Göttlichkeit der Schrift nicht mathematisch demonstriert werden kann«.28 Es wäre zu wüschen, daß wir eine allgemeine Regel hätten, nach der wir Einwände erkennen, die ausschließlich vom Fleisch und Blut stammen; denn jede christliche Sekte führt die Einwände, die ihr die anderen machen, auf diesen Ursprung zurück. So schlägt man nur den Ball zurück; und weit davon entfernt, den Streit um eine Lehre mit dem Satz zu entscheiden, daß sie nur mit Einwänden bekämpft wird, die vom Fleisch und Blut stammen, entfacht man einen ewigen Streit, wenn man wissen will, ob ein Einwand seinen Ursprung in Fleisch und Blut hat. Ich füge hinzu, daß es Wahrheiten gibt, die ein Mensch mit dem größten Interesse an ihrer Bekämpfung, ein höchst voreingenommener, höchst leidenschaftlicher Mensch nicht bestreitet. Porphyrius, der große Feind der christlichen Religion und mächtige Eiferer für das Heidentum, stimmte gewissen Tatsachenwahrheiten zu, die von den Christen vorgebracht wurden. Im Interesse seiner Sache und seiner Leidenschaft hätte er sie leugnen müssen, denn im Streit bedeutet es einen großen Vorteil, wenn man die Tatsachen mitsamt ihren Konsequenzen zurückweist. Herr Saurin 27

Petrus Hurtadus de Mendoza, Disput. VIII de anima, Abschn. 3, Nr. 24, S. 570. 28 Saurin, Examen de la théologie de Mr. Jurieu, S. 262.

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ist fest davon überzeugt, daß die Einwände der Reformierten gegen die römische Kirche nicht auf Fleisch und Blut zurückgehen, und er weiß sehr wohl, daß die Reformierten, wenn es um ein Reliquienwunder geht, die Tatsache bestreiten und hinzufügen, daß, selbst wenn dieses Wunder feststünde, es nicht die Legitimität des Reliquienkults beweisen würde. Somit hätte Porphyrius gemäß den besten Regeln des Streits, die von den Orthodoxen strikt beachtet werden, es sich zur Regel machen können, den Christen nicht nur die Konsequenzen der Tatsachen, sondern die Tatsachen selbst zu bestreiten. Fleisch und Blut, will sagen Vorurteile und Leidenschaften, hätten ihn dazu bringen müssen. Denn je mehr Beweise man von seinem Gegner fordert, desto mehr bringt man ihn in Verlegenheit und ermüdet ihn. Weshalb hat also dieser Feind Jesu Christi bestimmte Tatsachen nicht bestritten, die von den Aposteln vorgebracht wurden? Doch wohl deshalb, weil sie mit Argumenten verteidigt werden konnten, die viel klarer waren als die Argumente für das von ihm Bestrittene. Ich entscheide nichts; es genügt mir zu sagen, daß Fleisch und Blut manchmal die Waffen strecken und sich einem Licht unterwerfen, das ihnen nicht gefällt.

CHARRON

charron, Pierre, ist Autor eines Buchs, das großes Aufsehen erregt hat und das den Titel De la sagesse trägt. Er wurde im Jahr 1541 in Paris geboren und absolvierte hier sehr erfolgreich seine Schulbildung und sein philosophisches Grundstudium. Danach studierte er Bürgerliches und Kanonisches Recht in Orleans und Bourges und erwarb das Doktorat in dieser Wissenschaft an der zuletzt genannten Universität. Nach seiner Rückkehr nach Paris und der Zulassung als Anwalt des Parlaments erschien er fünf oder sechs Jahre lang fleißig bei Gericht; aber da er voraussah, daß es schwierig sein würde, auf diesem Weg Karriere zu machen, weil er sich nicht soweit erniedrigen wollte, Staatsanwälten und Prozeßbevollmächtigten den Hof zu machen, widmete er sich mit ganzem Ernst dem Theologiestudium und der Kanzelpredigt. Er wurde ein so großartiger Prediger, daß mehrere Bischöfe sich bemühten, ihn für ihre Diözese zu gewinnen. Arnaud de Pontac, Bischof von Bazas, der ihn im Jahr 1571 in der St. Pauluskirche hatte predigen hören, faßte große Zuneigung zu ihm und »brachte ihn nach Xaintes, Bordeaux und in sein Bistum sowie an andere Orte der Gascogne und des Languedoc.«a Durch seine Beredsamkeit erwarb er sich ein derartiges Ansehen, »daß man ihn überall haben wollte und mehrere Bischöfe, in deren Diözese er gepredigt hatte, ihm das großzügige Angebot eines theologischen Kanonikats an ihren Kirchen sowie andere Würden und Pfründen anboten und ihm verschiedene (---) Geschenke machten.« Er wurde »nacheinander Kanonikus von Bazas, Acqs, Lethoure, Agen, Cahors und Condom, Kanonikus und Schulaufseher der Kirche zu BorIch zitiere wörtlich aus der Lobrede, die ich in Fußn. (1) nenne.  Sie lautet: Éloge de Pierre Charron, par G. M. D. R. (d. h. George Michel de Rochemaillet), am Anfang der Bücher De la sagesse, in der Ausgabe Paris 1607. Hgg.  a

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deaux und Kantor der Kirche von Condom. Königin Margarethe behielt ihn als ihren ordentlichen Prediger. (---). Er gehörte auch zum Gefolge des Kardinals d’Armagnac«, des Legaten von Avignon. Er strebte nicht den Grad eines Baccalaureus, Licentiaten, Doktors oder Professors der Theologie an, sondern begnügte sich mit dem Titel ›Priester‹. Siebzehn oder achtzehn Jahre lang kam er nicht nach Paris, und nach seiner Rückkehr dorthin im Jahr 1588 hatte er den Wunsch, seine Tage unter den dortigen Kartäusern zu beschließen. Er hatte nämlich ein Gelübde abgelegt, diesem Orden beizutreten, und teilte dies dem Prior der Kartause mit.b Es gab Gründe, ihn nicht aufzunehmen; er wandte sich an den Prior der Coelestiner und stieß auf die gleichen Hindernisse, woraufhin sich Kasuisten fanden, die ihn als von seinem Gelübde entbunden erklärten. Deshalb beschloß er, sein Leben als weltlicher Priester zu endigen. In Angers hielt er im Jahr 1589 die Fastenpredigten, dann ging er nach Bordeaux, wo er eine sehr enge Freundschaft mit Michel de Montaigne schloß (B). Im Jahr 1594 veröffentlichte er sein Buch Les trois véritez (C), das ihm die Würde eines Großvikars des Bischof von Cahors eintrug sowie das theologische Kanonikat. Im Jahr 1595 entsandte man ihn zur Generalversammlung des Klerus,d wo er zu deren Erstem Sekretär gewählt wurde. Nach seiner Rückkehr blieb er bis zum Jahre 1600 in Cahors und verfaßte dort u. a. die drei Bücher De la sagesse. In Bordeaux ließ er im Jahr 1600 seine Discours chrétiens drucken (D). Er hielt sich nicht mehr in Cahors auf, sondern hatte sich bereits in Condom niedergelassen, wo er die ihm vom Bischof angebotenen Ämter des theologischen Kanonikus und des Kantors angenommen hatte. In Bordeaux veröffentlichte er 1601 seine Abhandlung De la sagesse. Zwei Jahre danach unternahm er eine Reise nach Paris, um einem Bischof für das Angebot des theologischen Kanonikats seiner Kirche zu danken und um dort eine Neuausgabe dieser Schrift zu besorgen. Er lebte nicht lange geb

Er hieß Jean Michel und starb als Generalprior der Großen Kartause in der Dauphiné. d Sie wurde in Paris abgehalten.

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nug, um mehr als fünf oder sechs neugedruckte Bogen davon zu sehen: am 16. November 1603 ist er plötzlich auf der Straße gestorben. Der Druck dieses Werks wurde trotz fast unendlich vieler zu überwindender Hindernisse vollendet;e denn da der Autor vieles gemäß seinen philosophischen Einsichten sagte, konnte er populäre und abergläubische Vorstellungen nicht angreifen, ohne Grundsätze ins Spiel zu bringen, die scheinbar die Wahrheiten der Religion erschütterten. Deshalb erhoben sich viele Leute gegen sein Buch und verschrieen es als eine Keimzelle der Gottlosigkeit. Es fanden sich jedoch bedeutende Köpfe, die gegen diese Verfolgung Front machten und die notwendigen Unterscheidungen trafen. Zum Glück für das Andenken Charrons und für sein Werk kümmerten sich Staatsmänner von ebenso glänzender Begabung wie großer Autorität um diese Angelegenheit, sonst wäre er wüst beschimpft und sein Werk vollständig unterdrückt worden. Auch hatte er immer gewünscht, von solchen Personen beurteilt zu werden: er versprach sich nicht die gleiche Billigkeit von denen, die sich von Berufs wegen allzusehr aufregen und sich deswegen angewöhnt haben, alles, was ihren Vorurteilen zuwiderläuft, vorschnell zu verurteilen. Einige glauben, daß es Frankreich zum Ruhme gereicht, die Veröffentlichung dieses Buches trotz des Widerstandes und des Murrens vieler Leute zugelassen zu haben. Man hat damit gezeigt, daß man das tyrannische Joch nicht guthieß, das so viele dem Geist auferlegen wollten, sondern die Freiheit des Philosophierens billigte, solange sie sich in bestimmten Grenzen hielt. Der heftigste Kritiker, der gegen das Buch De la sagesse auftrat, ist ein Jesuit namens Garasse. Er hat Charron in das Verzeichnis der gefährlichsten und bösartigsten Atheisten aufgenommen (H). Er war zu sehr von der niedrigsten Voreingenommenheit durchdrungen,f als daß er die Kraft zu der Einsicht gehabt hätte, e

Entnommen aus der Éloge de Pierre Charron, am Anfang von De la sagesse. f »Mein Freund Garasse, ›Quae supra nos nihil ad nos‹  Was über uns ist, geht uns nichts an ; Charrons Bücher sind ein wenig zu hoch für niedrige und schlichte Gemüter wie Ihr.« Ogier, Jugement et censure de la doctrine curieuse, S. 155.

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daß man einen großen Unterschied machen muß zwischen dem, was ein Mensch durch die Wirksamkeit des Glaubens annimmt, und dem, was seinem aufrichtigen Eingeständnis zufolge die Vernunft ihm in Bezug auf die religiösen Dogmen nahelegt. Eines der Dinge, die dieser Jesuit am heftigsten und boshaftesten getadelt hat, ist im Grunde ganz vernünftig, und wenn man es aufmerksam liest, kann man nicht umhin, es so zu finden und sich entweder an der Unwissenheit oder der Unaufrichtigkeit dieses Rechthabers zu stoßen. Das betrifft einen gewissen Grad an Stärke, den Pierre Charron denen zuschreibt, die den Glauben an das Dasein Gottes ganz abschütteln (I). Diese Kritiker haben die Hinweise nicht beachtet, die er gegeben hatte und die sie von leichtfertigen Urteilen hätten abhalten können (K). Wie dem auch sei, der Lebenswandel dieser Person war tadellos, und aus seinen Schriften wie aus seinen Handlungen läßt sich leicht beweisen, daß er die Wahrheiten des Christentums nicht anzweifelte (L). Das Schlimme und das große Unglück ist, daß sich in einem beliebigen Jahrhundert unter 100 000 Lesern kaum drei finden, die zu den erforderlichen Unterscheidungen imstande sind, wenn es um ein Buch geht, in dem die Begriffe exakten metaphysischen Denkens den am weitesten verbreiteten Meinungen entgegengestellt werden. Daß Moréri für Charron Partei genommen hat (M), wundert mich; denn er hätte sich in die Kritik eingeschlossen fühlen können, die der Kupferstich zu Anfang des Buches De la sagesse dem Publikum vor Augen führt. Diese Abbildung scheint Sympathie mit den Pyrrhoneern auszudrücken (N). Ich muß etwas zu dem sagen, was Herr Sorel mit Blick auf unseren Autor bemerkt. Das wird eine passende Gelegenheit sein, zwei Passagen zu zitieren, die das meiste Geschrei gegen unseren Theologen verursacht haben; die eine betrifft die Unsterblichkeit der Seele, die andere bezieht sich auf die Religion schlechthin. Ich glaube sagen zu können, daß die Aufrichtigkeit, mit der dieser Gelehrte die Einwände hiergegen in ihrer ganzen Stärke wiedergibt, mächtig dazu beigetragen hat, Zweifel an seiner christlichen Überzeugung zu wecken. Fest steht, daß er die Einwände der Freigeister nicht abgeschwächt hat (P). Ich will ein Beispiel hierfür anführen, das sich

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auf die Spaltungen der Christen und auf den Haß bezieht, den sie gegeneinander hegen. Es ist merkwürdig, daß im Jahr 1607g keine männlichen Nachkommen Thibaud Charronsh mehr lebten, des Vaters des Mannes, von dem dieser Artikel handelt, obwohl er fünfundzwanzig Kinder hatte, vier von seiner ersten Frau und einundzwanzig von der zweiten.i,k

(B) Er schloß eine sehr enge Freundschaft mit Michel de Montaigne. Die Essais dieses Autors schätzte Charron »über alles« und machte sich mehrere Maximen daraus zu eigen. Ohne unbesonnen zu sein, darf man glauben, daß derjenige der beiden Freunde, der den anderen hätte unterweisen sollen, in Wahrheit sein Schüler war und daß der Theologe mehr von dem Edelmann lernte als dieser von dem Theologen. In seinen Büchern De la sagesse finden sich unzählige Gedanken, die schon in Montaignes Essais stehen. Zweifellos hat Charrons Gelehrigkeit viel dazu beigetragen, daß Montaigne eine ganz besondere Zuneigung zu ihm faßte und ihm in seinem Testament »erlaubte, nach seinem Tod das Wappen seiner vornehmen Familie zu führen, weil er keinen männlichen Nachkommen hatte.«2 In seinem eigenen Testament bewies Charron echte Dankbarkeit, denn er vermachte fünfhundert Taler der Frau Leonor de Montaigne, Ehefrau des Herrn de Camien, Parlamentsrats zu Bordeaux, der guten Schwester und Gesellschafterin des verstorbenen Herrn de Montaigne, Ritters des königlichen Ordens, und bestimmte »besagten Herrn de Camien zu seinem alleinigen und allgemeinen Erben, der die in dem Testament enthaltenen

g h i k 2

Éloge de Charron, am Anfang. Er war Buchhändler in Paris. Diese war die Mutter Charrons. Éloge de Charron, am Anfang. Éloge de Pierre Charron, a. a. O.

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Vermächtnisse auszahlen und ausführen mußte, die sich auf beinahe 15000 Pfund Tournois beliefen.«3

(C) Im Jahr 1594 veröffentlichte er in Bordeaux sein Buch »Les trois véritez«. Seinen Namen nannte er darin nicht. Hier sind die drei Wahrheiten: I. Es gibt einen Gott und eine wahre Religion. II. Von allen Religionen ist die christliche die wahre. III. Von allen christlichen Glaubensgemeinschaften ist die römisch-katholische die einzig wahre Kirche. Mit der ersten Wahrheit bekämpfte er die Atheisten, mit der zweiten die Heiden, Juden und Mohammedaner und mit der dritten die Häretiker und Schismatiker. Das Werk ist sehr methodisch angelegt. Im letzten Teil greift er den Traité de l’église an, den du Plessis-Mornay sechzehn Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Ein reformierter Autor publizierte in La Rochelle bald eine Antwort4 zugunsten des Traité von du Plessis. Das Werk Les trois véritez fand den Beifall der Katholiken; man hat es zwei- oder dreimal in Paris nach dem Text der Ausgabe von Bordeaux gedruckt und danach in Flandern mit der Verfasserangabe ›Benoit Vaillant, Anwalt des heiligen Glaubens‹ publiziert.5 Durch die Veröffentlichung dieses Werks erregte Charron die Aufmerksamkeit »des Herrn Antoine d’Ebrard de S. Sulpice, Bischof und Graf von Cahors, der Charron nicht persönlich, aber aus der Lektüre seines Buches kannte, ihn zu sich kommen ließ, zu seinem Generalvikar ernannte und ihm das theologische Kanonikat seiner Kirche übertrug. Dieser nahm es an, und während seiner Zeit in Cahors ließ er im Jahr 1595 sein Buch ein zweites Mal in Bordeaux drucken, wobei er seinen Namen angab und das Buch um eine Erwiderung auf die in La Rochelle erschienene Antwort auf seine dritte Wahrheit erwei3

Ebd. Sie wurde im Jahr 1595 in Genf von Gabriel Cartier neu in Oktav gedruckt. 5 Éloge de Pierre Charron. 4

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terte.«6 François du Jon (oder Junius), Professor der Theologie in Leiden, verfaßte eine Antwort7 auf diese zweite Auflage von Les trois véritez und veröffentlichte sie auf französisch im Jahr 1599. Er nahm auch die Schrift seines Gegners vollständig in sie auf. Man beachte, daß Charron sie revidiert und »seit der Auflage von 1595 stark erweitert« sowie »eine zweite Erwiderung zur zweiten Antwort auf die dritte Wahrheit« verfaßt hatte.8 All das ist nach seinem Tod druckfertig in seinem Studierzimmer gefunden worden. Es gab Hoffnungen, daß sein Universalerbe dieses Manuskript veröffentlichen und dem Kardinal de Joyeuse widmen würde.9

(D) Im Jahr 1600 ließ er seine (---)»Discours chrétiens« drukken. Es sind sechzehn an der Zahl. Die ersten acht behandeln die Eucharistie, die anderen die Erkenntnis und Vorsehung Gottes, die Erlösung der Welt und die Gemeinschaft der Heiligen.10

(H) Garasse hat Charron in das Verzeichnis der gefährlichsten und bösartigsten Atheisten aufgenommen. Noch nie hat man eine so heftige Wut wie die seinige gesehen. Ein Buch wäre erforderlich, wollte man alle Beleidigungen herausschreiben, die er in seiner Somme théologique, seiner Doctrine curieuse usw. gegen Charron ausgestoßen hat. (…). Der Abbé de Saint Cyran hat Charrons Ehre nicht der giftigen Verleumdung durch diesen Kritiker überlassen: er ergriff Partei für ihn, als er die Mängel der Somme théologique von Garasse auf6 7 8 9 10

Ebd. Das ist ein dicker Quartband. Éloge de Pierre Charron. Ebd. Ebd.

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deckte.19 Ich erinnere mich u. a., daß er die Ungerechtigkeit dieses Kritikers beklagte, der einen Druckfehler dazu mißbrauchte, um eine seltsame Invektive in Umlauf zu bringen. Der ganze Kontext bei Charron zeigt, daß er sagen wollte, Gott handele »in der Zeit«  temporellement , aber der Drucker machte daraus »unbesonnen«  témérairement . Man sehe, was ich weiter unten von dem Prior Ogier zitiere.

(I) (---). Das betrifft einen gewissen Grad an Stärke, den Pierre Charron denen zuschreibt, die den Glauben an das Dasein Gottes ganz abschütteln. Damit man seine Lehre in diesem Punkt richtig beurteilen kann, muß man alle seine Worte abwägen und nichts von dem weglassen, was er sagt, was es auch sei. Hier kommt die Passage in der notwendigen Vollständigkeit: »Diese erste, auffallende, ausgeprägte und allgemeine Art von Atheismus20 kann nur in einer außerordentlich starken und kühnen, (…) rasenden und wütenden Seele wohnen. Gewiß scheint es so, daß man ebensoviel und (vielleicht) mehr seelische Stärke und Standhaftigkeit braucht, um die Furcht vor Gott und den Glauben an ihn zurückzuweisen und entschlossen von sich abzustreifen, als um treu und beständig an ihm festzuhalten. Das sind die beiden entgegengesetzten Extreme; sie sind sehr selten und schwierig, das erste noch mehr als das zweite. Alles, was in der Mitte zwischen ihnen liegt, verlangt eine mittelmäßige Stärke und Tugend, die darin besteht, sich nicht von Gott lossagen zu können, sondern schwach und halbherzig an ihm festzuhalten. Hier in der Mitte befinden sich fast alle Menschen, in unzähligen Graden quantitativ abgestuft. (---). Um fest und unverbrüchlich an Gott festzuhalten, ist eine sehr große Stärke und angespannte Wach19

Man sehe die Somme des faussetez capitales contenues en la Somme théologique du Père Garasse, Bd. II, S. 346 f. 20 D. h. der Atheismus derjenigen, welche die Gottheit strikt verneinen und die beweisen wollen, daß es Gott überhaupt nicht gibt.

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samkeit der Seele erforderlich, eine herausragende und spezielle göttliche Gunst und Gnade sowie der beständige Beistand des hl. Geistes. Umgekehrt, um sich des Glaubens an Gott und der Furcht vor ihm zu entledigen, d. h. um etwas zurückzuweisen, das tief in unserem Innersten wurzelt, ist eine ungeheure und exzessive seelische Stärke erforderlich, die schwer zu finden ist, so sehr sich auch diese großen und herausragenden Atheisten zwanghaft darum bemüht haben, die in hochfliegender und wilder Kühnheit die Gottheit über ihnen abschütteln und sich jedes höhere Wesen vom Halse schaffen wollten. Aber selbst diejenigen, die sich am geschicktesten darum bemühten, haben ihr Ziel nicht annähernd erreicht. Denn solange es ihnen gut ging und sie ungezwungen reden konnten, schienen sie es geschafft zu haben und machten sich über jeden Begriff von Gott und Religion lustig; sobald sie aber in Bedrängnis gerieten, verhielten sie sich wie kleine Kinder. Sie stellten sich ein großes und plötzliches Wunder vor, ein Zeichen des göttlichen Zorns, sie wurden ängstlicher und blasser als die anderen, sie verkrochen sich bei einem Donnerschlag und bei Unwetter. So wollten sie zwar keinen Gott anerkennen, um ihn nicht fürchten zu müssen, aber die Furcht vor den kleinsten Dingen zwang sie, ihn anzuerkennen.«21 Sehen wir nun, was der Kritiker sagt:22 »Er bringt als Grundsatz vor, daß die erste, auffallende Art von Atheismus nur in einer äußerst starken und kühnen Seele wohnen kann und ›daß man mehr Stärke und Standhaftigkeit braucht, um die Furcht vor Gott und den Glauben an ihn zurückzuweisen und entschlossen von sich abzustreifen, als um treu und beständig an ihm festzuhalten.‹ Obwohl er versucht, diesen Satz durch eine hinterlistige Ausdrucksweise abzumildern, sage ich dennoch, daß er bösartig und gefährlich ist, weil er vielen verkommenen jungen Leuten Mut macht, die zwischen zwei Strömungen treiben, aber noch nicht rasend genug sind, um sich des Glaubens an die Gottheit und der Furcht vor ihr völlig zu entledigen. Denn weil es niemanden gibt, der nicht den Wunsch 21 22

Charron, Les trois véritez, Kap. 3, S. 13 f. meiner Ausgabe. Garasse, Apolog., Kap. 21, S. 263 ff. meiner Ausgabe.

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verspürte, als geistreich und sehr stark zu gelten, geschieht es, daß unbesonnene und verwirrte junge Leute über diesen Satz stolpern, wie es nur zu oft vorkommt, und von Freigeistern zu rasenden Atheisten werden. Charrons ganze Abhandlung versetzt die Leser in diese manische Wut, den Glauben an Gott abzuschütteln, die doch nichts als niedrigste Feigheit ist, wie sich an allen Atheisten bestätigt, die entweder rasend oder als Feiglinge sterben. Das haben wir z. B. an Fontanier und Vanini gesehen, die zunächst dreist die Gottheit herausforderten, dann im Gefängnis aber nicht müde wurden, vorgetäuschte und frevelhafte Bekenntnisse abzulegen, um als anständige Menschen zu erscheinen.« Man beachte, daß Garasse in seiner nach der eben zitierten Apologie erschienenen Somme théologique einen ganzen Abschnitt23 darauf verwendet, die Ansicht unseres theologischen Kanonikus zu widerlegen. Er bringt dazu das Beispiel einiger Kirchenväter, die einen unerschütterlichen Mut bewiesen haben, und behauptet, daß der Atheismus nur aus Feigheit entspringe; er behauptet das, sage ich, indem er die Sache von einer anderen Seite und aus einem schiefen Blickwinkel betrachtet, so daß er Charrons Begriffe gar nicht direkt trifft; außerdem kommt er auf die ängstlichen Schutzbehauptungen der beiden Atheisten zurück, die einige Zeit davor mit dem Tode bestraft worden waren. Diese Widerlegung zieht nicht, weil Charron ganz präzise zugegeben hatte, I. daß man eine sehr große Seelenstärke braucht, um fest im wahren Glauben an Gott zu stehen; II. daß die großen und berühmten Atheisten, ›wenn sie in Bedrängnis gerieten, sich wie kleine Kinder verhielten‹. Man kann also sagen, daß Garasse sich mit seinem Schatten geschlagen hat; er beweist, was sein Gegner gar nicht leugnet, sondern ausdrücklich zugbt. Lassen wir also dieses Kapitel der Somme théologique und den letzten Teil der zitierten Passage auf sich beruhen; betrachten wir nur die andere Hälfte dieser Passage. Ich stelle darin mehrere Mängel fest. Denn I. hat der Jesuit alles unterdrückt, woran sich Charrons Rechtgläubigkeit zeigt; 23

Es handelt sich um Abschnitt 3 des Teils II von Buch I, S. 48 ff.

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alles, was dazu dient, den wahren Sinn herauszuarbeiten; alles, was dazu taugt, den schlechten Eindruck zu korrigieren, den die Maxime machen kann, wenn sie unvermittelt und auf rohe Art vorgebracht wird. II. nennt er all das eine »hinterlistige Ausdrucksweise«; das ist ein so feiges und unredliches Verhalten, daß es von der Kriminalpolizei untersucht werden müßte. Man müßte sogar Strafkammern für Verfahren gegen Autoren einführen, die mit derart perfidem Vorgehen Ehre, Ansehen und Andenken eines Schriftstellers in Verruf bringen. Man unterdrückt etwas und nennt es trotzdem »hinterlistig«. Man hätte es vollständig wiedergeben und dann erst beurteilen müssen. Aber man kam besser auf seine Rechnung, wenn man die Leser überrumpelte und sein Urteil über ein Faktum abgab, das man gar nicht vorzeigte und von dem man ganz sicher sein konnte, daß die meisten es nicht vermissen würden. Ich sage III., daß Garasse auf ein schlechtes Fundament gebaut hat, denn er stützt sich auf dieses Prinzip: »Selbst wenn der Atheismus wirklich das Ergebnis einer großen Seelenstärke wäre, hätte man das nicht zugeben dürfen; man hätte diese Wahrheit entweder unterdrücken oder dreist die gegenteilige Meinung vortragen müssen, um nicht bei anmaßenden Menschen den Wunsch zu wecken, in einen Zustand zu geraten, der das Merkmal eines starken Geistes ist.« Aus dem Einwand dieses Jesuiten ist ganz klar ersichtlich, daß er so denkt.24 Ich überlasse es aber jedem billig denkenden Menschen zu beurteilen, ob das aufrichtig gehandelt ist und ob es nicht heißt, eine rein menschliche Politik und das große Geheimnis der Kriegskunst in die Religion einzuführen? Hat man damit nicht entschieden, daß, wenn nur die Rechtgläubigkeit triumphiert, es nicht darauf ankommt, wodurch und wie das geschieht? Hätte man ein solches Verhalten nicht sich selbst vorbehalten müssen? Muß man auch noch von jedem Autor verlangen, daß er diesen Weg geht? Ist es Pierre Charron nicht erlaubt, die Aufrichtigkeit der Nützlichkeit vorzuziehen? Ich will noch weiter gehen und sagen, daß er Man vergleiche hiermit  sc. Bayles  Addition aux pensées diverses sur les comètes, S. 83 f. der Ausgabe von 1694. Man sehe auch S. 74 f. 24

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den Begriffen der Redlichkeit folgte, ohne einen Kompromiß mit dem Nützlichen zu schließen. Versichert er nicht, daß der Atheismus ein starke, »rasende und wütende« Seele verlangt und daß diese Stärke »ungeheuer und rasend« ist, eine »hochfliegende und wilde Kühnheit«? Kann irgend etwas daran einen ehrgeizigen Menschen reizen? Und wenn es irgend jemanden verlocken kann, muß das nicht der übelste Charakter der Welt und eine höchst verderbte Seele sein? Verdienen es so verlorene, so verkommene, so besserungsunfähige Leute, daß man um ihretwillen die Dinge nicht nach den Ideen benennt, die man für die angemessensten hält? Als Cicero einräumte, daß Marcus Antonius große Körperkraft besaß,25 als Tacitus die gleiche Eigenschaft bei einem Enkel des Augustus feststellte,26 hatten sie da Grund zu der Befürchtung, ihre Leser würden diese Eigenschaft besitzen wollen? War sie nicht auf eine Art beschrieben, die Widerwillen erregte? Nun frage ich euch, ob Charron nicht ein Korrektiv angewendet hat, das noch besser geeignet war, ich will nicht sagen: Widerwillen, sondern Abscheu zu erregen? Man beachte hier die Maxime des hl. Augustinus, daß große Gottesfurcht ebenso selten ist wie große Gottlosigkeit. (…).27 Das kommt einem der Sätze bei Pierre Charron sehr nahe.

Auffällige Verschiedenheiten der Seelenstärke und Bemerkungen darüber Vielleicht wird man glauben, Charron habe sich widersprochen, als er bei den Atheisten große Seelenstärke und kindische Schwäche erkannte; gewiß hat er das aber getan, ohne in einen Widerspruch zu fallen, weil er die Atheisten in verschiedenen Zuständen betrachtete: Er hielt sie für stark in Zeiten des Glücks und für schwach in Zeiten des Unglücks; somit sind die entgegengesetzten Eigenschaften, die er ihnen zuschreibt, zwei 25 26 27

(…). Cicero, Philipp. II. (…). Tacitus, Annal., Buch I, Kap. 3. Augustinus, Sermo X, De verbis domini.

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Dinge, die aufeinander folgen. Es bedeutet daher keinen Widerspruch, sie in demselben Subjekt anzunehmen: ein Widerspruch setzt voraus, daß die beiden Terme gleichzeitig nebeneinander gesetzt werden. Er verlangt ferner, daß man sie von demselben Subjekt in ein und derselben Bedeutung aussagt: daher kann man ohne Verletzung der Regeln für kontradiktorische Sätze sagen, daß dieselben Personen gleichzeitig ängstlich und mutig sind; ängstlich hinsichtlich bestimmter Gegenstände, mutig hinsichtlich anderer. Das sieht man alle Tage. Es gibt Leute von außerordentlicher Unerschrockenheit, die um nichts in der Welt in einer Kammer schlafen wollen, wenn sie hören, daß es darin spukt. Andere sind so mutig, daß sie dort ganz allein schlafen würden, obwohl sie dermaßen furchtsam sind, daß ein blanker Degen sie zittern läßt. Die Unruhe, welche die einen bei einer Bagatelle quält, die sie als schlechtes Vorzeichen genommen haben; diese Unruhe, sage ich, die keine Überlegung beseitigen kann, hindert sie nicht, sich im Kampf wie Löwen zu schlagen. Diese hier machen sich über alle Unglückspropheten lustig, aber laufen wie Hasen davon, wenn sie von einem gleichstarken Gegner angegriffen werden. Einer, der nicht den Mut hat, mitanzusehen, wie jemand zur Ader gelassen oder wie ein Huhn geschlachtet wird, erträgt die grausamsten Schmerzen mit denkbar größter Standhaftigkeit und erwartet den Tod in seinem Bett mit heroischer Gefaßtheit. Ein anderer, der den schrecklichsten Gefahren des Krieges kaltblütig trotzt, zittert vor Angst, wenn der Arzt ihm sagt, daß er sterben muß. Die Seelenstärke, die man mit den Worten beschrieben hat, daß ein tugendhafter Mann weder vor den Drohungen eines Tyrannen noch vor der Gefahr eines Schiffbruchs noch vor Blitz und Donner erschrickt und daß die Trümmer der Welt ihn unter sich begraben könnten, ohne ihm Angst zu machen (…);28 diese Kraft, sage ich, findet sich in ihrem vollen Ausmaß fast nirgendwo; man sieht kaum Teile von ihr. Es gibt schöne Seelen, die kein Versprechen und keine Schmeichelei vom Pfad der Tugend abbringt, die aber die Prüfung drohenden Kerkers oder schlechter 28

Horaz, Oden, Buch I, 3, Vers 1 ff.

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Behandlung anderer Art nicht bestehen, und es gibt solche, welche die nobelsten und großherzigsten Entschlüsse für das Wohl des Vaterlandes fassen, deren Ideen allesamt großartig sind und sich durchaus generös und stark anhören, die aber außerstande sind, sie umzusetzen: Sie werden ihre Pflicht schlecht erfüllen, wenn man sie in einer belagerten Stadt in eine Bresche stellt; eine ganz unwillkürliche Furcht wird sich ihrer bemächtigen und sie fliehen lassen, bevor sie sich dessen klar bewußt werden. Bei diesen Leuten steht der Körper nicht der Seele bei. Eine ich weiß nicht welche körperliche Veranlagung, die auf mechanischem Wege zu Furchtsamkeit führt, überwältigt den höheren Teil und bringt ihn völlig aus der Fassung.29 Zweifellos gibt es eine Kühnheit oder Unerschrockenheit des Geistes, die mitunter von großer Furchtsamkeit des Körpers begleitet wird. Bei Hobbes bezogen sich Mut und Stärke nur auf Gegenstände des Verstandes. Es gab kaum ein Theorem oder Paradox, das ihn schreckte oder bei dem ihm Gewissensskrupel kamen; aber die geringste körperliche Gefahr machte ihm Angst. Montaigne, der über Vorurteile so erhaben und mit der vorgeblichen Kraft der Ungläubigkeit so gut ausgestattet schien, besaß eine Zartheit der Seele, die es ihm nicht erlaubte, »ohne Unbehagen anzusehen, wie ein Huhn geschlachtet wurde«, oder ruhig anzuhören, »wie ein Hase in den Fängen der Hunde schrie«.30 Diese Verschiedenheiten hängen vom Temperament ab; wundern wir uns also nicht über eine Person, welche die Kraft besitzt, die allgemeinsten und geheiligtsten Meinungen abzuschütteln, zugleich aber die Schwäche zeigt, beim Anblick eines Henkers zu zittern und zu tausend Verstellungskünsten zu greifen, um den Schmerzen unter der Folter zu entgehen. Die Stärke ihrer Seele richtet sich nicht auf körperliche Gegenstände, sondern auf geistige. Eine niedrige Seele, die zu feigen und ehrlosen Handlungen aller Art 29

Man kann von ihr wie von einer Ausschweifung sagen: »Beladen mit den gestrigen Lastern zieht der Leib auch die Seele herunter und hält seinen kleinen Anteil vom göttlichen Hauch am Boden fest.« Horaz, Sat., Buch II, 2, Vers 77 ff. 30 Montaigne, Essais, Buch II, Kap. 11, S. 171 meiner Ausgabe.

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imstande ist, ein Sklave aus Kappadozien,31 der allergrößte Feigling und Schuft zeigt mitunter eine überraschende Kraft, der Folter zu trotzen. Die schärfste ordentliche und außerordentliche Befragung entlockt ihm kein Geständnis; wie oft sieht man dagegen Menschen von Anstand und bewundernswerter Rechtschaffenheit, die lieber falsche Anschuldigungen gegen sich selbst erheben als sich den Folterqualen auszusetzen! Wie oft haben nicht Menschen, die aufrichtig an ihrer Religion hingen, in den Gefängnissen der Inquisition32 zu jeder Art von Verstellung und doppeldeutiger Rede gegriffen und getan, was sie nur konnten, um der Todesstrafe zu entgehen! Die Angst davor hat ihre Seele aus der Fassung gebracht und ihrer Frömmigkeit jede Kraft geraubt. Auf diese Art und Weise führen die Gesetze der Vereinigung von Seele und Leib zu Verschiedenheiten unter den Menschen. Ich sage all dies, um Pierre Charron mit Herrn de la Bruyère in Übereinstimmung zu bringen. »Wissen die starken Geister«, sagt letzterer,33 »daß man sie aus Ironie so nennt? Welche größere Schwäche gibt es, als keine Gewißheit über das Prinzip seines Seins, seines Lebens, seiner Sinne, seiner Erkenntnisse und über den Endzweck von alledem zu haben? Was ist entmutigender als daran zu zweifeln, ob die Seele nicht materiell wie ein Stein und ein Reptil ist und ob sie nicht wie diese niederen Geschöpfe vergeht? Gehört nicht mehr Kraft und Größe dazu, die Idee eines Wesens in unseren Geist aufzunehmen, das alle anderen Wesen überragt? Usw.« Sie haben beide recht, und der Unterschied zwischen ihnen beruht auf der jeweils verschiedenen Beziehung des Wortes ›Kraft‹. Ich glaube nicht, daß Herr de la Bruyère Charron gegenüber bestritten hätte, daß die AtheMan sehe oben den Artikel KAPPADOZIEN, Fußn. (19).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  32 Ich bediene mich hier dieses Wortes, um ganz allgemein alle Gerichtshöfe zu bezeichnen, die aus Gründen der Religion Todesurteile verhängt haben. 33 La Bruyère, Charactères de ce siècle, S. 666 der Ausgabe Paris 1694. Man sehe auch  sc. Bayles  Pensées diverses sur les comètes, S. 412. 31

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isten Stärke in dem gleichen Sinne haben wie ein Verrückter, der alle Ketten sprengt, in die man ihn legt, und den niemand bändigen kann.34 Im übrigen würde die Vorsichtsmaßnahme, die Garasse beachtet wissen will, nicht viel nützen, denn es ist nicht leicht, die Ideen zu korrigieren, denen gemäß jedermann urteilt, daß, weil die Angst, ein Salzfaß umzustoßen, eine Schwäche ist, deshalb die Überwindung dieser Angst eine Stärke ist und entsprechend bei immer größeren Dingen. Man würde die Menschen in diesem Punkt nicht verbessern, selbst wenn sämtliche Autoren es sorgfältig vermieden, diese geistige Einstellung ›Stärke‹ zu nennen. Die Gottlosen würden sich hiergegen auf ihren Urvater Lukrez berufen: »Als das Leben der Menschen darnieder schmählich auf Erden lag, zusammengeduckt unter lastender Furcht vor den Göttern, (---) erst hat ein Grieche gewagt, die sterblichen Augen dagegen aufzuheben und aufzutreten als erster dagegen; den nicht das Raunen von Göttern noch Blitze bezwangen noch drohend donnernd der Himmel; nein, nur um so mehr noch den schar-fen Mut seines Geistes reizte, daß aufzubrechen die dichten Riegel zum Tor der Natur als erster er glühend begehrte. (---) Drum liegt die Furcht vor den Göttern unter dem Fuß, und zur Rache wird sie zerstampft, uns hebt der Sieg empor bis zum Himmel.«35 34

Markus 5, 4. Lukrez, Buch I, Vers 62 ff.  Die Übersetzung der Zitate des in epischen Hexametern verfaßten Lehrgedichts des Lukrez ist trotz gelegentlicher geringfügiger, sachlich nicht gravierender Abweichungen im Wortbestand der lateinischen Zitate hier und an anderen Stellen übernommen aus Titus Lucretius Carus: De rerum natura. Welt aus Atomen. Lat. / dt. Übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Karl Büchner. Stuttgart 1973. Die jeweils genannte Verszahl bezieht sich auf diese Ausgabe. Hgg.  35

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(K) Seine Kritiker haben die Hinweise nicht beachtet, die er gegeben hatte und die sie von leichtfertigen Urteilen hätten abhalten können. Weil Charron nicht der einzige ist, der Anlaß hat, den Kritikern zu zeigen, was sie auseinanderzuhalten haben, wenn sie gerecht urteilen wollen, will ich den Hinweis, den er ihnen gegeben hatte, Wort für Wort anführen: »Den Leser, der sich ein Urteil über dieses Werk bilden will, möchte ich gern darauf hinweisen, daß er sich davor hüten möge, in einen der folgenden sieben Fehler zu verfallen, wie es manchen bei der ersten Auflage geschehen ist: Als Recht und Pflicht hinzustellen, was nur eine Tatsache ist; als eine auszuführende Tat, was ein Urteil ist; als einen Willen und Entschluß, was nur vorgetragen, geprüft und nach Art der Akademiker als Problem erörtert wird; mir und meinen Ansichten zuzuschreiben, was einem anderen zugehört; auf den Stand, den Beruf und die äußere Situation zu beziehen, was dem Geist und den inneren Fähigkeiten zukommt; auf die Religion und den heiligen Glauben, was menschliche Meinung ist; auf die Gnade und das übernatürliche Handeln, was zur natürlichen und moralischen Tugend und Handlungsweise gehört. Sobald er alle Leidenschaften und Vorurteile abgelegt hat, wird er finden, daß diese sieben Punkte ihm bei richtigem Verständnis helfen, seine Zweifel auszuräumen, auf alle Einwände zu erwidern, die er sich selbst und andere ihm machen könnten, und sich über meine Absicht in diesem Werk klar zu werden. Wenn er nach alledem noch nicht zufrieden ist und das Werk nicht billigt, mag er es kühn und lebhaft angreifen (denn nur zu schmähen, zu kritteln und den Autor zu zerreißen, ist sehr leicht, aber allzu unwürdig und kleinlich): so wird er bald entweder ein offenes Eingeständnis meiner Fehler und meine Zustimmung erhalten (denn dieses Buch soll ein rühmliches Zeugnis der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sein) oder er wird für seine Impertinenz und Torheit zurechtgewiesen werden.«36 36

Charron, Vorrede zur zweiten Auflage der Bücher De la sagesse. Man sehe auch die Vorrede zu seinem kleinen Traité de la sagesse. Dort finden

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Was Charron soeben gesagt hat, ist zu schön, als daß es nicht in diese Anmerkung aufgenommen werden sollte; es wird sehr viele Leser lehren, was ihre Pflicht ist, und ihnen zeigen, welche Einstellung sie haben müssen, wenn sie über ein Buch urteilen wollen, das nicht auf dem vorherrschenden Geschmack oder den Vorurteilen der Masse aufgebaut ist, d. h. in dem der Verfasser die Gedanken vorträgt, die ihm kommen, ohne dogmatische Behauptungen aufzustellen oder Anhänger finden zu wollen. »Einige finden«, sagt Charron,37 »daß dieses Buch zu kühn und zu frei die vorherrschenden Meinungen bestreitet, und nehmen daran Anstoß. Ich antworte ihnen in vier oder fünf Worten. Erstens hat die Weisheit, die weder weit verbreitet noch populär ist, diese Freiheit und Autorität jure suo singulari  aus eigenstem Recht , über alles zu urteilen (das ist das Vorrecht des im geistigen Sinne Weisen, spiritualis omnia dijudicat, et a nemine judicatur  der geistige Mensch beurteilt alles, wird aber von niemandem beurteilt ) und dabei die weitverbreiteten und populären Meinungen (die größtenteils irrig sind), zu beurteilen, zu kritisieren und zu verwerfen. Wer soll das sonst tun? Indem die Weisheit das tut, zieht sie sich unvermeidlich Mißgunst und Haß von allen Seiten zu. Zweitens beklage ich mich über sie und werfe ihnen diese gewöhnliche Schwäche und weibische Empfindlichkeit vor, die unwürdig und zu zart ist, um etwas Vernünftiges zu verstehen, und die völlig unempfänglich für die Weisheit bleibt. Die stärksten und kühnsten Behauptungen schicken sich für den starken und erhabenen Geist, und nichts ist demjenigen fremd, der die Welt kennt. Es ist Schwäche, über irgend etwas ins Staunen zu geraten; man muß seinen Mut zusammennehmen, seine Seele stärken, seinen Verstand stählen und schärfen, um alles zu genießen, zu erkennen, zu verstehen und zu beurteilen, so fremdartig es auch erscheinen mag. Alles ist dem Geist angemessen, nichts geht über seinen Horizont, sofern er sich nicht selbst im Stich läßt und nur gute und schöne sich dieselben Worte. Der Prior Ogier zitiert sie in seiner Censure de la doctrine curieuse du Père Garasse, S. 151 f., um Charron zu entlasten. 37 A. a. O., Blatt B, Rückseite.

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Dinge tut und billigt, selbst wenn alle Welt von ihnen spricht. Der Weise zeigt in beidem gleichermaßen seinen Mut, verzärtelte Leute sind weder des einen noch des anderen fähig, sondern in beidem schwach. Drittens möchte ich mit allem, was ich sage, niemanden verpflichten; ich bringe die Dinge nur vor und breite sie wie auf dem Tisch aus. Ich gerate nicht in Zorn, wenn man mir nicht glaubt – das überlasse ich den Pedanten. Leidenschaft bedeutet die Abwesenheit von Vernunft; wer sich einer Sache mit der einen zuwendet, tut es nicht mit der anderen. Aber warum zürnen sie mir? Etwa weil ich nicht in allem ihrer Meinung bin? Ich jedenfalls zürne nicht, weil sie nicht meiner Meinung sind. Oder zürnen sie, weil ich Dinge sage, die weder nach ihrem noch nach dem vorherrschenden Geschmack sind? Das ist genau der Grund, warum ich sie sage. Ich sage nichts ohne Grund; wenn sie diesen Grund erkennen und verstehen können und dann einen besseren haben, der meinen widerlegt, so will ich ihn mit Freuden anhören und dem danken, der ihn mitteilt.« Ich ermahne alle meine Leser, über diese beiden Passagen gründlich nachzudenken.

(L) Aus seinen Schriften wie auch aus seinen Handlungen läßt sich leicht beweisen, daß er die Wahrheiten des Christentums nicht anzweifelte. »Seine Unschuld und Offenheit, die Aufrichtigkeit in seinem Lebenswandel sowie seine Ehrlichkeit gepaart mit Rechtschaffenheit haben am Ende über die Verleumdungen und üblen Nachreden seiner Gegner triumphiert.« So drückt sich der Verfasser der Lobrede auf Charron aus.38 »Hinsichtlich seines Lebenswandels, seines Umgangs und Handelns sowohl im Privaten wie in der Öffentlichkeit sei hier nichts weiter gesagt, als daß er sich den Regeln und Pflichten völlig anpaßte, die im 12. Kapitel des zweiten Buchs von De la sagesse zusammengefaßt sind, und 38

Éloge de Charron; man sehe auch die Widmungsepistel des kleinen Traité de la sagesse.

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diese sehr genau befolgte. Und welchen religiösen Glauben er hatte, davon zeugen hinlänglich seine Bücher Les trois véritez (---) und seine Discours chrétiens, die nach seinem Tod gedruckt wurden und einen stattlichen Band ausmachen. (---). Sein gutes Gewissen zeigt sich auch« in der Art und Weise, wie er seine Pfründen innehatte oder aufgab. Seine Frömmigkeit spricht überdies aus dem »Testament, das er am 30. Januar 1602 mit eigener Hand aufsetzte (…).« Dem füge man 1) seinen heißen Wunsch hinzu, gemäß dem Gelübde, das er abgelegt hatte, in ein Kloster einzutreten, 2) die Vorsichtsmaßnahme, sich der Entscheidung dreier Kasuisten zu versichern, bevor er sich von jenem Gelübde entbunden glaubte.39 Man kann sich nicht genug darüber wundern, daß eine derartige Person als Feind des Christentums und als Atheist verschrieen wurde. Ist das nicht eine sichtbare und beklagenswerte Auswirkung entweder der Bösartigkeit oder der Schwäche des menschlichen Geistes? (…). Aber, so wird man fragen, hat Charron nicht gesagt, daß sich alle Menschen zu Unrecht rühmen, sie hätten eine Religion, die von Gott kommt? Hier sind seine Worte: »Die Religionen müssen durch eine außerordentliche Offenbarung vom Himmel gebracht und übergeben, durch göttliche Eingebung und als vom Himmel kommend empfangen und angenommen werden. In der Tat sagen auch alle in denselben Worten, daß sie sie nicht von Menschen noch von einem anderen Geschöpf haben, sondern von Gott, und sie deshalb glauben. Aber um die Wahrheit ohne Schmeichelei und Verschleierung zu sagen: das stimmt nicht. Sie haben sie, was immer man sagen mag, von menschlicher Hand und durch menschliche Mittel.«42 Ich erwidere, daß er in der zweiten Auflage die wahre Religion hiervon ausnimmt. »Das gilt in jeder Hinsicht von den falschen Religionen«, fährt er fort, »die bloß rein menschliche und teuflische Erfindungen sind. Die wahren gehören zu einer anderen Klasse und werden daher aus einer anderen Hand empfangen Man sehe Anm. (A).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  42 Charron, De la sagesse, Buch II, Kap. 5, S. 386 meiner Ausgabe. 39

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und angenommen; auf jeden Fall muß man hier einen Unterschied machen. Was das Empfangen betrifft, so war ihre erste und allgemeine Bekanntmachung und Stiftung göttlicher Natur und von Wundern begleitet, Domino co-operante, sermonem confirmante sequentibus signis  unter Mitwirkung des Herrn, der die Verkündung durch nachfolgende Zeichen bestätigte .« Kurz vorher hatte er gesagt, daß »die Ungläubigen und Irreligiösen« diese Einstellung haben, »weil sie allzusehr ihr eigenes Urteil befragen und befolgen, indem sie Religionssachen mit ihren begrenzten Fähigkeiten prüfen und beurteilen sowie mit ihren spezifischen und natürlichen Mitteln behandeln wollen. Man muß schlicht, gehorsam und sanftmütig sein, um für den Empfang der Religion bereit zu sein, sie zu glauben und sich aus Ehrfurcht und Gehorsam unter ihre Gesetze zu stellen, sein Urteil der öffentlichen Autorität zu unterwerfen und sich von ihr führen und leiten zu lassen: Captivantes intellectum ad obsequium fidei  Indem sie den Verstand unter den Gehorsam des Glaubens gefangen nehmen .«43 Diese Worte können ihm als Schutzschild gegen alle Angriffe seiner Feinde dienen, denn auf euren Einwand, seine Bemerkungen schadeten der Religion und bewiesen, daß er von der Durchschlagskraft seiner Bemerkungen fester überzeugt sei als von den Wahrheiten, auf die sie zielten, kann er euch erwidern: »Ich wäre das, was ihr mir nachsagt, wenn ich mich an das kleine Licht meiner Vernunft hielte. Einem derartigen Führer vertraue ich aber nicht, sondern unterwerfe mich der Autorität Gottes und nehme meinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens gefangen.«

(N) Der Kupferstich zu Anfang des Buchs »De la sagesse« scheint Sympathie mit den Pyrrhoneern auszudrücken. Charron ließ auf dem Titelblatt seines Buches die Weisheit darstellen »durch eine schöne, ganz nackte (---) Frau mit gesundem, kräftigem Gesicht, lächelnd (---), die Füße eng nebeneinander 43

A. a. O., S. 385.

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auf einem Würfel, auf dem Kopf eine Krone aus Lorbeer- und Olivenzweigen, was Sieg und Frieden bedeutet; um sie herum einen freien Raum, der Freiheit symbolisiert. Zu ihrer Rechten die Worte ›Ich weiß nicht‹, die ihr Wahlspruch sind, zur Linken die Worte ›Frieden und sonst wenig‹, der Wahlspruch des Autors. (---). Darunter sieht man vier kleine, häßliche, armselige und runzlige Frauen angekettet, deren Ketten an dem Würfel zu Füßen der Weisheit enden. Diese verachtet und verurteilt die Frauen und tritt sie unter ihre Füße. Zwei von ihnen befinden sich rechts vom Titel des Buches, nämlich Leidenschaft und Meinung. Die Leidenschaft dürr, mit völlig verzerrtem Gesichtsausdruck; die Meinung mit verwirrtem, unstetem, bestürztem Blick, gestützt auf eine Anzahl von Menschen, d. h. den Pöbel. Die beiden anderen Frauen befinden sich auf der anderen Seite des Titels, nämlich der Aberglaube mit starrem Gesichtsausdruck und zusammengeschlagenen Händen, wie eine vor Angst zitternde Magd, und das Wissen, eine künstliche, erworbene, pedantische Tugend oder Besserwisserei, die den Gesetzen und Gewohnheiten hörig ist; das Gesicht aufgedunsen, prahlerisch und arrogant, mit hochgezogenen Augenbrauen ein Buch mit der Aufschrift ›Ja, Nein‹ lesend.«47

(P) Er hat die Einwände der Freigeister nicht abgeschwächt. Ich will ein Beispiel hierfür anführen, das sich auf die Spaltungen der Christen bezieht. »Es ist wahrhaftig seltsam, daß die christliche Religion, die als die einzig wahre Religion und als von Gott offenbarte Wahrheit einheitlich und geschlossen sein sollte, weil es nur einen Gott und eine Wahrheit gibt, dennoch in so viele Teile zerrissen, in so viele entgegengesetzte Meinungen und Sekten geteilt ist, daß es keinen Glaubensartikel und kein Lehrstück gibt, das nicht diskutiert und verschieden ausgelegt worden wäre und zu 47

Entnommen aus der Erklärung der Figur am Ende der Vorrede des Buches De la sagesse.

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entgegengesetzten Häresien und Sekten geführt hätte. Was die Sache noch seltsamer erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß sich in den anderen, den falschen und untergeschobenen Religionen, im alten und neuen Heidentum, in der jüdischen und der mohammedanischen Religion keine Spaltungen und Parteiungen finden. Denn was es dort von dieser Art gibt, ist entweder gering an Zahl, harmlos und unbedeutend, wie in der jüdischen und der mohammedanischen Religion, oder wenn sie zahlreich sind, wie im alten Heidentum und bei den Philosophen, dann haben sie zumindest keine sehr großen, ins Auge springenden Wirkungen und Umwälzungen in der Welt zur Folge gehabt. Das ist nichts im Vergleich zu den großen und verderblichen Spaltungen, die es von Anfang an und seither immer wieder in der Christenheit gegeben hat. Wenn wir die Auswirkungen betrachten, welche die Spaltungen innerhalb der Christenheit hervorgerufen haben, so sind sie erschreckend. Erstens ist es hinsichtlich des Gemeinwesens und des Staates oftmals zu Veränderungen und Umstürzen in Republiken und Königreichen, Dynastien und Provinzen gekommen, bis hin zu einer allgemeinen Veränderung in der Welt, mit grausamen, rasenden und mehr als blutigen Untaten, zu großem Ärgernis, großer Schande und großem Vorwurf für die Christenheit, wobei jede Partei alle anderen unter dem Vorwand des Eifers und der Liebe für die Religion tödlich haßt und es anscheinend für erlaubt hält, alle Akte der Feindseligkeit gegen sie auszuüben. In anderen Religionen sieht man das nicht. Einzig und allein den Christen ist es erlaubt, zum Mörder, Abtrünnigen und Verräter zu werden, um sich gegenseitig durch jede Art von Unmenschlichkeit gegen Lebende und Tote, gegen Ehre, Leben, Andenken und Verstand, gegen Gräber und Asche mit Feuer, Schwert, bissigsten Satiren, Verfluchungen, Verbannungen aus dem Himmel und von der Erde, Exhumierung, Verbrennung der Gebeine, Ausschließung vom Gottesdienst zu bekämpfen, und das kompromißlos und mit solcher Wut, daß jede Rücksicht auf Verwandtschaft, Verschwägerung, Freundschaft, Verdienst und Verpflichtung hintangesetzt wird. Und wer gestern mit Lobsprüchen himmelan gehoben und öffentlich als groß, gelehrt, tugendhaft und weise

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bezeichnet wurde, der wird heute, wenn er sich der anderen Partei anschließt, in Predigt, Schrift und Proklamation für unwissend und verdammt erklärt. Da zeigt sich Eifer und Begeisterung für die eigene Religion, überall sonst Kälte in der Einhaltung religiöser Pflichten. Wer sich moderat und zurückhaltend verhält, wird als lau und wenig eifrig hingestellt und verdächtigt. Es gilt als verabscheuenswürdiger Fehler, Angehörigen der Gegenpartei freundlich zu begegnen und sie liebenswürdig zu behandeln. Einige empören sich über all das, wie wenn die christliche Religion Haß und Verfolgung lehrte und uns anstachelte, Leidenschaften wie Ehrgeiz, Habgier, Rachsucht, Haß, Verachtung, Grausamkeit, Aufruhr und Empörung in uns wachzurufen und wertzuschätzen, die sonst eher ruhen und sich nie so stark regen, wie wenn sie aus Anlaß der Religion geweckt werden.«57 Dieses gewaltige Ärgernis könnte man heutzutage eleganter schildern, aber ich fordere unsere besten Schriftsteller heraus, es nachdrücklicher zu beschreiben und seine Schändlichkeit besser herauszuarbeiten. Charron setzte seine ganze geistige Kraft ein, um es zu beseitigen, er spart nichts aus. Wenn man ihm in dieser Hinsicht mangelnde Pflichterfüllung vorwerfen wollte, hätte man ebenso unrecht wie Garasse, der das in anderer Hinsicht tat. Zitieren wir die Worte dieses Jesuiten; sie sind in höchstem Maße ungerecht.58 »Eben dort59 erklärt Charron offen, wenngleich wie gewöhnlich in arglistigen, glatten Sätzen, daß ›die Religion eine weise Erfindung von Menschen ist, um den Pöbel bei seiner Pflicht zu halten‹, und obschon er dies scheinbar in der Rolle der Atheisten sagt, macht er es dennoch wie Lucilio Vanini, oder vielmehr macht dieser es wie jener: er übt Verrat an seiner Sache, denn er bringt die Argumente der Atheisten in ihrer ganzen Stärke vor, er erklärt und erläutert sie, er bringt sie in Stellung – und läßt uns dann dort stehen. Das ist eine treulose Pflichtverletzung, wie sie bei diesen beiden Schriftstel-

57 58 59

Charron, Les trois véritez, Buch III, Kap. 1. A. a. O. D. h. in Buch I von Les trois véritez.

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lern ganz gewöhnlich ist.«60 Es ist grundfalsch, daß Charron dies täte, denn nachdem er die Argumente der Atheisten getreulich vorgetragen hat, widerlegt er sie mit viel Engagement und Gründlichkeit. Aber genau das mißfällt den gemeinen Autoren und sogar den großen, sofern sie mehr Geist und Wissen als Aufrichtigkeit besitzen. Sie möchten, daß man die Feinde der guten Sache stets in einem schwachen und lächerlichen Aufzug erscheinen läßt oder daß man ihren starken Einwänden wenigstens eine noch stärkere Erwiderung entgegensetzt. Die Aufrichtigkeit verhindert das eine, und die Natur des Gegenstandes macht mitunter das andere unmöglich. Ich sehe seit langem mit Überraschung, daß man diejenigen als pflichtvergessen betrachtet, die sich selbst gravierende Einwände machen und sie dann nur schwach widerlegen. Wie! wollt ihr, daß bei Geheimnissen, welche die Vernunft übersteigen, die Antworten eines Theologen ebenso klar sind wie die Einwände eines Philosophen? Aus der bloßen Tatsache, daß eine Lehre geheimnisvoll und für den schwachen menschlichen Verstand kaum begreiflich ist, folgt unausweichlich, daß unsere Vernunft sie mit sehr starken Argumenten bestreiten wird und keine andere gute Auflösung wird finden können als die Autorität Gottes. Wie dem auch sei, unser Charron hat seiner Partei nicht geschmeichelt. Er hatte einen durchdringenden Verstand, er sah die entferntesten Ausflüchte und Erwiderungen eines Gegners voraus, der angreift oder angegriffen wird. Er stellte sich darauf ein, er legte seine Position aufrichtig dar und wandte keine List an, um sich durchzusetzen. Das ist ihm schlecht bekommen, denn die Welt liebt diese Ehrlichkeit nicht. Ich werde an anderer Stelle ein Beispiel für seine Aufrichtigkeit in der Präsentation von Schwierigkeiten geben.61 (…).

60 61

Garasse, Apologie contre la censure de la doctrine curieuse, S. 266. In Anm. (G) des Artikels SIMONIDES.

CONECTE

conecte, Thomas, ein Mönch des Karmeliterordens und gebürtiger Bretone, wurde, nachdem ihm das Volk als einem der größten Prediger seines Jahrhunderts zugelaufen war, 1434a in Rom als Häretiker verbrannt. Als er es geschafft hatte, in seinem Land große Bewunderung auf sich zu ziehen, verließ er das Kloster von Rennes und ging nach Flandern. Dort erwarb er sich durch seine Predigten ein derartiges Ansehen, daß man die Ehrbezeugungen, die ihm an allen Orten zuteil wurden, durch die er kam, und den Zulauf des Volkes zu seinen Predigten nicht stark genug hervorheben kann. Er predigte mit großem Nachdruck gegen die Laster des Klerus und gegen den Luxus der Frauen, und zwar hauptsächlich gegen ihre Frisuren, die von so unglaublichem Ausmaß waren (C), daß die höchsten Fontangen unserer Tage im Vergleich dazu nur Zwerge sind. Hinsichtlich dieses Luxus erreichte er sein Ziel. Er verpflichtete die Damen, sich bescheiden herauszuputzen, aber das geschah weniger durch die Macht der Gründe, mit denen er ihnen die Pflichten des Evangeliums vorhielt, als dadurch, daß er die Kinder ermunterte, diejenigen Frauen zu verspotten, die sich nicht bessern wollten (D). So kam es, daß sie, sobald er das Land verlassen hatte, zu ihren alten Frisuren zurückkehrten und noch neue Stockwerke draufsetzten (E), als ob sie sich für die verlorene Zeit schadlos halten wollten.b Er verbrannte die überflüssigen Kleider, Schürzen, Würfel, Karten usw.c und ließ sich von niemandem erblicken, außer auf der Kanzel. Das war klug gehandelt, denn vielleicht hätte er sich in vertrauten Gesprächen ein wenig milder gezeigt, was die hohe Meinung geschmälert a

Argentré, Hist. de Bretagne, Buch X, Kap. 42. Andere, wie Herr de Sponde, datieren seinen Tod auf das Jahr 1431. b Man sehe Anm. (E), Fußn. (11). c Man sehe Anm. (E), gegen Ende.

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hätte, die man von ihm hatte. Im Anschluß an einen recht langen Aufenthalt in den Niederlanden ging er nach Italien und reformierte den Karmeliterorden in Mantua,d nicht ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Von Mantua ging er nach Venedig und machte hier von sich reden, denn die Botschafter der Republik am Hofe Eugens IV., denen er nach Rom folgte, empfahlen ihn dem Papst nachdrücklich als einen Menschen, der ein heiliges Leben führe und voller Eifer sei. Allein sie bestätigten die Maxime Pessimum inimicorum genus laudantes  Lobsprecher sind die schlimmsten Feinde , wenngleich sie dabei in guter Absicht handelten. Als der Papst hörte, daß dieser große reformatorische Prediger in Rom war, gab er den Befehl, ihm den Prozeß zu machen. Man fand ihn der gefährlichsten Häresien schuldig, die man damals nur lehren konnte: er tadelte nämlich die Sittenlosigkeit des Klerus und des römischen Hofes; er hatte gesagt, daß sich an diesem Hofe viele abscheuliche Dinge abspielten; daß die Kirche reformiert werden müsse; daß man die Exkommunikation durch den Papst nicht zu fürchten habe, wenn man Gott diene; daß die Mönche Fleisch essen dürften und daß die Ehe denjenigen Geistlichen erlaubt werden müsse, die nicht die Gabe der Enthaltsamkeit besitzen. Er hat die Feuerstrafe mit großer Standhaftigkeit und ohne zu widerrufen erlitten. Bedeutende Persönlichkeiten unter den Katholiken haben recht freimütig gesagt, daß man ihn zu Unrecht hat hinrichten lassen. Baptista von Mantua,e der General der Karmeliter, hat einen wahrhaften Märtyrer aus ihm gemacht.f Die Protestanten achten darauf, ihn nicht zu übergehen, wenn sie das Verzeichnis derjenigen zusammenstellen, die zu verschiedenen Zeiten die Reformation der Kirche gewünscht haben. Aber man muß anmerken, daß es Protestanten gibt, die von ihm lediglich als einem wahren Tartuffe sprechen (G). d e

Im Jahr 1432. Seine aus dem Buch De vita beata entnommenen Worte werden von Bertrand d’Argentré, Histoire de Bretagne, Buch X, Kap. 42 zitiert. f Der Histoire de Bretagne von Bertrand d’Argentré, Buch X, Kap. 42 entnommen.

Conecte

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(C)  Er predigte  hauptsächlich gegen ihre Frisuren, die von (---) unglaublichem Ausmaß waren. »Sie trugen zu dieser Zeit einen hohen, reich verzierten Kopfputz, den sie ›Hennin‹ nannten, der sehr hoch empor ragte und mit dem sich die Frauen in den Niederlanden ausstaffierten (---). Tatsächlich berichtet der Zeitgenosse Jean Juvenal des Ursins, daß sich die Damen und jungen Frauen trotz des Krieges und der Verwüstungen im damaligen Frankreich – er spricht von der Zeit Karls VI. – sehr aufwendig kleideten sowie unglaublich hohe und weite Hörner trugen. Sie hatten an jeder Seite zwei so breite Ohren, daß sie damit nicht durch eine Tür gehen konnten. Das waren, glaube ich, die Hennins aus Flandern. Dieser Überfluß an Pracht breitet sich nämlich schlagartig bei den Frauen in der ganzen Welt aus.«7 Man sehe die folgende Anmerkung und bemerke nebenbei, wie sehr die Moden ihr Kommen und Gehen haben. Gegenwärtig sind die Hennins unter dem Namen ›Fontangen‹ zurückgekehrt. Ich habe die Abhandlung über den Luxe des coiffures noch nicht gelesen, die 1694 in Paris erschienen ist, aber ich zweifle nicht, daß man darin auch diese Betrachtung angestellt hat.

(D) (---)Hinsichtlich dieses Luxus erreichte er sein Ziel (---) dadurch, daß er die Kinder ermunterte, diejenigen Frauen zu verspotten, die sich nicht bessern wollten. Ich werde dies in dem alten Französisch von Paradin darlegen. »Was aber an seinen Predigten bemerkenswert war«, sagt er,9 »war seine Art, die Frisuren der Damen und jungen Frauen jener Zeit zu verschreien, denn damals putzten sich alle sehr auffällig und aufwendig heraus. Besonders befremdlich war die Haartracht der Damen. Denn sie trugen etwa eine Elle hoch emporragenden Schmuck auf ihren Köpfen, spitz wie Glocken7 9

A. a. O., Buch X, Kap. 42. Paradin, Annales de Bourgogne, S. 700.

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türme, von denen hinten lange, mit Fransen reich verzierte Flore wie Fahnen herunterhingen. Dieser Prediger hatte einen solchen Abscheu vor derartigen Frisuren, daß sich die meisten seiner Predigten gegen diesen Kopfschmuck der Damen richteten, und zwar mit den heftigsten Beschimpfungen, die ihm zu Gebote standen, und ohne auch nur eine Art von Schmähungen auszulassen, an die er sich erinnern konnte. Das alles setzte er ein und schleuderte es den Damen schonungslos ins Gesicht, die einen derartigen Kopfschmuck trugen, den er die ›Hennins‹ nannte. Und um sie beim Volk noch verhaßter zu machen, rief er alle kleinen Kinder der Orte, wo er predigte, zu sich und gab ihnen kleine, ihrem Alter angemessene Geschenke, damit sie gegen diese Hennins anschrieen und sie verspotteten. Diese kleinen Kinder waren so gut instruiert, daß sie, wenn sie eine so geschmückte Dame zur Predigt des Bruders Thomas kommen sahen, ihr nachzuschreien anfingen, gleichgültig ob in voller Versammlung oder nicht, und unaufhörlich brüllten ›Weg mit dem Hennin, weg mit dem Hennin‹, bis sich diese Damen entweder aus der Gesellschaft entfernten oder ihren Kopfschmuck ablegten. Diese kleinen Kinder waren derart wild auf die Hennins, daß sie, wenn die großen Damen die Versammlung aus Scham verlassen hatten, ihnen hinterherliefen und sie beständig mit ihrem Spott verfolgten. Fraglos ist es soweit gekommen, daß einige mit Steinen nach diesen Hennins geworfen haben. Daraus sind wegen der einigen großen Damen zugefügten Beleidigungen beträchtliche Übel entstanden, denn sie konnten sich nicht zum Schutz in ihre Häuser retten; so groß war die Zudringlichkeit der vielen kleinen Kinder, die von diesem Priester aufgehetzt waren und die von ihm kraft der Gewalt, die er zu besitzen behauptete, unbegrenzten Ablaß für diese Schmähungen erhielten. Die Schmähungen wurden dermaßen heftig fortgesetzt, daß die mit solchem Kopfputz geschmückten Damen es nicht mehr wagten, öffentlich auszugehen und zu den Predigten dieses Bruders Thomas nur verkleidet und mit einem Kopfputz aus einfachem Leinen wie die Frauen von niederem Stand kamen.«

Conecte

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(E) (---) Sobald er das Land verlassen hatte, kehrten sie zu ihren Frisuren zurück und setzten noch neue Stockwerke darauf. Man kann hier sagen, daß sie den Kopf nur so tief wie das Binsenbüschel hängen ließen, das diejenige Buße versinnbildlicht, die nur solange dauert wie der Tag, den man zu einem außerordentlichen Fasten bestimmt hat. Paradin hat sich aber eines anderen Bildes bedient, das mir noch passender erscheint. Hier sind seine Worte:10 »Überall, wo Bruder Thomas hinging, haben sich die Hennins wegen des Hasses, den er auf sie geworfen hatte, nicht mehr hervorgewagt. Das hat eine Zeitlang genutzt, nämlich so lange, bis dieser Prediger die genannten Länder wieder verließ. Nach seiner Abreise aber haben die Damen ihre Hörner wieder erhoben und es wie die Schnecken gemacht, die, wenn sie ein Geräusch hören, ihre Hörner ganz sachte einziehen und verschließen, sie aber, sobald der Lärm vorüber ist, sofort wieder weit größer als zuvor ausfahren.11 So haben es die Damen auch gemacht, denn die Hennins und der Kopfschmuck waren niemals größer, prächtiger und großartiger als nach der Abreise von Bruder Thomas. Da sieht man, was man gewinnt, wenn man der Halsstarrigkeit bestimmter Personen mit Halsstarrigkeit begegnet.« Sollte man glauben, daß dieser Autor drei oder vier Zeilen später imstande ist zu sagen, daß Bruder Thomas so viel »gegen diesen Kopfschmuck ausgerichtet habe, daß die Damen ihn während der Predigt persönlich zu ihm brachten und ihn öffentlich auf einem Scheiterhaufen in einem großen Feuer verbrannten, das er selbst neben seiner Kanzel angezündet hatte?« Heißt das nicht, sich offensichtlich zu widersprechen? Er hätte den Widerspruch leicht vermeiden kön-

10

Paradin, Annales de Bourgogne, S. 701. Man beachte, daß Monstrelet in Bd. II seiner Chroniques, Blatt 38, Rückseite, und folgende meiner Ausgabe, beinahe dasselbe berichtet wie Paradin. 11 »Die Frauen hielten sich nach seiner Abreise nicht lange an seine Regel und setzten sogleich die Hörner mit Zusätzen wieder auf, d. h. als Entschädigung für die vergangene Zeit.« Argentré, Histoire de Bretagne, Buch X, Kap. 42.

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nen. Er hätte nur sagen müssen, daß zwar nicht alle Damen aus Furcht, verhöhnt und mit Steinen beworfen zu werden, ihren Kopfschmuck ablegten, daß es aber einige unter ihnen gab, die eine wahrhafte Besserung des Herzens zeigten. Während dies gedruckt wird,12 berichten uns die Zeitungen, daß ein einziges Wort, das der König am französischen Hof beiläufig fallen ließ, eine bei weitem größere Wirkung gegen die außerordentliche Höhe der Frisuren gehabt hat als alle Beredsamkeit der Prediger. Diese haben zwölf oder fünfzehn Jahre lang gegen diesen Teil des weiblichen Luxus angeschrieen, haben diesen Koloß mit allen rhetorischen Mitteln attackiert und ihre Angriffe mit den allerstärksten Argumenten der Religion unterstützt; aber anstatt ihn umzustürzen oder wenigstens ein Stück weit abzutragen, haben sie ihn von Monat zu Monat wachsen sehen. Sie sahen um ihre Kanzel herum eine neue Art von Amphitheater entstehen, das ganz regelmäßig gewesen wäre, wenn die Frauen von gleicher Körpergröße sich in dieselben Reihen gesetzt hätten und wenn die Reihen entsprechend der Höhe, um die diese Fontangen einander übertrafen, weiter vom Prediger entfernt gewesen wären. Aber da die Plätze nicht diesen Proportionen gemäß verteilt waren, wies das Amphitheater keinerlei Symmetrie auf. Besser ist deshalb der Vergleich mit einem Hochwald, in dem die Bäume, die den Wolken am nächsten kommen, mit solchen gemischt sind, die nicht so hoch reichen. Wie dem auch sei, die Prediger kämpften nicht gegen einen abwesenden Feind; sie sahen ihn vielmehr ganz aus der Nähe, er zeigte sich ihnen vor der Öffnung des Kanonenrohrs und im Angesicht ihrer Donnerschläge und ist dennoch »gewachsen und hat sich vervielfacht«. Ihr zweischneidiges Schwert ging auf Hieb und Stoß, doch das hatte nur die Wirkung der Arbeit eines Gärtners, der einen Baum ausästet und dessen Schnitte ihn größer und schöner werden lassen.13 Aber die Wirksamkeit des königlichen Wortes war so stark und so unmittelbar, daß es binnen eines 12

Anfang Oktober 1699. »Wie eine mit Schlägen einer zweischneidigen, harten Axt behauene Eiche auf dem vom Laub dunklen, fruchtbaren Algidus aus Schäden und 13

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Tages diese hochmütigen Berge fast der Erde gleichgemacht hat. Kaum hatten die Frauen ein – ich will nicht sagen Verbot oder irgendeine Drohung – sondern ein schlichtes Zeichen des Mißfallens vernommen, so arbeiteten sie die ganze Nacht hindurch an der Umgestaltung und zeigten sich dem Monarchen am Tage darauf in einer anderen Kostümierung. Diese Reformation breitete sich erstaunlich schnell aus; augenblicklich gelangte sie vom Hof in die Städte; und weil es, wie man sagt, ein Ausweis des nichtadeligen oder bürgerlichen Wesens wäre, wenn man sich dem Wechsel nicht sogleich anpaßte, muß man glauben, daß es innerhalb weniger Monate nur noch wenige Spuren der Mode geben werde, die so lange vorherrschte. Das zeigt, daß, wenn die gekrönten Häupter ihre Macht in dieser Hinsicht kennen würden oder sich ihrer bedienen wollten, sie mit einem Wort mehr bewirken würden als alle Prediger und Beichtväter mit unzähligen Reden.14 Sollte man hierüber nicht eine Schaumünze prägen? Ein Lied jedenfalls ist unverzichtbar, und ich zweifle nicht, daß es Dichter geben wird, die eine Anspielung auf jene Könige von Juda machen werden, welche die hochgelegenen Orte nicht abschafften15 und dadurch die Wiederherstellung der Religion unvollendet ließen. Hier, so werden diese Dichter sagen, beginnt die Reformation mit der Zerstörung der hohen Orte. Der einfallsreiche Autor, der jeden Monat Betrachtungen über die Neuigkeiten anstellt,16 wird uns fraglos etwas sehr Hübsches über diese Begebenheit sagen. Der Mißstand war so groß, daß er einen neuen Thomas Conecte verlangte.

sogar durch Hiebe des Eisens Kraft und Mut gewinnt.« Horaz, Oden, Buch IV, 4, Vers 57 ff. 14 Man vergleiche hiermit die Anm. (M) des Artikels über LOUIS XII.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  15 »Nur, daß sie die Höhen nicht abtaten; denn das Volk opferte und räucherte noch auf den Höhen.« 2. Könige 12, Vers 4 und anderswo, passim. 16 Seit dem Juni 1699. Sein Buch trägt den Titel L’esprit des cours de l’Europe.

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(G) Es gibt Protestanten, die von ihm lediglich als einem wahren Tartuffe sprechen. Jean Chassanion, ein eifriger Hugenotte, sagt, daß »sich die Heuchelei in den ›reinen und legitimen Gottesdienst‹ drängt und mischt und es genauso bei Aberglauben und Götzendienst macht, sogar mit ostentativem Pomp«. Als Beispiel hierfür nennt er »Bruder Thomas, der durch seine Art des prahlerischen Auftretens unter dem Vorwand einer Reformation der Sitten die Welt so sehr täuschte, daß man ihn überall für einen Heiligen hielt.«18 Unter Berufung auf Enguerrand de Monstrelet schildert er die Reisen usw. dieses Predigers. »Damit er seine Possen treiben konnte«, sagt Chassanion,19 »errichtete man ihm an den schönsten und geeignetsten Orten Tribünen, die mit Behängen und Schmuck reich ausstaffiert waren, auf denen er die Messe hielt und dann predigte. Dabei tadelte er die Laster aller Menschen und geißelte besonders den Klerus wegen seiner Konkubinen und Huren.20 Damit hat er recht gehandelt. Aber es lag ein Gemisch aus Mönchstum, Verrücktheit und ruchloser Unverschämtheit darin, daß er die kleinen Kinder ermunterte, Frauen wegen ihres Prunkes zu verschreien, und ihnen Ablaßtage versprach, als wäre er ein Gott.« Schließlich berichtet er, daß man Bruder Thomas als Häretiker verurteilte und verbrannte, und bemerkt zum Schluß: »Auf diese Weise hat Gott, der sich aller Werkzeuge bedient und sie gut einzusetzen weiß, die Heuchelei dieses Mönches züchtigen und bestrafen wollen, der den Heiligen spielte, aber ein leichtsinniger und ehrgeiziger Narr war.«21 18

Chassanion, Histoires mémorables des grands et merveilleux jugemens de Dieu, Kap. 12, S. 119 meiner Ausgabe. 19 A. a. O., S. 121. 20 Paradin, Annal. de Bourg., S. 700 schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er sagt : »Er predigte lange und wortreich, wobei er große Abschweifungen gegen die Laster aller Stände und insbesondere gegen die Unzucht und den Schmutz der Kirchenmänner machte, die entgegen dem Keuschheitsgelübte, das sie abgelegt hatten, Konkubinen, Huren und Nutten am Tisch und im Bett hatten.« 21 Chassanion, Hist. mémorables usw., S. 124.

EVA

eva, Adams Frau, wurde von ihrem Mann so genannt, weil sie die Mutter aller Lebendigen werden sollte.a Sie wurde aus einer von Adams Rippen gebildet und zu ihm gebracht, um seine Frau zu werden.b Gott gab ihnen seinen Segen und befahl ihnen, »fruchtbar zu sein, sich zu vermehren und die Erde zu füllen.«c Adam besann sich jedoch erst dann auf seine eheliche Pflicht, als er und seine Frau das von Gott gegebene Verbot übertreten hatten. Es war Eva, die zuerst dem Gebot Gottes ungehorsam war: sie ließ sich von den Lügen und schönen Versprechungen der Schlange täuschen (A) und drängte danach ihren Mann zu dem gleichen Ungehorsam. Schwangerschaftsbeschwerden, Schmerzen beim Gebären und die Unterwerfung unter ihren Mann waren die Strafen, zu denen Gott sie verurteilte. Adam erkannte sie erst, nachdem sie aus dem Garten Eden vertrieben worden waren (B). Das ist aber kein zwingender Beweis dafür, daß der Geschlechtsakt mit dem Stand der Unschuld unvereinbar war (C). Sie hatten mehrere Kinder, von denen Kain das erste, Abel das zweite war. Was Seth angeht, so kam er erst auf die Welt, nachdem Abel von Kain getötet worden war. Das kann nicht bezweifelt werden, weil das Wort Gottes es sagt, aber da es nicht mehr darüber sagt, kann man von den anderen Erzählungen über Eva halten, was man will. Z. B. davon, daß sie jedes Jahr niederkam,d und zwar jedesmal mit einem Sohn und einer Tochter (D) oder sogar mit einer größeren Anzahl von Kindern beiderlei Geschlechts, und daß sie 940 Jahre lebtee (E). Darin liegt nichts Unwahrscheinliches, a b c d e

Genesis 3, 20. Genesis 2, 22. Genesis 1, 28. Man sehe Génébrards Chronique. Salianus, Ann., Bd. I, S. 231.

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aber was ich jetzt sagen werde, schmeckt ganz nach einem Roman und einem Mönchstraum, nämlich daß Eva einen Orden für Mädchen gründete, die Jungfrau bleiben und »das Feuer am Brennen halten« sollten, das vom Himmel auf Abels Opfer gefallen war und das man ›Vesta‹ oder ›Flamme Gottes‹ nannte.f Das ist dieser schönen Geschichte zufolge der Ursprung der Vestalinnen. (…). Ein weiteres großes Märchen liegt vor, wenn man, wie es wirklich geschehen ist,g sagt, daß Eva einen Zweig vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse brach und daraus einen kräftigen Stock machte, mit dem sie ihren Mann zwang, von der Frucht dieses Baumes zu essen. Es ist übrigens ein völlig profaner Gedanke, wenn man sagt, wie es einige getan haben,h daß sie selbst der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse war, dessen Frucht dem Verbot unterlag.i Was die Meinung angeht, es hätte niemals Liebe, sondern nur Freundschaft zwischen den Geschlechtern gegeben, wenn Eva nicht von dieser Frucht gegessen hätte (F), so kann man sie weder schlüssig widerlegen noch auf gute Beweise gründen. Ich will noch von zwei oder drei ausschweifenden Meinungen der Rabbinen berichten. Einige von ihnen sagen, daß Eva aus Adams Schwanz gebildet wurde. Nach ihrer Darstellungk hat Gott Adam zunächst mit einem Schwanz ausgestattet, dann aber bemerkt, daß dies die Schönheit seines Werks beeinträchtigte. Daher entschloß er sich, ihn abzuschneiden und zur Erschaffung der Frau zu verwenden, die er dem ersten Menschen beigab.l Diese Frau, sagen sie, war so schön, daß der Fürst aller Engel sich stark in sie verliebtem (G), was zur Folge hatte, daß er aus dem Stand der Unschuld fiel. Nur Eva konnte Adams Liebesleidenschaft befriedigen; er hatte jedes andere Mittel

f g h i k l m

Saint Romuald, Abrégé du thrésor chronol., für das Weltjahr 99. Bei Saldenus, Otia theol., S. 607. Ebd. Man sehe Anm. (B). Man sehe Bartoloccis Bibliothèque rabbinique, Bd. I, S. 69. A. a. O., Bd. III, S. 396. A. a. O., Bd. I, S. 322.

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vergeblich versucht (H), so daß er ausrief: »Diese ist jetzt Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch«.n Hier sieht man, mit welcher Raserei diese Leute nicht nur abscheuliche Gedanken aussprechen, sondern sie auch mittels der absurdesten Interpretationsmethode auf die Schrift gründen. Die Einbildungen eines jüdischen Autors aus dem 16. Jahrhundert, den man gewöhnlich ›Leo der Hebräer‹o nennt, sind kaum weniger willkürlich. Er behauptet,p daß der Mensch, den Gott am sechsten Schöpfungstag schuf, gleichzeitig männlich und weiblich war und daß dieser Mensch, nachdem er durchmustert hatte, was da kreucht und fleucht, ohne darunter ein Wesen zu finden, dessen Gesellschaft und Unterstützung ihn erfreute und befriedigte, in einen tiefen Schlaf fiel, um zweigeteilt von der Einsamkeit erlöst zu werden, in der ihn zu belassen Gott nicht für gut befand. Nach dieser Teilung wurde die Frau, die vorher keinen eigenen Namen hatte, Eva genannt. Der Autor paßt seine Hypothese so gut es geht an Platons Lehre von den Androgynen anq und stellt sich vor, daß der Mensch niemals gesündigt hätte, wenn die zwei Geschlechter, die Adam anfangs in seiner Person vereinigte, nicht getrennt worden wären (I). Er behauptet ferner, daß es in jedem der beiden Geschlechter einen männlichen und einen weiblichen Anteil gibt. Die Erklärungen dieses Schriftstellers sind kaum geeignet, die Vorsehung von der Schuld an Adams Fall freizusprechen, und kommen der Meinung derer nahe, welche die erste Sünde als einen Akt schamloser Liebe ausgeben. Man sehe die Anmerkung (I). Wenn wir also diesen ungläubigen Doktoren den Prozeß machen, dann wollen wir einen Schöngeist katholischen Glaubens und französischer Nationalität nicht schonen. Er hat ein Sonett verfaßt, das gedruckt n

Genesis 2, 23. Er war der Sohn des Rabbi Abrabanel. Man sehe hierzu Anm. (I) des Artikels ABRABANEL.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  p Leo der Hebräer, Philosophie d’amour, Dialog III, S. 612 meiner Ausgabe. q Man sehe hierzu Anm. (F) des Artikels ADAM.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  o

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wurde und das, um nichts Schlimmeres zu sagen, äußerst weltlich ist. Vergeblich würde man sich hier auf die Privilegien der Dichtung berufen: Das wäre nämlich eine frivole Ausrede, denn legitime dichterische Freiheit reicht nicht so weit, und wie oft könnten ihre gegen Moral und Glauben gerichteten Grundsätze nicht mit Recht den Richtlinien der Inquisition gemäß verurteilt werden? Man sehe die Anmerkung (I) des Artikels GARASSE.* Ein anderer Schöngeist aus Italien, ein venezianischer Edelmann, mit einem Wort: der berühmte Loredano, dieser Schöngeist, sage ich, hat einen Tadel verdient, weil er nicht genügend bedacht hat, was sich für Evas Ehre schickt, denn er nimmt an, daß sie nach der Vertreibung aus dem Paradies ihren Mann ermahnt hat, das göttliche Gebot »Seid fruchtbar und mehret euch!« zu befolgen und seiner ehelichen Pflicht bei ihr nachzukommen.r Der Anstand hätte die Vermutung verlangt, daß Adam der Fordernde war. Auch einiges andere bei Loredano verdient einen Tadel. Ein deutscher Schriftsteller hat weitaus mehr Sympathie mit der ersten aller Frauen gezeigt; er glaubt, Adams Sünde sei größer als diejenige Evas und Gott habe Eva gar nicht aus dem Paradies vertrieben, nur Adam sei so bestraft worden. Wir werden sehen, worauf er das stützt (M).

(A) Sie ließ sich (---) von den schönen Versprechungen der Schlange täuschen. Wenn ich all die falschen Behauptungen in Bezug auf die Schlange darlegen wollte, würde ich niemals fertig werden. I. Die einen sagen,1 daß es eben das von uns ›Schlange‹ genannte Tier war, das Adams Frau in Versuchung führte, und sie nehmen an, daß die Schlange zu jener Zeit vertraute Gespräche mit dem Menschen führte und daß sie die Sprache erst als Strafe für  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Man sehe Anm. (L).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  1 Josephus, Antiquit., Buch I, Kap. 2. Aben Esra zu Genesis, Kap. 3. * r

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die Bosheit verlor, mit der sie die Einfalt dieser Frau mißbraucht hatte. Diese Meinung ist jedoch so absurd, daß man sich wundert, daß ein Autor wie Josephus sich nicht geschämt hat, sie vorzubringen. Noch mehr aber wundere ich mich, wenn ich sehe, daß ein so großer Visionär wie Paracelsus sagt,2 daß nicht allein die erste Schlange aufgrund einer besonderen Erlaubnis Gottes die Kraft hatte, Adam und Eva auf eine hohe Stufe der Naturerkenntnis zu heben, sondern daß noch heute alle Arten von Schlangen aufgrund eines besonderen göttlichen Willensaktes Kenntnis von den tiefsten Geheimnissen der Natur besitzen. II. Gewisse Rabbinen3 stimmen mit Josephus darin überein, daß Evas Versucher tatsächlich nur eine Schlange war; aber statt wie dieser Historiker zu sagen, daß die Schlange vom Neid auf das Glück, das dem Menschen für den Fall des Gehorsams gegen Gott versprochen war, dazu getrieben wurde, diese gute Frau zu versuchen, sagen sie, daß die Schlange von Schamlosigkeit getrieben wurde: Sie bemerkte, daß Adam und Eva einander genossen, wie die Gesetze der Ehe es erlauben; sie sah, wie sie ganz nackt mit dieser Übung beschäftigt waren, was sehr unordentliche Leidenschaften in ihr weckte: Sie wünschte Adams Platz einzunehmen und machte sich Hoffnung auf dieses Glück, falls Eva Witwe würde. Nun glaubte sie, daß ihre Hinterlist nur dem Mann schaden würde, weil er als erster den Apfel essen würde; daher entschloß sie sich, den Anschlag auszuführen. Kann man ungereimtere Unverschämtheiten von sich geben? Hätte ein Versucher mit diesen Motiven die Frau wohl den Apfel in Abwesenheit ihres Mannes essen lassen? III. Wenn wir Abrabanel4 Glauben schenken, dann wurde die Schlange nur deshalb zum Versucher, weil man aus ihrem Verhalten falsche Schlußfolgerungen zog. Sie hatte keinerlei Absicht, Böses zu tun, sie sagte kein einziges Wort zu Eva, sie besaß nur eine den anderen Tieren fehlende Geschicklichkeit, nämlich den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu erklimmen und seine 2 3 4

Paracelsus, De myster. vermium, bei Rivinus, Serpent. seduct., S. 24. Salomon Jarchi, bei Rivinus, a. a. O., S. 27. Bei Rivinus, a. a. O., S. 95 ff.

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Frucht zu essen. Eva sah, daß es ihr deshalb nicht schlechter ging und zog daraus die Folgerung, daß von diesem Baum nichts zu befürchten sei und aß davon, ohne Angst zu haben, daran sterben zu müssen. Heißt das nicht die Schrift noch mehr zu verachten, als Eva das Verbot mißachtete, wenn man auf diese Art und Weise eine Erzählung erklärt, in der so deutlich von einem Dialog zwischen der Schlange und der Frau die Rede ist? IV. Einige alte Ketzer haben erträumt, daß die Schlange, die als Versucher auftrat, eine Macht war,5 die Jaldabaoth in Gestalt einer Schlange hervorgebracht hatte. Dieser Jaldabaoth war verärgert, weil eine größere Gottheit als er den Menschen aufrecht gehen ließ, der zuvor nur ein Wurm gewesen war, und weil sie dem Menschen die Erkenntnis höherer Gottheiten geschenkt hatte, denn Jaldabaoth hätte gern als der einzig wahre Gott gegolten. Sein Ärger ließ ihn also die Paradiesschlange hervorbringen, deren Wort Eva Glauben schenkte, als käme es vom Sohn Gottes. Diese Ketzer brachten der Schlange große Verehrung entgegen, weil sie dem Menschengeschlecht die Erkenntnis von Gut und Böse mitgeteilt hatte, nachdem sie ihren Worten zufolge von der Frucht des Baumes gekostet hatte. Man nannte sie daher ›Ophiten‹. V. Sie trieben ihre wahnwitzigen Träumereien noch weiter, wenn wir dem hl. Augustinus glauben dürfen,6 denn sie behaupteten, der Versucher in Gestalt einer Schlange sei Jesus Christus gewesen, und deshalb hielten sie sich eine Schlange, die auf ein Wort ihrer Priester hin auf ihren Altar glitt, sich um ihre Opfergaben wand und sie beleckte, woraufhin sie sich in ihre Höhle zurückzog. Sie glaubten dann, Jesus Christus sei gekommen, um ihre Symbole zu segnen, und feierten ihre Kommunion. Der menschliche Geist hat sich die Freiheit herausgenommen, die zutreffendste Meinung, nämlich daß der Teufel in Gestalt einer Schlange Eva versuchte, mit tausend weiteren Annahmen zu verknüpfen. VI. Denn einige Rab-

5

Tertullian, De praescript. adv. haeret., Kap. 47, Epiphan., Haeres., XXXVII. 6 August., De haeres., Kap. 17.

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binen sagen,7 daß Sammael, der Fürst der Teufel, sich auf eine Schlange von der Größe eines Kamels schwang und sich in diesem Aufzug an Eva heranmachte, um sie in Versuchung zu führen. VII. Andere sagen,8 daß dieser Versucher großen Vorteil daraus zog, daß Eva das Verbot nicht mit genau den Worten wiedergab, in denen Gott es ihnen gegeben hatte. Gott hatte ihnen verboten, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen; Eva aber sagte der Schlange, Gott habe ihnen verboten, von diesem Baum zu essen und ihn zu berühren. Als sie nun nahe an dem Baum vorüberging, packte die Schlange sie und stieß sie gegen den Baum; sie machte Eva darauf aufmerksam, daß sie nicht daran gestorben war und zog daraus die Folgerung, daß Eva auch nicht sterben würde, wenn sie davon äße. Einige Kirchenväter und moderne Theologen9 verurteilen Eva, weil sie ungenau wiedergegeben hatte, was sie aus dem Mund Gottes gehört hatte. Man kann sagen, daß dies ein schlechtes Omen für das Gedächtnis des menschlichen Geschlechts war. Es war anscheinend das erste Mal, daß jemand einem anderen wiederholte, was er hatte sagen hören: Dabei kam es zu beträchtlichen Veränderungen, und das noch im glücklichen Stand der Unschuld. Muß man sich da wundern, daß der Mensch im Stand der Sünde alle Tage unzuverlässigen Bericht erstattet und daß eine Tatsache nicht einmal wenige Stunden von Mund zu Mund gehen kann, ohne entstellt zu werden? Das sei am Rande vermerkt, genau wie das, was ich hinzufüge: Es gibt Autoren, die sagen, daß Eva das Verbot nur aus Adams Erzählung kannte und daß dieser ihr eigenmächtig weismachte, daß es ihnen nicht einmal erlaubt sei, den Baum zu berühren; er habe das getan, sage ich, um sie zu größerer Behutsamkeit zu veranlassen. Diese Vorsichtsmaßnahme war vergebens. VIII. Einige bestreiten,10 daß die Schlange zu Eva gesprochen hat; durch Zischen oder 7

Man sehe Rivinus, S. 5, 43 f. Bei dems., S. 73. 9 Ambrosius, De paradiso, Kap. 2, Rupertus, De trinit., Buch III. Cajetan, Pererius, Calvin, Oecolampadius, Luther, Gerhard bei Rivinus, S. 73 f. 10 Bei Rivinus, S. 103. 8

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durch irgendwelche Zeichen habe sie sich verständlich gemacht, denn zu jener Zeit habe der Mensch die Sprache aller Tiere verstanden. Cajetan11 wollte nicht zugeben, daß bei Evas Versuchung Sprache ins Spiel kam: er behauptet, daß die Schlange sich nur innerer Suggestionen bedient habe. IX. Ein Rabbi namens Lanyado12 hat so sehr über der Redewendung »Ihr werdet des Todes sterben« gebrütet, daß er zu dem Glauben kam, die Schlange habe vorausgesetzt, daß diese Worte die Androhung eines doppelten Todes enthielten: der eine sollte von einer Eigenschaft der verbotenen Frucht abhängen, der andere von dem Verbot, davon zu essen, oder auch, daß der eine Tod durch das Holz des Baumes, der andere durch die Frucht verursacht sein sollte. Mit einem wahrhaft sophistischen Trick und als ob sie eine Lüge zugunsten von Doppeldeutigkeiten vermeiden wollte, habe die Schlange daraufhin bestritten, daß die angedrohte Wirkung in Bezug auf das Holz des Baumes eintreten werde. Auf diese Art und Weise habe sie Eva überredet, von dem Holz zu kosten, und da diese den Geschmack angenehm fand, habe sie gefolgert, daß die Frucht noch viel besser schmecken würde und davon gegessen. – Ihr Destillateure der heiligen Schriften, ihr würdet weniger Tadel verdienen, wenn ihr eure Muße auf der Suche nach dem sagenhaften Stein der Weisen zu chemischen Destillationen mißbrauchtet. X. Man hat erdichtet, daß die Schlange sich das Gesicht eines schönen Mädchens gegeben habe, als sie Eva versuchen wollte. Nikolaus von Lyra erwähnt dieses hohle Hirngespinst,13 und deutsche Bibeln, die vor Luther gedruckt sind, zeigen unter anderen Gestalten auch die einer Schlange mit dem Gesicht eines wirklich hübschen Mädchens. »Es endet als Fisch die oben so schöne Frau.«14 Die Sirenen waren ebenfalls monströse Gebilde, deren Oberkörper einer Frau glich. Deren betrügerische und verräterische Stimme kann sehr wohl mit der dieser Schlange vergli11 12 13 14

A. a. O., S. 104. A. a. O., S. 122. Man sehe Rivinus, letzte Seite. Horaz, De arte poetica, Vers 4.

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chen werden; aber wollte Gott, daß Eva sich so wie Odysseus verhalten hätte! Sie lieh ihr Ohr zu sehr den Worten dieser Verführerin. Doch deshalb müssen wir nicht all die feinen Komplimente glauben, die Alcimus Avitus zufolge zwischen ihnen ausgetauscht wurden,15 denn nach Moses’ Erzählung war die große Angelegenheit in ganz wenigen Worten entschieden.

Wie wenig Widerstand Eva geleistet hat Niemals hat es ein Unternehmen von derartiger Bedeutung gegeben: Es ging um das Schicksal des Menschengeschlechts für alle Zukunft; die ewige Glückseligkeit oder die ewige Verdammnis aller Menschen hing davon ab, all die Dummheiten und Lächerlichkeiten dieses Lebens nicht mitgerechnet. Trotzdem hat es nie eine so schnell beendete Affäre gegeben, und nie hat der Teufel vielleicht ein so gutes Geschäft gemacht. Wahrscheinlich haben die verbrecherischen Überlegungen von Privatleuten, die ohne Folgen blieben, ihn stets mehr Mühe gekostet als diese, die für die ganze Welt entscheidend war; und man muß zugeben, daß diese beiden Köpfe, denen Gott das Heil des menschlichen Geschlechts anvertraut hatte, es denkbar schlecht hüteten. Sie überließen die Stellung dem Feind beinahe kampflos, und anstatt sich für ein so kostbares Gut so stark einzusetzen, wie sich der sündige Mensch für seine Religion und sein Vaterland einsetzt, pro aris et focis  für Heim und Herd , leisteten sie weniger Widerstand als ein Kind, dem man die Puppe wegnehmen will. Sie benahmen sich, als ginge es nur um eine Kleinigkeit, sic erat in fatis  das Schicksal hat es so gewollt . Hüten wir uns jedenfalls sorgfältig vor der Annahme, Moses habe entweder die Erzählung allzusehr verkürzt oder dieses traurige Geschehen dem Geschmack der Orientalen gemäß unter dem Schleier irgendwelcher Märchen verborgen. Das hieße, die Sache unserer Grundwahrheiten allzusehr zu kompromittieren, und 15

Man sehe die Nouvelles de la république des lettres für das Jahr 1686, S. 764. Dort werden einige Fehler bei Garasse berichtigt.

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schließlich sollten Evas große Unschuld und ihre Unerfahrenheit in allen Dingen der Verwunderung über ihren kurzen und schwachen Widerstand Grenzen setzen. Um nicht betrogen zu werden, muß man selber äußerst boshaft und betrügerisch sein. Gute Menschen sind am leichtesten zu hintergehen. Unfähig zur Täuschung, Haben sie Mühe, den Netzen Der Arglist zu entgehen. Der Offenherzige könnte einem Andern Nicht Schurkerei noch Bosheit unterstellen, Die er nicht in sich selber spürt. Der Sieg, den der Teufel über die erste aller Frauen davontrug, brachte ihm daher weitaus mehr Nutzen als Ansehen ein; man könnte ihn und die Schlange, die sein Komplize war, beinahe so anreden: »Großes Lob und reiche Beute tragt ihr davon, Du und Dein Sohn, einen großen und denkwürdigen Namen, Wenn eine Frau durch die List zweier Götter besiegt ist.«16 Denn was ein moderner Autor sagt, nämlich daß die guten Engel keine so ungleiche Partie zwischen einem raffinierten Teufel und einer soeben erschaffenen Frau zugelassen hätten, die noch keinen Sonnenaufgang und -untergang gesehen hatte, verdient keine andere Antwort als diese: Ein Argument, das zuviel beweist, beweist nichts. (…).17

16 17

Vergil, Aeneis, Buch IV, Vers 93 ff. Burnet, Archaeol., S. 441 der Ausgabe Amsterdam 1694.

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(B) Adam erkannte sie erst, nachdem sie aus dem Garten Eden vertrieben worden waren. Nur Leute, die eher ihren Einbildungen als der Autorität der Schrift gehorchen, können leugnen, daß Adam und Eva diesen Garten jungfräulich verließen: zu Unrecht wirft Cornelius a Lapide18 den Protestanten vor, das zu leugnen. I. Ich verweise Darstellungen ins Reich der Fabel, die besagen, daß Kain noch im irdischen Paradies empfangen wurde und daß Eva, kaum daß sie erschaffen war, sofort zur Frau gemacht wurde, weil Adam sich sogleich mit ihr vergnügte, als er sie sah. Freiheit von aller Scham war eins der Privilegien der Unschuld, behauptet der Verfasser der Sibyllinischen Verse, daher kam der Mensch in diesem Stand seiner ehelichen Pflicht in aller Öffentlichkeit und ebenso frei wie die Tiere nach.19 Dieser Autor ist jedoch apokryph und völlig unglaubwürdig. Diejenigen Rabbinen, die in ihrer Frechheit behaupten,20 daß die Schlange sich in Eva verliebte, als sie Eva mit ihrem Mann in flagranti beobachtete, und daß sie sich bei diesem Anblick den finsteren Anschlag zu ihrer beider Verführung ausdachte, sind noch unerträglicher als die vorgebliche Sibylle und als diejenigen Rabbinen, die sagen, daß Adam schlief, als Eva mit der Schlange sprach,21 und daß er eingeschlafen war, um sich von den ehelichen Frondiensten zu erholen. Diese letzteren Rabbinen hatten stets sehr ausgefallene Ansichten. In der folgenden Anmerkung werden wir sehen, daß andere unter ihnen zwar nicht frei von Träumereien sind, aber doch die Tatsache erhärten, die wir hier unter Berufung auf einen Kirchenlehrer behaupten,22 nämlich daß Adam erst dann daran dachte, seine Hochzeit zu begehen, als er nicht mehr im Paradies weilte: »Hochzeiten füllen die Erde, Jungfräulichkeit 18

Zu Genesis 4, 1. Man sehe Heidegger, Histor. patriarchar., Bd. I, S. 108. 19 »Und sie paarten sich wie Tiere in aller Öffentlichkeit.« Buch I, S. 45 der Ausgabe von Gallaeus. 20 Bei Rivinus, Serp. seduct., S. 27. 21 Bei dems., S. 77 f. 22 Hieronymus, In Jovin., Buch I.

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das Paradies.«23 II. Wir wollen auch das andere Extrem vermeiden: Einige erzählen, daß Adam den Vollzug seiner Ehe fünfzehn, sogar dreißig Jahre aufschob. Andere treiben die Sache noch weiter und behaupten, daß Adam und Eva einvernehmlich und um ihre Sünde zu beklagen ihre Enthaltsamkeit erst nach Ablauf von hundert Jahren aufgaben. Die Argumente, die das widerlegen, sind sehr gut, sei es daß man sie von der Notwendigkeit ableitet, zunächst die Erde zu bevölkern, und von dem Auftrag, den die beiden von Gott hierzu erhalten hatten, sei es daß man sie von den Neigungen ableitet, die ihr Alter, ihr Körperbau und die ersten Feuer des Begehrens ihnen eingeben mußten. (…).24 III. Wer sagt, daß Adam über mehrere Jahre nicht an dieser Enthaltsamkeit partizipierte, ist ein Träumer, der kein Gehör verdient. Solche Leute nehmen an,25 daß er 150 Jahre lang exkommuniziert war, weil er von der verbotenen Frucht gegessen hatte, und daß er während dieser Zeit mit einer Frau zusammenlebte, die wie er aus Erde geformt war und die sie Lilia nennen. Sie sagen weiter, daß er durch den Verkehr mit dieser Frau Teufel zeugte und daß er schließlich nach Aufhebung seiner Exkommunikation Eva, die seinem Kopf entsprungen war, heiratete und Menschen zeugte. Diese Darstellung ist noch verworrener als die in anderen Büchern,26 die besagen, daß Adam Buße tun wollte und sich daher 130 Jahre lang von Eva fernhielt und sich an eine andere Frau namens Lilitha anschloß, mit der er nur Teufel zeugte. Das war der gerechte Lohn für eine so regelwidrige Buße. Andererseits erwähnt Epiphanius jedoch eine ketzerische Sekte,27 nach deren Lehre der Teufel mit Eva wie ein Mann mit seiner Frau verkehrt hatte und daß er Kain und Abel mit ihr zeugte. Hierzu sehe man Anmerkung (G). Das ist ein Tausch: Adam verläßt Eva, um mit einer anderen Frau 23

Man sehe die folgende Anmerkung. 24 Corn. a Lapide zu Genesis 4, 1. 25 Bei Saint Romuald, Abrégé du thrésor chronol., Bd. I, S. 35 meiner Ausgabe. 26 Man sehe Heidegger, Histor. patriarchar., Bd. I, S. 168. 27 Epiph., Haeres. XL.

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Teufel zu zeugen, und der Teufel tut sich mit Eva zusammen, um mit ihr Menschen zu zeugen! IV. In erster Linie muß man aber den profanen und gottlosen Irrtum derer verurteilen, die sagen, daß der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nichts anderes als die Liebeslust war, woraus sie schließen, daß der Fall unserer Stammeltern auf Seiten der Frau in dem Wunsch bestand, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, und auf Seiten des Mannes in der Erfüllung dieses Wunsches. Cornelius Agrippa ist nicht der erste, der diesen Unsinn erzählt hat: Die Katharer, die Manichäer, die Priszillianisten und die Basilidianer haben ihn schon vor langer Zeit vorgebracht;28 aus dem Buch des Grafen Gabalis geht hervor, daß dies eine von den Lehren der Kabbala ist und daß Eingeweihte wie Adepten die Geschichte der Versuchung nur so erklären. »Der Weise«, sagt dieser Autor, »durchschaut leicht die keuschen Redefiguren. Wenn er sieht, daß Evas Geschmack und Rede nicht bestraft werden, aber daß sie unter Schmerzen gebärt, dann erkennt er, daß nicht der Geschmack sündig ist; und wenn er an der Sorgfalt, mit der die ersten Sünder gewisse Stellen ihres Körpers mit Blättern bedeckten, erkennt, worin die erste Sünde bestand, dann schließt er daraus, daß Gott nicht wollte, daß die Menschen sich auf diese gemeine Art vermehrten.« Robert Fludd hat sich leichtfertig dieser absurden Meinung angeschlossen.29 (…).30 Zwar könnte man zugeben, daß Moses’ Erzählung etwas Allegorisches enthält, aber es sollte nicht weniger gewiß sein, daß man ihn hinsichtlich der zeitlichen Abfolge beim Wort nehmen muß. Unbestreitbar setzt die Schrift aber die erste Vereinigung von Adam und Eva für die Zeit nach dem Urteil an, das Gott wegen ihres Vergehens verhängte. Reyssenius hat das Märchen dieser Freigeister gründlich widerlegt.31 Das waren vier Fehler bei einem einzigen Punkt. 28

Man sehe Hadrian Beverland, De peccato origin., S. 44 f. Jacob Möller, Tractatus de hermaphroditis, Kap. 6, S. 176. 30 Man sehe in Anm. (I) das Zitat aus Leo dem Hebräer. 31 Justa detestatio scelerati libelli Adr. Beverlandi. Man sehe auch Polygam. triumphat., S. 233 ff., Saldenus, Otia theol., S. 595 ff. 29

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(C) Das ist aber kein (---) Beweis dafür, daß der Geschlechtsakt mit dem Stand der Unschuld unvereinbar war. Mehrere alte Kirchenväter, die allzusehr für die Vorzüge der Jungfräulichkeit eingenommen waren, haben behauptet,32 daß der Mensch, wenn er im Stand der Unschuld verblieben wäre, nicht mit dem ehelichen Verkehr angefangen hätte und daß die Vermehrung des menschlichen Geschlechts dann auf eine ganz andere Art und Weise geschehen wäre. Der hl. Augustinus hat jedoch mit starken Argumenten das Gegenteil vertreten;33 denn schließlich gingen der Segen Gottes, das Gebot zur Vermehrung und die Verschiedenheit der Geschlechter der Sünde voraus, und es wäre eine absurde Behauptung, daß die Sünde absolut notwendig gewesen sei, damit die Menschengenerationen Gott die Zahl seiner Auserwählten lieferten.34 Zwar räumt der hl. Augustinus ein, daß im Stand der Unschuld die Zeugung leidenschaftslos und ohne Verlust der Jungfräulichkeit vor sich gegangen wäre und daß die Geschlechtsteile völlig der Vernunft gehorcht hätten, so daß ihm zufolge die Revolte dieser Teile die erste und unmittelbarste Folge des Ungehorsams unserer Stammeltern war, wie sich an dem Schamgefühl zeigt, von dem sie auf der Stelle befallen wurden und das sie veranlaßte, sich einen Lendenschurz zu machen. »Wie alle anderen Körperteile sollten auch jene (im Paradies) dem Willen gehorchen. Das hierfür geschaffene Glied sollte den Samen so ins Feld der Fortpflanzung streuen, wie die Hand des Säemanns jetzt die Erde bestreut.35 Der Mann sollte also Nachkommen zeugen, die Frau sie empfangen, wobei der Wille, nicht die Lust die Geschlechtsorgane, wenn und so lange es nötig wäre, bewegte.36 So konnte sich damals der männliche Samen bei unversehrtem weiblichen Geschlecht in den Schoß der Gattin ergossen haben, 32 33 34 35 36

Salianus, Bd. I, S. 174. August., De civ. dei, Buch XIV, Kap. 21 ff. August., a. a. O., Kap. 23. Ders., ebd. Ders., a. a. O., Kap. 24.

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so wie sich jetzt noch der Ausfluß der Monatsblutung aus dem Schoß einer Jungfrau ergießt.«37 Anscheinend haben gewisse Rabbinen diese Wirkung einer natürlichen Eigenschaft der verbotenen Frucht zugeschrieben: die mechanistischen Prinzipien der neuen Philosophie liefern ihnen leicht die Argumente zur Verteidigung dieses Gedankens. Diese Doktoren sagen ferner,38 das Wissen, das der Versucher mittels dieser Frucht unseren Stammeltern versprach, habe darin bestanden, daß sie sich zu paaren wünschten – das einzige Wissen, das sie noch nicht hatten.39 Da sieht man, wie dieser Baum ihnen die Augen öffnen mußte: Adam sollte der Schönheit seiner Frau innewerden, die er bis dahin nicht beachtet hatte, weil er zu sehr mit Verstandesdingen beschäftigt war, und sie sollten beide die Körperteile an sich bemerken, die für den Vollzug der Ehe bestimmt sind. Als Folge davon sollten sie weitere Menschen hervorbringen und hinsichtlich der Macht, neue Wesen zu schaffen, Gott ähnlich werden. Kann es eine kühnere Gottlosigkeit geben als die bei Abrabanel belegte,40 nämlich daß Gott aus Eifersucht auf den Menschen und um der alleinige Schöpfer zu bleiben dem Menschen verbot, von dem Baum zu essen, der Zeugungskraft verlieh? Die Rabbinen führen das Sprichwort an Figulus figulo invidet, faber fabro  Der Töpfer ist neidisch auf den Töpfer, der Schmied auf den Schmied , und einige von ihnen behaupten,41 Adam habe gut daran getan, von der verbotenen Frucht zu essen, weil der Mensch andernfalls wie ein Tier gewesen wäre, weil er Gut und Böse nicht unterschieden und dem Tier nur die Sprache vorausgehabt hätte. Der gelehrte Maimonides hat diese ausschweifende Meinung widerlegt. Anscheinend haben diese Leute geglaubt, Adams und Evas Organismus sei so gebaut gewesen, daß es der spirituellen Bestandteile der verbo37

Ders., a. a. O., Kap. 26. 38 Bei Rivinus, S. 127 ff. 39 »Eine einzige Sache kannte er nicht, nämlich den Koitus.« Aben Esra, bei Rivinus, S. 127. 40 Bei Rivinus, S. 127. 41 Bei dems., S. 126.

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tenen Frucht bedurfte, um gewisse Verstopfungen bei ihnen zu aufzulösen, die sie so gefühllos und impotent wie diejenigen Personen machten, von denen die Rechtsvorschrift De frigidis et maleficiatis  Von Frigiden und Verhexten  spricht.

(D) Man erzählt, daß sie (---) jedesmal mit einem Sohn und einer Tochter niederkam. Einige haben geglaubt, daß Kain und Abel Zwillingsbrüder waren. Anhand der Darstellung bei Moses kann man aber leicht das Gegenteil beweisen. Auch ist das nicht die herrschende Meinung. Man zieht vielmehr die Annahme vor, daß bei jeder Niederkunft ein Sohn und eine Tochter geboren wurden, und nimmt weiter an, daß die mit Kain Geborene Abel und die mit Abel Geborene Kain heiratete; Entsprechendes gilt für die übrigen.42 Dadurch glaubt man, den Vorwurf der Blutschande soweit wie möglich zu entkräften. Zu diesem oder einem anderen Zweck wäre es jedoch nicht nötig gewesen, daß die Zwillinge verschiedenen Geschlechts waren, denn wenn Eva beim ersten Mal mit zwei Jungen und das zweite Mal mit zwei Mädchen niedergekommen wäre, wären die Ehen ebensogut und ohne schlimmeren Inzest als unter der ersten Annahme möglich gewesen. Wie dem auch sei, die verbreitetste Ansicht besagt, daß ein Sohn und eine Tochter zusammen geboren wurden, und man hat uns sogar über die Namen der Töchter informiert. Kains Zwillingsschwester hieß Kalmana43 oder Kaimana44 oder Debora45 oder Azrum46, diejenige Abels Delbora47 oder Awina48. Epiphanius erwähnt in der 39. Häresie Azura und Sava als zwei 42

Man sehe Heidegger, Histor. patriarchar., Bd. I, S. 169, 198. Corn. a Lapide, Genesis-Kommentar, S. 95. 44 Comestor bei Salianus, S. 178. 45 Methodios bei Raderus, Not. in chron. Alexandr., zitiert von Salianus, S. 175. 46 Saidus Patricides, bei Heidegger, Bd. I, S. 169. 47  Corn.  a Lapide, Genesis-Kommentar, S. 95. 48 Saidus Patricides, bei Heidegger, Bd. I, S. 169. 43

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Töchter Adams49 und sagt, daß Sava Kains Frau wurde. Cedrenus und einige andere geben Adams Schwiegertochter den Namen Asua und machen sie zu Kains Frau. Tostado zufolge haben die Rabbinen Kain zwar seine eigene Zwillingsschwester zur Frau gegeben, sie habe aber Kalmana geheißen. Man sehe die Anmerkung (F) des Artikels ABEL.* Diejenigen, die derartige Einzelheiten zu behaupten wagten, verdienten zur Strafe für ihre bodenlose Leichtgläubigkeit in ein noch größeres Durcheinander zu geraten, als wir bei ihnen feststellen. Sprachverwirrung sollte das Los allzu gewagter Behauptungen sein. Denn welche Kühnheit gehört dazu, hinter die Sintflut und bis zum ersten Ursprung der Dinge ohne die Hilfe des einzigen uns erhaltenen Historikers zurückgehen zu wollen! Eher könnte man den Turm von Babel bauen, als aus solchem Abstand die Namen der Töchter Adams herauszufinden. In dieser und verschiedenen anderen Sachen muß man sich allein an den Text bei Moses halten. Man darf nur nach dem suchen, was uns die inspirierten Schriftsteller lehren. Sie allein kennen die Dinge, alles Übrige wäre nur ein Märchen. (…). Im Artikel KAIN** widerlegen wir diejenigen, die behaupten, daß Eva erst zwei Kinder hatte, als Abel ermordet wurde.

(E) (---) und daß sie 940 Jahre lebte. Wenn ihr die Quellen hierfür verlangt, so will ich euch drei nennen: Marianus Victor, Génébrard und Feuardent.51 Aber auch hunderttausend solcher Zeugen können die Ungewißheit einer derartigen Tatsache nicht verringern. Im übrigen kenne ich Autoren,52 die es bemerkenswert finden, daß Eva zehn Jahre länger gelebt hat als Adam, trotz so vieler Schwangerschaften 49 * ** 51 52

Man sehe Heidegger, a. a. O. und Salianus, S. 183.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.   Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Salianus, Bd. I, S. 231. Ders., ebd.

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Historisches und kritisches Wörterbuch

und so vieler Niederkünfte, trotz der beständigen Dominanz ihres Mannes, trotz Abels Tod, des Schismas der Kainiten und der ununterbrochenen Reue über ihren Fehler. Zu Unrecht nehmen sie Adams Herrschaft über seine Frau in diese Liste auf, denn außer wenn man ihn für einen schlechten Ehemann hält, kann man diese Herrschaft nicht als etwas betrachten, das imstande gewesen wäre, Evas Leben zu verkürzen. Wie dem auch sei, sie müssen dieser ersten Frau das beste Temperament der Welt zugestehen. Denn sie tragen vor, daß ihr Mann, weil er 930 Jahre alt werden und seinen Söhnen über mehrere Generationen die Voraussetzungen für ein so langes Leben mitgeben konnte (was nicht weniger Evas Verdienst als seines ist), von sehr kräftiger Konstitution gewesen sein muß. Seine lange Buße, sagen sie, und der Kummer über den Verlust so vieler Güter für sich und seine Nachkommen haben vielleicht seine Lebenskraft geschwächt; man weiß aber nicht, ob er jemals krank gewesen ist. Man wende die Sache wie man will, es wird immer ein graduelles Argument bleiben, das zeigt, daß Eva von widerstandsfähigerer körperlicher Konstitution war als ihr Mann. (…).53

(F) Einige glauben, es hätte niemals Liebe zwischen den Geschlechtern gegeben, wenn Eva nicht von der verbotenen Frucht gegessen hätte. Ich habe die Worte des hl. Augustinus angeführt,54 die klar bezeugen, daß seiner Ansicht nach die Väter mit derselben Unbeteiligtheit Kinder gezeugt hätten, mit der Bauern ein Feld einsäen. Man könnte ihm den Einwand machen, daß die Tiere in dem Stand geblieben sind, in dem sie geschaffen wurden, und daß sie nichtsdestoweniger dazu neigen, ihre Art mit unglaub53

Ders., a. a. O., S. 109. In Anm. (C), Fußn. (35). Man sehe den Magister Sententiarum, 19. Distinct. secund. und andere Autoren bei Gasp. a Reyes, Elys. jucund. quaest. campo, quaest. 42, Nr. 2. 54

Eva

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lichem Feuereifer zu vermehren.55 Wenn Liebesglut die Tiere antreibt, tritt bei ihnen offen zutage, was man ›Libido‹ nennt, und zwar in der unreinsten und hitzigsten Form, die man sich unter diesem Wort vorstellen kann; dennoch haben sie nichts getan, was sie aus ihrem natürlichen Stand gerissen hätte. Es scheint daher, daß diese Leidenschaften und von Lust begleiteten Bewegungen, die trotzdem der Vernunft unterworfen sind, keineswegs mit dem Stand der Unschuld unvereinbar sind. Der hl. Augustinus würde nicht versäumt haben, sich hinter den Wesensunterschieden zu verschanzen, die zwischen einer vernunftbegabten und nach dem Bild Gottes geschaffenen Kreatur und wilden Tieren bestehen, und es wäre schwierig, ihn aus einer solchen Stellung zu vertreiben. Lassen wir ihn daher in Ruhe und begnügen wir uns mit diesem Satz: Da der Mensch seit seiner Sünde außerstande sein mußte, den Einsichten seiner Vernunft strikt zu gehorchen, war es höchst notwendig, die Liebe in die Welt einzuführen, denn man versteht nicht, wie die Menschheit andernfalls hätte Bestand haben können. Hinsichtlich des natürlichen Gedeihens der Gesellschaft sind die Leidenschaften das Gleiche wie die Reue hinsichtlich der himmlischen Güter: eine Planke nach dem Schiffbruch; und da die Vernunft so schwach werden mußte, konnte man auf keinen besseren Ersatz zurückgreifen als auf die Leidenschaften, von denen die Liebe unwidersprochen die stärkste ist, gewissermaßen die Seele der Welt. (…). Man sehe, was der Kritiker Maimbourgs  sc. Bayle  im zweiten Band seiner Nouvelles lettres  de l’auteur de la Critique générale de l’Histoire du calvinisme de Monsr. Maimbourg , S. 499–572 über den Nutzen der Leidenschaften und der Vorurteile sagt. Man sehe auch  sc. Bayles  Nouvelles de la république des lettres für September 1686, Artikel I, S. 989.

55

»Dann durchtobt das Wild und das Vieh die üppigen Weiden / schwimmt durch reißenden Strom.« Lukrez, Buch I, Vers. 14 f.  In der Übersetzung von Karl Büchner. Vgl. die Anm. der Hgg. zu Fußn. (35) des Artikels CHARRON. Hgg. 

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(G) Die Rabbinen sagen (---), daß sich der Fürst aller Engel stark in sie verliebte. Sie nennen ihn Sammael und machen ihn zum Vater Kains; dieser war ihren Träumereien zufolge nur Abels Halbbruder, und zwar durch Superfötation, wie die Mediziner es nennen. Man lese das Original: »Er (nämlich Sammael) kam zu Eva auf einer Schlange geritten und schwängerte sie mit Kain; danach bestieg Adam sie und befruchtete sie mit Abel.«57 Sie nehmen an, fügt Père Bartolocci hinzu, daß alle Völker der Erde mit Ausnahme der Juden ihren Ursprung auf ähnliche ehebrecherische Beziehungen Evas zurückführen müßten. (…).58 Sie machen sie auch zur Mutter mehrerer Teufel. »Innerhalb von 130 Jahren zeugte Adam mit Lilith Teufel. (---). Eva aber suchte nach ihrer Darstellung in dieser Zeit Verkehr mit Teufeln, woraus Teufel hervorgegangen sind.«59 Das Merkwürdigste ist, daß sie alle diese Hirngespinste auf Worte der Schrift gründen, die sie verdrehen und erbärmlich verfälschen.

(H) Nur Eva konnte Adams Liebesleidenschaft befriedigen; jedes andere Mittel hatte er vergeblich versucht. Hier werden wir uns der Worte eines italienischen Mönchs bedienen.60 »Ist es verwunderlich, daß sie das sagen?« (nämlich 1) daß Adam Eva schon am Tage seiner Erschaffung erkannte; 2) daß sie vier Kinder empfing: Kain, Abel und zwei Töchter; 3) daß sie sich mit dem Vollzug ihrer Ehe beeilten, weil ihr Verhalten Lehre und Vorbild für alle Tiere sein sollte, nämlich an der Vermehrung der Individuen zu arbeiten; 4) daß kein Ge-

57

Bartolocci, Bibl. rabbin., Bd. I, S. 291, der eine Passage aus Jalkut, Sect. Berescith, S. 26, übersetzt. 58 Ders., ebd. 59 Ders., a. a. O., S. 222. 60 Ders., a. a. O., S. 75 f.

Eva

223

schöpf dem Menschen hierbei voranging61). »Das wird als weniger bedeutend angesehen, da sie über unseren Stammvater Adam so schlecht denken, daß sie ihm sogar eine frevelhafte Unkeuschheit andichten, die zu schildern man sich schämt. In Jalkut, Bd. I, Nr. 24 sagen sie, daß Adam vor Evas Erschaffung alle zahmen und wilden Tiere auf freiem Felde fleischlich erkannt hat. (…).« Père Bartolocci merkt an, daß einige moderne Rabbinen sagen, daß man dies in einem metaphorischen Sinn verstehen muß, aber er behauptet das Gegenteil, weil nämlich die Worte »bis Eva ihm beigegeben wurde« im wörtlichen Sinn verstanden werden müssen und der Gedanke des Rabbi so klar ist, daß man sich wundert, wie gewisse christliche Autoren ihn allegorisch verstehen wollten. Salomon Jarchi,62 fährt er fort, hat ihn wörtlich verstanden.

(I) Leo der Hebräer (---) bildet sich ein, daß der Mensch niemals gesündigt hätte, wenn die zwei Geschlechter(---) nicht getrennt worden wären. Er nimmt an, daß die Schlange weder die Frau täuschen konnte, solange sie mit dem Mann noch eins war, noch Mann und Frau gemeinsam täuschen konnte.63 Also war das Vermögen zu sündigen eine Folge der Trennung der Geschlechter; einer Trennung, die Gott um guter Zwecke willen vorgenommen hatte, nämlich damit jedes der beiden Geschlechter dem anderen bei der Aufgabe der Vermehrung behilflich war. Ich will etwas von den Allegorien sagen, die dieser Autor hieran knüpft. Er behauptet,64 daß jeder Mann und jede Frau aus einem männlichen und einem weiblichen Teil zusammengesetzt ist. Der Verstand 61

»Keins von den Geschöpfen paarte sich vor den ersten Menschen.« Bartolocci, Biblioth. rabbin., Bd. I, S. 75. 62 In der Postilla genes. zu dieser Stelle. 63 Leo der Hebräer, Philosophie d’amour, Dialog III, S. 616 meiner Ausgabe. 64 A. a. O., S. 618.

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ist der männliche, die Materie oder der Körper der weibliche Teil. Diese beiden Teile verstanden sich zu Anfang sehr gut. »Die sinnliche weibliche Körperlichkeit gehorchte und diente dem Verstand und der männlichen Vernunft, so daß es keinen Gegensatz im Menschen gab und das Leben insgesamt ein kontemplatives war.«65 Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, bedeutete, daß Adam seinen Verstand nicht auf »Akte der Sinnlichkeit«66 noch auf den Erwerb nützlicher Dinge richten sollte; denn die sinnlichen, körperlichen und vergänglichen Dinge bewirken, daß der Verstand, wenn er sich ihnen zu sehr hingibt, selber materiell und vergänglich, »d. h. der Strafe und Verdammnis unterworfen wird.«67 Jedenfalls, so fügt dieser jüdische Doktor hinzu, »hat die Gottheit nicht erlaubt«, daß der Gehorsam »des körperlichen weiblichen Teils unter dem intellektuellen männlichen« von Dauer sein sollte. Gott sah voraus, daß die Vereinigung dieser beiden Teile das Wesen des Menschen zunehmend unsterblich und vollkommen machen, andererseits aber »dem körperlichen weiblichen Teil«, sowohl hinsichtlich des Individuums als auch der Vermehrung der menschlichen Spezies, sehr nachteilig sein würde. Denn 1) »wenn der Verstand in Erkenntnis und Liebe zu den ewigen und göttlichen Dingen entbrennt, vernachlässigt er die Sorge für den Körper und läßt ihn vor der Zeit sterben. 2) Wer sich für die intellektuelle Schau begeistert, verachtet die körperliche Liebe und meidet den schlüpfrigen Zeugungsakt, so daß die Vollkommenheit des Verstandes den Untergang der menschlichen Spezies bewirken würde.« Deshalb entschloß sich Gott, »den weiblichen sinnlichen Teil zeitweilig vom männlichen intellektuellen zu trennen«, damit68 »die Sinnlichkeit den Verstand zu Begierden und körperlichen Akten veranlaßt, die für die körperliche Erhaltung des Individuums und die Fortpflanzung der Spezies notwendig sind. Und das ist die Bedeutung der Worte 65 66 67 68

A. a. O., S. 619. A. a. O., S. 620. A. a. O., S. 621. A. a. O., S. 622.

Eva

225

›Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; machen wir ihm eine Hilfe und setzen sie vor ihn‹ oder ›ihm‹ gegenüber, d. h. daß der sinnliche weibliche Teil dem intellektuellen Teil nicht ganz ohne Widerstand folgt, sondern ihn irgendwie zum Vorteil des Individuums und der Spezies zu den körperlichen Dingen zieht.« Was den Schlaf angeht, in den Adam fiel und während dem Gott ihm eine Rippe entnahm, um Eva daraus zu erschaffen, so bedeutet er, wie unser Autor vorbringt,69 daß Adams »ursprüngliche intellektuelle Wachheit und eifrige Kontemplation« unterbrochen wurde und daß »der Verstand begann, sich dem körperlichen Teil wie ein Mann seiner Frau zuzuneigen und eine gemäßigte Sorge für dessen Erhaltung als Teil seiner selbst und für die Fortpflanzung seinesgleichen zur Erhaltung der Spezies zu tragen. Auf diese Weise wurde die Teilung in eine männliche und eine weibliche Hälfte zu einem guten und notwendigen Zweck vorgenommen; später folgte der Widerstand der weiblichen Materie und die Neigung des männlichen Verstandes zu ihr, verbunden mit der ungezügelten Bemühung um das für den Körper Notwendige. Sie war nicht von der Vernunft gemäßigt, wie es richtigerweise hätte sein müssen und wie es der Absicht des Schöpfers entsprach. Da der Verstand nachgab und der Materie gehorchte, indem er sich allzusehr in die Sinnlichkeit stürzte, resultierte daraus die Sünde des Menschen. Das ist der Sinn der Erzählung, wenn sie sagt, die Schlange habe die Frau getäuscht, indem sie ihr riet, vom verbotenen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen: denn sobald sie davon äßen, würden ihnen die Augen geöffnet und sie wären wie Götter, die Gut und Böse erkennen. Als die Frau merkte, daß der Baum genießbar, angenehm und köstlich war und die erwünschte Erkenntnis verhieß, aß sie die Frucht und ließ ihren Mann mit ihr essen. Da wurden ihnen die Augen geöffnet und sie erkannten, daß sie nackt waren; sie nähten Blätter des Feigenbaums zusammen und machten sich daraus einen Lendenschurz. Die Schlange bedeutet das fleischliche Begehren, das in erster Linie den weiblichen körperlichen Teil reizt und täuscht, wenn es ihn irgendwie 69

A. a. O., S. 623.

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getrennt von seinem männlichen Partner, dem Verstand, antrifft und erfüllt von Widerstreben gegen dessen strenge Gesetze, damit dieser sich in Vergnügungen des Fleisches stürzt und sich durch den Erwerb überflüssiger Reichtümer blendet (was aus den beiden genannten Gründen der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist). Die Schlange sagt, daß dadurch ihre Augen geöffnet würden, d. h. daß sie verschiedene Dinge von der Art erkennen würden, die sie ihnen an diesem Baum des Guten und Bösen zeigte und die sie vorher nicht gekannt hatten, nämlich verschiedene Tricks und Kniffe im Zusammenhang mit Geilheit und Habgier, woran sie vorher kein Vergnügen hatten. Und sie sagt weiter, daß sie darin den Göttern ähnlich würden, d. h. in üppiger Fortpflanzung. Denn so wie Gott intelligent ist und die Himmel Ursache von Geschöpfen sind, die unter ihnen stehen, so werde der Mensch durch beständige fleischliche Gedanken eine große Nachkommenschaft zeugen. In diesem Fall ließ sich der weibliche körperliche Teil nicht gebührend von seinem intellektuellen Partner mäßigen: er zog ihn sogar in den Sumpf des Körperlichen und aß mit ihm von der Furcht des verbotenen Baumes: und sogleich wurden ihnen die Augen geöffnet – nicht die Augen des Verstandes, denn die schlossen sich eher, sondern die Augen der körperlichen Phantasie über Akte der körperlichen Geilheit; und dann wußten sie, daß sie nackt waren, d. h. sie erkannten, daß die fleischlichen Akte nicht dem Verstand gehorchen, weshalb sie sich beeilten, ihr Geschlecht wie etwas zu bedecken, das das Schamgefühl verletzt und gegen Vernunft und Weisheit rebelliert.« An dieser Lehre Leos des Hebräers kann man zweierlei kritisieren: I. Er sagt ziemlich deutlich, daß Evas erste Sünde ein Akt der Unkeuschheit war; daraus folgt, daß die Frucht des Baumes, die sie ihrem Mann zu essen gab, nichts anderes war als der Anreiz, mit ihr zu verkehren. II. Dieser Autor schreibt Gott ein Verhalten zu, das der höchsten Vollkommenheit ganz unwürdig ist. Er nimmt an, daß die Vereinigung der beiden Geschlechter im ersten Menschen ein Zustand der Unsterblichkeit und des kontemplativen Lebens war, der das unglückselige Vermögen zu sündigen ausschloß, und daß Gott nichtsdestoweniger diesen

Eva

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Zustand bald aufhob, um zwei Nachteile zu beseitigen, nämlich daß der Mensch seinen Körper zu sehr vernachlässigte und daß er sich der fleischlichen Akte enthielt, die zu Nachkommenschaft führen. Gott sah diese beiden Nachteile voraus und trennte deshalb, was er zunächst vereinigt hatte. Wäre es nicht besser gewesen, möchte man diesem falschen Doktor entgegenhalten, diese beiden Geschlechter getrennt zu erschaffen, als sie zu vereinigen und wenig später wieder zu trennen? Mußte er ein Werk schaffen, worin Fehler steckten, die bald darauf seine Zerstörung verlangten? Und wenn Gott diese beiden Nachteile der Vereinigung voraussah, hat er dann nicht auch die Folgen der Trennung vorausgesehen? Sah er nicht voraus, daß die beiden Geschlechter, sobald sie der Sinnlichkeit unterworfen waren, durch die Macht des Vergnügens in Zuchtlosigkeiten verstrickt würden? Waren diese Nachteile nicht schlimmer als die beiden anderen und verlangten sie nicht mindestens ebensosehr nach Beseitigung? Mir scheint, daß dieses Verhalten dem jener Richter gleicht, die einen Gefangenen weder formell auf freien Fuß setzen noch im Gefängnis behalten wollen und ihm daher Hafterleichterung gewähren oder den Kerkermeister unter der Hand anweisen, ihm Gelegenheit zur Flucht zu geben. Der weibliche Teil war während der Vereinigung mit dem männlichen unter so guter Aufsicht, daß er sich seiner Pflicht nicht entziehen konnte. Er wurde aber abgetrennt und so in die Lage versetzt, seine Freiheit zu gebrauchen und zu mißbrauchen. Was würden wir von einem Arzt halten, der das Skalpell, das ure, seca  brenne, schneide!  einsetzte, um die zu heilen, die sich nicht genug dem sinnlichen Vergnügen hingeben, und nicht diejenigen, die das zu sehr tun, oder der gegen die Enthaltsamkeit vom Wein anginge und die Trunksucht in Ruhe ließe?70 Die Hypothesen dieses jüdischen Autors muß man folglich als abscheulich ablehnen.

70

D. h. daß er sie mit lediglich palliativer Medizin behandeln würde, deren Wirkungslosigkeit er kennt und vorhersieht.

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(M) Wir werden sehen, worauf er das stützt. Weit davon entfernt, mit Loredano anzunehmen, daß Eva von dem Verbot angeregt wurde, nach der verbotenen Frucht zu verlangen, nimmt dieser deutsche Schriftsteller im Gegenteil an,94 daß die Schlange sie in Versuchung führte, bevor sie an den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse dachte. Er fügt hinzu: I. daß sie sich überreden ließ, sie habe den Gedanken ihres Mannes nicht recht verstanden oder er sei von irgendeinem falschen Gerücht getäuscht worden; II. daß sie glaubte, es sei nicht wahr, daß Gott dieses Verbot gegeben habe und deshalb von dieser Frucht aß, und daß ihr Fehler darin bestand, daß sie in einer Angelegenheit von so großer Bedeutung übereilt und ohne ihren Mann um Rat zu fragen eine Entscheidung traf; III. daß sie, nachdem sie aus Unwissenheit,95 obgleich nicht aus unüberwindlicher Unwissenheit gesündigt hatte, einen weniger schlimmen Fehler als Adam beging, denn dessen Fehler war freiwillig und gegen das Gewissen; IV. daß Eva sich nicht notwendigerweise die Strafe des ewigen Todes zuzog, denn der Urteilsspruch Gottes bedeutete nur, daß der Mensch sterben sollte, wenn er gegen sein Gewissen gesündigt hätte, si sciens prudens peccasset.96 V. Obwohl Gott, ohne ungerecht zu sein, Eva hätte sterben lassen können, entschloß er sich dennoch – so groß ist sein Erbarmen mit seinen Geschöpfen –, sie am Leben zu lassen, weil sie nicht aus Bosheit gesündigt hatte. VI. Nachdem sie der in Gottes Urteilsspruch verhängten Strafe entgangen war, konnte sie alle Vorrechte ihres ursprünglichen Standes behalten,97 mit Ausnahme derjenigen, die nicht mit den Beschwernissen vereinbar waren, zu denen Gott sie verurteilte. VII. Insbesondere behielt sie das Vorrecht, Kinder zu gebären, 94

Man sehe S. 8 des Buches mit dem Titel Cogitationes novae de primo et secundo Adamo examini eruditorum compendiose propositae, das im Jahr 1700 in Amsterdam bei Eleutherius Aspidius in Oktav gedruckt wurde. 95 A. a. O., S. 10, 12. 96 A. a. O., S. 15. 97 A. a. O., S. 16.

Eva

229

die unter der Bedingung, daß sie dem neuen Adam gehorchten, ein Anrecht auf die ewige Glückseligkeit besaßen. VIII. Weil aus Adam und Eva das menschliche Geschlecht hervorgehen sollte, wurde Adam nur deshalb am Leben gelassen, weil seine Erhaltung notwendig zur Zeugung von Kindern war. IX. Es war daher mehr zufällig, daß das Todesurteil an ihm nicht vollstreckt wurde,98 doch im übrigen wurde er strenger bestraft als seine Frau. X. Sie99 wurde nicht wie er aus dem Paradies vertrieben, sondern nur verpflichtet, es zu verlassen, um, falls notwendig, Adam aufzusuchen, und zwar mit dem vollen Privileg, dorthin zurückzukehren. XI. Adams und Evas Kinder waren dem ewigen Tod unterworfen, nicht insofern sie von Eva, sondern weil sie von Adam abstammten.100 Das sind in etwa die Dinge in diesem Werk, die Eva direkt betreffen. Wer die Beweise und das Ziel dieses Autors sowie die Folgerungen sehen möchte, die er aus diesen neuartigen Ideen zieht, tut gut daran, auf sein Buch zurückzugreifen. Ihm kann man nicht wie Loredano vorwerfen, daß er gegen das decorum  den Anstand  verstieß, als er annahm, daß Eva ihren Mann suchen ging, denn das geschah aus purer Notwendigkeit, weil es nicht möglich war, daß Adam wieder das irdische Paradies betrat. Übrigens hat es sehr den Anschein, daß dieser Schriftsteller die Frage, ob Adams Frau ihr verbliebenes Recht in Anspruch genommen hat, nämlich im Garten Eden zu wohnen, mit Nein beantwortet hätte. Was hätte sie so ganz allein dort tun sollen? Sie würde sich dort sehr gelangweilt haben: Die lieblichste Landschaft, der entzückendste Garten macht einer Frau keine Freude, wenn sie darin keine Gesellschaft hat und keinerlei Gefährten findet. Selbst am schönsten Ort der Welt ist Einsamkeit eine große Last, außer wenn man Philosoph und ein kontemplativer, nachdenklicher Mensch ist. Wir müssen also glauben, daß Eva aus persönlichem Interesse wie aus Vernunftgründen die Hütte ihres vertriebenen Mannes dem Aufenthalt 98 99 100

A. a. O., S. 18. A. a. O., S. 19 f. A. a. O., S. 23. Man sehe auch S. 60, 65, 140 ff.

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Historisches und kritisches Wörterbuch

im irdischen Paradies vorgezogen hätte. Wo immer Adam seine Zelte aufschlug, da war für sie der Garten Eden.101 Dort mußte sie sich niederlassen, um ihm dem Zweck gemäß, zu dem sie geschaffen worden war, eine Gehilfin zu sein und mit ihm alle häuslichen Sorgen zu teilen. Man sehe die Fußnote.102

101

Man wende hierauf an, was über Camillus gesagt wurde: »Als die Burg auf dem Tarpeischen Felsen von den Galliern mit Fackeln niedergebrannt worden war und Camillus in Veii weilte, war Rom dort.« Lucan, Pharsal., Buch IV, Vers. 27 f. 102 N. B. Der Autor nimmt an, daß Adam sich ganz in der Nähe des irdischen Paradieses aufhielt, und zwar auf Geheiß Gottes.

GELDENHAUR

geldenhaur, Gerhard, lat. Geldenhaurius, aus Nimwegen gebürtig, nahm einen beachtlichen Platz unter den Gelehrten des 16. Jahrhunderts ein. Er studierte die humanistischen Fächer in Deventer bei sehr guten Lehrerna und absolvierte sein Studium der Philosophie in Löwen mit solchem Erfolg, daß er die Berechtigung erwarb, diese Wissenschaft dort zu lehren. An dieser berühmten Universität schloß er sehr enge Freundschaft mit mehreren Gelehrten, namentlich mit Erasmus. Er hielt sich eine Zeitlang in Antwerpen auf, von wo er an den Hof Karls von Österreich berufen wurde, um diesem Fürsten als Vorleser und Historiker zu dienen.b Da er seinen Wohnsitz ungern häufig wechselte und es ihm ungelegen kam, Karl nach Spanien zu begleiten, verließ er ihn und trat in die Dienste Philipps von Burgund, des Bischofs von Utrecht. Zwölf Jahre lang war er dessen Vorleser und Sekretär, d. h. bis zum Jahr 1524, dem Todesjahr dieses Prälaten. Danach versah er die gleichen Ämter bei Maximilian von Burgund. Im Jahr 1526 schickte man ihn nach Wittenberg, damit er dort den Zustand der Schulen und der Kirche untersuchte. Er berichtete wahrheitsgemäß, was er dort gesehen hatte, und gestand, eine Lehre nicht mißbilligen zu können, die so sehr den Propheten und Aposteln gemäß war wie diejenige, die er dort kennengelernt hatte. So verließ er den Papismus und begab sich an den Oberrhein. In Worms heiratete er und unterrichtete eine Zeitlang die Jugend. Danach wurde er für die gleiche Aufgabe nach Augsburg berufen, von wo er 1534 schließlich nach Marburg ging. Hier lehrte er zwei Jahre lang Geschichte, anschließend bis zu seinem Tod Theologie. Er starb am 10. Januar 1542 im Alter von sechzig Jahren an der a

Alexander Hegius und Johann Ostendorp. Man sehe Anm. (B), am Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  b

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Historisches und kritisches Wörterbuch

Pest.c Er war Mönch gewesen.d Durch seinen Religionswechsel und einige Schriften, die er gegen die römische Kirche richtete, entzweite er sich mit Erasmus (D). Dieser sprach sehr schlecht von ihm und verspottete ihn, anstatt ihn in seiner Armut zu unterstützen. Er nannte ihn einen aufrührerischen Geist. Dieser Vorwurf verdient ebensosehr Beachtung wie der Nachdruck, mit dem Erasmus abstritt, die Bestrafung von Häretikern zu verurteilen (F). Moréri hat einige beträchtliche Fehler gemacht. Paul Freher ist nicht so genau gewesen, wie er hätte sein sollen. Ich führe die Titel einiger Werke Geldenhaurs an. Er war ein Mann, der sich gut auf Dichtung und Redekunst verstand.e Kaiser Maximilian hielt ihn im Jahr 1517 für würdig, die Dichterkrone zu tragen, und zwar nachdem er zwanzig lateinische Verse aufmerksam gelesen hatte, die Geldenhaur zu seinen Ehren verfaßt hatte.f Man beachte, daß dieser Autor in einem seiner Geschichtswerke eine Wahrheit unterdrückt hat (K). Die Bedingungen, unter denen er als Historiker angestellt worden war, können manchmal Anlaß zu einer falschen Darstellung gewesen sein (L). In Frehers Theatrum gibt es einen kleinen Widerspruch, den ich nicht mit Stillschweigen hätte übergehen dürfen. Ich habe zwar gesagt, daß sich dort die Nachricht findet, Geldenhaur sei erst 1534 nach Marburg berufen worden, aber ich habe nicht gesagt, daß es dort an anderer Stelle heißt, er habe seit 1526 in Marburg gelehrt.

c

Das entnehme ich Paul Frehers Theatrum, S. 114, wo die Akten der Universität Marburg angeführt werden. d Man sehe Anm. (B).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  e »Er wurde in Löwen als berühmter Dichter, noch berühmterer Redner und berühmtester Theologe begrüßt.« Reinhard Lorichius in den Scholien zu Aphthonius, S. 302 meiner Ausgabe. f Geldenhaur in der Vita Philippi a Burgundiana, gegen Ende. Dort findet man das kleine Gedicht.

Geldenhaur

233

(D) Durch seinen Religionswechsel und einige Schriften entzweite er sich mit Erasmus. Man lese die Epistola in pseudoevangelicos12 von Erasmus, die an Geldenhaur gerichtet ist, dessen Namen er in ›Vulturius‹ änderte. Erasmus tadelt ihn wegen der Veröffentlichung von Spottschriften, welche die Fürsten nur gegen die Anhänger Luthers aufbringen könnten. »Nicht genug, daß der Brief beim Konzil von Speyer bekannt gemacht wurde, kam bald darauf der alberne Komet heraus, der Kaiser Karl gewidmet war. Als ich Dich in meinen Schriften erneut ermahnt hatte, auf solche Scherze zu verzichten, welche die Fürsten zur Wut reizen und der Sache so wenig dienen, von deren Sieg Eure Sicherheit abhängt, daß sie ihr vielmehr zutiefst schaden, da hast Du gelassen geantwortet. Und als ob ich Dich ermahnt hätte, etwas Ähnliches noch einmal zu unternehmen, wurde wieder ein Pamphlet zum Konzil nach Speyer geschickt, dem damals König Ferdinand vorsaß, und das trug den Namen Erasmus in ziemlich großen Lettern auf dem Titel.«13 Erasmus tadelt Geldenhaur ferner dafür, daß er den Namen und einige Anmerkungen des Erasmus an den Anfang einiger Briefe gesetzt hatte, die zeigen sollten, daß man Häretiker keinesfalls bestrafen dürfe. Das hieß, Erasmus dem Haß des römischen Hofes und der Empörung der Herrschenden aussetzen, die den Lutheranismus verfolgten, denn es bedeutete soviel wie »Erasmus liefert den Neuerern Waffen im Kampf gegen ihre Feinde«. Dieser Gelehrte mochte es nicht, daß man ihm diesen üblen Dienst erwies; das Alter hatte ihn in dieser Hinsicht ängstlich werden lassen. Seine Klagen über das Vorgehen Geldenhaurs und der Lutheraner sind sehr bitter; sie wurden in Schriften zurückgewiesen, die er sehr heftig fand. Erasmus glaubte, daß Geldenhaur hinter ihnen steckte, und trug keine Bedenken, ihn mit dem Verräter Judas zu vergleichen.14 12

Es ist Brief 47 von Buch XXXI, datiert auf den 4. November 1529. Erasmus, Brief 47 von Buch XXXI. 14 Ders., im letzten Brief des letzten Buches, S. 2137, datiert auf den 1. August 1530. 13

234

Historisches und kritisches Wörterbuch

»Er war aber noch nicht nach Straßburg gekommen – er,15 der sich wunderbar darauf verstand, Aufruhr zu stiften und sich dann in dem entstehenden Durcheinander abzusetzen, der in allen meinen Briefen die Stellen markierte, die eine Handhabe zur Verleumdung boten, und dann vorgab, das Buch sei ihm von seinen Mitbrüdern gestohlen worden. Er brannte so sehr in ohnmächtigem Haß, daß er dieses aus Lügen und Schmähungen wie ein Flickenteppich zusammengesetzte Buch nicht abwarten konnte, sondern heimlich überaus geistlose Anmerkungen dazu herausbrachte und mir in der Zwischenzeit schmeichelnde Briefe schrieb: Ich sei sein Meister und Lehrer, von dem er sich gern ermahnen lasse; er könne nicht ohne mein Bild leben. In seinen nächsten Briefen tröstete er mich sogar und ermahnte mich, guten Mutes zu sein und böses Gerede und Geschreibsel zu verachten. Als schließlich mein Brief erschienen war, wollte er mir in Briefen an meinen Sekretär empfehlen, was zu tun ich selber bereits angekündigt hatte. Die ganze Zeit über wurde dies mit so bösartiger Schlauheit betrieben, daß ich mehr durch das Lob verletzt als durch die Schmähungen getroffen wurde. Und solche Leute vergleichen sich mit den heiligen Aposteln, während dieses Verhalten des Vulturius mehr dem Beispiel des Verräters Judas als dem Christi folgt.« Das lehrt uns, daß Geldenhaur im Jahr 1530 in Straßburg gewesen ist und dort einen sehr aufrührerischen Geist an den Tag gelegt hat. Melchior Adam und Paul Freher erwähnen es gar nicht. Erasmus sagt an anderer Stelle, daß in Straßburg niemand etwas gegen ihn unternommen hat, bevor Geldenhaur dahin kam. Er schrieb

15

Die darauf folgenden Worte bezeugen hinlänglich, daß Erasmus von Geldenhaur spricht, wie diese Passage des Briefes 52 im XXX. Buch bestätigt: »Ein gewisser G.N.  Geldenhaurius Noviomagus. Hgg. , ein Flüchtling aus Brabant und aus einem engen Freund zum Todfeind geworden, führte in Straßburg eine neue Tragödie auf, ein zum Aufruhr geborener Schuft. Er heißt hier mit erfundenem Namen Vulturius.« Erasmus spricht auch in Brief 56 desselben Buches von ihm: »Jetzt verfolgen einige Evangelische, deren Meister jener kriminelle Gelrius ist, mit erstaunlichen Kunstgriffen das Ziel, den Kaiser und Ferdinand gegen mich aufzubringen.«

Geldenhaur

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das, als Geldenhaur schon Professor für Poesie in Augsburg war (…).16

(F) Ein Vorwurf, der ebensosehr Beachtung verdient wie der Nachdruck, mit dem Erasmus abstritt, die Bestrafung von Häretikern zu verurteilen. Der Streit des Erasmus mit Geldenhaur hat mich auf zwei Dinge aufmerksam gemacht, die mich einigermaßen überraschen. Das erste ist, daß es Erasmus zufolge hieß, sehr aufrührerische und anstößige Reden zu führen, wenn man die Herrschenden dazu aufrief, den Mönchen die großen Güter wegzunehmen, die sie besaßen, und sich dem Evangelium nicht entgegenzustellen. »Außer wenn es nicht aufrührerisch erscheint, die Fürsten dazu aufzurufen, den Priestern und Mönchen ihr Vermögen zu nehmen und es auf gute Menschen wie Euch zu übertragen, oder wenn sie nicht beleidigt sind, wenn sie hören ›Töte keine Unschuldigen, widersetze Dich nicht zu Deinem eigenen Schaden dem Evangelium, laß zu, daß in Deinem Herrschaftsbereich das Wort Gottes gepredigt wird‹. Was ist das anderes als heftigste Vorwürfe gegen Menschen, die noch nicht von Deiner Sache, sondern vielmehr vom Gegenteil überzeugt sind? Die Du Unschuldige nennst, halten jene für Aufrührer und Häretiker, und was Du das Evangelium nennst, ist nach deren Überzeugung eine Lehre Satans. Zuerst hättest Du sie also überzeugen müssen. Wenn Dir das nicht gelang, hättest Du sie auf andere Art und Weise behandeln müssen.«18 Das ist es, was Erasmus Geldenhaur vorhält, der Briefe an die Herrschenden veröffentlicht hatte, die in dem hier getadelten Ton gehalten waren. Dieser Text des Erasmus ist ein wahrer Januskopf mit zwei Gesichtern: Er ist in gewisser Hinsicht vernünftig, aber er erscheint 16

Erasmus, Brief 56 von Buch XXX, S. 1941, datiert auf den 14. Dezember 1531. 18 Ders., Epistola in pseudoevangelicos, S. 2051. Man sehe auch Brief 59 von Buch XXXI, S. 2107.

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ungerecht, wenn man ihn von einer bestimmten Seite betrachtet. Wer glaubt, er müsse die Welt zu einer neuen Lehre bekehren und das herrschende Lügengebäude zerstören, muß verlangen, daß man ihn hört und ihm nicht mit Gewalt begegnet. Er ist also ungerecht, wenn er verlangt, Andersdenkenden mit Gewalt zu begegnen, sie ihres Besitzes zu berauben und sie daran zu hindern, sich zu äußern und zu zeigen. Es scheint daher, daß Geldenhaur überstürzt vorging, als er den Besitz der Mönche verlangte, und daß Erasmus ihm diese Überstürzung mit Recht vorwirft. Man muß bereit sein, auch anderen zuzubilligen, was man für sich selbst fordert, denn jeder rühmt sich, die Sache der Wahrheit zu verteidigen. Den Fürsten, die uns verfolgen, auch noch zu sagen, daß sie das Reich Gottes unterdrücken, heißt, sie aufs schwerste zu beleidigen. Es scheint somit das Beste zu sein, seine Ausdrucksweise zu mäßigen und nicht so plump vorauszusetzen, was in Frage steht. Es wäre vor allem nötig, den Leuten die eigenen Grundsätze und Beweise schmackhaft zu machen, und erst wenn das gelungen ist, die eigenen Meinungen und die der Gegner mit aller Strenge zu bewerten. Von dieser Seite betrachtet scheinen die Bemerkungen des Erasmus sehr umsichtig. Aber wenn wir andererseits bedenken, daß, wenn man der Welt nicht vorhält, daß sie rettungslos verloren ist, sofern sie sich nicht reformiert und aufhört, Krieg mit Gott zu führen, indem sie sich den Reformatoren entgegenstellt, man dann nicht sehr weit vorankommt und nicht genügend öffentliche Aufmerksamkeit findet – wenn wir das bedenken, sage ich, scheint es uns, daß Erasmus zu sehr als Philosoph spricht und außer Acht läßt, daß die Vernunft wenig ausrichten kann, wenn sie von den Leidenschaften nicht genügend unterstützt wird. Wie dem auch sei, es scheint kaum möglich, die großen religiösen Umwälzungen durchzusetzen, ohne daß man zunächst eine Toleranz für sich fordert, die man seinem Nachbarn zu verweigern bereit ist, sobald man ihn zwingen kann. »Anders kommen diese heiligen Dinge nicht zustande.«

Geldenhaur

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Betrachtung über die Bestrafung der Häretiker Die zweite Sache, die mich überrascht, ist dies: Erasmus betrachtet es als eine finstere und feindselige Verleumdung, daß man ihm die Lehre unterstellt, man dürfe die Häretiker nicht mit dem Tode bestrafen. Er gesteht zwar, daß er die Fürsten ermahnt habe, nicht vorschnell auf die Klagen aller Arten von Theologen und Mönchen zu hören19 und Unterschiede zwischen den Irrtümern zu machen, aber er bestreitet, jemals gelehrt zu haben, man dürfe die Häretiker nicht mit dem Tode bestrafen. Wer ihn dieser falschen Lehre beschuldigt, so klagt er, setzt ihn dem Zorn der Herrschenden aus, als wollte er ihnen das Schwert wegnehmen, das Gott ihnen in die Hand gegeben hat.21 »Das ist um so schlimmer, als ich nirgendwo lehre, an den Häretikern dürfe die Todesstrafe nicht vollzogen werden, noch den Fürsten irgendwo das Schwert wegnehme, das ihnen weder Christus noch die Apostel genommen haben. (---).22 Wer die Menschen wegen jedes beliebigen Irrtums auf den Scheiterhaufen bringt, sündigt; aber genauso sündigt, wer meint, die weltliche Obrigkeit besitze nicht das Recht der Todesstrafe gegen irgendwelche Häretiker (---). Nichts konnte die Herrschenden mehr gegen mich aufbringen, als wenn ich ihnen das Schwert aus der Hand schlug und diejenigen Sekten verteidigte, die sie wie Verfluchte mit Stumpf und Stiel auszurotten wünschen, was sie auch tun würden, wenn ihre Aufmerksamkeit nicht durch die Entwicklung auf anderes gelenkt würde.« Ich bin erstaunt, daß Erasmus, der so belesen in den Kirchenvätern war, nicht gewußt hat, daß sie in den drei ersten Jahrhunderten die Lehre nachdrücklich verteidigt haben, von der er sich so sorgfältig reinwaschen möchte. Sie wollten damit keineswegs den Fürsten das Recht des Schwertes nehmen, das Gott ihnen 19

»Ich mahne nur an einigen Stellen, die Strenge der Fürsten möge nicht vorschnell sein, und sie mögen ihr Ohr nicht den Klagen beliebiger Theologen und Mönche leihen.« Erasmus, Brief 47 von Buch XXXI, S. 2051. 21 Ders., ebd. 22 A. a. O., S. 2052.

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verliehen hat; sie wollten nur sagen, daß es sich nicht auf die Irrtümer des Gewissens erstreckt und daß die Souveräne nicht von Gott ermächtigt sind, Religionen zu verfolgen. Das ist der wahre Stand der Frage. Alle Fürsten der Welt erkennen an, daß sie nicht das Recht des Schwertes gegen die wahren Diener Gottes oder die Orthodoxie besitzen, sondern nur gegen die Feinde der Wahrheit. Auf dieser Grundlage haben die heidnischen Kaiser die frühen Christen bestraft und läßt die Inquisition heute Protestanten sterben. Es ist also ganz nutzlos, den Verfolgern nachzuweisen, daß sie die Gläubigen nicht töten dürfen, denn sie geben das gar nicht vor und sind nicht so töricht zu glauben, daß man ihnen etwas wegnimmt, was ihnen zusteht, wenn man ihnen dieses Recht abspricht. Es geht nur darum zu wissen, ob sie diejenigen bestrafen dürfen, die Gott gemäß der Stimme ihres Gewissens verehren. Die Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte haben das verneint. Warum wagt Erasmus nicht, ihnen zu folgen? Und was noch erstaunlicher ist,23 warum hat vor wenigen Jahren ein Geistlicher in Holland versucht, die Toleranten mit der Begründung verhaßt zu machen, sie nähmen den Herrschenden eines der schönsten Rechte ihrer Majestät?24 Heißt das nicht, feindseliger und ungerechter zu sein, als es die Heiden gegen die Väter der frühen Kirche waren, denen sie keineswegs diesen vorgeblichen Angriff auf die Rechte der Souveräne oder dieses vorgebliche Staatsverbrechen vorwarfen? Aber um die Verblendung dieses Geistlichen zu zeigen, braucht man ihn nur zu fragen, warum er den katholischen Königen das Recht des Schwertes gegen die Protestanten abspricht. Wieso glaubt er, ihm sei erlaubt, was er bei den anderen als Verbrechen der Majestätsverletzung verurteilt? »Ich spreche für die Wahrheit«, wird er sagen, aber das behauptet alle Welt.

23

Wir müssen berücksichtigen, daß man zur Zeit des Erasmus noch nicht so gut wie heute die Kraft der Beweise gegen die Verfolgung gekannt hat. 24 Man sehe das Tableau du socinianisme, Brief VIII.

Geldenhaur

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(K) Geldenhaur hat in einem seiner Geschichtswerke eine Wahrheit unterdrückt. Das geschah in der Geschichte Philipps von Burgund, des natürlichen Sohnes des Herzogs Philipp des Guten. Er vergaß nicht zu berichten, daß dieser Bastard in seiner Jugend so schön und so geschaffen war, die Liebe der Frauen zu erwecken, daß es unter ihnen genügend sittenlose gab, die ihm schamlos nachliefen. Aber anstatt hinzuzufügen, daß einige von diesen ihn zugänglich fanden und bis zu drei Bastarde von ihm hatten, schreibt er ihm eine jungfräuliche Reinheit zu, die ihn fast das Leben gekostet hätte.29 (…). Wir wollen daraus lernen, Geschichtswerken zu mißtrauen, die von Bediensteten stammen, die viele Wohltaten empfangen haben. Sie unterdrücken, was dem Andenken ihrer Herren nicht zum Ruhm gereicht. Geben wir nichtsdestoweniger zu, daß Geldenhaur keineswegs behauptete, die Keuschheit seines Philipp sei von langer Dauer gewesen: er räumt ein, daß dieser Bischof von Utrecht das schöne Geschlecht geliebt hat und gegen betrunkene Priester mehr Strenge zeigte als gegen sittenlose.31 Man beachte, daß er sich schon zum Protestantismus bekannte, als er dieses Geschichtswerk veröffentlichte. (…). 32

(L) Die Bedingungen, unter denen er als Historiker angestellt worden war, können manchmal Anlaß zu einer falschen Darstellung gewesen sein. Philipp von Burgund gab Geldenhaur den Auftrag, alle denkwürdigen Ereignisse in der Diözese Utrecht und in den umliegenden Bezirken zusammenzustellen und ihm und seinen Räten jeden Monat seine Sammlungen vorzulesen. Geldenhaur befolgte den Befehl, und man wies ihn an, das zu ändern, was 29

Geldenhaur in seiner Vita Philippi a Burgundiana, S. 220 meiner Ausgabe. Ich benutze die Edition des Herrn Matthaeus. 31 (…). Geldenhaur, a. a. O., S. 230. 32 In Straßburg, 1529.

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er anders als notwendig gewesen wäre dargestellt hatte. Das betraf nicht nur Irrtümer, sondern auch Indiskretionen, d. h. wenn ihm ein Ausdruck unterlaufen war, der den Räten des Kirchenfürsten unklug schien, so schrieb man ihm eine Änderung vor. Wieviele Wahrheiten fallen in diese Klasse! Man muß allerdings zugeben, daß ein Historiker viele Passagen richtigstellen kann, wenn Staatsmänner sein Werk prüfen und korrigieren, aber schließlich gibt es Dinge, deren Veröffentlichung sie nur deshalb beanstanden, weil sie zutreffen. (…).

GREGOR I.

gregor i., genannt ›der Große‹, entstammte einer römischen Patrizierfamilie. In der Ausübung des Senatorenamtes erwies er sich als so tüchtig, daß Kaiser Justinus der Jüngere ihn zum Präfekten von Rom ernannte.a Als er merkte, daß dieses Amt ihn ans Irdische fesselte, legte er es nieder und schloß sich in ein Kloster unter der Leitung von Abt Valentius ein.b Papst Pelagius II. holte ihn bald dort heraus, machte ihn zu seinem siebten Diakon und schickte ihn als Nuntius nach Konstantinopel, um Hilfe gegen die Langobarden zu erbitten. Nach dem Tod des Kaisers kehrte er nach Rom zurück und diente Papst Pelagius eine Zeitlang als Sekretär. Danach erhielt er die Erlaubnis, sich in sein Kloster zurückzuziehen.c Als er glaubte, sich dort der Ruhe und der Einsamkeit zu erfreuen, wurde er von Klerus, Senat und römischem Volk zum Papst gewählt. Nachdem er sich aller denkbaren Mittel bedient hatte, um diesen Auftrag abzulehnen, wurde er verpflichtet, ihn anzunehmen.d Sein Verhalten zeigte, daß man keinen Würdigeren als ihn für dieses hohe Amt aussuchen konnte; denn abgesehen davon, daß er gelehrt war und von sich aus an der Unterweisung der Kirche durch Schriften und Predigten arbeitete, verstand er es sehr gut, die Fürsten zugunsten der weltlichen und geistlichen Interessen der Religion zu beeinflussen. Es würde zu weit führen, das im Detail darzulegen, und ich sehe von einer ausführlichen Schilderung aus um so besserem Grund ab, als sich jedermann bei einem modernen Autor darüber informieren kann.e Ich will aber anmerken, daß dieser Papst die Bekehrung der Engländer in Ana b c d e

Maimbourg, Hist. du pontificat de St. Gregoire, S. 239. Andere nennen ihn ›Valentin‹. Maimbourg, Hist. du pontif. de St. Gregoire, S. 7 f. Er wurde am 3. September 590 in sein Amt eingeführt. Bei Herrn Maimbourg in der Hist. du pontificat de St. Greg. le Grand.

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griff nahm und daß er sie sehr glücklich zum Abschluß brachte, dank der Unterstützung einer Frauf – so wie es bei Religionsveränderungen gewöhnlich geht. Seine Maximen hinsichtlich des Gewissenszwanges sind nicht immer gleichförmig gewesen, und manchmal legte er große Nachlässigkeit an den Tag (E). Es ist ja auch ziemlich schwierig, bei einer Sache, die so sehr wider die Vernunft ist, Regeln zu haben. Zum Ausgleich war seine Haltung in Bezug auf die Keuschheit der Geistlichen sehr streng. Er sagte nämlich, daß ein Mann, der seine Jungfräulichkeit verloren hat, keinesfalls zum Priesteramt zugelassen werden dürfe, und er ließ die Bewerber hierüber befragen. Witwer befreite er von dieser Auflage, vorausgesetzt, sie hatten eine ordentliche Ehe geführt und seit sehr langer Zeit enthaltsam gelebt. Auch hinsichtlich der Verleumdung war er sehr streng. Alles in allem genommen verdient er den Beinamen ›der Große‹; nicht zu entschuldigen ist jedoch die Lobhudelei, mit der er sich die Freundschaft eines Usurpators erschmeichelte, an dessen Händen noch das Blut von einem der abscheulichsten Vatermorde klebte, den die Geschichte kennt. Das ist ein vorzügliches Beispiel für die Abhängigkeit, in die man stürzt, wenn man sich auf hohen Posten halten will. Wenn man seine Schmeicheleien dem Kaiser Phocas gegenüber mit denen vergleicht, die er einer sehr bösen Königin von Frankreich entgegenbrachte, muß man zugeben, daß diejenigen, die ihn zwangen, Papst zu werden, ihn besser gekannt haben, als er sich selber kannte. Sie sahen in ihm die Anlage zu all der List und all der Unterwürfigkeit, die man braucht, um sich mächtige Beschützer und der Kirche irdischen Segen zu verschaffen. Viel spricht dafür, daß der Eifer, den er gegen das Machtstreben des Patriarchen von Konstantinopel an den Tag legte, maßlos gewesen ist. Es ist nicht sicher, daß er die schönen Monumente der alten Größe Roms zerstören ließ, um zu verhindern, daß die Besucher Roms den Triumphbogen usw. mehr Aufmerksamkeit schenkten als den heiligen Stätten. Wir wollen ebenso über den Vorwurf urteilen, den man gegen ihn erhebt, nämlich daß er unzählige Büf

Man sehe Anm. (D).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

Gregor I.

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cher der Heiden habe verbrennen lassen, namentlich den Titus Livius. Er starb am 10. März 604. Ich will nichts über seine Werke sagen, sondern verweise den Leser an Herrn du Pin, dessen Werk verbreiteter ist als mein Dictionnaire sein wird. Ich hätte beinahe den Eifer dieses Papstes für den Kirchengesang vergessen. Als ich diesen Artikel schrieb, war das Werk des Dom Denys de Sainte Martheg mit dem Titel Histoire de St. Gregoire le Grand noch nicht erschienen.h Ich habe diese Histoire soeben überflogen, und mir scheint, daß sie ein durchgehendes Loblied auf diesen großen Papst sein würde, wenn der Autor seine Lobsprüche nicht öfter durch Bemerkungen unterbrochen hätte, welche die Dinge erklären und die Tatsachen ins rechte Licht rücken oder einige andere Autoren widerlegen. In der Vorrede bringt er eine Liste derer, die das Leben des hl. Gregor beschrieben haben und kritisiert dort einige Fehler des Predigers Pierre du Moulin (…). Mit Maimbourg scheint er eher unzufrieden zu sein. Er widerlegt Kardinal Baronius hinsichtlich des Mönchsstandes des hl. Gregor, und er bestreitet einige Annahmen des Herrn de Goussainvillei. Seine Bemerkungen gegen die Verfasser der Magdeburger Centurien sind mit falscher Kritik durchsetzt, wie wir unten sehen werden. Ich habe nichts gefunden, worin er Papst Gregor für etwas tadelt, sondern er spielt in allem die Rolle des Apologeten, sowohl der Loblieder auf Phocas und Brunehauld als auch der Leichtgläubigkeit, mit der dieser Papst so viele Wunder in seinen Gesprächen erzählt hat. Er stellt sich auf die Seite derjenigen, die leugnen, der hl. Gregor habe die Seele Trajans aus der Hölle befreit.k Wenn es wahr sein sollte, daß man nach dem Tod dieses Papstes einen Teil seiner Schriften verbrannt hat und daß nur ein Ereignis ähnlich dem, das einst das römische Volk davon abbrachte, die Senatoren als g

Benediktiner der Konregation von St. Maur. Rouen 1697 in Quart. Herausgeber der Werkedition des hl. Gregor, 1675. k Man sehe Anm. (A) des Artikels TRAJAN.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  h i

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Mörder des Romulus zu töten,l verhindert hat, daß man alle seine Schriften verbrannte, so würden einige daraus schließen, daß der Ruhm dieses Papstes ebenso wie der einiger anderer alter Kirchenväter den Flüssen ähnelt, die an der Quelle sehr schmal sind, aber mit wachsender Entfernung von ihr sehr breit werden. An diesem Vergleich wäre wohl einiges auszusetzen, aber es ist allgemein gesprochen gewiß, daß die Gegenstände des Gedächtnisses sich sehr von denen des Gesichtssinns unterscheiden: Letztere werden mit der Entfernung kleiner, erstere werden mit wachsender Entfernung von ihrer Zeit und ihrem Ort gewöhnlich größer.m

(E) Er legte manchmal große Nachlässigkeit an den Tag. Die geringe Gleichförmigkeit seiner Maximen tritt darin offen zu Tage, daß er nicht billigte, daß man die Juden zwang, sich taufen zu lassen, aber guthieß, daß man die Häretiker zwang, in die Kirche zurückzukehren. »Als der hl. Avitus, Bischof von Clermont in der Auvergne (---), bei einer Prozession durch die Stadt hinter seinem Klerus einherschritt, stürzte sich das Volk, das hinterher kam, (---) urplötzlich auf die jüdische Synagoge und riß sie bis auf den Grund nieder, so daß nur der leere Platz übrig war und kein Stein auf dem anderen blieb.«25 Der Bischof, der »eine so günstige Gelegenheit ausnutzen wollte«, ließ den Juden ausrichten, sie müßten sich bekehren oder seine Diözese verlassen. Dreihundert von ihnen bekehrten sich, die übrigen wurden zur Auswanderung gezwungen. Dieses Beispiel »fand bald Nachahmer in Spanien und Italien und ganz besonders in der Provence, wo man Avitus noch übertraf. Denn ohne sich die Mühe zu machen, sie durch religiöse Unterweisung und gutes Beispiel zur Annahme des Glaubens zu bringen, zwang man sie, l m

Man sehe Plutarch in der Lebensbeschreibung des Romulus, S. 35. »Omnia post obitum fingit maiora vetustas.«  Nach dem Tod läßt das Alter alles größer erscheinen.  25 Maimbourg, Hist. du pont. de St. Greg., S. 239.

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die heilige Taufe zu empfangen, ob sie wollten oder nicht. Das bedeutete ebenso viele Entweihungen einer heiligen Sache und ebenso viele Fälle von religiösem Frevel wie es getaufte Juden gab. Um ein so großes Übel zu verhindern, schrieb† der hl. Gregor deshalb an Erzbischof Virgilius von Arles und an Bischof Theodor von Marseille, zwei bedeutende und verdienstvolle Männer, und trug ihnen auf, dafür zu sorgen, daß die Juden nicht zur Taufe gezwungen wurden, weil er befürchtete, daß die heiligen Becken, in denen Menschen durch die Taufe zu einem göttlichen Leben wiedergeboren werden, für sie ein Anlaß zum zweiten Tod durch Apostasie werden könnten, der noch verhängnisvoller für sie sein würde als ihr erster Tod. Kurz zuvor hatte er dem Bischof von Terracine dasselbe geschrieben.«26 Er befahl ihm, den Juden »die volle Versammlungsfreiheit an dem Ort zu lassen, der ihnen zur Begehung ihrer Feste zugestanden worden war.«27 Einige Zeit später schrieb er das auch dem Bischof von Cagliari auf Sardinien. Die Gesetze, sagte er ihm, »verbieten zwar den Juden, neue Synagogen zu bauen, erlauben ihnen aber, die alten zu besitzen, ohne daß man ihnen deshalb Schwierigkeiten machen darf.« Und er fügte hinzu, was er auch über die Juden von Marseille gesagt hatte: Sie müßten durch die Predigt zur Annahme des Glaubens gebracht werden, nicht durch Gewalt; Gott wolle, daß man ihm Geist und Herz freiwillig zum Opfer darbringe. Weiter sagte er, daß die unter Zwang und Druck Bekehrten in ihren alten Aberglauben zurückfallen würden, sobald sie könnten.28 Das ist wunderbar, aber hier kommt eine seltsame Unterscheidung, die ein ungeheures Durcheinander in seine Lehre bringt. »Nichtsdestoweniger29 gibt es hier einen großen Unterschied zwischen Ungläubigen und Häretikern, vor allem am Anfang einer Häresie. Die Häretiker müssen nämlich als Rebellen, Verräter und Eidbrü† 26 27 28 29

(…) Buch I, Brief 45. Maimbourg, Hist. du pont. de St. Greg., S. 240. A. a. O., S. 241. A. a. O., S. 242. A. a. O., S. 243 f.

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chige behandelt werden, die Gott und der katholischen Kirche nicht die Treue gehalten, sondern sie verlassen haben, indem sie gegen sie revoltiert und sich nach Kräften bemüht haben, sie zu vernichten. Man kann sie zwingen, zu ihrer Pflicht und dem Gehorsam zurückzukehren, den sie ihr schulden. Und wenn sie das nicht tun, kann man sie bestrafen – so wollen es die kaiserlichen Gesetze, die heiligen Kirchenväter und sogar Calvin, der eine Schrift über dieses Thema verfaßt hat, um sein Vorgehen gegen Servet zu rechtfertigen, den er in Genf zum Tod auf dem Scheiterhaufen hatte verurteilen lassen. Anders verhält es sich mit Heiden, Juden und Mohammedanern, ja sogar mit Häretikern, die in der von ihren Eltern ererbten Häresie geboren sind und daher ebensowenig wie alle jene Ungläubigen jemals in die Kirche aufgenommen worden sind. Man darf sie nicht direkt und mit nackter Gewalt zur Konversion zwingen, vor allem dann nicht, wenn man sie eine Zeitlang geduldet hat. Der hl. Gregor lehrt uns aber durch seine Unterweisung und sein Beispiel, daß es gut ist, sie indirekt zu zwingen, gemäß dem Wort des Evangeliums ›Nötige sie einzutreten‹.« Das kann auf zweierlei Art geschehen, zum einen durch Strenge gegen die Verstockten, zum anderen durch Wohltaten für die Bekehrten. »Daher will der hl. Gregor, daß die in ihrer Häresie verstockten Manichäer verfolgt werden, und daher befiehlt er dem Bischof von Cagliari, die Bauern und diejenigen unter den Heiden, die zur Kirche gehören, ihr Land gepachtet haben und sich immer hartnäckig weigern, das Christentum anzunehmen, stärker zu besteuern. Umgekehrt will er, daß man die Juden, die sich bekehren, von einem Drittel der Abgaben befreit, die sie der römischen Kirche dafür schulden, daß sie Ländereien aus deren Patrimonium auf Sizilien bewirtschaften, damit andere in der Hoffnung auf einen gleichen Nachlaß leichter Christen werden. Denjenigen, die diese Arten von interessegeleiteter Bekehrung für sehr suspekt halten könnten, hält er entgegen,± daß, wenn jene Leute heuchelten und nicht wirklich bekehrt seien, man

±

(…). Buch IV, Brief 6.

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doch insofern viel gewinne, als wenigstens ihre Kinder gute Katholiken würden.«

Betrachtungen über die Maximen des hl. Gregor hinsichtlich des Gewissenszwangs Dies könnte den Gegenstand eines langen Diskurses abgeben, ich begnüge mich aber mit wenigen Bemerkungen. I. Die Alternative ›Konversion oder Exil‹ ist gewiß sehr hart und sehr geeignet, Heuchler hervorzubringen. Denn was tun nicht Leute von durchschnittlicher Frömmigkeit, um die vertraute Heimat nicht zu verlieren? Kurz: Alle, die andere vor diese Alternative stellen, verdammen dies als durchaus tyrannische Handlung, wenn sie selbst ihr unterworfen sind – ein evidenter Beweis dafür, daß sie die Gerechtigkeit einer Handlung nur nach der Regel ihres Interesses beurteilen: Quod volumus, sanctum est  Was wir wollen, ist heilig . II. Es heißt, der Kirche eine Macht zuzusprechen, die sie nicht hat, wenn man behauptet, sie könnte alle diejenigen, die sie verlassen, so behandeln, wie Staaten Rebellen behandeln. Die Kirche kann nur freiwillige Mitglieder haben, und sie kann niemals einen Eid im Widerspruch zu dem Gesetz der Ordnung fordern, das besagt, man solle jederzeit und überall der Stimme des Gewissens folgen. Folglich sind diejenigen, die das der Kirche gegebene Versprechen brechen, um der Stimme des Gewissens zu folgen, mit denen zu vergleichen, die ursprüngliche und unbedingte Eide späteren bedingten Eiden vorziehen. Denn es wäre gottlos, sich an ein Glaubensformular zu binden, ohne vorauszusetzen, daß es gut ist; daher sind alle Versprechen, mit denen man sich an die Kirche bindet, bedingte Versprechen. Die Bindung an die Stimme des Gewissens hingegen ist natürlich, wesentlich und unbedingt. Was man von denen sagen kann, die das der Kirche gegebene Versprechen brechen, um ihrem Gewissen zu gehorchen, ist, daß sie von Wissenden zu Unwissenden geworden sind. Aber wo gibt es wohlgeordnete Staaten, die Strafen für diejenigen festsetzen, die ihre Bildung vergessen sowie für diejenigen, die durch neu

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erworbene Ideen zu der Überzeugung gelangen, daß das, was sie für Irrtum hielten, die Wahrheit ist? Sagen wir also, daß die Kirche, wenn sie diejenigen, die sie verlassen, als Rebellen behandeln dürfte, mehr Macht hätte als die größten Despoten unter den Fürsten.30 Sie könnte nämlich die Veränderung einiger Ideen wie ein Kapitalverbrechen ahnden. III. Es ist nicht schwer zu begreifen, daß die Unterscheidung chimärisch ist. Denn ein Mensch, der in eine Kirche aufgenommen worden ist, hat niemals auf das Recht verzichten können, sie zu verlassen, sobald sein Gewissen ihn zu einer anderen Gemeinschaft führt. Daher hat er ebensosehr das Recht, dieser Gemeinschaft zu folgen, wie diejenigen, die in ihr aufgewachsen sind; denn deren ganzes Recht besteht in ihrer Überzeugung, daß ihre Religion gut ist. IV. Meine Maximen sind so gewiß, daß jede Partei ihnen zustimmt, wenn sie nicht ihr eigenes Prinzip voraussetzt. Ein Jude ist weit davon entfernt, denjenigen treulos und rebellisch zu nennen, der das Christentum aufgibt und die jüdische Religion annimmt; er nennt ihn treu gegenüber Gott, der Wahrheit und der wahren Kirche. Er bezeichnet nur diejenigen als treulos, die den Judaismus aufgeben. So hält es jede Religion. V. Was die zweifache Art des »Nötige sie einzutreten« angeht, so sei auf den  sc. Bayles  Commentaire philosophique  sur ces paroles de Jésus-Christ: contrain-les d’entrer  verwiesen. Ich sage nur: Die Bezeichnung »Geschäftemacher mit Gottes Wort«31 trifft in erster Linie auf diejenigen zu, die sich dieser zwei Arten im Amt des Proselytenmachers32 bedienen. Und es ist moralisch unmöglich, daß die Herrscher, die sie dazu ermächtigen, nicht von den treibenden Kräften in der Sache in Maßnahmen ver30

D. h. nur als Herrscher betrachtet, denn man beachte, daß die Herrscher, die das bestrafen, was sie ›Häresie‹ nennen, dies nur aufgrund ihrer Religion tun, und daher ist es eigentlich ihre Religion, die bestraft. Hierauf gebe man acht! 31 2. Korinther, 2, 17. 32 Dies erinnert mich an folgende zwei Verse des Ennius: »Geld verlange ich nicht, und man gebe mir auch keine Belohnung. Ich will nicht um den Krieg feilschen, sondern ihn wie ein Krieger führen.« Cicero, De officiis, Buch I, Kap. 12.

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strickt werden, in denen nicht nur viel Ungerechtigkeit, sondern auch viel niedrige Gesinnung steckt.33 VI. Der Grund, warum der hl. Gregor nicht wollte, daß man die Juden mit Gewalt bekehrte, ist sehr gut, nämlich daß die auf solche Art Bekehrten, wie er sagt, in ihren alten Aberglauben zurückfielen, sobald sie könnten. Er hatte jedoch sehr unrecht, als er wollte, daß man sie bekehrte, indem man die Halsstarrigen stärker besteuerte und die zum Christentum Bekehrten von einem Drittel ihrer Abgaben befreite. Denn es ist offenkundig, daß die auf solche Art Bekehrten zu ihrem alten Aberglauben zurückkehren, sobald sie können. VII. Und wenn der Grund, weshalb er will, daß man die Halsstarrigen unter den Juden stärker belastet und die Bekehrten entlastet, ein guter Grund ist, dann mißbilligt er zu Unrecht, daß man sie zwingt, die Taufe zu empfangen. Denn dies ist sein Grund: Wenn die Bekehrten den Glaubenswechsel vortäuschen, »wird man immer insofern viel gewinnen, als wenigstens ihre Kinder gute Katholiken werden.« Gilt das nicht auch von den zwangsweise Getauften? Man kann ihn also nicht von einem erbärmlichen Widerspruch freisprechen.

Man sehe die  sc. Bayles  Nouvelles lettres  de l’auteur de la Critique générale de l’Histoire du calvinisme de Monsr. Maimbourg , Bd. I, S. 205 f., und was in den Nouvelles de la république des lettres, November 1685, S. 1283 über die Bekehrungsmethoden von Königin Maria in England gesagt wird.  Bayle war zu dieser Zeit der Redakteur dieser Zeitschrift. Hgg.  33

HOBBES

hobbes, Thomas, einer der größten Geister des 17. Jahrhunderts, wurde am 5. April 1588 in Malmesbury in England geboren. Er hatte schon große Fortschritte in den Sprachen gemacht, als er im Alter von vierzehn Jahren nach Oxford geschickt wurde, wo er fünf Jahre lang die aristotelische Philosophie studierte. Er trat daraufhin in die Dienste von William Cavendish, der kurz darauf Graf von Devonshire wurde; er trat, sage ich, in seine Dienste, um Erzieher seines ältesten Sohnes zu werden. Er reiste mit seinem Schüler durch Frankreich und Italien. Als er bemerkte, daß er sich kaum noch an sein Griechisch und Latein erinnerte und daß die aristotelische Philosophie, in der er große Fortschritte gemacht hatte, von den besten Köpfen verachtet wurde, widmete er sich gleich nach der Rückkehr in sein Vaterland ausschließlich den schönen Wissenschaften. Weil ihm Thukydides von allen griechischen Historikern den Vorzug zu verdienen schien, übersetzte er ihn ins Englische und veröffentlichte diese Übersetzung im Jahr 1628, um den Engländern anhand der athenischen Geschichte die Unordnungen und Verwirrungen der demokratischen Regierungsform vor Augen zu stellen (C). Im Jahr 1629 verpflichtete er sich zu einer Frankreichreise mit einem jungen englischen Herrn und wandte sich während dieser Reise dem Studium der Mathematik zu. Im Jahr 1631 trat er in die Dienste der Gräfin von Devonshire, die einen dreizehnjährigen Sohn hatte, den sie von ihm unterrichten ließ und der drei Jahre später unter seiner Führung Frankreich und Italien bereiste. Während seines Aufenthaltes in Paris widmete er sich dem Studium der Naturwissenschaft und insbesondere der Erforschung der Ursachen des instinktmäßigen Verhaltens der Tiere. Tagtäglich diskutierte er darüber mit Père Mersenne. Im Jahr 1637 wurde er nach England zurückgerufen. Da er den Bürgerkrieg jedoch schon zu der Zeit voraussah, als er über die Dinge nachdachte, die sich in den ersten

Hobbes

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Sitzungen des Parlamentes 1640 abspielten, suchte er einen angenehmen Aufenthalt in Paris, um in Ruhe mit Père Mersenne, Gassendi und einigen anderen bedeutenden Männern philosophieren zu können. Er schrieb dort die Abhandlung De Cive (E), von der er 1642 nur wenige Exemplare publizierte. Den Prinzen von Wales, der gezwungen war, sich nach Frankreich zurückzuziehen, unterrichtete er in Mathematik und widmete seine gesamte übrige Zeit der Abfassung seines Leviathan (F), der 1651 in England gedruckt wurde. Er blieb weiterhin in Paris. Obwohl er Beweise seines Glaubens gemäß dem Ritus der anglikanischen Kirche gegeben hatte, brachte man ihn doch bei den Bischöfen in übles Ansehen, und das mit so großem Erfolg, daß er Befehl erhielt, sich nicht mehr beim König einzufinden. Das war der Grund, weshalb er nach England zurückkehrte, wo er sich für einen Mann von derart großem Verdienst recht zurückgezogen beim Grafen von Devonshire aufhielt. Er zog aus seinem unscheinbaren Stand den Vorteil, daß er mehr Muße hatte, an seinem Buch De Corpore und an einigen anderen zu arbeiten. Er empfing bedeutende Zeichen der Hochschätzung von Karl II., der 1660 wiedereingesetzt wurde. Von dieser Zeit bis zu seinem Tod widmete er sich seinen Studien und der Verteidigung gegen die Angriffe seiner sehr zahlreichen Gegner. Obwohl er älter als 91 Jahre geworden ist, standen ihm seine Verstandeskräfte bis zu seiner letzten Krankheit zu Gebote. Er hat sein langes Leben stets wie ein vollkommener Ehrenmann gelebt. Er liebte sein Vaterland, war seinem König treu ergeben, war ein guter Freund, wohltätig und hilfsbereit. Dennoch galt er als Atheist, aber die Verfasser seiner Biographie behaupten, daß er sehr rechtgläubige Meinungen vom Wesen Gottes hatte (M). Außerdem heißt es, er habe Angst vor Geistern und Dämonen gehabt (N). Seine Biographen behaupten, das sei ein Märchen. Sie gestehen aber freimütig, daß er in seiner Jugend dem Wein und den Frauen ein wenig ergeben war. Dennoch lebte er ehelos, um nicht von seinen philosophischen Studien abgelenkt zu werden. Er hat bei weitem mehr nachgedacht als gelesen und hat sich niemals um einen großen Bücherschatz bemüht. Er starb nach einer Krankheit

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Historisches und kritisches Wörterbuch

von sechs Wochen am 4. Dezember 1679 bei der Gräfin von Devonshire.e

(C) Die Unordnungen und Verwirrungen der demokratischen Regierungsform. Ich habe vernünftige Leute gekannt, die sich wunderten, daß man in Königreichen, wo die Autorität des Fürsten kaum Grenzen hat, den Lehrern der Jugend den Gebrauch von Büchern der alten Griechen und Römer erlaubte, in denen man so viele Beispiele der Freiheitsliebe und so viele antimonarchistische Maximen findet. Aber das ist nicht überraschender als die Tatsache, daß die republikanischen Staaten ihren Rechtsprofessoren gestatten, die Gesetzesbücher und die Pandekten zu erklären, in denen es so viele Prinzipien gibt, welche die höchste und unverletzliche Autorität des Herrschers voraussetzen. Hier haben wir also zwei Dinge, die gleichermaßen erstaunlich scheinen und die im Grunde niemanden verwundern dürfen; denn wenn man einmal verschiedene Gründe beiseite setzt, die sich anführen ließen, kann man dann nicht sagen, daß dieselben Werke, die das Gift entweder für die Monarchien oder für die Republiken enthalten, auch das Gegengift mit sich bringen? Wenn man auf der einen Seite die großartigen Maximen der Freiheit und die schönen Beispiele des Mutes sieht, mit dem man die Freiheit behauptet oder wiedererlangt hat, so sieht man auf der anderen Seite die Parteifehden, die Aufstände, die schrecklichen Tumulte, welche die unendliche Anzahl kleiner Staaten, die im alten Griechenland der Tyrannei gegenüber so feindselig waren, in Unruhe versetzten und schließlich ruinierten. Scheint dieses Schauspiel nicht eine sehr geeignete Lehre zu sein, um denjenigen die Augen zu öffnen, die schon bei der bloßen Vorstellung der Monarchie in Furcht geraten? Hobbes glaubte das,3 weil e

Seiner 1682 gedruckten Lebensbeschreibung entnommen. Man sehe Anm. (O) des Artikels PERIKLES.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  3

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er aus dieser Perspektive die Übersetzung eines atheniensischen Geschichtsschreibers veröffentlichte. Von der anderen Seite betrachtet wird man finden, daß dieses Schauspiel geeignet ist, eine von jener ganz verschiedene Lehre zu erteilen und den Abscheu vor der Monarchie zu verstärken. Denn wie kommt es, wird man fragen, daß die Griechen und Römer lieber diesen Verwirrungen ausgesetzt waren, als unter einem Monarchen zu leben? Kommt das nicht von den harten Bedingungen, in welche die Tyrannen sie versetzt hatten? Und muß ein Übel nicht sehr hart, sehr unerträglich und sehr beklagenswert sein, wenn man sich davon um einen so hohen Preis befreien will? Zweifellos erweckt die Beschreibung, die uns die Geschichte vom Verhalten mehrerer Monarchen liefert, Abscheu und läßt uns die Haare zu Berge stehen. Man wende mir nicht ein, daß allgemein gesprochen mehr Unruhen durch die Verschwörungen verursacht wurden, welche die Tyrannei beendet haben, als es gegeben hätte, wenn man sie geduldig ertragen hätte. Man halte mir auch nicht vor, was ich oben im Artikel HIERON II. gesagt habe.4 Die Syrakusaner, die unter der langen Regentschaft dieses Fürsten ein sehr großes Glück genossen hatten, verloren unter seinem Nachfolger, der sie tyrannisch regierte, sehr bald die Geduld. Sie töteten ihn zu Beginn des zweiten Jahres seiner Herrschaft, und kurz darauf richteten sie die zwei Töchter Hierons und seine drei Enkelinnen hin. Gegen drei dieser fünf Damen war keinerlei Klage vorzubringen, und sie waren sozusagen zu den Füßen des Altars geflohen. Heißt das nicht, eine Tyrannei aufzuheben, um eine viel größere einzuführen?5 Hat Titus Livius unrecht, wenn er bei diesem Anlaß bemerkt, das Volk sei nicht imstande, sich gemäßigt aufzuführen; es sei demütig bis zur Unterwürfigkeit, wenn es gehorcht, und im höchsten Grade unbändig, wenn es befiehlt? Die Niedermetzelung dieser fünf Damen war keineswegs die unbedachte Tat einiger PrivatperAnm. (E).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  »Die Rächer der Tyrannen sollten nicht selbst die Verbrechen wiederholen, die sie bei ihnen hassen.« T. Livius, Buch XXIV, S. 393. Das hat Heraklea, die Tochter Hierons, ihren Mördern vorgehalten. 4 5

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sonen; sie war von Senat und Volk von Syrakus befohlen, und zwar als die Erinnerung an Hieron noch ganz frisch war, einen Fürsten, den sie so anhänglich und aus so gutem Grund geliebt hatten. Die Ungerechtigkeit ihres barbarischen Beschlusses war so offensichtlich, daß sie sie bald erkannten; sie widerriefen ihn, aber vergeblich, denn er war bereits ausgeführt worden. (…). Die Aufstände hörten mit der völligen Ausmerzung der königlichen Familie nicht auf, sie nahmen täglich zu und führten in kurzer Zeit zum Umsturz der Freiheit und der Souveränität des Vaterlandes. Sie setzten Syrakus zu ungelegener Zeit der Feindschaft der Römer aus, die Syrakus belagerten und unterwarfen. Silius Italicus beschreibt das Chaos sehr gut, in das diese Stadt stürzte, nachdem sie den Tyrannen Hieronymos und seine Familie hatte hinrichten lassen. Das war ein Chaos, aus dem die Römer eine großartige Eroberung zu machen wußten. Die Zwietracht der Stadt ermutigte sie zur Belagerung. (…). Man denke hierüber so oft nach, wie man will, so wird man daraus doch kein gutes Argument gegen Leute gewinnen, die gegen die Monarchie voreingenommen sind. Diese werden nämlich antworten, daß eben daraus, daß ihren Unordnungen nur durch so abscheuliche Übel abgeholfen werden kann, geschlossen werden muß, daß sie ein großes Übel ist.

(E) Er schrieb in Paris die Abhandlung »De Cive«. Er brachte davon eine Ausgabe in wenigen Exemplaren 1642 in Paris heraus. Kurz darauf hat er sie durchgesehen und in der Art und Weise vermehrt, wie dieses Werk in der Ausgabe von Amsterdam 1647 erschienen ist. Sorbière hat diese zweite Ausgabe besorgt. Er hat noch mehr getan, denn er übersetzte dieses Buch ins Französische und veröffentlichte es in dieser Sprache.11 Hobbes hat sich mit diesem Werk viele Feinde gemacht, aber es brachte die hellsichtigeren Köpfe zu dem Eingeständnis, daß die Grundlagen der Politik niemals zuvor so 11

Amsterdam 1649.

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gründlich untersucht worden waren. Ich zweifle nicht, daß er einige Dinge übertrieben hat; das geschieht gewöhnlich bei Leuten, die gegen eine Gruppe anschreiben, gegen die sie starken Widerwillen empfinden. Hobbes war über die Prinzipien der Parlamentarier empört; ihr Verhalten war der Grund dafür, daß er außerhalb seines Vaterlandes lebte, und er erfuhr am Ort seines Exils jeden Tag, daß ihre Rebellion über die königliche Gewalt triumphierte. Er fiel ins andere Extrem und lehrte, daß die Autorität der Könige keinerlei Grenzen haben dürfe und daß insbesondere die äußerlichen Formen der Religion als die Hauptursache der Bürgerkriege von ihrem Willen abhängen müßten. Manche Leute meinen, daß sein System, wenn man es nur in der Theorie betrachtet, in sich sehr stimmig ist und gut den Vorstellungen entspricht, die man sich von einem Staat machen kann, der wirksam gegen Aufruhr geschützt ist. Weil aber die besten Ideen tausenderlei Schwierigkeiten ausgesetzt sind, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden sollen, d. h. wenn man sie mit der erschreckenden Menge von Leidenschaften zusammenbringen will, die unter den Menschen herrschen, ist es nicht schwer, viele Fehler im politischen System dieses Autors zu finden. Er hätte antworten können, daß das entgegengesetzte System schon in der bloßen Theorie ein Prinzip einschließe, das notwendigerweise zu Verwirrung und Rebellion führe. Wie dem auch sei, man behauptet, daß ihn die Vaterlandsliebe zu dem Plan dieses Werks inspiriert habe und daß es seine Absicht gewesen sei, seiner Nation die Augen über die falschen Prinzipien zu öffnen, die eine schreckliche Verachtung der königlichen Autorität bei ihr hervorgebracht hatten. (…). Ich bin sicher, daß man an dieser Stelle nicht ungern das Urteil des Descartes über dieses Werk von Hobbes lesen wird. »Meiner Einschätzung nach«, sagt er,14 »ist der Autor des Buchs De Cive mit dem identisch, der die Dritten Einwände gegen meine Meditationen gemacht hat.15 Ich finde ihn in der Moral bei weitem geschick14

Bd. III der Lettres, S. 104, zitiert von Baillet, Vie de Descartes, Bd. II, S. 174. 15 Darin täuschte er sich nicht.

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ter als in der Metaphysik und der Physik, wenngleich ich seine Prinzipien und seine Maximen keineswegs billigen kann, die darin sehr übel und sehr gefährlich sind, daß er voraussetzt, alle Menschen seien böse, oder ihnen Anlaß gibt, böse zu sein. Seine ganze Absicht ist darauf gerichtet, zugunsten der Monarchie zu schreiben, was weit vorteilhafter hätte geschehen können, als er es tat, wenn er tugendhaftere und besser begründete Maximen gewählt hätte. Er schreibt ebenfalls heftig gegen die Kirche und die römische Religion, so daß ich nicht sehe, wie er die Zensur seines Buches vermeiden kann, wenn er nicht von einem sehr mächtigen Gönner besondere Unterstützung erfährt.« Descartes tadelt zu Recht, daß er »alle Menschen als böse voraussetzt«. Das erinnert mich daran, daß Montaigne, der über die Schwächen des menschlichen Geschlechts völlig im Bilde war, es nicht billigte, daß Guicciardini sämtlichen Handlungen, die er in seiner Geschichte berichtet, böse Motive zugrunde legt.16 Er ist sicher, daß es Leute gibt, die sich durch die Vorstellungen der Ehrbarkeit und durch das Verlangen nach schönem Ruhm leiten lassen, und daß die Mehrzahl der Menschen nur mittelmäßig böse ist. Ich räume ein, daß diese Mittelmäßigkeit genügend dafür sorgt, daß der Lauf der menschlichen Dinge mit Schlechtigkeiten angefüllt ist, und sie läßt fast überall Spuren der Verderbnis des menschlichen Herzens sehen; aber es wäre noch viel schlimmer,17 wenn die überwiegende Zahl der Menschen nicht in der Lage wäre, bei zahlreichen Anlässen ihre schlechten Neigungen aus Furcht vor Schande oder aus Hoffnung auf Lob zu unterdrücken. Dies ist folglich ein Beweis, daß die Verderbnis nicht bis zum höchsten Grad gestiegen ist. Ich ziehe hier nicht die guten Wirkungen der wahren Religion in Betracht; ich betrachte den Menschen im allgemeinen. Man sehe Anm. (E) des Artikels GUICCIARDIN.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  17 Der Grund, weshalb die Unschuld bei vielfältigen Anlässen nicht unterdrückt wird, liegt in der Mittelmäßigkeit, von der ich hier spreche. Man sehe oben Anm. (A) des Artikels EDUARD IV., gegen Ende.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  16

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Politische Begriffe scheitern in der Praxis Was die Unzuträglichkeiten betrifft, die aus den Annahmen von Hobbes entstehen könnten, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden, so sage ich noch einmal, daß dies hier nicht der Ort ist, sie anzugreifen. Denn bringt das entgegengesetzte System in der Praxis nicht auch mehrere große Schwierigkeiten mit sich? Man tue, was man will, man baue bessere Systeme als den Staat Platons, als die Utopia des Morus, als den Sonnenstaat Campanellas usw.: Alle diese schönen Ideen würden scheitern und sich als mangelhaft erweisen, sobald man sie in die Praxis umsetzen wollte. Die menschlichen Leidenschaften, die in ungeheurer Mannigfaltigkeit eine aus der anderen entstehen, würden bald die Hoffnungen zunichte machen, die man sich aufgrund dieser schönen Systeme gebildet hat. Man sehe, was geschieht, wenn die Mathematiker ihre Spekulationen hinsichtlich der Punkte und Linien auf die Materie anwenden wollen. Sie machen aus ihren Linien und Flächen alles, was sie wollen. Das sind bloße Begriffe unseres Geistes; sie lassen sich soviel wie wir wollen von ihren Dimensionen nehmen, und das ist der Grund, weshalb wir die schönsten Dinge der Welt über die Natur des Kreises und über die unendliche Teilbarkeit des Kontinuums beweisen können. Aber all das scheitert, wenn man es auf die Materie anwendet, die außerhalb unseres Geistes existiert; eine Materie, die hart und undurchdringlich ist. Dies ist ein Bild der menschlichen Leidenschaften, verglichen mit den Spekulationen von jemandem, der sich Vorstellungen von einer vollkommenen Regierung bildet. Man findet eine sehr starke Kritik des politischen Systems von Hobbes bei dem Autor, den ich zitiere.18

18

Galeottus Galeatius Karlsbergius bei Johannes Deckherrus, De scriptis adespotis, S. 328.

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(G) Er hatte Beweise seines Glaubens gemäß dem Ritus der anglikanischen Kirche gegeben. Als er nahe bei Paris sehr krank wurde, erhielt er Besuch von Père Mersenne, der Anweisung erhalten hatte, ihn nicht außerhalb des Schoßes der Kirche sterben zu lassen. Dieser gute Père setzte sich bei dem Kranken nieder und begann nach den gewöhnlichen tröstenden Einführungsworten mit Ausführungen über die der römischen Kirche zukommende Macht zur Vergebung der Sünden. »Mein lieber Père«, antwortete ihm Hobbes, »ich habe alle diese Dinge längst geprüft, und es würde mich verdrießen, gegenwärtig darüber zu streiten. Ihr könntet mich auf eine angenehmere Art und Weise unterhalten. Wann habt Ihr Herrn Gassendi gesehen?« Der gute Mönch verstand sehr wohl, was das hieß und lenkte die Unterhaltung auf andere Gegenstände.24 Dr. Cosin25 bot sich wenige Tage später an, mit Hobbes zu beten, der dem unter der Voraussetzung zustimmte, daß man Gebete der anglikanischen Kirche spreche. Im Anschluß an die Gebete erhielt er die letzte Ölung. (…). Nach seiner Rückkehr nach England im Jahr 1651 fand er die Kirchen von Aufständischen besetzt, die, so sagte er, keine Liturgie hatten, und er wußte drei Monate lang nicht, mit wem er das Abendmahl einnehmen sollte. (…). Aber nach Ablauf von drei Monaten wurde er zu einer Versammlung geführt, wo das Abendmahl der anglikanischen Kirche gemäß gefeiert wurde, und er nahm dort daran teil. Der Verfasser seiner Biographie merkt an, daß dies ein Zeichen von Hobbes’ Anhänglichkeit an die Partei der Bischöflichen und der Aufrichtigkeit seines Christentums ist, weil damals niemand gezwungen war, sich einer bestimmten Glaubensgemeinschaft anzuschließen.

24

Vita Hobbesii, S. 20. Er ist Bischof von Dunelme  recte: Dunholme, heute Durham  gewesen. 25

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(M) Die Verfasser seiner Biographie behaupten, daß er sehr rechtgläubige Meinungen vom Wesen Gottes hatte. Von allen moralischen Tugenden war mit Blick auf seine Person fast nur die Religion eine problematische Angelegenheit. Er war freimütig, höflich, mitteilsam in dem, was er wußte, ein treuer Freund, ein guter Verwandter, mildtätig den Armen gegenüber, hielt auf Gerechtigkeit und war keineswegs auf die Anhäufung von Reichtümern aus.40–44 Diese letzte Eigenschaft ist ein günstiges Anzeichen seines gelungenen Lebens, denn es gibt keine Quelle, aus der mehr schlechte Handlungen entspringen als die Habsucht. Wer Hobbes also kannte, hatte keinen Anlaß zu fragen, ob er die Tugend schätzte und liebte, aber er könnte Neigung verspürt haben, ihn zu fragen: »Bitte sprich und antworte mir, denn es ist wenig, was ich wissen möchte. Was denkst du über Gott?«45 Wenn man den Verfassern seiner Biographie hierin Glauben schenken will, so hätte er aufrichtigerweise antworten können, daß es einen Gott gibt, welcher der Ursprung aller Dinge ist und den man nicht in die Grenzen unserer schwachen Vernunft einschließen darf. Er hätte hinzugefügt, daß er das Christentum so angenommen habe, wie es durch die Gesetze in England eingeführt sei, daß er aber eine Abneigung gegen die theologischen Streitereien verspüre, daß er das am Höchsten schätze, was der Ausübung der Frömmigkeit und der guten Sitten diene und daß er es sich zur Gewohnheit gemacht habe, die Priester zu tadeln, welche die Schlichtheit der Religion durch die Vermischung mit einem abergläubischen Kult oder verschiedenen eitlen und weltlichen Spekulationen verdürben. (…). Die Verfasser seiner Biographie kommen zu dem Schluß, daß diejenigen, die ihn des Atheismus beschuldigen, nichtswürdige Verleumder sind, die vielleicht keinen anderen Vorwand als diesen hier dafür anführen konnten: daß er nämlich mehrere scholastische Lehren verworfen hatte, in denen man Gott bestimmte Attribute beilegte, die nach dem Muster unseres klei40–44 45

Vita Hobbesii, S. 30, 111, 108. Persius, Satirae, Buch II, Vers 17.

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nen Verstandes gebildet waren. (…). Es steht außer Zweifel, daß mit keiner anderen Anschuldigung so großer Mißbrauch getrieben wird wie mit der des Atheismus. Eine Unzahl kleiner Geister oder böswilliger Leute erheben ihn gegen alle diejenigen, die ihre Behauptungen auf große und erhabene Wahrheiten einer soliden Metaphysik und auf die allgemeinen Lehren der Schrift beschränken. Diese will man darüber hinaus zur Annahme all der besonderen Artikel verpflichten, die man dem Volk tausende und abertausende von Malen vorzutragen pflegt. Alle, die es wagen, von diesem Weg abzuweichen, sind Gottlose und starke Geister, wenn man gewissen Doktoren glauben will. Auf solche Weise hat sich Monconys diesen schlimmen Ruf zugezogen. Er disputierte gelegentlich sehr freimütig gegen Leute, welche die Größe Gottes durch das Verhalten herabsetzten, das sie ihm zuschrieben, sowie durch die schwachen Gründe, die sie anführten; und man ist so ungerecht gewesen, ihn als einen Freigeist zu behandeln – ihn, der den erhabensten Begriff von Gott hatte, der sich denken läßt. Man lese das Folgende. »Diese angenehme Art, mit der man ihn gelegentlich gewissen beschränkten Geistern widersprechen sah, welche die Wahrheiten, die sie begründen wollten, mit ihren Beweisen schwächten, war die Ursache dafür, daß jene voreingenommenen Leute diese Wirkung seiner Offenherzigkeit und Redlichkeit als verbrecherische Freiheit ansahen. Aber seine gefestigte Tugend und seine aufrichtige Frömmigkeit kamen überall zum Vorschein, und er hat davon Zeichen gegeben, die man in diesen Reiseberichten sehen wird. Als seine letzte Krankheit kam, hat er einem seiner Freunde bekannt, daß er sich in seinem Herzen stets eine tiefe Unterwürfigkeit und eine unendliche Ehrfurcht der Gottheit gegenüber bewahrt habe, von der er einen Begriff hatte, der viel höher war als all das, was die Menschen sich davon vorstellten. Als er zu einer Zeit in Alexandrien war, wo es schien, daß er seiner Wißbegierde keine Schranken setzte, befand er sich eines Nachts ganz allein auf einer der Terrassen, die den Gebäuden im Morgenland als Dach dienen. Dort fand er sich plötzlich von einer vernünftigen Erkenntnis der Gottheit so erfaßt, daß er einen Teil dieser Nacht in der ununterbrochenen Anbetung

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des Ursprungs aller Wesen mit einem unaussprechlichen Trost verbrachte.«50

(N) Außerdem heißt es, er habe Angst vor Geistern und Dämonen gehabt. Seine Freunde haben dies für ein Märchen gehalten. (…). Anscheinend leugnen sie aber nicht, daß er sich nicht traute, allein zu sein; sie begnügen sich damit zu insinuieren, das sei aus Furcht vor Mördern geschehen. Wenn seine Philosophie ihn von der anderen Furcht befreite, aber nicht von dieser hier, so verhinderte sie nicht, daß er unglücklich war, und man könnte auf ihn einen Gedanken von Horaz anwenden.52 Übrigens waren seine philosophischen Prinzipien nicht geeignet, ihm die Furcht vor Geistererscheinungen zu nehmen. Denn bei folgerichtigem Räsonieren haben keine Philosophen weniger das Recht, Zauberei und Teufelswerk zu verwerfen, als die Leugner der Existenz Gottes. Aber, so heißt es, Hobbes glaubte nicht an die Existenz von Geistern. Genauer gesagt, glaubte er, daß es keine von der Materie verschiedenen Substanzen gebe. Weil ihn dies nun nicht hinderte zu glauben, daß es viele Substanzen gibt, die einander wechselseitig Böses oder Gutes wünschen und zufügen, konnte und mußte er glauben, daß es Wesen in der Luft oder sonstwo gibt, die ganz genauso zur Boshaftigkeit fähig sind wie die Korpuskeln, die seiner Meinung nach alle unsere Gedanken im Gehirn bilden. Warum sollen diese Korpuskeln bessere Kenntnis als jene anderen Wesen von den Mitteln haben, Schaden zuzufügen? Und welchen Grund gibt es, der bewiese, daß jene anderen Wesen die Art und Weise nicht kennen, in der man auf unser Gehirn einwirken muß, um uns ein Gespenst sehen zu lassen? 50

Vorwort der Voyages de Monconys, S. 7. »Du lachst über Träume, Zauberschrecken, Wunder, Hexen, nächtliche Gespenster, thessalische Wundermärchen? (---). Was nützt es dir, wenn du von einem dieser vielen Stachel befreit wirst?« Horaz, Epist., Buch II, 2, Vers 208. 52

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Wir wollen die Sache aus einer anderen Perspektive betrachten. Es wäre nicht nur sehr verwegen, sondern auch sehr abwegig, wenn man behaupten wollte, daß es niemals einen Menschen gegeben hat, der sich einbildete, ein Gespenst zu sehen; und ich glaube nicht, daß die halsstarrigsten und radikalsten Ungläubigen das jemals behauptet hätten. Alles, was sie vortragen, läuft auf die Aussage hinaus, daß die Personen, die geglaubt haben, Zeugen von Geistererscheinungen gewesen zu sein, eine beschädigte Einbildungskraft hatten. Man räumt also ein, daß es gewisse Orte im Gehirn gibt, die, wenn sie auf die eine oder andere Weise affiziert werden, das Bild eines Gegenstandes hervorrufen, der nicht wirklich außerhalb von uns existiert, und die den Menschen, dessen Gehirn auf diese Weise modifiziert ist, glauben machen, zwei Schritte vor ihm ein schreckliches Gespenst, eine Furie, einen bedrohlichen Geist zu sehen. Dergleichen Dinge spielen sich im Kopf der ungläubigsten Personen ab, entweder wenn sie schlafen, oder wenn sie von einem heftigen Fieber geschüttelt werden. Würden sie unmittelbar danach die Behauptung wagen, es sei unmöglich, daß ein Mensch, der wach und bei Verstand ist, an bestimmten Orten seines Gehirns einen Eindruck empfängt, der beinahe demjenigen gleich ist, der den Gesetzen der Natur zufolge mit einer Geistererscheinung zusammenhängt? Wenn sie gezwungen sind, diese Möglichkeit anzuerkennen, können sie nicht antworten, daß ihnen niemals ein Gespenst erscheinen würde, d. h. daß sie niemals im Wachzustand glauben würden, einen Menschen oder ein Tier zu sehen, wenn sie allein in ihrem Zimmer sind. Hobbes konnte daher glauben, daß eine bestimmte auf sein Gehirn einwirkende Kombination von Atomen ihm eine derartige Vision vorführen könne, wenngleich er überzeugt war, daß weder ein Engel noch eine verstorbene menschliche Seele damit zu tun hatte. Er war über alle Maßen ängstlich und hatte deshalb Grund, sich vor seiner Einbildungskraft zu hüten, wenn er nachts allein in einem Zimmer war. Denn sein Gedächtnis erinnerte sich wider seinen Willen an das, was er über die Geistererscheinungen gelesen oder gehört hatte, wenngleich er von der Realität dieser Dinge nicht überzeugt war. Zusammen mit der Ängstlichkeit seines

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Gemüts konnten ihm diese Bilder einen üblen Streich spielen. Und es ist ganz gewiß, daß ein Mensch, so ungläubig wie er, aber mutiger, sich erschrecken würde, wenn er glaubte, jemanden in sein Zimmer eintreten zu sehen, von dem er wüßte, daß er tot ist. Solche Traumerscheinungen kommen häufig vor, man mag an die Unsterblichkeit der Seele glauben oder nicht. Wenn wir annehmen, sie begegneten einmal einem Ungläubigen im Wachzustand, so wie sie ihm häufig begegnen, wenn er schläft, so verstehen wir, daß er Angst haben würde, auch wenn er sehr mutig wäre. Mit weit mehr Grund müssen wir glauben, daß Hobbes dadurch sehr erschreckt worden wäre.

HOFFMANN

hoffmann, Daniel, Superintendent und Professor in Helmstedt,a war der Anführer einer theologischen Partei, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts einige Unruhe stiftete. Er brachte Bedenken gegen die Konkordienformel vor, die er unterschreiben sollte, und anstatt mit Dr. Johannes Andreas zur Verteidigung der Formel zusammenzuarbeiten, verschanzte er sich hinter verfänglichen Distinktionen. Er wollte die Ubiquität Jesu Christi keinesfalls zugeben, sondern nur seine Gegenwart an verschiedenen Orten. Dieser Streit dauerte nicht lange, aber er hinterließ bei den Menschen eine Neigung zu Spaltereien, so daß man einige Zeit später leidenschaftlich über andere Themen stritt, wobei stets Hoffmann der Anführer war. Es ging u. a. um die Frage, welchen Gebrauch man von philosophischen Prinzipien in Fragen der Theologie machen soll, und es ist festzuhalten, daß sich die Professoren der Philosophie auf die für die Orthodoxen günstigste Seite stellten (C). Daniel Hoffmann und Theodore Beze schrieben gegeneinander in der Auseinandersetzung über die Eucharistie. Man sehe die Anmerkung, in der ich einige Titel von Hoffmanns Werken anführe. Es war nicht allein die Ubiquität Jesu Christi, über die sich unser Gottesgelehrter mit anderen Geistlichen stritt, sondern es waren auch die Probleme der Prädestination. Er kritisierte nämlich Hunnius, weil dieser die Prädistination entgegen dem Geist des Konkordienbuches erklärt habe. Er beschuldigte ihn sogar, vom Lehrstuhl Luthers aus eine noch viel verderblichere Lehre als das Dogma der Papisten verkündet zu haben. Das Konkordienbuch lehrt nach seinen Worten, daß die Ursache der Auserwählung ganz außerhalb von uns liege; Hunnius und Mylius hingegen lehrten, daß die Auserwählung auf Gottes a

Er wurde im Jahr 1588 der Nachfolger von Tilemann Heshusius. Melch. Adam, Vit. theol., S. 622.

Hoffmann

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Voraussehen des Glaubens beruhe. Hunnius und Mylius ließen Hoffmann im Jahr 1593 auf einer Theologenversammlung verurteilen und drohten ihm den Kirchenbann an, falls er ihrer Ansicht nicht beiträte. Hoffmann veröffentlichte im folgenden Jahr eine Verteidigungsschrift gegen sie.b Hospinian schildert die Sache genauer. Er sagt,c daß einige Theologen von Leipzig, Jena und Wittenberg 1593 bei der Wiederverheiratung von Samuel Huber assistierten und sich danach bei Polykarp Lyser versammelten. Einige von ihnen seien der Auffassung gewesen, man sollte öffentlich und autoritativ erklären, daß Daniel Hoffmann ein Calvinist sei und zu den Ketzern gehöre, die man zu meiden habe. Die anderen, die in der Mehrzahl waren, meinten, man sollte ihn schriftlich ermahnen, sich ihrer Lehre anzuschließen, andernfalls würde er exkommuniziert. Hunnius schrieb ihm im Namen aller einen langen Brief in diesem Sinne. Gegen diesen Brief veröffentlichte Hoffmann im folgenden Jahr eine Verteidigungsschrift,d in der er die Gründe nannte, die ihn hinderten, sich den Theologen von Wittenberg anzuschließen; er erklärte, er habe in ihren Büchern mehr als hundert Irrtümer gefunden, die in krassem Gegensatz zu den christlichen Glaubensartikeln stünden.e

(C) Die Professoren der Philosophie stellten sich auf die für die Orthodoxen günstigste Seite. Jakob Thomasius stellt ihnen in einer seiner Praefationes dieses Zeugnis aus: »Bekannt ist die Hoffmannsche Kontroverse, die zur Zeit unserer Eltern die Academia Julia* erschütterte. Sie entstand gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts und wurde zu Beginn des jetzigen zur Ehre der Philosophen beendet, die b c d e *

Entnommen aus Heinrich Alting, Theolog. histor. S. 302. Hospinian, De origine et progressu libri concordiae, Kap. 51, S. 429. Ders., a. a. O., S. 431 f. Ders., a. a. O., S. 434.  Das ist der alte Name der Universität Helmstedt. Hgg. 

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damals auf der Seite der Orthodoxie standen. Ich will nichts weiter über sie sagen, zum einen, weil sie jüngeren Datums ist und alle sie kennen (---), zum anderen hauptsächlich deshalb, weil ich meine, daß die heiligste Wissenschaft durch den einen oder anderen unbesonnenen Theologen keinen Schaden nehmen darf.«4 Thomasius untersucht in diesem Text die Frage, ob etwas wahr in der Philosophie und falsch in der Theologie sein kann, wie einige behauptet haben; und er stellt fest, daß unter denen, die es gewagt haben, ein derartiges Paradoxon zu vertreten, die einen von übertriebenem Respekt vor Aristoteles und die anderen von maßlosem Haß gegen diesen Philosophen getrieben waren. »Ich komme zu den Theologen, die dieses Dogma aus dem entgegengesetzten Affekt heraus verteidigen. Denn sie sind nicht aus Liebe, sondern aus Haß gegenüber Aristoteles, nicht aus Verehrung, sondern aus Verachtung für die Philosophen in diese Unbesonnenheit gestürzt, um nichts Schlimmeres zu sagen.«5 Damit man besser verstehen kann, welche Ansicht unser Hoffmann vertrat, werde ich hier noch eine Passage aus Thomasius anführen, die etwas enthält, das um seiner selbst willen verdient, berichtet zu werden. »Denn wenn ich nicht irre, ist jener unglückselige und höchst anstößige Streit, der zu unserer Zeit über die Frage ausgefochten wurde, ob Gott ›per accidens‹ Ursache der Sünde sei, aus der Asche der beigelegten Hoffmannschen Kontroverse hervorgesprossen, oder wenigstens hat es diesen Anschein. Daß meine Worte durchaus nicht von der Wahrheit wegführen, wird man meiner Meinung nach leicht erkennen, wenn man die Schrift des hochangesehenen Paul Slevogt mit dem Titel Pervigilium de dissidio theologi et philosophi in utriusque principiis fundato gelesen hat.‡ Denn dieser warf in seinem 1623 veröffentlichen Buch als 4

Thomasius, Praef. XLII, S. 244. Ders., ebd. ‡ »Was man zu Beginn des genannten Pervigilium liest, bestätigt den Verdacht. Dort wird nämlich der Streit, den Hoffmann in Helmstedt anfing, offen erwähnt. Hierzu stimmt auch, was man in der Cramerschen Kontroverse in Magdeburg lesen kann, denn diese berührt sich bekanntlich mit der Hoffmannschen Kontroverse.« 5

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einer der ersten die besagte Frage auf und verteidigte die These, daß die verneinende Antwort in den Hörsälen der Theologen, die bejahende bei den Philosophen wahr sei.† Im folgenden Jahr setzte ihm alsbald der wegen seiner Gelehrsamkeit nicht weniger angesehene Andreas Keßler seine Discursuum theologicorum quadriga± entgegen.«6

Wer sagt, was in der Philosophie wahr ist, sei falsch in der Theologie, begeht einen verderblichen Irrtum Mit Recht erklärt Thomasius es für sehr anstößig anzusehen, wie der Satz verteidigt wird, es sei wahr in der Philosophie, daß Gott ›per accidens‹ Ursache der Sünde ist, aber unwahr in der Theologie. Mit Recht billigt er Casmanns Aussage, eine derartige Aufteilung der Wahrheit sei ein Mittel, die gottlosesten Irrtümer zu verteidigen.7 Denn in der Tat, nichts ist besser geeignet als dies, um den Pyrrhonismus einzuführen, weil man in derartigen Überlegungen die Wahrheit wie eine Eigenschaft der Körper behandelt. Aus der Tatsache, daß ein und derselbe Körper uns groß oder klein erscheint, je nachdem, ob wir ihn mit oder ohne Fernglas betrachten, schließt man zu Recht, daß wir nicht wissen, ob er absolut gesprochen groß oder klein ist, und daß wir die absolute Kleinheit oder Größe von Körpern nicht kennen. Wenn also ein und derselbe Satz wahr und falsch sein sollte, je nachdem ob man ihn als Theologe oder als Philosoph betrachtet, würde daraus notwendigerweise folgen, daß wir die Wahrheit an sich nicht erkennen und daß sie nur in



Man sehe dort Discursus IV, S. 64 f. »Zur Verteidigung der Eintracht zwischen den Philosophen und den Theologen«, wie es auf dem Titelblatt heißt. 6 Ders., a. a. O., S. 245. 7 »Ich sage ohne zu erröten, daß diese doppelte Wahrheit eine pseudoaristotelische Erfindung ist, um alle Arten von Irrtum und Atheismus zu entschuldigen und zu verteidigen.« Casmann, Cosmopoeia, Kap. 1, Qu. VI, bei Thomasius, Praefat. XLII, S. 243. ±

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einer veränderlichen Beziehung auf die Bedingungen unseres Geistes besteht, so wie der Wohlgeschmack von Speisen nur in einer bestimmten Beziehung auf die Bedingungen unserer Zunge besteht, deren Veränderung bewirkt, daß Speisen, die vorher wohlschmeckend waren, es nicht mehr sind. Ich werde einen Autor zitieren, der uns zeigen wird, daß unser Hoffmann und seine Anhänger der Auffassung waren, die Philosophie müsse auf den Universitäten ausgerottet werden, weil sie eine verderbliche Wissenschaft sei, der zufolge mehrere theologische Wahrheiten falsch seien. Wer sich dieser Auffassung entgegenstellte, sah sich vom Predigtamt ausgeschlossen. Diese Streitigkeiten wurden schließlich durch die Autorität des Fürsten beigelegt, und Hoffmann mußte die Segel streichen. »Hoffmann und seine Anhänger behaupteten, die Philosophie streite mit der Theologie: in der Theologie sei vieles wahr, was in der Philosophie falsch sei, und umgekehrt; an christlichen Universitäten müsse sie ausgerottet werden, weil sie schädlich und in der frühen Kirche oftmals verurteilt worden sei. Dem stellten sich gleich zu Anfang die Philosophen jener Unviersität entgegen: Dr. med. Duncan Liddell, ein Schotte, sowie Cornelius Martini, Johann Caselius und andere, die glaubten, sie müßten die Disziplin verteidigen, deren Professoren sie waren. Die Sache wurde lange in Streitschriften verhandelt, so daß Hoffmann schließlich diejenigen vom geistlichen Amt ausschloß, die anders dachten als er. Hierüber wurde oft disputiert und viel Lärm um nichts gemacht. Es existieren jedoch viele Zeugnisse davon. Am Ende wurde der Streit durch die Autorität des Fürsten beendet: der Philosophie und ihren Professoren wurde ihre Ehre zurückgegeben. Die Hoffmannianer unterlagen.«8 Herzog Heinrich Julius von Braunschweig ordnete an, daß Hoffmann seinen Irrtum anerkenne und öffentlich eingestehe.

8

Georg Horn: Hist. philosoph., Buch VI, Kap. 12, S. 321 f. Man sehe den Artikel NIHUSIUS, Anm. (C).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg. 

Hoffmann

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Diese Anordnung wurde am 7. März 1601 ausgeführt. Man sehe die Memorabilia ecclesiastica saeculi a Christo nato decimi septimi, S. 23 und 249 sowie Grawers Buch De unica veritate.

9

Dieses Buch wurde von Andreas Carolus, Abt von St. Georg in Württemberg, zusammengestellt und 1697 in Tübingen gedruckt.

JONAS, der Prophet

jonas, einer der Propheten des jüdischen Volkes. Da man den größten Teil der Nachrichten über ihn in zwei anderen Wörterbüchern findet,a will ich nur auf wenige Einzelheiten eingehen. Es hat Rabbinen gegeben,b die sich in ihrer Phantasie zu der Behauptung verstiegen, daß er zunächst von einem männlichen Fisch verschlungen und danach in einen weiblichen Fisch gespuckt wurde. Da er sich in dem ersten Gefängnis nicht beengt fühlte, sagen sie, nahm er nicht Zuflucht zur Anrufung Gottes, was dazu führte, daß der männliche Fisch den Befehl erhielt, ihn in den Magen eines trächtigen Weibchens zu übergeben.c Dort fühlte er sich eingeengt und sprach das schöne Gebet, das uns erhalten istd und das den Zorn des Himmels besänftigte. Wer diese Erzählung mit der Begründung zurückweist, daß ein trächtiges Walweibchen Jonas nur dann eingeengt hätte, wenn er sich in der Gebärmutter befand, bringt einen schlechten Einwand vor (A). Man hat an anderer Stelle gesehen,e daß die heidnischen Dichter von ihrem Herkules ein Erlebnis berichteten, das mit diesem eine gewisse Ähnlichkeit hat. Sie haben die Sache der hl. Schrift entnommen und nach ihrem Gutdünken verfälscht. Wenigstens ist das die übereinstimmende Meinung unserer Autoren.f Die Kirchenväter fanden es seltsam, daß die a

Nämlich bei Moréri und im Dictionnaire de la bible des Priesters Si-

mon. b

Salomon Jarchi bei Martin Lipenius, Jonae periplus thalassius, Blatt B, Rückseite, der Quartausgabe von 1678. c »Damit er durch die Trächtigkeit und das Anschwellen des Leibes den Mann Gottes ins Gedränge brächte.« Ders., ebd. d Es findet sich in Kapitel 2 des Buches Jonas. e In Anm. (O) des Artikels HERKULES.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  f Man sehe Vossius, De origin. et progr. idololatriae, Buch II, Kap. 15, S. 381 f. der Quartausgabe Frankfurt 1675.

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Heiden diese Geschichte von Jonas verwarfen (B), nachdem sie das Märchen von Herkules angenommen hatten. Die Leute, die gesagt haben, daß dieser Prophet im Hafen von Ninive aus dem Bauch des Fisches kam, verstehen kaum etwas von Geographie; es hat auch nicht den geringsten Anschein, daß er an den Ufern des Schwarzen oder des Roten Meeres herauskam. Viel wahrscheinlicher ist, daß er in der Nähe der Stadt Joppe, wo er sich eingeschifft hatte, an Land geworfen wurde. Einige untermauern diese Vermutung durch das Märchen von Andromeda, denn sie behaupten,g das Abenteuer des Jonas habe als Vorlage für die poetischen Erzählungen von Andromeda gedient, die der Wut eines Seeungeheuers ausgesetzt gewesen sei, und zwar in der Nähe von Joppe.h Man sehe die Fußnote.i Hier ist ein weiteres, ziemlich groteskes Hirngespinst der Rabbinen: Sie sagen,k daß der Fisch, der Jonas verschlang, sieben Augen besaß, die dem Propheten als ebenso viele Fenster dienten, durch die er alles sehen konnte, was es im Meer gab, u. a. den Weg, den die Israeliten beim Durchgang durch das Rote Meer genommen hatten. Wer ihn für den Jüngling hält, den Elisa zu Jehu sandte, um ihn zum König zu salben, verdient keinen Glauben. Noch zur Zeit des hl. Hieronymus zeigte man das Grab des Jonas an seinem Geburtsort.l Herr Simon versichert,m daß die Türken »eine sehr schöne Moschee zu Ehren des Jonas errichtet haben, in der sich eine Wunderlampe befindet, die beständig brennt, ohne daß man Öl oder eine andere Flüssigkeit nachfüllt, wenn g

Man sehe Lipenius, Jonae periplus thalassius, Blatt A 3. Plinius, Buch V, Kap. 13, S. 567 und Kap. 31, S. 613 sowie Buch IX, Kap. 5, S. 283 meiner Ausgabe. i Hadrian Scrieckius, Originum index III, Blatt p, Rückseite, bildet sich fälschlich ein, Kap. 3, Vers 3 des Buches Jonas beweise, daß der Fisch Jonas drei Tagereisen entfernt von Ninive ausgespieen und daß der Prophet diesen Weg an einem Tag zurückgelegt habe. k Bei Lipenius, Jonae periplus thalassius, Blatt C 1, Rückseite. l D. h. in Ghath Chepher, nahe dem Berg Thabor. So Lipenius, Jonae periplus thalassius, auf dem vorangehenden Blatt. Er zitiert den hl. Hieronymus, Prooem. in Jonam. m Simon, Diction. de la bible, S. 433. h

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man ihren Einbildungen glauben darf.« Er sagt, diese Moschee sei »in einem kleinen Dorfn zu Ehren und unter dem Namen dieses Propheten erbaut.« D´Herbeloto sagt nichts von alledem, obwohl er verschiedene Erzählungen der Muslime in Bezug auf Jonas wiedergibt. Ich werde einen modernen Schriftsteller nennen, der Moréri zufolge »ein sehr geistreiches Gedicht« über die Geschichte dieses Propheten gemacht hat.

(A) Wer sagt, daß ein trächtiges Walweibchen Jonas nur dann eingeeengt hätte, wenn er sich in der Gebärmutter befand, bringt einen schlechten Einwand vor. Wir werden sogleich einen Mann hören, der den Rabbi Jarchi mit der Frage gleichsam zu würgen glaubt: »Glaubst Du etwa auch, Jonas sei in den Uterus eines trächtigen Walweibchens geworfen worden, damit er durch die Anzahl der Jungen eingeengt werde? Ich denke, Jonas ist in den Magen des Wals hinabgekommen, nicht in den Uterus. Wie also konnte Jonas, als er sich im Magen befand, infolge des Anschwellens des Uterus größere Enge verspüren?«1 Diese Fragen verderben die gute Sache des Lipenius und geben den Rabbinen Gelegenheit, sich dem Spott zu entziehen, dem er sie preisgeben wollte. Sie würden ihn seinerseits lächerlich machen, wenn sie ihn fragen wollten, wie es möglich ist, daß er einen Sachverhalt nicht kennt, der aller Welt bekannt ist, nämlich daß die Schwellung des Uterus auf Eingeweide und Magen drückt und manchmal sogar die Atmung spürbar behindert.

n o 1

Im Stammesgebiet von Zabulon. D’Herbelot, Biblioth. orient., S. 495. Martinus Lipenius, Jonae periplus thalassius, Blatt 2.

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(B) Die Kirchenväter fanden es seltsam, daß die Heiden, nachdem sie das Märchen von Herkules angenommen hatten, diese Geschichte von Jonas verwarfen. Hier ist eine schöne Passage aus Theophylaktos: »Jonas wird also von einem Wal verschlungen, und der Prophet bleibt drei Tage und ebenso viele Nächte in ihm. Das dürfte allen Glauben der Hörer übersteigen, vor allem derjenigen, die von der Wissenschaft und Weisheit Griechenlands herkommend mit dieser Geschichte bekannt gemacht werden. Ich für meine Person kann mich nicht genug wundern, warum sie das nicht verstehen, wo sie sich doch von ihren eigenen Schriftstellern überzeugen lassen. Bei ihnen wird nämlich etwas Ähnliches von Herkules berichtet: daß auch er von einem Wal verschlungen wurde und unversehrt blieb, außer daß er ohne Haare herauskam, und das wegen der artspezifischen inneren Hitze des Tieres. Also sollen sie entweder unsere Überlieferung akzeptieren oder ihre eigene verwerfen.«2 Ich bezweifle nicht, daß Theophylaktos unter den Griechen viele finden konnte, die ihn gutherzig beim Wort genommen hätten. »Wir lassen uns auf den Handel ein«, hätten die Philosophen und Gelehrten Griechenlands erwidert. »Ihr wollt, daß wir die Geschichte von Herkules verwerfen oder die von Jonas annehmen; wir verwerfen alle beide.« Aber weil sehr viele Heiden diese Alternative abgelehnt und behauptet hätten, daß sie durch ihren Glauben an die dichterischen Aussagen über Herkules nicht das Recht verlören, sich über die Aussagen der Juden über Jonas lustig zu machen, steht fest, daß die Überlegung des Theophylaktos wohlbegründet ist und daß sie auf bewundernswerte Weise die Lächerlichkeit der heidnischen Vorurteile zeigt. Kommen wir zum hl. Augustinus! Dieser hatte große Zuneigung zu einem Heiden gefaßt3 und ihm mehrere Briefe geschrieben, von denen einige unbeantwortet geblieben waren. Dieses Schweigen ließ ihn zu dem Urteil kommen, jener

2 3

Theophylaktos über Jonas, Kap. 2 Man sehe Brief XLIX des hl. Augustinus, am Anfang.

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wolle den Briefwechsel nicht fortsetzen.4 Weil er auf gewisse Schwierigkeiten antworten wollte, die der betreffende Heide dem Priester Deogratias vorgetragen hatte, schrieb der hl. Augustinus daher direkt an diesen Priester. Aus dieser Antwort kann man ersehen, daß die Heiden sich über die Geschichte von Jonas arg lustig machten. »Als letzte wurde ihm eine Frage in Bezug auf Jonas vorgelegt, und zwar nicht sozusagen in der Art des Porphyrius,5 sondern gleichsam in der Art der heidnischen Spötter.«6 Die Art, wie der hl. Augustinus den Einwand seines Freundes zurückweist, ist durchaus angemessen. Entweder muß man alle Wunder Gottes leugnen, sagt er, oder aber zugeben, daß man keinen Grund hat, dieses Wunder abzulehnen. Würden wir an die Auferstehung Jesu Christi glauben, wenn wir den Spott der Ungläubigen fürchteten?7 Und da unser Freund keine Zweifel in Bezug auf die von uns angenommene Auferstehung des Lazarus und Jesu Christi geäußert hat, bin ich aufs höchste erstaunt, daß er das Abenteuer des Jonas für unglaubhaft hält. Ist es etwa leichter, einen Toten aus dem Grab steigen zu lassen, als einen Menschen im Magen eines so großen Fisches am Leben zu erhalten?8 Will man behaupten, daß die Verdauungskraft des Magens nicht angehalten werden kann? Man würde uns jedoch einen triftigeren Einwand machen, wenn man die drei Männer anführte, die im Feuerofen von Babylon nicht den geringsten Schaden nahmen. Wenn man auch diese Suspendierung der Wirksamkeit des Feuers sowie alle anderen biblischen 4

»Es ist ganz angebracht, wenn ich meine, daß er, der mir offensichtlich nicht schreiben will, auch nicht wünscht, daß ich ihm schreibe.« Augustinus, Brief XLIX, S. 195 meiner Ausgabe. 5 Lipenius täuscht sich also, wenn er in Jonae periplus thalassius, Blatt A 3, Rückseite, sagt, daß der hl. Augustinus an dieser Stelle heftig gegen Porphyrius argumentiere. 6 Augustinus, Brief XLIX, S. 207. 7 »Wenn der christliche Glaube das heidnische Gelächter fürchtete.« A. a. O., S. 207 f. 8 »Hält er es etwa für einfacher, einen Toten aus dem Grab zum Leben zu erwecken, als einen Menschen im Bauch eines so großen Tieres am Leben zu erhalten?« A. a. O., S. 208.

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Wunder zurückweisen sollte, müßten wir zu einer anderen Widerlegung greifen. Denn die Ungläubigen dürfen nicht ein Einzelereignis anzweifeln; sie müssen entweder darauf verzichten oder ganz allgemein alle Ereignisse der gleichen Art zurückweisen, auch noch unglaubhaftere. Sie wären nicht so zurückhaltend bei einem Apuleius oder einem Apollonius von Tyana; sie würden bei ihnen nicht spaßen, sondern ihren Triumph mit frecher Stirn herausposaunen, wenn das, was wir von Jonas sagen, der Macht eines dieser beiden Heiden zugeschrieben würde. Ich übersetze nicht wörtlich, sondern ich will nur einen allgemeinen Eindruck von den Gründen des hl. Augustinus vermitteln, aber um den Kennern des Lateinischen nichts vorzuenthalten, führe ich hier den wichtigsten Teil des Originals an. (…).9 Diese Art und Weise, die Heiden zu widerlegen, wird vielen möglicherweise besser gegründet erscheinen als diejenige, deren sich der hl. Augustinus in einem anderen Werk bedient hat. Dort sagt er zunächst, daß sogar diejenigen, die sich über die Geschichte des Jonas lustig machten, nicht im mindesten das Abenteuer Arions anzweifelten; danach macht er sich selbst den Einwand, daß das Abenteuer des Jonas unglaubhafter ist. »Zweifellos«, antwortete er sich selbst, »ist sie das, aber deshalb, weil sie wunderbarer ist. Sie ist aber wunderbarer, weil sie größere Macht bezeugt.« (…).10 Das sind Geistesblitze, wird man sagen, muntere Gedanken, aber keine guten Gründe. Denn daraus würde folgen, daß eine Sache um so glaubwürdiger ist, je unmöglicher sie ist. Das Märchen von Arion besagt, daß dieser, um sein Leben zu retten, gezwungen war, sich von dem Schiff zu stürzen, mit dem er von Italien nach Griechenland übersetzte, und daß er sich auf einen Delphin fallen ließ, der ihn ans Ufer trug. Ich erzähle das nicht zugunsten derjenigen, die noch nie davon gehört haben, denn solche Leute gibt es kaum, sondern zugunsten der abertausend Menschen, die sich nicht mehr daran erinnern und die sich ärgern würden, wenn sie nicht auf einen Schlag

9 10

A. a. O., S. 208. Augustinus, De civitate dei, Buch I, Kap. 14.

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den Unterschied zwischen dem Abenteuer Arions und dem des Propheten Jonas sähen.

Betrachtung über eine Wirkung der Vorurteile Betrachten wir ein wenig das parteiische Verhalten, das der hl. Augustinus den Heiden vorwirft. Man kann hier eine der lächerlichsten Wirkungen der Voreingenommenheit feststellen. Die Oberen der heidnischen Religion hatten das Volk jahrhundertelang mit unzähligen Märchen gefüttert, und sie hätten es nicht zulassen können, daß man deren Möglichkeit prüfte oder sie unglaubwürdig nannte. Aber als man ihnen die Wunder der Christen vorlegte, da spielten sie die Philosophen. Sie führten Unmöglichkeiten an, verschanzten sich hinter all den Argumenten, die man dem Lauf einer einfältigen Leichtgläubigkeit in den Weg stellen kann, und sie machten sich über die Gläubigen mächtig lustig. Welch ein Mißverhältnis! Welch eine Schieflage! Welch ein ungleiches Vorgehen! Und welch eine Wunderlichkeit! Die christlichen Konfessionen zeigen etwas von diesem Geist in ihren wechselseitigen Beziehungen. Die griechische Kirche rühmt sich eines Wunderzeichens, das den Unwillen Gottes über das Nestorianische Schisma zeigen soll. Die Nestorianer verschanzen sich auf allen Seiten und fahren sämtliche Geschütze auf, um diesen Angriff abzuwehren. Aber was die Wunderzeichen angeht, welche die griechische Kirche ins Unrecht setzen könnten, so glauben sie diese blind und ohne Prüfung und finden es seltsam, daß ihre Gegner schwer davon zu überzeugen sind. Alle Welt kennt die Leichtigkeit, mit der sich die Römisch-Katholischen unzählige Wunder einreden lassen. Sie glauben fromm abertausend Geschichten, die man tagtäglich erzählt, und betrachten die durchschlagendsten Argumente derjenigen, die dergleichen als Fälschungen ansehen, als Schikanen verstockter Häretiker. Aber wenn sie erfahren, daß die protestantische Seite eine Wundergeschichte in Umlauf bringt, dann legen sie eine völlig andere Einstellung an den Tag. Sie greifen auf alle Gemeinplätze zurück, mit denen die Ungläubigen sich

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verteidigen. Sie leugnen das Faktum, sie bezweifeln die Zeugen, sie werfen ihnen Betrug oder Geistesgestörtheit vor. Wenn sie das Faktum nicht einfach leugnen können, dann erklären sie es durch natürliche Ursachen und sammeln bei den Naturforschern und in den Reisebeschreibungen tausend ähnliche Begebenheiten. Kurzum, was sie vorher Schikane, Verstocktheit, Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand nannten, das wird jetzt eine sehr gründliche und sehr vernünftige Widerlegung einer falschen Behauptung. Denn sie bedienen sich der gleichen Gemeinplätze, welche die Protestanten gegen die Mönche vorgebracht hatten. Überall gibt es Menschen, die mühelos glauben, was ihnen paßt, und die sich äußerst schwer von etwas überzeugen lassen, das ihnen nicht gefällt. Bringen sie Argumente für ihre Ungläubigkeit vor, so können sie nicht ertragen, daß man diese für schlecht hält. Wenn man ihnen bei anderer Gelegenheit die gleichen Argumente vorhält, können sie nicht ertragen, daß sie sich nicht darüber lustig machen dürfen. So läuft es im menschlichen Leben. Es ist eine fast unvermeidliche Wirkung der Voreingenommenheit, dieses Messen mit zweierlei Gewicht und Maß. Wenn sich das nur durch Ablegung der Vorurteile vermeiden läßt, dann ist die Medizin möglicherweise schlimmer als das Übel.

KAINITEN

kainiten, eine häretische Sekte, die im zweiten Jahrhundert auftrat und diese Bezeichnung wegen ihrer großen Hochachtung für Kain trug (B).a Diese Leute hatten ihre abscheulichen Lehren aus der Kloake der Gnostiker geschöpftb und waren Ableger von Valentin, Nikolas und Karpokrates. Sie nahmen eine große Anzahl von Schutzgeistern an, die sie ›Mächte‹ nannten und die ihrer Ansicht nach unterschiedlich stark sind. Sie behaupteten, daß die Macht, die Abel hervorbrachte, von weit niedererer Ordnung war als diejenige, die Kain hervorgebracht hatte,c und daß dies der Grund war, weshalb Kain Abel besiegte und ihn tötete (C). Sie verehrten all jene, die in der hl. Schrift besonders deutliche Zeichen der Verworfenheit trugen wie die Einwohner von Sodom, wie Esau, Korah, Dathan und Abiram. Im besonderen legten sie unter dem Vorwand, daß der Tod Jesu Christi die Menschheit errettet habe, eine sehr große Verehrung für den Verräter Judas an den Tag. Sie bildeten sich nämlich ich weiß nicht was für welche unserem Heil feindlich gesinnten Kräfte ein, die das Leiden Jesu Christi verhindert hätten, wenn Judas den Wirkungen ihrer Bosheit nicht dadurch zuvor gekommen wäre, daß er seinen Herrn an die Juden auslieferte, die ihn zum Tode verurteilten, woraus das Heil des menschlichen Geschlechts entsprang.d Ihre Kühnheit ging so weit, daß sie das mosaische Gesetz verdammten und den Gott des Alten Testaments als ein Wesen betrachteten, das Zwietracht in der Welt gesät und unsere Natur tausenderlei Übeln ausgesetzt habe, so daß sie, um sich dafür zu rächen, genau das Gegenteil von dem taten, was er vorgeschrieben hat. Es gab keine körperliche Una b c d

August., De haeres., Kap. 18. Epiphan. Haer. XXXVIII. Tertullian, De praescript., Kap. 47. Ders., ebd.

Kainiten

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züchtigkeit, in die sie sich nicht stürzten, kein Verbrechen, das sie nicht glaubten, mit Recht begehen zu dürfen, denn ihren abscheulichen Prinzipien zufolge war der Weg des Heils den Vorschriften der hl. Schrift diametral entgegengesetzt. Sie bildeten sich ein, daß jeder sinnlichen Begierde irgendein Schutzgeist vorstehe. Wenn sie Vorbereitungen zu irgendeiner verwerflichen Handlung trafen, unterließen sie es deshalb nicht, den Schutzgeist namentlich anzurufen, der die Aufsicht über die Begierde führte, die sie gerade genießen wollten. Wenn man diese Dinge bei den Kirchenvätern liest, kann man kaum umhin zu meinen, daß ihnen mit Blick auf die Häretiker das unterlief, was den Heiden mit Blick auf die christliche Religion unterlaufen war: Die Heiden haben der christlichen Religion hunderterlei Verrücktheiten und Abscheulichkeiten angelastet, was keinerlei Berechtigung hatte. Die ersten, die sich diese Verleumdungen ausdachten, waren zweifellos abgrundtiefer Boshaftigkeit schuldig, aber die meisten derjenigen, die diese Behauptungen nach ihrer boshaften Verbreitung vorgebracht haben, waren lediglich einer zu großen Leichtgläubigkeit schuldig. Sie glaubten dem allgemeinen Gerede, ohne sich die Mühe machen zu wollen, der Sache auf den Grund zu gehen. Ist es glaubhafter, daß die Kirchenväter all die erforderliche Geduld gehabt haben sollten, um sich gründlich über die wahren Meinungen einer Sekte zu informieren, als daß dieselben Leute, die lehrten, der Tod Jesu Christi habe die Menschheit errettet, ebenfalls lehrten, daß die schmutzigsten Begierden der Weg zum Paradies seien? Das mag entscheiden, wer da will; ich will es hier nur berichten. Man muß sich allerdings in Erinnerung rufen, daß es keine Absurdität gibt, für die der menschliche Geist nicht empfänglich wäre, und daß insbesondere die Lehre von vielen guten und schlechten Schutzgeistern, von denen die einen den anderen überlegen sind und denen verschiedene Aufgaben zugewiesen sind, durchaus in der Reichweite der Vernunft liegt (D). Ich füge hinzu, daß die Kainiten eine angeblich heilige Schrift erdichtet haben.e e

Siehe Baronius, Ad ann. 145, Nr. 16 und Danaeus zu Augustinus, De haeresib., Kap. 18.

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Neben anderen Büchern hatten sie ein Judas-Evangelium und eine Himmelfahrt des hl. Paulus. Sie behaupteten, daß in diesem letzten Buch unaussprechliche Dinge stünden, die dieser große Apostel sah und hörte, als er in den dritten Himmel auffuhr.

(B) (---) Sekte, (---) die diese Bezeichnung wegen ihrer großen Hochachtung für Kain trug. Diese Leute waren verrückt genug zu behaupten, daß die Gottheit, die im Himmel und auf der Erde herrscht, Kain nicht zu fassen wußte, als sie beschlossen hatte, ihn wegen des Todes von Abel zu bestrafen: sie sei dazu weder stark noch schnell genug gewesen; und schließlich gebe es ätherische Mächte, die ihn vor dem rächenden Gott schützten, ihn zum Firmament brachten und in der obersten Welt an einem sicheren Ort versteckten, in superno saeculo5  in den oberen Himmelsregionen , wie sie sagten. Der Autor, den ich anführe, zitiert niemanden.

(C) Sie behaupteten, daß der Schutzgeist (---) Abels (---) demjenigen Kains unterlegen war und daß dies der Grund war, weshalb Kain Abel besiegte und ihn tötete. Die Lehre der Heiden von den Schutzengeln Das stimmt recht gut mit der heidnischen Lehre von dem besonderen Schutzgeist überein, den ein jeder Mensch hat. Diese Art von Schutzgeistern wurden hauptsächlich ›Dämonen‹ genannt.6 Man war der Ansicht, daß das Glück und das Schicksal eines Menschen von seinem Schutzgeist abhing. Ein Mensch war glücklich, wenn sein Schutzgeist sehr große Macht hatte, im gegenteiligen Fall war ein Mensch unglücklich, wenn sein Schutzgeist schwach und nicht in der Lage war, dem anderer 5 6

Bisselius, Ruin. illustr., Dec. I, S. 269. Man sehe Dodwell, Praelect. II ad. Spart. Hadrian., S. 175.

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Menschen die Stirn zu bieten. Jeder Schutzgeist arbeitete für die Interessen seines Schutzbefohlenen, und wenn ein Mensch geschlagen wurde, dann war das ein Zeichen dafür, daß die Macht seines Schutzgeistes derjenigen des siegreichen Menschen unterlegen war. Der eine dieser Schutzgeister gehörte einer niedereren Ordnung an als der andere. Der Zufall hatte das geregelt. Denn als man die Seelen ausloste, die in diese Welt geschickt wurden, zog man auch den Schutzgeist einer jeden Person durch das Los.7 Es gab Schutzgeister, die eine derartige Macht über andere hatten, daß sie diesen durch ihre bloße Anwesenheit alle Kraft nahmen. Das tat der Schutzengel des Augustus mit dem von Marcus Antonius,8 und so sehen wir auch, daß bestimmte Personen in der Abwesenheit von anderen Leuten Geist zeigen, gut sprechen, witzig sind, aber sehr unruhig erscheinen, wenn sie sich mit diesen anderen in einen Streit einlassen müssen. Zweifellos war man überzeugt, daß Leute, die an die Herrschaft gelangten, einen Schutzgeist einer sehr herausragenden Ordnung besaßen, und das war der Grund für die großen Ehrbezeugungen, die man derartigen Schutzgeistern erwies.9 Völker und Städte hatten ebenfalls ihre Schutzgeister.10 Weil man nun meinte, diese Schutzdämonen stünden der Geburt desjenigen vor, der unter ihrer Leitung stehen sollte, war es nur noch ein kleiner Schritt von dieser Meinung zu derjenigen der Kainiten. Sie fügten lediglich hinzu, daß der Schutzgeist den Körper desjenigen bilde, dessen Beschützer er sein sollte. Ich glaube, man hätte die Platoniker ganz leicht von diesem Lehrstück überzeugen können, wenn man ihnen lebhaft vor Augen geführt hätte, daß die Bildung des menschlichen Körpers die Anweisungen einer sehr geschickten Intelligenz voraussetzt. Bezüglich die-

7

Ders., a. a. O., S. 176. »Dein Schutzgeist hat Furcht vor seinem. Er ist entschlossen und mutig, wenn er alleine ist, wenn aber jener herannaht, wird er schwach und ängstlich.« So spricht der ägyptische Astrologe zu Marcus Antonius bei Plutarch, Antonius, S. 930. 9 Dodwell, Praelect. II. ad Spartiani Hadrian., S. 175 f. 10 A. a. O., S. 180. 8

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ser Schutzgeister sehe man die Anmerkungen von Barthius zu Rutilius Numatianus.11 Wenn diese Lehre auch nicht absolut notwendig ist, um Rechenschaft von einer unendlichen Zahl historischer Phänomene zu geben (wenn ich die menschlichen Begebenheiten einmal so nennen darf), so ist sie zumindest doch die bequemste und verständlichste. Man wird weniger überrascht sein, hier eine Anmerkung zu finden, die allzu sehr nach einer Abschweifung und nach fremden Gebiet schmeckt; man wird, sage ich, darüber weniger erstaunt sein, wenn man den Zweck der folgenden Anmerkung aufmerksam prüft.

(D) Die Lehre von vielen Schutzgeistern (---) liegt durchaus in der Reichweite der Vernunft. Wir ziehen das System der alten Heiden mit ihren Naiaden, ihren Oreaden, ihren Hamadryaden usw. ins Lächerliche und haben sehr guten Grund, die Verehrung zu verdammen, den man diesen Wesen erwies, denn wir wissen aus der hl. Schrift, daß Gott allen Religionsdienst verboten hat, der nicht unmittelbar und ausschließlich ihm gilt. Wenn man sich aber die auf sich selbst beschränkte und des Beistandes der hl. Schrift beraubte Vernunft des Menschen vergegenwärtigt, versteht man m.E. sehr leicht, daß sie sich dieses weite Universum als überall von einer höchst wirksamen Macht durchdrungen vorstellen mußte, die wußte, was sie tat. Um folglich einen Grund für so viele voneinander verschiedene und sogar einander entgegengesetzte Wirkungen angeben zu können, die in der Natur auftreten, war es erforderlich, sich entweder ein einziges Wesen, das seine Tätigkeit entsprechend der Mannigfaltigkeit der Körper vervielfachte, oder eine große Anzahl von Seelen und Intelligenzen vorzustellen, von denen eine jede für eine bestimmte Aufgabe vorgesehen und von denen die einen den Quellen der Flüsse, die anderen den Bergen, wieder andere den Wäldern usw. vorgesetzt waren. Es hat unter den Heiden Leute gegeben, die durch 11

Zu Buch I des Itinerarium, Vers 328, S. 238 f. meiner Ausgabe.

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die Verehrung von Ceres und Bacchus nur das höchste Wesen ehren wollten, insofern es das Korn und den Wein hervorbringt. Andere wollten die besondere Intelligenz verehren, die bei der Aufteilung der Ämter des großen Universums die Abteilung des Ackerlands und der Weinberge erhalten hatten. Wenn dieser Ausgangspunkt erst einmal gewählt ist, weiß man nicht mehr, wo man einhalten soll: Die Anzahl der Götter vervielfältigt sich unaufhörlich und ohne Ende; man opfert der Angst, dem Fieber, den günstigen Winden und dem Sturm.12 Es bildet sich eine Hierarchie mit unzähligen Abstufungen heraus. Die Zuständigkeiten spezifizieren sich ins Unendliche unter diesen Intelligenzen, die man zwar nicht sieht, jedoch für äußerst wirksame Ursachen hält. Wenn man mich fragt, worauf ich mit dieser so weit hergeholten Betrachtung hinaus will, so antworte ich, daß ich denen den Weg bahne, welche die Kirchenväter verteidigen wollen. Man hat ihnen vorgeworfen, den Häretikern hunderterlei Verrücktheiten beizulegen, die kein Mensch jemals gelehrt habe. Es ist viel wahrscheinlicher, als man meint, daß Leute, die gut zu urteilen glaubten, mehrere Prinzipien, und zwar gute wie schlechte, und einen beständigen Gegensatz zwischen Wesen von ungleicher Macht und unterschiedlicher Neigungen angenommen haben. Das ist, wie ich zugebe, ein großer Irrtum, aber er bietet sich allenthalben an, und man kann sehr leicht auf ihn verfallen. Ich neige zu der Annahme, daß die Gnostiker und ihresgleichen sich so undeutlich erklärt haben, daß man ihnen guten Gewissens etwas zuschreiben konnte, was sie nicht als einen Punkt ihres Glaubens akzeptiert hätten; aber ich glaube mühelos, daß sie, was den Kern betrifft, diese Mächte und diese Prinzipien angenommen haben, die man ihnen beilegt. Nachdem sie mehrere Mächte festgelegt hatten, konnten sie bei konsequentem Räsonieren insbesondere behaupten, daß das jüdische Volk von einem boshaften Wesen geleitet worden war, und von dort aus zu all den abscheulichen Gottlosigkeiten kommen, 12

»Einen Stier dem Neptun, einen Stier dir, schöner Apollo, ein schwarzes Stück Vieh dem Sturm, ein weißes den günstigen Westwinden.« Vergil, Aeneis, Buch III, Vers 119 f.

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die man ihnen in Bezug auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zuschreibt. Da ich schon soweit gekommen bin, muß ich auch fortfahren. Der Glaube an Intelligenzen, die mit verschiedenen Aufgaben im Universum betraut sind, ist genausoweit verbreitet wie der Glaube an einen Gott, denn ich denke, daß niemals ein Volk eine Religion hatte, ohne mittlere Intelligenzen anzunehmen. Die scharfsinnigsten Philosophen und er, den man das ›Genie der Natur‹ nennt,13 sowie die tiefgründigsten Cartesianer haben dergleichen anerkannt.

Betrachtung über die substantielle Form der Peripatetiker Die Anhänger des Aristoteles setzen sie, ohne das recht zu bemerken, noch heutzutage überall ein, denn sie verleihen allen Körpern eine substantielle Form, zu deren Ausstattung eine gewisse Anzahl von Eigenschaften gehört, mit denen sie ihre Wünsche erfüllt,14 den Gegner zurückweist und sich auf bestmögliche Art in ihrem natürlichen Zustand erhält. Heißt das nicht, in den Pflanzen eine Intelligenz anzunehmen, der die Aufgabe zugewiesen ist, einen Teil des Universums wachsen zu lassen und zu diesem Zweck unter den Befehlen des höchsten Wesens tätig zu sein? Weit entfernt, daß die Leugner der Schöpfung und die Spinozisten diese Intelligenzen leugnen könnten, gibt es kein System, das dieselben mit größerer Notwendigkeit und unvermeidlicher nach sich zöge als das ihre. Es wäre nicht schwer, ihnen das zu beweisen, aber das ist keine Aufgabe, die sich für ein Buch wie das vorliegende schickt. In dem System der Schöpfung ist es eine große Schwierigkeit, Intelligenzen zuzulassen, die das Böse lieben oder die den Träumereien unserer Kainiten entsprechend die Aufsicht über die sinnlichen Begier13

Aristoteles. Die Ausdrücke ›appetitus‹  Streben , ›exigentia‹  Bedürfnis  und vergleichbare sind gewöhnliche Redeweise der Peripatetiker, wenn sie von den natürlichen Wirkungen belebter wie unbelebter Körper sprechen. 14

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den haben, so wie die Venus des Heidentums selbst nach dem Bekenntnis eines epikureischen Dichters15 die Aufsicht über die Liebeslust hatte. Aber in dem System, das die Schöpfung leugnet, ist es eine notwendige Folge, daß es sowohl Böses wie Gutes im Universum gibt, sowohl böswillige wie wohlwollende Schutzgeister.

Erklärung der Lehre einiger Cartesianer über die Bildung der Körper Da ich fürchte, in den Verdacht zu geraten, mich unbesonnen über die fähigsten Cartesianer geäußert zu haben, beachte man bitte, daß derjenige von ihnen, der den einfachen und allgemeinen Willensakten Gottes die größte Bedeutung beilegt,16 an mehreren Stellen seiner Werke sehr deutlich zum Ausdruck bringt, daß es eine sehr große Zahl uns unbekannter okkasioneller Ursachen gibt. Diese okkasionellen Ursachen sind nun nichts anderes als die Willensakte und Wünsche bestimmter Intelligenzen. Man muß sie überall dort annehmen, wo die Gesetze der Bewegungsmitteilung nicht in der Lage sind, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Das geht noch weiter: Man kann nicht begreifen, daß jene Gesetze der Bewegungsmitteilung zum Bau eines Schiffes ausreichen sollten. Jedermann wird ohne weiteres zugeben, daß Bewegung allein und ohne Anleitung einer besonderen Intelligenz niemals eine Uhr hervorbringen würde. Folglich sind diese Gesetze nicht imstande, die kleinste Pflanze oder Frucht hervorzubringen, denn im Bau eines Baumes oder eines Granatapfels steckt mehr Kunstfertigkeit als im Bau eines Schiffes. Zur Erklärung der Gestaltung von Gewächsen und mit noch größerem Grund von Tieren muß man deshalb auf die besondere Anweisung einer Intelligenz zurückkommen. Man rede von Bewegungsgesetzen, Gestalt, Ruhe, Anordnung 15

Man sehe die Anrufungen der Venus zu Beginn des Gedichts von Lu-

krez. 16

Der Verfasser der Recherche de la vérité.

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der Teilchen soviel man will. Das ist gut, solange man noch keine vierzig Jahre alt ist. Danach aber sieht man die hervorragendsten Cartesianer im Vertrauen eingestehen, daß sie an der Zulänglichkeit dieser Prinzipien zu zweifeln beginnen. Sie verstehen ihre Kategorien dann so, wie es sich gehört.17 Es ist wahr, sagen sie, dies reicht aus, um einen Baum oder eine Uhr zu machen, insofern sie Baum und Uhr sind. Aber weil die Bewegung allein mit den allgemeinen Gesetzen es nicht bewerkstelligt hat und auch nicht bewerkstelligen konnte, daß die Teile einer Uhr die Gestalt und die Lage annehmen, die sie haben, darf man nicht glauben, daß die Teile eines Baumes allein durch die Bewegungsgesetze ihre Lage und ihre Gestalt erhalten hätten. Ich wiederhole es: Das geht noch weiter und führt uns zu einem Schutzgeist, dem die Hervorbringung belebter Maschinen anvertraut ist. Aber sind die Mineralien und die Meteore leichter zu schaffen? Gibt es nicht große Kunstfertigkeit in ihrem Bau? Größere als man denkt. Die Scholastiker bedienen sich der Worte ›substantielle Form‹, ›gestaltende Macht‹ usw. anstatt von Schutzgeistern oder Intelligenzen zu sprechen; aber auf die Wortwahl kommt es nicht an. Bodin hat etwas gesagt, was bezeugt, daß er Schutzgeister mit dem Auftrag nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Hervorbringung aller sublunaren Wesen angenommen hat. Diese Annahme hat eine gewisse Folgerichtigkeit, denn das beste Mittel, um eine Intelligenz für die Beschützung eines körperlichen Geschöpfes zu interessieren, besteht darin, ihr dessen Hervorbringung zu übertragen; ich will sagen, seine Bewegung den Begriffen gemäß in Gang zu setzen, die sie von der Gestalt dieses Geschöpfes hat, so wie es die Uhrmacher und Architekten tun. Wir wollen die Worte Bodins zitieren: »Auf diese Weise sind in einem gut geordneten Staat Henker, Liktoren und 17

Sie sind in diesen zwei Versen enthalten: »Geist, Maß, Ruhe, Bewegung, Lage, Gestalt, sind zusammen mit der Materie der Anfang aller Dinge.« Man sieht, daß die geistige Natur – ›mens‹ – am Anfang von allem steht. Man muß sie hier wie eine übergreifende Natur verstehen, »die sich durch alle Kategorien hindurch erstreckt.«

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Leichenträger nicht weniger erforderlich als Magistrate, Richter und Kuratoren. So hat in diesem Welt-Staat Gott selbst zur Hervorbringung, Erhaltung und Beschützung der Dinge an allen Orten Engel eingesetzt über himmlische, elementare und belebte Wesen, über Pflanzen und Ausgegrabenes, Vorsteher und Verwalter aber über Städte, Provinzen, Familien und einzelne Menschen; darüber hinaus hat er auch überall Gehilfen, Liktoren, Vollzieher und Vollstrecker plaziert, die nichts ohne Geheiß tun und keinen schuldbeladenen Menschen seiner Strafe zuführen, ohne die Dinge beurteilt und durchschaut zu haben.«18

18

Bodin, Univ. naturae theatrum, Buch V, S. 631 f.

KARNEADES

karneades, ein berühmter griechischer Philosoph, stammte aus Kyrene.a Er gründete die dritte Akademie, die sich genau genommen gar nicht von der zweiten unterschied,b denn von einigen Abmilderungen abgesehen, die nur geeignet waren, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, war er ein ebenso entschiedener Vertreter der Ungewißheit wie Arkesilaos (B). Er fand sie in den klarsten Begriffen (C). Man ist sich nicht einig, ob er Bücher geschrieben hat; einige sagen nein, andere scheinen das Gegenteil zu behaupten.c Was man von seinem Studiereifer erzählt, ist sehr bemerkenswert. Er war der Widersacher der Stoiker und widmete sich höchst leidenschaftlich der Widerlegung der Werke Chrysipps (E), der seit einiger Zeit die Hauptstütze ihrer Schule war. Er besaß eine erstaunliche Beredsamkeit, die dem römischen Senat gefährlich erschien (F), als er sich mit zwei weiteren Gesandten in Rom aufhielt. Es heißt, er habe an einem Tag wunderbar zugunsten der Gerechtigkeit gesprochen, am nächsten gegen sie (G). Die spitzfindigen Argumente, mit denen er diese Tugend bestritt, kamen Cicero fürchterlich (H) und auch geeignet vor, eine solide Grundlegung der Werke über Recht und Gesetz unmöglich zu machen. Auf dem Gebiet der Religion führte er die Stoiker ad absurdum (I). Ich wundere mich, daß man ihm erlaubte, sie in dieser Frage so heftig anzugreifen, denn die Gründe, die er gegen sie ins Feld führte, waren sehr geeignet, alle heidnischen Gottheiten vom Sockel zu stoßen. Einer seiner moralischen Grundsätze war im höchsten Maße christlich (K). Seine Bestreitung der Orakel des

a

Diogenes Laertius, Buch IV, Nr 62. Plutarch, Sympos., Buch VIII, Kap. 1, S. 717. b Begründet von Arkesilaos; man sehe seinen Artikel. c Man sehe Anm. (I) am Ende.

Karneades

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Apollo war von beträchtlicher Stärke (L). Man glaubt, daß er seinen Schüler Mentor zum Nachfolger auf seinem philosophischen Lehrstuhl gemacht hätte, wenn er nicht mit ihm gebrochen hätte, weil er ihn im Bett seiner Geliebten erwischt hatte. Einige sagen, er sei 85 Jahre alt geworden,d andere geben ihm 90 Lebensjahre.e Man setzt seinen Tod ins vierte Jahr der 162. Olympiade.f Ich glaube nicht, daß man Grund zu einer anderen Datierung hat, wie Père Petau sie vorgenommen hat,g noch zu der Behauptung, er habe zur gleichen Zeit wie Epikur gelebt. Über letztere Frage ist ein Streit zwischen zwei modernen Gelehrten entstanden, die ihre Beiträge zu der Auseinandersetzung im Journal des savans veröffentlicht haben. Ich werde sie kurz untersuchen. Plutarch überliefert uns das folgende Bonmot des Karneades:h Die Reitkunst ist das Einzige, was junge Prinzen richtig lernen: ihre anderen Lehrer schmeicheln ihnen, und wer mit ihnen ringt, läßt sich freiwillig fallen; ein Pferd hingegen wirft jeden ungeschickten Reiter ab, der es besteigt, ob er nun reich oder arm ist, Untertan oder Herrscher. Ich werde einen Fehler von Herrn Salden notieren, ebenso die Fehler Moréris. Anderswoi habe ich einen Karneades erwähnt, der zu den Freunden Epikurs zählte und der identisch mit dem genußsüchtigen Epikureer zu sein scheint, der in den Plutarch-Ausgaben Korniades heißt.k Völlig unbegründet ist die Vermutung, Cicero habe Karneades, den Gründer der dritten Akademie gemeint, als er von jenem Freund Epikurs sprach. Man sehe Anm. (N), Fuß-

d e

Diog. Laert., Buch IV, Nr. 65. Lukian bei Macrobius, Bd. II, S. 640. Cicero, Academ. quaest., Buch IV, Kap. 6. Valer. Maxim., Buch VIII, Kap. 7. f Diog. Laert., Buch IV, Nr. 65. g Man sehe Anm. (P), Nr. 6.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  h Karneades bei Plutarch, De discrim. adulat. et amici, S. 58 F. i Oben, Fußn. (96) des Artikels ARKESILAOS.  Diese Fußnote nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  k Man sehe Anm. (I) des Artikels EPIKUR, am Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg 

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note (122).* An anderer Stellel werde ich die Passage bei Diogenes Laertius untersuchen, wo es heißt, daß einer der Schüler Epikurs die Partei gewechselt und sich Karneades angeschlossen habe; ich werde anführen, was Herr de la Monnoye darüber denkt.

(B) Er war er ein ebenso entschiedener Vertreter der Ungewißheit wie Arkesilaos. Hier ist das Zeugnis Ciceros, wonach Karneades die Lehren des Arkesilaos bekräftigte. »Die philosophische Methode, gegen alles zu disputieren und kein direktes Urteil zu fällen, die von Sokrates begründet, von Arkesilaos aufgenommen und von Karneades bekräftigt wurde, hat bis in unsere Zeit bestanden.«6 Weitere Zeugnisse lehren uns, daß er hinsichtlich der Unbegreiflichkeit ebensoweit ging wie jener: »Hieraus ist das entstanden, was Hortensius einforderte, nämlich daß ihr sagt, der Weise begreife wenigstens dies, daß nichts begriffen werden kann. Dem Antipater jedoch, der dasselbe mit den Worten verlangte, wer behaupte, daß nichts begriffen werden kann, müsse folgerichtig auch behaupten, daß trotzdem dies Eine begriffen werden kann, daß alles Übrige nicht begriffen werden kann, widersprach Karneades mit noch mehr Scharfsinn. Denn weit davon entfernt, folgerichtig zu sein, enthalte die Behauptung vielmehr einen eklatanten Widerspruch. Wer nämlich behaupte, es gebe nichts, was begriffen wird, mache keine Ausnahme; somit sei es notwendig, daß nicht einmal das, was keine Ausnahme ist, auf irgendeine Art erfaßt und begriffen werden kann«.7 Wie man sieht, lehrte Karneades, daß, wer sagt, daß man nichts begreifen kann und daß nichts gewiß ist, in notwendiger Konsequenz  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  In Anm. (D) des Artikels EPIKUR, am Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  6 Cicero, De natura deorum, Buch I, Kap. 5 und 25. 7 Ders., Academ. quaest., Buch IV, Kap. 9. * l

Karneades

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auch sagen muß, daß eben dieser Satz ›Es gibt keine Gewißheit, wir können nichts begreifen‹ ungewiß und unbegreiflich ist. Folglich gehörte er zu denen, die sagten, daß man nichts begreifen kann: er ging also ebensoweit wie Arkesilaos. »Karneades zufolge gibt es zwei Arten von Erscheinungen. Bei der ersten Art unterscheidet er die Erscheinungen, die begriffen werden können, von denen, die es nicht können. Bei der zweiten hingegen unterscheidet er die glaubwürdigen Erscheinungen von den unglaubwürdigen. Einwände gegen die Sinne und deren Evidenz bezögen sich daher auf die erste Art; gegen die zweite sei nichts einzuwenden. Daher kommt er zu der Auffassung, es gebe keine Erscheinung von der Art, die zum Begreifen führt, aber viele, die zum Glauben führen, denn es wäre gegen die Natur, wenn es nichts Glaubwürdiges gäbe: dann tritt nämlich der völlige Zusammenbruch des Lebens ein, von dem Du, Lucullus, gesprochen hast. Daher wird den Sinnen vieles glaubwürdig erscheinen; allerdings ist festzuhalten, daß nichts davon so ist, daß es nicht auch falsch sein könnte, ohne daß wir einen Unterschied zu erkennen vermöchten. Wenn also etwas Glaubwürdiges geschieht, wird sich der Weise darauf stützen, falls sich nichts zeigt, was der Glaubwürdigkeit entgegensteht; daran wird sich sein gesamtes Leben orientieren.«8 Man sieht, daß er für die Alltagspraxis nur Wahrscheinlichkeiten zuläßt und darüber hinaus keine Gewißheit oder Evidenz kennt. Er arbeitete mit ganzer Kraft daran, den Menschen die gewohnheitsmäßige Zustimmung zu nichtevidenten Sachverhalten auszutreiben.9 Hat die mittlere Akademie mehr gewollt? Im übrigen kann man mit Recht sagen, daß die Mühe, die er sich hierbei gab, eine Herkulesarbeit war, und man könnte hinzufügen, daß dieser 8

Ders., a. a. O., Kap. 31. »Denn obwohl ich es für eine sehr schwierige Sache halte, den Sinneseindrücken zu widerstehen, sich den Meinungen entgegenzustellen und die Zustimmung in unsicheren Fällen zurückzuhalten, und Kleitomachos Glauben schenke, wenn er schreibt, Karneades habe so etwas wie eine Herkulesarbeit geleistet, weil er die Zustimmung, d. h. die bloße, voreilig gebildete Meinung wie ein wildes und grausames Tier aus unserem Geist herausgerissen hat, dennoch usw.« Cicero, Academ. quaest., Buch IV, Kap. 34. 9

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Heros mit 2000 Ungeheuern, jedes so fürchterlich wie die lernäische Hydra oder der nemeische Löwe, leichter fertiggeworden wäre, als daß Arkesilaos und Karneades die Menschen dazu gebracht hätten, nicht bloße Meinungen zu vertreten, d. h. niemals die Zustimmung zu erteilen, wenn der Sachverhalt nicht mittels Diskussion zur Evidenz gebracht worden ist. Die Neuerung des Karneades, das sei angemerkt, bestand nur darin, daß er nicht wie Arkesilaos leugnete, daß es Wahrheiten gibt, sondern behauptete, daß wir sie nicht mit Gewißheit ausmachen können. »Das mag wahr sein«, sagt ein Akademiker bei Cicero, »denn wie du siehst, räume ich jetzt ein, daß es etwas Wahres gibt, aber ich leugne, daß es erfaßt und begriffen wird.«10 Fügen wir dem diese andere Passage hinzu: »Ich bin kein Mensch, dem nichts wahr zu sein scheint, sondern ich sage, daß allem Wahren etwas Falsches anhaftet, das jenem so ähnlich ist, daß darin jedes verläßliche Kriterium für Urteil und Zustimmung fehlt. Daraus ergibt sich weiter, daß sich vieles Glaubwürdige zeigt, das zwar nicht begriffen wird, aber dennoch für das Leben des Weisen leitend ist, weil es einen starken und klaren Eindruck macht.«11 Angeblich hat Arkesilaos auch geleugnet, daß es Glaubwürdiges gibt.12 Karneades hingegen leugnet es keineswegs, und seiner Ansicht nach bestimmt das Wahrscheinliche sogar unser Handeln, vorausgesetzt, daß man keine dogmatischen Aussagen macht.13 Er war sogar noch konzilianter und erlaubte dem Weisen, in bestimmten Situationen eine bloße Meinung zu haben: »Wenn der Weise jemals irgendeinem* Satz seine Zustimmung erteilt, wird er irgendwann auch eine bloße Meinung haben. Er wird aber niemals eine bloße Meinung haben, also wird er niemals irgendeinem Satz zustimmen. Diesen Schluß billigte Arkesilaos, denn er bejahte den ersten und zweiten Satz. Karneades setzte aber 10

Ders., a. a. O., Kap. 38. Ders., De natura deorum, Buch I, Kap. 5, am Ende. 12 Man sehe Vossius, De philosoph. sectis, S. 76. 13 Man sehe Cicero, Academ. quaest., Buch IV, passim. *  Die Übersetzung folgt der Lesart »ulli« statt Bayles »nulli«. Hgg.  11

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als zweiten Satz, daß der Weise manchmal seine Zustimmung erteilt; also folgte, daß der Weise manchmal eine bloße Meinung hat.«14 Mit diesem Zugeständnis schlug Karneades eine Bresche in sein System, und es heißt, daß Arkesilaos sich besser verteidigt hat als er. »Daraus ist notwendigerweise jene Epoché entstanden, d. h. die Zurückhaltung des Urteils, bei der Arkesilaos der konsequentere von beiden war, wenn es stimmt, was einige von Karneades glauben. Wenn nämlich nichts begriffen werden kann – was beide annehmen –, ist die Zustimmung aufzuheben. Denn was wäre so unsinnig wie etwas zu billigen, was nicht erkannt ist? Noch gestern aber hörten wir, daß Karneades gelegentlich strauchelte und sagte, der Weise werde manchmal bloße Meinungen haben, also sündigen.«15 Fest steht aber, daß Karneades immer wieder auf die Epoché zurückkam und daß diese sozusagen den letzten Grund seines Glaubens bildete. Dies erhellt aus der Darlegung seiner Ansicht am Ende von Ciceros Academicae quaestiones. Ich gebe sie hier wieder: »Was denkt Catulus? Was Hortensius? ›Was ich denke?‹ antwortete Catulus. ›Ich komme auf die Ansicht meines Vaters zurück, die er die Ansicht des Karneades nannte, nämlich daß nichts begriffen werden kann; ich denke aber, der Weise wird auch Nichtbegriffenem zustimmen, d. h. eine bloße Meinung haben, aber mit der Maßgabe, daß er sich bewußt ist, eine bloße Meinung zu haben, und weiß, daß es kein Erfassen und Begreifen von irgend etwas gibt. Indem ich in allem Urteilsenthaltung übe, stimme ich der anderen These, daß nichts begriffen werden kann, aus voller Überzeugung zu.‹* ›Jetzt kenne ich Deine Ansicht, und gegen sie ist wohl nichts einzuwenden. Aber was denkst Du, Hortensius?‹ ›Aufheben!‹ sagt jener lachend. ›Jetzt habe ich Dich‹, sagte ich, ›denn genau das ist die Lehre 14

Ders., a. a. O., Kap. 21. Man sehe auch Kap. 24. Ders., a. a. O., Kap. 24. *  Im vorausgehenden Satz ist die Überlieferung des lateinischen Textes problematisch. Die Übersetzung folgt so weit wie möglich der Lesart, die Bayle vorlag. Hgg.  15

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der Akademie‹.«16 Das ist noch nicht alles, denn Leute, die es sehr wohl wissen konnten, haben behauptet, er billige es gar nicht, daß Philosophen eine bloße Meinung hätten. »Es war möglich, nichts zu begreifen und trotzdem eine Meinung zu haben. Karneades soll das gebilligt haben. Ich für meine Person vertraue Kleitomachos eher als Philon oder Metrodor und glaube, er habe das eher im Streitgespräch vertreten als wirklich gebilligt.«17 Also darf man glauben, wie mir scheint, daß er die Grundlage der Lehre des Arkesilaos vollständig beibehielt, aus Berechnung aber und um seinen Gegnern die gewöhnlichsten Vorwände zu nehmen, über ihn herzuziehen und ihn lächerlich zu machen, ihnen graduelle Abstufungen der Wahrscheinlichkeit konzedierte, die den Weisen bestimmen sollten, in der bürgerlichen Lebenspraxis diese oder jene Entscheidung zu treffen. Er sah sehr wohl, daß er ohne dieses Zugeständnis niemals auf die gehässigsten Einwände würde antworten und niemals beweisen können, daß sein Prinzip die Menschen nicht zur Untätigkeit und zum schimpflichsten Quietismus verdammte. Alles in allem läuft es auf das Gleiche hinaus, ob man sagt »Es gibt keine Wahrheiten« oder ob man sagt »Es gibt Wahrheiten, aber wir haben keine Regel, um sie von der Falschheit zu unterscheiden«. Falls Arkesilaos den ersten dieser beiden Sätze behauptet hat, ist er mit den feurigen Pferden zu vergleichen, die infolge ihrer Wildheit in einen tiefen Abgrund stürzen. Ich finde es jedoch schwer zu glauben, daß er die Existenz von Wahrheiten strikt leugnete. Er begnügte sich, wie mir scheint, mit der These, daß sie für den menschlichen Geist undurchdringlich sind. Die Hitze des Disputs hinderte ihn vielleicht daran, sich so klug auszudrücken, wie man es später in der Akademie des Karneades tat. Dieser verhielt sich vorsichtiger, um nicht wie Arkesilaos völlig in Verruf zu kommen. »Karneades legte als erster jene Neigung zum unverfrorenen Bekritteln ab, für die Arkesilaos, wie er wußte, berüchtigt war, damit er nicht den Anschein erweckte, 16 17

Ders., a. a. O., letztes Kapitel. Ders., a. a. O., Kap. 24, am Ende.

Karneades

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er wolle nur aus Prahlerei gegen alles disputieren.«18 Diese Worte des hl. Augustinus sind für Karneades weniger abträglich als für Arkesilaos; Numenios urteilte jedoch anders über diese beiden Akademiker und ereiferte sich über Arkesilaos weniger als über den anderen. Er behauptet, daß Arkesilaos aufrichtig war, als er andere ebenso wie sich selbst täuschte. Karneades hingegen habe nichts von dem geglaubt, was er sagte, und indem er mit seinen Freunden eine ganz andere, vertrauliche Sprache führte als in seinen Vorlesungen, habe er seine Schüler nur verblüffen und mit dem Pro und Contra spielen wollen.19 Er baute auf und riß wieder ein; kaum hatte er eine Wahrscheinlichkeit herausgearbeitet, stürzte er sie selbst wieder um. (…). Durch sein Eingeständnis, daß es Wahrheiten und Falschheiten in der Natur gibt, die aber so verborgen sind, daß wir sie nicht sicher voneinander unterscheiden können,21 war er ein gefährlicherer Gauner als Arkesilaos. (…). Cicero sagt etwas, was man Numenios entgegensetzten könnte. Dieser behauptete, daß die öffentliche Lehre des Karneades nicht mit seiner privaten übereinstimmte, daß er in der Öffentlichkeit alles verwirrte, um die Stoiker zu bekämpfen, daß er aber in Gesellschaft seiner guten Freunde die gleichen Meinungen erkennen ließ wie das Volk. (…).23 Das paßt nicht zu der Passage bei Cicero, wo er uns versichert, Kleitomachos habe nie herausbekommen, was Karneades, dessen Lieblingsschüler er über viele Jahre hinweg gewesen war, am wahrscheinlichsten vorkam. (…).24,25 Manche werden die Anhäufung von Zitaten tadeln, die man soeben gelesen hat. Ich habe ihre Verachtung, ihren Widerwillen und ihren oberlehrerhaften Tadel vorausgesehen, aber 18

Augustinus, Contra academicos, Buch III, bei Aldobrandin, Not. in Diogen. Laertium, Buch IV, Nr. 28. 19 (…). Numenios bei Eusebius, Praeparat. evangel., Buch XIV, Kap. 8, S. 737 C. 21 Ders., ebd. B. 23 Ders., ebd., D; man sehe auch S. 739 A. 24 (…). Cicero, Academ. quaest., Buch IV, Kap. 31, am Anfang. 25 Ders., a. a. O., Kap. 45, am Ende.

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ich wollte darauf keine Rücksicht nehmen. Ich habe lieber den Kopisten zum Nutzen derjenigen gespielt, die sich gern, ohne ihren Platz zu verlassen, auf historische Weise über die Meinung der Alten informieren und die Originalbelege, will sagen die eigenen Worte der Zeugen sehen möchten. Das ist mein Prinzip auch bei hundert anderen Gelegenheiten.

(C) Er fand die Ungewißheit in den klarsten Begriffen. Alle Logiker wissen, daß der Syllogismus und folglich das Vermögen, Schlüsse zu ziehen, auf diesem Grundsatz beruht: »Dinge, die einem dritten gleich sind, sind auch untereinander gleich. Quae sunt idem uni tertio, sunt idem inter se.« Es steht fest, daß Karneades ihn heftig bekämpft hat (…). Galen berichtet das in einer Abhandlung, die zusammen mit einem der Bücher des Sextus Empiricus gedruckt ist; er sagt weiter, daß die Schüler dieses Philosophen all die Sophismen schriftlich überliefert haben, die ihr Meister diesem Gemeinbegriff – dem klarsten von allen – entgegengesetzt hat, und daß weder sie noch irgendein späterer Akademiker sich die Mühe gemacht hat, seine Sophismen aufzulösen. Er fügt hinzu, daß die schriftliche Überlieferung dieser Einwände ohne Kennzeichnung ihrer Fehler nicht weniger unredlich ist als ihre Erfindung. (…).26

(E) Er war der Widersacher der Stoiker und widmete sich (---) der Widerlegung der Werke Chrysipps. Hier ist eine Passage aus Cicero. »Karneades wandte sich aber gegen die Stoiker, die er stets mit dem größten Eifer widerlegte und deren Lehre ihn in Zorn versetzte.«36 Aufmerksam las er 26

Galen in seinem Buch De optimo docendi genere am Ende der Pyrrhoneae hypotyposes, gedruckt von Henri Etienne im Jahr 1562, S. 220 f. 36 Cicero, Tuscul. disput., Buch V. Im zweiten Buch von De natura deorum sagt er, daß »Karneades gern über die Stoiker herzog«.

Karneades

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die Schriften der Stoiker, insbesondere diejenigen Chrysipps, und schrieb gegen sie.37 Er hatte damit solchen Erfolg, daß er erklärte, ohne Chrysipp wäre er nicht der gewesen, der er war. (…).38 Manch andere hätten sich ähnlich äußern können; sie verdanken ihren Ruhm den Gegnern, die sie hatten. Sie wären im Nichtstun versunken oder hätten ihre Studien zu ihrem Privatvergnügen betrieben, wenn nicht der Ehrgeiz, ihre Gegner zu übertreffen, sie zu dem Entschluß gebracht hätte, großes Wissen zu erwerben und es dem Publikum mitzuteilen. Die Notwendigkeit, sich gegen einen ehrgeizigen und stürmischen Gegner zu verteidigen, hat Bücher hervorgebracht, die Leuten, die an nichts weniger dachten als daran, Autor zu werden, zu großem Ruhm verholfen haben. Auf unseren Karneades trifft letzteres nicht zu: Er hat den Schlachtenlärm gesucht, er hat sich als Gegner einen der berühmtesten Philosophen der Stoa ausgesucht und brannte so sehr darauf, ihn zu besiegen, daß er bei der Vorbereitung auf den Disput mit ihm eine Prise Nieswurz nahm, um einen freieren Kopf zu haben und das Feuer seiner Phantasie kräftiger gegen ihn zu entfachen. (…).39 Ich wünschte, der Autor dieser Worte hätte nicht von einem »Disput mit ihm« gesprochen, denn das legt nahe, daß es sich um eine verbale Auseinandersetzung handelte. Das wäre jedoch ein Irrtum, denn Chrysipp lebte gar nicht mehr, als Karneades sich anschickte, ihn zu widerlegen. Plinius40 und Aulus Gellius41 behaupten, daß Karneades sich dieses Mittels bediente, um auf die Bücher Zenons zu erwidern. Einige moderne Autoren bilden sich ein, daß dies nicht Zenon, das Haupt der Stoiker war, sondern Zenon von Tarsus, der Schüler und Nachfolger Chrysipps.42 Das könnte sein; aber wie Ménage umsichtig be-

37

Diog. Laertius, Buch IV, Nr. 62. Ders., ebd. 39 Valer. Maximus, Buch VIII, Kap. 7, § 5, extern. 40 (…). Plinius, Buch XXV, Kap. 5. 41 Aulus Gellius, Buch XVII, Kap. 15. 42 Jonsius, De script. hist. philosoph., S. 117. Ouzelius zu Aulus Gellius, zitiert bei Baillet, Jugemens, Bd. I, S. 420. 38

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merkt,43 könnte man das auch auf den Gründer der Stoa beziehen. (…). Ich bringe diese Einzelheiten nur, um die Autoren an größte Genauigkeit zu gewöhnen; denn wenn sie sich auch nur ein wenig gehen lassen, bringen sie nacheinander einige andere dazu, Schnitzer zu machen. (…). Nebenbei bemerkt, haben sich Charles Etienne, Lloyd und Hofmann gewaltig getäuscht, als sie Karneades einen guten Freund und treuen Gefolgsmann Chrysipps nannten, »Chrysippi maxime studiosus«. Ich werde weiter unten sagen,57 daß er einige Lehren nur vortrug, um sich den Stoikern entgegenzustellen.

(F) Er besaß eine erstaunliche Redegabe, die dem römischen Senat gefährlich erschien. Seine Redegabe war so stark, daß er nie etwas verteidigte, ohne es zu beweisen, und nie etwas angriff, ohne es gänzlich umzustürzen. »Jene unglaubliche Kraft und Farbigkeit der Sprache des Karneades wäre uns sehr zu wünschen; er hat in seinen Auseinandersetzungen niemals eine These verteidigt, ohne sie zu beweisen, und niemals eine These kritisiert, ohne sie zu Fall zu bringen.«58 Ist es nach diesem Lobspruch noch erforderlich, die folgenden Worte Ciceros anzuführen? »Hieraus ist die jüngere Akademie hervorgegangen, in der Karneades durch eine beinahe göttliche Beweglichkeit des Geistes und Fülle der Rede hervorstach.«59 Numenios hat die Beredsamkeit des Karneades mit einem reißenden Strom verglichen, der alles mitnimmt, was ihm im Weg steht. (…).60 Er fügt hinzu, daß dieser Philosoph 43

Ménage, Anti-Baillet, Bd. I, S. 154. In Anm. (K). 58 Cicero, De orat., Buch II, Kap. 38, am Ende. Man sehe a. a. O., Kap. 88 das Lob, das seinem räumlichen Gedächtnis gezollt wird. Manche Kritiker glauben aber, daß man hier ›Charmidas‹ statt ›Karneades‹ lesen muß. Man sehe Jonsius, S. 191. Quintilian, Buch XI, Kap. 2 nennt jedoch Karneades. 59 Cicero, De orat., Buch III, Kap. 18, am Ende. 60 Numenios bei Eusebius, Praepar. evangel., Buch IV (recte: Buch XIV), Kap. 8, S. 737 C. 57

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seine Zuhörer derart in den Bann schlug, daß er sie wie Gefangene dazu brachte, seine Ansichten anzunehmen, und daß er sich mit Gewalt oder Geschick selbst diejenigen hörig machte, die genaueste Schutzmaßnahmen gegen ihn getroffen hatten. (…).61 Kein Gegner, so fährt er fort, konnte ihm widerstehen, denn sie waren ihm an Beredsamkeit unterlegen; er allein blieb Sieger, alle seine Meinungen setzten sich durch, die der anderen wurden verworfen. (…).62 Antipater wollte ihm entgegentreten,63 aber wie? Er wagte es nie, vor ihm zu erscheinen, weder in seinen öffentlichen Vorlesungen noch auf seinen Spaziergängen noch im Gespräch. Er verstummte, kein Wort kam aus seinem bedauernswerten Mund; er griff ihn nur von fern und im Schutz einiger Bücher an, die er verfaßte. Die Nachwelt hat sie gelesen: Sie konnten sich nicht einmal gegen den toten Karneades behaupten, geschweige denn, daß sie ihm hätten widerstehen können, solange er im Glanze seines Ruhmes lebte. (…).64 Schließen wir mit einer schönen Passage aus Laktanz. »Karneades, ein Philosoph der akademischen Richtung, dessen Argumentationsstärke, Redegabe und Scharfsinnigkeit jedermann, der sie nicht kennt, dem Lob, das Cicero ihm zollte, entnehmen kann, oder auch Lucilius. Dieser läßt Neptun bei der Erörterung eines sehr schwierigen Gegenstandes einräumen, daß er nicht erklärt werden könne, nicht einmal wenn Karneades aus der Unterwelt zurückkäme.«65 Was für eine Vorstellung! Was für ein Lob! (…). Kommen wir nun zu der Gesandtschaft, die Karneades nach Rom führte. Sie liefert Beispiele seiner Redegabe, die keinen Zweifel an der Tatsache erlauben, daß selbst die Rhetoriklehrer ihre Schulen verließen, um ihn zu hören.66

61 62 63 64 65 66

Ders., ebd., S. 738 B. Ders., ebd., S. 738 C. Ders., ebd. Ders., ebd., S. 738 D. Laktanz, Buch V, Kap. 14. Diog. Laertius, Buch IV, Nr. 62.

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Die Athener waren wegen ihrer Plünderung der Stadt Oropos zu einer Geldbuße von 500 Talenten verurteilt worden; sie schickten Gesandte nach Rom, die erreichten, daß die Buße auf 100 Talente reduziert wurde. Der Akademiker Karneades, der Stoiker Diogenes und der Peripatetiker Kritolaos, drei berühmte Philosophen, wurden mit dieser Gesandtschaft betraut.68 Vor der Senatsanhörung hielt jeder von ihnen vor vielen Menschen Reden, und man bewunderte bei jedem von ihnen eine charakteristische Eigenschaft.69 Bei Karneades war es die mitreißende Kraft seiner Rede.70 Hier nun eine bezeichnende Einzelheit: Cato der Zensor war der Meinung, man sollte diese Gesandten in Anbetracht der Tatsache, daß es sehr schwierig sei, im Dickicht der Argumente des Karneades die Wahrheit zu entdekken, unverzüglich zurückschicken. (…).71 Die athenischen Gesandten, hieß es im Senat, seien geschickt worden, weniger um etwas auf dem Weg der Überredung zu erreichen, als vielmehr um uns ihren Willen aufzuzwingen. (…).72 Unnötig zu sagen, daß dieser Zwang nur darin bestand, daß man der Rede des Karneades nicht widerstehen konnte. Man befrage Plutarch, er wird uns lehren, daß die Jugend Roms von den glänzenden Reden des Karneades so verzaubert war, daß sie ihre Vergnügungen und sonstigen Beschäftigungen aufgab, um sich der Leidenschaft des Philosophierens hinzugeben, die jener ihr eingehaucht hatte und von der sie geradezu enthusiastisch ergriffen war. (…).73 Cato gefiel das nicht: er befürchtete, daß die jungen Männer in Zukunft lieber philosophieren als in den Krieg ziehen würden, und er tadelte im Senat die Art, wie man mit dieser Philosophengesandtschaft umging. Laßt uns ihnen je eher je lieber ihre Antwort geben, riet er, und sie dann nach Hause schicken: Das sind Leute, die uns alles einreden, was sie wol 68 69 70 71 72 73

Aulus Gellius, Buch VII, Kap. 14. Macrobius, Saturnal., Buch I, Kap. 5. Ders., ebd. (…). Aulus Gellius, a. a. O. (…). Macrobius, a. a. O. Plinius, Buch VII, Kap. 30. Aelian., Hist. Var., Buch III, Kap. 17. Plutarch, Cato maior, S. 349 E.

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len.74 Er äußerte sich in diesem Sinne nicht aus einem besonderen Haß auf Karneades, wie einige geglaubt haben, sondern weil er ganz allgemein die Philosophie und die gesamte griechische Kultur verachtete.75 Diese letzten Worte Plutarchs sollten uns nicht hindern zu glauben, daß Cato vor allem den Scharfsinn und die zwingenden Schlüsse fürchtete, mit denen Karneades das Pro und das Contra vertrat: Solche Leute sind gefährlich, sie können der besten Sache schaden, wie Cicero über ihn bemerkt,76 sie beweisen euch bei Gelegenheit, daß Schwarz Weiß ist, sie ähneln dem Sohn des Merkur, von dem es heißt, »Autolycus, der zu jedem Streiche begabt ist, dessen Gewohnheit es ward, in Weiß das Schwarze, in Schwarz das Weiß zu verwandeln, der nicht aus der Art des Vaters geschlagen.«77

(G) Er sprach an einem Tag (---) für die Gerechtigkeit, am nächsten gegen sie. Das war sein Element: Er gefiel sich darin, sein eigenes Werk zu zerstören, weil all das im Grunde sein großes Prinzip bestätigte, daß es für den menschlichen Geist nur Vermutungen und Wahrscheinliches gibt. Daher kann man von zwei entgegengesetzten Dingen unterschiedslos das eine oder das andere als Gegenstand einer bald verneinenden, bald bejahenden Darlegung wählen. Aber kommen wir nun zu den Beweisen für unseren Text. Laktanz liefert sie uns. »Als Karneades von den Athenern als Gesandter nach Rom geschickt worden war, diskutierte er ausführlich über die Gerechtigkeit; Galba und Cato der Zensor, die bedeutendsten damaligen Redner, waren unter den Hörern. 74

(…). Ders., a. a. O., S. 350 A. Ders., ebd. 76 (…). Cicero, De re publ., Buch II bei Nonius, s.v. Calumnia, S. 263 meiner Ausgabe. 77 Ovid, Metam., Buch XI, Vers 314 ff. (siehe S. 483, Anm. 33). 75

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Am folgenden Tag aber stieß er seine Rede durch eine entgegengesetzte Rede um und hob die tags zuvor gelobte Gerechtigkeit auf – nicht mit dem Ernst des Philosophen, dessen Lehrmeinung fest und beständig sein muß, sondern gleichsam nach Art einer rhetorischen Übung im Disputieren nach beiden Seiten. Er machte das gewöhnlich so, um andere, wenn sie irgend etwas behaupteten, widerlegen zu können.«78 Laktanz sagt weiter, daß es diesem Philosophen nicht schwerfiel, alles, was man von der Gerechtigkeit sagte, zu widerlegen, denn die Heiden konnten sie gar nicht kennen, weil ihnen diejenige Religion unbekannt war, die Quelle und Grundlage der Gerechtigkeit bildet. (…).79 Wenn sie sie nicht kannten, konnten sie sie auch nicht verteidigen; also mußte sie unterliegen, wenn ein Sophist sie angriff. »Ich habe die Ursache dargelegt, warum die Philosophen die Gerechtigkeit weder entdecken noch verteidigen konnten. Jetzt komme ich auf mein Thema zurück. Weil also die Lehren der Philosophen auf schwachen Füßen standen, faßte Karneades den Mut, sie zu widerlegen, denn er sah ein, daß sie widerlegt werden konnten.«80 Im Anschluß gibt uns Laktanz einen Abriß der Rede des Karneades gegen die Gerechtigkeit und zeigt uns, daß dieser Philosoph folgendermaßen argumentierte: Wenn es Gerechtigkeit gäbe, müßte sie auf dem positiven oder auf dem natürlichen Recht beruhen. Nun beruht sie weder auf dem positiven Recht, das je nach Zeit und Ort verschieden ist und von jedem Volk seinem Interesse und seinem Nutzen angepaßt wird, noch auf dem natürlichen Recht, denn dieses ist nur eine Neigung zum jeweils Nützlichen, welche die Natur allen Arten von Lebewesen mitgegeben hat, und es kann nicht gemäß dieser Neigung geregelt werden, ohne daß man tausend Betrügereien begeht. Daraus ergibt sich, daß das natürliche Recht nicht die Grundlage der Gerechtigkeit sein kann, folglich usw. Mit einer Fülle von Beispielen zeigte Karneades, daß die Lage der Menschen derart ist, daß sie, wenn sie gerecht 78 79 80

Laktanz, Buch V, Kap. 14. Ders., ebd. Ders., a. a. O., Kap. 16.

Karneades

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sein wollten, unklug und töricht handeln würden, und wenn sie klug handeln wollten, ungerecht sein würden. Daraus schließt er, daß es gar keine Gerechtigkeit gibt; denn eine Tugend, die von der Dummheit nicht zu trennen ist, kann nicht als gerecht gelten. Laktanz gesteht, daß die Heiden diesen Schluß nicht widerlegen konnten und daß Cicero den Versuch nicht wagte. »Als daher Karneades die Gerechtigkeit auf diese Weise in zwei Teile zerlegt und den einen ›bürgerliche‹, den anderen ›natürliche Gerechtigkeit‹ genannt hatte, stürzte er beide um, weil jene bürgerliche zwar Weisheit sei, aber nicht Gerechtigkeit, während die natürliche zwar Gerechtigkeit sei, aber nicht Weisheit. Das ist offenbar scharfsinnig und vergiftet, und Cicero konnte es nicht widerlegen. Denn als er Laelius auf Furius antworten und für die Gerechtigkeit sprechen ließ, umging er dies wie eine Fallgrube, ohne Widerlegung. Daher scheint Laelius nicht die natürliche Gerechtigkeit, der Torheit vorgeworfen worden war, sondern jene bürgerliche Gerechtigkeit verteidigt zu haben, von der Furius eingeräumt hatte, daß sie zwar Weisheit sei, aber ungerecht.«81 Danach bringt Laktanz die Lösung mittels des Lichts des Glaubens82 und bemerkt, daß Karneades einerseits wußte, daß gerechte Menschen keine Toren sind, andererseits den wahren Grund nicht kannte, warum sie es zu sein scheinen. Das wiederum habe ihn dazu gebracht, diese Gelegenheit wahrzunehmen, um für sein Lieblingsprinzip, die Unbegreiflichkeit der Dinge zu plädieren. (…).83 Wir wollen eine sehr gute Bemerkung nicht vergessen, die Quintilian gemacht hat. Er sagt, daß Karneades sich stets gerecht verhielt, obwohl er für die Ungerechtigkeit argumentierte. Das war bei den Akademikern gewöhnlich so: Ihre Theorie hing zwischen zwei konträren Thesen, aber ihre Praxis machten sie an einer der beiden fest. 81

Ders., ebd. 82 »Uns fällt es leichter, die Gerechtigkeit zu verteidigen, weil sie uns durch das Geschenk des Himmels vertraut und völlig bekannt ist und weil wir sie nicht nur dem Namen, sondern der Sache nach kennen.« Laktanz, Kap. 17. 83 Ders., ebd.

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(…).84 Alle Welt stimmt hierin überein: man lebt nicht nach seinen Prinzipien.85

(H) Die spitzfindigen Argumente, mit denen er die Gerechtigkeit bestritt, kamen Cicero fürchterlich vor. Eines der besten Werke dieses berühmten Römers ist De legibus. Hier setzt er voraus, daß es ein natürliches Recht gibt, d. h. Handlungen, die ihrem Wesen nach gerecht sind und zu denen wir verpflichtet sind, nicht weil wir in einer Gesellschaft leben, die aufgrund eines positiven Gesetzes diejenigen bestraft, die diesen Pflichten nicht nachkommen, sondern wegen der Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, die ihnen unabhängig von menschlicher Konvention zukommt. Das muß er voraussetzen, sagt er, wenn er auf gut gewählte und gut aufeinander abgestimmte Prinzipien bauen will, und dennoch hat er nicht die Hoffnung, daß alle Welt sie billigt. Er verspricht sich nur die Zustimmung der alten Platoniker, der Peripatetiker und der Stoiker. Um die Schule Epikurs kümmert er sich nicht; sie bekennt sich zur Politikabstinenz, also läßt er sie in diesem Schlupfwinkel nach Belieben philosophieren. Arkesilaos und Karneades bittet er jedoch um Pardon. Wenn sie zum Angriff auf ihn schreiten, so fürchtet er, werden sie riesige Breschen in das Gebäude schlagen, das er errichtet zu haben glaubt. Er traut sich nicht zu, sie abzuwehren, er wünscht sich daher nicht ihren Zorn zuzuziehen, er möchte sie beschwichtigen, er will keinen Krieg mit ihnen. Hier sind seine Worte: »Ich möchte es nicht dahin kommen lassen, daß ungenügend durchdachte und nur flüchtig erforschte Prinzipien zugrunde gelegt werden; nicht daß sie von allen gebilligt werden müßten, denn das ist nicht möglich, aber doch von denen, die geglaubt haben, alles Rechte und Ehrenhafte sei um seiner selbst erstrebenswert und 84

Quintil, Instit. orat., Buch XII, Kap. 1. Man vergleiche das Lob, das Kleanthes Arkesilaos zollte, oben im Artikel ARKESILAOS, Fußn. (91). 85

Karneades

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nur das an sich selbst Lobenswerte sei zu den Gütern zu zählen oder wenigstens als ein großes Gut anzusehen. Alle diese, ob sie nun mit Speusipp, Xenokrates und Polemon in der alten Akademie geblieben oder Aristoteles und Theophrast gefolgt sind, die mit jenen in der Sache einig waren, aber in der Lehrart geringfügig differierten, ob sie nun mit Zenon die Inhalte unverändert gelassen und nur die Worte ausgetauscht haben oder auch Aristons inhaltlich schwieriger und nicht ohne weiteres verständlicher, aber dennoch bereits überwundener und widerlegter Lehre gefolgt sind, so daß sie mit Ausnahme der Tugenden und Laster alles für absolut gleichwertig hielten – alle diese billigen meine Darlegungen. Den Selbstverliebten aber, die nur ihrem Körper dienen und alles, was sie im Leben erstreben oder vermeiden wollen, nach Lust und Schmerz bilanzieren, wollen wir sagen: Selbst wenn sie recht haben – denn dies ist nicht der Ort für Auseinandersetzungen –, sollen sie in ihren Gärtlein diskutieren, und wir wollen sie bitten, sich von jeder Teilnahme am Staat, dessen einzelne Funktionen sie gar nicht kennen noch irgendwann kennenlernen wollten, eine Zeitlang fernzuhalten. Die Unruhestifterin in allen diesen Dingen aber, die neue Akademie des Arkesilaos und des Karneades, wollen wir eindringlich bitten zu schweigen. Denn wenn sie sich störend in diese Dinge einmischt, die wir mit hinreichender Sachkunde konzipiert und ausgeführt haben, wird sie alles in Trümmer legen. Ich möchte sie besänftigen, denn ich traue mir nicht zu, sie zu verscheuchen.«86 Nach dieser Darstellung könnte Karneades als Engel der Zerstörung gelten.87

86

Cicero, De legibus, Buch I. 87 Wir haben oben in Fußn. (81) gesehen, daß Cicero, als er Laelius gegen Furius, den Fürsprecher der Ungerechtigkeit, zum Anwalt der Gerechtigkeit machte, mehrere Argumente des Karneades unbeantwortet ließ. Das geschah in seinen Büchern De re publica. Man sehe Augustinus, De civitate dei, Buch II, Kap. 21.

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(I) Auf dem Gebiet der Religion führte er die Stoiker ad absurdum. Das kann man diesen Worten entnehmen, mit denen Cicero sich an die Stoiker wendet: »Wenn ich mich Euch anschließe, so sag mir, was ich dem antworten soll, der mir diese Frage stellt: ›Wenn es Götter gibt, sind dann auch die Nymphen Göttinnen? Wenn ja, dann auch die Panisker und die Satyrn? Diese sind es aber nicht, also sind die Nymphen keine Göttinnen. Ihnen sind aber doch öffentlich Tempel geweiht und gewidmet. Sind auch die anderen, denen man Tempel geweiht hat, keine Götter? Aber weiter! Zählst du Jupiter und Neptun zu den Göttern? Also ist auch ihr Bruder Orkus ein Gott und jene angeblichen Unterweltflüsse, der Acheron, der Kokytos, der Styx und der Phlegethon; dann müssen wir Charon und Kerberos ebenfalls für Götter halten. Aber das muß man zurückweisen, also ist Orkus kein Gott. Was sagt ihr von seinen Brüdern?‹ Karneades warf diese Frage nicht auf, um die Götter zu beseitigen – denn was paßt weniger zu einem Philosophen als das? –, sondern um zu beweisen, daß die Stoiker hinsichtlich der Götter nichts erklärten. Deshalb fragte er weiter: ›Wie?‹ sagte er, ›wenn jene Brüder zu den Göttern zählen, kann das dann etwa deren Vater Saturn abgesprochen werden, den man vor allem im Westen allgemein verehrt? Wenn dieser ein Gott ist, muß man auch dessen Vater, den Himmel, als Gott anerkennen. Dann aber müssen auch die Eltern des Himmels, der Äther und der Tag, für Götter gehalten werden, sowie deren Brüder und Schwestern, deren Namen alten Genealogien zufolge so lauten: Liebe, Arglist, Furcht, Mühsal, Mißgunst, Verhängnis, Alter, Tod, Finsternis, Elend, Klage, Huld, Betrug, Hartnäckigkeit, Parzen, Hesperiden, Träume, die allesamt Kinder des Erebos und der Nacht sein sollen. Wir müssen also entweder diese Ungeheuer akzeptieren oder aber auch die Erstgenannten leugnen.‹«88 Man sehe bei Cicero selbst die ganze Fortsetzung dieser sehr langen Beweisführung. Wie man

88

Cicero, De natura deorum, Buch III, Kap. 17.

Karneades

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an anderer Stelle sieht, hat Karneades so viele Argumente gegen diejenigen vorgebracht, denen zufolge die Götter tausend Dinge auf Erden zum Nutzen der Menschen geschaffen haben, daß er bei vielen Leuten den Wunsch geweckt hat, zu erforschen, was man davon zu glauben hat. (…).89 Man hat in einem anderen Buch gesagt,90 daß Karneades, wenn er versucht hätte, die Sache der heidnischen Religion zu vertreten, seine unwiderstehliche Beredsamkeit hätte scheitern sehen. Hier wollen wir sagen, daß ihm der Sieg leicht fiel, als er gegen diese Religion argumentierte. Die Gegenseite schmolz vor seiner Beredsamkeit wie Wachs in der Nähe des Feuers. Man beachte, daß Herr Foucher, der Karneades so gut er kann entschuldigt,91 sich dabei einer allzu entgegenkommenden Umdeutung bedient und sich auf Vermutungen stützt, die mit den Tatsachen unvereinbar sind.

Ob Karneades Bücher geschrieben hat Zwei Stellen aus Cicero, die ich angeführt habe, scheinen zu beweisen, daß Karneades Bücher geschrieben hat, denn es hat nicht den Anschein, daß man Schlüsse eines Philosophen zitiert hätte, die nur durch mündliche Überlieferung bekannt waren. Ich könnte jedoch erwidern, daß man sie so zitieren konnte, wie man sie in den Werken irgendeines seiner Schüler fand. Auf diese Weise berichtet Cicero von einigen anderen Lehren des Karneades, nämlich indem er Bücher des Kleitomachos zitiert.92 Es gibt somit keinen Beweis gegen Berichte, wonach Karneades nichts geschrieben hat. Plutarch versichert das ausdrücklich;93 andere sagen, daß Briefe von ihm an König Ariarathes von Kappadozien in Umlauf waren, daß aber der gesamte Rest von seinen Schülern verfaßt wurde und daß er keine Schrift 89 90 91 92 93

Ders., a. a. O., Buch I, Kap. 2.  Pierre Bayle , Pensées diverses sur les comètes, Kap. 124, S. 361. Foucher, Dissert. sur la philos. des académiciens, Buch III, S. 159. Cicero, Academ. quaest., Buch IV, Kap. 32. Plutarch, De fort. vel virtute Alexandri, S. 328 A.

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hinterlassen hat.94 Die Existenz dieser Briefe widerlegt nicht Plutarch, denn Briefe, die jemand ohne den Gedanken an ihre Veröffentlichung geschrieben hat, machen ihn nicht zum Autor, d. h. daß er nicht zu denen gerechnet werden kann, die ein Werk verfaßt haben. Plinius und Gellius stehen in Widerspruch zu Plutarch; sie sagen, daß Karneades Nieswurz nahm, um gegen Zenon zu schreiben.95 Fulgentius will ich nicht anführen, denn bei dem von ihm zitierten Karneades96 handelt es sich anscheinend um den Dichter97 und nicht um den Philosophen. Cicero wäre ein besserer Zeuge, denn er spricht von einer Schrift des Karneades über die These »Ein Weiser wird wohl Kummer beim Verlust seines Vaterlandes empfinden«. Diese Schrift hat Kleitomachos in die Trostschrift eingefügt, die er an seine Landsleute, die Karthager, richtete. (…).98 Cicero kannte die starken und scharfsinnigen Argumente, mit denen Karneades Weissagungen bestritt. (…).99 Aber noch einmal: Das beweist nicht, daß sie in einem Buch dieses Philosophen standen. Weiter oben100 habe ich erwähnt, daß auch seine Einwände gegen den Grundsatz »Was einem Dritten gleich ist, ist untereinander gleich« bekannt waren.

(K) Einer seiner moralischen Grundsätze war in höchstem Maße christlich. Hier werde ich einen Kanonikus von Dijon abschreiben, damit es nicht heißt, wenn ich Theologe wäre, würde ich nicht so von den Meinungen eines Philosophen sprechen, der die heidnische

94

Diog. Laert., Buch IV, Nr. 62, S. 265. Man sehe Anm. (D).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  96 (…). Fulgent., De Virgil. contin., S. 145 meiner Ausgabe. 97 Diogenes Laertius, Buch IV, Nr. 66 erwähnt den Dichter Karneades. 98 Cicero, Tuscul. disput., Buch III, Kap. 22. 99 Cicero, De divinat., Buch I, am Anfang. 100 In Anm. (C), Fußn. (26). 95

Karneades

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Religion unbestreitbar widerlegt hat, die einzige, die er kannte. »Dies war einer seiner Grundsätze: Wenn jemand insgeheim wüßte, daß ein Feind oder eine andere Person, an deren Tod ihm gelegen wäre, im Begriff ist, sich ins Gras zu setzen, wo sich eine Viper versteckt hat, so müßte er diese Person darauf aufmerksam machen, selbst wenn niemand ihm vorwerfen könnte, wenn er bei dieser Gelegenheit geschwiegen hätte. (…).101 Diese Lehre ist bewundernswert und zweifellos der christlichen Religion sehr würdig. Denn gibt es etwas, was der christlichen Religion würdiger wäre, als seinem Feind Gutes zu erweisen und es ohne die Hoffnung auf Belohnung in dieser Welt zu tun?«102 Das sind die Worte des Herrn Foucher; sie kehren fast gleichlautend in Kapitel 4 des dritten Buches wieder. Aber da es hierbei um einen Punkt aus der Moral des Karneades geht, wollen wir auch etwas über seine Auffassung von der Natur des höchsten Gutes sagen. Das letzte Ziel des Menschen, sagte er, besteht darin, sich der natürlichen Prinzipien zu erfreuen.103 Herrn Foucher zufolge heißt das, »alle Funktionen des Verstandes und des Willens in Vollendung auszuüben, ohne Behinderung durch Unwissenheit oder Vorurteile oder durch ein anderes äußeres Hindernis«.104 Cicero bemerkt, daß Karneades diese Ansicht nur vertrat, um den Stoikern zu widersprechen, und daß erst das Hinzutreten der Tugend zu diesem Glücksempfinden das Maß wahrer Glückseligkeit voll machen würde. (…).106 In einer anderen Schrift sagt Cicero: »Ehrenhaft zu leben und sich der Dinge zu erfreuen, welche die Natur als erste dem Menschen nahe legt, das hielt die alte Akademie für das höchste Gut, wie die Schriften Polemons zeigen, die Antiochos nachdrücklich billigt. Auch Aristoteles und

101

Diese Passage stammt aus Cicero, De finibus, Buch II, Kap. 18, am Ende, und nicht aus Buch I, wie Herr Foucher, Dissertat. sur la philosophie des académiciens, Buch I, Kap. 8, S. 158 meint. 102 Foucher, a. a. O., S. 46 f. 103 (…). Cicero, De finibus, Buch II, Kap. 11, am Ende. 104 Foucher, Dissert. sur la philos. des académ., S. 158. 106 Cicero, De finibus, Buch II, Kap. 13.

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seine Freunde kommen dem sehr nahe.* Sogar Karneades nahm die Bestimmung auf, das höchste Gut bestehe darin, sich der Dinge zu erfreuen, welche die Natur als erste uns nahegelegt hat, aber nicht, weil er das billigte, sondern um den Stoikern zu widersprechen.«107 Einige andere Passagen bei Cicero108 sind ein klares Zeugnis dafür, daß Karneades das Glück auf den Genuß der natürlichen Güter beschränkte, ohne das sittlich Gute hinzuzunehmen. Es verdient Erwähnung, daß er die Stoiker und Peripatetiker in dieser Frage in Verlegenheit brachte, denn er wies ihnen nach, daß ihre Auseinandersetzungen um das höchste Gut nur ein Streit um Worte waren. (…).109 Er war ein Schiedsrichter zwischen diesen beiden Schulen und zeigte, daß die Dinge, welche die eine von ihnen ›Güter‹ nannte und die andere bescheiden nur ›Vorzüge‹, unserer Wünsche nicht wert waren, weil die eine ihnen nicht mehr Vorteile beilegte als die andere. (…).110 Einer seiner Siege über die Stoiker bestand darin, daß er sie aus einer Stellung vertrieb, wo sie sich sehr lange behauptet hatten. Sie hatten gesagt, daß der gute Ruf ohne einen Vorteil nicht verdiene, daß man einen Handschlag tut. Sie konnten jedoch Karneades nicht widerstehen und sahen sich zu der These genötigt, daß er um seiner selbst willen unsere Wahl verdiene.111 Jeder weiß, daß sie einen Unterschied machten zwischen dem Guten und den Dingen, denen der Vorzug gebührt.

 Die Übersetzung folgt der Lesart ›huc proxime‹, statt Bayles ›nunc proxime‹. Hgg.  107 Ders., Academ. quaest., Buch II, Kap. 42, am Ende. 108 In De finibus, Buch II, Kap. 11 und Buch V, Kap. 9 f. 109 Ders., ebd., Buch III, Kap. 12. 110 Ders., Tuscul. disput., Buch V, am Ende. 111 Ders., De finibus, Buch III, Kap. 15 f. *

Karneades

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(L) Seine Bestreitung der Orakel des Apollo war von beträchtlicher Stärke. Diese Gottheit, sagt er, kann zukünftige Ereignisse nicht vorhersagen, sofern sie nicht von einer notwendigen Ursache abhängen. Er sprach ihr die Erkenntnis aller kontingenten Ereignisse ab, z. B. des Vatermordes, den Ödipus begehen würde; denn da es keine Ursache gab, die diesen Mann genötigt hätte, seinen Vater zu töten, konnte Apollo nicht vorhersehen, daß er ihn töten würde. Man kann die Zukunft nur erkennen, wenn man alle Wirkursachen einer Handlung kennt. Karneades behauptete sogar, daß die Götter, welche die Orakel beherrschten, die Vergangenheit nicht erkennen könnten, weil keine Zeichen übriggeblieben wären, die als Spuren dienen könnten, an denen entlang man bis zum Zeitpunkt des Ereignisses zurückzugehen vermöchte. Zweifellos behauptete er, daß keine andere Spur dafür in Frage kam als die Verkettung natürlicher Ursachen, die ohne Beteiligung von Freiheit wirkten, und daß daher die Akte menschlicher Freiheit, indem sie diese Kette durchbrechen, die Götter hinderten, in vergangene Zeiten zu blicken, weil keine wahrnehmbare Spur der Ereignisse übriggeblieben war. (…).112 Chrysipp war geschickt dem Einwand ausgewichen, der davon abgeleitet war, daß ein zum Sterben bestimmter Mensch sterben wird, ob er nun Medizin nimmt oder nicht. Er war ihm ausgewichen, sage ich, indem er die Verknüpfung vorherbestimmter Ereignisse annahm, wie daß ein solcher Mensch einen Arzt bemühen und geheilt werden wird. Denn die Einnahme der Medizin ist dann eine Nebenfolge der Schicksalsbestimmung zur Genesung. (…).113 Karneades gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden; um sie ganz zu widerlegen, zeigte er ihren großen Nachteil auf, nämlich die Auslöschung der Freiheit. Wenn ihr auf diese Weise Ursache und Wirkung in den Ratschlüssen des Schicksals verknüpft, sagte er, wird alles mit Notwendigkeit geschehen und nichts in unserer Macht stehen, jedes Er112 113

Ders., De fato, Kap. 14. Ders., a. a. O., Kap. 13.

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eignis wird von einer vorausgehenden Ursache abhängen und allesamt werden sie mit einem natürlichen und unauflöslichen Band aneinandergekettet sein. Sein Gedanke läßt sich leichter in den Worten Ciceros erfassen: »Karneades mißbilligte diese ganze Art des Argumentierens und meinte, dieser Schluß werde unüberlegt gezogen. Deshalb führte er den Angriff von einer anderen Seite und ließ jede Unterstellung weg. Er schloß folgendermaßen: Wenn alles aus vorausgehenden Ursachen geschieht, dann geschieht alles aufgrund einer natürlichen Verknüpfung, Verflechtung und Verkettung. Wenn das zutrifft, wird alles mit Notwendigkeit bewirkt. Wenn das wiederum wahr ist, steht nichts in unserer Macht. Es steht aber einiges in unserer Macht. Wenn jedoch alles aufgrund des Schicksals geschieht, dann geschieht alles aus vorausgehenden Ursachen; also geschieht nicht alles, was geschieht, aufgrund des Schicksals.«114 Man sieht, daß die Streitigkeiten zwischen den Anhängern des hl. Augustinus auf der einen Seite und den Jesuiten und Remonstranten auf der anderen Seite über die Folgen der Prädestination schon bei den antiken Philosophen vorkamen. Man sieht, daß Karneades den Theologen, welche die Prädestinationslehre vertreten, die Einwände geliefert hat, die sie ihren Gegnern vorhalten: Gott könnte zukünftige Ereignisse nicht vorhersehen, wenn sie von einer indifferenten Ursache abhingen. Nur die Sozinianer sind so aufrichtig gewesen, die offensichtliche Stärke dieses Einwands anzuerkennen, aber in welchen Abgrund haben sie sich durch diesen Akt der Freimütigkeit gestürzt! Er kostete sie das Vorherwissen Gottes, und könnte man eine größere Ungeheuerlichkeit aussprechen als einen Gott zuzulassen, der die Handlungen der Menschen nur dadurch erkennt, daß sie geschehen?

114

Ders., a. a. O., Kap. 14, am Anfang.

KNUTZEN

knutzen, Matthias, geboren im Herzogtum Holstein,a ließ sich zu derart übertriebenen Ansichten hinreißen, daß er öffentlich den Atheismus lehrte und große Reisen unternahm, um Anhänger zu finden. Er war ein unruhiger Geist, der die ersten Anzeichen seiner Gottlosigkeit in Königsberg in Preußen zu erkennen gab.b Er rühmte sich, eine große Anzahl von Gleichgesinnten in den bedeutendsten Städten Europas zu haben (A), allein in Jena an die 700.c Man nannte seine Sekte Gewissener  Conscientiaires  weil er lehrte, es gebe keinen anderen Gott, keine andere Religion und keine andere rechtmäßige Obrigkeit als das Gewissen, das alle Menschen die drei Gebote des  Natur- Rechts lehre: niemandem Unrecht zuzufügen, ehrbar zu leben und jedem das Seine zukommen zu lassen. Er faßte den Inhalt seiner Lehre in einem recht kurzen Brief zusammen, von dem er mehrere Abschriften ausstreute (B). Er ist aus Rom datiert. Man findet ihn ungekürzt in den letzten Ausgaben des Micraelius. Er hat außerdem einige deutsche Schriften unter die Leute gebracht. All das ist in deutscher Sprache durch einen lutherischen Professor namens Johannes Musaeus widerlegt worden (C). Der Anfang dieser Sekte liegt um das Jahr 1673. Im Jahr 1677 ist in Wittenberg ein Werk gegen Knutzen gedruckt worden (D).

a

Aus Oldenswort in Eiderstedt. Moller, Isagoge ad histor. Cherson. Cimbricae, Teil III, S. 164. b Tobias Pfanner, Systemat. theologiae gentilis, S. 35. c Man sehe unten, Fußn. (4).

314

Historisches und kritisches Wörterbuch

(A) Er rühmte sich, eine große Zahl von Gleichgesinnten in den bedeutendsten Städten Europas zu haben. Hier sind seine Worte: »Niemand wird es mir als Verbrechen anrechnen, wenn ich mit meinen Kameraden (von denen es unzählige in Paris, Amsterdam, Leiden, in England, Hamburg, Kopenhagen, außerdem in Stockholm und sogar in Rom sowie in benachbarten Städten gibt und die mit mir einer Meinung sind) die ganze Bibel für ein hübsch ausgedachtes Märchen halte, durch das die Schafsköpfe, d. h. die Christen, die ihre Vernunft knebeln und vernunftgeleitet unvernünftig sind, erfreut werden.«1 Es besteht kein Anlaß zu der Vermutung, daß er sich der List der politischen Verschwörer bedient hat, die, um mehr Anhänger zu erwerben, immer behaupten, schon über eine große Anzahl von Komplizen zu verfügen. Eher hat es den Anschein, als habe er so gesprochen, weil er ein unbesonnener Mensch und ein Leichtfuß war.

(B) Er faßte den Inhalt seiner Lehre in einem recht kurzen Brief zusammen, von dem er mehrere Abschriften ausstreute.2 Der Nachfolger von Micraelius hat den Inhalt dieses Briefes in den folgenden sechs Artikeln zusammengefaßt. »1) Es gibt weder Gott noch Teufel. 2) Die Obrigkeit verdient keine Anerkennung, Kirchen sind verachtenswert, Priester abzulehnen. 3) An die Stelle von Obrigkeit und Priestertum treten Wissenschaft und Vernunft in Verbindung mit dem Gewissen, das lehrt, ehrbar zu leben, niemanden Unrecht zuzufügen und jedem das Seine zukommen zu lassen. 4) Die Ehe ist mit der Hurerei gleichzusetzen. 5) Es gibt nur ein Leben. Danach erfolgt weder Belohnung noch Bestrafung. 6) Die heilige Schrift widerspricht

1

Bei Micraelius, Syntagm. histor. eccles., S. 2291 in der Ausgabe 1699. Von diesem Brief sind mehr als tausend Exemplare verteilt worden. Micraelius, a. a. O. 2

Knutzen

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sich selbst.«3 Diese Lehre enthält neben der fürchterlichsten Gottlosigkeit offensichtlich auch den Irrsinn in sich, denn man muß völlig verrückt sein, um zu glauben, das menschliche Geschlecht könne ohne Obrigkeit auskommen. Es ist wahr, daß die Obrigkeit nicht erforderlich wäre, wenn alle Menschen den Geboten des Gewissens gehorchten, das dieser gottlose Mensch uns empfiehlt. Aber befolgt man denn die Gewissensgebote selbst in den Staaten, in denen die Richter das Unrecht, das man seinem Nächsten zufügt, mit der größten Strenge bestrafen? Ich glaube, man kann sagen, daß es keine noch so verrückte Dreistigkeit gibt, die uns nicht irgendeine Wahrheit lehrte. Die Verrücktheiten dieses Deutschen zeigen uns, daß die Begriffe der natürlichen Religion, die Begriffe der Ehrbarkeit, die Eindrücke der Vernunft, kurz, daß das Licht des Gewissens im Geist des Menschen fortbestehen können, selbst wenn die Begriffe vom Dasein Gottes und der Glaube an ein künftiges Lebens darin erloschen sind.

(C) Er ist von einem lutherischen Professor namens Johannes Musaeus widerlegt worden. Der Autor, dem ich dies entnehme, merkt an, daß sich Musaeus dieser Arbeit unterzogen hat, um jeden Verdacht zu zerstreuen, der sich zum Nachteil der Universität Jena hätte regen können, denn dieser erbärmliche Knutzen prahlte damit, dort viele Komplizen zu haben.4 In der Schrift von Musaeus stößt man auf viele alberne Dinge, die das Leben dieses merkwürdigen Menschen betreffen. Wenn man darin aber eine solide Apologie der heiligen Schrift gegen die Lästerungen dieses Mannes sucht, dann muß man zur zweiten Auflage greifen. Wer das Deutsche versteht, sollte dem Rat von Moller5 folgend auch die von ihm

3 4 5

Micraelius, Syntagm. hist. ecclesiast. S. 2289 in der Ausgabe 1699. (…). Moller, Isagoge ad histor. Cherson. Cimbr., Teil III, S. 165. A. a. O., S. 167.

316

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genannte Schrift6 zur Hand nehmen und seine Betrachtung über sie beachten. Er sagt, daß, wenn die Leute fortfahren, ihre Feinde des Atheismus zu verdächtigen, wie es der Verfasser dieser Schrift mit übereiltem Eifer tat und dabei seine Leidenschaften einfließen ließ, sie dann dem Herrn Christian Thomasius umfassendes Material zur Verfügung stellten, der an einer Apologie für diejenigen arbeite, die grundlos derartigen Anschuldigungen ausgesetzt gewesen sind. Der Verfasser  sc. Bayle  der Pensées  diverses  sur les comètes hat den Plan zu einem gleichartigen Werk vorgelegt7 und eine bemerkenswerte Vorstellung davon gegeben. Aber wir wollen in den Worten von Moller die Bösartigkeit dieser Art von Anklägern zur Kenntnis nehmen. »Es wäre zu wünschen, daß der hochberühmte Theologe« (sc. Johannes Müller, Pastor Primarius in Hamburg) »bei dieser Unternehmung seinem Haß auf die Gegner weniger nachgegeben hätte und nicht auffallend unbeherrscht den kürzlich verstorbenen Schupp mit seinen bei allen Frommen so beliebten Demegoriae sowie Christian Hoburg, der in seinen Schriften mehr dem Aberglauben und der Schwärmerei – dem genauen Gegenteil des Atheismus also – zuneigt, durch Sinnverdrehung unter diejenigen rechnen würde, die den Atheismus entweder bemänteln oder bis zu einem gewissen Grad öffentlich befördern. Eins ist sicher: wenn die gegen den Atheismus anschreibenden Theologen fortfahren, derart übereifrig und von persönlichen Affekten bestimmt ihre Gegner in den Verdacht einer an den Atheismus grenzenden Unfrömmigkeit zu bringen, so fürchte ich, daß nach dem Beispiel Gabriel Naudés, des Anwalts derer, die der Magie beschuldigt wurden, die Feder des freimütigen Christian Thomasius mit Billigung aller rechtschaffenen Menschen ein weites Feld zur Rechtfertigung der Unschuld der zu Unrecht des Atheismus Beschuldigten vorfinden wird.« 8 6

Atheismus devictus. Sie ist 1672 gedruckt worden. Der Autor heißt Johannes Müller, Pastor Primarius in Hamburg. 7 Im Vorwort zu  sc. Bayles  Addition  aux pensées diverses sur les comètes , die 1694 in Rotterdam erschienen sind. 8 Moller, Isagoge ad histor. Cherson. Cimbr., Teil III, S. 167.

Knutzen

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(D) Im Jahr 1677 ist in Wittenberg ein Werk gegen Knutzen gedruckt worden. Sein Titel lautet Exercitationes academicae II de atheismo Renato des Cartes et Matthiae Knuzen oppositae. Autore Valentino Greissingio (…). Das habe ich einem Buch von Caspar Sagittarius entnommen.9

9

Es trägt den Titel Introductio in historiam ecclesiasticam, S. 879. Es ist 1694 in Quart gedruckt worden.

KRITIAS

kritias, Schüler des Sokrates, zog so schlechten Nutzen aus den Lehren dieses Philosophen, daß er ein sehr böser Mensch wurde. Das bezeugte er vornehmlich, als seine von Lysander, dem Feldherrn der Lakedämonier, unterworfene Geburtsstadt Athen von den dreißig Tyrannen unterjocht wurde. Er war einer von diesen dreißig und der ungerechteste von allen.a Er hatte nicht nur die Absicht, Athen in einen sehr erbarmungswürdigen Zustand zu versetzen, sondern wollte ganz Attika verwüsten. Es heißt, daß seine Ungerechtigkeiten dem Sokrates beim Volk zum Nachteil gereichten, weil der Groll, den man über den Schüler empfand, auf den Meister zurückfiel. Xenophon hat diejenigen widerlegt, die Sokrates böswilligerweise die Schandtaten einiger seiner Schüler anlasteten. Es steht fest, daß Kritias den Sokrates nicht mochte und ihm das Lehren untersagte.b Eines der Verbrechen, die ihn am meisten verhaßt machten, war, daß er der eifrigste Befürworter des Todes von Theramenes war und mit allen Kräften darauf hinarbeitete, daß Leute, die durch die Gruppe der dreißig Tyrannen aus Athen vertrieben waren, in ganz Griechenland kein Asyl fanden,c denn man bedrohte die Städte mit Krieg, die sie aufnahmen.d Man hatte so viele Leute verbannt, daß sie eine Art kleine Armee bilden konnten, die den Entschluß faßte, mit Gewalt in die Stadt zurückzukehren und sie zu befreien. Unter der Führung von Thrasybulos brachten sie den Hafen Piräus in ihre Gewalt und ließen den Mut nicht sinken, als sie gezwungen waren, ihn aufzugeben;e sie standen a

(…). Xenophon, De factis et dictis Socratis, Buch I, S. 415 meiner Ausgabe. (…). b Ders., S. 417. c Xenophon, De gestis graecor., Buch II. d Philostrat, Vitae sophistarum, S. 503. e Xenophon, De gestis graecor., Buch II.

Kritias

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zwei Schlachten mit großer Tapferkeit durch, und in der letzten töteten sie Kritias, der beherzt kämpfte.f So war das Ende dieses Mannes, der sich im übrigen durch seinen Adel, seine Wortgewandtheit und seine Verse auszeichnete. Er ist von Platon mehr als von dessen Kommentator Proklos gelobt worden. Man hat ihn zu denen gezählt, die sich gegen das Dasein Gottes geäußert haben (H). Ich wäre nicht überrascht, wenn Autoren, die in der Literatur der Alten nur mittelmäßig bewandert sind, diese Tatsache nicht kennen würden, aber ich finde es ein wenig merkwürdig, daß der gelehrte Le Fevre das nicht gewußt hat. Die Stelle, an der Sextus Empiricus davon spricht, hat einem unserer modernen Kritiker viel zu schaffen gemacht.g Moréri hat sich bei diesem Artikel als sehr wenig kundig erwiesen, und Vossius konnte ihm hierbei nicht als verläßlicher Führer dienen.

(H) Man hat ihn zu denen gezählt, die sich gegen das Dasein Gottes geäußert haben. Sextus Empiricus drückt sich hierüber in klaren Worten aus. »Die meisten Menschen glauben, daß es Götter gibt, aber einige wie Diagoras, Theodoros und Kritias der Athener sagen, daß es keine gibt.«27 In einem anderen Buch stellt er die Gedanken dieses Mannes vor. Kritias, einer der dreißig Tyrannen von Athen, sagt er,28 scheint zu den Atheisten zu zählen. Er behauptet, daß die alten Gesetzgeber verhindern wollten, daß jemandem von seinem Nächsten versteckterweise Böses zugefügt würde, und sich daher eine Vorsehung ausgedacht haben, die darüber wacht, ob die Menschen gut oder böse leben und diejenigen bestraft, die Böses tun. Seinem Lehrsystem zufolge hat es eine Zeit gegeben, in der die Menschen ohne feste Ordnung wie die Tiere f g 27 28

Cornel. Nepos, Thrasybulus, Kap. 2. Mr. Petit, ein Pariser Arzt. Man sehe die Anm. (H). Sextus Empiricus, Pyrrhoneae hypotyposes. Buch III, S. 155. Ders., Adversus mathematicos, S. 319.

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lebten, die guten Handlungen nicht belohnten noch die Verbrechen bestraften und keine andere Regel kannten als das Gesetz des Stärkeren. Später haben Menschen Strafen eingeführt, und dann hat die Gerechtigkeit ihre Gewalt über die Ungerechtigkeit so wie ein Herr über seinen Sklaven ausgeübt. Wer etwas Böses getan hatte, wurde bestraft. Als man dann bemerkte, daß die Gesetze die Menschen zwar davon abhielten, öffentlich zu sündigen, nicht aber, Böses im Verborgenen zu tun, erhob sich ein gescheiter Kopf, der erkannte, daß er dem menschlichen Geschlecht einen sehr großen Dienst erweisen würde, wenn er es so einrichten könnte, daß die Bösen eine Strafe fürchteten, selbst wenn sie im Geheimen sündigten und wenn sie lediglich böse Pläne schmiedeten. Er erfand folglich einen Gott, d. h. eine unsterbliche Natur, die alles sieht und weiß. Er schrieb ihm die Regierung der Welt zu, die Bewegung der Himmel, Blitz und Donner und ganz allgemein alles das, wovor die Menschen Angst haben. Auf diese Weise, so schloß er, hat ein geschickter Mann den anderen das Dasein einer Gottheit weisgemacht. Sextus Empiricus berichtet in den eigenen Worten des Kritias, ohne das Werk zu nennen, aus dem er sie zitiert. Wir wissen lediglich, daß er sie einem Gedicht entnimmt, denn er zitiert jambische Verse. Verwirrung wird nun dadurch in die Sache gebracht, daß Plutarch dieselben Verse Euripides zuschreibt und annimmt, daß dieser Dichter, der den Areopag fürchtete und es deshalb nicht wagte, seinen Atheismus öffentlich zu machen, dieses böse System durch eine Bühnengestalt vortragen ließ.29 (…). Es ist offensichtlich, daß die von Sextus Empiricus und die von Plutarch berichtete Lehre ganz dasselbe sind. Sie unterscheiden sich nur darin, daß Plutarch nicht eine so große Anzahl von Versen wie Sextus Empiricus zitiert und daß er dasjenige Euripides zuschreibt, was der andere Kritias beilegt. Aber die Verse, die Plutarch zitiert, sind genau dieselben wie einige von denen, die Sextus Empiricus überliefert. Angesichts dessen kann man sich fragen, ob aufgrund eines bei großen wie kleinen Autoren nur allzu häufigen Gedächtnisfehlers das Verdienst des 29

Plutarch, De placitis philosoph., Buch I, quaest. 7, S. 880 E.

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Euripides dem Kritias zugesprochen wurde oder dem Euripides das, was dem Kritias zukommt, oder ob es ein anderes Mittel gibt, die Schwierigkeit zu beheben. Mir scheint, daß ein Pariser Arzt recht glückliche Vermutungen hierzu angestellt hat. Er meint, daß es eine Lücke bei Sextus Empiricus gibt, d. h. daß die Abschreiber einige Absätze übersprungen haben, die das aus Kritias Zitierte enthielten sowie die mitgeteilte Nachricht, daß Euripides, der von derselben Meinung überzeugt war, sie ausführlich in einem Theaterstück dargelegt hatte. (…)30 Wer weiß, daß sehr alte und ziemlich gut erhaltene Manuskripte nicht immer das enthalten, was sich in anderen findet, und daß sie trotzdem keinerlei Lücken aufweisen, der wird zustimmen, daß es sehr wohl möglich ist, daß die Manuskripte des Sextus Empiricus an der betreffenden Stelle verstümmelt sind, wenngleich die Schrift darin ununterbrochen fortläuft. Aber obwohl ich der Vermutung von Petit zustimme, lasse ich doch nicht alle seine Gründe gelten, und ich werde die nennen, die mir falsch zu sein scheinen.

Prüfung der Gründe des Herrn Petit I. Er sagt, daß Plutarch zufolge der Grund, der Euripides zwang, sein System durch den Mund des Sisyphus vorzutragen, die Furcht vor dem Areopag war. Nun ist diese Furcht, so fügt er hinzu, nicht wahrscheinlich bei einem Mann wie Kritias, der ein grausamer und gewalttätiger Tyrann war und der über göttliche wie menschliche Gesetze spottete. Dieses Argument ist unhaltbar, denn die Tyrannei des Kritias begann erst nach der Einnahme Athens. Bis dahin war er nur durch seine Intrigen aufgefallen, und er war genau wie jeder andere für sein Verhalten verantwortlich, so daß er, wenn er ein Theaterstück hätte verfassen wollen, gezwungen gewesen wäre, mehr oder weniger genauso vorsichtig vorzugehen wie Euripides. Das athenische Volk und die Gerichtshöfe konnten ihn ebensoleicht zur Ver30

Pierre Petit, Observationes miscellan., Buch I, Kap. 1, S. 7.

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nunft bringen, wie man es mit Alkibiades unter dem Vorwand der Gottlosigkeit getan hatte.32 Es ist sehr wahrscheinlich, daß Kritias, wenn er Tragödien geschrieben haben sollte, dies nicht getan hat, als er zu den dreißig Tyrannen zählte, sondern zu einer Zeit, als er mehr Muße hatte. Im schlimmsten Fall ist es sehr wohl möglich, daß er sie verfaßte, bevor er ein Tyrann wurde, und das genügt, um das Argument zu widerlegen, das ich hier zu bestreiten habe. II. Hier ist ein zweites Argument, das nicht stärker ist. Kritias war kein so guter Dichter, sagt Petit, als daß man ihm so schöne Verse wie die von Sextus Empiricus zitierten zuschreiben dürfte. Wie sollen wir das mit Athenäus vereinbaren, der so viele gute Verse von Kritias anführt, ihn sogar mit dem Epitheton ›sehr gut‹ belegt33 und der schließlich ein Stück zitiert, das für ein Werk entweder des Kritias oder des Euripides gehalten wurde? Wenn das Publikum im Zweifel ist, ob ein Gedicht von einem der vorzüglichsten Autoren stammt, die man kennt, oder von einem anderen, so steht fest, daß dieser andere ein sehr guter Dichter ist. III. Was Petit hinzufügt, scheint mir ein schlechtes Argument zu sein: daß nämlich, weil Platon34 Euripides vorgeworfen hat, den Tyrannen zu sehr geschmeichelt und die Tyrannei gelobt zu haben, die Furcht vor dem Areopag viel besser zu diesem Dichter als zu Kritias passe. Denn allgemein gesprochen gibt es keine Verbindung dazwischen, die Monarchie der republikanischen Regierungsform vorzuziehen und es nicht zu wagen, seine Ansichten über die Religion direkt zu äußern. Die Lobgesänge auf die Tyrannei, die man Euripides vorgeworfen hat, sind lediglich gewisse Stellen aus seinen Tragödien, wo er die Vorteile der monarchischen Regierungsform schildert; und es ist nicht befremdlich, daß ein Mann von Geist in einer Stadt wie Athen, wo die republikanische Regierungsform eine unerschöpfliche Quelle von Revolutionen und Verwirrungen war, 32 33 34

Man sehe Cornelius Nepos, Vita Alcibiadis. »Der vortreffliche Kritias«. Athen., Buch XIII, S. 600. Buch VIII von Republ.

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sich von Prinzipien einnehmen ließ, welche die Monarchie begünstigten. Aber lassen wir das, es geht nicht darum, den Geschmack des Euripides zu rechtfertigen, es geht darum, zu sehen, ob er deshalb, weil er gelegentlich mit Lobesworten vom Königtum gesprochen hat, zu dem Kunstgriff greifen mußte, den Plutarch ihm beilegt, d. h. daß er, weil er es nicht wagte, sich mit den Areopagiten in Streit einzulassen, seine Gottlosigkeiten nicht selbst vortragen wollte, sondern sie durch Sisyphus in einer seiner Tragödien äußern ließ. Es ist nicht leicht zu sehen, daß eines dieser beiden Dinge die Konsequenz des anderen sein könnte: man sieht klar, daß, wenn er gegen die Monarchen und für die republikanische Regierungsform Stellung bezogen hätte, die Klugheit ihm zwangsläufig diktiert haben würde, den Areopag zu fürchten und sich beim Vortrag einer Gottlosigkeit einer List zu bedienen. Ich gestehe, daß man nach einer gewissen Anstrengung des Nachdenkens einsieht, daß er durch seine Lobsprüche auf das Königtum dem Magistrat der Athener hätte mißliebig werden können und daß er von da an hätte glauben müssen, mehr als andere darauf bedacht sein zu sollen, keinerlei Anlaß zu einem Prozeß zu geben. Aber letzten Endes bliebe die Vermutung von Petit strittig;36 in jedem Fall aber könnte man mir nicht bestreiten, daß er seine Überlegung zu sehr eingehüllt hat. Man sehe die Marginalnote.37

36

Ich spreche so, weil Petit hieran gewiß nicht gedacht hat. Um den Grund der Differenz zu erkennen, der hier zwischen der ersten und der zweiten Auflage besteht, ziehe man S. 1356 von Bd. 1 der ersten Auflage des Dictionnaire heran. (Um den Lesern diese Mühe zu ersparen, erschien es zweckmäßig, die Passage hierher zu setzen, auf die das Zitat verweist. Hier ist sie:) »Der Verfasser des Registers zu diesem Dictionnaire hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß mein Urteil über Petit hier ganz falsch sein könnte, denn Euripides hätte durch seine Lobsprüche auf das Königtum dem Magistrat der Athener mißliebig werden können und von da an glauben müssen, mehr als andere darauf bedacht sein zu sollen, keinerlei Anlaß zu einem Prozeß zu geben. Ich räume ein, daß dies ein begründeter Gedanke ist, und ich setze ihn als eine Verbesserung meines eigenen hierher; aber im Grunde bleibe ich überzeugt, daß Petit eine sehr leichtfertige Ver37

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IV. Wenn der Vorwurf, den Platon Euripides macht, nur als Grundlage des Schlusses angeführt worden wäre, den ich untersuchen will, so hätte ich die Logik von Petit nicht in der Art und Weise angegriffen, wie ich es soeben getan habe; leicht hätte ich eine Verbindung zwischen den beiden Dingen gesehen, die er aus einander gefolgert hat. Er schließt folgendermaßen: Weil Euripides das Lob der Tyrannei angestimmt und die Interessen der Tyrannen mit Nachdruck vertreten hat, ist es wahrscheinlich, daß er auf dem Theater die ihm beigelegten Maximen vorgetragen hat, denn diese Maximen sind sehr nach dem Geschmack der Tyrannen. Bis hierher ist alles in Ordnung. D. h. wer das Prinzip zuläßt, ist verpflichtet, die Konsequenz anzunehmen; aber unglücklicherweise gibt es in diesem Schluß eine falsche Prämisse. Es ist nicht wahr, daß man sich den Tyrannen empfiehlt, wenn man Maximen lehrt, die darauf abzielen, die Eindrücke der Religion im Herzen der Menschen auszulöschen. Leute, die unwissend und unvernünftig genug sind, um den Ursprung der Religion nicht den Eindrücken zuzuschreiben, die Gott selbst dem menschlichen Geist vermittelt hat, finden keine plausiblere Annahme, als zu behaupten, daß diejenigen, die herrschen wollten, die Religion erfunden haben, um das Volk leichter unter dem Joch zu halten. Die Geschichte bietet uns tausende und abertausende Beispiele für den Nutzen, den die Fürsten aus dem Aberglauben des Volkes gezogen haben, sei es, um es aufzurichten, sei es, um es in Schrecken zu versetzen. Ein Orakel zu Delphi, eine Antwort der Auguren, die Erklärung eines Wunders sind den Interessen der Herrschenden bei tausenden von Anlässen von großem Nutzen gewesen. Obschon man also durch den gleichen Kunstgriff die Menschen zu Revolutionen bringen könnte,39 ist es doch wahrscheinlicher, daß die klugen und geschickten Herrscher, weil sich nicht alle Unannehmlichkeiten voraussehen lassen, die aus einer Erfindung entstehen können, sich eine Religion ausgedacht haben würden, wenn sie nicht mutung vorträgt; in jedem Fall aber könnte man mir nicht bestreiten, daß er seine Überlegung zu sehr eingehüllt hat.« 39 Man sehe oben Anm. (B) des Artikels ABDAS.

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eine bereits etablierte vorgefunden hätten. Was soll also Petits Behauptung, Euripides habe, um den Tyrannen und besonders dem König Archelaos von Makedonien zu schmeicheln, eine lange Rolle auf der Bühne in der Absicht vortragen lassen, die Religion zu zerstören? Gibt es nichts Geeigneteres, um sie zu ruinieren, als dem Volk weiszumachen, daß sie nur erfunden worden sei, um ihm zum Schreckbild zu dienen, und daß es im Grunde Hirngesprinste seien, wenn man behauptet, der Donner, der Hagel sowie das Unwetter seien Züchtigungen, deren sich Gott gegen die Sünde bedient? Petit hat sich so offensichtlich selbst widerlegt, daß man darüber nur staunen kann. Die Tyrannen, sagt er, verspotten die Religion und bringen ihr nicht die geringste Achtung entgegen; aber gleichwohl bedienen sie sich aller denkbaren Mittel, um ihre Untertanen zur genauen Befolgung der Religion zu bringen; und folglich, so muß man ihm antworten, hätte sich Euripides den Tyrannen sehr schlecht empfohlen, wenn er auf der Bühne eine derart gottlose Lehre hätte vortragen lassen, wie es die von Sextus Empiricus und Plutarch überlieferte ist. Petit hat, so scheint mir, einen der besten Beweise dafür vergessen, daß Euripides und nicht Kritias auf diese Weise argumentiert hat. Er hätte anführen müssen, daß es ganz der Gewohnheit des Euripides entspricht, Personen auf die Bühne zu stellen, die Gottlosigkeiten vortragen. Sein Bellerophon lästert auf die allerkühnste Weise gegen die göttliche Vorsehung und kommt zu dem Schluß, sie angesichts der Unordnungen in der Welt und der ständigen Unterdrückung der Unschuld zu leugnen.41 Ich beschließe diese Anmerkung mit dem Hinweis, daß Petit eine lange Passage aus Seneca zitiert, die beweist, daß dieser Philosoph das, was die Alten über den Donnerschlag Jupiters gesagt haben, nur als einen frommen Betrug angesehen hat. »Es gibt nichts Törichteres als den Glauben, daß Jupiter Blitze Man sehe die Anmerkung (AA) des Artikels EURIPIDES.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Man sehe auch La Mothe le Vayer, Bd. XII, Brief 135, S. 200 und Athenagoras, Legat. pro Christian., S. 28 meiner Ausgabe sowie Klemens von Alexandrien, Admonit. ad gentes, S. 50. 41

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aus den Wolken schleudert (---) und unschuldiges Vieh tötet, aber Tempelschänder, Mörder, Frevler unbehelligt davonkommen läßt. (---). Wenn Du meine Meinung hierzu hören willst, so denke ich nicht, daß die Menschen so dumm gewesen sind zu glauben, Jupiter sei entweder ungerecht in seinen Entscheidungen oder es fehle ihm doch an Macht. Wenn er nämlich seine Blitze schleudert, die Unschuldige töten und Verbrecher verschonen, will er dann nicht gerechter verfahren oder gelingt es ihm nicht? Was haben die Alten mit diesen Behauptungen erreicht? Um die Gemüter der Unwissenden in Schranken zu halten, hielten höchst weise Männer die Furcht für unvermeidlich; wir sollten uns vor einer höheren Macht fürchten. Wegen der gewaltigen Dreistigkeit der Verbrechen war es nützlich, daß es eine Instanz gab, der gegenüber sich niemand als stark genug empfinden konnte. Um also diejenigen einzuschüchtern, die nur aus Furcht unschuldig blieben, stellten sie einen Rächer mit einer entsprechenden Waffe über die Häupter.«42 Man beachte, daß Seneca nicht leugnet, daß Jupiter seinen Blitzstrahl schleudert, wenn man unter Jupiter die Weltseele versteht, die alles hervorgebracht hat, alles leitet und lenkt und die man Schicksal, Vorsehung, Natur, Welt nennen kann und die eigentlich gesprochen nichts anderes als das Universum selbst ist. »Jupiter ist nämlich das Ganze, was du siehst, ganz aus seinen Teilen zusammengesetzt und sich aus eigener Kraft erhaltend.«43 Die Spinozisten könnten sich leicht mit diesem Gedanken anfreunden. Wenn man Seneca fragt, warum Jupiter dasjenige trifft, was er schonen müßte, und dasjenige schont, was er treffen müßte, so verlangt er Zeit, um seine Antwort zu geben. »Aber warum verfehlt Jupiter entweder, was er treffen müßte, oder trifft Unschuldiges? Eine bedeutende Frage wirfst du da auf, die ich zu gegebener Zeit an ihrem Ort beantworten will«.44

42 43 44

Seneca, Natur. quaest., Buch II, Kap. 42. Ders., a. a. O., Kap. 45. Ders., a. a. O., Kap. 45.

LA MOTHE LE VAYER

la mothe le vayer, François, gebürtig aus Paris, ordentlicher Staatsrat und Erzieher des Herzogs von Anjou, des einzigen Bruders von König Ludwig XIV., war ein sehr gelehrter Mann. Am 14. Februar 1639 wurde er in die Académie Française aufgenommen. Er verfügte über mehr Gelehrsamkeit und Belesenheit als die meisten seiner Kollegen; diese schrieben aber fast alle eleganter als er. Sein Stil war nämlich nicht sehr gepflegt; und wenn er von seinem Gedächtnis und seiner Vertrautheit mit der lateinischen Literatur weniger Gebrauch gemacht hätte, als er es tat, so wäre er von sprachlicher Vollkommenheit dennoch weit entfernt geblieben. Er war ein Mann von geregeltem Leben, ähnlich dem der antiken Weisen, ein wahrer Philosoph in seinen Sitten, voller Verachtung sogar für die erlaubten Vergnügungen und leidenschaftlich verliebt in das Gelehrtenleben, in das Lesen und Schreiben von Büchern. Diese Regelmäßigkeit, Strenge und Weisheit schützte ihn aber nicht vor dem Verdacht, keine Religion zu haben (B). Offenbar stützte sich dieser Verdacht auf gewisse Dialoge, die er unter dem Namen Orasius Tubero geschrieben und veröffentlicht hatte,a sowie darauf, daß er in seinen Werken ganz allgemein eine zu große Neigung zum Skeptizismus und zu den Grundsätzen der Pyrrhoneer zeigte. Fest steht, daß es reichlich Libertinage in den Dialogen des Orasius Tubero gibt; wer aber daraus schließen wollte, daß der Verfasser keine Religion hatte, würde sich einen überstürzten Urteils schuldig machen, denn es ist etwas Grundverschiedenes, freimütig zu schreiben, was sich gegen die Religion sagen läßt, und das Geschriebene für ganz wahr zu halten. Viele Leute sind überzeugt, daß diese Dialoge verhinderten, daß er den Platz des a

Dieser Name und ebenso ›Tubertus Ocella‹, unter dem er sich gelegentlich verbarg, verweisen auf die Bedeutung von ›La Mothe le Vayer‹ oder ›Voyer‹.

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Erziehers seiner Majestät einnahm, den man für ihn bestimmt hatte. Das ist wenig wahrscheinlich, denn wenn die Königin und Kardinal Mazarin aus diesem Grund von seiner Ernennung Abstand genommen hätten, dann hätten sie ihm auch nicht den einzigen Bruder des Königs anvertraut. Man war überrascht, daß ein so weiser Mann so frei über anstößige Gegenstände geschrieben hat (D), aber zugleich war man so billig, daraus nichts Nachteiliges über seine Sitten zu schließen: das Publikum ist eben nicht immer vorschnell, blind und unbillig in seinem Urteil! Das wird uns Gelegenheit geben, auf eine Frage einzugehen, die kürzlich einem tüchtigen Journalisten gestellt worden ist. Sie betrifft Giovanni della Casa und sein abscheuliches Capitolo del forno (E). La Mothe le Vayer ist ein gutes Beispiel dafür, daß man in diesem Leben wenig Glück genießt. Denn welchen Grund er dem Anschein nach auch zur Zufriedenheit mit seiner Lage hatte, so wollte er doch nicht noch einmal auf die Welt kommen (F), wenn er dieselbe Rolle dort noch einmal spielen müßte, die ihm die Vorsehung beim ersten Mal zugewiesen hatte. Über den Tod seines einzigen Sohnes empfand er tiefsten Kummer;b sein Schmerz brachte ihn so sehr durcheinander, daß er noch einmal heiratete, obwohl er bereits älter als 75 war und keinen Grund hatte, seine erste Frau zu beweinen. Die Stelle in seinen Werken, wo er uns dieses Detail mitteilt, spricht sehr für die These, das Versprechen ehelicher Treue werde kaum besser gehalten als das Gelübde der Ehelosigkeit (H). Eine Betrachtung, die er an anderer Stelle seiner Werke anstellt, läßt die Vermutung zu, daß er die Schattenseiten der Ehe aus Erfahrung kannte: die Streitereien bei Tage und die Art, sie bei Nacht beizulegen usw. (I). Nach seiner zweiten Heirat lebte er noch mehrere Jahre und starb 1672.c Ich will von den Ausgaben seiner Werke sprechen (K). »Die Académie Française betrachtete ihn als eines ihrer führenden Mitglieder, aber die Welt sah in ihm einen Griesgram, b c

Er starb im Jahr 1664. Moréri sagt 1671. Witte irrt in seinem Diarium biographicum gewaltig, wenn er 1664 als das Todesjahr dieses Autors nennt.

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der nach seinen eigenen Vorstellungen lebte, und einen skeptischen Philosophen. Seine Physiognomie und seine Art, sich zu kleiden, brachten jeden Betrachter dazu, ihn für einen außergewöhnlichen Mann zu halten. Er ging immer mit erhobenem Haupt einher, die Augen auf die Straßenschilder gerichtet, an denen er vorbeikam.« »Bevor man mir sagte, wer er sei«, fährt der von mir zitierte Autor fort, »hielt ich ihn für einen Astrologen oder einen, der Geheimnisse erforscht und den Stein der Weisen sucht.«d Das soll nur bestätigen, was ich oben gesagt habe.e Er hatte Cousins, deren Nachfahren ansehnliche Stellen im Gerichtswesen bekleiden.f

(B) Er stand im Verdacht, keine Religion zu haben. Patin ist mein Gewährsmann: »Herr de la Mothe le Vayer ist kürzlich an den Hof berufen und dort zum Erzieher des Herzogs von Anjou, des Bruders des Königs, ernannt worden. Er ist etwa sechzig Jahre alt, von mittlerer Größe, Stoiker ebenso wie Weltmann, ein Mensch, der gelobt werden will, aber niemals irgend jemanden lobt, wunderlich und launenhaft, eines geistigen Lasters verdächtig, von dem auch Diagoras und Protagoras befallen waren.«4 Dies hat Patin am 13. Juli 1649 geschrieben.

d

Vigneul Marville, Mêlanges d’hist. et de litterat., Bd. II, S. 301 der holländischen Ausgabe. e D. h., er war ein nach innen gewandter Philosoph, der die Eitelkeiten des menschlichen Lebens verachtete. f Man sehe den Mercure galant für März 1682, S. 166 f. 4 Patin, Brief 22, Bd. I, S. 97 f.

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(D) Er hat sehr frei über anstößige Gegenstände geschrieben. In den Dialogen des Orasius Tubero gibt es ziemlich gewagte Gedanken und sehr unanständige Ausdrücke, aber das ist vielleicht nichts im Vergleich mit dem dritten8 und vierten9 Tag des Hexameron rustique. Seine übrigen Bücher enthalten nichts Derartiges, obgleich er sich an bestimmten Stellen, sei es durch ein Zitat oder sonstwie, ein wenig wie ein Kyniker ausdrückt. Wie mir scheint, hat er sich auf zwei Arten dafür gerechtfertigt. I. Indem er zeigt,10 daß Seneca, Dion Chrysostomos und der hl. Augustinus in ihren Werken gewisse Dinge zur Sprache bringen, die so unanständig und so ordinär sind, daß sich fast alle davon schockiert zeigen, und trotzdem »gilt der erste als der sittenstrengste Römer, der zweite (---) als das Wunder seiner Zeit und der dritte als einer der bedeutendsten Kirchenlehrer.«11 II. Indem er als Grundsatz aufstellt,12 »daß die Bücher eines Mannes sehr schlechte Bürgen für seine Neigungen sind und man die Sitten eines Mannes nicht gut nach seinen Schriften beurteilen kann«. Lesen wir, was er zur Bestätigung dieser These sagt:13 »Wenn man ein negatives Urteil über alle Autoren fällen müßte, die sich sehr gewagte Gegenstände ausgesucht haben, dann müßte nicht allein der Cento des Ausonius und die Elfsilbler des jüngeren Plinius ewige Schande über sie gebracht haben, sondern dann würden sogar Platon und Xenophon Mühe haben, sich für die Freiheiten zu entschuldigen, die sie sich in ihren Werken genommen haben. Darüber hinaus kann man sagen, daß, allgemein gesprochen, die ausgefallensten Urteile über alle 8

Hier handelt er von den sogenannten Schamteilen bei Männern und Frauen. 9 Hier erklärt er ›Grotte der Nymphen‹ so, als hätte Homer darunter die Schamteile der Penelope verstanden. 10 Hexameron rustique, S. 43 ff. Man vergleiche damit, was im Artikel SANCHEZ, Thomas, Anm. (C) gesagt wird.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  11 A. a. O., S. 42. 12 A. a. O., S. 41. 13 A. a. O., S. 99.

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Schriftsteller zu fällen wären. ›Accius wäre ein Widerling, Terenz ein Parasit, Kriegslüstern, wer blutige Kämpfe beschreibt‹.† Dieser Fehlschluß ließ einst Timaios behaupten, Homer und Aristoteles seien sehr gefräßig gewesen, weil letzterer oft vom Würzen von Speisen gesprochen und ersterer mehrmals das Wort διαιτρεúειν gebraucht habe, das ›Fleisch austeilen‹ bedeutet. Wenn derartige Schlüsse korrekt wären, dann würde Vergil notwendigerweise als großer Kriegsmann und Dioskurides als ruchloser Giftmischer gelten, aber dann würden auch die frommen Meditationen des Aretino seine Heiligkeit beweisen und die schönen Sentenzen des Seneca über die Armut ihn zu einem Bedürftigen machen, trotz der sieben Millionen in Gold und seines ihm zugeschriebenen Einkommens von achthundertausend Livres.«14

Betrachtungen über die Folgerungen, die sich aus den Schriften eines Menschen auf seine Sitten ziehen lassen Allgemein betrachtet ist La Mothe le Vayers Grundsatz durchaus richtig: Das Urteil, das man über die Gesinnung eines Menschen auf der Grundlage seiner Schriften fällen würde, wäre in tausend Fällen falsch. Sallust ist ein Beispiel, das man den obigen hinzufügen kann. Was er »gegen die Korruption und den Sittenverfall seiner Zeit« sagt, »könnte man nicht besser sagen, aber er hätte es Cato oder einen anderen von jenen Sittenstrengen sagen lassen sollen, die auf die alte Disziplin stolz waren, und meiner Meinung nach war eine Brandrede gegen luxuriöses und ausschweifendes Leben nicht weniger unpassend im Geschichtswerk des Sallust, der vom Zensor vor versammeltem Senat wegen seines wüsten Lebens gerügt und zweimal wegen †

Ovid, Trist., I. Man sehe bei Meibomius, Vita Maecenatis, Kap. 22, S. 132 f. mehrere Stellen, die den Gegensatz von Senecas Lebensstil und seinen Schriften betreffen. 14

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Ehebruchs vor dem Prätor angeklagt wurde,15 als es eine Invektive gegen das Streben nach Herrschaft in Cäsars Commentarii gewesen wäre.«16 Man sehe, wie Cicero die Rede verspottet, die Clodius gegen die Vernachlässigung des Götterkults durch die Römer gehalten hatte.17 Die Welt war immer und ist noch heute voll von Leuten, die gegen das Laster wettern und selbst sehr verdorben sind oder ernst und streng in ihren Schriften, aber lax in ihrem Betragen. Also wäre man ein großer Narr, wenn man ihre Sitten nach ihren Schriften beurteilen wollte. Kann man aber zu Recht im Umkehrschluß sagen, daß es Leute gibt, deren Sitten strenger sind als ihre Schriften? Ich glaube, man sagt es zu Recht; aber es geschieht viel seltener, daß sich ein Autor in seinen Schriften viele Freiheiten herausnimmt und wenige in seinen Sitten als umgekehrt. Der Grund für diesen Unterschied ist leicht zu begreifen; denn wer das Größere vermag, der vermag auch das Geringere, aber wer das Geringere vermag, der vermag nicht auch das Größere. Was ist leichter, als in Versen und in Prosa gegen den Sittenverfall seiner Zeit zu wettern, und was ist schwieriger, als an ihm nicht teilzuhaben? Ein weiser Mann bringt jedoch das Schwierigste zustande; es fällt ihm daher nicht schwer, mit den Produkten seiner Feder zu erbauen, denn dies ist viel leichter als jenes. Aber daraus, daß ein Mann imstande ist, erbauliche, fromme und von jedem Verstoß gegen moralische Gesetze freie Werke zu verfassen, folgt nicht, daß er derart schicklich leben kann. Dies ist unendlich schwieriger als jenes. Kommen wir direkt zur Sache. Catull und Ovid, deren Verse so unzüchtig sind, lebten wie sie schrieben. Ihre Ausschweifungen mit Frauen waren maßlos. Dasselbe läßt sich von den französischen Dichtern sagen, die den Parnasse satirique geschrieben haben, sowie von einigen italienischen Poeten, deren

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Man vergleiche, was im Artikel METELLA, Fußn. (13) gesagt wird.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  16 Père le Moine, Discours de l’histoire, S. 185. 17 Cicero in der Rede De haruspicum responso.

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Gedichte sehr obszön sind. Daher dürfte diese Sentenz völlig zutreffend sein: »Selten eifert in den Sitten einem Cato nach, wer in seinen Versen einen Catull nachahmt.« Aber selbst wenn man all das zugibt, macht man La Mothe le Vayers Verteidigung keineswegs zunichte, denn es liegen Abgründe zwischen diesen beiden Dingen: 1) die Schändlichkeiten zu erzählen, die geschehen sind, sie zu loben, ihnen Beifall zu zollen, die Leser zur Nachahmung zu ermuntern, 2) die galanten Abenteuer in etwas zu lebhaften und zu naiven Ausdrücken zu erzählen, der Erzählung sehr muntere Farben zu geben und dabei die Handlungen zu verurteilen oder wenigstens nicht zu billigen, einen Punkt der Lehre18 oder einen mythologischen Gedanken in Ausdrücken darzulegen, die Unkeuschheiten bezeichnen. Das erste ist unentschuldbar, infam und streng zu bestrafen, das zweite aber ist nur ein Spiel des Witzes und läßt keinen Rückschluß zum Nachteil der Ehrbarkeit und Tugend des Verfassers zu. Eben dies rettet unseren Le Vayer. Ich will beiläufig bemerken, daß man nicht generell alle Dichter, deren Verse unkeusch sind, wegen Schamlosigkeit verurteilen darf. Catull verdient nicht, in die Apologie aufgenommen zu werden, die er für solche Dichter skizziert hat; in den meisten seiner Gedichte und sogar in dem Epigramm, mit dem er sich rechtfertigen will, überschreitet er die Grenzen zu weit, und das genügt für seine gerechte Verurteilung. (…).19 Ovid, Martial und mehrere andere müssen gleichfalls von der Wohltat dieser Rechtfertigung ausgeschlossen werden, obwohl sie ihre Unschuld und die Reinheit ihres Lebens inmitten der Unreinheiten ihrer Muse beteuern.20 Vergeblich hat Beroalde versucht, sie zu entschuldigen: er hat sich lächerlich gemacht mit der These, daß, wenn Bücher mit verbotenen Galanterien mitsamt ihren Verfassern verurteilt werden müßten, man dann 18

Man sehe, was im Artikel LUKREZ, Anm. (G) zur Verteidigung des Dichters gesagt ist.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  19 Catull, Epigr. XVI. 20 (…). Ovid, Tristia, Buch II, V. 353. (…). Martial, Epigr. V von Buch I.

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auch die kanonischen Schriften so zu behandeln hätte. (…).21 Das ist erbärmlich und paßt überhaupt nicht zu dem Grund, aus dem diese Dichter verurteilt werden.22 Wenn aber jene nicht verdienen, sich der Wohltat zu erfreuen, von der ich spreche, so gibt es doch mehrere andere, die das verdienen. Ihre lasziven Dichtungen waren nur ein Spiel des Witzes; die Berührung mit diesen unreinen Ideen hat ihr Herz nicht verdorben; sie haben diese Verse geschrieben, um witzige Gedanken vorzutragen; dabei konnten sie nicht der Versuchung widerstehen, sich so auszudrücken, daß ihr Genie gelobt wurde; sie wollten sich dem Geschmack unzähliger Leser anpassen, die darin hinreißenden Witz und Anmut finden. Sie hätten gut daran getan, der Versuchung zu widerstehen, tanti non erat esse te disertum  es war nicht so wichtig, daß du ein großer Dichter bist ; aber letztlich waren es doch nur Worte; ihre Sitten blieben integer, und man könnte ein Wort des Kaisers über Voconius auf sie anwenden: »Im Gedicht war er lasziv, im Herzen keusch.«23 »Diesen Ausspruch hätte er niemals gewagt«, fügt Apuleius hinzu, »wenn sehr freie Verse ein Beweis der Unkeuschheit wären.«24 Ausonius bemühte sich, dem Verdacht zuvorzukommen, den man wegen seines Cento nuptialis gegen seine Weisheit hätte fassen können, und führte deshalb mehrere Personen von untadeligem Lebenswandel an, die sich in ihren Versen viele Freiheiten herausgenommen hatten.25 »Wenn du dies gelesen hast, steh mir gegen jene bei, die – in den Worten Juvenals gesagt – ›die Sittenstrengen spielen, aber Orgien feiern‹, damit sie sich aus meinem Gedicht nicht etwa ein Bild von meinem Charakter machen. Denn – wie Plinius sagt – ›lasziv ist mein Gedicht, mein Le-

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Philippus Beroaldus, Oratio habita in principio enarrationis Propertii, continente laudes amoris. 22 Man ziehe Raderus zu Martial, Epigr. 5 von Buch I zu Rate. 23 Hadrian bei Apuleius, Apolog., S. 281 meiner Ausgabe. 24 (…). Apul., ebd. 25 Auson. im Cento nuptialis, am Ende, S. 515 f. meiner Ausgabe. Man sehe den Artikel AUSONIUS, Anm. (E).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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ben tadellos‹. Als Gebildete mögen sie sich daran erinnern, daß Plinius, ein charakterfester Mann, in seinen Gedichten lasziv, in seinen Sitten aber über jeden Tadel erhaben war; daß Sulpicius ein geiles Werk schrieb, aber sich für sein Leben nicht zu schämen brauchte; daß Apuleius das Leben eines Philosophen führte, in seinen Epigrammen aber den Verliebten spielte und daß sich in allen seinen moralischen Vorschriften Strenge zeigte, in seinen Briefen an Caerellia jedoch Frivolität.«26 Außerdem erwähnt er Platon, Annianus, Laevius, Evenus, Menander27 und Vergil. Man beachte, daß ein Leser die Dichter nicht nach sich selbst beurteilen darf, d. h. er darf sich nicht einbilden, daß ein Stück Poesie, das beim Lesen einen schlechten Einfluß auf sein Herz hat, beim Schreiben die gleiche Wirkung auf den Dichter ausübt. Einige von ihnen gewöhnen sich an diese Ideen und bewundern daran nur die poetischen Schönheiten, in die sie gekleidet sind. Temperament und Gewohnheit rufen bei ihnen dieselbe Unempfindlichkeit hervor, die Marigny einem Gouverneur der spanischen Niederlande hinsichtlich der schönen Damen am Brüsseler Hof beilegt. »Der Erzherzog«, sagt er,28 »widersteht allein kraft seiner Tugend den mächtigen Reizen all der Schönheiten, von denen ich spreche. (…). Er betrachtet sie als Feuer, das ihm Licht gibt, ihn aber nicht erhitzt. (…).« Man sieht Dichter, die galante Verse in wollüstigen Worten schreiben, obwohl sie durch das Alter kalt wie Eis geworden sind. Muß nicht alles, was sie sagen, für ein Spiel des Witzes genommen werden? (…). Es gibt Schriftsteller, die um so gewissenhafter keusche Worte wählen, als sie fürchten, ein wenig sprachliche Freiheit könnte die Gerüchte bestätigen, die über ihre Sitten in Umlauf sind. Andere hingegen, die ihres anständigen Lebens und der guten Meinung über ihre Weisheit sicher sind, (…) achten nicht so sehr auf ihre Worte und nehmen sich Man sehe den Art. APULEIUS, Fußn. (64).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  27 »Was soll ich von Menander und allen Komödiendichtern sagen? Ihr Leben ist ernst, ihr Gegenstand heiter.« Ausonius, ebd. 28 Marigny in seinen Lettres, die im Jahr 1658 gedruckt wurden. 26

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eine allzu große Freiheit, um den Leser zu unterhalten. Allem Anschein nach zählte La Mothe le Vayer zu ihnen; er wußte, daß er notfalls sagen konnte:32 »Die Ankläger halten sich an meine Worte, weil ich ganz unschuldig bin hinsichtlich meiner Taten.«33 Schließen wir mit einer Bemerkung über die erstaunliche Verschiedenheit menschlicher Temperamente und Charaktere. Es gibt Leute, die sich scheuen auszusprechen, was sie sich gar nicht scheuen zu tun. Andere würden sich nicht trauen zu tun, was sie ohne Scheu aussprechen würden. Jemand hat gesagt: »Diejenigen, die so großen Eifer zeigen, bei den klassischen Autoren die Stellen wegzuschneiden, die unser Schamgefühl verletzen, waren nicht immer so weise wie jene Autoren.«34 »Denn der Kritiker will lieber tun als schreiben, was der Dichter lieber schreiben will als tun.«35

(E) Sie betrifft Giovanni della Casa und sein abscheuliches »Capitolo del forno«. Einigen italienischen Dichtern, so habe ich schon gesagt, darf die Rechtfertigung der Obszönitäten in ihren Gedichten nach der Regel »Lasziv ist mein Gedicht, mein Leben tadellos« nicht gewährt werden. Ich sage nichts über Calcagnini im besonderen,36 aber ein Molsa, ein Mauro, ein Giovanni della Casa usw. verdienen das Verdammungsurteil. Zwar kann man sagen, daß das Urteil, das inkompetente Richter gegen letzteren gesprochen haben, die ihn nicht gelesen hatten, zu streng war; und da man gegen jedermann gerecht sein soll, bin ich zu der Feststellung verpflichtet, daß man ihm ein Unrecht zugefügt hat, als man 32

Die Zeit seiner frühen Jugend ausgenommen. Man sehe Anm. (F), Fn.

(53). 33

Cremutius Cordus bei Tacitus, Ann., Buch IV, Kap. 34. 34 Nouvelles de la républ. des lettres, Oktober 1686, Art. III des Verzeichnisses der Neuerscheinungen, S. 1222. 35 In Anm. (A) des Artikels VERGIL zitiere ich den jüngeren Plinius, der sich mit einer beträchtlichen Anzahl großer Beispiele usw. verteidigt hat.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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ihm ein Werk mit dem Titel De laudibus sodomiae zuschrieb. Dieses angebliche Gedicht ist nichts anderes als das Capitolo del forno, worin Giovanni della Casa unter der allegorischen Bezeichnung ›Ofen‹ den unzüchtigen Verkehr zwischen Männern und Frauen beschreibt. Derartige Allegorien waren damals in Mode; der eine wählte die Metapher der Feige, der andere die der Bohne.37 Das Abstoßende ist, daß La Casa zunächst sagt, daß gewisse junge Männer von schlechtem Charakter anfingen, den gewöhnlichen Ofen zu verschmähen, und dann hinzufügt, daß er für seine Person nicht so empfindlich sei und nur selten woanders backe. Das war das Eingeständnis, daß er zumindest einige Male die Sünde wider die Natur begangen hat. »Man pflegt den Ofen allein den Frauen zuzuordnen. Heutzutage aber scheint mir, daß gewisse böse Burschen diesen Ofen etwas verschmähen. Niemand, so sagen sie, ist ja gezwungen, ihn gebührend zu bürsten, denn er ist feucht und schlecht geputzt. Der Grund dafür ist wohl, daß die Frauen Lumpen tragen. Ich meinesteils stecke mein Brot selten anderswo hinein, obwohl es so klein und der Ofen der Frauen ein wenig groß für mich ist. Wer jedoch dieses göttliche Geschäft betreibt, der weiß sehr gut, wo ein gewisser kleiner Ofen hinten versteckt ist.« Ménage hat diese Zeilen aus dem Capitolo del forno in einem französischen Werk zitiert, das er 1688 in Den Hag veröffentlichte.38 Diese Bemerkung ist nötig, damit die Krittler nicht gleich sagen, daß ich Dinge anführe, die niemand kennt und die unbekannt bleiben sollten. Kommen wir nun zu der Frage, die Anlaß zu dieser Anmerkung gegeben hat. Jemand hat aus Utrecht an Herrn Basnage de Beauval geschrieben,39 er habe in den Nouvelles de la république des lettres

36

Unter seinen lateinischen Gedichten, die zusammen mit denen von Giovanni Battista Pigna und Ludovico Ariosto im Jahr 1553 zu Venedig in Oktav gedruckt wurden, finden sich einige sehr unzüchtige. 37 Man sehe den Artikel MOLSA, Anm. (D).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  38 Ménage, Anti-Baillet, Kap. 119. 39 Man sehe die Histoire des ouvrages des savans, Mai 1696, S. 427.

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für Juli 1685 gelesen, daß Giovanni della Casa sich durch eine Satire beleidigt gefühlt und daraufhin eine Erwiderung in lateinischen Versen verfaßt habe, worin er »das Faktum abstritt« und behauptete, »daß er nur den Verkehr mit Frauen loben wollte. Nun möchte ich gern diese lateinischen Verse sehen«, fährt der Anonymus von Utrecht fort, »da ich mir nicht vorstellen kann, daß der Erzbischof von Benevent imstande gewesen ist, das Faktum mit solcher Dreistigkeit abzustreiten, denn ich habe vor gar nicht langer Zeit dieses infame italienische Machwerk mit dem Titel Capitolo di M. Giovanni della Casa sopra el forno gesehen, in der Hand gehabt und gelesen. Ganz gewiß will er damit nicht vom Verkehr mit Frauen als Frauen sprechen.« Da das Buch von Daniel Francus, in dem die lateinischen Verse dieses Erzbischofs abgedruckt sind, so schwer zu finden ist,40 weise ich den Leser darauf hin, daß man sie im Anti-Baillet von Ménage nachlesen kann.41 Es ist völlig gewiß, daß La Casa abstreitet, die Sünde wider die Natur gelobt zu haben. »Wißt, daß ich nichts Obszönes geschrieben habe. Denn auch damals hielt ich Lustiges und Schändliches, Zärtliches und Unreines auseinander. Als ich in meinen Versen den ›Ofen‹ lobte, pries ich nicht die Männer – wie jener höchst verleumderisch behauptet –, sondern offensichtlich die Frauen, wie ihr noch heute aus dem Gedicht ersehen könnt.« Wie man sieht, beruft er sich auf eben das Gedicht, um dessenwegen man ihn beschuldigte. »Ganz gewiß«, so heißt es in der Histoire des ouvrages des savans, »will er nicht vom Verkehr mit Frauen als Frauen sprechen.« Darauf läßt sich jedoch erwidern, daß sein Capitolo ganz gewiß nur von diesem Verkehr handelt. Zwar macht er darin auch die Bemerkung, die ich angeführt habe, nämlich daß es gewisse wollüstige junge Männer gebe, die sich vor diesem Verkehr ekelten und den anderen bevorzugten, worin er sie nur selten nachgeahmt habe. Er lobt aber keineswegs diese wollüstigen jungen Männer, und er lobt auch nicht sich selbst dafür, daß er sie manchmal nachahme; daher kann man ihn 40 41

Ebd. Ménage, Anti-Baillet, Kap. 119.

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nicht beschuldigen, dieses gemeine Verbrechen gelobt zu haben. Trotzdem ist dieses Gedicht mitsamt seinem Verfasser verdammenswürdig, denn obwohl darin der Ausdruck ›göttliches Geschäft‹ nur vom Geschlechtsverkehr im allgemeinen42 und nicht von der Sodomie im besonderen gebraucht wird, trifft man hier eine Zügellosigkeit und Ruchlosigkeit an, die man nur verabscheuen kann. Einige Leute43 »entschuldigen ihn mit dem Satz ›Lasziv ist mein Gedicht, mein Leben tadellos‹ und mit ›Lasziv war er im Gedicht, im Herzen keusch‹. Es ist tatsächlich sehr wahrscheinlich, daß La Casa sich hier genau wie andere Dichter selbst verleumdet hat.44 (---). Von allen Entschuldigungen aber, die man hinsichtlich des Capitolo del forno zugunsten von La Casa anführt, ist meiner Meinung nach die beste, daß er diesen Fehler durch ein moralisch einwandfreies Leben wiedergutgemacht hat.« »(---) Durch Sitten, Fleiß, Schamhaftigkeit und Enthaltsamkeit habe ich die Laszivität jenes Gedichtes korrigiert und die Späße durch Ernsthaftigkeit getilgt.« Diese Verse stammen aus dem lateinischen Gedicht, das der Neugierige von Utrecht zu sehen wünscht. Dort finden sich auch andere Verse, in denen Giovanni della Casa seinen Fehler allzu zaghaft eingesteht und ihn mit seiner Jugend sowie mit der Praxis guter Dichter von ansonsten untadeligem Ruf zu entschuldigen sucht. »Vor dreißig und mehr Jahren, das weiß ich, habe ich ein wenig mit nicht gerade

42

Ménage sagt ebd.: »Die Worte ›Benche chi fa questo mestier divino‹ sind grammatisch richtig von der Liebe mit Frauen und nicht mit Männern zu verstehen. Man beachte das Vorangehende und das Nachfolgende.« 43 Ménage, ebd. 44 Ménage bringt hier den Catull-Vers, der oben in Anm. (D), Fußn. (19) wiedergegeben ist.

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keuschen Versen gespielt, wozu mich die Unerfahrenheit meines jugendlichen Alters getrieben hat, das – wie alle zugeben – allzu freie Späße liebt. Andere anständige Männer haben das Gleiche getan.« Die einzige Entschuldigung hierfür ist die von Ménage für die beste gehaltene. Nebenbei bemerkt, gibt es wenige Gegenstände, bei denen man besser sehen kann als bei diesem, mit welcher Dreistigkeit Autoren voneinander abschreiben, ohne daß einer von ihnen das Original gesehen hat. Ménage zitiert mehrere von denen, die La Casa anklagen, aber er hat ziemlich viele vergessen, und ich bin erstaunt, daß er die folgende Stelle in einem Buch nicht kennt, das alle Welt in der Hand gehabt hat: »Erzbischof Giovanni della Casa von Benevent hat ein Buch zum Lob der Sodomie geschrieben, in dem er sie ein ›göttliches Geschäft‹ nennt und sagt, daß er darin sehr großes Vergnügen finde und keine andere Art des Geschlechtsverkehrs ausübe.«45 Man beachte, daß der hochberühmte Magliabechi die Gemeinheiten des Capitolo del forno verabscheut und dann mehrere andere italienische Dichter nennt, deren Werke ebenso abscheulich oder sogar noch verdammungswürdiger als dieses sind, von denen die Protestanten dennoch nichts gesagt haben. Er schließt daraus, daß der persönliche Haß des Vergerio auf La Casa die Quelle ihrer so oft nachgeahmten Klagen war. »Ich beabsichtige nicht, La Casa hier zu verteidigen. Zu offensichtlich sind die Unzüchtigkeiten, die man in seinem schweinischen Capitolo lesen kann. Trotzdem ist es, wie gesagt, ein großes Unglück für ihn gewesen, daß er Vergerio zum Feind hatte. Jeder kann schreckliche Unzüchtigkeiten in den Büchern derselben Art lesen, wie man sie bei Berni im Capitolo a M. Antonio da Bibbiena und in einem anderen Capitolo sopra un garzone sowie an tausend anderen Stellen findet (…).«46 Dichter waren nicht die einzigen, die über die Stränge schlugen: Einige Autoren

45

Sainte Aldegonde, Tableau des differends, Teil V, Bd. II, Kap. 6. Magliabechi, Lettre à Mr. Bigot, im Anti-Baillet, am Ende von Kap. 120. 46

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aus demselben Land verwendeten Prosa für ihre unzüchtigen Gedanken, zum Beispiel Leonardo Aretino in seiner Rede des Heliogabalus.47 Alle diese Schriftsteller sind aufs schärfste zu tadeln und verdienen um so weniger eine Entschuldigung, als sie die Schwäche ihrer Leser kannten. Sie kamen aus einem Land, wo sich die Natur nicht einmal gegen die geringsten Versuchungen behauptet, aus einem Land, wo sie leicht erhitzt wird. Aus diesem Grund hat Poggio die Schweizer um die Ehrbarkeit und Aufrichtigkeit beneidet, die er bei ihnen beobachtete. Er konnte die Bäder in Baden nicht genug bewundern, wo Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen im Hemd zusammenkamen, ohne einen bösen Verdacht aufkommen zu lassen. (…).49

(F) Er wollte nicht noch einmal auf die Welt kommen. Hier sind seine Worte: »Das Leben an und für sich erscheint mir so gleichgültig, um nichts noch Nachteiligeres darüber zu sagen, daß ich mich niemals dafür entscheiden würde, es noch einmal zu durchlaufen, wenn ich die Wahl hätte. Ich würde auch nicht die wenigen unglücklichen Tage, die mir in meinem fortgeschrittenen Alter noch bleiben, gegen die langen Jahre eintauschen, die sich unzählig viele junge Leute versprechen, deren Vergnügungen ich allesamt kenne. Gewiß könnte ich die Wahrheit dieser Ansicht ebensogut beeiden wie Cardano, wenn ich es nicht für angebrachter hielte, Euch seine eigenen Worte mitzuteilen, die ich unterschreibe, obgleich sie entsprechend seinem Stil eher vernünftig als elegant sind: ›Ich würde das bißchen Glück sogar in meinem hohen Alter bei Gott nicht gegen die größten Reichtümer eines unerfahrenen Jünglings eintauschen.‹«50 Ich vermute mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas, 47

(…). Sacra eleusinia patefacta, S. 21. Man sehe hierzu den Artikel PINEAU, Fußn. (3).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  49 Matthias Bernegger, Quaestion. miscellan. XC, nach Tacitus, Germania. 50 La Mothe le Vayer, Brief 134, Bd. XII, S. 204.

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worüber er sich nicht genau erklärt hat, nämlich daß das Leben, das er nicht noch einmal durchlaufen wollte, dem gleich wäre, das er beinahe vollendet hatte. Daraus folgere ich, daß es kaum Rollen gibt, die es einem urteilsfähigen Mann wert zu sein scheinen, auf der Bühne der Welt wiederholt zu werden, denn die Rolle, die La Mothe le Vayer zugefallen war, war die denkbar wünschenswerteste für einen Menschen seines Standes. Es fehlte darin keine Annehmlichkeit, wenn wir nach dem Äußeren urteilen. La Mothe le Vayer wurde in der Hauptstadt geboren – ein Vorteil, den sich alle Schriftsteller und auch viele andere verschaffen würden, wenn es von ihnen abhinge. Er wurde sehr sorgfältig von einem gelehrten Vater erzogen,51 dem seine Verdienste und Ämter Ansehen verschafft hatten.52 Er wurde von zwei Kardinälen, die nacheinander Frankreich regierten, geliebt und geschätzt. Es fehlte ihm nicht an schönen Titeln und ehrenvollen Ämtern, denn er wurde ordentlicher Staatsrat und Erzieher des einzigen Bruders des Königs. Er stach ruhmreich unter den Autoren hervor und verdiente seinen Sitz in der Académie Française. Seine sehr zahlreichen Werke hatten großen Absatz; sie wurden mehrmals einzeln und danach gesammelt gedruckt. Er war so wohlhabend, wie seine Stellung es verlangte. Während des Feuers seiner ersten Jugend hatte er sich ein wenig in unerlaubten Vergnügungen verirrt,53 aber er machte sich bald frei von ihnen und führte danach sehr beständig ein reines Leben, das ihn als strengen Anhänger der schönsten Moral erscheinen ließ,54 so daß er sich dadurch ein einzigartiges Ansehen erwarb. Es ist eine größere Vollkommenheit, immer weise zu sein, als auf dem Wege der Besserung

51

Man sehe La Croix du Maine, S. 84, der ihn ›Felix de la Mothe le Vayer‹ nennt. 52 Moréri sagt, daß er Königlicher Rat und Stellvertreter des Generalprokurators des Parlaments von Paris war. 53 Man sehe das Hexameron rustique, S. 97 f. 54 »Bewahrer und strenger Anhänger der wahren Tugend.« Horaz, Epist., Buch I, 1, Vers 17. Wir haben gesehen, daß Patin ihn als Stoiker bezeichnet.

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weise zu werden, aber es ist schwieriger, sich zur Weisheit zu bekehren, als niemals von ihr abzuweichen. In diesem Teil der Rolle La Mothe le Vayers lag etwas Angenehmes; er erinnerte ihn daran, daß er die Kraft gehabt hatte, auf ein wohlbekanntes Gut zu verzichten – eine größere Kraft, konnte er zu sich selbst sagen, als dazu nötig war, sich nie genossener Vergnügungen zu enthalten. Ist es im übrigen nicht angenehm für den Menschen, wenn er findet, daß es zu seinem Los gehört, körperliche und geistige Vergnügungen nacheinander zu genießen? Das läßt ihn seine Lage eher akzeptieren, als wenn sie der Vergnügungen der Jugend entbehrt hätte. Aber weder dieser Aspekt noch alle anderen, die so verlockend waren, ließen diesen Autor die Wiederholung seiner Rolle wünschen. Das beweist, daß es uns nicht bekannte Widrigkeiten gab, die sich dem in den Weg stellten und die Waagschale auf die Seite des Übels sinken ließen. Wenn aber das Unglück in eine Anhäufung so vieler Güter einbricht und sie mit einer so abstoßenden Bitterkeit vergiftet, daß man das Leben wie eine drückende Würde verachtet, die man nicht annehmen würde, wenn man die Freiheit hätte, sie zurückzuweisen – was sollen wir von der Lage der vielen Menschen denken, die fast aller Quellen menschlichen Glücks beraubt und tausend Mißgeschicken ausgesetzt scheinen? Viele Leute behaupten, daß mit Ausnahme einiger Grobiane kein Greis unter der Bedingung wieder auf die Welt kommen möchte, daß er die gleiche Rolle noch einmal spielen müßte. Man möchte zwar nicht sterben, sondern ewig leben, weil man sich schmeichelt, die Zukunft werde besser sein, aber die Erinnerung an die Vergangenheit, die Aufrechnung der Güter gegen die Übel läßt nicht den Wunsch aufkommen, den Lauf wieder von vorn zu beginnen. Die Alten haben sich vorgestellt, daß die Seelen, die auf die Welt zurückkommen sollten, durch den Fluß des Vergessens gehen mußten, als wenn man andernfalls befürchten müßte, sie würden sich sträuben. Man sehe die  sc. Bayles  Nouvelles lettres contre Maimbourg.55 Nouvelles lettres de l’auteur de la Critique générale  de l’Histoire du calvinisme de Monsr. Maimbourg , S. 722, 719 bis, 768. 55

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(H) Die Stelle (---), wo er uns mitteilt, daß er keinen Grund hatte, seine erste Frau zu beweinen,64 spricht sehr für die These usw. (---). Zunächst muß ich klarstellen, daß er sich nicht über irgendwelche Liebschaften seiner Frau beklagt: Er gesteht nur, daß ihm die Schattenseiten der Ehe vielleicht ebenso bekannt seien wie jedem anderen. Hier sind seine Worte aus einem Brief an einen Freund, der ihn hatte wissen lassen, daß sich jemand von seiner Frau wegen Ehebruchs getrennt hatte: »Denkt nicht, daß ich hier eine Lebensweise vor Euch loben möchte, deren Schattenseiten ich vielleicht nicht weniger kenne als diejenigen, die ihrer am überdrüssigsten sind. Ich habe immer den Schlaf, in den Gott unseren Stammvater versetzte, bevor er ihm eine Frau präsentierte, nicht nur als Ratschlag an uns verstanden, unseren Augen als sehr schlechten Ratgebern in dieser Sache zu mißtrauen, sondern mehr noch als moralische Lehre, daß sich wahrscheinlich niemand mit ihr belasten würde, der die Augen des Geistes weit genug geöffnet hat, um zu sehen, wie vielen künftigen Mißgeschicken sich derjenige unterwirft, der eine so gefährliche Gesellschaft akzeptiert. Auch habe ich niemals den ersten Vers des zehnten Buchs von Ovids Metamorphosen gelesen, wo er dem Gott Hymeneus ein safrangelbes Gewand gibt (…), ohne mir vorzustellen, daß der Dichter uns möglicherweise eine Lektion vom Wesen der Ehe hat geben wollen. Die Sorge für eine Familie, die man sich mit ihr auflädt, das Ausgeliefertsein an so viele Schicksalsschläge, die unvermeidliche Eifersucht um Eure Frau, wenn sie Euch nur ein wenig gefällt oder wenn Eure Ehre berührt wird – sind das nicht ebenso viele Ursachen der Gelbsucht? Und ist es ein Wunder, wenn das sanguinischste oder fröhlichste Temperament dadurch eine Neigung zur Gelbsucht bekommt? Aber letztendlich müssen wir uns in unser Schicksal ergeben und ertragen, was unsere weisesten Gesetzgeber uns in dieser Sache zu unserem Besten verordnet haben. Wir Im Artikel CRITON, Jacques  recte: George. Hgg. , Anm. (B) habe ich gesagt, wer sie war.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  64

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können ihre Entscheidungen nicht ändern und können uns nur noch unglücklicher machen, wenn wir einen noch viel gefährlicheren Weg einschlagen als den, den sie uns vorgeschrieben haben.«65 Mit diesen letzten Worten gibt er zu verstehen, daß die Schattenseiten der Ehe nicht das Schlimmste sind, was die Lage des Menschen mit sich bringt. Das hatte er schon auf den vorangehenden Seiten klar zum Ausdruck gebracht. »Ich müßte mich sehr täuschen, wenn dieser Mann nicht feststellt, daß das Mittel, mit dem er sein Unglück heilen will, noch schlimmer ist als das Übel, das er für unerträglich hielt, und wenn er nicht im Lauf der Zeit die Erfahrung macht, daß das Konkubinat in mancherlei Hinsicht noch härter zu ertragen ist als die Ehe. Denn mir scheint, man sagt zu wenig, wenn man mit diesem antiken Autor einfach sagt ›Die Geliebte in der Ferne ist ebenso ein Übel wie die Gattin zu Hause.‹‡ (---). Es ist völlig lächerlich, wenn er in der Libertinage mehr Harmonie zu finden glaubt und denkt, er werde in einem Zustand feuriger und zugleich aufrichtiger geliebt werden, in dem es nur künstliches Feuer gibt. Ihr kennt ebensogut wie ich Menschen, die in größerer Verlegenheit waren, sich von den Verwicklungen zu befreien, die ein zügelloses Leben von der Art, wie er es sich ausmalt, mit sich bringt, als man sie unter all den Mißlichkeiten nur haben kann, die sich aus einer unglücklichen Ehe ergeben.«66 All dies ist der Weisheit und der Vernunft dieses großen Autors würdig. Aber kommen wir zu seinen wesentlicheren Aussagen, die meinen Text erläutern. »Ich will nicht so weit wie Ihr in die Geheimnisse dieser Ehe eindringen. Ich will Euch nur sagen, daß man schon lange, ohne ein großer Prophet zu sein, dieses Abenteuer vorhersagen konnte. Kein Mensch ist je so verrückt vor Liebe zu seiner Frau gewesen und hat ihr seine Zuneigung so wie er mit der ganzen Leidenschaft eines Wüstlings gezeigt. Das ist ein großer Mangel bei einem Weisen, der sich von einem solchen Betragen weit 65 ‡ 66

La Mothe le Vayer, Brief 136, Bd. XI, S. 224 f. Laberius. La Mothe le Vayer, a. a. O., S. 223 f.

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fernhalten muß. Adulter est uxoris amator acrior  Wer seine Frau allzu heftig liebt, ist ein Ehebrecher . Seine Frau so zu behandeln, heißt im Sinne des Laberius, sie selbst in die Libertinage treiben, die man heute ›Koketterie‹ nennt. Unbestreitbar war die Lebensweise der Frau, von der ich spreche, am Ende von solcher Art, daß man weder ihr ein großes Unrecht antut noch völlig leichtgläubig ist, wenn man einen Teil der Liebesaffären glaubt, die ihr Mann ihr vorwirft. Und trotzdem: Was wirft er ihr vor, außer daß sie so lebte, wie es Mode ist? In der Tat haben sich unsere Sitten in dieser Hinsicht seltsam gewandelt. Die Unzucht des weiblichen Geschlechts ist selbst von denjenigen rational nicht zu begreifen, die glauben, die Ehre der Frauen hinge voll und ganz von ihrem Verhalten ab; und nur deshalb sind wir von seiner Sittenlosigkeit überzeugt, weil wir sie tagtäglich vor Augen haben. ›Die Sitten sind jetzt so weit heruntergekommen, daß man niemanden für leichtgläubig halten kann, der einen Ehebruch vermutet.‹¥ Die Regeln der lateinischen Grammatik haben das Wort ›cornu‹  Horn  niemals so undeklinierbar gemacht, wie unser in dieser Hinsicht unvernünftiges Verhalten dieses Wort durch eine lustige Synonymie heutzutage unentbehrlich gemacht hat.«67 Glaubt nicht, daß La Mothe le Vayer der einzige Autor wäre, der so erschreckende und beißende Vorwürfe erhebt! Unzählige andere Bücher führen uns ebenfalls zu diesem Urteil. Es würde zu weit führen, wenn ich sie aufzählen wollte; seht euch nur ein paar Neuerscheinungen an, mögen sie nun auf ›-ana‹ enden68 oder Märchen, Briefe, Lebenserinnerungen, Komödien, Novellen usw. heißen. Sie lassen die Schamlosigkeit als Flut des Deukalion erscheinen, welche die ganze Erde bedeckt, und als ein Übel, das durch die Ehe begünstigt anstatt gezügelt wird. Sie führen uns zu dem Schluß, daß die Zeit, von der Seneca spricht, zurückgekehrt ist, die Zeit, sage ich, wo die Menge der Ehebrecherinnen die Scheu vor diesem Verbrechen ausgelöscht ¥ 67 68

Seneca, Cont. La Mothe le Vayer, a. a. O., S. 222 f. Z. B. Menagiana, Harlequiniana, Furetieriana, Saint-Evremoniana.

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hatte, wo eheliche Treue ein Beweis der Häßlichkeit war, wo man eine Ehe nur einging, um die Liebe eines Galans zu wekken. Senecas Schilderung ist von solcher Eindringlichkeit, daß ich sie lieber abschreiben als schwach übersetzen möchte. »Es ist nicht gerade hilfreich, wenn alle wissen, wie viele Menschen undankbar sind, denn die Menge der Sünder wird die Scheu vor der Sünde beseitigen und ein Schimpfwort, das alle gebrauchen, wird seinen tadelnden Charakter verlieren. Schämt sich heute noch irgendeine Frau ihrer Verstoßung, nachdem prominente und adlige Damen ihr Alter nicht nach der Zahl der Konsuln, sondern ihrer Ehemänner berechnen und ausziehen, um zu heiraten, aber heiraten, um verstoßen zu werden? Letzteres wurde gefürchtet, solange es selten vorkam, weil jede Verstoßung zur Scheidung führte. Wovon Frauen oft hörten, das lernten sie zu tun. Schämt sich jetzt noch jemand seines Ehebruchs, nachdem es soweit gekommen ist, daß eine Frau nur deshalb einen Mann hat, um einen Ehebrecher zu reizen? Schamhaftigkeit ist jetzt ein Beweis mangelnder Schönheit. Du wirst eine Frau so armselig und unbedeutend finden, daß ihr zwei Ehebrecher genügen müssen, wenn sie nicht für jede einzelne Stunde einen hat und der Tag nicht für alle reicht, wenn sie nicht zu dem einen gefahren wird und bei dem anderen bleibt. Eine Frau ist heute einfältig und altmodisch, wenn sie nicht weiß, daß die Ehe ›Ehebruch mit einem Einzigen‹ genannt wird. (---). Die Scheu vor diesem Vergehen ist geschwunden, nachdem die Sache so weit verbreitet ist.«69 Die Fürsprecher der Mönchsgelübde nutzen dies zu ihrem Vorteil, als ob man sie nicht mit dem Argument bekämpfen könnte, daß Unkeuschheit, die natürlicherweise zur Heirat reizt und fast immer der Grund zur Heirat ist, freien Lauf an ihr Ziel erhalten sollte. Sie mag so weit kommen wie sie will, sagen sie, sie wird dadurch nicht gezähmt, und sie kann durch das Gelübde der Ehelosigkeit genausowenig gezügelt werden wie durch das feierliche Versprechen ehelicher Treue. Das sind zwei Arten 69

Seneca, De beneficiis, Buch III, Kap. 16, S. 53 meiner Ausgabe. Man sehe auch Buch I, Kap. 9.

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von Eiden, die beide gleichermaßen unverletzlich sein sollten; und wenn der eine, wie die Praxis zeigt, nicht besser gehalten wird als der andere, was würde man durch die Abschaffung der Klosterregeln gewinnen? Man schreit immer wieder, daß Mönche und Nonnen miteinander abertausend unsittliche Handlungen begehen. Man erstellt fürchterliche Listen von Bastarden und Abtreibungen sowie von anderen derartigen Vergehen, die aus dem Zölibat der Geistlichen hervorgehen.70 Aber ich frage euch: Wenn diese Personen, die durch das Zölibatsgelübde zur Enthaltsamkeit verpflichtet sind, frei in der weltlichen Gesellschaft blieben, würden sie sich dann nicht noch größeren Ausschweifungen hingeben? Lest nur einmal, was die Autoren von den Abtreibungen in Paris berichten.71 Was erlaubt man sich nicht unter dem Deckmantel der Ehe, ohne die Folgen fürchten zu müssen? Und wenn Frauen, welche die Klemme zu fürchten haben, in der sich der Fuchs in der Fabel befand – ich meine die Notwendigkeit, sich einzuschließen, bis der Bauch wieder so flach ist wie zu Anfang –, wenn diese Frauen diesen Schritt wagen, dann hat man nichts Gutes von denen zu erwarten, die sich im gleichen Fall nicht zu verstecken brauchen, weil die Ehe ihren Fehltritt vor den Augen der Öffentlichkeit verbirgt. Aber ihr mögt sagen, was ihr wollt, ihr Fürsprecher der Mönchsgelübde, trotz all der Zitate aus La Mothe le Vayer und hundert anderen Autoren, die ihr anführt, werdet ihr mich niemals davon überzeugen, daß das Versprechen ehelicher Treue besser gehalten wird als das Zölibatsgelübde und daß die Ehe für viele ein Mittel gegen die Unkeuschheit ist. Wir dürfen nicht zu sehr pressen, was ein sehr ehrenhafter Mann, der sich gleichermaßen durch den Ruhm seines Vaters wie durch seine eigene sittliche

70

Man sehe das Buch mit dem Titel Le cabinet du Roi de France, dans lequel il y a trois perles precieuses d’inestimable valeur. Es war Heinrich III. am 1. November 1581 gewidmet worden. Darin wird oft auf ein anderes Buch mit dem Titel La polygamie sacrée verwiesen. Diese beiden Bücher sind voll von abscheuerregenden Dingen, aber nicht frei von Übertreibungen. 71 Man sehe den Artikel PATIN, Anm. (C) und (F).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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Haltung empfiehlt, in einem der besten Werke zur christlichen Moral gesagt hat, das wir besitzen. Es trägt den Titel De la paix de l’âme & du contentement de l’esprit und ist ein ernstes, würdevolles und erbauliches Buch: »Ein Ehemann, dessen Frau ihm untreu ist, muß das große Heilmittel gegen unheilbare Übel einsetzen, nämlich die Geduld; die gute Gesellschaft so vieler ehrenhafter Männer, die sich in der gleichen Lage befinden, hilft ihm dabei, es zu ertragen, und er muß das nicht befremdlicher finden, als das Tragen eines modischen Huts.«72 Noch einmal: Man darf diese Äußerung nicht zu sehr pressen, denn die Anzahl derer, die sich modisch kleiden, ist größer als die Anzahl derer, die dieser weise Theologe trösten will. Was ich über den Fuchs gesagt habe, wird verständlicher, wenn ich diesen Herren erzähle, was ich über die schlimmen Wirkungen der Gelübde gelesen habe, die sie rechtfertigen wollen. Es ist eine Geschichte, deren Grundlage ich in den kirchlichen Annalen noch nicht habe finden können; ich habe Leute gebeten, danach zu suchen. Inzwischen lege ich hier vor, was mir zur Kenntnis gekommen ist. Um das Jahr 1537 gründete die Gräfin von Guastala aufgrund des Rates, den ihr ein Jakobiner namens Baptiste de Creme gegeben hatte, eine Bruderschaft »des Sieges über sich selbst im Kampf gegen das Fleisch. (---). Um diesen Sieg zu erlangen, steckte eine gewisse Dame namens Julie« einen jungen Mann »und ein Mädchen in ein Bett und legte ein Kruzifix als Barriere zwischen sie, damit sie sich nicht Fußtritte versetzten; ganz so, wie man Pferde durch Stangen oder Balken trennt. Das war die Probe.«73 Diese Bruderschaft hatte erstaunlichen Zulauf. »Oftmals gingen solche Damen in die Nachbarorte«, sagt mein Autor,74 »um ihre Priester und Beichtväter aufzusuchen, denn sie hatten ihr Nest in verschiedenen Städten. Aber häufig erging es ihnen so, wie es 72

Pierre du Moulin d. J., Traité de la paix de l’âme, Buch III, Kap. 14, S. 382 der Ausgabe Paris 1673. 73 Histoire de la mappe-monde papistique, S. 81 der Quartausgabe von 1567. 74 A. a. O., S. 82.

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einem ausgehungerten Fuchs erging, der durch ein Loch in eine Kammer gelangte, wo er so viel fraß, daß er mit seinem dicken Bauch nicht wieder heraus konnte. So ergeht es oft auch diesen guten Damen, wenn sie die Zimmer ihrer Beichtväter betreten. Ihr Bauch wird so dick, daß sie gezwungen sind, da zu bleiben und nicht auszugehen, bis die Frucht reif ist, weil die Mahlzeit allzu reichlich war: Das kommt von der Gefräßigkeit, weil sie ausgehungert sind wie der oben erwähnte Fuchs.«75 Er versichert, daß man diese sittenlosen Guastalianer aus Venedig und anderen Städten verjagte. (…). Kehren wir zu La Mothe le Vayer zurück. Er macht die scharfsinnige Bemerkung, daß diese verstoßene Ehefrau sich durch die Schuld ihres Mannes zugrunde gerichtet hatte, der sie zu ausschweifend liebte. Brantôme setzt das liederliche Leben verschiedener Frauen aus diesem Grund auf das Konto ihrer Männer.77 Allgemein gesprochen kann man sagen, daß der Anteil der Männer an all diesen schlimmen Verhältnissen unendlich größer ist als der der Frauen. Die Männer sind die Anstifter, die Aufreizer, die Verführer. Das legt ein Autor des 16. Jahrhunderts sehr gut dar, um das schöne Geschlecht zu rechtfertigen.78 »Hochmütige, grausame, blutdürstige, trunkoder eßsüchtige, Gott lästernde, diebische und ganz allgemein mit ähnlichen Übeln und Lastern aller Gattungen und Arten behaftete Frauen«, sagt er, »sieht man selten; im Gegenteil, die meisten sind voller Demut, liebreich, nüchtern, keusch, besonnen, barmherzig, von sanftem und gütigem Wesen. Und wenn es, wie man mir entgegenhalten könnte, einige lasterhafte gibt, so behaupte ich fest, daß die meisten von ihnen von ihren Män75

Man sehe, was Horaz, Epist., Buch I, 7, Vers 29 ff. schreibt: »Ein schlanker junger Fuchs war einmal durch eine schmale Ritze in einen Kornbehälter gekrochen. Nach der Mahlzeit mühte er sich vergeblich ab, mit seinem vollen Bauch wieder herauszukommen. Da rief ihm ein Wiesel von draußen zu: ›Wenn du von dort entkommen willst, mußt du ebenso mager durch den engen Spalt heraus, wie du hineingekommen bist.‹« 77 Brantôme, Mémoires des dames galantes, Bd. I, S. 54 f. 78 Claudius de Taillemont aus Lyon in seinem Discours des Champs Faez, à l’honneur et exaltation des dames, gedruckt 1553 in Lyon in Oktav.

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nern dazu angestiftet und angestachelt worden sind; ohne deren Mitschuld würde man solche Frauen gar nicht oder nur selten finden. Um offen zu sprechen: Im Verhältnis zu der geringen Anzahl böser Frauen, die es gibt, taugen die meisten Männer gar nichts. Und wenn mir jemand in diesem Punkt widersprechen will, so frage ich ihn, wie wohl die Männer wären, wenn sie von ihren Frauen so allgemein zu Übel, Laster und Sünde angeregt und angestachelt würden, wie es umgekehrt der Fall ist, wo sie doch schon von sich aus und ohne daß sie überredet werden müssen so verdorben und lasterhaft sind. Wer ist wohl leichter zu entschuldigen, derjenige, der durch einen anderen dazu verführt wird, den Pfad der Tugend zu verlassen, oder derjenige, der sich alle Mühe gibt, die Tugend auszutreiben, wie die alltägliche Erfahrung zeigt? Deshalb wundere ich mich um so mehr über die modernen Männer, die den Frauen unablässig ein Laster vorwerfen, das bei ihnen selbst noch weiter verbreitet ist als bei jenen. Und selbst wenn es nicht so wäre und die Frauen, wie sie sagen, der Schlüpfrigkeit und Lüsternheit verfallen wären, was ich nachdrücklich bestreite, müßten die Männer nicht unzählige andere Laster und Unvollkommenheiten, die sie selbst aufweisen und von denen die geringste nicht weniger zu tadeln ist als jene, in gleichem oder noch höherem Maß für gemein und abscheulich halten? Ich weiß nicht, wie sie zu diesem Irrtum kommen, wenn nicht dadurch, daß sie andere verurteilen wollen, um sich selbst zu rechtfertigen. Bei mir verfängt das jedenfalls nicht, denn ich stelle fest, daß sie fast ausnahmslos alle demselben Laster – unter anderen – so sehr verfallen sind, daß selbst der Kleinste und Elendeste von ihnen seine Wollust mit allen Frauen ausleben und befriedigen möchte, die ihm gefallen. Das geht so weit, daß, wenn die Frauen ihnen nicht aus Ehrbarkeit und Keuschheit widerständen, es nicht mehr Keuschheit unter Menschen geben würde als unter wilden Tieren.79 Aber wie wir sehen, werden sie zwar unablässig bedrängt und könnten die volle Lust viel leichter genießen als die Männer, verfal79

Man vergleiche dies mit dem im Artikel LAMPONIANO, Fußn. (18) Gesagten.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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len jedoch nur selten in einen derartigen Fehler. Dieser wird zwar bei ihnen härter getadelt als bei den Männern, die beinahe eine Tugend daraus machen; Gott mißfällt es aber bei den einen nicht weniger als bei den anderen. Es ist doch seltsam, daß die Frauen für das Gleiche so scharf getadelt werden, dessen sich diese Dummköpfe rühmen, und was die Frauen meistens mit einem gewissen Recht oder einer Entschuldigung tun, während sich die Männer nicht dafür entschuldigen können.« Was man kürzlich in einem Buch mit dem Titel Molière comédien aux Champs Elisées80 von der Schwäche der Männer und der Stärke der Frauen gesagt hat, ist das Beste in dem ganzen Werk, und zweifellos stand dem Autor der Satire auf die Ehemänner, die eine Erwiderung an Despreaux und seine Satire auf die Frauen darstellt, mehr Stoff zur Verfügung als letzterem.

(I) Man darf vermuten, daß er die Schattenseiten der Ehe aus Erfahrung kannte: die Streitereien bei Tage und die Art, sie bei Nacht beizulegen usw. Man sehe den Brief, den er an jemanden schrieb, der ihn wegen seiner Ehe um Rat gefragt hatte. Hier zählt er zunächst einige Unvollkommenheiten auf, welche die Alten dem anderen Geschlecht zuschrieben, und fährt dann fort:81 »Aber weder mangelndes Vermögen noch viele andere Laster, welche die Frauen von heute mehr als je zuvor im Überfluß aufweisen, wären vielleicht so schwerwiegend, wenn wir über die Mittel verfügten, welche die Alten gegen die unausrottbarsten Laster eingesetzt haben. Denn neben der Verstoßung, die ihnen erlaubt war, wenn sie ihre Frau bei einem leichten Fehltritt ertappten, hatten sie in vier Fällen das Recht, ihr das Leben zu nehmen, und diese Gefahr drohte ihr gleichermaßen, wenn sie Wein getrunken 80

Gedruckt 1696. Man sehe Akt III, Szene 6, S. 157 f. der Amsterdamer Ausgabe. Man findet die gleichen Dinge im IV. Teil der Diversitez curieuses, S. 68 f. der holländischen Ausgabe. 81 La Mothe le Vayer, Brief 45, Bd. X, S. 357.

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oder Nachschlüssel verwendet hatte oder wenn sie ein Kind untergeschoben oder Ehebruch begangen hatte. (---).82 Nun lassen unsere Gesetze diese Strenge nicht mehr zu, daher begünstigen sie praktisch das ausschweifende Leben und die Verdorbenheit der Frauen so weit, daß keinerlei Furcht sie heute zügelt, weshalb ich nicht sehe, was man von den zurückhaltendsten Frauen vernünftigerweise erhoffen kann. (---). Selbst wenn man einige Frauen in puncto Ehre ausnehmen muß, wer schützt Euch vor ihren übrigen Schwächen, die weder die größten Philosophen noch die mächtigsten Kaiser in den Griff bekommen haben? Philipp von Makedonien behauptete ganz offen, er kenne keinen so kämpferischen Menschen wie seine Frau Olympia, die ihn unablässig bekriege.‡ Die Spielleidenschaft, die üppigen Gelage und überhaupt ihre Verschwendungssucht übertreffen heutzutage die der verworfensten Vertreter unseres Geschlechts und lassen einen Ehemann oft die Wahrheit des italienischen Sprichworts spüren: Sposa di spesa, noce che nuoce  Eine Braut kostet, eine Heirat schadet . Glaubt aber nicht, daß Ärger und Streit bei Tage Euch von den Pflichten der Nacht entbinden. Weder Ruhe noch Frieden sind zu erhoffen, wenn sie nicht von ihrer Seite kommen. ›Schone deine Lenden nicht, der ganze Frieden beruht auf ihnen.‹¥ Ihr werdet die Erfahrung machen, daß die meisten Frauen der Ammonsquelleð gleichen, die zwar eiskalt bei Tage, aber kochendheiß in der Nacht war.« Wenn ein verheirateter Mann sich dieser Sprache bedient, berechtigt das zu der Annahme, 1) daß er diese Erfahrung recht oft gemacht hat, 2) daß er deshalb das Siegel gut kennt, das man der Versöhnung aufdrücken muß, 3) daß er sehr gut zu unterscheiden weiß zwischen nichtigen Streitereien, in die man hineingezogen wird und die der schlechten Laune eines nicht befriedigten Gläubigers gleichen, und den Streitereien, die aus zänkischem Temperament entspringen. 82 ‡ ¥ ð

A. a. O., S. 358 f. Dion Chrys., Or. 2. Ovid, Ars Amat., Buch II, Vers 413. Diod. Sic., Buch XVII.

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(K) Ich werde von den Ausgaben seiner Werke sprechen. La Mothe le Vayers Sohn gab im Jahr 1653 dessen gesammelte Werke heraus und widmete sie Kardinal Mazarin. Auf diese Folioausgabe folgte noch eine zweite, dann gab er 1662 eine »dritte vervollständigte und verbesserte Ausgabe«83 heraus und widmete sie dem König. Seitdem hat man noch eine Ausgabe in fünfzehn Duodezbänden veranstaltet, die mehr Abhandlungen als die letzte Folioausgabe in drei Bänden enthält. Letztere macht nämlich nur die ersten zwölf Bände der Duodezausgabe aus; die Bände XIII, XIV und XV enthalten die Werke, die der Autor 1667, 1668 und 1669 veröffentlichte. Man kann aus der Lektüre dieses Schriftstellers großen Nutzen ziehen, und wir haben keinen französischen Autor, der Plutarch näher kommt als er. Überall in seinen Werken findet man schöne Gedanken und solide Überlegungen. Hier gehen Geist und Gelehrsamkeit zusammen. Der Geist würde sich zweifellos noch viel mehr zeigen, wenn er allein käme, denn die Autoritäten und Zitate, die ihn begleiten, verdunkeln ihn oft. An einigen Stellen bezieht er jedoch seinen größten Glanz aus der glücklichen Anwendung eines fremden Gedankens. Bei seiner Lektüre widmete sich der Autor u. a. den Reiseberichten. Gewöhnlich verfolgt jeder, der das tut, einen besonderen Zweck damit. Daillé84 las sie nur, um darin den Unterschied zwischen der Art, wie die Apostel die alten Heiden bekehrt haben, und der Art zu finden, wie die Missionare des Papstes die neuen Heiden bekehren. Unser Le Vayer nahm sich etwas anderes vor: Er suchte nur Argumente für den Pyrrhonismus. Die erstaunliche Verschiedenheit der Sitten und Gebräuche der Völker, der er dabei begegnete, faszinierte ihn. Er kann die Freude nicht verbergen, mit der er diese Materialien verarbeitet, und er versteckt auch die Folgerungen nicht allzu sehr, die er aus ihnen gezogen wissen wollte, nämlich daß man nicht so dogmatisch sein darf, wie man es

83 84

Laut Widmungsepistel der dritten Ausgabe. Man sehe die Lebensbeschreibung, die sein Sohn verfaßt hat.

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ist, wenn man das, was nicht mit unseren Meinungen und Gebräuchen übereinstimmt, als schlecht und unvernünftig verurteilt. (…).

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leukipp, ein griechischer Philosoph. Über seinen Geburtsort ist man sich nicht einig, aber fast alle Autoren stimmen darin überein, daß er das atomistische System erfunden hat und daß man sich nicht auf das Zeugnis des Poseidonios verlassen darf. Man kann nicht leugnen, daß das cartesische System der Lehre Leukipps in gewissen Teilen ähnlich ist (B), und man muß Epikur dafür tadeln, daß er nicht zugegeben hat, von den Entdekkungen dieses Philosophen profitiert zu habena (C). Die Leute, die über die Erfindung der Atome so sehr gespottet haben, haben nicht mit aller Sorgfalt die erforderlichen Unterscheidungen getroffen (D). Ich habe mich oft darüber gewundert, daß Leukipp und alle seine Gefolgsleute nicht gelehrt haben, jedes Atom sei belebt. Diese Annahme hätte sie von einigen ihrer Schwierigkeiten befreit (E), und sie ist nicht unvernünftiger als die Annahme der Ewigkeit und der Eigenschaft der Bewegung, die sie ihren unteilbaren Korpuskeln beilegen. Wir wollen anmerken, daß es eine orientalische Philosophenschule gegeben hat, die Atome und den leeren Raum annahm (F). Sie haben diese Lehre aber verbessert, denn sie legten Gott die Schöpfung der Atome bei. Wir wollen auch sagen, daß das Vakuum, das Descartes verworfen und Gassendi wieder eingeführt hat, nach und nach die Oberhand gewinnt und zur bevorzugten Lehre (G) der berühmtesten Mathematiker wird.

a

Weit davon entfernt, dies zuzugeben, hat er vielmehr geleugnet, daß es einen Leukipp gegeben hat. Man sehe Gassendi, Vita Epicuri, Buch V, Kap. 1.

Leukipp

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(B) Man kann nicht leugnen, daß das cartesische System der Lehre Leukipps in gewissen Teilen ähnlich ist. Die soeben von mir erwähnte Krankheit ist in unserem Jahrhundert bei Descartes aufgetreten. Man versucht, ihm allen Erfinderruhm zu nehmen, um ihn unter verschiedene antike wie moderne Philosophen aufzuteilen. Ich will mich nicht in diese Prüfung einlassen, ich begnüge mich damit zu sagen, daß man bei bestimmten Lehrstücken mit der Behauptung recht hat, Descartes habe lediglich alte Ideen erneuert. Denn stammt z. B. die Hypothese der Wirbel nicht von Leukipp? Der gelehrte Huet beweist das sehr klar. »Leukipp, Demokrit und Epikur«, sagt er,5 »haben die erste Materie der Dinge in verschiedene Wirbel bzw. Welten eingeteilt. Daraus können wir beurteilen, ob sich die cartesische Schule verdientermaßen so stark mit der Erfindung dieser Wirbel brüsten darf. Bezüglich der drei Genannten geht die Sache klar aus Diogenes Laertius und Hesychios Illustrios hervor. Sie‡ sagen nämlich, daß die aus der Unendlichkeit gesammelten Korpuskeln einen Wirbel bilden, daß die Korpuskeln durch Zusammenstoß in Kreisen um die Mitte schwingen und daß aus diesem Wirbel der Teilchen Teilungen und Verbindungen entstehen und aus den Verbindungen kugelförmige Massen hervorgehen.« Darüber hinaus findet man in dem System Leukipps die ersten Keime jenes großen Prinzips der Mechanik, das Descartes so wirkungsvoll eingesetzt hat, nämlich, »daß auf einer Kreisbahn umlaufende Körper sich soweit wie möglich vom Zentrum entfernen«. Der antike Philosoph lehrt, daß die allerfeinsten Atome wie hochgeschleudert zum leeren Raum hinstreben. Diese Bahn hätte auch Descartes seiner feinen Materie gegeben, wenn er seinem Grundsatz treu geblieben wäre; aber durch eine Folgerung, über die man sich nicht genug wundern kann, jagt er diese feine Materie zum Mittelpunkt 5

Petrus Daniel Huetius, Censura philosoph. cartesianae, Kap. 8, S. 213 f. meiner Ausgabe. ‡ Laertius und Hesychios, dort, wo sie über Leukipp, Demokrit und Epikur sprechen.

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der Wirbel und die gröbsten Kügelchen auf die Peripherie.7 Ich habe anderswo8 von Leuten gesprochen, die behaupten, Descartes habe hinsichtlich der Wirbel und der Ursachen der Schwere Kepler abgeschrieben. Sie müßten hinzufügen, daß Kepler Leukipp abgeschrieben hat.

(C) Man muß Epikur dafür tadeln, daß er nicht zugegeben hat, von den Entdeckungen dieses Philosophen profitiert zu haben. Das ist die Krankheit der großen Geister. Es fällt ihnen schwer, zuzugeben, daß sie ihren Mitmenschen für ihr Wissen zu Dank verpflichtet sind; sie wollen, daß man denkt, sie hätten alles aus sich selbst geschöpft und hätten keinen anderen Lehrer gehabt als ihr eigenes Genie. Dieser Vorwurf ist Epikur gemacht worden; ihm, der nichts weiter getan hat, als das System Demokrits, dessen erster Urheber Leukipp war, an bestimmten Stellen zu verbessern. Cicero wird uns dies alles bezeugen: »Was Epikur so lässig daherredet, wird von euch wie vordiktiert nachgeplappert, während er sich, wie aus seinen Schriften hervorgeht, damit brüstet, niemals einen Lehrer gehabt zu haben. Das würde ich ihm jedenfalls selbst dann glauben, wenn er es nicht eigens versicherte, so wie ich dem Besitzer eines schlecht gebauten Hauses glauben würde, wenn er sich rühmt, ohne Architekt gebaut zu haben. (---). Dabei hätte er den Xenokrates hören können – bei Gott, was für einen Mann! –, und es gibt Leute, die meinen, daß er ihn auch gehört hat. Er selbst bestreitet das, und niemandem glaube ich hierbei mehr als ihm. Hingegen behauptet er, einen gewissen Pamphilus, einen Schüler Platons auf Samos gehört zu haben. (---). Aber bemerkenswerterweise verachtet Epikur diesen Platon-Schüler; derart fürchtet er, es könnte so aussehen, als habe er jemals von einem anderen etwas gelernt. Bei Nausiphanes, einem Schüler Demokrits, verrät er sich. Er 7

Man sehe das Leipziger Journal 1689, S. 187 f. Im Artikel KEPLER, Anm. (D).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  8

Leukipp

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bestreitet nicht, ihn gehört zu haben, belegt ihn jedoch mit allen möglichen Schmähungen. Doch wenn er diese demokritischen Lehren nicht gehört hat, was hat er dann gehört? Was in der epikureischen Physik stammt schließlich nicht von Demokrit? Denn wenn er darin auch etwas geändert hat, wie die soeben erwähnte Abweichung der Atome, so lehrt er doch meist dasselbe über die Atome, den leeren Raum, die Bilder, die Unendlichkeit des Raumes, die zahllosen Welten, deren Ursprung und Untergang – also ungefähr über alles, was Gegenstand der Naturphilosophie ist.«9 Père Lescalopier merkt an, daß auch Heraklit sich schmeichelte, niemandem sein Wissen zu verdanken, womit er zeigte, daß er sich nicht schämte, an der heiligen Krankheit, d. h. an Arroganz zu leiden. Das ist ein befremdlicher Name für den Stolz. Man würde ihn denjenigen nachsehen, die den Hochmut der Geistlichen unter den römischen Päpsten gekannt haben. Wenn eine Art der Eitelkeit diesen Namen verdiente, so wäre es diejenige von Personen, die sich gelegentlich rühmen, ihre Kenntnisse weder ihrer Lektüre noch dem Unterricht ihrer Professoren zu verdanken. Ihr behauptet also, so könnte man ihnen entgegenhalten, daß ihr inspiriert worden seid.

(D) Die Leute, die über die Erfindung der Atome so sehr gespottet haben, haben nicht mit aller Sorgfalt die erforderlichen Unterscheidungen getroffen. Laktanz bemüht sich mit ganzer Kraft, die Lehre Leukipps sowohl über den Ursprung und die Richtung der Atome wie über ihre Eigenschaften zu widerlegen. Er war sehr erfolgreich beim ersten Punkt, ist aber beim zweiten erbärmlich gescheitert. Jeder, der behauptet, daß das zufällige Zusammentreffen einer unendlichen Anzahl von Korpuskeln die Welt hervorgebracht habe und die fortwährende Ursache des Entstehens sei, wird zu 9

Cicero, De natura deorum, Buch I, Kap. 26. Andere erheben denselben Vorwurf gegen Epikur. Man sehe Gassendi in der Vita Epikurs, Buch I, Kap. 4; Buch V, Kap. 1 und 2.

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Recht als Narr, Träumer, Spinner bezeichnet. Wenn man aber diejenigen mit denselben Ausdrücken belegt, die behaupten, die verschiedene Kombination der Atome bilde all die Körper, die wir sehen, so gibt man offensichtlich zu erkennen, daß man weder Geschmack noch einen klaren Begriff von der wahren Physik hat. Wir müssen also zugeben, daß es gute und schlechte Einwände in den nun folgenden Worten des Laktanz gibt. Das kommt daher, weil er Dinge miteinander vermischt, die er hätte unterscheiden müssen. »Leukipp zufolge ist es unnötig, eine Vorsehung anzunehmen, denn es gibt Samen, die durch den leeren Raum fliegen und die durch ihre zufällige Zusammenballung alles hervorbringen und entstehen lassen. Warum aber spüren und sehen wir sie nicht? Deshalb nicht, sagt er, weil sie weder Farbe noch Temperatur oder Geruch haben. Außerdem fehlen ihnen Geschmack und Feuchtigkeit, und sie sind so klein, daß sie nicht durchschnitten oder geteilt werden können. So wurde er, weil er falsche Grundsätze annahm, notwendigerweise zu unsinnigen Folgerungen geführt. Wo sind denn diese Korpuskeln oder woher kommen sie? Warum hat niemand außer diesem einen Leukipp von ihnen geträumt? Woher hatte Demokrit diese Lehre, die er als ein törichtes Erbe an Epikur weitergab? Denn wenn es diese Korpuskeln gibt und wenn sie fest sein sollen, wie es heißt, dann müssen sie sicherlich sichtbar sein.«11 Laktanz führt diese Einwände in einem anderen Buch noch weiter aus. »Zunächst frage ich, wo sind oder woher kommen jene winzigen Samen, deren zufälliges Zusammentreffen, wie es heißt, den Zusammenhalt der ganzen Welt schafft. Wer hat sie jemals gesehen, wer gefühlt, wer gehört? Hat nur Leukipp Augen und Verstand? In Wirklichkeit ist er der einzig Blinde und Blöde von allen, weil er so einen Unsinn daherredet, den kein Kranker sich ausdenken und kein Schlafender erträumen könnte. Die alten Philosophen lehrten, daß alle Dinge aus vier Elementen bestehen. Leukipp bestreitet das, damit es nicht den Anschein hat, er trete in die Fußstapfen anderer. Er wollte vielmehr die Elemente selbst auf andere Prinzipien zurückfüh11

Laktanz, Divinae institut., Buch III, Kap. 17, S. 190 meiner Ausgabe.

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ren, die weder gesehen, noch berührt, noch mit irgendeinem Körperteil empfunden werden können. Sie sind so klein, sagt er, daß es kein noch so scharfes Messer gibt, mit dem sie durchschnitten und geteilt werden könnten; deshalb gab er ihnen den Namen ›Atome‹. Aber es fiel ihm auf, daß, wenn alle Atome von ein und derselben Art wären, sie nicht die verschiedenen Dinge in all der Mannigfaltigkeit hervorbringen könnten, wie wir sie in der Welt wahrnehmen. Er behauptete deshalb, einige seien glatt, andere rauh, wieder andere rund oder eckig oder hakenförmig. Viel besser wäre es gewesen zu schweigen, als die Sprache für einen so erbärmlichen und haltlosen Unsinn zu gebrauchen! Und ich befürchte, daß der nicht weniger verrückt erscheint, der diese Lehre einer Widerlegung würdigt. Wir wollen ihm dennoch antworten, als ob er etwas Vernünftiges vorgebracht hätte. Wenn die Atome glatt und rund sind, dann können sie sich jedenfalls nicht wechselseitig ergreifen, so daß sie einen Körper bildeten; das ist so, als wenn jemand Hirsekörner in eine Verbindung zwingen wollte: eben die Glattheit der Körner gestattet es nicht, daß sie eine feste, zusammenhängende Masse bilden. Wenn die Atome rauh, eckig und hakenförmig sind, so daß sie zusammenhängen könnten, dann sind sie auch teilbar und trennbar. Denn die Haken und Ecken müssen zwangsläufig hervorstehen, so daß sie abgeschnitten werden könnten. Was aber abgeschnitten und abgetrennt werden kann, das muß sowohl gesehen als auch berührt werden können.«12 Heutzutage würde man einen Menschen verspotten, der solche Einwände vorträgt. Denn seitdem man die von den Scholastikern erfundenen chimärischen Qualitäten verbannt hat, ist der einzige noch offene Weg die Annahme von nicht wahrnehmbaren Teilchen in der Materie, deren Gestalt, Winkel, Haken, Bewegung und Lage das besondere Wesen der Körper ausmachen, die unsere Sinne affizieren. Cicero hat eine Person auftreten lassen, die Laktanz den methodischen Fehler vorgeführt hat, der darin besteht, keine Unterscheidungen zu treffen, denn diese Person spricht dieselbe Eigenschaft sowohl der Gestalt der 12

Ders., De ira dei, Kap. 10, S. 533.

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Atome als auch ihrem zufälligen Zusammentreffen zu.13 Die modernen Denker haben sorgfältiger zu unterscheiden gewußt: sie lehnen die Ewigkeit der Atome und ihre zufällige Bewegung ab, halten aber im übrigen an der Hypothese Leukipps fest und bauen daraus ein sehr schönes System. Genau das hat Gassendi getan, der sich von Descartes hinsichtlich der Prinzipien der Körper nur darin unterscheidet, daß er am Vakuum festgehalten hat. Die Einwände des Laktanz gegen die Unteilbarkeit der Atome sind die schwächsten, die man den Atomisten entgegenhalten kann; die Aristoteliker und die Cartesianer tragen bei weitem stärkere vor. Aber schließlich können sie nur die mögliche Teilung jeder Art von Ausdehnung behaupten, denn was die aktuelle Teilung betrifft, so sind alle Schulen gezwungen, ihr irgendwo Einhalt zu gebieten. Es ist zu offensichtlich, daß es notwendigerweise eine unendliche Anzahl von Korpuskeln geben muß, die niemals geteilt werden; und das genügt, um die Einwände des Laktanz auf dem Wege der Retorsion zerschellen zu lassen. (…).

(E) Diese Annahme hätte sie von einigen ihrer Schwierigkeiten befreit. Sie hätten damit auf einen Einwand antworten können, den sie niemals aufzulösen vermochten, und zwar denjenigen, den Plutarch dem Epikureer Kolotes vorgelegt hat15 und den Galen mit großem Nachdruck vortrug, wie man oben gesehen hat.16

13

»Jene schändlichen Lehren Demokrits nämlich, oder zuvor auch schon diejenigen des Leukipp, wonach es Korpuskeln gibt, von denen einige glatt, andere rauh, wieder andere rund, die teilweise eckig, gebogen und gleichsam hakenförmig sind: aus ihnen seien Himmel und Erde ohne jeden Zwang der Natur, sondern durch ein zufälliges Zusammentreffen gebildet worden.« Cicero, De natura deorum, Buch I, Kap. 24. 15 Plutarch, Adv. Coloten, S. 1111. 16 Fußn. (68) des Artikels EPIKUR.  Diese Fußnote nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg. 

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Aus der Unbeseeltheit jedes einzelnen Atoms folgt, daß eine Ansammlung von Atomen nichts empfindet Der Einwand besteht in folgendem: Weil jedes Atom unbeseelt und ohne Empfindungsvermögen ist, liegt es am Tage, daß aus keiner Ansammlung von Atomen ein beseeltes und empfindendes Wesen werden kann. Wenn aber jedes Atom Seele und Empfindungen hätte, ließe sich verstehen, daß die Ansammlungen von Atomen ein Kompositum sein könnten, das bestimmter besonderer Modifikationen sowohl hinsichtlich der Empfindungen und Erkenntnisse wie auch der Bewegung fähig wäre. Der Unterschied, den man zwischen den Leidenschaften der vernünftigen und der unvernünftigen Lebewesen feststellt, könnte ganz allgemein mit den unterschiedlichen Atomkombinationen erklärt werden. Es ist folglich recht erstaunlich, daß, wenn schon Leukipp die Bedürfnisse seines Systems in dieser Hinsicht nicht erkannt hat, seine Nachfolger nicht einsichtiger waren und dieses notwendige Lehrstück nicht hinzugefügt haben, denn der Schock der hierüber entstehenden Diskussion und die Leichtigkeit, mit der man die Lücken in den Erfindungen anderer schließen kann, hätte ihnen einen weiteren Blick ermöglichen können, als unser Leukipp gehabt hatte. Es gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Demokrit diesem großen Mangel der Hypothese auf gewisse Weise abgeholfen hat. Die Passagen, die ich an anderer Stelle17 angeführt habe, scheinen uns zu zeigen, daß er allen Atomen eine Seele zugesprochen hat, und man kann dies durch das Zeugnis Plutarchs bestätigen. »Demokrit setzt, daß alle Dinge mit einer gewissen Art Seele ausgestattet sind, sogar tote Körper, insofern sie offensichtlich noch gewisse Wärme und gewisse Empfindungen haben, obwohl der größte Teil davon bereits entschwunden ist.« (…).18 Weil wir die Schriften Demokrits aber nicht mehr besitzen, ist es nicht leicht, in diesem Punkt eine zutreffende und genaue Auskunft Oben, Anm. (P) des Artikels DEMOKRIT.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  18 Plutarch, De plac. philos., Buch IV, Kap. 4, S. 908 F. 17

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über seine Ansichten zu geben. Wie dem auch sei, wir wissen, daß die Schule der Atomisten dieser Vorstellung nicht gefolgt ist. Weder Epikur noch seine Nachfolger haben gesagt, daß die Atome mit Leben oder Empfindungen versehen wären, und sie haben die Seele als ein Kompositum aus verschiedenen Teilen betrachtet. Sie haben behauptet, daß jede Empfindung mit der Trennung oder mit der Auflösung der Teile dieses Kompositums aufhöre. Man sehe unten19 die Prüfung einer kritischen Bemerkung Plutarchs gegen Epikur.

Das, was denkt, muß unteilbar sein. Der Vorteil der Hypothese Leukipps, wenn man jedem Atom eine Seele zugesprochen hätte Die Hypothese der beseelten Atome hätte noch einen anderen großen Vorteil gehabt, denn ihre Unteilbarkeit hätte Antworten auf den unüberwindlichen Einwand bereitgestellt, dem die Meinung ausgesetzt ist, die Materie könne denken, d. h. sie könne Empfindungen und Erkenntnisse haben. Dieser Einwand ist auf die richtigerweise so genannte Einheit gestützt, die den denkenden Wesen zukommen muß. Denn wenn eine denkende Substanz nur von der Art einer Kugel wäre, so sähe sie niemals einen Baum als ganzen, und sie würde niemals den Schmerz empfinden, den ein Stockschlag hervorruft. Davon kann man sich folgendermaßen überzeugen. Man betrachte die Gestalt der vier Weltteile auf einer Kugel, so wird man niemals irgend etwas auf dieser Kugel sehen, was ganz Asien oder auch nur einen ganzen Fluß enthielte. Der Teil, der Persien darstellt, ist nicht derselbe wie der, der das Königreich Siam darstellt, und wir unterscheiden eine rechte und eine linke Seite an dem Teil, der den Euphrat darstellt. Daraus folgt, daß, wenn die Kugel imstande wäre, die Gestalten zu erkennen, mit denen sie geschmückt ist, sie nichts enthielte, was sagen könnte »Ich kenne ganz Europa, ganz Frankreich, die ganze Stadt Amsterdam, die ganze Weich19

In Anm. (Q) des Artikels über den Dichter LUKREZ.

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sel«; jeder Teil der Kugel könnte lediglich den Teil der Gestalt erkennen, der ihm zufiele. Und weil dieser Teil so klein wäre, daß er keinen Ort vollständig darstellen würde, wäre es vollkommen unnütz, wenn diese Kugel erkenntnisfähig wäre. Kein einziger Erkenntnisakt würde aus dieser Fähigkeit hervorgehen, zumindest aber wären dies sehr verschiedene Erkenntnisakte im Vergleich zu denen, die wir erfahren, denn diese stellen uns ein ganzes Objekt, einen Baum als ganzen, ein Pferd als ganzes usw. vor. Das ist ein evidenter Beweis dafür, daß das von dem ganzen Bild dieser Objekte affizierte Subjekt nicht in mehrere Teile teilbar ist und daß folglich der Mensch, insofern er denkt, nicht körperlich oder materiell oder aus mehreren Wesen zusammengesetzt ist. Wäre er das, so wäre er ganz unempfindlich für Stockschläge, weil der Schmerz sich auf so viele Partikel verteilen würde, wie es in den getroffenen Organen gibt. Nun enthalten diese Organe unendlich viele Partikel, und folglich wäre der Teil des Schmerzes, der jedem einzelnen Teil zukäme, so gering, daß man ihn nicht empfinden würde. Hält man mir entgegen, daß jeder Teil der Seele seine Empfindungen anderen mitteilt, dann halte ich dem zwei oder drei Antworten entgegen, die euch in eure mißliche Lage zurückwerfen. Ich werde erstens sagen, daß es nicht möglicher erscheint, daß die Teile einer Kugel sich ihren Schmerz mitteilen, als daß sie sich ihre Bewegung mitteilen. Nun ist es ganz gewiß, daß jeder ihrer Teile das Quantum an Bewegung behält, das ihm mitgeteilt wurde, und daß er nichts davon an andere weitergibt. Wenn man eine Kugel anstößt, so verteilt sich die Bewegung, die man ihr gegeben hat, gleichmäßig auf alle Partikel dieses bewegten Körpers, und zwar auf jedes gemäß seiner Masse; und von diesem Zeitpunkt an bis zum Ende der Bewegung dieser Kugel findet keine neue Aufteilung der Bewegung zwischen ihren Teilen statt. Weshalb sollte man andere Bedingungen hinsichtlich des Denkens annehmen, zum Beispiel mit Blick auf den Schmerz, den man in dieser Kugel durch einen Fußtritt hervorrufen könnte? Muß man nicht sagen, daß dieser Schmerz sich durch die ganze Kugel erstreckt und daß jeder Teil der Kugel daran nach Maßgabe seiner Masse teilhat und dasjenige davon

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behält, was ihm zufällt? Zweitens werde ich folgende kleine Frage stellen. Wie vermittelt der Teil A der Seele seinen Schmerz den Teilen B, C usw.? Teilt er ihn ihnen mit, indem er sich derart von ihm befreit, daß der zahlenmäßig gleiche Schmerz, der in Teil A ist, sich daraufhin in Teil B befindet? Wenn das der Fall ist, so bedeutet dies die Umkehrung einer sehr gewissen und sehr wahren Maxime, daß nämlich die Akzidenzien nicht von einem Subjekt in ein anderes übergehen.20 Darüber hinaus stürzt dies eure eigenen Behauptungen um. Ihr wollt verständlich machen, wie der Schmerz eines Fußtritts sehr lebhaft sein kann, obwohl er auf unendlich viele Portionen verteilt ist, und ihr nehmt an, daß die Portion, die einem Teil der Seele zufällt, diesen Teil verläßt und sich auf andere Teile legt. Aber diese Art der Mitteilung wird die Empfindung nicht verstärken. Denn wenn ein Teil der Seele seinen Schmerz sogleich verliert, wenn er ihn mitteilt, so ist das gewiß ein Weg, der die Vermehrung ausschließt, die man die »intensive«21 nennt, und so bleibt die Schwierigkeit in vollem Umfang bestehen. Man sieht nicht, wie es kommen kann, daß ein in unzählige Teile aufgeteilter Schmerz eine unerträgliche Empfindung ist. Folglich werdet ihr sagen, daß ein Teil der Seele seinen Schmerz anderen Teilen mitteilt und ihn dennoch behält, d. h. daß er in den benachbarten Teilen eine der seinen ähnliche Empfindung hervorbringt. Aber mein Einwand bleibt bestehen. Wird diese ganz neu hervorgebrachte und ähnliche Empfindung nicht von einem unendlich teilbaren Objekt aufgenommen? Sie wird sich folglich ganz wie die erste in unendlich viele Teile aufteilen, und durch diese Teilung wird jedes Objekt oder jeder Teil der Substanz nur einen so geringen, so schwachen Schmerzgrad haben, daß man ihn gar nicht empfindet. Nun lehrt uns die Erfahrung das Gegenteil nur zu gut. Mein dritte Antwort wird lauten, daß ihr eine unendli-

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»Akzidenzien wandern nicht von einem Subjekt in ein anderes.« Bei den Schulphilosophen heißt ›extensiv‹ die Verteilung einer Qualität auf verschiedene Teile eines Subjekts und ›intensiv‹ die Annahme neuer Grade in demselben Teil des Subjekts. 21

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che Zahl unnützer Dinge in die Welt bringt. Ihr kommt nur auf eure Rechnung, wenn ihr etwas Unvorstellbares annehmt, nämlich, daß das Bild eines Pferdes und die Idee eines Quadrats, die von einer aus unendlich vielen Teilen zusammengesetzten Seele aufgenommen wurden, sich in ihrer Ganzheit in jedem Teil erhalten. Das ist die Absurdität der intentionalen Spezies, welche die Scholastiker kaum noch vorzutragen wagen. Es ist sogar noch eine viel größere Absurdität als die von diesen Doktoren vorgetragene, wonach die Seele als ganze in dem ganzen Körper und in jedem seiner Teile ist.22 Aber ich will euch hierauf nicht festlegen, sondern mich mit der Frage begnügen, ob eure Annahme nicht offensichtlich die folgende ungeheure Absurdität einschließt, daß es nämlich in einem hungrigen Hund unendlich viele Substanzen gibt, die den Hunger empfinden, und daß es in einem lesenden Menschen eine unendliche Anzahl von Dingen gibt, die lesen, und von denen jedes einzelne weiß, daß es liest? Hingegen weiß jeder von uns durch Erfahrung, daß es in ihm nur ein Ding gibt, das weiß, daß es liest, daß es Hunger hat, daß es Schmerz oder Freude empfindet usw. Wozu dienen also diese unendlich vielen Substanzen, die in jedem Leser lesen, die in jedem Lebewesen Hunger und Durst haben usw.? Ihr könnt diese Konsequenz nicht leugnen, denn um euch von den Unstimmigkeiten zu befreien, zu denen euch die Teilung der Gedanken in so viele Teile führt, wie es sie in der Substanz einer materiellen Seele gibt, seid ihr zu der Antwort gezwungen, daß sich das Gefühl durch die wechselseitige Mitteilung, die sich die Teile der Seele von ihren Modifikationen geben, ganz in jedem Teil der Seele erhält. Das erinnert mich an ein sehr gutes Argument, das eine Philosophenschule, von der ich in der folgenden Anmerkung sprechen werde, benutzte, um die Geistigkeit Gottes zu behaupten. Wenn Gott ein Körper ist, so sagten sie, dann findet sich die Vollkommenheit seines Wesens entweder in allen individuellen Substanzen seines Körpers oder nur in einer einzigen. Wenn sie sich in allen findet, gibt es folglich mehrere

22

»Das Ganze im Ganzen und das Ganze in den einzelnen Teilen.«

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Götter, wenn sie sich nur in einer findet, dann sind die anderen überflüssig. (…).23

Ob die Wahrnehmung eines Körpers sich sukzessiv in der Seele bildet Ihr werdet mir vielleicht sagen, daß die Seele nicht auf einmal alle Teile eines Pferdes sieht, sondern nacheinander, und daß diese Aufeinanderfolge so schnell geschieht, daß sie sie nicht wahrnimmt und daß der im ersten Augenblick empfangene Eindruck lange genug dauern kann, um mit dem Eindruck der folgenden Augenblicke verbunden zu werden. So kommt es, daß die Seele die Teile des Objekts zu sehen glaubt, die nicht mehr auf sie einwirken. Auf diese Weise glaubt sie, einen Feuerkreis zu sehen, wenn man ein brennendes Stück Holz umherschwingt. Sie sieht die Teile dieses Kreises nacheinander, und trotzdem scheint es ihr, daß sie sie alle zugleich sieht. Das kommt daher, daß der empfangene Eindruck länger andauert als die Aktion des Objektes selbst. Ich antworte euch, daß euch diese Ausflucht nicht aus der Schwierigkeit hilft. Sie hilft weder gegen meinen letzten Einwand noch gegen einige andere. Sie kann lediglich hinsichtlich des Mißverhältnisses zwischen der Größe des Objektes und der Kleinheit der denkenden Substanz Sand in die Augen streuen. Denn was könnt ihr mir schließlich antworten, wenn ich euch vorhalte, daß, wenn ein Mensch ganz starr einen unbewegten Körper, z. B. eine Wand betrachtet, derselbe Teil des Objekts, der ihn im ersten dieser unwahrnehmbaren Augenblicke affiziert hat, von denen ihr sprecht, ihn auch in all den folgenden affizieren muß? Denn man kann sich keinen Grund vorstellen, warum er aufhören sollte, auf die Seele zu wirken. Er wirkt folglich zu der gleichen Zeit wie all die anderen Teile. Nun sagt mir, wenn ihr es könnt, wie sich das Bild einer Mauer als ganzer in ein und demselben Augenblick 23

Moses Maimonides, Doctor perplexorum, Teil I, Kap. 76, S. 176 meiner Ausgabe.

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in einem unendlich teilbaren Subjekt einfinden kann. Diese und einige andere Überlegungen, die man in den Schriften einiger moderner Philosophen lesen kann, beweisen unwidersprechlich die Unvereinbarkeit des Denkens mit einem zusammengesetzten Wesen.24 Ich habe mich etwas ausführlich über diese Materie geäußert, um das zu bestätigen, was ich bereits vorgebracht habe, daß sich nämlich Leukipp, Epikur und die anderen Atomisten vor verschiedenen unüberwindbaren Einwänden hätten schützen können, wenn sie ins Auge gefaßt hätten, jedem Atom eine Seele zu geben. Sie hätten dadurch das Denken mit einem unteilbaren Subjekt vereinigt, und sie hätten nicht weniger recht, belebte als ungeschaffene Atome anzunehmen und diesen die Bewegungskraft beizulegen. Es ist gleichermaßen schwierig, sich diese Kraft wie die Empfindung in einem Atom vorzustellen. Die Ausdehnung und die Dauer machen nach unseren Begriffen das ganze Wesen eines Atoms aus; die Bewegungskraft ist nicht in ihnen enthalten. Das ist etwas, was unseren Begriffen von Körpern und Ausdehnung äußerlich und »extrinsisch« erscheint, ganz genau wie die Erkenntnis nicht dazu gehört. Wenn also die Atomisten in ihren Korpuskeln die Bewegungskraft voraussetzten, warum nahmen sie ihnen das Denken? Ich weiß sehr wohl, daß sie durch die Verleihung derselben an die Atome nicht sämtliche Schwierigkeiten vermieden hätten; man hätte sie immer noch mit völlig unlösbaren Einwänden überschütten können.25 Aber es ist schon viel, einen Teil der Streiche abzuwehren. Wir wollen anmerken, daß sehr große Philosophen die Haupteigenschaft

24

Man sehe oben den Artikel DIKAIARCH, Fußn. (58). Ich weise darauf hin, daß meiner Meinung nach niemand diese wichtige Frage nach der Immaterialität und der Unteilbarkeit von allem, was denkt, auf würdevollere und geschicktere Weise behandelt hat als François Lamy, ein Benediktinermönch der Kongregation von St. Maur, in seinem vorzüglichen Werk De la connaissance de soi–même. 25 Man sehe diejenigen, die der hl. Augustinus ihnen in Brief LVI, S. 273 f. meiner Ausgabe entgegenhält.

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der Seele in die Selbstbewegungskraft gesetzt haben.26 Diese Eigenschaft war es, durch die sie die Seele charakterisiert und definiert haben. Hätte man es befremdlich finden können, wenn diejenigen, die den Atomen das Prinzip der Bewegung gaben, ihnen eine Seele verliehen hätten?

(F) Es hat eine orientalische Philosophenschule gegeben, die Atome und den leeren Raum annahm. Der berühmte Rabbi Maimonides spricht ausführlich von dieser Philosophenschule. Man nannte sie »die Redenden«27. Sie handelten hauptsächlich von diesen vier Punkten.28 1) Daß die Welt nicht ewig ist, 2) daß sie geschaffen ist, 3) daß ihr Schöpfer ein einziges Wesen ist, 4) daß er unkörperlich ist. Dieser Rabbi führt die zwölf Prinzipien an, die ihnen als Grundlage dienten. Das zweite lautete, daß es das Vakuum gibt, und das dritte, daß die Zeit aus unteilbaren Momenten zusammengesetzt ist. Es hat nicht den Anschein, daß ihre Atome von der Art derer des Leukipp gewesen sind, denn sie legten ihnen keinerlei Größe bei und machten sie einander völlig ähnlich.29 Maimonides greift sie heftig dafür an,30 daß sie gezwungen waren zu leugnen, daß ein bewegter Körper sich schneller bewegt als ein anderer und daß die Diagonale eines Quadrats länger ist als eine seiner Seiten. Diese Schwierigkeiten brachten sie zu der Behauptung, daß die Sinne uns täuschen und daß man nur dem Verstand trauen darf.31 Einige gingen sogar so weit, die Exi-

26

Man sehe Aristoteles, De anima, Buch I, Kap. 2 sowie Plutarch, De placitis philosoph., Buch IV, Kap. 2. 27 Man sehe die Marginalnote von Buxtorf zu Beginn von Teil I, Kap. 69 seiner Übersetzung von More nebuchim sive doctor perplexorum von Moses Maimonides. 28 Maimonides, a. a. O., Kap. 73, S. 148. 29 Ders., a. a. O., S. 149. 30 A. a. O., S. 150. 31 A. a. O., S. 151.

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stenz der Figur des Quadrats zu leugnen.32 Nebenbei gesagt, hätten sie diese Schwierigkeiten an ihre Gegner zurückgeben können, und wir wollen alle Anhänger der unendlichen Teilbarkeit auffordern, die Argumente befriedigend zu beantworten, die beweisen, daß die Diagonale eines Quadrats nicht länger ist als eine seiner Seiten. Übrigens haben diese arabischen Philosophen zum Teil die Annahme gemacht, von der ich sagte, daß Leukipp sie hätte machen müssen. Sie lehrten, daß jedes Atom der belebten Körper belebt sei und daß jedes Atom von empfindenden Körpern empfindungsfähig sei und daß der Verstand in einem Atom sitze. Über diese Lehre gab es keinerlei Meinungsverschiedenheit unter ihnen, aber hinsichtlich der Seele waren sie in zwei Lager gespalten. Die einen lehrten, daß sie in einem der Atome sitze, aus denen z. B. der Mensch zusammengesetzt sei, die anderen ließen sie aus mehreren sehr feinen Substanzen zusammengesetzt sein. Hinsichtlich des Wissens zeigte sich bei ihnen dieselbe Spaltung. Die einen setzten das Wissen in ein einzelnes Atom, die anderen in jedes Atom, das den Wissenden konstituiert. (…).

(G) Das Vakuum (---) wird zur bevorzugten Lehre der berühmtesten Mathematiker. Plutarch versichert:35 1) daß von Thales bis Platon jedermann das Vakuum geleugnet hat, 2) daß Leukipp, Demokrit, Demetrios, Metrodor und Epikur ein unendliches Vakuum zugelassen haben, 3) daß die Stoiker lehrten, daß alles in der Welt ein Plenum sei und daß es außerhalb der Welt ein unendliches Vakuum gebe, 4) daß Aristoteles nur insofern ein Vakuum außerhalb der Welt anerkannte, als der Himmel danach verlangte, um atmen zu können, denn, so fügte er hinzu, der Himmel ist aus Feuer. Ich weiß nicht, wo Aristoteles eine solche Lehre 32 35

gabe.

Ebd. Plutarch, De placitis philosoph., Buch II, Kap. 18, S. 883 meiner Aus-

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vorgetragen hat, aber ich weiß sehr wohl, an welcher Stelle er geleugnet hat, daß es Körper jenseits des Himmels gibt,36 was zur Voraussetzung hat, daß er ein unendliches Vakuum jenseits der Welt annimmt, denn nichts wäre absurder, als oberhalb des letzten Himmels einen leeren und begrenzten Raum anzunehmen. Man beachte, daß er an dieser Stelle lehrt, daß es keinen Ort, kein Vakuum, keine Zeit jenseits des letzten Himmels gibt. Aber das ist eine bloße Frage des Namens, denn er weist das Vakuum nur insofern zurück, als es als ein Raum definiert ist, der keine Körper enthält, aber enthalten kann. Er behauptet, daß es jenseits der Welt keine Körper geben könne. Folglich konnte er dieser Definition gemäß das Vakuum nicht zulassen, aber es wäre ungereimt gewesen, wenn er, wo er das Vakuum einfach und allgemein als das nahm, was keinerlei Körper einschließt oder enthält, gesagt hätte, daß es jenseits der letzten himmlischen Sphäre kein Vakuum gäbe. Die christlichen Philosophen, die seine Lehren übernahmen, haben dasjenige gelehrt, was Plutarch den Stoikern beilegt, daß nämlich alles in der Welt ein Plenum ist und daß es außerhalb der Welt ein unendliches Vakuum gibt. Das nennen sie die »imaginären Räume«, und sie glauben nicht, daß dies ein Vakuum im eigentlichen Sinne sei, obwohl es keinerlei Körper enthält. Denn sie nennen einen Raum im eigentlichen Sinne leer, der keine Körper enthält und von allen Seiten von Körpern eingeschlossen ist. Es ist klar, daß diese Definition nicht zu den imaginären Räumen paßt. Was die Erfülltheit der Welt betrifft, so haben sie dies als einen fundamentalen, lieben und teuren Grundsatz der Natur angenommen, weil sie ihrer Lehre nach einen derartigen Horror vor dem Leeren hat, daß sie lieber ihre eigenen Gesetze verletzen will, als zu erlauben, daß es sich irgendwo einschleicht. Die Natur, sagen sie, läßt die leichten Körper jedesmal sinken und die schweren Körper steigen, wenn sie vom Vakuum bedroht wird. Diese Bewegungen sind ihren eigenen Gesetzen zuwider und tun den Elementen Gewalt an. Aber was ist zu tun? Ist es nicht erlaubt und gerechtfertigt, von zwei Übeln das schlimmere abzuwen36

Aristoteles, De caelo, Buch I, Kap. 9, S. 348 meiner Ausgabe.

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den? Die modernen Philosophen haben über diese Hirngespinste gespottet. Galilei und sein Nachfolger Torricelli haben die Lehre vom Vakuum wiederbelebt; Gassendi, der große Restaurator des Systems von Leukipp, hat sie in Mode gebracht und behauptet, sie demonstrativ bewiesen zu haben. Descartes erklärte sich für das Plenum und hat die Angelegenheit viel weiter getrieben als die Nachfolger des Aristoteles es taten. Denn er behauptete nicht nur, daß es keinerlei Vakuum gebe, sondern außerdem, daß es absolut unmöglich sei, daß es eins geben könnte. Er stützte sich darauf, daß es, weil das Vakuum sämtliche Eigenschaften und ganz das Wesen der Körper habe, d. h. die drei Dimensionen, ein Widerspruch in sich wäre zu behaupten, das Vakuum sei ein Raum, in dem es keine Körper gäbe. Ein großes Paradoxon erblickte man in der Identität, die er zwischen Raum und Körper festsetzte, und die Leute schrieen, er habe die Allmacht Gottes herabgesetzt, weil er lehrte, daß Gott selbst nicht einmal durch ein Wunder bewirken könne, daß eine Tonne, solange sie eine Tonne ist, nicht mit irgendwelcher Materie angefüllt sei. Das ist zweifellos eine Konsequenz seiner Lehre, die aber keineswegs die Allmacht Gottes betrifft. Es geht nicht um diese Allmacht, es geht lediglich darum zu wissen, ob alles, was drei Dimensionen hat, ein Körper ist. Die Argumente von Descartes sind vielen Leuten sehr stark erschienen. Sie glaubten, man könne mittels seiner feinen Materie Bewegung und Erfülltsein leicht miteinander versöhnen, und sie fanden Fehlschlüsse in Gassendis vorgeblichen Demonstrationen.37 Die Herrschaft des Plenums erschien also gefestigter denn je zuvor, als man mit großer Überraschung einige bedeutende Mathematiker sah, die anderer Meinung waren. Huygens sprach sich für das Vakuum aus,38 Newton hat dieselbe Partei ergriffen und die Lehre des Descartes in diesem Punkt als mit der Bewegung, 37

Man sehe L’art de Penser, Teil III, Kap. 18, Nr. 4, S. 328 f. meiner Ausgabe, und man beachte, daß Aristoteles in Buch IV, Kap. 7 der Physik, S. 286, den Grundplan der Antworten gibt, welche die Herren von Port Royal Gassendi entgegenhalten. 38 Man sehe seinen Discours de la cause de la pesanteur, S. 162.

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der Schwerkraft und einigen anderen Phänomenen unvereinbar stark attackiert.39 Fatio ist der Ansicht Newtons, und ich habe ihn sagen hören, daß die Existenz des Vakuums kein Problem, sondern eine feststehende und mathematisch bewiesene Tatsache sei. Er fügte hinzu, der leere Raum sei unvergleichlich größer als der erfüllte Raum. Diese neue Sekte von Beschützern des Vakuums stellt das Universum wie einen unendlichen Raum dar, in den man einige Körper ausgestreut hat, die im Vergleich mit diesem Raum nicht mehr als einige auf dem Ozean verstreute Schiffe sind, so daß diejenigen, deren Blick scharf genug ist, um das Erfüllte und das Leere zu unterscheiden, ausrufen würden: »Wenige Schwimmer tauchen in dem riesigen Strudel auf.«40 Unangenehm für die neuen Anhänger des Vakuums ist allerdings, daß sie nicht leugnen können, daß die Argumente der Cartesianer bezüglich der Nichtexistenz des leeren Raumes sehr stark sind. Ich will sagen, die Anhänger des Vakuums wagen nicht zu behaupten, wie es die Scholastiker getan haben, der Raum sei nichts und stelle eine bloße Privation dar. Wenn man sie also fragt, was diese Räume sind, die wirklich drei Dimensionen haben, die von den Körpern verschieden sind und die sich von Körpern durchdringen lassen, ohne ihnen irgendeinen Widerstand entgegenzusetzen, so wissen sie nicht, was sie antworten sollen, und es fehlt nur wenig daran, daß sie das Hirngespinst einiger Peripatetiker übernehmen, welche die Behauptung gewagt haben, der Raum sei nichts anderes als die Unermeßlichkeit Gottes.41 Das wäre eine sehr abwegige Lehre, wie Arnauld in seinen Schriften gezeigt hat,42 in denen er behauptet, daß Malebranche Gott eine formale Ausdehnung beizulegen scheint. Man beachte, daß Hartsoeker, ein guter Arzt und guter Mathematiker, eine Mittelstellung zwischen Descartes und den neuen Anhängern des Vakuums einnimmt, denn 39

Newton, Philos. nat. princ. mathem., S. 411. Vergil, Aeneis, Buch I, Vers 118. 41 Man sehe De Rodon im vierten Kapitel von Teil I seiner Physique abrégée, S. 35 meiner Ausgabe. 42 Man sehe u. a. seine Défense, die 1684 gedruckt wurde. 40

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wenn er einerseits behauptet, daß Bewegung im cartesischen System unmöglich ist, so will er andererseits, daß die flüssige Ausdehnung, in der die Körper schwimmen und sich sehr leicht hin und her bewegen, nicht ein bloßer Raum oder eine durchdringbare Ausdehnung ist.43 Wir wollen zwei Dinge hieraus festhalten. Erstens, daß diese großen Mathematiker, die demonstrativ beweisen, daß es ein Vakuum gibt, den pyrrhonischen Skeptikern mehr Freude bereiten, als sie denken. Der menschliche Geist verfügt über keine klareren und deutlicheren Vorstellungen, als er sie von dem Wesen und den Attributen der Ausdehnung hat. Das ist die Grundlage der Mathematik. Nun zeigen uns diese Vorstellungen offensichtlich, daß die Ausdehnung ein Wesen ist, das außerhalb voneinander liegende Teile hat und das folglich teilbar und undurchdringlich ist. Wir kennen die Undurchdringlichkeit der Körper aus Erfahrung, und wenn wir den Ursprung und den Grund a priori dafür suchen, so finden wir ihn mit letzter Klarheit in der Vorstellung der Ausdehnung und der Verschiedenheit der Teile des ausgedehnten Wesens und können uns keine andere Grundlage dafür vorstellen. Wir begreifen die Ausdehnung nicht wie ein Genus, das zwei Arten unter sich enthielte, sondern wie eine Art, die nur Individuelles unter sich hat.44 Daraus schließen wir, daß die Attribute, die sich in einer Ausdehnung finden, sich gleichermaßen in jeder anderen finden. Hier sind jedoch Mathematiker, die demonstrativ beweisen, daß es das Vakuum gibt, d. h. eine unteilbare und durchdringbare Ausdehnung derart, daß eine Kugel von vier Fuß und der von ihr erfüllte Raum von ebenfalls vier Fuß nichts anderes sind als vier Fuß an Ausdehnung. Es gibt folglich keine klare und deutliche Vorstellung mehr, auf die sich unser Geist stützen könnte, weil sich herausgestellt hat, daß die Vorstellung der Ausdehnung uns erbärmlich getäuscht hat. Sie hatte uns überzeugt, daß alles Ausgedehnte Teile hat, die nicht durchdrungen werden können. Hier haben wir nun die Existenz eines mathematisch 43 44

Hartsoeker, Principes de physique, Kap. 1. Man sehe die Défense von Arnauld, Teil V, S. 351 ff.

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demonstrierten Raumes, eines Raumes, sage ich, der drei Dimensionen hat, unbeweglich ist und andere Dimensionen hin und her durchläßt, ohne daß er sich bewegte oder öffnete. Das zweite, was ich zu sagen habe, ist, daß das System Spinozas sehr schlecht zu dieser doppelten Ausdehnung des Universums paßt, von denen die eine durchdringbar, kontinuierlich und unbeweglich ist, die andere durchdringbar und in Stücke zerteilt, die manchmal hundert Meilen voneinander entfernt sind. Ich glaube, daß sich die Spinozisten in großer Verlegenheit befänden, wenn sie gezwungen wären, Newtons Demonstrationen anzuerkennen. (…).

LUKREZ

lukrez, auf lateinisch Titus Lucretius Carus, war einer der größten Dichter seines Jahrhunderts. Der Chronik des Eusebius zufolge wurde er im zweiten Jahr der 171. Olympiade geboren. Er tötete sich selbst im Alter von 44 Jahren, d. h. er nahm sich im Jahr 702 Roms das Leben. Man hatte ihm einen Liebestrank verabreicht, der ihn in Raserei versetzte. Dieser krankhafte Gemütszustand ließ ihm jedoch helle Phasen, in denen er die sechs Bücher De rerum natura verfaßte, worin er die Naturlehre Epikurs auf gelehrte Weise erklärt. Aus derselben Chronik erfahren wir, daß dieses Werk von Cicero nach dem Tod des Autors bearbeitet worden ist. Niemals hat ein Mensch die göttliche Vorsehung mit größerer Kühnheit geleugnet als dieser Dichter (E), und dennoch hat er ein ich weiß nicht was anerkannt, dem es gefällt, menschliche Herrlichkeit zu stürzen (F). Man kann nicht leugnen, daß sein Werk mit einer Reihe schöner Maximen gegen die Sittenlosigkeit durchsetzt ist. Wenn er gleichermaßen darauf geachtet hätte, was kleinen wie großen Leuten widerfährt, hätte er vielleicht ein ich weiß nicht was anerkannt, dem es gefällt, die niederen Stände heimzusuchen; vielleicht hätte er diese Annahme aber auch zurückgewiesen (H) und sich dafür stark gemacht, die Sache physikalisch zu erklären. Seine Biographen versichern, daß er ein vollkommener Ehrenmann war.a Einige meinen, die Anrufung, die am Anfang seines Gedichts steht (I), sei geeignet zu zeigen, daß er sich widersprochen und schon mit der ersten Zeile sein System verlassen habe. Sie hätten recht, wenn es zuträfe, daß dieses Gebet mehr als ein geistreicher Einfall war (K), mit dem er sich in gewisser Weise den Gepflogenheiten anpassen wollte. Es ist leicht nachzuweisen, daß er seinen Stil bei zahlreichen Anlässen der gewöhnlichen SpraMan sehe Anm. (A).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  a

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che und den Meinungen angepaßt hat, die seiner Ansicht nach nichts als volkstümliche Irrtümer waren (L). Es wird behauptet, er sei ein Schüler Zenons  sc. des Epikureers  gewesen. Kritiker dieser Ansicht sind nicht allzu erfolgreich gewesen. Wir werden bei der Widerlegung Moréris und einiger anderer Schriftsteller Verschiedenes vorbringen, was Lukrez betrifft. Wer die ihm gewidmeten Lobsprüche kennenlernen möchte, muß nur die Autoren heranziehen, die Barthius nennt.b Mr. Creech, der 1695 eine Ausgabe dieses Dichters vorgelegt hat,c die mit einer vorzüglichen Paraphrase und schönen Anmerkungen begleitet ist, hatte bereits eine englische Übersetzung davon veröffentlicht. Es ist bedauerlich, daß ein solcher Autor nicht lange gelebt hatd und daß sein Ende in gewisser Weise dem des römischen Autors gleicht, den er übersetzt und paraphrasiert hat. Ich bin sicher, daß die französische Übersetzung des Abbé de Marolles nicht das bekannte Schicksal gehabt hätte, wenn sie ebensogut gewesen wäre wie diese englische Fassung. Es wird nicht unangebracht sein, einen Fehlschluß und einen Widerspruch zu prüfen, die man gegen Lukrez vorgebracht hat. Der Fehlschluß betrifft eines der Argumente, deren er sich bediente, um zu zeigen, daß man den Tod verachten müsse. Epikur hatte es bereits verwendet, jedoch auf eine solche Weise, daß Plutarch ihn dafür scharf kritisiert hat (Q). Der Widerspruch bezieht sich auf die Lehre des Lukrez von der Natur der menschlichen Seele. Er hat behauptet, daß die menschliche Seele mit dem Körper stirbt, und merkt gleichwohl an, daß sie beim Tod des Menschen in den Himmel zurückkehrt. Wer behauptet, daß er nicht auf diese Weise reden konnte, ohne sich zu widersprechen, hat sein Werk kaum gelesen oder seine Meinungen kaum verstanden (R). Dieser Einwand hätte ihn nicht in Verlegenheit gebracht. Unendlich mehr Mühe hätte es ihn gekostet, die Attribute seiner Götter sicherzustellen (S), denn er b c

Comment. in Statium, Bd. I, S. 261. Gedruckt in Oxford in Oktav. d Er starb im Jahr 1700, als er noch keine vierzig Jahre war. Man sehe die Nouvelles de la république des lettres, September 1700, S. 331.

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selbst stellt denjenigen Waffen bereit, die diese angreifen wollen, und in diesem Punkt scheint sein System nicht das Werk eines Geistes zu sein, der konsequent zu denken versteht.

(E) Niemals hat ein Mensch die göttliche Vorsehung mit größerer Kühnheit (---) geleugnet. Denn er beginnt dieses Thema mit der folgenden gottlosen Eröffnung: »Alle Natur der Götter muß nämlich für sich alleine ihres unsterblichen Lebens in tiefstem Frieden genießen, fern von unseren Dingen getrennt und weitab geschieden; denn von jeglichem Schmerz befreit, befreit von Gefahren, selber durch eigene Macht vermögend, nicht unser bedürftig, wird vom Verdienst sie weder gewonnen, vom Zorne berührt nicht.«26 Er fährt mit nicht enden wollenden Lobsprüchen auf Epikur fort, der so mutig gewesen sei, die Religion anzugreifen, und der über sie triumphiert habe. »Als das Leben der Menschen darnieder schmählich auf Erden lag, zusammengeduckt unter lastender Angst vor den Göttern, welche das Haupt aus des Himmels Gevierten prahlerisch streckte droben mit schauriger Fratze herab den Sterblichen dräuend, erst hat ein Grieche gewagt, die sterblichen Augen dagegen aufzuheben und aufzutreten als erster dagegen; den nicht das Raunen von Göttern noch Blitze bezwangen noch drohend donnernd der Himmel; nein, nur um so mehr noch den scharfen

Lukrez, Buch I, Vers 44 ff.  In der Übersetzung von Karl Büchner. Vgl. die Anm. der Hgg. zu Fußn. (35) des Artikels CHARRON. Hgg.  26

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Mut seines Geistes reizte, daß aufzubrechen die dichten Riegel zum Tor der Natur als erster er glühend begehrte. (---) Drum liegt die Furcht vor den Göttern unter dem Fuß, und zur Rache wird sie zerstampft, uns hebt der Sieg empor bis zum Himmel.«27 In demselben Buch sagt er, daß er am meisten durch das Lob ermutigt werde, das er durch die Behandlung einer völlig neuen Sache und durch das Brechen mit allen Banden der Religion zu verdienen hoffe.28

(F) Er hat ein ich weiß nicht was anerkannt, dem es gefällt, menschliche Herrlichkeit zu stürzen. Nachdem er über die Angst gesprochen hat, von der die Admiräle angesichts eines Unwetters ergriffen werden, fügt er hinzu, daß sie umsonst Gelübde ablegen; so wahr sei es, daß eine verborgene Kraft mit den Hoheiten dieser Erde zu spielen scheine. »Auch wenn die höchste Gewalt auf dem Meer des stürmischen Windes über die Flut hinfegt den Imperator der Flotte mit den starken Legionen zugleich und samt Elefanten, naht er nicht mit Gelübden dem Frieden der Götter und sucht nicht angstvoll Vergleich im Gebet den Winden und günstiges Wehen, ganz umsonst, da gepackt ja vom stürmischen Wirbel er oftmals um nichts weniger wird zu des Todes Furten gerissen?

27

A. a. O., Vers 62 ff. »Erstlich weil von großen Dingen ich lehr und von engen / Knoten der Furcht vor den Göttern das Herz zu entwinden mich anschick.« A. a. O., Vers 931 f., S. 30 meiner Ausgabe. 28

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So sehr tritt die menschlichen Dinge geheime Gewalt oft nieder und scheint die schönen Bündel und grausamen Beile unter die Füße zu stampfen und sich zum Spielball zu machen.«29 Hier haben wir einen Philosophen, der zwar die Vorsehung und die Macht des Schicksals30 hartnäckig leugnet und alle Dinge der notwendigen Bewegung der Atome zuschreibt; einer Ursache, die nicht weiß, worauf sie abzielt, noch, was sie tut. Aber die Erfahrung zwingt ihn doch, in dem Strom der Ereignisse ein besonderes Bestreben zur Stürzung der höchsten Würdenträger unter den Menschen anzunehmen. Es ist beinahe unmöglich, dieses Bestreben zu verkennen, wenn man die Geschichte oder auch nur das aufmerksam studiert, was sich in den Ländern abspielt, die man kennt. Ein Leben von mittelmäßig langer Dauer genügt, um uns Menschen zu zeigen, die, nachdem sie durch eine allzu schnelle Folge günstiger Umstände zu großem Glück gelangt waren, durch eine vergleichbare Folge widriger Zufälle in die Bedeutungslosigkeit zurückgefallen sind. Alles gelang ihnen vormals, nichts gelingt ihnen heute. Tausend Unglückfälle treffen sie, von denen Menschen in durchschnittlichen Lebensumständen verschont sind, obgleich sie sich sozusagen auf demselben Weg befinden. Sie sind es, gegen die das Schicksal aufgebracht zu sein scheint, sie sind es, deren Verderben es beschlossen zu haben scheint, während es die anderen Menschen in Ruhe läßt. Ich wundere mich also nicht, daß Lukrez ein derartiges Bestreben wahrgenommen hat, das mit seinen Prinzipien unerklärbar und nach anderen Lehren nicht leicht zu erklären ist. Denn man muß zugeben, daß die Phänomene der menschlichen Geschichte die Philosophen in nicht geringere Schwierigkeiten bringen als die Phänomene der Naturgeschichte. Das Bemerkenswerteste in der menschlichen Geschichte ist der

29

A. a. O., Buch V, Vers 1226 ff. Unter ›Schicksal‹ ist hier eine mit Verstand handelnde Gottheit zu verstehen, die aber eigenwillig, böswillig, ungerecht, unklug usw. ist. 30

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Wechsel zwischen Erhebung und Erniedrigung,31 von dem ich an anderer Stelle gesprochen habe,32 und der den Worten Äsops zufolge das gewöhnliche Geschäft der Vorsehung ist. Wie läßt sich das mit den Vorstellungen eines unendlich guten, unendlich weisen Gottes verbinden, der alle Dinge lenkt? Kann das unendlich vollkommene Wesen Gefallen daran finden, ein Geschöpf auf den höchsten Gipfel des Ruhms zu erheben, um es dann in den tiefsten Abgrund der Schande zu stürzen? Hieße das nicht, sich wie ein Kind aufzuführen, das, kaum hat es ein Kartenhaus aufgebaut, es sogleich wieder zerstört und umwirft? Man wird entgegnen, das sei notwendig, weil die Menschen durch den Mißbrauch ihres Glücks derart vermessen werden, daß ihr Fall die Strafe für den schlechten Gebrauch sein muß, den sie von den Wohltaten des Himmels gemacht haben, sowie ein Trost für die Unglücklichen und eine Lektion für diejenigen, denen Gott künftig seine Gnade erweisen wird. Aber wäre es nicht besser, werden manche dem entgegenhalten, so vielen Wohltaten auch die Wohltat hinzuzufügen, sie nicht zu mißbrauchen? Anstelle von sechs großen Wohltaten mögen nur vier erwiesen werden, und zum Ausgleich für die zwei fehlenden sei das Vermögen hinzugefügt, diese vier gut zu gebrauchen. Es wäre nicht länger erforderlich, den Vermessenen zu bestrafen, noch den Unglücklichen zu trösten, noch denjenigen zu unterweisen, der zur Erhebung ausersehen ist. Das erste, was ein Vater tun würde, wenn es in seiner Macht stünde, wäre, seinen Kindern die Gabe zu verleihen, all die Güter gut anzuwenden, die er ihnen mitgeben wird, denn ohne das sind die anderen Geschenke mehr ein Fallstrick als eine Wohltat, wenn man weiß, daß sie zu einem Verhalten Anlaß geben werden, dessen Bestrafung anderen zum Beispiel dienen muß. Abgesehen davon, daß man die Nützlichkeit dieser Beispiele nicht feststellt: alle Generationen haben bis 31

»Was immer das Schicksal erhebt, es bringt es wieder zu Fall. Die längste Lebensdauer hat das Mittelmäßige.« Seneca, Agamemnon. Die Polyanthea sind beim Schlagwort ›Schicksal‹ voll von derartigen Sentenzen. 32 Im Artikel ÄSOP, Anm. (I).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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auf den heutigen Tag diese Lektion nötig gehabt, und es hat keineswegs den Anschein, daß die kommenden Jahrhunderte von diesen Wechselfällen des Schicksals, von denen Äsop gesprochen hat, weniger betroffen sein sollten als die vergangenen. Folglich trägt diese Abwechslung keineswegs den Stempel eines unendlich guten, unendlich weisen und unveränderlichen Wesens. Ich weiß sehr wohl, daß man sich tausend Gründe ausdenken kann, um diese Schwierigkeiten zu beheben, aber man kann sich auch tausend Antworten darauf ausdenken. Der menschliche Geist ist bei Einwänden noch weit fruchtbarer als bei Lösungen, so daß man gestehen muß, daß die Philosophie ohne das Licht der Offenbarung sich nicht von den Zweifeln befreien kann, die sich aus der menschlichen Geschichte ergeben. Es ist Sache der Theologen und nicht der Philosophen, diese Schwierigkeit auszuräumen. Die heidnischen Dichter haben zu einer Hypothese gegriffen, die dem Geschmack des Volkes sehr entsprach. Sie behaupteten, daß es unter der großen Anzahl von Göttern, die an der Regierung der Welt beteiligt sind, einige gibt, welche die glücklichen Menschen beneiden und die, um den Kummer zu besänftigen, den dieser Neid ihnen verursacht, alles tun, um diese Menschen ins Verderben zu stürzen. Daher kommt es, daß das Heidentum ganz besonders darauf bedacht war, diese eifersüchtigen Götter zu besänftigen. Die Göttin Nemesis, die man sich an ihrer Spitze vorstellte, hatte gleichgroßen Anteil an dem Kult und den Ehrenbezeugungen der Religion wie jede andere Gottheit auch; und selbst dann, wenn man glaubte, so tief zu Boden geschlagen zu sein, wie diese neidischen Wesen es nur wünschen konnten, flehte man sie demütigst an, mit ihren Verfolgungen aufzuhören.33 Wenn man diese Hypothese einmal zugelassen hat, dann kann man leicht erklären, warum menschliche Herrlichkeit den Widrigkeiten des Schicksals mehr ausgesetzt ist als die mittleren Stände; jedermann wird die Ur-

33

»Nun sollt auch ihr Trojas Einwohner schonen, ihr Götter und Göttinnen alle, die ihr Troja haßtet und seinen gewaltigen Ruhm.« Vergil, Aeneis, Buch VI, Vers 63 ff.

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sache des Bestrebens verstehen, die selbst Lukrez nicht leugnen konnte. Von allen philosophischen Lehren ist nun keine in einem solchen Maße und so rettungslos den Schwierigkeiten ausgesetzt, von denen ich spreche, wie diejenige Epikurs. Lukrez wußte nicht, woran er sich halten sollte; er konnte weder auf die Lehre der Dichter noch auf irgendeine Art von Moralität zurückgreifen, denn er hat den Göttern auch nicht den geringsten Anteil an der Regierung des Universums gegeben und in unserer Welt kein einziges unsichtbares Gebilde angenommen, das irgend etwas erkennen oder wollen könnte. Und so ist seine vis abdita quaedam  eine gewisse verborgene Kraft  ein überzeugender Beweis gegen ihn selbst. Er hat dadurch gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen.

Bei folgerichtigem Denken mußte Epikur Geister anerkennen Beiläufig gesagt, wäre es ihm sehr leicht gewesen, mit seinem System die Existenz dessen zu vereinigen, was man ›Schicksal‹, ›Nemesis‹, ›gute und böse Genien‹ nennt. Er hätte die Götter in dem Zustand belassen können, in dem sie sich seiner Ansicht nach befinden, zufrieden mit ihrer Lage und sich höchster Glückseligkeit erfreuend, ohne daß sie sich in unsere Angelegenheiten einmischten, ohne das Böse zu bestrafen, das Gute zu belohnen usw. Aber er hätte annehmen können, daß bestimmte Ansammlungen von Atomen, denen er einen beliebigen Namen hätte geben können, imstande wären, neidisch auf die Menschen zu sein und auf unsichtbare Weise die Zerstörung großen Glücks zu betreiben. Seit langem schon wundere ich mich darüber, daß weder Epikur noch irgendeiner seiner Schüler bedacht hat, daß die Atome, die eine Nase, zwei Augen, verschiedene Nerven und ein Gehirn bilden, nichts Vorzüglicheres an sich haben als diejenigen, die einen Stein bilden,34 und daß deshalb die

34

Man vergleiche dies mit dem im Artikel HOBBES, Anm. (N) Gesagten.

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Annahme sehr absurd ist, daß jede Ansammlung von Atomen, die nicht einen Menschen oder ein Tier konstituiert, ohne jede Erkenntnis ist. Sobald man leugnet, daß die menschliche Seele eine von der Materie verschiedene Substanz sei, räsoniert man kindisch, wenn man nicht annimmt, daß das ganze Universum belebt ist und daß es überall besondere Wesen gibt, die denken. Und weil es einige hiervon gibt, die dem Menschen nicht gleichkommen, gibt es auch einige, die ihn übertreffen. Unter dieser Annahme sind Pflanzen und Steine denkende Substanzen. Es ist nicht erforderlich, daß sie Farben, Töne, Gerüche usw. empfinden, aber es ist erforderlich, daß sie andere Erkenntnisse besitzen. Und weil es lächerlich wäre, wenn diese Substanzen leugnen würden, daß es Menschen gibt, die ihnen viel Übles zufügen, die sie ausmerzen, sie zerbrechen, weil es, sage ich, lächerlich wäre, wenn sie dies unter dem Vorwand leugnen würden, daß sie den Arm und die Axt nicht sähen, die sie mißhandeln, so sind auch die Epikureer ebenfalls sehr lächerlich, wenn sie leugnen, daß es Wesen in der Luft oder sonstwo gibt, die uns erkennen und uns bald Böses, bald Gutes erweisen oder von denen die einen nur die Absicht haben, uns zu verderben und die anderen, uns zu beschützen. Die Epikureer, sage ich, machen sich sehr lächerlich, wenn sie dies unter dem Vorwand leugnen, daß wir derartige Wesen nicht sehen. Sie haben keinen einzigen guten Grund, um Zauberei, Nachtgespenster, Geistererscheinungen, Lemuren, Kobolde, Poltergeister und anderes dieser Art zu leugnen. Das dürfen eher diejenigen leugnen, die glauben, die menschliche Seele sei von der Materie verschieden; und dennoch leugnen aufgrund einer mir unerklärlichen Geistesschwäche zuerst diejenigen Leute die Existenz von Dämonen, die an der Körperlichkeit der menschlichen Seele festhalten.

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(H) Er hätte vielleicht ein ich weiß nicht was anerkannt, dem es gefällt, die niederen Stände heimzusuchen; vielleicht hätte er diese Annahme aber auch zurückgewiesen. Es gibt sehr wenige Leute, die nicht bemerkt hätten, daß sich alle Welt gewöhnlich darüber beklagt, daß liebenswerte Menschen häufiger von Krankheit und Tod erfaßt werden als Menschen, die uns gleichgültig oder verhaßt sind. Seht diesen hier, so sagt man, er liebte seine Frau und hatte allen Grund dazu: Er hat sie schon vor zwei Jahren verloren und ist untröstlich darüber, und während er diese traurige Trennung beweint, sehnen sich viele Ehemänner schon zwanzig Jahre nach dem Witwerstand und fühlen sich durch das lange Leben ihrer Frauen drangsaliert. Seht diese Witwe, sie beklagt Tag und Nacht ihren guten Ehemann, den der Tod ihr in der Blüte seiner Jugend entriß. Hundert andere Ehemänner befinden sich seit langer Zeit wohl und werden noch viele Jahre leben und fortfahren, ihre Ehefrauen ohne Anlaß und ohne Grund schlecht zu behandeln. Wenn sie sterben würden, hätte das Leiden in ihren Häusern ein Ende; Trost, Ruhe und Sparsamkeit würden dort auf das Angenehmste regieren, und eben deshalb muß man annehmen, daß diese Männer lange leben werden. Man hat soeben ein Kind beerdigt, den einzigen Sohn, die Freude seines Vaters und seiner Mutter. Er war sehr vielversprechend und wäre würdig gewesen, das stattliche Erbe anzutreten, das ihn erwartete; der Tod hat ihn unter hundert anderen ausgewählt, die er verschonte und die ihrer Familie eine Last sind. Dieser ehrenwerte Mann, der seinen Verstand und seine Reichtümer so gut einzusetzen wußte, ist vor kurzem gestorben. Sein Leben war ganz kurz, nie hat er sich vollkommener Gesundheit erfreut, und wenn er kräftig gewesen wäre, hätte er seinen Mitmenschen noch mehr Dienste geleistet, als er es getan hat. Er ist tot, zwanzig andere in der Nachbarschaft sind wohlauf, sind niemals krank und haben nichts anderes im Sinn, als ihre Mitmenschen zu belästigen. Sie mißbrauchen ihre Gesundheit, ihren Geist und ihre Reichtümer, um der Unschuld nachzustellen und die Öffentlichkeit durch ihr verruchtes Leben zu empören. Seht diesen Schurken, diesen

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Vagabunden und hergelaufenen Menschen, er ist aus dem dritten Stockwerk gestürzt und hat nicht die geringste Verletzung. Ein Sohn aus gutem Hause, ein einziger Sohn, ein ehrenwerter Mensch hätte sich dabei zumindest sämtliche Knochen gebrochen. Alle meine Leser werden zustimmen, daß man ähnliche Klagen allenthalben hört, und es ist sogar eine geläufige Redeweise, daß die vereinten Wünsche der Leute, ein böser Mensch möge endlich sterben, eine besondere Kraft haben, sein Leben zu verlängern. Es wäre leicht, das mit der von den Heiden angenommenen Hypothese jener eifersüchtigen, neidischen und bösartigen Gottheiten zu erklären. Die gute Theologie kann hierüber auf gegründete Weise urteilen, aber was hätte Lukrez dazu sagen können? Wenn es Götter gäbe, die sich über das Glück der Menschen ärgerten und Vergnügen daran fänden, sie heimzusuchen, so würden sie zweifellos bestrebt sein, den einzigen Sohn in der Blüte seiner Jahre oder einen zärtlich geliebten Ehemann, eine Ehefrau, die das Glück ihres Mannes darstellt, zu vernichten und das Leben eines Taugenichts, der Vater und Mutter zur Raserei bringt, und einen Ehemann und eine Frau, die einander zur Last fallen, zu beschützen. Wenn sie eine Familie in Betrübnis stürzen wollten, so würden sie das vielversprechendste und liebste Kind wählen, und wenn sie eine Kirchengemeinde heimsuchen wollten, so würden sie diejenigen daraus quälen, die durch ihre Mildtätigkeit und Weisheit deren Stütze sind. Sie würden sie zunächst aufs Krankenlager werfen, dann ins Grab bringen und das Leben von Schurken beschützen. Sie würden Vergnügen daran finden, das Volk durch die Erhaltung von verabscheuungswürdigen Dingen und die Zerstörung von Säulen der Hoffnung sowie der Zierde der Menschheit – Männer wie Marcellus, Germanicus – heimzusuchen. Man beachte, was Tacitus sagt, wenn er den Triumph des Germanicus und die Besorgnis beschreibt, die der Glanz dieses großen Tages bei denjenigen erweckte, die sich daran erinnerten, daß die Gunst des römischen Volkes Unglück nach sich zog. (…).52 Jeder kennt die 52

Tacitus, Annal., Buch II, Kap. 41.

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Überlegung Vergils, daß Marcellus jung starb und das Schicksal sich damit begnügte, ihn nur kurz zu zeigen, weil die Götter geurteilt hatten, Rom werde zu mächtig, wenn es ihn für lange Zeit gehabt hätte. (…)53. Es spricht viel dafür, daß Vergil die Eifersucht im Blick hatte, die man den Göttern beilegte. Aber unsere Theologen räsonieren auf unvergleichlich solidere Art und Weise. Sie leugnen allgemein gesprochen die Unterschiede nicht, die ein weltlicher und gottloser Heide ›Bestreben heimzusuchen‹ oder ›Ansehung der Person‹ oder sogar ›reine Bösartigkeit und Neid des Schicksals‹ genannt hätte. Sie finden in diesen Unterschieden eine Vorsehung, die voller Güte, Weisheit und Gerechtigkeit ist. Gott trennt uns von den Personen, die wir am innigsten geliebt haben. Er tut das, um uns vom Irdischen abzuziehen und uns zu lehren, daß wir das wahre Gut im Himmel suchen müssen. Er läßt uns lange Zeit dem häuslichen Elend ausgesetzt sein, um unsere Geduld zu prüfen und uns in diesem Schmelztiegel zu reinigen. Er bedient sich des langen Lebens der Bösen, um die Sünden der Menschen zu strafen. Das ist eine Geißel seiner Gerechtigkeit. Er läßt uns nur das erleiden, was wir verdient haben. Auf diese Weise findet die gute Theologie hierin nichts, was ihr Schwierigkeiten bereitete; aber weder Lukrez noch Epikur könnten sich leicht aus der Affäre ziehen. Sie hätten vielleicht das Faktum geleugnet und behauptet, daß die Vertreter jenes Murrens, jener Klagen und jener Beobachtungen, die wir oben angeführt haben, schlecht kalkulieren. Es ist ganz gewöhnlich, daß die Menschen auf der einen Seite zuviel und auf der anderen zu wenig in Rechnung stellen. Wenn ein böser Mensch, ein böser Ehemann frühzeitig stirbt, so nimmt man davon im Augenblick zwar Notiz, vergißt es aber bald darauf. Wenn aber ein sehr ehrenwerter Mensch, ein guter Ehemann hinweggerafft wird, so schenkt man dem große Beachtung und vergißt es nicht; das Gedächtnis ist in diesem Fall ein zuverlässiges Register. Es sterben vielleicht genauso viele Kinder, wo ihre Väter und Mütter es wünschen, wie einzige Söhne, die vergöttert werden. Der Tod jener erregt kein Aufsehen, man denkt nur 53

Vergil, Aeneis, Buch VI, Vers 870 ff.

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oberflächlich daran; aber der Tod der anderen erweckt tausend Wehklagen, tausend Betrachtungen. Abgesehen davon muß man wissen, daß die Menschen weit mehr geneigt sind, über ihr Schicksal zu klagen, als mit ihm zufrieden zu sein, und daß sie sich fälschlicherweise bei tausenderlei Anlässen einbilden, das Glück ihres Nächsten übersteige das ihre.54 Es gibt Menschen, die undankbar und unverschämt genug sind, zu sagen »Mein Sohn ist an seinen Verletzungen gestorben; der Sohn eines anderen hätte sich von ihnen erholt«. Wir wollen hinzufügen, daß Lukrez auf seine Physik zurückgegriffen hätte. Wundert euch nicht, hätte er gesagt, daß ein zärtlich geliebter Sohn eher stirbt als ein vernachlässigter. Letzterer wird stark, abgehärtet durch Kälte und Hitze; der andere verweichlicht durch die nachsichtige Erziehung, die geringste Unpäßlichkeit rafft ihn dahin. Ein junger Mensch von außergewöhnlicher Klugheit ist kränklich und stirbt, bevor er dreißig Jahre wird; ein Dummkopf, ein Tölpel ist niemals krank, oder aber er erholt sich von den schlimmsten Krankheiten und wird sehr alt. Habt ihr, so würde Lukrez antworten, Buch geführt über all die Gelehrten ersten Ranges, die achtzig Jahre alt wurden sowie über all die Dummköpfe, die das Mannesalter nicht erreicht haben? Holt eure Rechenmarken wieder hervor und rechnet gut, dann werdet ihr feststellen, daß eure Berechnungen nicht gestimmt haben. Aber schließlich, warum sollte man sich darüber wundern, daß ein großer Geist keine starke Konstitution hat? Er ist aus einem Gewebe zarter und feiner Atome zusammengesetzt; seine Widerstandsfähigkeit gegen andere Körper muß daher geringer sein. Ein robuster Bauer ist aus massiveren, stärker miteinander verflochtenen Teilchen zusammengesetzt; sie müssen folglich länger bestehen. Wenn die Atome der Einbildungskraft sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit bewegen, so verrücken und erschüttern sie Teile des Gehirns und verursachen dort Öffnungen, durch die unendlich viele zur Erhaltung der Organe notwendige Atome ausströmen und verdunsten. So wird die Maschine zwangsläu54

»Die Saat auf anderen Äckern gedeiht stets besser, und das Vieh der Nachbarn hat prallere Euter.« Ovid, Ars amatoria, Buch I, Vers 349.

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fig schwächer, und die Lebensgrundlagen erschöpfen sich bald. Das ist die Erklärung des Grundsatzes: »Dem Maßlosen ist ein kurzes Leben beschieden, und selten erreicht er das Greisenalter.«55 »Das ist das Gesetz des Himmels, kein Übermaß ist von Dauer. Was das gewöhnliche Maß überschreitet, geht schnell zugrunde.«56 Es ist weit gefehlt, daß diese Antworten, von denen ich annehme, daß Lukrez sie hätte geben können, all dem genügten, was der Anfang dieser Anmerkung enthält.

(I) Die Anrufung, die am Anfang seines Gedichts steht. Der Baron des Coutures merkt an,57 daß »diese Anrufung viele Gelehrte überrascht hat, weil sie der Lehre Epikurs widerspricht. Lambin«, so fügt er hinzu, »zitiert einen Florentiner, der behauptet, den Grund dafür gefunden zu haben: Weil dieser Philosoph, nachdem er behauptet hatte, daß unsere Verbrechen weder den Zorn der Götter noch unsere guten Handlungen ihre Wohltaten nach sich ziehen, gleichwohl Gebete zuließ und meinte, sie würden von den Göttern erhört.« Ich werde nicht untersuchen, ob es unter der Annahme, Epikur habe sich zur Verehrung der Götter bekannt, erlaubt ist zu schließen, daß er sich auch dazu bekannt habe, sie anzurufen und von ihnen die Erhörung seiner Gebete zu erwarten. Man kann keinen Schluß von dem einen auf das andere ziehen. Man kann ein Wesen aufgrund der Vollkommenheiten seiner Natur schätzen, respektieren und verehren, ohne jedoch Gebete an es zu richten; denn man könnte überzeugt sein, daß es sich in nichts einmischt und weder Güter noch Übel austeilt. Ich werde auch nicht untersuchen, ob Epikur sich so stellte, als ob er die Gottheit verehrte, nur um die Strafen abzuwenden, die gegen den Atheismus vorgesehen waren. Ich verweise meine Leser auf die Abhandlung 55

Martial, Epigrammata, Buch VI, 29. Man sehe die Briefe von Bussy Rabutin, Teil IV, Brief 369, S. 479 der holländischen Ausgabe. 57 Remarques sur le I. livre de Lucrece, am Anfang, S. 340. 56

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des gelehrten du Rondel.58 Aber ich wage sehr wohl zu versichern, daß Lukrez die Göttin Venus nur deshalb angerufen hat, um sich den Grundsätzen anzupassen, die dieser Florentiner Epikur beilegt, daß nämlich die Götter unsere Gebete verdienen, obwohl sie die Welt nicht lenken. (…). Es ist gewiß, daß Lukrez Venus gemäß den Vorstellungen derjenigen ansieht, die sie für eine Göttin hielten. Er betrachtet sie nicht als die natürliche Leidenschaft, welche die Menschen dazu bringt, sich zu vereinigen, denn dieser Vorstellung zufolge ist sie genausogut die Mutter des Aeneas wie die des Epikur, und doch führt er sie zunächst als »die Mutter der Aeneaskinder« ein. Mir scheint es das Vernünftigste zu sein, wenn man sagt, daß dies alles lediglich ein geistreicher Einfall ist. Lukrez war bekannt, daß alle Dichter zu Beginn eines großen Werkes die Musen anrufen, und so wollte er nicht, daß seinem Gedicht dieser Schmuck fehlte. Er begann also mit der Anrufung der Venus als der Gottheit, die einem Naturforscher am nächsten steht. Aber er behauptete keineswegs, daß dies eine religiöse Handlung, noch daß Venus, die er mit so vielen Lobsprüchen überschüttete, ein Wesen mit Verstand sei. Auf gleiche Weise hat er an anderer Stelle die Muse Kalliope angerufen,60 ohne zu behaupten, sich damit an ein verständiges Wesen zu wenden. Er hat also keineswegs gegen seine Prinzipien verstoßen. Viel eher würde ich Lipsius vorwerfen, mit seinen Versen, die er zugunsten seines Gartens an den Planeten Venus richtete, eine Handlung heidnischen Götzendienstes begangen zu haben,61 als unserem Lukrez eine religiöse Handlung durch das an die Mutter des Aeneas gerichtete Gebet anzulasten. Man beachte, daß eine Unzahl von christlichen Dichtern, die sämtlichen Göttern des Heidentums 58

Jacob. Rondellus, De vita et moribus Epicuri, Amsterdam 1693 in Duodez. Man sehe den Artikel EPIKUR, Anm. (L).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  60 »Du zeige mir, der ich jetzt zum letzten der kreidigen Male / eile, die Bahn voraus, du alles durchdringende Muse / Kalliope, du Labsal der Menschen und Wonne der Götter, daß dir folgend den Kranz ich mit strahlendem Ruhme / gewinne!« Lukrez, Buch VI, Vers 92 ff. 61 Man findet sie am Ende des 27. Briefes der Centuria I. miscellan.

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tausendmal feindlicher gegenüberstehen als Lukrez, oftmals die Musen oder Bacchus in ihren Gedichten anrufen. Das geschieht aus Nachahmung der Alten und nicht als religiöse Handlung, denn sie denken dabei nicht im Traum daran, Gott anzurufen. Man beachte ferner, daß man eine Parallele zwischen der Anrufung des Planeten Venus durch Lipsius und der Anrufung der Venus durch Lukrez gezogen hat, um Lipsius einer Gottlosigkeit zu überführen,62 aber das wäre nur dann der Fall, wenn dieses Gebet mehr als ein geistreicher Einfall gewesen wäre.63 Es war aber nur das. (…).

(K) Sie hätten recht, wenn (---) dieses Gebet mehr als ein geistreicher Einfall war. Bevor ich dieses Thema verlasse, muß ich sagen, daß, wenn Lukrez Venus oder Kalliope in der Überzeugung angerufen hätte, sein Gebet würde ihm etwas Gutes verschaffen, er sich auf eine Art widersprochen hätte, die nicht nur eines Philosophen, sondern schon eines Menschen von mittelmäßigem Denkvermögen völlig unwürdig wäre. Denn kaum hat er diese angebliche Anrufung der Geliebten des Mars beendet,68 da setzt er es als Grundsatz fest, daß sich die Götter um nichts kümmern und in nichts einmischen;69 und in seinem ganzen Buch bemüht er sich, die Naturphänomene durch die Bewegung der Atome zu erklären und diejenigen zu widerlegen, die hierfür das Eingreifen der Götter zu Hilfe nehmen. Man kann hieraus weder ableiten, daß er nicht an ihre Existenz geglaubt, noch daß er keine 62

George Thomson, Vindex veritatis, S. 3. »Entweder treibst Du also nur ein Spiel, wenn Du Venus anrufst und anbetest, oder Du hältst Venus für eine wahre Gottheit.« Ders., a. a. O., S. 2. 68 »Denn du allein vermagst die Menschen mit ruhigem Frieden / zu erfreuen, da ja die wilden Werke des Kampfes / lenkt der waffenmächtige Mars, der oft sich in deinen / Schoß zurücklehnt, besiegt von ewiger Wunde der Liebe.« Lukrez, Buch I, Vers 31 ff. 69 Man sehe Anm. (E), Fußn. (26). 63

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Achtung und Verehrung für sie empfunden hätte. Denn seinen Prinzipien zufolge ist es keineswegs abwegig, daß sich viel vollkommenere Wesen als der Mensch gebildet haben, die mit ihrem Zustand zufrieden sind und die Taten und Angelegenheiten von anderen weder wissen noch verbessern wollen; und so wie es feststeht, daß wir mit viel Verehrung das Verdienst großer Leute bewundern, ohne daß wir jemals von ihnen irgendeine Wohltat empfangen noch eine Gunst zu erhoffen oder etwas Übles zu befürchten hätten, so hindert nichts, daß die Anhänger Epikurs die Götter nicht wirklich verehrt haben sollten. Aber man kann sehr wohl aus der Lehre des Lukrez schließen, daß er sie nicht anrufen konnte und daß er den ganzen religiösen Kultus, wie er in Rom ausgeführt wurde, die Gelübde, die Opfer, die Gottesdienste usw. als eine höchst unnütze Sache ansehen mußte.

Ob Epikur seine Lehre mit der öffentlichen Götterverehrung vereinbaren und die Athener täuschen konnte Hier bietet es sich an, eine Betrachtung über das Verhalten der athenischen Priester Epikur gegenüber anzustellen. Sie haben verschiedentlich Philosophen bestrafen lassen, die sie des Atheismus beschuldigten, und sie strengten einen großen Prozeß gegen Anaxagoras für eine einzige Ruchlosigkeit an.70 Wie kommt es also, daß sie dem Epikur nicht zusetzten? War der Grund, daß er sich niemals mit ihnen wegen irgendeines persönlichen Vorteils oder einer persönlichen Beleidigung stritt,

70

»Ich wundere mich, weshalb Anaxagoras angeklagt wurde, weil er lehrte, die Sonne sei ein feuriger Stein, und ihre Göttlichkeit leugnete, wo doch Epikur in derselben Stadt in hohem Ansehen stand und unbehelligt lebte, obwohl er weder an die Göttlichkeit der Sonne noch irgendeines anderen Sterns glaubte und Jupiter und alle Götter so entschieden aus der Welt verbannte, daß die Gebete und Anrufungen der Menschen sie nicht erreichen.« Augustinus, De civitate dei, Buch XVIII, Kap. 41.

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wie es möglicherweise diejenigen getan hatten, die sie verfolgten, und daß sie vielleicht die Anklage der Gottlosigkeit nur erhoben, um ihre persönlichen Leidenschaften unter dem Mantel der Frömmigkeit zu befriedigen? War der Grund, daß Epikur die Politik verfolgte, sich der öffentlichen Götterverehrung anzupassen und sie nachdrücklich zu billigen? Ich bin fest überzeugt, daß die Athener vermochten, sich mit Äußerlichkeiten zufriedenzugeben, wie man es auch heute tut, ohne in den Gedanken herumzuwühlen. Aber wäre es nicht – wie auch heutzutage – erforderlich, daß dieses Äußerliche auch in den Büchern und in den Vorlesungen Beachtung fände? Nahmen sie es hin, daß jemand in seiner Schule das Gegenteil von dem lehrte, was er auf der Straße und in den Tempeln sagte? Das ist schwer vorstellbar, griff doch die Lehre Epikurs die Verehrung der Götter, so wie die Athener sie praktizierten, ausdrücklich und erwiesenermaßen an. Seine Lehre konnte sich zwar mit der Wertschätzung, der Achtung und den Lobgesängen auf die Götter vertragen, keineswegs aber mit den Gebeten, den Opfern und den Bußübungen. So flossen all die Unzuträglichkeiten, die man dem Atheismus anlasten mochte: die Vernichtung des Zutrauens in den Schutz des Himmels, die Zerstörung der Hoffnung auf Glück durch ein gut geführtes Leben sowie der Furcht, durch ein schlecht geführtes Leben unglücklich zu werden; all diese Unzuträglichkeiten, sage ich, flossen ohne Ausnahme gleichermaßen natürlich und notwendig aus der Lehre Epikurs wie aus der Lehre der Atheisten. Selbst die beschränktesten Köpfe verstehen sehr wohl, daß der gesamte Nutzen der Religion nicht auf der Lehre der Existenz Gottes, sondern auf der seiner Vorsehung beruht. Weil Epikur also in einer Stadt geduldet wurde, in der man die Gottlosen bestrafte, so ergibt sich, daß man dort auf das Ansehen der Personen acht hatte und daß es dort zweierlei Maß und Gewicht gab; oder aber daß die Athener, so klug und scharfsinnig sie auch sonst waren, hinsichtlich der Religion sehr einfältig gewesen sind. Sie ließen mit sich wie mit Kindern spielen; sie merkten nicht, daß man sich mit einer Lehre wie der epikureischen über sie lustig machte, wenn man gleichzeitig beteuerte, die Ausübung von

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Opfern, Gebeten und all der anderen Teile der öffentlichen Gottesverehrung zu billigen. Dieser Grund schiene mir ein starker Beweis dafür zu sein, daß dieser Philosoph die Vorsehung Gottes gelehrt hat, wie du Rondel behauptet; er erschiene mir sehr stark, sage ich, wenn ich nicht sähe, daß Lukrez, der die Vorsehung offensichtlich angreift, und zwar geradewegs und unzweideutig und ohne daß man für ihn die Verteidigungsreden halten könnte, die man für Epikur hält, vollkommen unbehelligt in Rom gelebt hat – einer Stadt, die nicht weniger eifersüchtig über die Religion wachte, noch weniger streng gegenüber den Gottlosen war als das athenische Volk. Man beachte im übrigen, daß die guten Sitten eines jeden Menschen, der wie Lukrez die Existenz, die Heiligkeit, die Glückseligkeit und die Unsterblichkeit Gottes anerkennt, ohne seine Vorsehung zu akzeptieren, ein ebenso guter Beweis für die These sind, daß ›der Atheismus nicht notwendigerweise mit schlechten Sitten verbunden ist‹, wie der Beweis, den man aus dem guten Leben von Leuten nimmt, welche die Vorsehung Gottes mitsamt seiner Existenz leugnen. Denn es ist ersichtlich, daß der Glaube an die Existenz Gottes ohne den Glauben an die Vorsehung kein Motiv zur Tugend und kein Bollwerk gegen das Laster sein kann.

(L) Er hat seinen Stil der gewöhnlichen Sprache und den volkstümlichen Meinungen (---) angepaßt. Zwei Beispiele will ich hierfür geben. Er glaubte, daß Himmel und Erde nicht für ewig bestehen würden und eröffnet demjenigen, dem er sein Buch gewidmet hat, daß die Zerstörung dieser Welt vielleicht noch zu ihrer beider Lebzeiten erfolgen werde; und er fügt hinzu: »Möge das Schicksal, das alle Dinge regiert, dieses Unglück weit von uns fernhalten.« »Vielleicht wird Glauben den Worten geben die Tatsache selbst und du sehen in Kürze, wie alles schwer bis ins Mark wird erschüttert mit Beben der Erde;

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das wende weit von uns ab das Schicksal71, das steuert die Welt hier, und überzeuge uns lieber das Denken als Tatsachen selber, wie denn besiegt alles einstürzen kann mit gräßlichem Krachen!«72 Es ist ersichtlich, daß die von ihm vorgetragene Bitte bzw. der Wunsch oder das Gebet nur aus seiner Gewohnheit hervorgeht, so zu sprechen wie die anderen auch. Er traf jeden Tag mit Menschen zusammen, deren Sprache von Ausdrücken durchsetzt war, die man gottesfürchtig hätte nennen können, wenn sie nicht eher eine Wirkung der Gewohnheit als eine durchdachte Redeweise gewesen wären. Seine Frau, seine Dienerin, seine Freunde und überhaupt alle Römer waren daran gewohnt, bei Erhalt einer schlimmen Vorhersage oder eines traurigen Ereignisses eine fromme Bitte einzuflechten. »Deus avertat«, »Gott möge uns schützen«, sagten sie; und wenn ein solches Unglück sich ereignete, »quod abominor«, »das verhüte Gott«. Auch die Schriftsteller bedienten sich dieser Redeweisen. »Götter, wehret dem Drohenden, Götter, verhindert so großes Unglück«.73 Ich habe keinen Zweifel, daß Lukrez, der seit seiner Kindheit derartige Redeweisen gewohnt war, davon in seinen vertrauten Gesprächen Gebrauch machte; entweder ohne jede Korrektur oder indem er das Wort ›Natur‹ oder ›Schicksal‹ an die Stelle des Wortes ›Gott‹ setzte. Auf diese Weise haben die Protestanten den Ausdruck »Gott sei seiner Seele gnädig« für »Gott erlöse ihn« eingesetzt. Die Römisch-Katholischen bedienen sich dieses Ausdrucks, wenn sie ihrer verstorbenen Angehörigen gedenken. Weil er aber nicht zu Leuten paßt, die das Fegefeuer leugnen, haben die Protestanten ihn nicht übernommen, sich aber dennoch der Gepflogenheit durch einen sinngemäß gleichen und

71

Einige Manuskripte haben »die Natur«. Das ist sinngemäß dasselbe. Man sehe den Kommentar von Lambin zu dieser Stelle, S. 593 meiner Ausgabe. 72 Lukrez, Buch V, Vers 104 ff., S. 255 meiner Ausgabe. 73 Vergil, Aeneis, Buch III, Vers 265.

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den Grundlehren ihrer Religion angeglichenen Satz angepaßt. Lukrez, dem durch seine Lektüre wie durch seine Gespräche derartige Ausrufe geläufig waren, fügte die oben angeführte Bitte bzw. den Wunsch in sein Werk ein. Angesichts der von ihm vertretenen Lehre war nichts unnützer als das; und doch kann man nicht behaupten, er habe die Unvereinbarkeit einer derartigen Bitte mit der Lehre von den Atomen nicht erkannt. Er wußte nur zu gut, daß die Natur bzw. das Schicksal, das den Atomen ihre Impulse gibt, nicht imstande ist, sich zu ändern oder deren Lauf zu verlangsamen, noch gar die Wünsche der Menschen zu hören. Wenn die Abfolge ihrer Bewegung recht bald zum Untergang der Welt führen mußte, so war deren Untergang unvermeidlich; die inständigsten Gebete der Menschen, Opfer und Prozessionen konnten nicht den geringsten Aufschub bewirken. Wie kommt es also, daß Lukrez in gewisser Weise die Natur oder das Schicksal anruft, damit es die Zerstörung der Welt auf eine andere Zeit verschiebt? Deshalb, weil er gelegentlich im volkstümlichen Stil spricht. Man beachte, daß die Lehre des Fatalismus nicht alle Wünsche ausschließt, denn Epikur hätte, ohne sich von seinen Prinzipien zu verabschieden, sehr wohl wünschen können, daß die Anordnung der Atome seiner Gesundheit günstig wäre. Er hätte nicht verlangen können, daß diese Anordnung sich änderte, sondern lediglich wünschen können, daß ihre Natur sie zu diesem oder jenem Ziel geführt hätte. Lukrez geht darüber hinaus, wie man aus seinen Ausdrücken ersieht. Das war das erste Beispiel, das ich geben wollte. Das zweite ist nicht sehr davon verschieden, denn unmittelbar nach den sechs soeben zitierten Versen stößt man auf die folgenden: »Eh’ hierüber ich dir Verhängtes zu künden beginne heiliger noch um vieles mehr und mit größrer Bestimmtheit, als was Pythia mahnt von Phoebus’ Dreifuß und Lorbeer, will ich dir viel Trost mit weisen Worten enthüllen.«74

74

Lukrez, Buch V, Vers 110 ff.

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Er verspricht hier Orakel, die viel zuverlässiger sind als die von Delphi, und er hat sich an anderer Stelle desselben Vergleichs bedient, um die Bedeutung der Lehre der alten griechischen Philosophen herauszustreichen. » Vieles haben sie  auch gut und auf göttliche Weise gefunden und als Antwort gegeben aus stillem Innern des Herzens unantastbarer noch und auf viel gewissere Weise, als vom Dreifuß und Lorbeer des Phoebus Pythia kündet.«75 Wer sieht nicht, daß er sich an der einen wie der anderen dieser beiden Textstellen gemäß den Vorstellungen des Volks ausdrückt und nicht gemäß den Prinzipien seiner Schule? Denn ihm zufolge konnten die Antworten der Priesterin Apollos lediglich Phantasieprodukte eines kranken Gehirns oder eines unwissenden Betrügers sein. Er erblickte in den Orakeln nichts Göttliches. Es hieß folglich nicht, einen großartigen Begriff von einer philosophischen Lehre zu geben, wenn er versicherte, daß sie besser war als die Orakel von Delphi. Das ist so, als wenn wir heutzutage sagen würden, die Überlegungen von Descartes verdienten mehr Aufmerksamkeit als die Faseleien umherziehender Wahrsagerinnen. Es ist folglich klar, daß Lukrez seine Sprache den gewöhnlichen Meinungen angepaßt hat und daß man sich einer albernen Spitzfindigkeit mit der Behauptung schuldig machen würde, daß die Kraft der Wahrheit ihn gelegentlich zu Geständnissen hingerissen habe, die sein System umstürzten und ihn zwangen, sich auf gröbste Weise zu widersprechen, daß er z. B. an zwei Stellen seiner Gedichte anerkannt habe, daß es etwas Göttliches, Inspiriertes, Übernatürliches und Prophetisches in den Orakeln des Apollo gebe.

75

Ders., Buch I, Vers 736 ff., S. 40 f.

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(Q) Plutarch hat Epikur scharf kritisiert. Um diese Worte ordnungsgemäß zu erklären, muß zunächst das Ziel von Epikur und Lukrez dargestellt werden. Sie wollten beweisen, daß man den Tod nicht fürchten muß, daß der Tod nichts ist, daß wir keinerlei Schaden durch ihn nehmen, daß er uns nichts angeht. »Nichts geht also der Tod uns an und reicht an uns nirgends.«99 Ihr Beweis stützte sich darauf, daß aufgelöste oder voneinander getrennte Dinge nicht empfinden, und daß Dinge, die nicht empfinden, für uns nichts sind. Hier sind die Worte Epikurs: »Der Tod ist nichts für uns, das Aufgelöste empfindet nämlich nicht, und was nicht empfindet, ist nichts für uns.«100 Plutarch101 findet, daß Epikur hier einen sehr schlechten Syllogismus aufstellt und daß darin ein notwendiger Satz fehlt, nämlich folgender: »Der Tod ist die Trennung von Körper und Seele.« Aulus Gellius, der Epikurs Partei ergreift, gibt zu, daß der Syllogismus, um formgerecht zu sein, jenen Satz enthalten muß, aber er behauptet, daß Epikur, weil ihm nichts daran gelegen war, seine Überlegung schulgerecht zu präsentieren, diesen Satz absichtlich unterdrückt habe, weil er von selbst zureichend einleuchte. Und man dürfe sich nicht daran stören, daß die Folgerung nicht am Ende, sondern am Anfang der Argumentation steht, denn auch der Philosoph Platon habe mehrmals auf diese Weise räsoniert, d. h. daß er die Anordnung der Sätze im Syllogismus umgedreht habe. Das ist alles, was Aulus Gellius auf Plutarchs Kritik geantwortet hat. Er hat den Punkt nicht getroffen und ist im 16. Jahrhundert massiv kritisiert worden. Man hat ihm vorgeworfen, seine eigene Torheit dadurch zu zeigen, daß er die eines anderen vertuschen wollte, und die Sache selbst nicht begriffen zu haben, um die es ging. (…).102 Man hätte hinzufügen können, daß er ganz allgemein 99

Lukrez, Buch III, Vers 830, S. 172 meiner Ausgabe. Diogenes Laertius, Buch X, Nr. 139. Aulus Gellius, Buch II, Kap. 8, S. 55 meiner Ausgabe. 101 Plutarch, De Homero, Buch II, bei Gellius, a. a. O. 102 Muret, Variae lectiones, Buch XI, Kap. 16, S. 1080 meiner Ausgabe. 100

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nicht wußte, was ein Syllogismus ist, denn er nimmt an, daß der Syllogismus Epikurs tatsächlich den Regeln entspricht, und daß es zu seiner formalen Richtigkeit genügt, die Aussage hinzuzufügen, die der Autor stillschweigend mit hatte einfließen lassen. Demnach sähe dieser Syllogismus wie folgt aus, wenn man das von Epikur stillschweigend Vorausgesetzte hinzufügt: »Der Tod ist die Auflösung von Körper und Seele. Dasjenige, was aufgelöst ist, empfindet nicht, und dasjenige, was nicht empfindet, berührt uns nicht. Folglich berührt uns der Tod nicht.« Dieser Syllogismus taugt überhaupt nichts, weil er offensichtlich und unzweideutig vier Sätze enthält.103 Man muß also annehmen, daß Plutarchs Einwand nicht auf die Unterdrückung der Maior gegründet war, wie Aulus Gellius behauptet, sondern darauf, daß die stillschweigend hinzugefügte Maior keineswegs ein Grundsatz war, aus dem man die Folgerung ableiten konnte. Das ist sicherlich der Mangel dieses Grundsatzes, denn man sieht deutlich, daß man, auch wenn die Maior und die Minor des von mir angeführten Syllogismus zugegeben wird, die Folgerung daraus bestreiten kann. Muret ereifert sich deswegen gegen Epikur und nennt ihn einen erbärmlichen Logiker. »Da er sich in dieser Kunst (der Logik) nicht auskannte, unterliefen ihm Fehler. Wenn er etwas beweisen wollte, geschah es oft, daß er etwas Sachhaltiges und Anerkanntes zugrunde legte, aus dem sich dennoch nicht schließen ließ, was er beweisen wollte. Als er lehren wollte, der Tod gehe uns nichts an, argumentierte er z. B. folgendermaßen: ›Der Tod ist nichts für uns. Das Aufgelöste empfindet nämlich nicht. Das, was nicht empfindet, ist nichts für uns.‹ Es folgt aber nicht, daß, wenn etwas, das aufgelöst ist, keine Empfindung hat, deshalb auch die Auflösung selbst nicht empfunden wird. Ferner ist der Tod nicht das Aufgelöste, sondern die Auflösung selbst. Mit Recht sagt Plutarch im 103

Man sehe in den Anmerkungen Gassendis über Buch X von Diogenes Laertius, Opera, Bd. V, S. 131, welche Gestalt man diesem Argument Epikurs geben kann.

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zweiten Buch von De Homero, daß Epikur den Syllogismus in unvollkommener Weise, falsch und unwissend verwendet habe, nicht weil er die Maior ›der Tod ist die Auflösung von Seele und Körper‹ ausgelassen hat – seine Hinzufügung trägt zu seinem Beweisziel nichts bei –, sondern weil er aufgrund einer gewissen Dummheit und Rohheit seines Verstandes nicht erkannt hat, wie sehr sich das, was aufgelöst ist, von der Auflösung selbst unterscheidet.«104 Und um uns davon zu überzeugen, daß der Fehler, den Plutarch Epikur vorwirft, nicht in der bloßen Unterdrückung der Maior besteht, führt Muret eine Passage aus Alexander von Aphrodisias an,105 in der das Argument Epikurs genauso beurteilt wird, wie Plutarch es seiner Meinung nach kritisierte. Ich kann nicht glauben, daß Plutarch sich die Mühe gemacht hätte, eine Sache zu tadeln, deren sich die besten Logiker bedienen können. Nichts hindert sie, sich eines Enthymems, d. h. eines Syllogismus zu bedienen, bei dem entweder die Maior oder die Minor fehlt. Man verwendet ihn noch heute allenthalben, ohne daß die entschiedensten Anhänger von formal einwandfreien Disputen etwas dagegen einzuwenden hätten, vorausgesetzt, daß der nicht ausdrücklich genannte Satz so ist, wie er sein muß. Aber was für ein Geschrei würden sie erheben, wenn er so fehlerhaft wäre wie der, von dem hier die Rede ist! Wir wollen den hierin steckenden Fehlschluß darlegen. Epikur und Lukrez setzen voraus, daß der Tod etwas ist, das uns nicht betrifft und zu dem wir kein Verhältnis haben. Sie schließen das aus ihrer Annahme, daß die Seele sterblich ist und daß der Mensch folglich nach der Trennung von Körper und Seele nichts mehr empfindet. »Nichts geht also der Tod uns an und reicht an uns nirgends, da der Seele Natur sich hat als sterblich nunmehr erwiesen. Und, wie wir in vergangener Zeit nicht Trübes erfuhren, da zum Kampfe herbei die Punier überall eilten, 104 105

Muret, Variae lectiones, Buch XI, Kap. 16, S. 1079. Aus dem Commentarius in primum Topicarum.

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damals, als alles erschüttert vom angstvollen Aufruhr des Krieges schauernd erbebte in Grund von des Äthers hohen Gestaden, und im Zweifel es war, zu wessen Reiche zu fallen allem, was Mensch, war bestimmt auf der Welt zu Wasser und Lande, so wird, sind wir nicht mehr, wenn erfolgt zwischen Leib ist und Seele Scheidung, aus denen beiden gefügt wir zur Einheit zusammen, dann natürlich auch uns, die wir ja sein nicht mehr werden, nichts überhaupt zu treffen und Sinne zu rühren vermögen, nicht, wenn Erde mit Meer sich mischt und das Meer mit dem Himmel.«106 Sie sagen zu Recht, daß nichts von alledem, was dem Menschen widerfahren kann, ihn betrifft, wenn er nicht mehr empfindet; denn es ist für die Statue des Sokrates einerlei, ob man sie in Stücke schlägt oder ob man die Statue Cäsars zertrümmert. Weil folglich die Zerstörung der Statue Cäsars die Statue des Sokrates überhaupt nicht betrifft, so hat diese keinerlei Verhältnis zu ihrer eigenen Vernichtung. Sie sieht davon nichts, sie empfindet davon nichts, ganz genau so, als ob man am Südpol einen Baum verbrennen würde. Dennoch begehen Epikur und Lukrez an zwei Stellen einen Fehlschluß. Sie können nicht leugnen, daß der Tod den Menschen erreicht, während er noch das Empfindungsvermögen besitzt. Folglich ist der Tod eine Sache, die den Menschen betrifft, und daraus, daß die getrennten Teile nicht länger empfinden, haben sie zu Unrecht geschlossen, daß das Ereignis, daß sie voneinander trennt, nicht empfunden werde.107 Das also ist ihre erste Inkonsequenz, sie

106

Lukrez, Buch III, Vers 830 ff., S. 172. »Epikur (---) hat abgestritten, daß der Tod uns betrifft, weil nämlich, wie er sagt, dasjenige, was aufgelöst wird, ohne Empfindung ist, und dasjenige, was ohne Empfindung ist, nichts für uns ist. Dasjenige aber, was aufgelöst wird und ohne Empfindung ist, ist nicht der Tod selbst, sondern der 107

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haben einen Schluß gezogen von den getrennten Teilen auf die Teilung selbst; und weil die letztere sehr schmerzhaft und von tausenderlei unangenehmen Empfindungen begleitet sein kann, ist sie ein Übel, das im eigentlichen und wirklichen Sinne dem Menschen zugehört, und das sogar trotz ihres Prinzips, daß, wenn die Toten kein Verhältnis zu ihrem Zustand haben, dies deshalb der Fall sei, weil sie nichts empfinden. Der zweite Fehler in der Überlegung dieser Philosophen besteht darin, daß sie voraussetzen, der Mensch fürchte den Tod nur deshalb, weil er sich vorstelle, er sei mit einem großen, wirklichen Unglück verbunden. Sie irren sich und geben denjenigen keine Hilfe an die Hand, die den schlichten Verlust des Lebens als ein großes Übel betrachten. Die Liebe zum Leben ist derart tief im Herzen des Menschen eingewurzelt, daß eben dies zeigt, daß das Leben für ein sehr großes Gut gehalten wird. Daraus folgt, daß der Tod allein deswegen, weil er dieses Gut aufhebt, als ein sehr großes Übel gefürchtet wird. Wozu dient es also, angesichts dieser Furcht zu sagen »Ihr werdet nach Eurem Tod nichts mehr empfinden?« Werdet ihr nicht sogleich antworten »Es ist schon genug, daß mir das Leben genommen ist, das ich so sehr liebe. Und wenn die Vereinigung meines Körpers mit meiner Seele ein Zustand ist, der mir zugehört und den ich sehnlichst zu erhalten wünsche, dann könnt Ihr nicht behaupten, daß der Tod, der diese Vereinigung zerbricht, etwas ist, das mich nicht betrifft.« Schließen wir also, daß das Argument von Epikur und Lukrez nicht gut zusammengestellt war und daß es nur gegen die Furcht vor Strafen in einer anderen Welt dienen konnte. Es gibt noch eine andere Art Furcht, die sie hätten bekämpfen müssen, und das ist die Furcht davor, die Annehmlichkeiten dieses Lebens zu verlieren. Sie hätten sagen können, daß, alles zusammengenommen, die Empfindungslosigkeit der Toten eher ein Gewinn als Mensch, der ihn erleidet. So sprach er demjenigen Leiden zu, das handelte. Wenn es aber dem Menschen zukommt, den Tod, die Auflösung des Körpers und den Verlust der Empfindungen zu erleiden, wie ungereimt ist dann die Behauptung, daß eine so große Gewalt den Menschen nicht betreffe.« Tertullian, De anima.

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ein Verlust ist, denn man gewinnt dadurch Befreiung von den Übeln dieses Lebens. Sei es nun, daß die Übel dieses Lebens, wie viele Leute geglaubt haben, die Güter überwiegen, sei es, daß sie ihnen lediglich gleichkommen, so ist es schon ein Vorteil, empfindungslos zu sein; denn es gibt keinen Menschen, der seine Vorteile recht abzuschätzen weiß, der nicht vier Stunden ruhigen Schlafs zwei Stunden des Vergnügens und zwei Stunden des Mißvergnügens von gleicher Stärke vorziehen würde.108 Wir wollen einen weiteren Fehlschluß des Lukrez betrachten. Er behauptet, daß der Tod uns selbst dann nicht betrifft, wenn die Empfindung in den aufgelösten Teilen fortbesteht oder selbst wenn der Zufall im Laufe der Zeit eine neue Wiedervereinigung von Körper und Seele hervorbringt. Als Grund führt er an, daß wir ein Gebilde aus Seele und Körper sind und daß uns deshalb nur dasjenige betrifft, was uns zugehört, insofern wir dieses Gebilde sind. Weil folglich die vom Körper getrennte Seele kein Mensch ist, so wäre das, was sie in diesem Zustand empfinden könnte, keine Empfindung eines Menschen, so daß unter der Annahme, die Seele Scipios sei unglücklich nach Scipios Tod, es nicht zutreffend wäre, wenn man sagte, Scipio sei unglücklich. Ich bediene mich dieses Beispiels, obwohl es nicht in den folgenden Worten des Lukrez enthalten ist: »Und gesetzt, nachdem sie dem Körper in Stücken entwichen, könnte der Seele Natur und des Lebens Gewalt noch empfinden, nichts geht an es doch uns, die wir in Verkopplung und Ehe zwischen Seele und Leib bestehen, zur Einheit verbunden.«109 Er hält es für möglich, daß dieselben Atome, aus denen ein Mensch zusammengesetzt ist und die sich durch den Tod zerstreuen, im Laufe der Zeit wieder dieselbe Lage einnehmen und 108

Man sehe Lukrez, Buch III, Vers 913 ff., wo er auf den Vergleich des Schlafes zurückgreift, um diejenigen zu widerlegen, welche die Güter anführen, die uns der Tod raubt. Er widerlegt auch die anderen Gründe derjenigen sehr gut, die sich beklagen, daß sie sterben müssen. 109 Lukrez, wie oben, Vers 843 ff., S. 173 meiner Ausgabe.

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wiederum einen Menschen hervorbringen. Aber er will, daß die Ereignisse, die diesem neuen Menschen widerfahren, den ersten in keinerlei Weise betreffen. Die Unterbrechung des Lebens, so fügt er hinzu, ist die Ursache dafür, daß wir keinerlei Interesse an den künftigen Ereignissen nehmen, gesetzt den Fall, daß die kommenden Jahrhunderte uns dieselbe menschliche Natur wiedergeben, die wir gehabt haben. Unser früherer Zustand ist uns heute vollkommen gleichgültig; gleiches gilt von all den Zuständen, in denen wir uns möglicherweise künftig befinden werden. »Auch nicht, wenn unsern Stoff der Lauf der Zeiten versammelt nach unserem Tod und erneut ihn fügt, wie er jetzt ist gelegen, und ein zweites Mal uns das Licht des Lebens geschenkt wird, ginge uns dies etwas an, selbst dann nicht, wenn solches geschehen, da, unterbrochen einmal, das Gedächtnis an uns ist geschwunden. Jetzt auch geht uns nichts an in Hinsicht auf uns, die wir vorher waren, und nicht mehr quält über jene uns jetzt noch Beklemmung. Blickst du nämlich zurück auf der unermeßlichen Zeiten ganzen verflossenen Raum, dazu auf des Stoffes Bewegen, wie vielfältig es ist, magst leicht zum Glauben du kommen, daß die Körperchen oft in derselben Ordnung wie jetzt auch, eben dieselben, aus denen wir jetzt sind, früher gewesen. Aber wir können es doch mit erinnerndem Sinne nicht fassen, zwischen uns liegt dann doch des Lebens Pause und schweifend irrten herum überall die Bewegungen fern von Empfindung.«110

110

Ders., a. a. O., Vers 847 ff.

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Widerlegung der Lehre des Lukrez bezüglich der Empfindung, die nach dem Tod fortbestehen könnte Wenn Lukrez gehofft hat, Leute von diesen zwei Punkten der Physik zu überzeugen, die sich darauf verstehen, einer Frage auf den Grund zu gehen, dann hat er seinen Verstand sehr schlecht eingesetzt. Hier ist ein Beispiel, das uns dies deutlich zeigen wird, wenngleich ich es nur zum Vergnügen vorbringe. Wir wollen uns eine Uhr vorstellen und annehmen, sie sei belebt, empfinde und verstehe, was der Uhrmacher ihr sagt. Wir wollen jetzt annehmen, daß der Uhrmacher ihr ankündigt, er werde sie auseinandernehmen und dabei nicht zwei Rädchen beieinander lassen, sondern daß ganz allgemein alle Teile voneinander getrennt und jedes gesondert in eine Schachtel gelegt werde, daß sich die Empfindung trotz dieser Zerlegung erhalte und die Seele oder das Lebensprinzip ihre Vermögen hinsichtlich von Schmerz und Freude usw. beibehalte. Ist es unter dieser Annahme nicht gewiß, daß sich die Uhr für diese Empfindungen interessieren muß, von denen man ihr sagt, daß die Zerlegung ihrer Teile ihnen kein Ende setzt? Sie wird davon nicht als Uhr berührt werden, aber für ihr Unglück reicht es aus, daß sie als eine empfindungsfähige Substanz Hitze und Kälte, Schmerz und Kummer usw. erleidet. Sie wird ganz sicher dieselbe Substanz sein, die diesen Widrigkeiten in der Uhr ausgesetzt gewesen ist, und das Übel, das sie nach der Zerlegung des Zusammengesetzten erleiden wird, wird lediglich die Fortsetzung des Übels sein, das sie erlitt, während das Gebilde bestand. Wenn man das auf unsere Seele anwendet, wird man sehen, daß, wenn sie die Empfindungsfähigkeit nach unserem Tod beibehält, es sehr richtig wäre zu sagen, daß dasselbe Wesen, das den Hunger, die Kälte, das Fieber, die Blasensteine usw. im menschlichen Körper erlitten hat, auch andere Dinge außerhalb des menschlichen Körpers erleidet, und daß der Trost des Lukrez trügerisch und lächerlich ist. Was geht es euch an, so sagt er, wenn eure Seele nach dem Tod elend sein wird? Ihr seid ein Mensch, die Seele wird kein Mensch sein, und folglich betreffen euch die Unglücksfälle der Seele nicht. Was für eine erbärmliche Folgerung! Das ist so, als

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wenn Pythagoras zu einem Sterbenden gesagt hätte: Deine Seele wird in den Körper eines Ochsen übergehen, der fast ständig vor den Pflug gespannt sein und den man im Alter verhungern lassen wird, aber dieses Leid betrifft dich nicht, denn ein Ochse ist kein Mensch. Wäre das nicht ein hübscher Trost? Man beachtet bei dieser Lehre nicht genug, daß das Subjekt der Ereignisse numerisch immer dasselbe bei allen Verwandlungen der Körper bleibt. Dieselben Atome, die das Wasser bilden, sind im Eis, in den Dämpfen, in den Wolken, im Hagel, im Schnee. Diejenigen, die das Getreide bilden, begleiten das Mehl, den Teig, das Brot, das Blut, das Fleisch, die Knochen usw. Wenn sie in der Gestalt des Wassers und des Eises unglücklich waren, so ist es numerisch dieselbe Substanz, die in diesen beiden Zuständen zu beklagen wäre, und folglich betreffen all die Unglücksfälle, die in der Gestalt des Mehls zu befürchten wären, die Atome, die das Getreide bilden; und nichts muß sich hierfür so sehr interessieren wie die Atome des Getreides, wenngleich sie diese Unglücksfälle nicht erleiden müssen, insofern sie das Getreide bilden.

Widerlegung der Lehre des Lukrez bezüglich der Wiederherstellung ein und desselben Menschen Wir wollen jetzt das andere Hirngespinst des Lukrez widerlegen und uns dazu noch einmal des Beispiels einer Uhr bedienen. Wenn der Uhrmacher ihr sagen würde: »Ich werde für drei oder vier Jahre Deine Teile voneinander getrennt aufbewahren, aber nach Ablauf dieser Zeit werde ich sie wieder zusammenfügen und Dich wieder zusammenbauen. Während der Trennung wird kein Teil Schmerz empfinden, sie werden sich alle in einem tiefen Schlaf befinden, aber sobald sie wieder in ihre frühere Lage gebracht sein werden, wird ihre Mühsal, ihre Zwangslage und ihr Leidenszustand zurückkehren.« Würde eine Uhr, die diesen Worten Glauben schenkte, nicht völlig überzeugt sein, daß sie selbst und nicht eine andere die Uhr wäre, die man nach Ablauf der drei oder vier Jahre wieder zusammenbauen

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würde? Sie hätte den besten Grund der Welt, das zu glauben und sich für das Schicksal und die Bestimmung dieser neuen Uhr genauso zu interessieren wie für ihr eigenes. Jedoch wäre ihr erstes Leben unterbrochen gewesen. Wir wollen also sagen, daß Lukrez diese Angelegenheit zu leichtfertig untersucht hat, als er behauptete, daß der Tod, der einen langen Zwischenraum zwischen das erste Leben der Atome eines menschlichen Körpers und das zweite Leben derselben Atome legte, verhindern würde, daß dieses erste und zweite Leben demselben Menschen zugehörte. Ich weiß wohl, daß man unter der Annahme einer derartigen Wiederauferstehung sagen könnte, daß die Unglücksfälle, die man in Rom zur Zeit von Marius und Sulla erlitten habe, nicht das geringste zu unserem gegenwärtigen Schicksal beitrügen. Ein völliges Vergessen trenne uns von der damaligen Zeit, dennoch seien wir damals unglücklich gewesen und wir wären dieselben Menschen, die damals so viel Elend erlitten hätten: woraus folgt, daß, wenn wir von heute an gerechnet in tausend Jahren noch einmal auf die Erde kommen sollten, all die Unglücksfälle, die wir in diesem neuen Leben zu erleiden hätten, uns im eigentlichen Sinne zugehörten; und die gewisse Erkenntnis einer solchen Zukunft müßte uns in Unruhe versetzen. Lukrez hat also nicht so geschlossen, wie es erforderlich gewesen wäre. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um sich auf vernünftige Weise vor den Schrecken des anderen Lebens zu beruhigen. Die eine ist das Versprechen der Glückseligkeit des Paradieses, die andere ist das Versprechen der Aufhebung jeder Art von Empfindung. Man beachte, daß die Spinozisten weder an der einen noch an der anderen dieser zwei Tröstungen teilhaben können. Ihre ganze Zuflucht besteht darin, sich auf einen ewigen und unendlichen Kreislauf der Formen vorzubereiten, den das Denken stets begleiten wird, doch ohne daß sie wüßten, ob sie dabei glücklicher oder unglücklicher sein werden als in menschlicher Gestalt.

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(R) Wer behauptet, daß Lukrez nicht auf die Weise reden konnte, ohne sich zu widersprechen, hat (---) seine Meinung kaum verstanden. Laktanz wirft ihm folgenden Widerspruch vor und meint, die Macht der Wahrheit habe ihn überwältigt und sich unbemerkt in seine Seele eingeschlichen. »Ferner hat eben dieser Lukrez, indem er vergessen hat, was er behauptete und welche Lehren er verteidigte, diese Verse geschrieben: ›Ebenso geht zurück, was vorher aus Erde entstanden, in die Erde, und das, was aus Äthers Gefilden gesandt ward, nehmen wiederum auf in die Heimat des Himmels Bereiche.‹ Das hätte er nicht sagen dürfen, er, der lehrte, daß die Seele mit dem Körper untergehe; aber er ist von der Wahrheit überwältigt worden, und die wahre Ansicht hat sich unbemerkt bei ihm eingeschlichen.«111 Ein Dominikaner, der vor kurzem über den chinesischen Aberglauben geschrieben hat, billigt diese Bemerkung von Laktanz vorbehaltlos und benutzt sie zur Unterstützung seiner gegen die Jesuiten gerichteten Beweise. »Es112 sollte nicht verwundern, daß sich die Chinesen selbst widersprechen, wo doch Lukrez, einer der gelehrtesten Philosophen aus der Schule der Epikureer, der es wagte, offen die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele anzugreifen, gleichwohl einräumte, daß sich bei ihrer Auflösung nach dem Tod ihre gröberen Teile in der Erde verlieren und ihre feineren und himmlischeren Teile wieder in die dritte Region der Luft oder in den Himmel aufsteigen. Auf diese Weise, so sagt Laktanz, fällt er bezüglich der Seele in einen manifesten Widerspruch. (---).113 Die Ansicht der Gelehrten Chinas ähnelt in diesem Punkt völlig derjenigen des 111

Laktanz, Buch VII, Kap. 12, S. 480 meiner Ausgabe. 112 Lettre d’un docteur de l’ordre de St. Dominique sur les cérémonies de la Chine, au R. P. le Comte de la compagnie de Jésus, S. 43 f. der Ausgabe Köln 1700. 113 Der Autor fügt hier die Worte des Laktanz ein, die oben bei Fußn. (111) stehen.

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Lukrez; sie äußern sich fast genauso wie er. Dieser Philosoph behauptet, die Seele gehe mit dem Körper unter, und dennoch räumt er ein, daß sich die feinsten ihrer Teile im Himmel wieder vereinigen, von wo sie herabgestiegen sind. Dieser durch und durch gelehrte Mensch widerspricht sich, und ihr haltet es uns als eine große Ungereimtheit vor,‡ daß die Chinesen, Leute von sehr mittelmäßigem Verstand, ohne Scharfsinn, ohne tiefe Einsicht und so gut wie ohne Prinzipien, wie ihr es in euren Mémoires belegt, sich widersprechen, wenn sie glauben, die Bilder der Toten seien der Wohnsitz ihrer Geister.« Wenn der Widerspruch der Chinesen nicht gröber ist als derjenige, den man Lukrez vorwirft, so gewinnen die Gegner der Jesuiten dadurch nichts, denn es ist sicher, daß Laktanz zu Unrecht glaubt, Lukrez habe sich widersprochen. Man sehe die Verse, die ich in der Anmerkung (G) des Artikels JUPITER angeführt habe.114 Sie gehen unmittelbar den Versen voran, die Laktanz zitiert und bezeugen lediglich, daß die Erde, geschwängert von Atomen, die mit dem Regen vom Himmel fallen, die Pflanzen, Tiere und Menschen hervorbringt. Lukrez will an dieser Stelle beweisen, daß zwei Arten von Materie, die beide empfindungslos sind, ein empfindendes Ganzes bilden können. Die Erde ist empfindungslos, die Samen, die sie in ihrem Schoß empfängt und die der Himmel ihr schickt, sind empfindungslos; jedoch bringt die durch diese Samen fruchtbar gemachte Erde belebte sowie empfindende Körper hervor und ernährt sie. Der Tod trennt die Teile dieser Körper, aber er vernichtet keine Materie. Diejenigen Teile, welche die Erde beigesteuert hatte, werden der Erde zurückgegeben, und diejenigen, die aus der Region des Äthers herabgestiegen waren, kehren dorthin zurück. Das bedeutet offensichtlich, daß die feinen Teile, die nach Epikurs System die Seele bilden, verdunsten und ausströmen, wenn der Mensch stirbt, und sich beinahe so in der Luft verteilen, wie wir es bei der chemischen Analyse von Mixturen beobachten, ‡

Mémoires von P. le Comte, Brief 8. Fußn. (58).  Diese Fußn. nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  114

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wenn die geistigen Teile nach oben steigen und die irdenen am Boden des Gefäßes bleiben. Lukrez behauptet nicht, wie der Dominikaner meint, daß die Teile der Seele »sich im Himmel wieder vereinigen, von wo sie herabgestiegen sind«; so daß sie im Zustand einer Seele und denkenden Substanz fortbestehen. Er betrachtet sie als verteilt und empfindslos, wie sie es vor dem Leben des Lebewesens waren.115 Er glaubt also nicht, daß die Seele als Seele den Menschen überlebt. Folglich gibt es keinerlei Widerspruch in seiner Lehre, und er kann nicht als ein Beispiel für die Widersprüche angeführt werden, in welche die Chinesen gerieten, wenn sie einerseits versicherten, die Seele sei nichts anderes als »die feinsten Teile des Thi-Kie oder der Materie«, und andererseits behaupten, sie steige »in die Bilder der Toten aus der höchsten Region der Luft hinab, in die sie wieder aufgestiegen sei.«116

(S) Unendlich mehr Mühe hätte es ihn gekostet, die Attribute seiner Götter sicherzustellen. Vollkommene Ruhe und vollständiges Glück waren die Haupteigenschaften, die er den Göttern beilegte.117 Andererseits behauptete er, daß das Wesen der Dinge aus dem leeren Raum und den Körpern bestehe. »Alle Natur, an sich wie sie ist, besteht aus der Dinge zwei; denn es gibt die Körper und andrerseits gibt es das Leere.«118

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»Und da Nebel und Rauch zerstieben weit in die Lüfte, / muß auch der Geist zerfließen und geht viel schneller zugrunde, / glaub es, und löst sich rascher auf in die ersten Substanzen, / wenn er einmal davon den Gliedern des Menschen gegangen.« Lukrez, Buch III, Vers 436 ff., S. 155. 116 Lettre d’un Docteur (---) au Père le Comte usw., S. 43. 117 Man sehe Anm. (E) am Anfang. 118 Lukrez, Buch I, Vers 419 f.

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Er führt seine Gründe hierfür an und schließt dann, »Also kann außer dem Leeren an sich und außer den Körpern nicht eine dritte Natur in der Zahl der Dinge verbleiben, nicht eine, die einmal unter unsere Sinne je fiele, noch eine, die jemand mit dem Denken erreichen je könnte. Denn was immer besteht, wirst diesen beiden du finden eigen oder wirst es als Geschehen an ihnen erkennen.«119 Man kann ohne gelehrt zu sein leicht bemerken, daß diese beiden Lehren des Lukrez sehr schlecht zueinander passen. Ich hätte es also schaffen können, die Schwierigkeit aufzudecken, die man sogleich sehen wird. Aber ich hatte keine Zeit dazu; ich bin auf sie gestoßen und habe sie ganz ausgearbeitet in einem Werk des Herrn Cotin gefunden, bevor ich über diesen Gegenstand nachgedacht hatte. Weil es nun billig ist, jedem das Seine zukommen zu lassen, werde ich mich der Worte dieses Schriftstellers bedienen. Die Götter »haben Körper oder etwas den Körpern Ähnliches, weil man sich außer dem Leeren und den Körpern sowie dem, was aus ihrer Verbindung hervorgeht, ein anderes Wesen nicht einmal vorstellen kann. Das ist Epikurs ausdrückliche Lehre. ›Nichts gibt es in der Welt außer dem Leeren und den Körpern sowie demjenigen, was sich aus ihnen durch disharmonische Vereinigung ergibt‹, sagt der Interpret dieses Philosophen, der überdies glaubt, daß die Seele, wenn sie unkörperlich wäre, nichts verrichten und nichts erleiden könnte. Welcher Art wäre also die Glückseligkeit der Götter, wenn sie unkörperlich wären?120 (---). Sind ihre Körper aus Atomen zusammengesetzt? (---) und ist ein leerer Raum zwischen den Teilen, die diese göttlichen Körper bilden? (---) Denn das Leere und die Atome sind die Prinzipien von allem. Jeder Körper (---) kann in die Teile aufgelöst werden, die ihn zusammensetzen, und die Anhäufung von Atomen (---) kann nicht für ewig auf die gleiche Art und Weise bestehen: Sie sind zu unruhig 119

Ders., a. a. O., Vers 445 ff. Cotin, Theoclée ou la vraye philosophie des principes du monde, Dialog III, S. 54. 120

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und zu beweglich, um immer in Ruhe zu bleiben.«121 Cotin schließt aus alledem, »daß die Götter Epikurs, obwohl sie von allen menschlichen Angelegenheiten entbunden sind, nicht so glücklich und nicht so ruhig leben, wie er sich das vorstellt: Sie sind nicht ohne Sorge und Furcht vor dieser letzten Auflösung der Atome, die, wenn sie einmal im leeren Raum verteilt sind, sich nie wieder vereinigen werden. Folglich, so sagt dieser Philosoph, werden sich diese Teile, welche die Seele bilden, wenn sie einmal verstreut sind, in aller Ewigkeit nicht wieder vereinigen können; andernfalls könnten wir existieren, nachdem wir nicht mehr existiert haben, d. h. daß die Auferstehung auf natürliche Weise möglich wäre. Das ist eine Hypothese, die jedoch aus dem Epikureismus abgeleitet werden kann.122 Denn warum sollte derselbe Zufall, der ehemals die kleinen Körper vereint hat, aus denen Pythokles und Metrodoros gemacht worden sind, sie eines Tages nicht wieder zusammenbringen können? (---) Außerdem, (---) wie können die epikureischen Götter, die ihren Aufenthaltsort zwischen den unzähligen Welten genommen haben, die einander umstürzen und deren Zerschmetterung entsetzlich ist, ohne extrem gestört zu werden, das Gewicht derart großer Massen aushalten, die um sie herum stürzen und vielleicht auf ihre Köpfe fallen? Denn der Zufall kennt sie nicht und kann sie folglich nicht verschonen.«123 Man beachte, daß dieser Schriftsteller anmerkt,124 die meisten Epikureer hätten gesagt, »daß die Götter (---) nicht aus Atomen zusammengesetzt sind.« In der Anmerkung (F) des Artikels EPIKUR kann man nachlesen, was ich hierzu zu sagen habe.125 Die Epikureer haben verstanden, daß sich die ewige Glückseligkeit, die sie den Göttern beilegen, nicht mit einem Gewebe aus Atomen vereinbaren läßt. Man mußte ihnen folglich eine andere Natur beilegen. Aber da121

A. a. O., S. 56. 122 Wir haben oben, Fußn. (110), gesehen, daß Lukrez diese Möglichkeit ausdrücklich anerkannt hat. 123 Cotin, Theoclée, Dialog III, S. 57. 124 A. a. O., S. 58. 125 Fußn. (81 ff.).

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durch stürzten sie die fundamentalen Artikel ihres Systems um, die Hauptlehre nämlich, welche die Grundlage ihrer Physik bildet und wonach die Atome und das Vakuum die Prinzipien aller Dinge sind. Ich glaube nicht, daß sich Lukrez jemals aus dieser mißlichen Lage hätte befreien können. Er hätte entweder die ewige Glückseligkeit seiner Gottheiten oder die Zweiheit seiner Prinzipien aufgeben müssen, denn es besteht keine Möglichkeit, sowohl das eine wie das andere dieser beiden Lehrstücke beizubehalten. Hieraus können wir das Urteil ableiten, daß die Lehre von der Existenz der Götter, die in dem System des Anaxagoras und einiger anderer Philosophen das schönste Kronjuwel und das edelste und vortrefflichste Stück der ganzen Maschinerie ist, die Schwachstelle im System der Epikureer darstellt. Ihr Schulhaupt hatte sich von aller Furcht vor der göttlichen Gerechtigkeit freigemacht, fand sich aber in anderer Hinsicht durch seine Götter in größere Verlegenheit versetzt, als wenn er ihnen die Vorsehung beigelegt hätte. Er hat sich nicht getraut, die Götter zu leugnen, aber er hat nicht gewußt, was er mit ihnen anfangen oder wo er sie hinsetzen sollte. Alles, was er über sie sagen konnte, fügte seinem System Schaden zu und setzte es unüberwindlichen Einwänden aus. Man sehe, wie Cicero ihn sowohl wegen der Feinheit der Körper der Götter126 als auch wegen ihrer menschlichen Gestalt usw.127 lächerlich gemacht hat.

Ob Epikur die Vorsehung anerkannt hat Herr Cotin wirft ihm vor, sich in der Frage der Vorsehung Gottes offensichtlich widersprochen zu haben. »Was würdet Ihr sagen, wenn ich Euch anhand einer kurzen und bündigen Passage aus Epikur zeigte, daß er nicht nur an eine Gottheit geglaubt, sondern sogar deren Vorsehung anerkannt hat? (---). Sie findet

126

Cicero, De natura deorum, Buch I, Abschn. 68, S. 95 und Buch II, Abschn. 59, S. 313. 127 Ders., a. a. O., Buch I, Abschn. 91, S. 132.

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sich im Brief an Menoikeus.‡ Es ist gewiß, daß es Götter gibt, aber man muß gut achtgeben, Gott, der ein unsterbliches und höchst glückliches Wesen ist, keinerlei Eigenschaft beizulegen – man beachte dies! –, die seiner unveränderlichen Glückseligkeit widerstreitet. Nein, derjenige ist nicht gottlos, der nicht an die Menge von Göttern glaubt, die der größte Teil der Menschen sich einbildet und nie gesehen hat, sondern derjenige, der Unwürdiges und Niederes von ihnen glaubt. Die Götter senden diesen ruchlosen Menschen, die sie durch ihre falschen Meinungen entehren, zahllose Mißgeschicke zu und überhäufen auf der anderen Seite die guten und weisen Menschen mit Wohltaten. Hier ist der Grund dafür: Sie lieben ihresgleichen und glauben, daß dasjenige, was nicht der Tugend entspricht, auch nicht ihrem Wesen gemäß ist. Seneca, Epiktet und selbst Platon könnten nicht göttlicher sprechen. Du bist im Grunde Deiner Seele gottesfürchtig, Epikur, weil sich die Natur nicht völlig verleugnen kann. Es ist nur schade, daß Du nicht sagen kannst, was Du sagst, ohne Dir selbst zu widersprechen.«128 Hier haben wir einen Tadel und eine Moralpredigt, die besser plaziert wären, wenn der Autor sie in eine seiner Predigten eingefügt hätte. Doch gleichgültig, wo er sie vortrüge, sie wären schlecht begründet, denn es ist nicht wahr, daß Epikur jemals das an Menoikeus geschrieben hätte, was Cotin ihm beilegt. Wir wollen die griechischen Worte mit der lateinischen Übersetzung des gelehrten Gassendi anführen; wir werden darin deutlich Epikurs Gedanken sehen und feststellen, daß sie von Cotins Verständnis himmelweit entfernt sind. σεβς δè οχ  τοùς τν πολλν qεοùς ναιρν, λλ  τàς τν πολλν δóξας qεος προσáπτυν. ο γàρ προλ"ψεις ε$σìν, λλ %πολ"ψεις ψεωδες α τν πολλν %πèρ qεν ποφáσεις. &νqεν κα µεγíστας βλáβας ο(ονται, τος κακος )κ qεν )πáγεσqαι, καì *φελεíας τος γαqος. τας γàρ $δíαις ο$κειοúµενοι διà παντòς τοùς µοíοως àποδéχονται, π+ν τò µ τοιοτον, -ς λλóτριον νοµíζοντες. Impius est proinde, non

‡ 128

Bei Diogenes Laertius, in der Lebensbeschreibung Epikurs. Cotin, Theoclée, S. 59.

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is, qui vulgareis multitudinis Deos tollit; sed is, qui multitudinis opiniones Diis adhibet. Non enim germanae praenotiones sunt, sed suspiciones falsae, ea, quae de Diis ab hominibus e vulgo traduntur. Arbitrantur quippe et malis detrimenta maxima, et bonis praesidia a Diis advenire: siquidem propriis virtutibus, seu affectibus innutriti, simileis sui Deos admittunt, et quicquid affectuum suorum non est, id existimant ab ipsis alienum. »Gottlos ist folglich nicht derjenige, der die Götter der gemeinen Menge ablehnt, sondern derjenige, der den Göttern die Ansichten der Masse beilegt. Denn was die gewöhnlichen Menschen von den Göttern sagen, beruht nicht auf echten Begriffen, sondern auf falschen Mutmaßungen. Man meint nämlich, daß die Götter den Bösen die größten Mißgeschicke und den Guten Wohltaten zukommen lassen. Da sie ja von ihren eigenen Tugenden bzw. Affekten eingenommen sind, legen sie das ihnen Ähnliche den Göttern bei und betrachten die ihnen nicht eigentümlichen Affekte als etwas den Göttern Fremdes.«129 In jedem Falle betrifft dieser Widerspruch nicht Lukrez, und wenn ich ihn hier anführe, dann deshalb, um das Schlechte und das Gute bei seinem Kritiker aufzuzeigen.

129

Diogenes Laertius, Buch X, Nr. 123, 124, S. 46, Bd. V der Opera Gassendis.  Lesart und Verständnis dieser Stelle aus dem Brief an Menoikeus sind auch in der gegenwärtigen Forschung noch stark umstritten, so daß sowohl Gassendis und Bayles als auch Cotins Auffassung möglich erscheint. Die deutsche Übersetzung bezieht sich auf den lateinischen Text bei Gassendi, der den griechischen Wortlaut in der Weise versteht, die Bayle für die richtige hält. Hgg. 

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luther, Martin, ein Kirchenreformator des 16. Jahrhunderts. Seine Lebensgeschichte ist so bekannt und findet sich in so vielen Büchern – namentlich bei Moréria –, daß ich mich mit ihrer Erzählung nicht aufhalten will. Ich beschäftige mich hauptsächlich mit den Lügen, die man gegen ihn verbreitet hat und bei denen man weder Rücksicht auf Gesichtspunkte des Wahrscheinlichen noch auf die Regeln der Verleumdungskunst genommen hat; vielmehr bewaffnete man sich mit all der Kühnheit derjenigen, die völlig überzeugt sind, daß die Welt blindlings all das glauben wird, was sie vortragen, gleichgültig, wie abwegig es auch sein mag. So hat man zu publizieren gewagt, daß Luther aus dem Umgang seiner Mutter mit einem leibhaftigen Teufel hervorgegangen sei, und sogar sein Geburtstag wurde falsch angegeben, um die Möglichkeit zu schaffen, ihm ein sehr nachteiliges Horoskop zu stellen. Er wurde beschuldigt, zugegeben zu haben, daß er nach zehnjährigem Kampf gegen sein Gewissen schließlich gar keins mehr hatte und dem Atheismus verfallen war. Dem fügt man hinzu, er habe oft gesagt, daß er auf seinen Teil des Paradieses verzichten würde, wenn Gott ihm ein hundertjähriges angenehmens Leben in dieser Welt gäbe. Auf schamlose Weise behauptet man, er habe die Unsterblichkeit der Seele geleugnet. Er wird beschuldigt, niedere und fleischliche Vorstellungen vom Paradies gehabt und Lobgesänge auf die Trunksucht verfaßt zu haben, das Laster, dem er angeblich sehr zugetan war. Man versichert, daß er tausend Blasphemien gegen die hl. Schrift ausgestoßen habe und besonders gegen Moses; ja man geht sogar so weit zu behaupten, er habe den Amadis in gutes Französisch übersetzen lassen, um der Welt a

Es ist für jeden Leser leicht, darin die Spreu vom Weizen zu trennen. Deshalb untersuche ich die Fehler nicht, die dieser Autor in dem Artikel über Luther begangen haben mag.

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Abscheu vor der Schrift und vor Erbauungsbüchern einzuflößen. Bei den gegen ihn vorgebrachten Verleumdungen hat man so wenig Maß gehalten, daß er beschuldigt wurde, gesagt zu haben, er glaube nichts von dem, was er predige, und freue sich, wenn er höre, daß dies bei anderen Priestern genauso sei. Der Großteil dieser Verleumdungen ist auf einige Stellen eines gewissen von den Freunden Luthers veröffentlichten Buches gegründet, denen man einen sehr bösartigen und der Überzeugung dieses Priesters sehr fremden Sinn gibt. Gleichwohl muß man einräumen, daß es sehr unklug war, eine derartige Sammlung zu veröffentlichen. Das war die Wirkung eines unbedachten Eifers oder vielmehr einer ausschweifenden Voreingenommenheit, die sie daran hinderte, die Schwächen dieses großen Mannes zu erkennen. Es läßt sich nicht leugnen, daß die ungestüme Hitzigkeit seines Temperamentes ihm Worte entriß, die Verachtung verdienen, so z. B. wenn er seine Auffassung über den Jakobusbrief darlegt. Einige Protestanten haben behauptet, daß er nicht so hart gesprochen habe, wie man meint, und damit haben sie im Grunde nicht unrecht; allein sie haben eine Sache geleugnet, die sie hätten zugeben müssen. Wenn er tatsächlich all das gegen diesen Brief gesagt haben sollte, dessen er beschuldigt wird, so wäre das zweifellos vor dem Jahr 1525 geschehen. Ich werde dafür weiter unten einige Gründe anführen.b Man hat lange Zeit nichts von dem Fehler gewußt, den er damit beging, daß er dem Landgrafen von Hessen die gleichzeitige Ehe mit zwei Frauen gestattete; schließlich aber kam es ans Tageslicht. Die Römisch-Katholischen haben deswegen viel Geschrei erhoben, und einige Prediger haben bei ihren Antworten für Luther nicht die erforderlich Klugheit gezeigt. Sie haben offensichtlich schädliche Prinzipien vorgetragen, und noch das Erträglichste von dem, was sie angeführt haben, ist von solcher Art, daß sie besser daran getan hätten, nichts zu sagen. Die Art und Weise, in der Herr Claude von diesem großen Reformator spricht, ist sehr umsichtig (T). Er hat ihn unter anderem hinIn Anm. (P).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  b

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sichtlich eines Punktes gerechtfertigt, der Anlaß zu verschiedenen Schriften gegeben hat; es handelt sich um den Streit mit dem Teufel über die Privatmessen. Luther starb am 18. Februar 1546. Es sind unzählige Märchen über seinen Tod erzählt worden, und man hat mit diesen Lügen nicht gewartet, bis er die Welt verließ. Von seiner Heirat habe ich nichts gesagt, weil ich an anderer Stelle weitläufig darüber gesprochen habe. Seine größten Feinde konnten nicht leugnen, daß er hervorragende Eigenschaften besaß, und die Geschichte kennt nichts Erstaunlicheres als das, was er geleistet hat, denn man kann nicht genug bewundern, daß ein einfacher Mönch dem Papsttum einen so harten Schlag versetzen konnte, daß es zur völligen Zerstörung der römischen Kirche nur noch eines zweiten Schlages dieser Art bedurft hätte. Einige Leute schreiben die Revolution, die durch sein Mitwirken stattfand, einem besonderen Stand der Gestirne zu. Es ist nicht wahr, wie einige versichern, daß durch seine Unternehmung vielen Leuten Verachtung für die christliche Religion eingeflößt worden wäre (CC). Wer sich gründlich über die Lebensgeschichte dieser großen Gestalt informieren möchte, braucht nur den umfänglichen Band von Herrn von Seckendorf zu lesen.c Das ist eins der besten Bücher seiner Art, die seit langem erschienen sind. Ich möchte außerdem die Lektüre von Lutherus defensus empfehlen, einem Werk, das von einem Hamburgischen Pastor stammt,d denn in ihm werden alle persönlichen Vorwürfe widerlegt. Als sehr befremdlich habe ich empfunden, daß der Kardinal du Perron die Behauptung gewagt hat, Luther habe an die Sterblichkeit der Seele geglaubt. Daß ein François Garasse eine solche Anschuldigung hundert Mal vorbringt,e wundert mich nicht, und wenn ich das in der Lebensbeschreibung Luthers gefunden hätte, die 1577 in Paris von Frère Noël Talec

Historia Lutheranismi. Man sehe die Histoire des ouvrages des savans, Februar 1692, Art. 13. d Er heißt Johann Müller. e Man sehe Anm. (E).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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piedf veröffentlicht wurde, oder im Werk von Nicole Grenier, aus dem ich unten eine lange Passage zitieren werde, oder in den Büchern vergleichbarer Schriftsteller, die keinerlei Ansehen zu verlieren hatten, so würde mich das nicht erstaunen; aber ich mußte mich doch wundern, als ich sah, daß ein Kardinal mit so großem Namen sich zu einer derartigen Unbesonnenheit hinreißen ließ. Wißbegierigen Lesern wird es willkommen sein, von einem kleinen Verweis zu hören, den man Herrn Arnauld wegen eines Lutherzitats erteilt hat. Es war ihm nicht möglich, das Zitat anhand der Originalbücher zu verifizieren. Das bringt mich dazu, die folgende Anmerkung zu machen, daß nämlich für diejenigen, die beschuldigt werden, diesen Reformator falsch zitiert zu haben, nichts bequemer wäre, als wenn sie die Freiheit hätten, sich der sehr gelehrten Bibliothek des Prinzen Rudolf August, Herzogs von Braunschweig, zu bedienen. Das 1699 veröffentlichte Leben Luthers in Medailleng enthält eine Menge von Einzelheitenh und führt unendlich viele Autoren an, die von dieser berühmten Person gesprochen haben. Im Vorwort an den Leser findet man eine Liste derjenigen, die entweder Lobreden auf ihn oder seine Lebensgeschichte verfaßt haben. Außerdem findet man dort die Widerlegung der Unwahrheiten eines anonymen Autors, dessen 1694 unter dem Titel Lucien en belle humeur veröffentlichten Dialoge die Welt gelesen hat. Ich komme auf diesen Umstand nur zu sprechen, um Gelegenheit zu der Feststellung zu haben, daß es keinen Grund zu der Annahme gibt, daß Herr von Fontenelle der Verfasser dieser Dialoge sei.i Man könnte mit Entschiedenheit behaupten, daß er nicht der Verfasser und keinesfalls einer derart unvollkommenen Produktion wie dieser fähig ist. In Rom zeigt man in der vatikanischen Bibliothekk eine Bibel in deutscher Sprache, von der es heißt, f g

Ein Barfüßer des Franziskanerordens aus Pontoise. Der Autor nennt sich Christian Juncker. h Man sehe oben Anm. (G), am Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  i (…). Juncker, Vita Lutheri nummis illustrata, § 17 des Vorworts. (…). k Misson, Voiage d’Italie, Bd. II, S. 134 der Ausgabe 1698.

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»sie sei von Luther übersetzt und mit seiner eigenen Hand geschrieben. Aber das ist angesichts des außergewöhnlichen Gebetesl, das sich am Ende befindet und von gleicher Hand geschrieben zu sein scheint wie das Übrige, ganz unwahrscheinlich.« Während des Aufenthalts der Truppen Karls V. in Wittenberg im Jahr 1547 versetzte ein Soldat dem Bild Martin Luthers in der Schloßkirche zwei Dolchstiche.m Damals hat dieser Herrscher sich großmütig gezeigt, denn er wollte nicht erlauben, daß man das Grabmal dieses angeblichen Häretikers verwüstete und verbot unter Androhung der Todesstrafe jede derartige Unternehmung. Luther war in der scholastischen Philosophie sehr bewandert und schloß sich sogar der Schule der Nominalisten an, die am allersubtilsten über abstrakte Fragen grübelte. Und dennoch hat es niemals jemanden gegeben, der so heftig wie er gegen die Art zu philosophieren loszog, die man damals bevorzugte, und niemals hat sich jemand mehr gegen den großen Aristoteles ereifert als er. Die Beweise für all dies wird man in den Auszügen finden, die ich aus einer Schmähschrift des Père Gretser geben werde, die zum Beweis des folgenden Satzes bestimmt ist: »Luther versteht die scholastische Theologie nicht.« Einer der von ihm vorgebrachten Gründe lautet, Luther habe gelehrt, daß ein und derselbe Satz zur gleichen Zeit falsch und wahr sei, falsch in der Philosophie und wahr in der Theologie (KK), falsch in der Physik und wahr in der Moral usw. Gretser setzt auch Luthers Poltern gegen die Universitäten und die burlesken Ausdrücke, zu denen er griff, als Beweise ein, um sich über die Akademien und ihre Doktoren lustig zu machen. Diese spöttische Art konnte zweifellos getadelt werden, aber sie war nicht unnütz, und wir wissen, daß es heißt, Erasmus habe mit seinen Spöttereien Martin Luther als Wegbereiter gedient.m l m

Herr Misson zitiert es a. a. O. auf deutsch und französisch. Andreas Sennert, in Athenis Wittembergensib., bei Juncker, Vita Lutheri nummis illustrata, S. 216. m Man sehe Anm. (X), am Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. – Die Fußnote (m) ist bei Bayle zweimal vergeben. Hgg. 

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Allein, wenn es wahr ist, daß Erasmus den Weg bahnte, dann ist es auch wahr, daß er erkannte, daß der Weg durch das schlechte Verhalten, das man diesem Reformator gegenüber an den Tag legte, immer breiter und ebener gemacht wurde. In diesem Verhalten hat Erasmus sieben große Fehler festgestellt. Man sehe das Werk des Herrn Richard, Prior von Beaulieu Sainte Avoye.n Das ist ein katholischer Autor.

(T) Die Art und Weise, in der Claude von Luther spricht, ist sehr umsichtig. Hier sind seine Worte: »Ich gestehe, daß es wünschenswert wäre, wenn Luther in seiner Art zu schreiben zurückhaltender gewesen wäre, als er es war, und wenn man angesichts dieses großen und unbezwingbaren Mutes, angesichts dieses glühenden Eifers für die Wahrheit, dieser unerschütterlichen Standhaftigkeit, die er überall gezeigt hat, mehr Zurückhaltung und Mäßigung bei ihm gesehen hätte. Aber diese meist vom Temperament herrührenden Fehler hindern nicht, daß man die Menschen schätzt, wenn man ansonsten ein gutes Maß an Frömmigkeit und vollkommen heldenhaften Tugenden bei ihnen erkennt, wie man sie bei Luther leuchten sah. Denn man lobt den Eifer Luzifers, des Bischofs von Cagliari, und bewundert die großartigen Eigenschaften des hl. Hieronymus, obwohl man allzu großen Groll und Zorn in ihrem Stil erkennt; und vielleicht bestand zur Zeit der Reformation sogar eine gewisse Notwendigkeit, sich kraftvoller Ausdrücke zu bedienen, um die Menschen leichter aus dem tiefen Schlummer zu wecken, in dem sie so lange gelegen hatten. Wie dem auch sei, ich will gern zugestehen, daß Luther in seinen Ausdrücken zurückhaltender hätte sein sollen, und wenn der Verfasser der Vorurteile sich mit Klagen über die Schärfe von Luthers Stil begnügt hätte, n

Es trägt den Titel Sentimens d’Erasme und wurde im Jahr 1688 gedruckt. Man sehe dort S. 248 ff., wo man auf interessante und sehr zuverlässige Nachrichten stößt.

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so wären auch wir anstelle jeder Antwort mit der Bitte zufrieden gewesen, daß er künftig selber nicht das nachahmen möge, was er bei einem anderen verurteilte.«99 Das alles ist schön und gründlich gesagt. Ich will nur anmerken, daß eine allgemeine Methode zur Rechtfertigung von Leuten mittels des Arguments, daß ihre Eigenschaften angesichts des tatsächlichen Zustandes der Welt sehr geeignet zur Hervorbringung guter Wirkungen waren, eine große Quelle von Täuschungen sein würde. Niemand bezweifelt, daß die Vorsehung die wirksamsten Mittel zur Erlangung ihrer Ziele zu wählen weiß; weil aber die schlechten Eigenschaften der Menschen zu gewissen Zeiten besser als ihre Tugenden zur Ausführung der Beschlüsse Gottes geeignet sind, hieße es, sehr schlecht zu räsonieren, wenn man daraus unter dem Vorwand, daß die Verderbnis der Welt eine harte Behandlung erforderlich gemacht hat, schließen wollte, daß Gewalt und Wutausbrüche lobenswert seien. Ich räume ein, daß die Weisheit Gottes im Gebrauch derartiger Instrumente aufleuchtet, aber die Instrumente könnten sehr wohl ein sehr großes Laster sein. Ich habe oben100 angemerkt, daß der Kardinal Pallavicini Julius II. damit entschuldigt hat, daß die Kirche damals einen kriegerischen Papst nötig hatte.

(CC) Es ist nicht wahr (---), daß durch seine Unternehmung vielen Leuten Verachtung für die christliche Religion eingeflößt worden wäre. Wenn Coeffeteau gesagt hätte, daß Luther die Ursache dafür war, daß unzählige Leute sich durch ihr Bekenntnis zur Ketzerei selbst verdammten, dann hätte er im Sinne seiner Vorurteile gesprochen und man würde es ihm verzeihen; aber das ist nicht das Übel, das er beklagt. Hören wir ihn an. »Indessen«, 99

Claude, Défense de la réformation, Teil II, Kap. 5, S. 331 der holländischen Duodezausgabe. 100 Im Artikel JULIUS II., Anm. (K), Fußn. (42).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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sagt er,142 »anstatt uns hier die Einfälle des rasenden Geistes Luthers und die Anmaßung vorzustellen, deretwegen er selbst den Calvinisten mißfiel, hätte der Herr du Plessis über die Abscheulichkeit von dessen Verbrechen nachdenken und sich den großen Verlust der Seelen vor Augen stellen sollen, für den Luther als der Urheber all der in der Christenheit entstandenen Streitereien vor Gott und den Engeln strafwürdig geworden ist. Gott hatte im Alten Testament‡ festgesetzt, daß, wenn zwei Männer miteinander Streit haben und dabei eine schwangere Frau schlagen, so daß sie ihre Leibesfrucht verliert, ihr Leben für das Leben des Kindes dahingehen solle. Was wird also seine göttliche Gerechtigkeit gegen diejenigen anordnen, die durch ihren Ehrgeiz und die Streitereien, die sie in der Kirche entfacht haben, den Tod so vieler Millionen Seelen veranlaßten, die sich von der christlichen Religion abgewendet haben, weil sie sahen, daß diejenigen, die ihre Diener sein wollten, über die Hauptpunkte des heiligen Evangeliums derart zerstritten waren?«

Religionsstreitigkeiten bringen nur wenige Pyrrhoneer hervor Man kann sicher sein, daß die Zahl der lauen, indifferenten und sich vor dem Christentum ekelnden Geister durch die Unruhen, die Europa anläßlich des Auftretens Luthers erschütterten, stark abnahm anstatt anzuwachsen. Jeder ergriff leidenschaftlich eine Partei: Die einen blieben in der römischen Kirche, die anderen nahmen den Protestantismus an. Die ersten wurden von größerem Eifer für ihre Glaubensgemeinschaft erfaßt, als sie zuvor besaßen, die anderen waren voller Leidenschaft für ihren neuen Glauben. Man könnte die Leute nicht aufzeigen, die den Worten Coeffeteaus zufolge das Christentum angesichts so vieler Streitereien zurückgewiesen haben. Wenn er gesagt hätte, daß die Spaltungen der Christen und das Verhalten, das sie gegenein142 ‡

Coeffeteau, Réponse au mystere d’iniquité, S. 1273. Exodus, Kap. 23.

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ander an den Tag legten, nachdem sich mehrere Sekten gebildet hatten, sehr geeignet waren, Abscheu und Ungläubigkeit dem Evangelium gegenüber einzuflößen, dann, so glaube ich, hätte er recht gehabt; aber gleichzeitig hätte er dabei etwas voraussetzen müssen, was nur sehr wenige Leute tun. Er hätte nämlich voraussetzen müssen, daß die meisten nicht mit zweierlei Maß messen, d. h. daß sie vorurteilsfrei prüfen, was auf beiden Seiten vor sich geht. Aber wo findet man schon solche Leute? Wo sind diejenigen, die nicht durch die Macht der Gewohnheit urteilen, daß ein und dieselben Dinge höchst gerecht sind, wenn man sie anderen zufügt, und höchst ungerecht, wenn man sie selbst erleidet? Bei dieser Geisteshaltung ist nicht zu befürchten, daß die Vervielfältigung der Sekten viele Pyrrhoneer hervorbrächte: jeder wird, was auch immer geschehen mag, fest zu der Partei stehen, der er sich angeschlossen hat. Die Antiperistasis, welche die modernen Naturphilosophen aus der Natur verbannt haben, findet in der Religion ihren Ort. Der Eifer erschlafft, wenn man nicht von einer anderen Sekte beargwöhnt und umzingelt wird, und er wird wieder angefacht, wenn dies der Fall ist. Wir wollen hierauf die Verse anwenden, die auf Menelaos gemünzt sind,143 und sagen, daß Coeffeteau sich in die Irre führen ließ. Er hat das für wirklich gegeben genommen, was in dem Fall eintreten müßte, wenn die Leute ihre Überlegungen auf eine bestimmte Art und Weise anstellten.

(KK) Luther habe gelehrt, daß ein und derselbe Satz falsch (---) in der Philosophie und wahr in der Theologie sei. Ich habe darüber schon in der voranstehenden Anmerkung gesprochen, füge hier aber noch hinzu, daß die allerergebensten Anhänger Luthers ihm in diesem Punkt nicht gefolgt sind und 143

Er hatte Helena gegenüber nur laue Gefühle, solange er sie ungestört besaß, aber er wurde ganz leidenschaftlich, als man sie ihm geraubt hatte. Man sehe oben den Artikel HELENA, unmittelbar nach der Fußn. (42).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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ihre Mitbrüder, die diese Meinung erneuerten, derart heftig bekämpften, daß sie zum Widerruf gezwungen waren.168 Wir wollen außerdem sagen, daß leicht Mißverständnisse sowie Logomachien Einzug in den Streit halten können und daß man Luthers Lehre zu Unrecht tadeln würde, wenn er sie folgendermaßen formuliert hätte: »Ein und dieselben Sätze, die falsch und unmöglich erscheinen, wenn man sie nur mittels der Vernunft beurteilt, sind wahr und gewiß, wenn man sie im Lichte des Wortes Gottes beurteilt.« Wer aber behauptet, daß eine Lehre, selbst nachdem uns die Offenbarung ihre Wahrheit gezeigt hat, dennoch falsch in der Philosophie bleibt, der täuscht sich gewaltig. Viel richtiger ist es anzuerkennen, daß die philosophische Einsicht, deren Evidenz uns als ein zuverlässiger Begleiter zur Beurteilung der Dinge erschienen war, täuschend und trügerisch gewesen ist und daß sie durch die neuen Erkenntnisse berichtigt werden muß, die uns die Offenbarung mitteilt. Man versichere gemäß den Begriffen, welche uns die Logik im Kapitel De oppositis  Über die Gegensätze  lehrt, weiterhin so lange wie man nur will, daß der Mensch kein Stein ist; aber man hüte sich zu versichern – wie Aristoteles es getan hätte –, es sei unmöglich, daß der Mensch ein Stein sei. Hätte Aristoteles nicht versichert, es sei unmöglich, daß Gott von einer Frau geboren werde, daß Gott Kälte und Hitze erleide, daß Gott sterbe, kurz: daß Gott ein Mensch sei? Und hätte er sich mit dieser Versicherung nicht getäuscht? Seitdem man nun weiß, daß der Gegensatz, der zwischen dem Begriff Gottes und dem des Menschen besteht, nicht hindert, daß das eine dieser Wesen nicht wahrhaft von dem anderen ausgesagt werden kann, muß man da nicht sagen, daß nichts hindert, daß im Falle von Mensch und Stein nicht das eine das Subjekt und das andere das Prädikat in einem bejahenden und ganz wahren Satz sein kann? Wir wollen also sagen, daß der Jesuit, der so heftig gegen Luther losgeschrieen hat, in erbärmliche Verwirrung geraten war und grundlos getobt hat. Man könnte meinen, daß er behauptet, es sei vollkommen unmöglich, daß zwei erschaffene Naturen hypostatisch vereint 168

Man sehe oben Anm. (C) des Artikels HOFFMANN, Daniel.

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sind. Aber sieht er nicht, daß, wenn dies erst einmal unmöglich wäre, man eben diese Folgerung auch gegen das Mysterium der Inkarnation richten könnte, für das er sich so sehr gegen Luther ereifert? (…).

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majus, Junianus, ein neapolitanischer Edelmann, lehrte gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Neapel die schönen Wissenschaften.a Er hatte neben anderen den berühmten Sannazar zum Schüler. Durch seine Vorlesungen und seine Bücher trug er viel zur Wiederherstellung des richtigen Gebrauchs der lateinischen Sprache bei. Noch mehr zeichnete er sich aber durch die Deutung von Träumen aus (C). Er war der größte Traumdeuter seines Jahrhunderts, und man kam von überall her zu ihm, um zu erfahren, was dieser oder jener Traum verhieß. Mehrere Leute behaupteten, seine Antworten seien von großem Nutzen für sie gewesen. Das ist eine Betrachtung wert (D).

(C) Er zeichnete sich (---) durch die Deutung von Träumen aus. Alexander ab Alexandro, der sein Schüler gewesen war, erzählte wahre Wunderdinge von ihm in Bezug auf diese Wissenschaft. Jeden Morgen war Majus’ Wohnung voll von Leuten, die ihm ihre Träume erzählen wollten, um deren Deutung zu hören. Unter ihnen waren Personen von Rang. Er gab ihnen Auskunft, aber nicht wie die meisten anderen in dunklen Sätzen und wenigen Worten, sondern deutlich und ausführlich. Indem sie seinem Rat folgten, schützten sich mehrere Leute vor dem Tod und vermieden manchmal großen Kummer. (…). Sannazar, ein anderer Schüler dieses Traumdeuters, war froh, daß er sich auf einen derartigen Orakelspruch für sich und seine Geliebte verlassen hatte. Er erhob Majus in den Himmel und schätzte ihn höher als alle antiken Auguren. Erinnern wir uns, daß Sannazar ein Dichter war. Er erwartete also nicht, daß man seinen Wora

Man sehe Nicolo Toppi, Bibliotheca Napoletana, S. 168.

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ten ohne Abstriche Glauben schenkte. (…). Martin del Rio, der sonst so leichtgläubig und nicht gewohnt ist, Aufschneidereien zurückzuweisen, spricht in einem anderen Ton über Majus: er behandelt ihn mit äußerster Verachtung. »Die Bücher der übrigen antiken Traumdeuter sind alle ohne großen Schaden für den Staat verloren gegangen, mit der einzigen Ausnahme von Artemidoros mit dem Beinamen ›Daldianus‹, einem verrückten alten Mann, der das gesamte von anderen überlieferte Material in fünf Büchern zusammengefaßt hat. Kürzer ist Astrampsychus, der in unseren Tagen auf griechisch und lateinisch ediert wurde, aber ebenso geschwätzig ist wie jener andere Araber, den man in einem barbarischen Griechisch zusammen mit Artemidoros in Frankreich publiziert hat. Heutzutage schätzt man die Apotelesmata arabica des Apomasaris, von den Neueren Konrad Wimpina, von dem ich wünschte, er hätte nicht so viel Material ohne das Gegengift zusammengetragen.† Zur Zeit unserer Großväter hat auch Junianus Majus± diese Kunst in Italien auf höchst eitle Weise gelehrt; von ihm sind Briefe und einige kleine Schriften zur Grammatik erhalten.«8

(D) Das ist eine Betrachtung wert. Betrachtung über die Träume Es wäre zugunsten des Wohls und der Gemütsruhe unzähliger Menschen zu wünschen, daß man niemals von den Träumen als etwas die Zukunft Verkündendes gesprochen hätte; denn Menschen, die diesen Gedanken einmal in sich aufgenommen haben, bilden sich ein, daß der Großteil der Bilder, die uns während des Schlafs durch den Kopf gehen, ebenso viele Weissagungen sind, und zwar meistens bedrohliche. Daraus entstehen † ±

L. de divinat., Kap. 14 und L. de insomniis per decem capita. Über ihn Alex. ab Alex., Buch I, Kap. 11. 8 Mart. del Rio, Disquisit. magicae., Buch IV, Kap. 3, Quaest. 6, S. 278 meiner Ausgabe.

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tausend Beunruhigungen, und auf einen, der frei von diesen Schwachheiten ist, kommen tausend, die sich ihrer nicht erwehren können. Ich glaube, man kann von den Träumen ungefähr das Gleiche sagen wie von der Wahrsagerei durch Lose: Sie enthalten unendlich viel weniger Geheimnisse, als das Volk glaubt, und ein wenig mehr, als die starken Geister glauben. Die Geschichte aller Zeiten und aller Länder berichtet so viele überraschende Tatsachen bezüglich der Träume und der Magie, daß diejenigen, die sich darauf versteifen, alle zu leugnen, sich eines Mangels an Aufrichtigkeit oder einer Schwäche des Verstandes verdächtig machen, wodurch es ihnen unmöglich ist, die Stärke von Beweisen richtig einzuschätzen. Eine extreme Voreingenommenheit oder eine gewisse Verrenkung des natürlichen Geistes blockieren ihren Verstand, wenn sie die Gründe pro und contra vergleichen. Ich habe tüchtige Leute gekannt, die all die Vorbedeutungen der Träume aufgrund des folgenden Prinzips geleugnet haben: Nur Gott, sagen sie, kennt die Zukunft, d. h. die Zukunft, die man ›kontingent‹ nennt. Nun verkünden uns die Träume fast immer die kontingente Zukunft, wenn man voraussetzt, sie seien Vorzeichen. Also müßte Gott der Urheber dieser Träume sein. Er würde sie also durch ein Wunder hervorbringen, und so würde er in allen Ländern der Welt unzählige Wunder bewirken, die weder das Merkmal seiner unendlichen Größe noch seiner höchsten Weisheit trügen. Diese Herren legen großen Wert darauf, daß die geheimnisträchtigsten Träume unter Heiden und Mohammedanern ebenso verbreitet seien wie unter den Anhängern der wahren Religion. In der Tat, lest Plutarch und die anderen griechischen und römischen Historiker, lest die Bücher der Araber, Chinesen usw., und ihr werdet darin ebenso viele Beispiele wundersamer Träume finden wie in der Bibel und in christlichen Geschichtsbüchern. Man muß zugeben, daß dies ein starker Einwand ist und daß er uns unvermeidlich zu einem ganz anderen System zu führen scheint, das darauf hinausliefe, Träume dieser Art nicht Gott als ihrer unmittelbaren Ursache zuzuschreiben, sondern gewissen Intelligenzen, die unter der Leitung Gottes großen Anteil an der Lenkung des Menschen haben. Gemäß der Lehre von den okkasio-

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nellen Ursachen könnte man annehmen, daß es allgemeine Gesetze gibt, die eine sehr große Anzahl von Wirkungen den Wünschen dieser oder jener Intelligenz unterwerfen, so wie es allgemeine Gesetze gibt, welche die Bewegung bestimmter Körper den Wünschen des Menschen unterwerfen. Diese Annahme stimmt nicht allein mit einer Ansicht überein, die unter den Heiden weit verbreitet war, sondern auch mit der Lehre der Schrift und der alten Kirchenväter.9 Die Heiden erkannten mehrere Untergötter an, die über einzelne Dinge herrschten; sie behaupteten sogar, daß jeder Mensch einen Schutzgeist hat, der ihn lenkt. Die Römisch-Katholischen behaupten, daß ihre Lehre vom Schutzengel und von einem Engel, der über ein ganzes Volk, über eine Stadt oder über eine Provinz wacht, sich auf die Schrift gründet. Wenn ihr erst einmal die Annahme als gewiß zugrunde legt, daß Gott es zweckmäßig gefunden hat, gewisse Geister als okkasionelle Ursache für das Verhalten der Menschen hinsichtlich bestimmter Ereignisse einzusetzen, verschwinden alle Einwände, die man gegen die Träume vorbringen kann. Man braucht sich dann nicht mehr darüber zu wundern, daß man kein Zeichen von Größe oder Würde in den Bildern findet, die uns im Traum etwas verkünden.10 Es darf diejenigen nicht überraschen, daß sie verworren und albern sind sowie nach Zeit und Ort und Stimmung variieren, welche die Schranken der Geschöpfe und die Hindernisse kennen, die sich die okkasionellen Ursachen verschiedener Art gegenseitig bereiten müssen. Fühlen wir nicht alle Tage, daß sich unsere Seele und unser Körper im Zuge der ihnen eigentümlichen Tätigkeiten wechsel9

Nach der Theologie des hl. Augustinus – die, wie Père Thomassin zeigt, die uralte Überlieferung der gesamten Menschheit in sich enthält – geschieht fast alles in der Welt durch Engel, durch Dämonen oder durch Empfindungen, die Gott dem menschlichen Geist einprägt. Arnauld in seiner Kritik des Systems von Malebranche, Bd. I, S. 191. 10 Ein solches pikardisches Rätsel ist der Traum, von dem Brantôme spricht: Er verkündete Margarete von Österreich, die Karl VIII. heiraten sollte, daß Anna von Britannien ihr die Krone von Frankreich rauben werde. Sie träumte nämlich, daß beim Spazierengehen in einem Garten ein Esel kam und ihr einen Blumenstrauß aus der Hand riß.

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seitig durchdringen? Eine Intelligenz, die sowohl auf unseren Körper wie auf unsere Seele einwirkte, müßte bei den Gesetzen, die diese beiden Prinzipien11 zur okkasionellen Ursache bestimmter Wirkungen machen, unvermeidlich auf verschiedene Hindernisse stoßen. Aber warum, so fragt man, wählen diese unsichtbaren Geister keinen geeigneteren Zeitpunkt, warum verkünden sie uns nicht die Zukunft, während wir wachen, warum warten sie, bis wir schlafen? »Darüber hinaus möchte ich wissen, warum der Gott uns diese Vorstellungen nicht eher im Wachen als im Schlaf schickt, wenn er sie denn schickt, damit wir uns vorsehen. Denn ob nun ein von außen kommender Anstoß die Seele der Schlafenden bewegt oder ob die Seelen sich von selbst bewegen oder ob wir aus einer anderen Ursache etwas im Schlaf zu sehen, zu hören und zu tun scheinen: die gleiche Ursache könnte das im Wachen bewirken. Wenn die Götter das zu unserem Besten im Schlaf bewirkten, würden sie dasselbe im Wachen tun, zumal Chrysipp in seiner Widerlegung der Akademiker sagt, die Vorstellungen der wachen Menschen seien sehr viel klarer und gewisser als die der schlafenden. Es wäre also der göttlichen Wohltätigkeit angemessener, aus Fürsorge für uns klarere Vorstellungen zu schicken, wenn wir wachen, als dunklere, wenn wir träumen. Weil das nicht geschieht, dürfen wir Träume nicht für gottgesandt halten. Wozu dient schließlich der gewundene Umweg über einen Traumdeuter, wenn es auch direkt geht? Wenn der Gott für uns sorgen wollte, würde er dann nicht sagen ›Tu dies! Laß das!‹? Und würde er diese Vorstellung nicht eher einem wachen als einem schlafenden Menschen schicken?«12 Warum teilen die Götter ihre Voraussagen lieber Menschen von schwachem Verstand als klügeren Köpfen mit? Es ist leicht zu erwidern, daß man im Wachzustand nicht bereit ist, eine Botschaft zu empfangen, denn dann betrachtet man sich als Ursache von all dem, was sich der Einbildungskraft präsentiert, und man unterscheidet sehr genau zwischen dem, was man sich nur einbildet, und dem, was man 11 12

D. h. der menschliche Körper und die menschliche Seele. Cicero, De divinat., Buch II, Kap. 61.

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sieht. Im Schlaf hingegen gibt es keinen Unterschied zwischen Vorstellungen und Sinnesempfindungen. Alles, was man sich vorstellt, scheint dann gegenwärtig, und man kann die Verbindung zwischen seinen Bildern nicht exakt festhalten.13 Deshalb kann man sich einreden, daß man die einen nicht selbst mit den anderen verknüpft hat. Daraus schließt man, daß einige von woandersher stammen und daß sie einem von einer Ursache eingegeben worden sind, die etwas verkünden wollte. Kann man leugnen, daß eine Maschine besser für eine bestimmte Funktion geeignet ist, wenn einige ihrer Teile sich im Ruhezustand befinden, als wenn sie das nicht sind? Wir wollen dasselbe von unserem Gehirn behaupten. Es ist leichter, einige Bewegungen im Gehirn zu lenken, um zukunftsverheißende Bilder wachzurufen, wenn die Augen und die anderen äußeren Sinne untätig sind, als wenn sie aktiv sind. Kennen wir die Möglichkeiten, welche die Wirkungen von Krankheit oder Wahnsinn den Urhebern der Träume eröffnen? Können wir daran zweifeln, daß die Bewegungsgesetze, nach denen sich unsere Organe bewegen und die nur bis zu einem gewissen Grad den Wünschen geschaffener Geister gehorchen, die Bilder verwirren und durcheinanderbringen, die der Urheber des Traums deutlicher gestalten wollte? Cicero glaubt, unter dem Vorwand die Oberhand zu gewinnen, diese Bilder seien dunkel und verzerrt. »Wozu dient schließlich der gewundene Umweg über einen Traumdeuter, wenn es auch direkt geht?14 (---). Man streitet darüber, ob es wahrscheinlicher ist, daß die unsterblichen Götter, die sich durch alle Vollkommenheiten auszeichnen, nicht nur die Betten, sondern auch die Liegen aller Sterblichen in allen Ländern aufsuchen und, wenn sie jemand schnarchend antreffen, ihm irgendwelche verzerrten und dunklen Vorstellungen eingeben, die dieser, aus dem Traum aufgeschreckt, dann am Morgen zu einem Traumdeuter trägt; oder ob der leicht bewegliche Geist auf natürliche Weise dasjenige im Schlaf zu sehen meint, was er im Wachen gesehen Man sehe oben den Artikel LOTICHIUS, Peter, Anm. (G).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  14 Cicero, De divinat., Buch II, Kap. 61. 13

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hat?«15 Man kann jedoch erwidern, daß jedes Geschöpf endlich und unvollkommen ist. Es kann daher in ihm Variationen und aus unserer Sicht wunderliche Abweichungen bei den Wirkungen geben, die von den Wünschen eines geschaffenen Geistes gelenkt werden. Dies kann hilfreich sein bei einigen Einwänden, welche die starken Geister denen machen, die ihnen gegenüber die Wirklichkeit der Magie behaupten. Schließlich sage ich, daß unter der Voraussetzung, es gebe weissagende Träume, die Erkenntnis der Zukunft nicht so groß ist, wie man sich vorstellt. Denn wenn wir die Berichte und die Volksüberlieferung gründlich prüfen, werden wir feststellen, daß diese Träume in den meisten Fällen nur verkünden, was sich in anderen Gegenden abspielt oder in naher Zukunft geschehen muß. Jemand träumt vom Tod eines Freundes oder eines Verwandten, und es stellt sich heraus, sagt man, daß dieser Freund und Verwandte fünfzig Meilen entfernt zum Zeitpunkt des Traumes starb. Etwas Derartiges zu verkünden, heißt nicht, die Zukunft zu erkennen. Andere träumen von einem ich weiß nicht was, das ihnen ein Unglück androht, etwa den Tod, wenn ihr wollt. Der Schutzgeist, der den Traum hervorruft, kann die Komplotte und Machenschaften erkennen, die man gegen sie schmiedet; er kann auch im Blut der Betreffenden eine starke Disposition zum Schlaganfall, zur Brustfellentzündung oder zu einer anderen tödlichen Krankheit sehen. Das heißt nicht, die Zukunft zu erkennen, die man ›kontingent‹ nennt. Aber es gibt doch Privatleute, heißt es, die geträumt haben, sie würden zur Herrschaft gelangen, und die erst nach zwanzig oder dreißig Jahren geherrscht haben. Darauf ist zu erwidern, daß ihr Schutzgeist sehr hochrangig, aktiv und geschickt war und sich in den Kopf gesetzt hatte, sie auf den Thron zu bringen. Er nahm die Gelegenheit dazu entschlossen wahr und hatte Erfolg16 damit, und aufgrund dieser beinahe sicheren Vermutungen sandte er Träume. Menschen würden ihren Kräften entsprechend ebenso verfahren. 15 16

A. a. O., Kap. 63. Man sehe Anm. (D) des Artikels KAINITEN.

Majus

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Ich gebe dies nicht als Beweis oder starkes Argument aus, sondern nur als Erwiderung auf die Einwände gegen die allgemeine Meinung, und man muß auch berücksichtigen, daß ich mich in den Grenzen des natürlichen Lichts halte; denn ich nehme an, daß die Streitenden sich nicht auf autoritative Schriftstellen berufen wollen. Ferner möchte ich beachtet wissen, daß die Verteidiger der Wirklichkeit von Weissagungsträumen nur die Einwände ihrer Gegner entkräften müssen. Denn sie haben unzählige Tatsachen auf ihrer Seite, genau wie die Verteidiger der Wirklichkeit der Magie. Da dies so ist, genügt es, wenn man auf die Einwände antworten kann. Wer diese Tatsachen leugnet, muß beweisen, daß sie unmöglich sind, sonst kann er nicht gewinnen. Ich sollte auch darauf hinweisen, daß ich keinesfalls die alten Heiden entschuldigen möchte, weder hinsichtlich der Sorgfalt, mit der sie so viele Träume in ihren Geschichtswerken erzählen, noch hinsichtlich des Verhaltens, das sie infolge gewisser Träume an den Tag gelegt haben. Manchmal verfügten sie über keine andere Grundlage für die Einführung gewisser Zeremonien oder für die Verurteilung von Angeklagten.17 »Als eine schwere goldene Schale aus dem Tempel des Herkules gestohlen worden war, sah (Sophokles) im Traum den Gott selbst, der ihm sagte, wer es getan hatte. Er ließ dies beim ersten und beim zweiten Mal unbeachtet, aber als es mehrmals geschah, ging er zum Areopag hinauf und meldete die Sache. Die Areopagiten ließen den von Sophokles Benannten verhaften. Im scharfen Verhör legte dieser ein Geständnis ab und brachte die Schale zurück. Als das geschehen war, wurde dieses Heiligtum ›Tempel des Herkules, des Anzeigers‹ genannt.«18 Man kann sich mit vollem Recht über die Schwäche des Augustus lustig machen19 und noch mehr über das Gesetz, das in gewissen Ländern allen Privatleuten, die etwas den Staat Betreffendes geträumt hatten, auferlegte, es öffentlich bekannt zu machen, entweder durch 17

Man sehe Cicero, De divinat., Buch I, Blatt 311 A meiner Ausgabe. Ders., ebd., Kap. 25. 19 »Er ließ weder seine eigenen Träume noch die eines anderen über ihn unbeachtet.« Sueton, Augustus, Kap. 91. 18

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Aushang oder durch Ausrufer.20 Wenn man einige besondere Träume ausnimmt, bin ich damit einverstanden, daß man von allen anderen das sagt, was wir bei Petronius lesen: »Hieraus kann man ersehen, daß Epikur ein göttlicher Mann ist, der Spielereien dieser Art sehr witzig verurteilt. Wenn uns mit schwirrenden Schemen ein Traum die Sinne umnebelt, schickt kein Gott ihn im Tempelschlaf, kein himmlisches Wesen: nein, wir schaffen ihn selbst. Umfängt den ruhenden Körper sanfter Schlummer und schweben in freiem Spiel die Gedanken, hält uns das Tagesgeschehen bei Nacht noch im Bann. Wer als Krieger Mauern bestürmt und Städte zu Schutt brennt ohne Erbarmen, usw.«21 Und ich bleibe bei der Meinung, die ich an anderer Stelle geäußert habe,22 nämlich daß keine Beschäftigung kindischer und lächerlicher ist als die der Traumdeuter. Unser Junianus Majus verdiente einen schärferen Tadel als den von Martin del Rio erteilten. Wenn wir die unzähligen Vorstellungen, die in unserem Geist auftauchen, wenn wir uns im Wachen all den sich uns darbietenden Gegenständen zuwenden, mit dem vergleichen wollten, was uns begegnet, so würden wir darin gewiß ebensoviel Beziehung auf unsere Erlebnisse finden wie in vielen Träumen, die wir als Vorzeichen betrachten; und ich halte nichts von dem Grund, der vielen Menschen so stark erscheint: Wir sehen, sagen sie, in unseren Träumen nicht nur Dinge, sondern wir

20

Man sehe Casaubon zu Sueton, Augustus, Kap. 91, wo Artemidoros, Buch I, Kap. 2 zitiert wird. 21 Petronius, S. 178 der Ausgabe Rotterdam 1693.  Die Übersetzung der Verszeilen ist entnommen aus Petronius, Satyrica – Schelmengeschichten. Lat.-dt. von Konrad Müller und Wilhelm Ehlers. München 1965, S. 377 / 379. Hgg.  22 Im Artikel ARTEMIDOROS, Anm. (B) und (C).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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hören sie auch Sachen sagen, die sie uns niemals gesagt haben, während wir wachten, und die folglich keine Spur in unserem Gehirn hinterlassen haben. Manchmal glauben wir im Traum ein neues Buch zu sehen, von dem wir noch nie gehört haben, und wir lesen darin den Titel, die Vorrede und hundert andere Sachen. Dieser Grund ist nichtig. Machen wir all das nicht auch im Wachzustand? Stellen wir uns nicht diesen und jenen vor, wie er uns hunderterlei Mitteilungen macht, deren Urheber wir selbst sind? Bilden wir uns nicht ein, wenn es uns beliebt, daß jemand ein Buch veröffentlicht hat, das von diesen und jenen Dingen handelt? Daher ist dieser angeblich so starke Grund ohne jede Kraft. Ich glaube jedoch auch, daß man bestimmte Träume, die von den Autoren erwähnt werden, weder bezweifeln noch durch natürliche Ursachen erklären kann, d. h. ohne eine Inspiration oder Offenbarung in ihnen anzuerkennen. Man sehe Valerius Maximus23 und die Briefe von Grotius24. Was die zwar sehr starken und fast unauflöslichen Einwände Ciceros angeht, so sind sie nur unter der Voraussetzung stark, daß Gott selbst der unmittelbare Urheber unserer Träume ist.25 »Als erstes müssen wir also einsehen, daß es keine göttliche Kraft gibt, die Träume hervorruft. Und das ist auf jeden Fall deutlich: Traumgesichte gehen niemals auf die Götter zurück. Die Götter würden das nämlich in unserem Interesse tun, damit wir zukünftige Ereignisse vorhersehen könnten. Wie wenige sind es aber, die auf ihre Träume hören, die sie verstehen, die sich an sie erinnern? Wie viele sind es hingegen, die ihre Träume verachten und sie als Aberglauben eines schwachsinnigen Altweibergemüts betrachten? Welchen Grund hätte ein Gott, für diese Menschen zu sorgen und sie durch Träume auf etwas aufmerksam zu machen – Menschen, die ihre Träume weder für beachtens- noch 23

Valerius Maximus, Buch I, Kap. 7. 24 Grotius, Epist., Teil II, Brief 405. 25 Das war die Annahme der Stoiker, weshalb sich Cotta bei Cicero, De natura deorum, Buch III, gegen Ende, so äußert: »Wie könnt ihr einerseits sagen, daß die Götter nicht alles erledigen, andererseits aber behaupten, daß die Götter den Menschen die Träume senden und zuteilen?«

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für erinnerungswürdig halten? Einem Gott kann nämlich nicht unbekannt sein, welche Gesinnung ein jeder hat. Es ist aber eines Gottes unwürdig, etwas vergeblich oder ohne Grund zu tun. Dergleichen verträgt sich nicht einmal mit der Prinzipienfestigkeit eines Menschen. Wenn somit die meisten Träume entweder ignoriert oder mißachtet werden, dann weiß der Gott dies entweder gar nicht oder er gibt uns vergeblich Zeichen durch Träume. Nichts davon trifft auf einen Gott zu. Also müssen wir zugeben, daß die Götter uns keine Zeichen durch Träume geben.«26 Das ist Ciceros erster Grund; den zweiten haben wir schon weiter oben gesehen.27 Hier kommt sein dritter Grund: »Wer aber getraut sich zu sagen, daß alle Träume wahr sind? ›Einige Träume sind wahr‹, sagt Ennius, ›aber nicht notwendigerweise alle.‹ Was ist denn das für eine Unterscheidung? Welche Träume hält er für wahr, welche für falsch? Und wenn der Gott uns die wahren Träume schickt, woher kommen dann die falschen? Denn wenn auch sie göttlichen Ursprungs sind, was ist dann unbeständiger als ein Gott? Was ist aber ungeschickter, als die Menschen durch falsche und trügerische Träume aufzuregen? Wenn jedoch die wahren Träume göttlichen, die falschen und nichtigen aber menschlichen Ursprungs sind: was ist das für eine willkürliche Benennung, anstatt zu sagen, daß alles von einem Gott verursacht wird – was ihr leugnet – oder alles von der Natur?«28 Cicero trägt noch einen vierten Grund vor, der auf die Dunkelheit der Träume abhebt. Ich habe ihn bereits gebracht,29 will ihn aber noch deutlicher darlegen. Es gibt niemanden, sagt Cicero, der imstande wäre, Träume ausreichend zu erklären. Wenn folglich die Götter auf diesem Wege zu uns sprächen, würden sie es wie die Karthager machen, die in ihrer Sprache zum römischen Senat sprachen und keinen Dolmetscher mitgebracht hatten. »Sieh also zu, ob wir überhaupt einen Wahrsager finden können, selbst wenn ich dir die Wirklichkeit 26 27 28 29

Cicero, De divinat., Buch II, Kap. 60. Fußn. (12). Cicero, De divinat., Buch II, Kap. 61 f. Oben, Fußn. (14).

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der Weissagung zugestehen würde – was ich niemals tun werde. Was für eine Gesinnung haben die Götter, wenn sie uns in unseren Träumen Zeichen geben, die wir weder aus eigener Kraft verstehen noch uns durch Dolmetscher erklären lassen können? Wenn sie uns Zeichen hinwerfen, für die wir weder eine Wissenschaft noch einen Deuter haben, dann wären sie wie die Punier oder Spanier, die zu unserem Senat ohne Dolmetscher sprechen wollten. Was bezwecken aber dunkle und rätselhafte Träume? Die Götter müßten den Willen haben, daß wir verstehen, worauf sie uns zu unserem Besten aufmerksam machen.«30

30

Cicero, De divinat., Buch II, Kap. 64.

MARIANA

mariana, Juan, geboren in Talavera in der Diözese von Toledo, wurde am 1. Januar 1554 Jesuit. Damals studierte er in Complutum und war siebzehn Jahre alt. Er wurde einer der fähigsten Köpfe seines Jahrhunderts, ein bedeutender Theologe und Humanist mit gründlichen Kenntnissen der Kirchen- wie der Weltgeschichte, ein guter Kenner des Griechischen und geschult in der hebräischen Sprache. Im Jahr 1561 ging er nach Rom und lehrte dort Theologie. Vier Jahre später begab er sich nach Sizilien und unterrichtete dort für zwei Jahre. Im Jahr 1569 kam er nach Paris, wo er fünf Jahre lang Thomas von Aquin auslegte. Seine Gesundheit zwang ihn, damit aufzuhören und sich auf leichtere Studien zu verlegen. Von Paris kehrte er 1574 nach Spanien zurück und verbrachte den Rest seines Lebens in Toledo. Dort starb er am 17. Februar 1624 im Alter von 87 Jahren. Die Inquisition nahm seine Dienste in mehreren wichtigen Angelegenheiten in Anspruch; er seinerseits brauchte aber Geduld und Mut, um harte Schicksalsschläge mit Standhaftigkeit zu ertragen.a Ganz Einzigartiges berichtet man von seiner Keuschheit. Er veröffentlichte mehrere Bücher,b unter anderem eine Geschichte Spaniens, die viele für ein Meisterstück halten. Er ließ ein Werk von Lucas Tudensisc über das künftige Leben und gegen die Albigenser drucken. Seine Abhandlung über die Veränderung des Münzwertes brachte ihn am spanischen Hof in Schwierigkeiten und trug ihm eine Strafe ein, über die Herr Varillas schlecht berichtet. Man hätte jedoch mehr Grund gehabt, sich über das Thema eines anderen Buches zu beunruhigen, das in Spanien und Italien keinen Anstoß erweckte, aber in Paris wegen der darin enthaltenen gefährlichen a b c

Entnommen aus Natanael Sotuel, Biblioth. scriptor. societat., S. 477. Man sehe die Titel bei Moréri. So heißt er und nicht Tridentis, wie Alegambe und Sotuel meinen.

Mariana

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Lehre auf Beschluß des Parlamentes verbrannt wurde. Es gibt nichts Aufrührerischeres und nichts, was besser geeignet wäre, die Königreiche häufigen Revolutionen und selbst das Leben der Fürsten den Dolchen von Attentätern auszusetzen als dieses Buch von Juan Mariana (G). Es hat die Jesuiten, besonders in Frankreich, tausend bissigen Vorwürfen (H) und äußerst beleidigenden Beschimpfungen ausgesetzt, die man tagtäglich wiederholt und die niemals enden werden, welche die Historiker leidenschaftlich voneinander abschreiben und die um so plausibler erscheinen, als dieses Buch mit schönen Approbationen versehen gedruckt wurde. Man hat gesagt, daß Ravaillac seinen abscheulichen Plan zu einem Anschlag auf das Leben Heinrichs IV. daraus geschöpft und dies bei seinem Verhör auch zugegeben habe. Dieser Tatsache wurde öffentlich widersprochen. Eine andere Abhandlung eben dieses Jesuiten hat viel Aufsehen erregt, nämlich die, in der er die Mängel in der Leitung seiner Ordensgemeinschaft anmerkt. Aber seine Glaubensbrüder geben nicht zu, daß er der Verfasser einer derartigen Schrift ist. Seine Scholien über die Schrift haben die Billigung von Père Simon gefunden. Ich habe vergessen anzumerken, daß das Schlechte, was er über König Heinrich III. gesagt hat, zum Teil die Ursache für die Pariser Verdammung seines Werks über die Erziehung eines Prinzen gewesen ist. Ich bezweifle, daß er das Buch De republica christiana verfaßt hat, das ein deutscher Schriftsteller sehr lobt.

(G) Es gibt nichts Aufrührerischeres (---) als dieses Buch von Mariana. Sein Titel lautet De rege et regis institutione, und es wurde 1598 in Toledo mit dem Privileg des Königs und den üblichen Approbationen gedruckt. Der Autor, der sich vorgenommen hat, im sechsten Kapitel von Buch I zu untersuchen, ob es erlaubt ist, sich eines Tyrannens zu entledigen, eröffnet sein Thema mit dem Bericht vom tragischen Ende Heinrichs III. Er bewundert den Mut von Jaques Clement und sagt, daß es verschiedene

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Meinungen über die Tat dieses jungen Mönchs gab. Die einen lobten sie und hielten sie der Unsterblichkeit für würdig; die anderen tadelten sie, weil sie überzeugt waren, daß es niemals einem einfachen Privatmann erlaubt sei, einen Fürsten zu töten, der vom Volk zum König ausgerufen und der Gepflogenheit gemäß mit heiligem Öl gesalbt war, auch wenn dieser Fürst ein Frevler und Tyrann geworden wäre. (…).39 Es ist klar ersichtlich, daß Mariana auf der Seite derjenigen steht, welche die Tat von Jaques Clement billigen, denn er verwirft den Grundsatz, mit dem kluge und gebildete Leute sie verurteilten. Außerdem läßt er es sich angelegen sein, den Mut und die furchtlose Entschlossenheit dieses Mörders herauszustellen, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, das darauf abzielte, ihn dem Leser verhaßt zu machen. Diese Beobachtung deckt in bewundernswerter Weise das ganze Gift in der Lehre dieses Jesuiten auf, denn es steht fest, daß er nur deshalb mit dem Beispiel Heinrichs III. beginnt, um von der These zur Hypothese herabzusteigen und den Leuten einen ungewöhnlichen Fall von Tyrannei zu zeigen, damit sie jedesmal, wenn sie sich in einer ähnlichen Lage befinden, glauben sollen, es lägen Umstände vor, in denen es erlaubt sei, den Dolch gegen ihren König zu zücken. Wenn es jedoch erst einmal erlaubt ist, so weit zu gehen, wenn man unter einem Fürsten lebt, wie es Heinrich III. war, dann weiß ich nicht, welcher Monarch nicht befürchten müßte, getötet oder entthront zu werden; denn man wird bald einen Vergleich zwischen dem Guten und dem Üblen zweier Zustände anstellen. Wenn die Regierung nicht dieselben Mängel aufweist wie unter Heinrich III., wird man sich mit der Feststellung zufriedengeben, daß sie ihnen, alles zusammen genommen, sehr nahe kommen und daraus ableiten, daß man sich in der Lage befindet, die der Jesuit angegeben hat. Wie dem auch sei, wir wollen mit der Darlegung seiner Lehre fortfahren. Mariana führt die Gründe derjenigen an, die Jaques Clement getadelt haben, d. h. ihm zufolge die Gründe derjenigen, 39

Mariana, De rege et regis institutione, Buch I, Kap. 6, S. 54 meiner Ausgabe.

Mariana

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die geduldige Unterwerfung unter das tyrannische Joch eines legitimen Souveräns predigen. Bevor er darauf antwortet,40 berichtet er die Argumente der entgegenstehenden Partei, die sich auf folgendes fundamentale Prinzip stützen, daß nämlich die Gewalt des Volkes über der Gewalt der Könige stehe.41 Das ist seine Hauptthese, auf deren Beweis er zwei ganze Kapitel42 verwendet. Nachdem er die beiderseitigen Gründe angeführt hat, sagt er: 1) daß der Ansicht der Theologen und Philosophen zufolge ein Fürst, der mit roher Gewalt und ohne öffentliche Zustimmung des Volkes die Herrschaft an sich gerissen hat, ein Mensch sei, den zu töten jede Privatperson das Recht habe. (…).43 2) daß man sich eines Fürsten, der legitim gewählt oder legitimer Nachfolger seiner Vorfahren ist, auf die sicherste Art entledigen muß, wenn er ohne Rücksicht auf die Vorhaltungen des Volkes die Religion und die öffentlichen Gesetze umstürzt. 3) daß es das kürzeste und sicherste Verfahren ist, sich seiner zu entledigen, wenn man die Ständeversammlung einberuft, ihn in dieser Versammlung absetzt und beschließt, die Waffen gegen ihn zu erheben, falls das zur Beseitigung der Tyrannei erforderlich sein sollte. 4) daß man einen solchen Fürsten umbringen darf und daß jeder Privatmann, der Mut genug hat, seine Tötung zu unternehmen, das Recht hat, dies zu tun.44 5) daß, wenn man keine Ständeversammlung abhalten kann und es trotzdem so scheint, daß es der Volkswille sei, daß man sich des Tyrannen entledige, jeder Privatmann diesen Fürsten legitimerweise töten darf, um den Wünschen des Volkes zu genügen (…).45 6) daß das Urteil einer oder mehrerer Privatpersonen nicht ausreicht, sondern daß man sich nach der Stimme des Volkes richten und auch ernsthafte und gelehrte Männer um Rat fragen muß.46

40 41 42 43 44 45 46

Er widerlegt sie am Ende von Kap. 6. (…). Mariana, De rege et regis institutione, Buch I, Kap. 6, S. 57. Das achte und neunte von Buch I. Mariana, De rege et regis institutione, S. 58. (…). Ders., a. a. O., S. 60. Ders., ebd. (…). Ders., ebd.

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7) daß zwar viel Mut dazu gehört, sich offen gegen den Tyrannen zu stellen, daß aber nicht weniger Klugheit dazu gehört, ihn heimlich anzugreifen und ihn in den Netzen umkommen zu lassen, die man ihm legt. (…).47 Mariana will also, daß man den Tyrannen entweder in seinem Palast mit bewaffneter Hand angreife oder daß man einen heimlichen Anschlag gegen ihn schmiede; er will, daß offener Krieg, Hinterlist, Betrügereien und Verrat gleichermaßen erlaubt seien; und wenn die Verschwörer, so fügt er hinzu, bei ihrer Unternehmung nicht umkommen, dann müssen sie ihr Leben lang als Helden verehrt werden; kommen sie dabei aber um, dann sind sie Opfer, die vor Gott und den Menschen Gefallen finden und denen für ihre Taten unsterbliche Lobgesänge gebühren. (…).48 8) Obwohl kein Unterschied zu bestehen scheint zwischen einem Mörder, der mit einem Dolchstich tötet, und einem Menschen, der Gift verwendet, billigt Mariana dennoch nicht, daß man sich eines Tyrannen durch Beimischung von Gift in die Speisen entledigt, weil das Christentum die athenischen Gesetze abgeschafft hat, die den Schuldigen das Trinken eines giftigen Getränks befahlen; er verlangt, daß man in dem Falle, daß man auf Gift zurückgreift, es mittels der Kleidung oder eines Pferdesattels zur Anwendung bringt. (…).49 Da haben wir das Lehrsystem dieses Jesuiten. Der letzte Punkt ist ganz ungereimt. Hier liegt eine lächerliche Unterscheidung vor, denn ein Mensch, der unwissentlich in der Überzeugung Gift schluckt, es handele sich dabei um gute Nahrung, begeht dadurch keineswegs das Verbrechen des Selbstmordes; und dennoch wollte Mariana dem Tyrannen ein so großes Verbrechen ersparen und verbot daher, ihn Gift trinken oder essen zu lassen.50 Wenn es darüber hinaus wahr wäre, daß man durch das unwissentliche Schlucken von Gift Selbstmord beginge, so täte man es auch, wenn man ein vergiftetes Hemd anzieht; gleich47 48 49 50

Ders., Kap. 7, S. 65. Ders., a. a. O., S. 64. Ders., a. a. O., S. 67. (…). A. a. O., S. 66.

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wohl trägt Mariana keine Skrupel, dem Vergiften von Kleidern, Sätteln oder anderen Gegenständen zuzustimmen, die von außen nach innen wirken. Ich sage also, daß der achte Punkt dieses Jesuiten eines Menschen von Verstand sehr unwürdig ist, und ich bin überrascht, daß ein Autor, der über soviel gesunde Vernunft und Einsicht verfügte, ein derart kindisches Argument vorträgt. Von diesem Punkt abgesehen sind viele Leute davon überzeugt, daß sein Lehrsystem eine schöne Ordnung aufweist, daß die einzelnen Teile darin gut miteinander verknüpft sind und daß man zwanglos von einer Folgerung zur nächsten gelangt. Man setze einmal voraus, sagen sie, daß der Monarch das Volk als seinen obersten Richter anerkennt und ihm hinsichtlich seines Verhaltens rechenschaftspflichtig ist, so folgt alles übrige von selbst. So sehen wir denn auch, daß der Autor, der Mariana widerlegte, ein völlig entgegengesetztes Prinzip zugrunde legt, nämlich, »daß die souveränen Fürsten nur von Gott abhängen, dem es allein zukommt, sie zur Rechenschaft zu ziehen.«51 Ich lasse mich nicht auf die Diskussion dieser Lehre ein; ich will lediglich bemerken, daß, weil Marianas Lehren für das öffentliche Wohl sehr schädlich sind, es besser gewesen wäre, wenn er inkonsequent räsoniert hätte, als im Stile eines guten Dialektikers den Konsequenzen seines Prinzips nachzugehen. Man sehe oben die Anmerkung (S) des Artikels über LOYOLA.*

(H) (---). Es setzte die Jesuiten (---) tausend bissigen Vorwürfen aus. Anläßlich dieser Lehren von Mariana und nach dem schrecklichen Attentat von Ravaillac gingen die Katholiken und die Protestanten um die Wette auf die Jesuiten los, denn man meinte, daß die Lektüre von Mariana jenem grausamen Mörder den ruchlosen Plan eingegeben habe, Heinrich IV. mit dem Dolch zu ermorden. Das ist der Grund, weshalb Père Coton einen Brief 51 *

Roussel, Anti-Mariana, in Kap. 17.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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veröffentlichen ließ, den er an Maria von Medici, die Witwe dieses Fürsten, geschrieben hatte und in dem er einige berühmte Jesuiten anführte, die das Gegenteil von dem lehrten, was Mariana behauptet hatte. Er tat noch mehr, denn er versicherte, daß das Buch dieses spanischen Jesuiten im Jahr 1606 auf einer ihrer Versammlungen verurteilt worden war. (…).52 In einem anderen Buch kommt Père Coton auf den Vorwurf zurück. »Die Häretiker (---) von Frankreich«, sagt er,55 »wollen, daß Mariana Ravaillac zu seinem unglückseligen und abscheulichen Anschlag angestiftet habe, als ob dieser ihn ganz auswendig gekannt hätte. Darauf muß man hundert- und aberhundertmal bei Verlust von Ehre und Leben antworten, daß Ravaillac den Namen von Mariana nicht gesehen, nicht gelesen, ja nicht einmal gehört hat. (…). Ich will hinzufügen, daß, auch wenn Ravaillac ihn gelesen hätte, es dennoch ganz falsch ist, daß Mariana den Totschlag und den Königsmord lehrt, den dieser Unglückliche begangen hat. Davon will dieser Verleumder jedoch an dieser Stelle und überall sonst in seinem Pamphlet überzeugen, so daß es auf gewisse Weise zu wünschen wäre, daß Ravaillac Mariana – vorausgesetzt, er hätte ihn richtig verstanden – gelesen hätte, denn Mariana lehrt deutlich und ausdrücklich (wie Gretser zeigt), daß ein legitimer Fürst nicht von einem Privatmann aufgrund eigener Autorität getötet werden darf.« Père Coton täuscht sich: Das Buch von Mariana war sehr geeignet, das Unternehmen der Ermordung Heinrichs IV. einzugeben, denn man konnte darin lesen, daß die Tat von Jaques Clement gut war und daß, wenn die Stimme des Volkes und der Rat einiger gelehrter Personen darin übereinstimmten, daß der Fürst die Religion unterdrücke, eine Privatperson ihn töten darf. Wenn man diese zwei Dinge zusammennimmt, konnte man daraus die Rechtmäßigkeit der Ermordung Heinrichs IV. folgern. Denn wenn der erzkatholische Heinrich III. ein Unterdrücker des Katholizismus war, weil er für die Rechte eines häretischen Fürsten arbeitete, der sein Nachfolger werden sollte, dann kann man 52 55

Coton, Lettre déclaratoire de la doctrine des Jésuites, S. 8 f., 13. Réponse apologétique à l’Anti-Coton, S. 34.

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ganz allgemein schließen, daß jeder Fürst, der den Häretikern wohlgesonnen ist, die Religion unterdrücken will. Wenn es nun erlaubt ist, einen Unterdrücker der Religion zu töten, dann ist es fraglos auch erlaubt, sich jemandes zu entledigen, der die Religion unterdrücken will, sobald er es kann; denn die Klugheit gestattet nicht, das Übel solange wachsen zu lassen, bis es schwierig wird, ihm mit einem Gegenmittel zu begegnen: man muß ihm zuvorkommen und es bekämpfen, solange es noch schwach ist. Darüber hinaus versteht man unter der Stimme des Volkes nicht das Urteil von allen Privatpersonen; es genügt, daß es in jeder Stadt einige Leute gibt, die bei bestimmten Dingen gleicher Ansicht sind. Nun war das Königreich zweifellos voller Leute, die Heinrich IV. im Verdacht hatten, daß er die reformierte Religion triumphieren lassen wollte, sobald er es vermöchte, und den Krieg gegen das Haus Österreich nur aus diesem Gesichtspunkt heraus zu führen. So konnte Ravaillac, wenn er gemäß den Prinzipien von Mariana räsonierte und damit der Gewohnheit entsprechend einen Sinn von ›Akkommodation‹ verknüpfte, sehr wohl glauben, daß er nicht weniger recht hätte als Jaques Clement hatte. Es fanden sich mehr als genug gelehrte und seiner Ansicht nach sehr kluge Leute, die ihn in seinem gefährlichen Vorhaben bestärkten, und zwar zum Wohle der Religion. Man sehe in Anmerkung (K) seine Antwort auf diejenigen, die ihn fragten, warum er diesen Mord begangen habe, und man erinnere sich daran, daß er vor den Richtern erklärte, daß der »Wunsch, den König zu töten«, ihm gekommen sei, »weil« dieser Fürst »die Angehörigen der angeblich reformierten Religion nicht (wie er es gekonnt hätte) zur katholischen, apostolischen und römischen Kirche zurückführen wollte«56 und weil »er gehört hatte«, daß der König »Krieg gegen den Papst führen und den heiligen Stuhl nach Paris verlegen wollte,57 denn Krieg gegen den Papst zu führen«, sagte er,58 56

Mercure françois, Bd. I, Blatt 440. Man sehe auch Blatt 442, Rück-

seite. 57 58

A. a. O., Blatt 442, Rückseite. A. a. O., Blatt 443.

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»heißt Krieg gegen Gott zu führen, insofern der Papst Gott und Gott der Papst ist.« Ein katholischer Schriftsteller, der das Erklärungsschreiben von Père Coton durch ein Buch mit dem Titel L’Anti-Coton59 widerlegt, lehrt mich Dinge, die hier ihren Platz haben. »Dieses Buch von Mariana«, sagt er,60 »das zuerst in Toledo erschienen ist, wurde vor acht Jahren nach Frankreich gebracht und dem König überreicht. Die aufrührerischen Sätze dieses Buches wurden seiner Majestät vorgetragen. Der König ließ daraufhin Père Coton zu sich rufen und fragte ihn, ob er diese Lehre billige. Der besagte Jesuit aber, der sein Fähnlein nach dem Wind hängte und sich den Zeiten anzupassen wußte, sagte, daß er sie nicht billige. Auf diese Antwort hin befahl seine Majestät Coton auf Anraten von Herrn Servin, seinem Generalsachwalter, dagegen zu schreiben. Der aber entschuldigte sich, weil er genau wußte, daß er nicht dagegen Stellung beziehen konnte, ohne sich in Gegensatz zum Ordensgeneral und dem Provinzial von Toledo sowie einer Gruppe von Jesuiten zu bringen, die dieses Buch gebilligt hatten. Und jetzt, wo er sieht, daß die Jesuiten aufgrund des Todes des Königs allgemein gehaßt werden und er sich von dem Parlamentshof sowie der Sorbonne gedrängt sieht, hat er ein Erklärungsschreiben verfaßt, in dem er Mariana zwar offensichtlich verurteilt, aber mit so sanften und zweifelhaften Worten, daß man genau sieht, daß er Angst hat, ihn zu beleidigen und lediglich sagt, es handele sich um ›die Unbedachtheit einer übereilten Feder‹, anstatt daß er den Mann der Häresie, des treulosen Verrats und der Barbarei sowie die Lehre der Gottlosigkeit und Feindschaft gegen Gott und die Menschen beschuldigte. Und selbst wenn er Mariana getadelt hätte, wie es nötig gewesen wäre, so wäre das doch, wie der Abbé du Bois sagt, wie der Besuch des Arztes nach dem Tod. Er hätte damals schreiben müssen, als der König es ihm befahl, und die Meinung, die den König wenige Jahre später das Leben ko59

Man hat dieses Werk irrtümlich dem Prediger Pierre Moulin zugesprochen. 60 Anti-Coton, gedruckt im Jahr 1610, S. 12 f.

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stete, nicht in den Gemütern der Leute Wurzeln schlagen lassen dürfen.« Père Coton fand acht Lügen in diesem Bericht. Man sehe seine Verteidigung in der Antwort auf den Anti-Coton.61 Übrigens sind die Jesuiten Frankreichs nicht die einzigen gewesen, denen man wegen ihres Mitbruders Mariana zugesetzt hat. Die deutschen Jesuiten haben auch ihren Teil abbekommen, wie aus der Schutzschrift hervorgeht, die Jakob Gretser notgedrungen veröffentlichte.62 Wir wollen folgende Passage aus Conring hinzufügen: »Es erschien ein anderes kleines Buch von Mariana mit dem Titel De institutione regis, das viele bemerkenswerte Dinge enthält. In ihm spricht er ganz freimütig darüber, wie Könige zu erziehen sind. Er trägt keine Bedenken, offen zu lehren, daß es, wenn ein König mit dem Kirchenbann belegt oder exkommuniziert ist oder sich von der römischen Kirche auch nur geringfügig abgewendet hat, erlaubt ist, ihn mit dem Schwert zu töten und natürlich mit Feuer und Schwert gegen ihn vorzugehen. Und dennoch wollte er dadurch fromm erscheinen, daß er sagte, man dürfe den König fürwahr nicht mit Gift töten. Dieses Buch ist aber wegen einer derart schrecklichen Lehre in Paris verbrannt worden, und die Jesuiten wurden gezwungen, sich öffentlich von ihm zu distanzieren. Mariana zögerte nicht, den Mörder von Heinrich IV., König von Frankreich, zu den Heiligen zu zählen.«63 Ich glaube, daß Conring sich zweimal täuscht: Mariana behauptet keineswegs, es sei erlaubt, einen Fürsten zu töten, der sich auch nur im geringsten von der katholischen Kirche entfernt oder der schlicht exkommuniziert ist; und weil sein Buch mehr als zehn Jahre vor dem Tod von Heinrich IV. erschienen ist, konnte er Ravaillac gar nicht erwähnen. Wenn er in anderen Büchern von diesem Ungeheuer wie von einem Heiligen gesprochen hätte, dann würde man das den Jesuiten seit 61

S. 37 meiner Ausgabe. Man sehe auch die Réponse d’Eudaemon Joannes à l’Anti-Coton, S. 54. 62 Man sehe sein Vespertilio haeretico-politicus. Père Coton spricht davon in seinem Lettre déclaratoire, S. 7 und in seiner Réponse apologétique, S. 33. 63 Hermann Conring, De regno hispan., bei Pope Blount, Censura autorum, S. 614.

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dem Druck dieser anderen Bücher gewiß jedesmal vorgeworfen haben, wenn man ihnen die aufrührerischen Maximen von Mariana vorhielt. Mir scheint aber nicht, daß dies jemals geschehen wäre. Man hat stets einen großen Unterschied zwischen Ravaillac und Jaques Clement gemacht. Dieser hat öffentlichen Beifall und sogar Lobreden erhalten, jener meines Wissens nichts dergleichen. Der Grund dafür ist leicht zu begreifen: Heinrich III. war exkommuniziert, als er ermordet wurde, Heinrich IV. hingegen war längst mit dem Papst versöhnt. Wir wollen die Gelegenheit ergreifen und anmerken, daß man Herrn von Seckendorf kritisieren könnte. Er behauptet, die Lehre von Mariana bestehe darin, daß eine schlichte Privatperson, angestachelt entweder durch ihren Eifer oder durch die Befehle des Papstes, häretischen Königen nach dem Leben trachten dürfe. (…).64 Es steht aber fest, daß Mariana seine Auffassung in allgemeinen Worten darlegt und über nichts im besonderen spricht, weder über häretische Fürsten noch über Erlaubnisse oder Dispense des römischen Hofes; seine Maximen gelten für alle Nationen und alle Tyrannen. Mariana schließt von seinen Regeln nicht die Protestanten aus, die sich unter einer tyrannischen Herrschaft befinden; er schließt auch weder die Mohammedaner noch die Heiden aus, sondern behandelt diese Frage ganz so, wie Aristoteles es getan hätte. Und ich sehe nicht, was Milton und Leute seinesgleichen, deren Anzahl so groß ist, gegen die Lehren dieses Spaniers zu sagen wüßten; es sei denn, daß sie die Präambel verurteilten, deren sich Mariana zugunsten von Jaques Clement bediente. Aber diese Präambel ist nicht seine eigentliche Lehre; sie zeigt lediglich anhand der Konsequenzen die Anwendung auf, die der Autor von seinen Maximen machen will.65 64

Seckendorf, Hist. Lutheran., Buch III, S. 332, Nr. 68. 65 Man sehe das oben in Anm. (G) Gesagte und beachte, daß Jakob Gretser gezeigt hat, daß es viel gefährlichere Bücher gibt als das von Mariana. Man sehe auch das Buch mit dem Titel Recueil des pieces concernant la doctrine et practique romaine sur la déposition des rois et subversion de leurs estats qui s’ensuit, das in Genf 1627 erschienen ist, S. 251 f.

MELANCHTHON

melanchthon, Philipp, am 16. Februar 1497 in Bretten in der Rheinpfalz geboren, war einer der weisesten und geschicktesten Menschen seines Jahrhunderts. Er zeigte so viele Anzeichen von Begabung, daß man sich sehr früh um seine Bildung bemühte, und zwar sein Großvater mütterlicherseits weit mehr als sein Vater. Die ersten Studien absolvierte er in seiner Geburtsstadt, zunächst in der öffentlichen Schule, dann, als sich herausstellte, daß der Schulleiter eine Geschlechtskrankheit hatte, bei einem Hauslehrer.a Einige Zeit später schickte man ihn nach Pforzheim, wo es ein angesehenes Kolleg gab. Er wohnte bei einer Verwandten, die eine Schwester Reuchlins war. Das war der Grund, weshalb er bald mit diesem Gelehrten bekannt wurde, der ihn von Herzen liebgewann.b Nachdem er hier ungefähr zwei Jahre verbracht hatte, schickte man ihn im Jahr 1509c nach Heidelberg,d wo er so beträchtliche Fortschritte machte,e daß man ihn die Söhne eines Grafenf unterrichten ließ, obwohl er noch nicht vierzehn Jahre alt war. Man hat Grund, ihn unter die Wunderkinder zu rechnen. Aus Ärger darüber, daß ihm wegen seines jugendlichen Alters der Grad eines Magisters der Philosophie verweigert wurde und weil er fand, daß er das Heidelberger Klima nicht vertrug, verließ er im Jahr 1512 diese Universität und ging an die in Tübingen,g wo er sechs Jahre blieb.h Er besuchte die Vorlesungen von Professoren aller mög-

a b c d e f g h

Joach. Camerarius, Vita Melanchthonis, S. 5 meiner Ausgabe. Ders., a. a. O., S. 7 f. Ders., a. a. O., S. 10 f. Melch. Adam, Vitae theol. German., S. 328. Ders., a. a. O., S. 329. Es war der Graf von Leonstein. Melch. Adam, Vitae theol. Germ., S. 329. Ders., Vitae philosoph., S. 186.

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lichen Fächer, und er erklärte öffentlich Vergil, Terenz, Cicero und Titus Livius. Da er sehr fleißig war, fand er noch die Zeit, Reuchlin in seinem Streit mit den Mönchen zu unterstützen und eine Druckerei zu leiten.i Darüber hinaus gab er sich eifrig der Lektüre des Wortes Gottes hin. Im Jahr 1518 nahm er die Professur für griechische Sprache an der Universität Wittenberg an, die Kurfürst Friedrich von Sachsen ihm auf Empfehlung Reuchlins angeboten hatte.k Dort hielt er vier Tage nach seiner Ankunft eine so schöne Antrittsvorlesung, daß er nicht nur die Verachtung vergessen machte, die ihm aufgrund seiner jugendlichen Gestalt und Miene entgegenschlug, sondern auch Bewunderung erregte.l Die Vorlesungen, die er über Homer und über den griechischen Text des paulinischen Titusbriefes hielt, zogen eine Menge Hörer an und erweckten in ihnen den glühenden Wunsch, die griechische Sprache zu erlernen.m Einer der größten Dienste, den er den Wissenschaften erwies, lag darin, sie in ein System zu bringen;n das war damals schwierig, da man sie seit langem ganz ungeordnet gelehrt hatte. Bald ergab sich eine enge Verbindung zu Luther,o der an derselben Universität Theologie lehrte. Im Jahr 1519 gingen sie zusammen nach Leipzig, um mit Eck zu disputieren. Die Folgejahre brachten eine Menge Arbeit für Melanchthon: Er schrieb eine ganze Anzahl von Büchern und unternahm Reisen, um Kollegs zu gründen und Kirchen zu visitieren;p aber nichts war so mühselig wie die Aufgabe, die man ihm im Jahr 1530 übertrug, nämlich ein Glaubensbekenntnis aufzusetzen. Es ist dasjenige, das man ›Confessio Augustana‹ nennt, weil es dem Kaiser auf dem Reichstag von Augsburg vorgelegt wurde. Ganz Europa war überzeugt, daß er anders als Luther Kompromissen nicht abgeneigt war und vieles um des i k l m n o p

Ders., ebd. und Vit. theol., S. 330. Camerarius, Vita Melanchth., S. 24 f. Melch. Adam, Vitae theologorum, S. 330. Ders., ebd. Ders, a. a. O., S. 331. Camerarius, Vita Melanchth., S. 30 f. Im Jahr 1527.

Melanchthon

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Friedens willen geopfert hätte (E). Deshalb hielt Franz I. ihn für geeignet, die Religionsstreitigkeiten in seinem Königreich friedlich beizulegen, und bat ihn, nach Frankreich zu kommen. Der König von England wünschte ihn ebenfalls zu sehen,q aber keiner der beiden Monarchen bekam ihn je zu Gesicht. Da ich nur einige seiner wichtigsten Tätigkeiten erwähnen möchte, begnüge ich mich damit zu sagen, daß er 1541 bei den Regensburger Religionsgesprächen assistierte, auf denen die Streitigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten lebhaft ausgetragen wurden, und daß er 1543 den Erzbischof von Köln aufsuchte, um ihm bei der Einführung der Reformation in seiner Diözese behilflich zu sein, was allerdings zu nichts führte. Die Sache mit dem Interim beschäftigte ihn sehr. Im Jahr 1548 nahm er an sieben Religionsgesprächen hierzu teil und verfaßte alle Schriften, die dort vorgelegt wurden, sowie die Kritik an diesem Interim.r Als Kurfürst Moritz von Sachsen im Jahr 1552 Deputierte zum Konzil von Trient schicken mußte, war er einer von ihnen. In Nürnberg mußte er eine Zeitlang auf sicheres Geleit warten, aber wegen des bevorstehenden Kriegsausbruchs kehrte er nach Wittenberg zurück.s Sein letztes Religionsgespräch mit den Doktoren der römischen Kirche war das von Worms im Jahr 1557. Von allen Streitigkeiten, die ihm das Herz zerrissen, war keine heftiger als die von Flacius Illyricus ausgelöste. Er starb in Wittenberg am 19. April 1560, am 63. Tag seines 64. Lebensjahres,t und wurde zwei Tage darauf neben Luther in der Schloßkirche beigesetzt. Seine Leichenpredigt hielt Winsheim, der Doktor der Medizin und Professor für griechische Sprache. Die Beweise seiner Frömmigkeit am Ende seiner Tage waren bewundernswert,v und es ist festzuhalten, daß eines der Dinge, die ihn den Tod als Glück empfinden ließen, die Befreiung von q

Melch. Adam, Vitae theologorum, S. 336. Ders., a. a. O., S. 343. s Ders., a. a. O., S. 343, 346. t »Er überschritt sein klimakterisches  63.  Lebensjahr um 63 Tage.«  De Thou:  Buch XXVI, gegen Ende, S. 538 meiner Ausgabe. (…). v Man sehe Melchior Adam, Vitae philosophor., S. 202. r

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theologischen Verfolgungen war (G). Im Jahr 1520 heiratete er die Tochter eines Bürgermeisters in Wittenberg, die 1557 starb.x Von ihr hatte er zwei Söhne und zwei Töchter. Da man in einem Werk, das leichter zugänglich ist als dieses Dictionnairey, die Schilderung seiner guten moralischen Eigenschaften finden kann, will ich nicht von ihnen sprechen, sondern nur sagen, daß er bereitwillig den Vorzeichen, der Astrologiez und den Träumen glaubte.aa Über die Neigung zum Pyrrhonismus, die man ihm vorwirft, werde ich einige Betrachtungen anstellen (I). Zu Unrecht haben ihn einige beschuldigt, die peripatetische Philosophie zu hassen (K). Weitaus begründeter ist die Behauptung, er habe nicht an die Realpräsenz und an die Unwiderstehlichkeit der Gnade geglaubt.bb Der Feuillantinermönch Saint Romuald versichert, daß man seinen Leichnam in München verbrannt habe; ich halte das für ein plumpes Märchen. Herr Varillas hat so seltsame Lügen verbreitet, daß sie mit Recht die Mühe einer Widerlegung nicht lohnen. Die schweren Verleumdungen, die Melanchthon zu Lebzeiten erfuhr, verfolgten ihn auch nach seinem Tod.cc Es ist erstaunlich, daß er inmitten so vieler anderer Geschäfte so viele Bücher schreiben konnte; ihre Zahl grenzt an ein Wunder. Ein chronologisches Verzeichnis derselben erschien im Jahr 1582.dd Da er sah, daß seine Werke, obwohl er nicht die letzte Hand an sie gelegt, sondern sie sogar in noch ziemlich unvollkommenem Zustand veröffentlicht hatte, nichtsdestoweniger der Jugend nützten, wollte er lieber viele davon

x

Ders., a. a. O., S. 190. In Teissiers Additions aux éloges tirez de Mr. de Thou, Bd. I, S. 187 der Ausgabe von 1696. z Man sehe die Belege hierfür in der Histoire des variations de Monsr. de Meaux, Buch V, Nr. 14. aa Man sehe Melch. Adam in seiner Vita, passim. bb Man sehe den Artikel SYNERGISTEN. cc Man sehe Melch. Adam. in Vitae theolog., S. 357 f. und Bucholcher, Ind. chron., ad annum 1560, S. 600 meiner Ausgabe. dd Der Verfasser dieses Verzeichnisses ist Mat. Mylius. Man sehe Melchior Adam, Vitae theol., S. 347. y

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drucken als nur einige wenige vervollkommnen.ee Das hieß, den Nutzen des Nächsten dem eigenen Ruhm vorzuziehen. Man glaubt auch gern, daß die glückliche Veranlagung, die ihm die Natur geschenkt hatte, ihn darauf bauen ließ, daß seine Werke auch ohne die Unterstützung durch die Feile geschätzt werden würden.ff Seine lateinischen Verse fanden Gefallen bei dem hyperkritischen Julius Caesar Scaliger.gg Gelegentlich hat er einen falschen Namen auf das Titelblatt seiner Bücher gesetzt. Kardinal Bembo hat drei Fragen gestellt, die es verdienen, hier wiedergegeben zu werden (P).

(E) Er hätte vieles um des Friedens willen geopfert. Das zeigt sich vor allem in seiner Schrift über die indifferenten Dinge, die von der Partei des Illyricus so übel aufgenommen wurde. »Philipp hatte geraten, über indifferente Dinge nicht verbissen zu streiten, sofern jenen Riten und Zeremonien keinerlei Götzendienst anhaftete, und eine gewisse Unfreiheit zu ertragen, sofern sie frei von Gottlosigkeit war.«25 Illyricus rief im Gegenteil dazu auf, lieber alle Kirchen zu verlassen und mit einem Aufstand zu drohen, als ein Chorhemd hinzunehmen. (…).26 Es hat Römisch-Katholische gegeben, die vom gleichen Geist beseelt waren, wenn man dem Verfasser eines anonymen Briefes glauben darf, den Jurieu veröffentlicht hat. »Ich habe mich, soweit es mir möglich war«, sagt er,27 »danach erkundigt, ob man einen Protestanten in die römische Gemeinschaft auf der Grundlage der Erklärung ihrer Lehre durch den Bischof von Meaux aufnehmen würde, so wie man es bei der Unterweisung ee

Man sehe Melchior Adam, a. a. O., S. 361. Man sehe Erasmus, Ciceronianus. Jul. Caesar Scaliger, Poet., Buch VI, S. 736 meiner Ausgabe. 25 Melch. Adam, Vitae philosophor., S. 195. 26 Ders., a. a. O., S. 196. 27 Man sehe die Suite du Préservatif contre le changement de religion, S. 173 der Ausgabe La Haye 1683. ff gg

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derjenigen macht, die mit der Zeit gehen wollen. Es gibt niemand, der das nicht ablehnt, und einer hat sogar geantwortet, daß man keine Abschwörung unterschreiben lasse, die nicht den ganzen Kram enthielte – das sind seine eigenen Worte. Das erinnert mich an einen Jesuiten, der gesagt hat, sie würden nicht eine einzige Kerze löschen, selbst wenn sie damit alle Hugenotten bekehren könnten.« Was Melanchthon zu seiner Mutter sagte, zeigt ganz deutlich, daß er die Religionsstreitigkeiten haßte und daß er nur durch den Zwang der Rolle in sie hineingeraten war, die er in der Welt spielen mußte. Als er im Jahr 1529 zu Religionsgesprächen nach Speyer gekommen war, machte er einen Abstecher nach Bretten, um seine Mutter zu besuchen. Die gute Frau fragte ihn, was sie angesichts all dieser Streitigkeiten glauben müsse, und trug ihm die Gebete vor, die zu sprechen sie sich angewöhnt hatte und die nichts Abergläubisches enthielten. »Fahre fort«, sagte er, »zu glauben und zu beten, wie du es bisher getan hast, und laß dich nicht von den Konflikten und Kontroversen beunruhigen.« (…).28 Offenkundig wird damit ein böses Märchen widerlegt, das Florimond de Remond erzählt. »Man schreibt«, sagt er,29 daß »im Jahr 1560, als Melanchthon kurz davor war, seine Seele auszuhauchen, seine hochbetagte Mutter ihn so angeredet habe:‡ ›Mein Sohn, Du siehst mich im Begriff, diese Welt zu verlassen, um dem großen Richter Rechenschaft über Dein Tun zu geben. Du weißt, ich war Katholikin, Du hast mich veranlaßt, die Religion zu wechseln, um eine andere anzunehmen, die von der meiner Väter verschieden ist. Aber ich beschwöre Dich beim lebendigen Gott, sage mir jetzt aufrichtig, welche die bessere ist.‹ ›Ach!‹ sagte Melanchthon, ›die neue Lehre ist einleuchtender, aber die andere ist verläßlicher und gewisser.‹ Und er drehte sich um und sagte ganz laut: ›Haec plausibilior, 28

Melch. Adam, Vitae theologorum, S. 333. Florimond de Remond, Hist. de la naissance et progrès de l’hérésie, Buch II, Kap. 9, S. 186 f. meiner Ausgabe. ‡ Man sehe Morus, De miss., Buch II und François Montagnes, La verité defendue. 29

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illa securior‹  Diese ist einleuchtender, jene gewisser .« Es ist falsch, daß Melanchthon seine Mutter dazu gebracht habe, die Religion zu wechseln, und es steht fest, daß diese Frau mehr als dreißig Jahre vor ihrem Sohn gestorben ist.

(G) Er sagte (---), daß der Tod ihn von den theologischen Verfolgungen befreien würde. Einige Tage vor seinem Tod schrieb er die Gründe, warum er es nicht bedauern müsse, die Erde zu verlassen, in zwei Kolumnen auf ein Stück Papier. Die eine Kolumne enthielt die Vorteile, die der Tod ihm bringen, die andere die Übel, von denen der Tod ihn befreien würde.50 In letztere schrieb er nur zwei Dinge: 1) daß er nicht mehr sündigen würde; 2) daß er keinen Ärger mehr haben und nicht mehr der Wut der Theologen ausgesetzt sein würde.51 Die andere Kolumne enthielt sechs Punkte: Er würde 1) zum Licht gelangen; 2) Gott sehen; 3) Gottes Sohn schauen; 4) wunderbare Geheimnisse begreifen, die er in diesem Leben nicht habe begreifen können; 5) z. B. warum wir so geschaffen sind, wie wir sind und 6) wie die Vereinigung der beiden Naturen in Jesus Christus beschaffen ist.52 Man beachte, daß der Zustand des Menschen diesem großen Theologen als eines der unbegreiflichsten Geheimnisse der Religion erschien, und doch gibt es unter denen, die glauben, ohne zu prüfen, niemand, der sich einbildete, daß hier irgendwelche Schwierigkeiten lägen. Daher kam es, daß man so überrascht war, aus meinem Dictionnaire zu erfahren, daß die Anhänger des Manichäismus Einwände erheben können, die uns in Verlegenheit bringen. Aber wir wollen bei unserem Text bleiben und feststellen, daß die Natur, die Melanchthon ein friedliebendes Temperament gegeben hatte, ihm damit ein Geschenk machte, das schlecht zu den Lebensumständen paßte, in denen er sich befinden sollte. Sein 50 51 52

Melch. Adam, Vitae philosophorum, S. 202. (…). Ders., ebd. Ders., ebd.

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moderates Wesen mußte sein Kreuz werden. Er fand sich wie ein Schaf unter Wölfen. Niemand honorierte seine Sanftmut. Sie setzte ihn vielmehr Schmähungen aller Art aus und nahm ihm die Möglichkeit, den Toren gemäß ihrer Torheit zu antworten. Der einzige Vorteil, den sie ihm verschaffte, war, daß er dem Tod ohne Angst ins Auge schauen konnte, weil er ihn vor dem odium theologicum  dem Haß der Theologen  und der infidos agitans discordia fratres  dem Zwist, der falsche Brüder umtrieb  in Sicherheit bringen würde.53 Weiter unten54 werde ich von der Unfreiheit sprechen, in der er lebte. In einem seiner Werke hat er gesagt,‡ er habe vierzig Jahre lang seinen Beruf ausgeübt, ohne jemals sicher zu sein, daß man ihn nicht noch vor dem Wochenende entlassen würde. (…).55

(I) Ich werde einige Betrachtungen über die Neigung zum Pyrrhonismus anstellen, die man ihm vorwirft. »Er scheint in der Schule Pyrrhos aufgewachsen zu sein. Denn stets suchten ihn tausend Zweifel heim, aus Angst, sagte er, er könne sich täuschen. Seine Schriften waren ein ständiges Gewirr von Unentschiedenheit.«67 Der Autor, der sich so äußert, führt einige Belege an und wiederholt nur, was unzählige Schriftsteller gesagt haben. Man sehe zuletzt den Bischof von Meaux in seiner Histoire des variations. Ich glaube, daß man übertreibt, aber ich glaube auch, daß Melanchthon nicht frei von Zweifeln war und daß es viele Dinge gab, bei denen er nicht sagte »Das ist so und kann nicht anders sein«. Er hatte einen sanftmütigen und friedliebenden Charakter und besaß viel Geist, große Belesenheit und ungeheures Wissen. Das sind Charakterzüge und erworbene Eigenschaften, deren Zusammentreffen gewöhnlich 53 54 ‡ 55 67

Vergil, Georgica, Buch II, Vers 496. In Anm. (L).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Enarrat. evangel., Bd. I, S. 358. Melch. Adam, Vitae theol., S. 357. Florimond de Remond, Histoire de l’hérésie, Buch II, Kap. 9, S. 181.

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eine Quelle der Unentschiedenheit ist. Ein großer Geist, der sich auf großes Wissen stützen kann, findet das Unrecht kaum jemals nur auf einer Seite. Er entdeckt bei jeder Partei eine starke und eine schwache Seite, er sieht den bloßen Schein in den Einwänden seiner Gegner und den Mangel an Überzeugungskraft in seinen eigenen Beweisen, und das, sage ich, unter der Voraussetzung, daß er kein galliges Temperament besitzt, denn in diesem Fall ist er zugunsten seiner Partei derart voreingenommen, daß ihm sein Verstand nichts nützt. Dann redet er sich nicht nur ein, daß er recht hat, sondern entwickelt auch eine besondere Zärtlichkeit für seine Ansichten, die ihn dazu bringt, die entgegengesetzte Lehre leidenschaftlich zu hassen. Vom Haß auf Meinungen geht er bald zum Haß auf Personen über, er möchte triumphieren, er erregt sich und zermartert sich den Kopf, wie er die Oberhand gewinnen kann. Er zürnt denen, die ihm vorhalten, daß man im Dienst der himmlischen Wahrheit nicht zu den Finten der irdischen Politik greifen darf. Nicht weniger ärgert es ihn zu hören, daß die von ihm vertretenen Lehren keine Gewißheit und Evidenz besitzen und daß die Gegenseite gute Gründe anführen kann. Aufgrund dieses Temperaments untersucht er die Dinge nur, um immer fester überzeugt zu sein, daß seine Lehren wahr sind, und er findet unweigerlich viel Verläßlichkeit in seinen eigenen Argumenten, denn es gibt keinen so schmeichelnden Spiegel wie die Voreingenommenheit: das ist eine Schminke, die das häßlichste Gesicht verschönt. (…). Melanchthon, der kein derartiges Temperament besaß, konnte nicht so feste Meinungen haben; er blieb kühl, was seinem Verstand ermöglichte, das Pro und Contra abzuwägen, und da er den Frieden liebte und die Unruhen bedauerte, die das Schisma hervorgerufen hatte, war er um so geneigter, günstig über einige Lehren zu urteilen, welche die Hitzköpfe zum Anlaß des Bruchs nahmen und die man nach seinem Willen besser hingenommen hätte, um die Wiedervereinigung der Kirchen zu erleichtern. Seine Bescheidenheit und seine Erfahrung machten ihn ein wenig mißtrauisch. Er war überzeugt, daß seine Einsicht von Tag zu Tag wachsen könnte, denn er erinnerte sich, viele Dinge in seinen Schriften berichtigt zu haben. Bei der ersten

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Veröffentlichung hatte er sie für gut gehalten; die Zeit lehrte ihn jedoch, seine Zustimmung zurückzunehmen und eine schöne Stelle bei Terenz auf sich zu beziehen.69 Konnte er sagen, daß die Zeit ihn nicht noch weiter belehren würde? Das hinderte ihn, sich endgültig festzulegen. Er lebte unter Leuten, die ihm von Leidenschaften bewegt und brennend vor Eifer vorkamen, menschliche Vorgehensweisen und die Mittel der weltlichen Gewalt in kirchliche Angelegenheiten zu tragen. Sein feinfühliges Gewissen ließ ihn befürchten, daß darin etwas Verwerfliches lag.70 Warum hielt er zu dieser Partei, werdet ihr fragen, wenn er nicht ganz sicher war, daß sie die Sache Gottes vertrat? Wohin hätte er eurer Meinung nach gehen sollen? wird man euch antworten. Hätte er nicht in der römischen Kirche viel mehr Verdammenswürdiges gefunden, mehr Gewalt und mehr Gewissenszwang? Glaubt ihr, er hätte nicht alle Nachteile abgewogen, als er den Blick nach Palästina als seinen Zufluchtsort richtete, falls seine Feinde ihn verjagen sollten? »Ich lasse mich von dem grausamen Geschrei meiner Feinde nicht einschüchtern, die angekündigt haben, für mich würde kein Platz mehr in Deutschland sein. Ich vertraue mich Gottes Sohn an. Falls ich allein vertrieben werde, bin ich entschlossen, nach Palästina zu gehen und in jenem Versteck des Hieronymus Gottes Sohn anzurufen, klare Zeugnisse der Lehre niederzuschreiben und im Sterben meine Seele Gott zu empfehlen.«71 Man vergleiche hiermit Abaelards Plan, sich zu den Ungläubigen zurückzuziehen.72

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»Noch nie hat jemand sein Leben so genau geplant, daß die Dinge, die Zeit und die Praxis nicht ständig etwas Neues gebracht hätten, etwa daß er das, was er zu wissen glaubte, nicht wußte und daß er das, was er als das Wichtigste für sich erachtete, ablehnte, als es ihm geschah. So geht es mir jetzt.« Terenz, Adelph., Akt V, Szene 4 am Anfang. 70 Man ziehe die Passagen zu Rate, die Herr von Meaux, Histoire des variations, Buch II, Nr. 44; Buch IV, Nr. 2; Buch V, Nr. 33 zitiert. 71 Melanchthon bei Melchior Adam, Vitae theolog., S. 357. 72 Man sehe den Artikel ALCIAT, Jean Paul, Anm. (E).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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Vom Nutzen des Lasters und den gelegentlich üblen Folgen der Tugend Wir wollen hier ein besonderes Charakteristikum des menschlichen Schicksals bestaunen: Die Tugenden des Menschen können etwas üble Folgen nach sich ziehen, sie haben ihre Nachteile. Seine schlechten Eigenschaften hingegen haben mitunter gute Auswirkungen. Bescheidenheit, Mäßigung und friedliebende Gesinnung bilden bei den größten Gelehrten einen Grundstock der Billigkeit, der sie in gewisser Weise matt und unentschlossen macht. Stolz und Zorn führen bei einem großen Doktor zu so hartnäckigem Scharfsinn, daß er nicht den geringsten Zweifel verspürt und alles unternimmt und aushält, um seine Meinungen voranzubringen und durchzusetzen. Welche Dienste erweist er nicht der Wahrheit, wenn er mit Glück auf sie gestoßen ist! Zweifellos sind es größere, als wenn er ein eher der Vernunft höriges Temperament besäße. Die Bande der Voreingenommenheit oder, wenn man so will, der Druck der Leidenschaften lassen ihn stärker an der Wahrheit kleben als die Anziehungskraft des Lichts. Man beachte, daß ich die guten Auswirkungen der Gnade sowohl auf allzu phlegmatische als auch auf allzu cholerische Temperamente beiseite lasse; ich betrachte die Sache nur philosophisch. In dieser Perspektive läßt sich zutreffend sagen, daß in Bezug auf die Interessen einer Sekte ein starrsinniger und aufbrausender Mann einem weisen vorzuziehen ist, und wenn irgendein Sektengründer will, daß seine Schüler erfolgreich an der Ausbreitung und Verkündung seiner Lehren arbeiten, so muß er wünschen, daß sie ein Temperament besitzen, das nicht loslassen kann, so daß sie ihr ganzes Leben lang bei der Partei bleiben, die sie zuerst ergriffen haben. Und wenn sie sich für diese Partei entschieden haben, bevor sie imstande waren, die Gründe der einen und der anderen Seite gut gegeneinander abzuwägen, um so besser: Dann werden sie künftig um so weniger zweifeln, und je weniger Zweifel sie haben, desto hartnäckiger und leidenschaftlicher werden sie sein; wohingegen diejenigen, die von Tag zu Tag mehr Einsichten gewinnen wollen, sich nicht zu übergroßem Eifer verpflichtet fühlen, denn sie stellen sich

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vor, daß ihnen das, was ihnen heute wahr erscheint, ein anderes Mal weniger wahrscheinlich vorkommen wird als das, was sie heute nicht glauben. Cicero beschreibt sehr gut diese verschiedenen Charaktere, wenn er von den Skeptikern und den Dogmatikern spricht: »Unsere Disputationen«, sagt er,73 »verfolgen nur den Zweck, beide Seiten der Auseinandersetzung vorzutragen und anzuhören, um etwas hervorzulocken und sozusagen herauszupressen, das entweder wahr ist oder dem Wahren möglichst nahekommt. Von denen, die etwas zu wissen glauben, unterscheiden wir uns nur dadurch, daß jene grundsätzlich nicht an der Wahrheit ihrer Aussagen zweifeln, während wir viele Wahrscheinlichkeiten haben, die wir leicht zum Leitfaden nehmen, aber kaum behaupten können. Wir sind aber dadurch freier und unabhängiger, daß unser Urteil nicht gebunden ist und wir durch nichts gezwungen sind, irgendwelche Vorgaben oder gleichsam Auflagen zu verteidigen. Die anderen haben sich nämlich schon gebunden, bevor sie sich ein Urteil darüber bilden konnten, was das Beste ist. Schließlich haben sie in frühester Jugend einem Freund zuliebe oder unter dem Eindruck des erstbesten Vortrags, den sie zu hören bekamen, über Dinge geurteilt, die sie nicht begriffen hatten; und wie vom Sturm zu einer bestimmten Lehre verschlagen, klammern sie sich nun an diese wie an einen Felsen. Denn ihre Ausrede, sie glaubten vorbehaltlos dem, der nach ihrem Urteil weise ist, würde ich ja akzeptieren, wenn rohe und ungebildete Leute das beurteilen könnten. Doch zu bestimmen, was ›weise‹ heißt, kommt wohl in erster Linie dem Weisen zu, nachdem er alles angehört und auch die Meinungen der anderen zur Kenntnis genommen hat. Jene aber haben ihr Urteil nach einmaligem Vortrag der Sache gebildet und sich dann der Autorität eines einzigen Mannes unterworfen. Irgendwie wollen jedoch die meisten lieber irren und die Meinung, die ihnen lieb geworden ist, höchst streitsüchtig verteidigen, anstatt unverkrampft zu untersuchen, welche Aussagen am ehesten Bestand haben.«

73

Cicero, Academ. quaestiones, Buch II, Kap. 3.

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(K) Zu Unrecht haben ihn einige beschuldigt, die peripatetische Philosophie zu hassen. An anderer Stelle74 habe ich Père Rapin zitiert, der Melanchthon in sein Verzeichnis der modernen Häretiker aufgenommen hat, die Reden gegen Aristoteles und seine Philosophie gehalten haben. Diese Beschuldigung ist schlecht begründet, wie ich weiter unten75 zeigen werde. Um sie zu entkräften, könnte es genügen, hier zu zitieren, was Melanchthon 1535 an den Kanzler von Bayern geschrieben hat: »Ihr urteilt ganz richtig, daß es für den Staat von höchstem Interesse ist, daß Aristoteles erhalten bleibt, daß die Schulen seine Werke besitzen und daß die Schüler sie fleißig lesen. Denn ohne diesen Autor kann sich die reine Philosophie wahrlich nicht erhalten und wird es keine sachgerechte Methode des Lehrens und des Lernens geben.«76 Von allen Teilen der Philosophie war die Schullogik derjenige, der den Reformatoren am wenigsten gefiel, denn sie betrachteten ihn als Quelle eitler Spitzfindigkeiten, mit denen die Jugend viel Zeit vertrödelte und die die Theologie verdarben. Trotzdem hat sich Melanchthon für die Logik ausgesprochen. Sein Zeugnis wird von Caramuel in dessen Liste einiger protestantischer Doktoren angeführt, die das Studium dieses Teils der Philosophie empfehlen. »Philipp Melanchthon«, sagt er,77 »war ein Schüler Luthers, und obwohl sein Lehrer die Logik geringschätzig betrachtet hat, galt sie ihm sehr viel. In der Vorrede zu den Erotem. dialect. schrieb er u. a. dies: ›Ich ermahne und beschwöre diese Leute um des Ruhmes Gottes und des Heils der Kirche willen, die Dialektik nicht zu vernachlässigen und nicht dem dummen Geschwätz derjenigen Beifall zu zollen, die In Anm. (Y) des Artikels ARISTOTELES.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  75 Am Ende dieser Anmerkung. 76 Melanchthon, Epist. ad Leonhardum Eccium. Es ist der 116. Brief des ersten Buches, S. 165 meiner Ausgabe. 77 Jo. Caramuel, Theolog. rational., Bd. II, S. 42 der Folioausgabe Frankfurt 1654. 74

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sie tadeln und sagen, sie habe keinen Nutzen für die Kirche usw. Die Dialektik ist vielmehr nötig, nicht nur, damit die Lehre Leuchtkraft hat, sondern auch, damit sie das Band der Eintracht ist.‹« Der Jesuit Gretser, der sich gegen den Haß wandte, den Luther gegen die Philosophie des Aristoteles gezeigt hatte, hielt ihm Melanchthon entgegen und zitierte eine sehr lange Passage dieses Lutherschülers. »Wer«, sagt er,78 »kann uns diese Apologie liefern, wenn nicht der, auf den Luther große Stücke hielt und der die Beschimpfungen, die er früher gegen Aristoteles ausgestoßen hatte, später durch Lobsprüche tilgte? Es ist Melanchthon,‡ der in einer Rede über Aristoteles, die von einem gewissen Floccus in Nürnberg vorgetragen wurde, die aristotelische Logik gegen Luthers Beschuldigungen folgendermaßen in Schutz nimmt: ›Jetzt will ich etwas über die aristotelische Art der Philosophie sagen und warum wir glauben, daß sie uns in der Kirche von größtem Nutzen ist. Es steht allgemein fest, daß wir in der Kirche die Dialektik am nötigsten haben, die richtige Methoden entwickelt, geschickt definiert, sachgerecht einteilt, passend verknüpft und urteilt sowie die falschen Verknüpfungen zerreißt. Wer diese Kunst nicht gelernt hat, zerfetzt die Gegenstände, die er erklären will, wie ein junger Hund ein Stück Tuch zerfetzt. Ich möchte mich eines platonischen Vergleichs bedienen. Platon lobt die Dialektik mit Recht, indem er sie den Funken nennt, den Prometheus vom Himmel holte, um das Licht des richtigen Urteils in den Menschen zu entzünden. Er hat jedoch nirgends die Regeln dieser Kunst gelehrt. Deshalb sind uns die Schriften des Aristoteles unentbehrlich. Die Werke der Stoiker zur Logik sind nicht erhalten und scheinen verwinkelte Labyrinthe und Verfallsformen dieser Kunst gewesen zu sein, aber keine einfache Methode des Erörterns, die zur Erklärung großer Dinge taugte.‹ Das machte Melanchthon für die Logik des Aristoteles gegen den Wahnwitz Luthers geltend.« Die Fortsetzung dieser Passage aus Melanchthon, die Gretser

78 ‡

Jacob Gretser, Inaugur. doctor., S. 60 f. Melanchth., Declamat., Bd. III.

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zitiert, enthält sehr schöne Lobsprüche auf die Physik und die Ethik des Aristoteles. Es ist also nicht notwendig, Melanchthon in diesem Punkt zu rechtfertigen. Seine Werke tun das zur Genüge. (…). Dieser große Mann hat sich nicht darauf beschränkt, alle Teile der Philosophie zu erläutern; es gibt kaum eine Kunst oder Wissenschaft, über die er nicht gearbeitet hat und deren Studium er nicht durch leichte und ungezwungene Methoden befördern wollte. Was wollen wir also von denen sagen, die unverschämterweise behaupten, daß Melanchthon und Karlstadt alle Wissenschaften herabgewürdigt, sich zu bloßen Handwerkern gemacht und damit bewirkt hätten, daß die Schulen so leer waren, daß man dort nur noch Spinnweben sah?81 Es wäre schwierig, Professoren zu nennen, die so viele Vorlesungen vor so vielen Hörern hielten wie er.82 Es kam oft vor, daß er drei oder vier Vorlesungen am Tag hielt,83 und wir dürfen glauben, daß er bei seiner Heirat seine akademischen Veranstaltungen nur am Hochzeitstag selbst aussetzte, wie diesem Distichon zu entnehmen ist: »A studiis hodie facit ocia grata Philippus, Nec vobis Pauli dogmata sacra leget.«  Bei seinen Studien macht Philipp heute eine willkommene Pause Und wird euch nicht die heiligen Lehren des Paulus vortragen.  Das war die Mitteilung an seine Hörer an jenem Tag.84 Er war die Hauptstütze der Universität Wittenberg. »Durch seinen Fleiß und seine Gelehrsamkeit trug er in erster Linie die Universität Wittenberg. Er ließ sich weder vom Bürgerkrieg noch 81

Der Jesuit Cresollius gehört zu ihnen. Man sehe Morhof, Polyhist.,

S. 7 f. 82

Man sehe weiter unten in Anm. (P), was Sabinus Kardinal Bembo antwortete. 83 König, Biblioth., S. 527. Man sehe unten Fußn. (85). 84 Melch. Adam, Vitae philos., S. 190.

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durch internen Streit ablenken; zweimal, dreimal, viermal am Tag hielt er seine Vorlesungen vor riesiger Hörerschaft; jede Stunde war ausgefüllt mit Lesen, Schreiben, Diskutieren und Beraten.«85 Um nichts zu verschweigen, muß ich an dieser Stelle sagen, daß Melanchthon anfangs in das gleiche Horn gestoßen hat wie Luther: er hat schlecht von Aristoteles gesprochen, aber er hat bald die Tonart gewechselt und ist dann beharrlich dabei geblieben, die Philosophie des Gründers des Lykeion zu empfehlen. Daher war Père Rapins Anschuldigung, von der ich am Anfang dieser Anmerkung gesprochen habe, schlecht begründet. Denn man darf einen Menschen nicht nach den Ansichten beurteilen, die er bald aufgibt, sondern nur nach denjenigen, zu denen er bis an das Ende seiner Tage steht. Père Gretser hätte Père Rapin lehren können, wie man sich in dieser Frage äußern muß. Man sehe, was ich oben von diesem deutschen Jesuiten zitiert habe und was ich jetzt aus der gleichen Quelle zitiere. »›Was geht es uns an, was Aristoteles, dieser unreine Mensch, sagt‹, schimpfte Philipp. Und in den Loci, die im Jahr 1523 in Straßburg erschienen sind, heißt es: ›Die Lehre des Aristoteles ist im ganzen von Streitsucht beherrscht, so daß wir ihm unter den Autoren der paränetischen Philosophie kaum den letzten Platz zubilligen möchten.‹ ›Was kümmert’s mich, was dieser Streithammel sagt?‹ fragt Philipp in eben diesen Loci. Indessen hat dieser Wendehals später einen anderen Ton angeschlagen und die Beschimpfungen in Lobpreisungen verwandelt.«86 Man sehe die Fußnote.87

85

Ders., Vitae theolog., S. 355. 86 Jacob Gretser, Inaug. doctor., S. 45. 87 Das bestätigen die Worte des Erasmus, Epist. ad fratres germaniae inferioris, S. 2127 meiner Ausgabe: »Hat nicht Melanchthon einst die öffentlichen Schulen verurteilt? Jetzt sagt er: Laßt die guten Schulen bestehen und behebt nur die Mängel.«

Melanchthon

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(P) Kardinal Bembo hat drei Fragen gestellt, die es verdienen, hier wiedergegeben zu werden. Melanchthon hatte ihm einen Brief geschrieben, um ihm Georg Sabinus zu empfehlen, der nach Italien reisen wollte.137 Der Kardinal gab viel auf diese Empfehlung. Er sagte Sabinus Artigkeiten und bat ihn zum Essen. Während der Mahlzeit stellte er mehrere Fragen, namentlich diese drei: »Welches Gehalt bekommt Melanchthon? Wie viele Hörer hat er? Was hält er vom künftigen Leben und von der Wiederauferstehung?« Auf die erste Frage antwortete Sabinus, daß Melanchthons Gehalt nur 300 Florinen im Jahr betrage. »O undankbares Deutschland«, rief der Kardinal aus, »das so billig so viele Arbeiten eines so großen Mannes bekommt!« Die Antwort auf die zweite Frage lautete, daß Melanchthon gewöhnlich 1500 Hörer habe. »Ich kann es nicht glauben«, erwiderte der Kardinal, »abgesehen von Paris kenne ich keine Universität in ganz Europa, wo die Hörerschaft eines Professors so groß ist.« Dennoch hatte Melanchthon oft 2500 Personen in seinen Vorlesungen. Auf die dritte Frage antwortete Sabinus, daß Melanchthons Schriften die Festigkeit seines Glaubens an diese beiden Artikel hinreichend bezeugten. »Ich hätte eine bessere Meinung von ihm«, erwiderte der Kardinal, »wenn er sie nicht glauben würde.«138 Ich teile diese Anekdote so mit, wie ich sie bei Melchior Adam gefunden habe.

137 138

Melchior Adam, Vitae theol., S. 160. (…). Ders., ebd.

MOHAMMED

mohammed, Stifter einer Religion, die schon bald sehr weit verbreitet war und immer noch ist (A), wurde im arabischen Mekka im 6. Jahrhundert geboren. Über sein Geburtsjahr und über den Status seiner Familie ist man sich nicht einig, aber es steht fest, daß sein Vater Abdallah und seine Mutter Aminah nicht arm waren. Abdallah starb zwei Monate vor Mohammeds Geburt.a Aminah folgte ihm sechs Jahre später, und Abdalmuttalib, der Vater von Abdallah, ist zwei Jahre nach ihr gestorben, so daß dieses Kind von seinem Onkel Abutalib erzogen werden mußte. Abutalib und seine Frau waren sehr zufrieden mit dem Verhalten ihres Neffen;b weil sie aber nicht reich genug waren, um ihn zu verheiraten, hielten sie es für angebracht, ihn in den Dienst einer Frau zu geben, die Handel mit Syrien trieb. Diese Frau mit Namen Chadidscha verliebte sich in ihren Kutscher bzw. Kameltreiber Mohammed und heiratete ihn. Damals war er 25 Jahre alt. Er hatte drei Söhne von dieser Frau, die sehr jung starben, und vier Mädchen, die gut verheiratet wurden.c Weil er an Epilepsie litt und diese Krankheit vor seiner Frau verbergen wollte, machte er ihr weis, daß er nur deshalb in diese Zuckungen falle, weil er den Anblick des Engels Gabriel nicht ertragen könne, der zu ihm komme und ihm im Namen Gottes viele die Religion betreffende Dinge verkünde (E). Chadidscha, die entweder betrogen war oder sich betrogen stellte, ging von Haus zu Haus, erzählte herum, daß ihr Mann Prophet sei und versuchte, ihm auf diese Weise Anhänger zu verschaffen.d Sein Diener sowie einige andere von ihm angestiftete Personen arbeiteten auf dasselbe Ziel hin – und das mit so a b c d

Elmacin bei Hottinger, Historia oriental., Buch II, Kap. 1, S. 205. Abunazarus, bei Hottinger, a. a. O., S. 161. Ders., bei eben demselben Hottinger, a. a. O., S. 210. Man sehe Anm. (E).

Mohammed

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großem Erfolg, daß die Obrigkeit von Mekka einen Aufstand befürchtete. Um also den Unruhen zuvorzukommen, die das Auftreten einer neuen Sekte gewöhnlich begleiten, beschlossen sie, Mohammed zu beseitigen. Er wurde gewarnt und floh. Der Zeitpunkt dieser Flucht begründet die Zeitrechnung der Mohammedaner (F); von hier an zählen sie die Jahre der Hegira. Von wenigen Leuten begleitet flüchtete er nach Medina, aber bald darauf gesellten sich dort viele seiner Schüler zu ihm. Er zögerte nicht lange, seine Absicht bekannt zu machen, seine Religion mit Waffengewalt einzuführen. Er gab seine große Standarte seinem Onkel Hamza und schickte ihn mit dreißig Mann auf Beutezug.e Dieser erste Versuch war ein völliger Fehlschlag. Der zweite hingegen war sehr erfolgreich. Er griff mit 319 Mann eine Karawane von ungefähr tausend Koreischiten an und schlug sie. Die Beute war beträchtlich. Er verlor vierzehn Mann, die in dem mohammedanischen Märtyrerverzeichnis einen ehrenhaften Platz erhalten haben (G). Nach mehreren weit wichtigeren Schlachten machte er sich im achten Jahr der Hegira zum Herrscher von Mekka.f Er starb drei Jahre später in Medina, einigen Historikern zufolge im Alter von 63 Jahren.g Es ist nicht leicht, die wahren Einzelheiten seiner Taten in Erfahrung zu bringen, denn wenn die seiner Sekte angehörenden Schriftsteller tausend Märchen erfunden haben, um ihn zu ehren, so ist es unwahrscheinlich, daß seine Gegner Skrupel gehabt haben sollten, Lügen über ihn zu verbreiten. Es ist sehr bemerkenswert, daß er selber sagte, er tue keine Wunder, seine Anhänger ihm aber dennoch viele zuschreiben (H). Sie behaupten auch, daß seine Geburt von derart wundervollen Umständen begleitet war, daß man darüber nicht genug staunen kann (I). Es gibt Leute, die sich einbilden, er habe das glauben können, was er sagte (K), und die die Behauptung mißbilligen, er habe nur deshalb so viele Anhänger gefunden, weil seine Moral der Verderbtheit des menschlichen Herzens entsprach (L) und e f g

Hottinger, Histor. oriental., S. 269, aus Elmacin. Ders., S. 271. Ders., a. a. O., S. 273, aus Elmacin und Patricides.

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er ihnen ein sinnliches Paradies in Aussicht stellte (M). Der Hauptgrund für seinen Erfolg lag zweifellos in seinem Entschluß, diejenigen mit Waffengewalt zur Unterwerfung unter seine Religion zu zwingen (N), die sie nicht freiwillig annahmen. Dadurch sichern wir der christlichen Religion einen der Beweise für ihre Göttlichkeit (O), nämlich denjenigen, der aus ihrer schnellen Ausbreitung über die gesamte Welt abgeleitet wird, aber wir verlieren den Beweis, den ihre weite Verbreitung lieferte (P). Man darf sich nicht darüber wundern, daß dieser falsche Prophet auf einen Kunstgriff verzichtet hat, den sämtliche Anführer von Ketzer- und Sektiererparteien angewendet haben:h er hat sich nicht auf die Intrigen von Frauen gestützt und hat das schöne Geschlecht niemals in seine Absichten hineingezogen (Q); er glaubte, die Tapferkeit seiner Truppen würde ausreichen. Vielleicht hat er die Perserinnen nur deshalb gefürchtet (R), weil er ein Gesetzeswerk einführen wollte, das voller Härte gegen die Frauen war. Nichtsdestoweniger liebte er es über alle Maßen, sich mit ihnen zu vergnügen, und man berichtet ganz einzigartige Dinge von seiner diesbezüglichen Kraft (S). Seine Geilheit war zweifellos der Grund dafür, daß er die Polygamie innerhalb gewisser Grenzen und das Konkubinat ohne alle Einschränkung erlaubte.k Er hat nicht gewagt, dieses Vorrecht ausschließlich für sich zu reservieren, obschon er beim Inzest die Kühnheit besaß, ihn seinen Anhängern zu verbieten und sich die Erlaubnis dazu kraft eines besonderen Vorrechts zu reservieren (T). Moréri berichtet eine Erzählung, bei der er vergessen hat, einen wesentlichen Umstand hinzuzufügen, der den Mann betrifft, der in einem trockenen Brunnen mit Steinen überschüttet worden war (V). Eine der ungereimtesten Lügen, die über Mohammed verbreitet worden sind, besagt, er sei Kardinal gewesen (X). Selbst unter den Protestanten hat es einige Gelehrte gegeben, die ihn für den Antichrist hielten (Y). Ich kann nicht glauben, daß sein Leichnam von Hunden gefressen Vergleiche oben Anm. (D) des Artikels GREGOR I.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  k Man sehe Anm. (Q). h

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worden ist, wie einige behaupten, und Père Louïs Maracci merkt zu Recht an, daß die Christen Vorwürfe gegen die Sekte der Mohammedaner richten, die eine derartige Unkenntnis der tatsächlichen Ereignisse bezeugen, daß diese Ungläubigen darüber lachen und dadurch in ihrem Unglauben noch bestärkt werden.l Es ist ein Testament Mohammeds publiziert worden (AA), das ganz den Eindruck einer Fälschung erweckt: es handelt sich um einen Vertrag über die wechselseitige Duldung, der, wie es heißt, zwischen ihm und den Christen geschlossen worden ist. Beweise für seine Falschheit lassen sich aus dem Schriftstück selbst anführen. Wie dem auch sei, es steht fest, daß Mohammed anfänglich mit den Christen nachsichtiger war als mit den Juden. Das ist ziemlich befremdlich, denn angesichts des Eroberungsgeistes, den er an den Tag legte, war es ihm als dem erwarteten Messias ein Leichtes, die jüdische Nation hinter sich zu bringen (CC). Die Mohammedaner zeigen eine sehr tiefe Verehrung für ihn (DD), von der sie ganz einzigartige Zeugnisse ablegen. Sie halten sehr andächtige Wallfahrten zu seinem Geburtsort und zu seinem Grabmal ab. Es ist nicht wahr, daß dieses Grabmal in der Luft schwebt, wie viele Schriftsteller behaupten, die dabei wechselseitig voneinander abschreiben, und es ist auch höchst zweifelhaft, daß irgendein Architekt imstande sein sollte, so etwas zu bauen. Seit langem sind viele Weissagungen im Umlauf, die den Mohammedanismus bedrohen (GG), und man erzählt, daß Mohammed, als er gefragt wurde, wie lange seine Religion dauern werde, seine ausgestreckten Finger zeigte, was, wie man meint, bedeuten sollte, daß sie tausend Jahre dauern und also im Jahr 1639 untergehen würde.m Ich will nicht untersuchen, ob diese Rechnung völlig richtig ist und mich nicht mit der Widerlegung derartiger Dinge aufhalten. Zugunsten der christlichen Autoren ist anzuführen, daß es die Anhänger dieses Betrügers waren, welche die lächerlichsten Gel

(…). Lud. Maraccius, aus der Kongregation der Regularkleriker der Mutter Gottes im Prodromus ad refutationem Alcorani, in den Leipziger Acta eruditorum von 1692, S. 329. m Man sehe Andreas Carolus, Memorabilia eccles. saeculi XVII, S. 953.

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schichten über ihn behaupteten; sie sind es, die uns kundtun, daß der Reis und die Rose aus seinem Schweiß entsprungen seien und daß der Engel Gabriel ihn die Zubereitung eines Mahles gelehrt habe, das ihm für den Beischlaf mit Frauen große Kraft gab (II). Übrigens ist die Religion dieses falschen Lehrers derselben Schwierigkeit ausgesetzt gewesen, die man bei der Entstehung des Christentums und bei den Anfängen der Reformation Luthers beobachtet hat. Denn sobald er anfing, Prophezeiungen auszusprechen, traten viele falsche Propheten auf (KK), und seine Anhänger spalteten sich bald. Ich bin weniger erstaunt über seine Kühnheit bezüglich des Versprechens des Paraklets als über die Kühnheit einiger arabischer Autoren, die sich rühmen, Exemplare des Evangeliums gelesen zu haben, die Mohammed betreffende Dinge enthielten und die, wie sie behaupten, von den Christen gestrichen wurden. Ich weiß nicht, ob man glauben darf, was einige Leute behaupten: nämlich daß Mohammed erklärt habe, nur ein Drittel des Korans sei wahr (MM). Wer eine chronologische Auflistung der Taten und Abenteuer dieses falschen Propheten sehen möchte, die mit sehr guten Zitaten und einer schönen Beschreibung seiner Lebensgeschichte versehen ist, muß nur das Werk von Prideaux lesen.n Es ist seit der Erstauflage dieses Dictionnaire aus dem Englischen ins Französische übersetzt worden.o Unter anderem findet man darin viele Beweise, daß Mohammed ein Betrüger war und daß »er seinen« Betrug »im Interesse seiner Wollust beging«.p Einer dieser Beweise stützt sich darauf, daß die Veränderungen seines prophetischen Geistes seinen wechselnden privaten Absichten entsprachen (NN). Ganz Ungewöhnliches erzählt man von seinen Liebschaften. Er war im höchsten Maße eifersüchtig und bewies dennoch Geduld bei den Galanterien seiner Lieblingsfrau. Er konnte sich niemals entschließen, sie zu verstoßen und ließ die große Maschinerie seiner Offenbarungen spielen, um n o p

Es trägt den Titel La vie de Mahomet. Die französische Übersetzung ist 1698 in Amsterdam erschienen. Prideaux, Vie de Mahomet, S. 155.

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den üblen Nachreden über sie ein Ende zu bereiten und den Anstoß aus der Welt zu schaffen, den die Leute an seiner Zuneigung zu einer übel beleumundeten Frau nahmen. Seine Anhänger haben zu guter Letzt geglaubt, daß sie tugendhaft sei, denn sie nahmen die Auslegungen, die sie den Worten ihres Gesetzes gab, wie Orakel auf (PP). Verschiedene christliche Autoren tragen eine sehr lächerliche Erzählung über die Empfänglichkeit der Mohammedaner für Wunder vor (QQ). Herr Simon ist wegen bestimmter von ihm publizierter Dinge kritisiert worden, die darauf abzielen, die Schändlichkeit des Mohammedanismus zu mildern.q Man sehe das letzte Kapitel seiner Histoire critique de la créance et des coutumes des nations du Levant. Wenn er aber mit dem, was er sagt, im Grunde recht hat, dann verdient er Lob, denn man darf dem Haß auf das Böse nicht dadurch Nahrung geben, daß man es in dunkleren Farben und hassenswerter beschreibt, als es in Wirklichkeit ist.

(A) Seine Religion, die schon bald sehr weit verbreitet war und immer noch ist. Man darf den Behauptungen nicht glauben, wonach sie die halbe Welt oder mehr umfaßt;1 es genügt zu sagen, »daß, wenn wir die bekannten Gegenden der Welt in dreißig gleichgroße Teile einteilen, der Teil der Christen fünf Teile ausmacht, der der Mohammedaner sechs und der der Heiden neunzehn.«2 Folglich ist die mohammedanische Religion viel weiter ausgebreitet als die christliche, denn sie übertrifft jene um den dreißigsten Teil der bekannten Welt, was einem Land von beachtlicher Größe entspricht. q

Man sehe die Difficultéz proposées à Monsr. Steyaert, Teil VI, S. 303–

316. 1

Postel im Vorwort zu Grammat. arabica, Ludovicus Regius, De vicissitud. rerum, Buch VIII, am Ende, zitiert bei Brerewood, Recherches sur la diversité des langues, Kap. 14, S. 203. 2 Brerewood, a. a. O.

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(E) Er machte seiner Frau weis, daß er nur deshalb in diese Zukkungen falle, weil (---) der Engel Gabriel zu ihm komme und ihm (---) die Religion betreffende Dinge verkünde. Im Alter von vierzig Jahren begann er, sich als Prophet aufzuführen, und er wollte, daß sein erster Anhänger seine Frau war. »Mit Unterstützung jenes byzantinischen Mönchs hat er zunächst seine Frau von seinen Offenbarungen überzeugt, indem er vorgab, der Engel Gabriel sei von Gott zu ihm gesandt, um mit ihm zu sprechen und ihn über verschiedene die Religion betreffende Dinge ins Bild zu setzen und zu unterweisen. Dessen Anblick habe er nicht ertragen können; vor Angst sei ihm ganz schwindelig geworden, er sei zusammengebrochen und auf den Boden gefallen. Auf diese Weise hat er die Epilepsie, an der er litt, geschickt vertuscht. Jene Chadidscha aber lief überall herum und verkündete, ihr Mann sei ein Prophet, und zog andere Landsleute in denselben Irrtum. Gleiches taten auch andere, die Mohammed mit Gold bestochen hatte, sowie sein Diener Zeid, den er reichlich beschenkte.«17 Wenn er mit der Verführung seiner Frau den Anfang machen wollte, dann nicht in der Absicht, den Kunstgriff anzuwenden, den fast alle Neuerer einsetzen. Diese bemühen sich nämlich, weibliche Anhänger zu haben und die Intrigen sowie den Eifer einiger Frauen zur Erreichung ihrer Absichten zu nutzen. Wie man unten sehen wird,18 verzichtete Mohammed auf diese Strategie. Frauen und Konkubinen hatte er in sehr großer Zahl, aber nur zum natürlichen Gebrauch, als Arznei für seine Unkeuschheit und für die fleischliche Lust, aber nicht, um es kurz zu sagen, für die Verbreitung seines Glaubens. Zuneigung von seinen Frauen erlangte er nicht; vielmehr waren sie es, wie es heißt, die ihm das Leben nahmen.19 Er war ihnen untreu, schlug sie und hat 17

Schultetus, in Eccles. muhammed., S. 14. In Anm. (Q). 19 »Mohammed (---) starb durch einen hinterhältigen Anschlag seiner Frauen im Jahr 22 nach dem Kalender des Heraklius bzw. im Jahr 632 nach christlicher Zeitrechnung.« Johannes Cluverus, Historiar. totius mundi epi18

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sogar ein Gesetz erlassen, das es den Ehemännern erlaubte, ihre Frauen zu schlagen, wenn es nötig wäre. Er hat sich auf dieses Edikt berufen, als er eine seiner Frauen schlug und sah, daß die anderen darüber murrten. Aus Angst davor, daß dieser Grund nicht ausreichen würde, um sie zu besänftigen, fügte er ihm einen hübschen Sophismus, ein lächerliches »distinguo« hinzu. Ich habe sie nicht, so sagte er, als meine Ehefrau geschlagen, sondern als ein sehr boshaftes altes Weib. (…).20

(F) Der Zeitpunkt dieser Flucht begründet die Zeitrechnung der Mohammedaner. Sie nennen sie ›Hegira‹. Das Wort bedeutet ›Flucht‹. Damit ihre Zeitrechnung aber einen ehrenwerten Namen trägt, haben sie vorgegeben, dieses Wort in einem besonderen Sinn zu verwenden, ich meine als eine religiöse Handlung, die der Grund dafür ist, daß man sein Vaterland verläßt und der Gewalt der religiösen Verfolger ausweicht.21 Die Koreischiten haben Mohammed als einen Aufrührer und Gottlosen betrachtet, der sich auf die Flucht begeben hatte, um der Todesstrafe zu entgehen, die man gerechterweise über ihn verhängt hatte. Er hingegen und seine Begleiter im Exil gaben vor, heilige Wallfahrer und Leute zu sein, die wegen ihrer Religion und der Sache des wahren Gottes geflohen seien. Mohammed hatte schon lange den Propheten gespielt, als er sein Vaterland verließ, und er hatte sich zur Vorbereitung seiner Prophezeiungen viele Tage in einer Höhle aufgehalten. »Weil die Obrigkeit von Mekka aber befürchtete, dies könne einen Aufstand hervorrufen, hielten sie es für angebracht, diesen neuen Bewegungen zuvorzukommen, und beschlossen, Mohammed durch Anklage, Überführung und Verurteilung dafür, daß er unter religiösem Vorwand einen tome, im Artikel ›Heraclius‹, S. 346 meiner Ausgabe. Er zitiert Paulus Diaconus, Ildeph., Buch XVIII. 20 Hoornbeeck, Summa controv., S. 162. 21 Hotting., Hist. oriental., S. 261.

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Aufstand herbeiführen wolle, zu beseitigen. Mohammed wurde jedoch vor dieser Gefahr gewarnt und verließ die Gegend und das Land. Das trug sich zu, als er 54 Jahre alt war und schon fünfzehn Jahre in der Höhle Garhera wie Numa mit Egeria in der Nähe von Mekka, in der er sich bis zum Sonnenuntergang versteckt hielt, seine Pseudoprophetien teils ausbrütete, teils unter das Volk brachte.«22 Diese Flucht geschah am 16. Juli 622.23

(G) Er verlor vierzehn Mann, die in dem mohammedanischen Märtyrerverzeichnis einen Platz erhalten haben. Das sind komische Märtyrer – Leute, die bei der Plünderung einer reichen Karawane und der Ausübung des Räuber- und Banditenhandwerks getötet wurden. Elmacin berichtet, daß Mohammed diesen Streifzug nur unternahm, um jene Karawane zu plündern. (…).24 Die arabischen Autoren haben diesen Kampf sehr gelobt, und selbst der Koran erwähnt ihn mehrfach25 als einen Vorfall, bei dem Gott und seine Engel die gute Sache auf wundervolle Weise beschützt hätten.

(H) Er selber sagte, er tue keine Wunder, seine Anhänger schreiben ihm aber dennoch viele zu. Nachdem Grotius festgestellt hat, daß Mohammed die von Jesus Christus bewirkten Wunder keineswegs geleugnet hat, bedient er sich des folgenden Geständnisses, um den Mohammedanismus zu bekämpfen. »Nach Mohammeds eigenem Geständnis gab Jesus den Blinden den Gesichtssinn, den Lahmen das Gehen, den Kranken die Gesundheit und sogar den Toten 22 23 24 25

Schultet. in der Eccles. muhammed., S. 14. Hotting., Hist. oriental., S. 262. Elmacin, S. 5, bei Hotting., S. 269. Man sehe Hottinger, a. a. O., S. 269 f.

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das Leben. Mohammed‡ sagt, er sei nicht mit Wundern, sondern mit Waffen geschickt. Nach ihm sind jedoch Leute aufgetreten, die ihm Wunder zugesprochen haben, aber was für welche! Entweder nämlich solche, die leicht durch menschliche Kunst hervorgebracht werden können, wie das von der zu seinem Ohr fliegenden Taube, oder solche, die völlig unbezeugt sind, wie das von dem Kamel, das nachts zu ihm gesprochen hat, oder solche, die durch ihre eigene Absurdität widerlegt werden,† wie das von dem großen Teil des Mondes, der in seinen Ärmel gefallen war und von ihm zurückgeworfen wurde, damit diesem Himmelskörper seine runde Gestalt wiedergegeben wurde.«26 Ich wundere mich, daß Simon das schöne Wunder vergessen hat, von dem Grotius soeben gesprochen hat, nämlich von dem Teil des Mondes, der in Mohammeds Ärmel gefallen war und den er zum Himmel zurückwarf, damit dieses Gestirn nichts von seiner Rundheit einbüßte. Simon äußert sich wie folgt:27 »Die Mohammedaner schreiben ihrem Gesetzgeber ›einige Wunder‹ zu. Sie versichern, daß er Wasser aus seinen Fingern laufen ließ und den Mond dadurch spaltete, daß er mit dem Finger auf ihn zeigte. Sie behaupten ferner, daß die Steine, Bäume und Tiere ihn als den wahrhaftigen Propheten Gottes anerkannt haben und ihn mit den Worten begrüßten ›Du bist der wahrhaftige Abgesandte Gottes‹. Außerdem versichern sie, daß Mohammed eines Nachts von Mekka nach Jerusalem ging und von dort in den Himmel aufstieg, daß er dort das Paradies und die Hölle sah, mit Gott sprach, obwohl das den Auserwählten nach ihrem Tod vorbehalten ist, und daß er schließlich noch in derselben Nacht vom Himmel herabstieg und sich vor Tagesanbruch wieder in Mekka befand.« Wir wollen dieses Thema



Azoara III, XIV, XVII, XXX, LXXI. Azoara LXIV. Man sehe diese Fabel ausführlicher im Kapitel Ceramur bei Cantacuzenus in der Rede über Mohammed, Nr. 23. 26 Grotius, De veritate religionis christianae, Buch VI, S. 202 meiner Ausgabe. Er zitiert Azoara V, XIII. 27 Simon, Histoire critique de la créance des nations du Levant, Kap. 15, S. 167. †

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nicht verlassen, ohne die Bemerkung eines gelehrten Deutschen anzuführen. Er sagt, daß einige von falschem Eifer gegen Mohammed getriebene Christen ihn beschuldigen, sich gewisser Wunder gerühmt zu haben, welche die arabischen Schriftsteller ihm niemals beigelegt haben. »Es gibt arabische Autoren, die Mohammed Wunder zusprechen, andere aber bestreiten sie. Die ersteren lassen Mohammed zum Beispiel sagen, ›daß er den Mond in zwei Teile gespalten habe, als er sich ihm näherte‹. Pfeiffer merkt nach Beidavi an, daß Mohammed dies niemals gesagt hat, sondern nur, daß man dieses Wunder vor Eintritt des jüngsten Tages am Himmel sehen werde. Sie lassen ihn sagen, daß, nachdem ihm eine jüdische Frau nach der Einnahme der Stadt Chaibar ein vergiftetes Schaf gebracht hatte, dieses gebratene Lamm ihn gewarnt hätte, es nicht zu essen. Abulfeda berichtet diese Geschichte aber ganz schlicht so, daß Mohammed, nachdem er ein Stück davon gekostet und gemerkt hatte, daß es vergiftet war, es ausspuckte und sagte, ›dieses Lamm sagt mir, daß es vergiftet ist‹, d. h., er schmeckte, daß es vergiftet war. Tatsächlich bekennt er im Koran oft, daß er keine Wunder tun könne. Deshalb muß man es für eine Fabel halten, was von der Taube gesagt wird, die kam, um aus seinem Ohr zu picken, und von dem Stier, der nichts fressen wollte, was Mohammed ihm nicht mit eigener Hand gegeben hatte. Pfeiffer± stellt fest, daß die Araber niemals etwas Derartiges geschrieben haben und daß dies Ausgeburten des fehlgeleiteten Eifers einiger Christen gegen diesen Betrüger sind.«28 Könnten wir Pfeiffer nicht entgegenhalten, daß die Christen mit den Mohammedanern so umgegangen sind wie die Reformierten mit den Katholiken? Einige Legendenschreiber berichten mehrere Wunder, von denen die seriösen Autoren der katholischen Kirche niemals sprechen oder über die sie sich sogar ±

S. 272 f. August Pfeiffer in Bd. VII der Bibliothèque universelle, S. 257. Das Buch, aus dem sich ein Abriß in diesem Band befindet, trägt den Titel Theologiae (---) judaicae atque muhammedicae principia sublesta et fructus pestilentes. 28

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lustig machen. Folgt daraus, daß die Protestanten Verleumder sind oder von einem zu großen Eifer hingerissene Schriftsteller, weil sie den Katholiken die Absurdität derartiger Wunder vorwerfen? Warum sollten wir nicht sagen, daß die Christen, welche die Mohammedaner wegen der Wunder vespottet haben, auf die man heute bei den arabischen Autoren nicht mehr stößt, sie bei einigen obskuren Autoren gelesen haben, die sich zu Ehren des falschen Propheten die Freiheit herausgenommen haben, die sich unsere Legendenschreiber zu Ehren der Heiligen herausnehmen? Wenn man nicht alles das, was Chevreau uns gleich sagen wird, bei den seriösen Autoren findet, dann findet man es vielleicht bei den Schriftstellern niederen Ranges, die mit denen vergleichbar sind, die ihre kleinen Büchlein mit blauen Einband publizieren und von Straßenhändlern verkaufen lassen. Hören wir Herrn Chevreau:29 »Als die Koreischiten von Mekka ihn30 baten, ein Wunder zu tun, damit sie erkennen konnten, wer er war, ›teilte er den Mond in zwei Teile, zwischen denen sie einen Berg wahrnahmen. Auf seinen Zuruf hin vereinigten sich zwei Bäume, um zu ihm zu gehen, und teilten sich auf seinen Befehl hin wieder, als sie zurückgingen. Überall, wo er hinkam, haben ihn sämtliche Bäume und Steine mit Hochachtung gegrüßt und zu ihm gesagt ›Friede sei mit dir, du Abgesandter Gottes‹. Er ließ Brunnen zwischen zweien seiner Finger entspringen, die allen seinen Soldaten und sämtlichen Lasttieren seiner Armee, von denen es viele gab, bei allergrößter Dürre Wasser spendeten. Mit einer jungen Ziege und vier kleinen Maß Gerste stillte er den Hunger von achtzig Mann; mit einigen Broten machte er eine noch viel größere Zahl von Menschen satt; und ein anderes Mal sättigte er ganz allgemein alle seine Truppen mit wenigen Datteln, die ein junges Mädchen ihm in seinen Händen gebracht hatte. Ein Palmzweig, vor dem er Gott anzubeten pflegte, war von so großer Leidenschaft für ihn erfaßt, daß man ihn, wenn Mohammed abwesend war, lauter als ein Kamel schreien hörte; sobald Mohammed sich 29 30

Chevreau, Hist. du monde, Buch V, Bd. 3, S. 8. D. h. Mohammed.

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ihm aber näherte, schrie er nicht mehr. (---).‹ Wenn man seine Wunder zählen müßte, käme man einigen Leuten zufolge an die tausend, anderen zufolge an die dreitausend.« Ich will nicht abstreiten, daß der Eifer unserer Streithähne in gewisser Hinsicht ungerecht ist, denn wenn sie sich der Albernheiten eines mohammedanischen Legendenschreibers bedienen, um Mohammed selbst hassenswert oder lächerlich zu machen, dann verletzen sie die Billigkeit, die man jedermann schuldig ist, den bösen wie den guten Menschen. Niemals darf man Leuten etwas zur Last legen, was sie nicht getan haben, und folglich ist es nicht statthaft, gegen Mohammed anhand der Hirngespinste zu argumentieren, die seine Anhänger von ihm erzählen, wenn es nicht zutrifft, daß er sie selbst geäußert hat. Er ist schon belastet genug, wenn man ihm nur seine eigenen Fehler aufbürdet, ohne daß man ihn noch für die Torheiten verantwortlich macht, die ein unbesonnener und romanhafter Eifer aus der Feder seiner Schüler fließen ließ.

(I) (---). Sie behaupten, daß seine Geburt von derart wundervollen Umständen begleitet war, daß man darüber nicht genug staunen kann. »Wenn man einigen Arabern Glauben schenken darf, dann gingen der Geburt Mohammeds folgende Wunder voraus oder begleiteten sie, die alle Welt in Erstaunen versetzten: ›Aminah trug diesen neuen Propheten ohne jegliche Beunruhigung in ihrem Leib. Sie hat ihn ohne Schmerzen geboren, und als er auf die Welt kam, fiel er mit dem Gesicht zur Erde nieder, um Gott zu ehren.‹ Als er sich erhob und den Kopf aufrichtete, rief er aus, ›daß es nur einen einzigen Gott gebe, der ihn als seinen Gesandten auserwählt habe.‹ ›Er ist beschnitten geboren worden‹, was die meisten Juden von Adam, Moses, Josef und David glauben; ›und sodann sind die Teufel aus dem Himmel vertrieben worden. Seine Amme Halima‹, oder ›die Sanftmütige, die keine Milch in der Brust hatte, hatte plötzlich welche, als sie sich dem Neugeborenen anbot. Vier Stim-

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men wurden in den vier Winkeln der Kaaba gehört, die diese Wunder verkündeten. Das Feuer der Perser, das immer gebrannt hatte, erlosch. Ein dürrer Palmbaum trieb Blätter und Früchte. Hebammen von unglaublicher Schönheit fanden sich ein, ohne daß sie gerufen worden wären, und es waren sogar Vögel da, die einen Rubin als Schnabel hatten, dessen Glanz vom Orient bis zum Okzident erstrahlte.‹«31 Nichts ist lächerlicher als das, was den Anhängern Mohammeds zufolge seine Schutzengel getan haben sollen: Sie haben ihn auf einen Berg gebracht und ihm den Bauch aufgeschnitten. Sie haben seine Därme so sorgfältig gewaschen, daß sie weißer als Schnee waren; sie öffneten ihm die Brust und entfernten aus dem Herzen das schwarze Korn oder den schwarzen Tropfen, der ein teuflischer Samen ist, der alle anderen Menschen peinigt. All dies haben sie getan, ohne daß er den geringsten Schmerz empfand. Und nachdem sie auf diese Weise das Innere seines Körpers gewaschen und gereinigt hatten, kehrte er aus eigener Kraft nach Hause zurück. Man beachte, daß er damals erst vier Jahre alt war.32

(K) Es gibt Leute, die sich einbilden, er habe das glauben können, was er sagte. Sie räsonieren folgendermaßen. Alle Christen stimmen darin überein, daß der Teufel der wahre Urheber des Mohammedanismus ist und daß er sich Mohammeds lediglich als eines Werkzeugs zur Einführung einer falschen Religion in der Welt bedient hat. Folglich muß man sagen, daß Mohammed dem Teufel durch Gottes Vorsehung überlassen wurde und daß die Macht, die Gott dem Teufel über diesen Armen verlieh, weit 31

Chevreau, Hist. du monde, S. 7. Man sehe auch Hottinger, Histor. oriental., S. 149 f. und Hoornb., Summa controv., S. 77 f. 32 Hoornbeeck, a. a. O., S. 78. Er zitiert Joh. Andreas, Confus. sectae muhammed.  recte: mahometanae , Kap. 1 und den Alkoranus germanicus, Kap. 4.

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umfassender war als die Macht, die der Teufel über Hiob ausübte; denn Gott hatte dem Teufel nicht gestattet, die Seele Hiobs zu verführen, wohl aber, sich der Seele Mohammeds zur Täuschung der Menschen zu bedienen. Da der Teufel nach dem Eingeständnis aller Christen eine derart große Herrschaft über diesen Menschen ausübte, daß er ihn dazu brachte, seine Lehren aufzustellen – hat er ihn da nicht davon überzeugen können, daß Gott ihn zum Propheten auserwählt hatte? Er hat es ja vermocht, ihm den weitläufigen Plan einer Religionsstiftung einzugeben, er hat es vermocht, ihn ihm den Wunsch zu erwecken, tausend Mühen auf sich zu nehmen, um die Welt zu betrügen – und er soll es nicht vermocht haben, ihn zu verführen? Welchen Grund kann man anführen, um das eine zu bejahen und das andere zu verneinen? Ist es schwieriger, den Willen trotz entgegenstehender Einsichten des Verstandes zu großen Vorhaben anzutreiben, als den Verstand mittels einer falschen Überredung zu betrügen oder den Willen zur Annahme einer falschen Einsicht zu bringen, so daß er sich damit zufriedengibt wie mit einer wahren Offenbarung? Ich gestehe, daß mir das eine nicht schwieriger erscheint als das andere. Aber wenn der Teufel Mohammed verführen konnte, ist es dann nicht sehr wahrscheinlich, daß er ihn auch tatsächlich verführt hat? Dieser Mann war um so geeigneter, die Pläne des Teufels auszuführen, als er überzeugt war, es nicht zu sein. Das kann man mir nicht bestreiten, denn bei sonst gleichen Umständen ist es augenscheinlich, daß ein Mensch, der Gutes zu tun glaubt, stets tätiger und rühriger ist, als ein Mensch, der Böses zu tun glaubt. Man muß deshalb sagen, daß der Teufel, der sich bei der Ausführung seiner Pläne außerordentlich geschickt anstellt, nicht das notwendigste oder das zur Steigerung der Bewegung seiner Maschinerie am besten geeignete Rädchen übersehen haben wird; d. h. daß er diesen falschen Propheten verführt hat. Wenn er es gekonnt hat, wollte er es auch; und wenn er es gewollt hat, tat er es auch; nun ist oben gezeigt worden, daß er es tun konnte. Dem füge man hinzu, so sagen diese Herren, daß der Koran das Werk eines Fanatikers ist; alles darin schmeckt nach Unordnung und Verwirrung, es ist ein Durcheinander schlecht

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aufeinander abgestimmter Gedanken.33 Ein Betrüger hätte seine Lehren besser arrangiert, und selbst ein Komödienschreiber hätte mehr Scharfsinn aufgewendet. Und man sage nicht, der Teufel würde ihn überredet haben, den Götzendienst zu bekämpfen und die Liebe zum wahren Gott sowie die Tugend aufs höchste zu preisen. Das beweist zuviel, denn man könnte daraus ableiten, daß Mohammed nicht sein Werkzeug gewesen ist. Darüber hinaus können wir entgegnen, 1) daß es ihm genügt hätte, dem Christentum eine falsche Religion entgegenzustellen, auch wenn diese auf den Untergang des Heidentums abzielte, 2) daß es nicht möglich ist, jemanden glauben zu machen, man sei von Gott gesandt, wenn man nicht schöne moralische Lehren vorträgt.34 Die Behauptung, dieser falsche Prophet schmeichle sich, mit dem Engel Gabriel in Verbindung zu stehen, würde nichts nützen, denn weil uns die Schrift lehrt, daß der Teufel die Gestalt eines Engels des Lichtes annimmt, könnten wir dem entgegenhalten, daß er sich Mohammed unter dem Namen und in der Gestalt des Engels Gabriel gezeigt hat. Mohammed machte die Leute aber glauben, daß dieser Engel in der Gestalt einer Taube zu ihm kam und in sein Ohr sprach; folglich handelte es sich um eine wahre Taube, die Mohammed abgerichtet hatte, zu ihm zu fliegen und ihm ins Ohr zu picken. Wir werden bald sehen,35 daß dies ein Märchen ist, das von den Arabern gar nicht erwähnt wird. Der berühmte Gisbert Voetius zweifelt nicht, daß Mohammed ein Schwärmer und sogar ein Besessener gewesen ist. Hier sind seine Worte, man hört darin von anderen Leuten, die derselben Ansicht gewesen sind. »Ich sehe nicht, wie man dies leugnen kann (die Epilepsie und die Besessenheit

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»Eine rohe, gestaltlose Masse / nichts als träges Gewicht und, uneins untereinander / Keime der Dinge.« Ovid, Metam., Buch I, Vers 7.  Die Übersetzung der Zitate aus den in Hexametern verfaßten Metamorphosen Ovids ist hier und an anderen Stellen übernommen aus Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Lat.-dt. In deutsche Hexameter übertragen von Erich Rösch. Hg. von Niclas Holzberg. 11. Aufl., München, Zürich 1988. Hgg.  34 Man sehe die  sc. Bayles  Penseés diverses sur les comètes, § 190. 35 In Anm. (V).

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von krankhaftem Wahn oder teuflischen Eingebungen), wenn wir uns sein Leben und seine Handlungen vergegenwärtigen. Der Maure Johannes Andreas beweist in seiner Confusio sectae mahometicae  recte: mahometanae , Kap.1, daß er von der Bevölkerung Mekkas für einen Narren und Besessenen sowie von seiner eigenen Frau für einen Wahnsinnigen gehalten wurde, der von den Verführungen des Teufels betrogen war (ders., ebd.). Ebenso Philippus Guadagnolus in seiner Apologia contra Achmedum Alabadin, Kap 10, Abschnitt 1. Er beweist aus den sarazenischen Büchern Agar und Assisa, daß er infolge seines Einsiedlerlebens und zu strengen Fastens verrückt und rasend wurde und während seines Aufenthaltes in der Höhle Stimmen und Reden hörte, ohne jemand zu sehen, der sprach. Insofern kann er mit den rasenden und teuflischen Schwärmern sowie mit den prophezeienden Mönchen früherer Zeiten verglichen werden.«36 Welchen Anschein diese Gründe auch für sich haben mögen, so ziehe ich es doch vor zu glauben, wie man es gemeinhin tut, daß Mohammed ein Betrüger gewesen ist, denn abgesehen von dem, was ich an anderer Stelle sagen werde,37 bezeugen sein einschmeichelndes Verhalten und seine Geschicklichkeit, mit der er Freunde gewann, daß er sich der Religion lediglich als eines Mittels zum Zwecke seines Machtzuwachses bediente. »Er hatte angenehme Umgangsformen, eine sanfte Stimme, empfing und machte regelmäßig wechselseitige Besuche, beschenkte die Armen, ehrte die Mächtigen, sprach mit den Jüngeren, schickte Bittsteller niemals mit abschlägiger Antwort fort, sondern empfing sie und sprach freundlich mit ihnen.«38 Hatte ein wahrhafter Fanatiker jemals einen solchen Charakter und versteht er soviel von der Welt? Würde ein Mensch, der eine Zeitlang geglaubt hat, daß Gott seinen Engel zu ihm schickt, um ihm die wahre Religion zu offenbaren, seinen Irrtum nicht aufgrund der Erfahrung einsehen, daß er seine Sendung durch keinerlei 36 37 38

Voet., Disputat., Bd. I, S. 1057 f. In den Anm. (T) und (NN). Elmacin bei Hottinger, Histor. oriental., S. 241.

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Wunder bestätigen kann? Das war genau der Zustand, in dem Mohammed sich befand. Die Koreischiten boten ihm an, seine neue Religion anzunehmen, vorausgesetzt, daß er Wunder vollbrächte; allein er besaß niemals die Kühnheit, ihnen welche zu versprechen. Er wich ihrem Angebot auf listige Weise bald dadurch aus, daß er Wunder für nicht mehr erforderlich erklärte, bald indem er die Koreischiten auf die Vorzüglichkeit des Korans verwies.39 Reichte das nicht aus, um ihn selbst davon zu überzeugen, daß er nicht auf außerordentliche Art und Weise von Gott zur Gründung einer neuen Religion berufen worden war? Man sehe die Anmerkung (N) am Schluß.

(L) (---) und die Behauptung mißbilligen, er habe nur deshalb so viele Anhänger gefunden, weil seine Moral der Verderbtheit des menschlichen Herzens entsprach. Was diesen Punkt betrifft, so bezweifle ich, daß die Leute, von denen ich in der voranstehenden Anmerkung gesprochen habe, hierfür bessere Gründe vorbringen als für die behauptete Aufrichtigkeit Mohammeds. Ich sehe nicht, daß dieser falsche Prophet der Moral des Evangeliums Abbruch getan hätte;40 ich sehe vielmehr im Gegenteil, daß er das Joch der Christen hinsichtlich der Zeremonien spürbar schwerer gemacht hat. Er befiehlt die Beschneidung, was für die Erwachsenen eine harte Sache ist; er verlangt, daß man bestimmte Speisen nicht zu sich nimmt, was eine Forderung ist, die den Leuten von Welt nicht zusagt; er verbietet den Genuß von Wein, was zwar eine Vorschrift ist, die für die asiatischen Völker nicht so hart ist wie für die nördlichen Nationen und die ganz gewiß die Absichten eines Willibrod und Bonifatius zunichte gemacht hätte, aber nichtsdestoweniger ist sie für alle Länder lästig, in denen Wein wächst, und man weiß aus der alten wie der neueren Geschichte, daß dieses Getränk den Orientalen nicht mißfällt. Außerdem schreibt Mohammed 39 40

Man sehe Hottinger, Histor. oriental., S. 302 f. Man sehe dens., a. a. O., S. 247 f.

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Fasten und Waschungen vor, was sehr beschwerlich ist, sowie häufige Gebete, die sehr anstrengend sind. Er will, daß man Wallfahrten unternimmt; kurz: man muß nur einen Blick auf die vierzig Grundsätze seiner Moral werfen.41 Man findet in ihnen alles das beisammen, was der Verderbnis des menschlichen Herzens am entschiedensten entgegensteht: die Gebote, bei Widerwärtigkeiten geduldig zu sein, nichts Schlechtes über seinen Nächsten zu sagen, mildtätig zu sein, dem Stolz abzusagen, niemandem Unrecht zuzufügen und schließlich das Gebot, in dem das Gesetz und die Propheten42 bestehen, »eurem Nächsten das zu tun, was ihr wollt, daß er euch tut.«43 Es ist daher ein Irrtum, wenn man behauptet, das Gesetz Mohammeds habe deshalb so schnell Fuß gefaßt und sich so schnell ausgebreitet, weil es den Menschen vom Joch guter Werke und mühsamer Observanzen befreit hätte und ihm böse Sitten erlaubte. Wenn ich mich nicht täusche, sind die Ehe und die Rache die einzigen Punkte, in denen es den Knoten gelockert hat, den das Evangelium zog, denn es gestattet die Polygamie und das Vergelten von Bösem mit Bösem. Aber die Juden und die Heiden gewannen dadurch nicht viel, denn sie besaßen diesbezüglich bereits einen Brauch, der sie nicht sehr einschränkte. Hottinger gibt uns eine lange Liste der moralischen Grundsätze oder Aussprüche Mohammeds.44 Ohne dieser Religion zu schmeicheln, kann man sagen, daß die vortrefflichsten Gebote, die man dem Menschen zur Ausübung der Tugend und zur Vermeidung des Lasters vorschreiben kann, in diesen Grundsätzen enthalten sind. Hottinger trägt keine Bedenken, diese Moral über die Sittenlehre der meisten Mönche zu setzen.45 41

Man findet sie bei Hottinger, a. a. O., S. 248 f. Matthäus 7, 12. 43 »Kurzum: Wenn du einem anderen das tust, wovon du wünschst, daß es dir getan wird.« Hottinger, Historia oriental., S. 250. 44 Hottinger, a. a. O., S. 315 f. 45 »Mögen sich doch die Gegner selbst auf der Grundlage der von uns nun angeführten Schriftstücke der Araber ihr Urteil bilden. Bezeugten die Mohammedaner nicht weit öfter als die meisten katholischen Mönche Liebe zur Tugend und Haß auf das Laster?« Ders., S. 314. 42

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Genauso vorteilhaft spricht Simon von der mohammedanischen Religion. Sie »besteht darin«, sagt er,46 »Gutes zu tun und Böses zu unterlassen. Deshalb prüfen sie sorgfältig die Tugenden und die Laster, und ihre Kasuisten sind genauso scharfsinnig wie unsere.« Nachdem er einige ihrer Grundsätze bezüglich der Notwendigkeit des Glaubens, des Vertrauens auf Gott, der Demut, der Reue usw. angeführt hat, fügt er hinzu:47 »Ich übergehe das Übrige ihrer Moral mit Stillschweigen, zumal das von mir davon Berichtete genügt, um zu zeigen, worin sie besteht; und ich kann versichern, daß sie keineswegs so lax ist wie die einiger Kasuisten unserer Zeit. Ich will nur hinzufügen, daß sie über eine Menge schöner Vorschriften über die Pflichten des Einzelnen seinem Nächsten gegenüber verfügen, in denen sie sogar Höflichkeitsregeln angeben. Sie haben auch die Art und Weise schriftlich festgehalten, wie man sich seinem Fürsten gegenüber zu benehmen hat; und einer ihrer Grundsätze lautet, daß es niemals erlaubt ist, ihn unter dem Vorwand, er sei ein Tyrann, zu töten noch auch nur Schlechtes über ihn zu sagen.«

(M) (---) und weil er den Menschen ein sinnliches Paradies in Aussicht stellte. Man muß zugeben, daß dieses Versprechen eine Verlockung für die Heiden sein konnte, die nur verworrene Begriffe vom Glück des zukünftigen Lebens hatten. Aber ich weiß nicht, ob es geeignet war, die Juden in Versuchung zu führen, und ich glaube nicht, daß es irgend etwas bei den Christen ausrichten konnte. Und dennoch: wie viele Christen hat dieser falsche Prophet nicht zur Apostasie gebracht! Ich wünschte, man nähme wortwörtlich, was er von den Lüsten seines Paradieses sagt, »daß jedermann dort die Kraft von hundert Männern besitzen würde, um sich uneingeschränkt mit Frauen und ebenso mit Essen und

46 47

Histoire critique du Levant, S. 173. A. a. O., S. 175 f.

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Trinken zu vergnügen.«48 Das würde nicht dem Begriff entsprechen, den uns die Schrift vom Glück des künftigen Lebens gibt, denn sie spricht davon49 als von einem Zustand, dessen Vergnügen alles übertrifft, was die Augen gesehen, die Ohren gehört haben und was je in eines Menschen Herz gekommen ist. Wer der Schrift Glauben schenkt, stellt sich das Glück des Paradieses als etwas vor, was die Einbildung übersteigt und begrenzt es nicht. Man versuche, bei irgendeiner bestimmten Vorstellung stehenzubleiben; es wird nicht gelingen, unsere Hoffnungen tragen uns höher und schwingen sich über alle Grenzen hinaus. Mohammed läßt uns diese Freiheit nicht. Er schließt uns in bestimmte Schranken ein, er multipliziert unsere erlebten Vergnügungen hundertfach und läßt uns damit zurück. Was aber ist schon das Hundertfache im Vergleich zu einer unendlichen Zahl? Aber, so wird man einwenden, die Schrift spricht nur von einem Vergnügen ganz allgemein, und wenn sie sich eines körperlichen Bildes bedient und verspricht, »daß sie trunken werden von den reichen Gütern deines Hauses, und du sie mit Wonne als mit einem Strom tränkst«,50 so werdet ihr alsbald gewarnt, daß dies bildhafte Ausdrücke sind, hinter denen sich ein geistiges Vergnügen verbirgt. Das berührt weltlich gesinnte Seelen nicht so, als wenn man ihnen sinnliche Vergnügungen verspricht. Ich antworte, daß die Seelen, die am tiefsten ins Materielle versunken sind, stets das Paradies des Evangeliums demjenigen Mohammeds vorziehen werden, vorausgesetzt, daß sie der Beschreibung der seligmachenden Schau historischen Glauben schenken, selbst wenn sie denselben Glauben auch dem Koran entgegenbringen würden.51 Ich will mich durch folgende

48

Chevreau, Hist. du monde, Bd. III, Buch V, S. 14. Man sehe die Anmerkungen (Q) und (II). 49 1. Korinther 2, 9. 50 Psalm 36, 9. Man sehe Gassendis Ethica, Buch I, Kap. 9, S. 672 meiner Ausgabe, der diese Passage in Anlehnungen an den kraftvollen hebräischen Ausdruck folgendermaßen übersetzt: »Inebriabuntur ab ubertate domus tuae, et de torrente voluptatis tuae potabis eos.« 51 Man beachte die folgende Marginalnote.

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Annahme erklären. Wir wollen uns zwei Prediger, einen Christen und einen Mohammedaner, vorstellen, die vor Heiden predigen. Jeder von ihnen versucht sie durch Darlegung der Freuden des Paradieses auf seine Seite zu ziehen. Der mohammedanische Prediger verspricht Feste und schöne Frauen, und um seine Zuhörer stärker zu ergreifen, sagt er ihnen, daß die sinnlichen Vergnügungen in der kommenden Welt hundertmal köstlicher sein werden als in dieser. Der christliche erklärt, daß die Freuden des Paradieses weder in Essen und Trinken noch in der geschlechtlichen Vereinigung bestehen, daß sie aber derart lebhaft sein werden, daß die Einbildungskraft keines Menschen ausreicht, um sie sich vorzustellen, und daß alles, was man sich durch hundert-, tausend-, hunderttausendfache usw. Vervielfältigung der Freuden dieses Lebens vorstellen kann, nichts ist im Vergleich zu der Glückseligkeit, die Gott der Seele verleiht, wenn er sich ihr von Angesicht zu Angesicht zeigt usw. Trifft es nicht zu, daß die unzüchtigsten und gefräßigsten Zuhörer lieber dem christlichen als dem anderen Prediger folgen werden, auch wenn man voraussetzen würde, daß sie den Versprechungen des mohammedanischen Predigers ebensoviel Glauben entgegenbringen wie den Versprechungen des christlichen? Sie würden es zweifellos so machen wie ein Soldat, der die Angebote zweier Hauptleute kennt, von denen jeder Truppen anwirbt. Auch wenn er überzeugt ist, daß sie beide ganz aufrichtig sind, d. h. daß sie ihre Versprechen einhalten werden, so läßt er sich doch in die Liste desjenigen eintragen, der ihm das meiste bietet. Ganz genauso würden jene Heiden das Paradies des Evangeliums demjenigen Mohammeds vorziehen, auch wenn sie überzeugt wären, daß der eine wie der andere dieser beiden Prediger seinen Anhängern die versprochene Belohnung verschaffen würde.52 Denn man darf sich nicht einbilden, daß ein Lüstling

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Dies ist unter Nichtberücksichtigung der Gnadenlehre zu verstehen, der zufolge man sagen muß, daß man die Wahl der wahren Kirche durch ein Geschenk Gottes und durch die Gnade des hl. Geistes trifft. Wir sprechen hier gemäß der Annahme, der zufolge lediglich Motive des Eigennutzes und

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die Sinnesfreuden nur deshalb liebt, weil sie aus dieser Quelle stammen; er würde sie gleichermaßen lieben, wenn sie woandersher stammten. Laßt ihn größeres Vergnügen an dem Einsaugen der Luft in einer Höhle finden als am Verzehr köstlicher Speisen, so wird er von ganzem Herzen die besten Mahlzeiten verschmähen, um in diese Höhle zu gehen.53 Bringt ihn dazu, an der Untersuchung eines geometrischen Problems größeres Gefallen zu finden als an dem Beischlaf mit einer schönen Frau, so wird er diese schöne Frau gern für jenes Problem verlassen. Folglich wäre es widervernünftig, wenn man annehmen wollte, daß ein Mohammedaner sämtliche genußsüchtigen Zuhörer hinter sich brächte. Denn weil sie die sinnlichen Vergnügungen nur deswegen lieben, weil sie keine besseren kennen, so ist klar, daß sie ohne weiteres auf dieselben verzichten würden, um ein noch größeres Glück zu genießen. Was schert es mich, würden sie sagen, daß das Paradies der Christen nicht die Vergnügungen eines guten Mahles, den Beischlaf mit schönen Frauen usw. bietet, wo es doch andere Freuden bereithält, die alles das unendlich übertreffen, was die allerangenehmsten Lüste dieser Welt zu bieten haben? Man darf sich deshalb nicht einbilden, glaube ich, daß die Hoffnungen, die Mohammed in das Glück des kommenden Lebens gesetzt hat, die Christen, die sich darauf eingelassen hatten, seiner Sekte zugeführt hätten. Fast dasselbe wollen wir von den Juden sagen, denn es geht aus mehreren Psalmen Davids hervor, daß sie sich einen wundervollen Begriff vom Glück des künftigen Lebens gebildet hatten. Die Heiden waren am leichtesten zu verlocken, weil ihre Religion sie über die Einzelheiten der paradiesischen Freuden in tiefem Dunkel gelassen hatte. Aber genügt es, den Leuten nur zu sagen, daß sie nach diesem Leben sinnliche Vergnügungen mit weit größerer Befriedigung genießen werden als in dieser Welt? Und wer seid ihr, so würde man fragen, daß ihr uns so etwas versprecht? Wer hat euch das gesagt? Woher wißt ihr das? Folgder Selbstliebe in Betracht gezogen werden, welche die Leute zur Wahl einer Religion bringen würden. 53 »Jeden reißt seine Leidenschaft mit sich fort.« Vergil, Eklog. II, Vers 65.

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lich muß man vor allem anderen annehmen, daß Mohammed sich bereits unabhängig von den Versprechungen seines Paradieses den Ruf eines großen Propheten erworben hatte und daß die Leute, bevor sie sich durch den Köder dieser Lüste verführen ließen, überzeugt waren, daß er einen himmlischen Auftrag zur Errichtung des wahren Glaubens hatte. Folglich lag der Grund für die Zunahme dieser Sekte nicht in den Versprechungen eines sinnlichen Paradieses, denn wer nicht glaubte, daß Mohammed von Gott gesandt sei, gab auf seine Versprechungen nichts, und wer ihn für einen wahren Propheten hielt, würde ihm gefolgt sein, auch wenn er ein geistiges Glück für die kommende Welt in Aussicht gestellt hätte. Wir wollen den Freigeistern keine Gelegenheit geben, diesen Einwand an das Evangelium zurückzugeben, als ob seine so große Wirksamkeit bei der Bekehrung der Heiden nur darauf zurückzuführen wäre, daß es ihnen ein Paradies oder eine Glückseligkeit versprochen hätte, die alles das unendlich übertrifft, was man sich an Lustvollem nur vorstellen kann. Insbesondere wollen wir uns der Spöttereien enthalten, die auf das Gold, die Juwelen und andere solche Schmuckstücke des Paradieses Mohammeds abzielen, denn man stößt auf Derartiges und ebenso viele Arten von Edelsteinen, wie man sie im Laden des berühmtesten Juweliers findet, in der Beschreibung, die uns die Apokalypse54 vom Paradies gibt. Und man sage mir nicht, daß eine fleischliche und viehische Seele lieber an grobe als an geistige Vergnügungen glaube, denn wenn es Dinge gibt, die ihr unglaubwürdig erscheinen, dann ist dies an erster Stelle die Wiederauferstehung, so daß, wenn Mohammed eine solche Seele von der Wiederauferstehung überzeugen konnte, ein Christ sie auch von den geistigen Freuden der zukünftigen Welt überzeugen konnte. Man sehe die Marginalnote.55

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In Kap. 21. Ich leugne nicht, daß Mohammed den Sarazenen mit der Erlaubnis zur Polygamie etwas sehr Verlockendes vorgelegt hat, denn sie waren dem Geschlechtsakt sehr zugetan. »Es ist unglaublich, mit welcher Begeisterung 55

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(N) Er entschloß sich, die Unterwerfung unter seine Religion mit Waffengewalt zu erzwingen. Die Ursache seines Erfolges ist nirgendwo anders zu suchen; einzig und allein hierin liegt sie. Dabei leugne ich nicht, daß die Spaltungen der griechischen Kirche, deren Sekten sich unglücklicherweise vervielfachten, und der erbärmliche Zustand des orientalischen Staates sowie die Sittenverderbnis günstige Umstände für die Absichten dieses Betrügers gewesen sind. Doch schließlich: wie kann man siegreichen Truppen widerstehen, die Unterschriften einfordern? Fragt die französischen Dragoner, die dieses Geschäft 1685 ausgeübt haben: Sie werden euch antworten, daß sie es auf sich nehmen, die ganze Welt zur Unterschrift unter den Koran zu bringen, vorausgesetzt man läßt ihnen Zeit, die Maxime »Compelle intrare, Nötige sie, einzutreten« zur Geltung zu bringen. Es hat ganz den Anschein, daß Mohammed, wenn er vorausgesehen hätte, daß ihm so ergebene und siegreiche Truppen zur Verfügung stehen würden, sich nicht soviel Mühe gegeben hätte, Offenbarungen zu erdichten, sich in seinen Schriften devot zu geben und viele dem Judaismus sowie dem Christentum entnommene Lehrstücke zusammenzuschustern. Ohne sich um diesen ganzen Kram zu kümmern, hätte er sicher sein können, seine Religion überall dort einzuführen, wo seine Waffen siegreich sein würden; und wenn es etwas gibt, das mich glauben machen könnte, daß bei seinen Unternehmungen viel Fanatismus im Spiele war, dann dies, daß man im Koran auf eine Unzahl von Dingen trifft, die nur unter der Annahme notwendig erscheinen, daß man keinen Zwang gebrauchen will. Nun gibt es viele Dinge in diesem Werk, die erst nach den ersten erfolgreichen Kriegszügen Mohammeds hinzugefügt worden sind.

beide Geschlechter der Liebeslust nachgehen.« Ammianus Marcellinus, Buch XIV, Kap. 4, S. 14 meiner Ausgabe.

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(O) Wir sichern der christlichen Religion einen der Beweise für ihre Göttlichkeit. Das Evangelium, das von Leuten ohne Herkunft, ohne Bildung und ohne Rednergabe gepredigt wurde, die grausam verfolgt wurden und denen jegliche menschliche Unterstützung fehlte, hat sich dennoch in kurzer Zeit über die ganze Erde ausgebreitet. Das ist eine Tatsache, die niemand leugnen kann und die deutlich beweist, daß dies das Werk Gottes ist. Aber dieser Beweis verliert seine Kraft, sobald man auf eine falsche Kirche hinweisen kann, die eine vergleichbare Verbreitung mit ganz ähnlichen Mitteln erreicht hat; und es steht fest, daß man dieses Argument zunichte machen würde, wenn sich zeigen ließe, daß die mohammedanische Religion ihre großen Erfolge nicht der Gewalt der Waffen verdankt. Weil das also nach Auskunft der historischen Dokumente zwei gleichermaßen klare Sachen sind: zum einen, daß sich die christliche Religion ohne Unterstützung des weltlichen Arms ausgebreitet hat, und zum anderen, daß die Religion Mohammeds sich auf dem Wege der Eroberung ausgebreitet hat, so läßt sich unter dem Vorwand, dieser infame Betrüger habe mit seinen falschen Lehren eine Unzahl von Provinzen plötzlich überschwemmt, kein vernünftiger Einwand gegen unseren Beweis vorbringen. Es trifft sich gut für uns, daß die ersten drei Jahrhunderte des Christentums keine Parallele aufweisen; andernfalls wäre es töricht, den Mohammedanern die von ihnen angewendete Gewalt zur Ausbreitung des Korans vorzuwerfen. Sie würden uns bald zum Schweigen bringen, denn sie müßten nur die folgenden Worte von Jurieu zitieren:56 »Kann man leugnen, daß das Heidentum durch die Macht der römischen Herrscher in der Welt zu Fall kam? Man darf die Behauptung wagen, daß das Heidentum noch bestehen würde und dreiviertel Europas noch heidnisch wären, wenn Konstantin 56

Jurieu, Droits des deux souverains, S. 280. Seite 297 f. sagt er, daß »der Papismus niemals anders als durch die Macht der Fürsten abgeschafft werden wird, die ihn eingeführt haben, und daß das Heidentum im Schutze des ›Toleranzdogmas‹ noch fortbestehen und herrschen würde.«

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und seine Nachfolger ihre Macht nicht zu seiner Abschaffung eingesetzt hätten. (---).57 Die christlichen Herrscher haben das Heidentum durch Niederreißen seiner Tempel, Verbrennen seiner Götzenbilder, Verbot der Verehrung seiner falschen Götter, Ersetzung seiner falschen Propheten und falschen Lehrer durch Pastoren des Evangeliums, durch Unterdrückung ihrer Bücher und Ausbreitung der wahren Lehre zerstört.« Man sehe den achten Brief des Tableau du socinanisme, S. 501, wo eben dieser Autor versichert, »daß es unzweifelhaft ist, daß ohne die Macht der Herrscher die Tempel des Jupiter und des Mars noch stehen würden und die falschen Götter des Heidentums immer noch eine große Anzahl von Verehrern hätten.« Man muß die Schuld bekennen: Die Könige des Frankenreichs haben das Christentum in den Ländern der Friesen und der Sachsen auf mohammedanische Art eingeführt. Dieselbe Gewalt hat man zu seiner Einführung im Norden angewendet. Gemäßigte Leute erfüllt es mit Entsetzen, wenn sie das im Werk von Ornhialms lesen.58 Dieselben Mittel hat man den Sekten gegenüber angewendet, die es wagten, den Papst abzulehnen, und man wird sie in Indien anwenden, sobald es möglich sein wird.59 Aus diesem gesamten Verhalten folgt offensichtlich, daß man nicht länger einen Beweis zum Nachteil Mohammeds daraus herleiten kann, daß er seine Religion durch Zwang ausgebreitet hat, d. h. dadurch, daß er die anderen nicht dulden wollte. Denn folgendes hätte er durch eine Argumentation ad hominem sagen können: Wenn der Zwang etwas seiner Natur nach Schlechtes wäre, dann könnte man sich seiner niemals legitimerweise bedienen. Nun habt ihr euch seiner aber seit dem vierten Jahrhundert bis zum heutigen Tage bedient, und ihr behauptet, dadurch nur etwas sehr Lobenswürdiges getan zu haben. Folglich müßt ihr einräumen, daß dieses Mittel nicht seiner Natur nach schlecht ist, und folglich konnte ich mich 57

A. a. O., S. 289. Es trägt den Titel Historiae suecorum gothorumque ecclesiasticae libri IV. Man sehe die Hist. des ouvrages des savans, November 1690, S. 109 f. 59 Man sehe in Anm. (AA) die Worte des Jesuiten Frois. 58

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seiner während der ersten Jahre meiner Berufung auf legitime Weise bedienen. Denn die Behauptung wäre absurd, daß etwas, was im ersten Jahrhundert höchst verbrecherisch war, im vierten gerecht wird, oder daß etwas, was gerecht im vierten Jahrhundert ist, es nicht auch im ersten gewesen wäre. Das könnte man nur behaupten, wenn Gott im vierten Jahrhundert neue Gesetze erlassen hätte. Aber gründet ihr die Gerechtigkeit eures Verhaltens seit Konstantin bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht auf diese Worte des Evangeliums »Nötige sie, einzutreten«60 und auf die Pflicht der Herrscher? Ihr hättet daher, wenn es euch nur möglich gewesen wäre, den Zwang gleich am Tage nach der Himmelfahrt gebrauchen müssen. Bellarmin und viele andere Schriftsteller der römischen Partei würden Mohammed das zugestehen, denn sie sagen, daß,61 »wenn die Christen Nero und Diokletian nicht abgesetzt haben, dann deshalb, weil sie nicht über die weltliche Macht dazu verfügten, daß sie es aber hinsichtlich des Rechtes tun konnten, weil sie gehalten waren, keinen nichtchristlichen König über sich zu dulden, wenn er sich bemüht, sie vom Glauben abzubringen.«62 Sie waren also verpflichtet, sich einen Herrscher zu geben, der das Evangelium einführte und das Heidentum kraft seines Amtes vernichtete. Jurieu stimmt mit der Ansicht Bellarmins überein; er lehrt, daß der größte Teil der ersten Christen nur »aus Schwäche und Unvermögen«63 geduldig war. Und obschon er nicht tadelt, daß sie die Waffen nicht gegen ihre Fürsten ergriffen, kommt er zu dem Urteil, daß sie das Recht dazu hatten und nicht zu kritisieren wären, wenn sie sie ergriffen hätten. Fraglos hätte er es gebilligt, wenn sie, falls sie es vermocht hätten, einen Konstantin und einen Theodosius schon zu Neros Zeiten auf den Thron Man sehe zu alledem den  sc. Bayles  Commentaire philosophique sur  ces paroles de Jesus-Christ:  contrain-les d’entrer, Teil I, Kap. 7. 61 Bellarmin, De Rom. pont., Buch V, Kap. 7, § »quod si«, zitiert von Daillé, Replique à Adam, Teil II, Kap. 21, S. 125. 62 Bellarmin, a. a. O., § «probatur huius«, zitiert von Daillé, a. a. O. 63 Der neunte Lettre pastorale aus dem Jahr 1688, S. 202, Duodezausgabe. 60

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gesetzt hätten. Ich bitte zu beachten, daß er die Art und Weise, wie das Heidentum gestürzt worden ist, nicht als eine schlichte Tatsache berichtet, sondern als eine gerechte Sache, denn er vergleicht sie mit der Vorgehensweise der Protestanten und dem Weg, den seines Erachtens die katholischen Fürsten in Kürze zur Zerstörung der römischen Kirche einschlagen werden. Die drei Beispiele, die er für das Mittel der legitimerweise angewendeten Staatsgewalt gibt, sind die Könige Israels, die christlichen Herrscher und die reformierten Fürsten.64 Letztere, so sagt er,65 »haben das Papsttum in ihren Staaten abgeschafft, indem sie ihm die Kanzeln wegnahmen und sie mit Lehrern besetzten, die in der Lehre gesund und rein in den Sitten waren, indem sie die Bilder verbrannten, die Reliquien verscharrten und jeden Götzendienst verboten. Weit davon entfernt, daß sie dadurch gegen das Gesetz Gottes verstießen, haben sie vielmehr seine Befehle befolgt. Denn es ist sein Wille, daß ›die Könige der Erde das Tier schlachten und sein Bild zerbrechen‹. Bis zum heutigen Tage hat noch kein Protestant gegen dieses Vorgehen etwas einzuwenden gehabt, und niemals wird ein gradliniger Verstand die Angelegenheit anders begreifen. Die Dinge sind immer so gewesen, und wenn es Gott gefällt, werden sie immer so bleiben, trotz unserer Freigeister bzw. unserer Unverständigen.« Man sehe S. 284 seines Buchs, wo man diese bemerkenswerten Worte findet: »Für den geringen Erfolg, den ihr heute daraus zögt,66 würde die Kirche große Verluste erleiden, und ihr selbst würdet vielleicht in einigen Jahren gezwungen sein, euch davon loszusagen, was ihr fraglos tun würdet. Denn wenn die Könige von Frankreich und Spanien zu dem Entschluß gekommen wären, sich ihrer Macht zur Vertreibung des Papismus aus ihren Staaten zu bedienen, wie es die Könige von England und Schweden getan haben, so würdet ihr dies – weit davon entfernt, sie zu tadeln und es schlecht zu finden – nachdrücklich gutheißen. 64

Droits des deux souverains, S. 289. A. a. O. 66 Nämlich daraus, daß der französische Hof überredet würde, daß man die falschen Religionen dulden muß. 65

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Seid versichert, daß es so kommen wird, denn der hl. Geist sagt, daß ›die Könige der Erde, die ihre Macht dem Tier gegeben haben, sie ihm nehmen, es schlachten und sein Fleisch essen werden‹. Die Macht der Könige des Abendlandes hat die Herrschaft des Papismus errichtet, und diese Macht wird sie auch wieder einreißen. Und das wird mit Gottes Absicht und seinem Willen vollkommen übereinstimmen; deshalb werden wir nicht den geringsten Anlaß haben, etwas dagegen einzuwenden. Damit ihr also stets dieselben Ansichten vertretet, bleibt in der Wahrheit, die sich niemals ändert, und richtet eure Meinungen nicht nach den Interessen aus, die von Tag zu Tag wechseln.« Man sieht deutlich, daß er es als ein unveränderliches und für alle Zeiten gültiges Prinzip festsetzt, daß der Weg der staatlichen Gewalt für die Ausbreitung des Glaubens gerecht ist. Folglich müßte er, wenn er in ein Streitgespräch mit den Mohammedanern einträte, auf die Argumente verzichten, die wegen der Art und Weise, wie ihre Religion sich ausbreitete, immer gegen sie gedient haben; denn das geschah nicht dadurch, so sagt er,67 daß man »den Christen das Messer an die Gurgel setzte, um sie dazu zu bringen, dem Christentum abzuschwören und den Mohammedanismus anzunehmen«, sondern »durch die Armut, die Erniedrigung, das Elend und die Unwissenheit, in die sie die Christen gestürzt haben«: bei weitem weniger harte und langsamere Wege als die, deren man sich nach seinen Worten auf ganz gerechte Weise zur Abschaffung des Papismus bedienen wird. Man sehe die Anmerkung (AA) am Schluß.

(P) (---) aber wir verlieren den Beweis, den ihre weite Verbreitung lieferte. Ich kann dieses Thema noch nicht verlassen; ich habe noch eine Bemerkung zu machen, die von einigem Gewicht ist. Die Kirchenväter haben sich eines Beweises bedient, den man unpassend gegen die Reformatoren des 16. Jahrhunderts wendet. Die 67

Der neunte Lettre pastorale aus dem Jahr 1688, S. 196.

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Verbreitung des Evangeliums lieferte den Kirchenvätern ein gutes Argument gegen die Juden und gegen die Sekten, die sich im Schoße des Christentums herausbildeten, weil sie die Erfüllung der Prophezeiungen der Schrift zeigte, die vorausgesagt hatten, daß die Erkenntnis und die Verehrung des wahren Gottes unter dem Messias nicht wie zuvor auf einen kleinen Flecken Palästinas eingeschränkt wären, sondern daß sodann alle Nationen Gottes Volk sein würden.68 Dieses Räsonnement warf die Juden und die Häretiker nieder und behielt seine ganze Kraft bis zur Zeit Mohammeds. Seit dieser Zeit aber muß man auf es verzichten, weil die Religion dieses falschen Propheten, wenn man lediglich ihre Verbreitung in Betracht zieht, die alten Weissagungen ganz genauso auf sich beziehen konnte, wie es das Christentum getan hatte. Man kann sich deshalb nicht genug darüber wundern, daß die Bellarmins und andere große Kontroversschriftsteller dieser Art ganz allgemein gesagt haben, die Verbreitung sei das Zeichen der wahren Kirche, und daß sie behauptet haben, dadurch ihren Prozeß gegen die protestantische Kirche zu gewinnen. Sie haben sogar die Unklugheit besessen, die Prosperität zu den Kennzeichen der wahren Kirche zu zählen.69 Die Antwort war leicht vorauszusehen: gemessen an diesen zwei Kennzeichen müsse die mohammedanische Kirche mit größerem Recht als die christliche für die wahre Kirche gehalten werden. Es ist unbestreitbar, daß die Religion Mohammeds sich viel weiter erstreckt als das Christentum. Ihre Siege, ihre Eroberungen, ihre Triumphe sind unvergleichlich glanzvoller als alles, dessen sich die Christen auf diesem Felde der Prosperität rühmen können. Die größten Schauspiele, welche die Geschichte bieten kann, sind fraglos die Taten der Mohammedaner. Gibt es etwas Erstaunlicheres als das Reich der Sarazenen, das sich von 68

Man sehe den Père Thomassin, De l’unité de l’église, Bd. II. 69 »Die Historia saracenica von Elmacin schildert auf sehr deutliche Weise die schnelle Ausbreitung des unseligen Mohammedanismus sowie seinen Erfolg gegen die Christen. Man muß sich daher wundern, wie Bellarmin auf ein so schwaches Argument verfallen konnte.« Hottinger, Hist. oriental., S. 339.

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der Meerenge von Gibraltar bis nach Indien erstreckt? Fällt es? Dann erhalten die Türken auf der einen und die Tataren auf der anderen Seite Mohammeds Größe und Ruhm. Man möge mir unter den christlichen Fürsten doch Eroberer zeigen, die den Saladins, den Dschinghis Khans, Tamerlans, Amurats, Bajazeths, Mohammeds II. und Solimans ebenbürtig sind. Haben die Sarazenen das Christentum nicht bis an den Fuß der Pyrenäen zurückgedrängt? Haben sie nicht hundert Raubzüge in Italien und bis ins Herz Frankreichs geführt?70 Haben die Türken ihre Eroberungen nicht bis an die Grenzen Deutschlands und bis zum Golf von Venedig getrieben? Muß man die Bündnisse und die Kreuzzüge der christlichen Fürsten, diese großen Expeditionen, welche die römische Kirche an Menschen und Geld auszehren, nicht mit einem Meer vergleichen, das seine Wellen von West nach Ost treibt, damit sie beim Zusammenprall mit der mohammedanischen Macht wie beim Zusammenprall mit einem sehr schroffen Gestade gebrochen werden? Schließlich mußte man dem Glücksstern Mohammeds weichen, und anstatt ihn bis nach Asien zu verfolgen, hielt man es für ein großes Glück, daß man sich in Rückzugsgefechten im Herzen Europas schlagen konnte. Man sehe unten71 die ewigen Denkmäler, die das Christentum der Überlegenheit des mohammedanischen Glücks errichtet hat. Man kann auf die Mohammedaner und die Christen anwenden, was Sallust über die Athener und die Römer bemerkt: »Die Taten der Athener sind meiner Ansicht nach wirklich großartig und herrlich gewesen, wenngleich nicht ganz so strahlend, wie es überliefert wird. Weil aber bei den Athenern große schriftstellerische Talente aufgetreten sind, werden ihre Taten weltweit als die größten gefeiert. Folglich ist das Verdienst derjenigen, die sie ausgeführt haben, so groß, wie es hervorragende Talente durch Worte herauszustreichen wissen. Von solchen gab es im römischen Volk niemals viele, weil die Man sehe den Artikel ABDERAM.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  71 Im Artikel MOHAMMED II., Anm. (D).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  70

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Klügsten sich allesamt vorzugsweise mit Staatsangelegenheiten befaßten. Niemand setzte nur seinen Geist und nicht zugleich auch seinen Körper ein. Von den Besten wollte ein jeder lieber handeln als reden, wollte lieber seine Großtaten von anderen loben lassen, als selbst die von anderen schildern.«72 Die Mohammedaner, die sich mehr auf den Krieg als auf die Gelehrsamkeit legten, haben keine Geschichtswerke geschrieben, die ihren Taten gerecht würden; aber die Christen, unter denen es viele geistreiche Köpfe gibt, haben Geschichtswerke verfaßt, die alle ihre Taten übertreffen. Dieser Mangel an guten Historikern bedeutet nicht, daß diese Ungläubigen nicht zu sagen wüßten, daß der Himmel durch die errungenen Siege immer schon die Heiligkeit ihrer Religion bezeugt habe.73 Man soll ihnen diesen Sophismus lassen und sie nicht unberechtigterweise nachahmen, wie das ein Oratorianerpater getan hat.74 Sein Werk ist skandalös und hat eine verheerende Konsequenz zur Folge, denn es ist auf die falsche Annahme gegründet, die wahre Kirche sei diejenige, die Gott am reichhaltigsten mit zeitlichen Wohltaten ausgestattet habe. Wenn man die Religionsstreitigkeiten nach dieser Regel beurteilen sollte, würde das Christentum seinen Prozeß bald verlieren. Die Klugheit duldet es nicht, daß man das Christentum diesem Richtspruch unterwirft, ohne daß man sich hinter den Glaubensbekenntnissen verschanzt und sich ausbedingt, daß man weder auf die Verbreitung noch auf die größere Zahl der Siege etwas gibt. Ich weiß nicht, ob man es wagen sollte, den Urteilsspruch nach Maßgabe der Sitten fällen zu lassen. Wenn die Ungläubigen aber zustimmen sollten, den Vorzug nach Geist, Gelehrsamkeit und militärischen Tugenden zu beurteilen, dann müßte man sie beim Wort nehmen, denn sie würden ihre Sache, so wie die Dinge zur Zeit stehen, unweigerlich verlieren. In diesen drei Punkten sind sie den Christen weit unterlegen. Ein schöner Vorzug ist das, wenn man die Kunst zu 72

Sallust, Bell. Catilin., S. 14 meiner Ausgabe. Man sehe den Artikel MOHAMMED II., Anm. (D).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  74 Thomas Bozius, De ruinis gentium. 73

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töten, zu bombardieren und das menschliche Geschlecht auszulöschen besser beherrscht als sie!75 Man beachte bitte, daß die mohammedanische Religion früher großen Anteil an dem zeitlichen Ruhm gehabt hat, der auf der Pflege der Wissenschaften beruht. Sie blühten im Reich der Sarazenen mit sehr großem Glanz.76 Aufgeweckte Geister und gute Poeten traten unter ihnen hervor; es gab große Philosophen und berühmte Astronomen sowie ganz vortreffliche Ärzte, ganz zu schweigen davon, daß viele Kalifen sich durch ihre moralischen Eigenschaften und friedfertigen Tugenden, die von nicht geringerem Wert sind als die militärischen Tugenden, großes Ansehen erworben haben. Es gibt also keine einzige Art von zeitlichem Wohlergehen, mit der diese Sekte nicht in ausgezeichneter Weise versehen gewesen wäre. Ich habe gesagt, daß es nicht allzu sicher sein würde, anhand der Sitten beurteilen zu lassen, ob das Christentum die wahre Kirche ist. Das macht eine kurze Erklärung erforderlich. Ich behaupte nicht, daß die Christen hinsichtlich der Sitten liederlicher wären als die Ungläubigen, aber ich würde nicht zu behaupten wagen, daß sie es weniger sind. Die Reiseberichte stimmen nicht überein. Einige davon loben die Redlichkeit, Güte und Demut der Türken sehr und stellen die türkischen Frauen als die Schamhaftigkeit und Sittsamkeit in Person dar; andere aber sprechen sehr schlecht von den Sitten dieser Nation. Hottinger zitiert einen Autor, der die Tugend der Türken bewundert und sie dem Verhalten der Christen gegenüberstellt. »Ich bin schon sehr verwundert, wenn ich mir die Sittsamkeit vergegenwärtige, die ich bei den türkischen Frauen beobachtet habe, und die schamlosen, schlechten und verdammenswerten Sitten der christlichen Frauen sehe.«77 Die türkischen Frauen zeigen niemals ihr Gesicht, gehen selten aus und halten es für schimpflich, auf einem Pferd zu reiten. Die Gespräche, die ein Man sehe die  sc. Bayles  Pensées  diverses  sur les comètes, § 141. Man sehe Hottingers Kirchengeschichte. 77 Septem Castrensis, Kap. 12 bei Hotting., Histor. oriental., S. 311. Septem Castrensis ist ein Mönch, der lange Zeit Gefangener der Türken war. 75 76

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Ehemann mit seiner Frau in seiner Wohnung führt, sind so sittsam, daß man darin genausowenig wie in seinem Verhalten etwas Sinnliches bemerkt. (…).78 Chardin berichtet uns, daß man in Persien heiratet, ohne sich zu sehen und »daß ein Mann seine Frau erst sieht, wenn er die Ehe vollzogen hat, und daß er sie oft erst mehrere Tage«, nachdem sie zu ihm gebracht wurde, »vollzieht, weil die Schöne flieht und sich unter den Frauen versteckt und nicht gewillt ist, es den Mann tun zu lassen. Dergleichen geschieht oft unter Personen von Stande, weil es ihrer Ansicht nach ein Zeichen von Liederlichkeit wäre, die letzte Gunst so schnell zu gewähren. Ganz besonders verhalten sich die Mädchen von königlichem Blut so, es dauert Monate, um sie dahin zu bringen.«79 Ganz anders spricht er von den Georgierinnen, die christlichen Glaubens sind. Denn nachdem er den Georgiern alle erdenklichen Mängel beigelegt hat, fügt er hinzu: »Ihre Frauen sind genauso lasterhaft und genauso böse; sie haben eine große Schwäche für die Männer und haben gewiß größeren Anteil als diese an dem Strom der Unzucht, der ihr ganzes Land überschwemmt.«80 Der von Hottinger zitierte Autor erhebt die Sitten der Türken genauso hoch über die der Christen wie das Verhalten der Türkinnen über das der Christinnen.81 Andere Berichte werfen den Türken eine extreme Sittenlosigkeit vor und vergessen dabei nicht, die Menge ihrer Konkubinen zu erwähnen, die sie auf dem Markt kaufen und die sie betrachten und überall anfassen, bevor sie sich über den Preis einigen82 – ganz wie es Fleischer machen, wenn sie ein Stück Vieh kaufen. »Es trifft zu, was Pius II. (Buch I, Brief 131 und Boskhierus [---]) über die Türken geschrieben hat, ›daß sie ein Volk sind, das

78

Ders., ebd. Nouvelles de la république des lettres, Oktober 1686, S. 1139, in dem Abriß von Chardins Voyages. 80 A. a. O., S. 1129. 81 Septem Castrensis, De turcarum moribus, Kap. 8, S. 38, bei Hotting., Histor. orient., S. 304. 82 Man ziehe hinzu, was ich aus Sueton oben in Fußn. (64) des Artikels FULVIA zitiere.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  79

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dem Oralverkehr, der Fellatio und dem Lesbentum zugetan ist und daß sie den Geschlechtsverkehr mit allen Frauen vollziehen und genießen‹. Wir wollen noch hinzufügen, daß sie wahrhafte Lüstlinge sind, weil sie nicht nur die jungen Mädchen (wie Bartholomej Georgijevic, Kap. 6 f. schreibt,) selbst vor den Augen ihrer Väter entjungfern, sondern daß diese von ungezügelter Lust getriebenen Männer sich sogar männliche Gefangene zum Beischlaf nehmen (Boskhier., S. 61, 89). Auf dem Markt stellen sie ihre Männer und Frauen nackt zur Schau, damit sie in aller Öffentlichkeit betrachtet und betastet werden können, sogar dort, wo die Natur Schamhaftigkeit verlangt. Man befiehlt ihnen, nackt zu laufen und zu springen, damit so ihre Mängel, ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Vorzüge und Nachteile zum Vorschein kommen.«83 Hier haben wir einen Papst, der den Türken viele schmutzige Handlungen vorwirft, aber was die katholischen Schriftsteller über den römischen Hof geschrieben haben und was man von vielen christlichen Nationen schreiben könnte, ist nicht besser, so daß man anscheinend ganz allgemein sicher sein kann, daß Christen und Ungläubige einander nichts vorzuwerfen haben und daß, falls es einen Unterschied zwischen ihren schlechten Sitten gibt, eher die Unterschiede des Klimas als die der Religion die Ursache hierfür sind.

(Q) Er hat das schöne Geschlecht niemals in seine Absichten hineingezogen. Die den Männern zugestandene Erlaubnis, mehrere Frauen zu haben und sie auszupeitschen, wenn sie nicht gehorchen wollen,84 sowie sie zu verstoßen, wenn sie ihnen nicht mehr gefallen,85 ist ein sehr unbehagliches Gesetz für das schöne Geschlecht. Mohammed hütete sich sehr davor, den Frauen die Erlaubnis zuzubilligen, mehrere Männer zu haben, und er wollte nicht 83 84 85

Cornelius Uythagius im Antichristus Mahometes, S. 276. (…). Koran, Sure IX. (…). A. a. O., Sure VIII.

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einmal, daß sie widerwärtige Männer ohne deren Zustimmung verlassen durften.86 Er ordnete an, daß eine verstoßene Frau sich nur zweimal wiederverheiraten durfte und daß sie, wenn sie von ihrem dritten Ehemann verstoßen wurde und der erste sie nicht wieder aufnehmen wollte, ihr ganzes Leben lang auf die Ehe verzichten mußte.87 Weit entfernt ihnen zu erlauben, die Brust oder wenigstens den Hals zu zeigen, wollte er nicht einmal, daß man ihre Füße sieht; ihr Ehemann allein durfte dieses Vorrecht genießen. (…).88 Es trifft jedoch zu, daß er hierin nur der in Arabien gängigen Mode folgte, denn wir erfahren von Tertullian, daß die Frauen in diesen Gegenden ihr Gesicht soweit verhüllten, daß sie nur ein Auge gebrauchen konnten. (…).89 Ich glaube, man täuscht sich,90 wenn man behauptet, Mohammed habe den Männern erlaubt, so viele Frauen zu heiraten, wie sie wollten, denn er modifiziert diesen Satz seiner Lehre und schränkt ihn derart ein, daß deutlich erkennbar wird, daß er den Männern lediglich die Ehe mit bis zu vier Frauen gestatten wollte, vorausgesetzt, daß sie sich imstande fühlten, die Frauen in Frieden zu halten. (…).91 Aber man täuscht sich durchaus nicht, wenn man versichert, daß er die Anzahl ihrer Konkubinen nicht beschränkt hat. So sieht man denn auch, daß die Türken so viele davon haben können, wie sie zu ernähren vermögen. Ist die Lage von vier Ehefrauen unter einem Gesetz nicht beklagenswert, das dem Mann das Recht gibt, ihnen das vorzuenthalten, was er ihnen schuldig ist und es den hübschen Sklavinnen – und zwar so vielen, wie er nur kaufen kann – zukommen zu lassen? Führt diese Verschwendung ehelicher Güter nicht zu Bedürftigkeit und außerordentlichem Leid bei den Frauen? Man sage mir nicht, das Gesetz hätte dem dadurch

86

(…). A. a. O., Sure III. Ebd. 88 A. a. O., Sure XXXIV. 89 Tertullian, De virginibus velandis. 90 Man sehe Ricaut, Etat de l’empire ottoman, Buch II, Kap. 21 und die Anmerkungen von Bespier. 91 Koran, Sure VIII. 87

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vorgebeugt, daß es den vier Ehefrauen zubillige, in jeder Woche einmal mit ihrem Ehemann zu schlafen, »so daß, wenn eine von ihnen eine ganze Woche ohne den Genuß dieses Privilegs zubringen mußte, sie das Recht hat, die Donnerstagnacht der kommenden Woche für sich zu verlangen, und ihren Mann vor Gericht bringen kann, wenn er ihr das abschlägt.«92 Trotz dieses Rechtes ist das Gesetz sehr hart; ein Gesetz, sage ich, das in kleine Portionen einteilt, was kaum als Ganzes ausreichen würde, und das man so mühelos übertreten kann. Das ist eine schöne Entschädigung für die brüskierte Partei: eine einzige Nacht als Wiedergutmachung für eine verlorene Woche ist recht wenig; das lohnt die Mühe nicht, bei Gericht vorstellig zu werden und sich auf die Durchsetzung einer so delikaten und der Schamhaftigkeit so zuwiderlaufenden Angelegenheit einzulassen. Und welches Vergnügen kann man an einer Sache dieser Art haben, wenn sie nur als Ausführung eines richterlichen Urteils gewährt wird? Dies darf kein befohlenes Werk sein, nihil haec ad edictum praetoris  Die Sache schickt sich nicht, um durch den Spruch des Praetors entschieden zu werden . Wenn man es nur pflichtgemäß tut, perfunctorie, et dicis causa  beiläufig und nur der Form halber , dann kann es kein großes Vergnügen bereiten. Wir müssen folglich zugeben, daß Mohammed das weibliche Geschlecht nicht sehr rücksichtsvoll behandelt hat. Hier kommen noch weitere bemerkenswerte Nachrichten. Er begnügte sich nicht damit, das weibliche Geschlecht in dieser Welt unglücklich zu machen, sondern nahm ihm sogar die Freuden des Paradieses. Er wollte ihnen nicht nur den Zugang dorthin verwehren, sondern er wollte außerdem, daß diese Freuden zur Betrübnis der Frauen dienten. Er soll nämlich gelehrt haben, daß die Freuden der Ehe, welche die Männer nach diesem Leben genießen sollen, ihnen von Jungfrauen von hinreißender Schönheit bereitet werden, die Gott im Himmel erschaffen hat und die von Ewigkeit her für sie bestimmt sind. Was aber die Frauen betrifft, so werden sie nicht ins Paradies eintreten 92

Ricaut, Etat de l’empire ottoman, S. 457.

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und sich ihm nur soweit nähern, wie es nötig ist, um durch die Gitter sehen zu können, was sich drinnen abspielt. Sie werden also Augenzeugen des Glücks und des Vergnügens sein, das die Männer mit diesen himmlischen Jungfrauen genießen. Kann man sich eine größere Bitternis vorstellen? Heißt das nicht, sehr einfallsreich bei der Kränkung seines Nächsten zu sein? Lukrez hat irgendwo gesagt, es sei angenehm, einen Schiffbruch zu beobachten, wenn man nichts davon zu befürchten hat:93 »Wenn man im Schutze des Hafens sicher vor dem Unwetter ist, empfindet man bei dem schrecklichen Anblick des allertraurigsten Schiffbruchs etwas unerklärlich Angenehmes. Nicht, daß das Elend eines anderen etwas wäre, was man liebt, aber es erfüllt uns mit Vergnügen zu sehen, daß eben dieses Elend weit von uns entfernt ist.«94 Mohammeds Lehre zufolge ist es für die Frauen genau umgekehrt: Der Anblick des Glücks, das ihnen genommen ist, betrübt sie und ist für sie um so schmerzhafter, teils weil er sie das Glück eines anderen, teils weil er sie das Glück, das ihnen fehlt, erkennen läßt; denn die Qual der Eifersucht rührt weit weniger daher, selbst etwas zu entbehren, als zu wissen, daß ein anderer es genießt. Ich habe viele Leute sagen hören und glaube es sogar gelesen zu haben, daß die Verdammten in der Hölle eine sehr genaue Vorstellung von dem Glück des Paradieses haben werden, damit die Erkenntnis der großen Güter, die sie verfehlt haben zu erwerben, ihre Verzweiflung steigert,95 und daß der Teufel von diesem Kunstgriff Gebrauch machen wird, um sie noch unglücklicher zu machen. Das heißt, die Methode gut zu verstehen, die Leiden eines elenden Menschen noch zu vergrößern. Wir wollen also noch einmal sagen, daß Mohammed seine Gefühllosigkeit auf keine boshaftere Weise

93

(…). Lukrez, Buch II, am Anfang. Sentimens de Cleanthe, S. 36 meiner Ausgabe. (…). 95 Man könnte hierauf die folgenden Verse von Persius, Sat. III, Vers 36 ff. anwenden. »Großer Vater der Götter! Wenn Du die grausamen Tyrannen bestrafen willst, dann tue es auf folgende Weise: wenn unheilvolle Lust sie wie brodelnd heißes Gift antrieb, dann zeige ihnen die Tugend, damit sie sich nach ihr, die sie verloren haben, verzehren.« 94

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zu erkennen geben konnte, denn er wollte, daß die Frauen aus der Ferne das sahen, was nur vergebliche Bemühungen und unerträglichen Schmerz hervorrufen konnte. Um die Dinge aber so zu schildern, wie sie sind, muß ich darauf hinweisen, daß verständige Mohammedaner nicht behaupten, daß die Frauen vom Paradies ausgeschlossen sein werden:96 Dennoch halte ich mich für befugt zu berichten, was ich bei mehreren Autoren gelesen habe. Ich will nur einen von ihnen zitieren. »Sie behaupten, daß diese Frauen keine menschlichen Wesen sind und nicht von Menschen gezeugt, sondern himmlische Gestalten sind, die von Ewigkeit her zu diesem Zweck von Gott erschaffen wurden. Die Mohammedaner sind nämlich der Ansicht, daß die Frauen, die sie in dieser Welt hatten, vom Paradies ausgeschlossen sein werden und in einiger Entfernung von draußen durch die Gitter die Freuden ihrer Männer beim Beischlaf mit anderen Frauen anschauen werden. Sie glauben, daß es dort weit mehr Frauen als Männer geben wird und daß alle Männer je nach ihrem Verdienst mehr oder weniger Frauen haben werden, die sie nicht zur Fortpflanzung, sondern einzig zum Genuß und zur Befriedigung ihrer Lust gebrauchen werden; und daß ihnen, damit sie den Beischlaf öfter vollziehen können, größere Kräfte zuwachsen werden und die Frauen zu diesem Zweck keine Menstruation mehr haben werden.«97 Dieser Autor zitiert niemanden und hat zuvor einige Passagen aus dem Koran angeführt, die uns lediglich belehren, daß die Damen des Paradieses sehr strahlende Augen von der Größe eines Eies haben und so sittsam sein werden, daß sie ihre Blicke ausschließlich auf ihre Männer richten.98 Im Koran findet man das also nicht, was dieser Autor über diese Damen berichtet, nämlich daß sie dort viel zahlreicher als die Männer sein werden, damit jeder zwei, drei oder noch mehr von ihnen nach Maßgabe seines Verdienstes haben kann, daß sie nur zur Man sehe den Artikel HALI-BEIGH, Anm. (C).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  97 Hoornbeeck, Summa controvers., S. 175. 98 (…). Sure XLVIII, LXII. 96

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Lust und nicht zur Fortpflanzung dasein werden, daß sie stets in der Lage sein werden, ihre Ehemänner zu befriedigen, weil sie der Menstruation nicht mehr unterliegen, wie die Mediziner das nennen, daß sie so schön sein werden, daß eine einzige von ihnen die ganze Erde des Nachts erleuchten könnte, daß sie dem Meer seine Salzigkeit nähmen, wenn sie hineinspeien würden. (…).99 Auf einige dieser Dinge bin ich in einem Brief von Clenard gestoßen, aber das ist lediglich die Meinung einer Privatperson, und folglich gibt uns das nicht das Recht, diese Dinge dem gesamten Mohammedanismus anzulasten. »Ich bitte Dich, höre«, so spricht Clenard, »was mir dieser Lehrer erzählte, als wir jene Stelle im Koran lasen, an der über das Paradies gesagt wird, ›daß die Männer dort reine Frauen haben werden. Reine‹, so sagt er, ›das heißt, frei von der Menstruation, so daß sie zu jeder Zeit mit ihnen schlafen können.‹ ›Wie‹, fragte ich, ›wird es im Paradies Eheschließungen geben?‹ ›Warum nicht? Jedoch werden daraus keine Kinder hervorgehen‹, antwortete er. ›Denn Frauen wird es dort nur für die Lust geben, nicht um Kinder zu zeugen, und jeder Mann wird dort je nach Verdienst mehrere Frauen haben. Und Gott wird dem einen mehr, dem anderen weniger Kraft zur Befriedigung von wenigen oder vielen Frauen verleihen.‹«100 Wir wollen dieselbe Anmerkung auf das anwenden, was ich nun sagen werde. Man darf dies nicht Mohammed anlasten, wie es Pierre Belon tut. Das sind Erzählungen oder falsche Erläuterungen von irgendwelchen verträumten oder albernen Doktoren. »Nachdem die Türken sich in ihrem Paradies satt gegessen und satt getrunken haben, werden mit Juwelen und Edelsteinen geschmückte Knaben mit Reifen an Armen, Händen, Beinen und Ohren zu den Türken kommen, jeder mit einer schönen Schüssel in der Hand, in der eine große Zitrone oder Limone liegt, welche die Türken ergreifen, um daran zu riechen und sie zu schmecken. Und sobald ein jeder Türke sie seiner Nase genähert hat, wird daraus eine schöne, hübsch gekleidete Jungfrau entsteigen, die 99 100

Hoornbeeck, Summa controvers., S. 175. Clenard, Epist., Buch I, S. 42.

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den Türken umarmt und von ihm umarmt werden wird, und sie werden fünfzig Jahre in dieser wechselseitigen Umarmung verharren, ohne aufzustehen und sich voneinander zu trennen und werden alle Arten des Vergnügens miteinander genießen, die ein Mann mit einer Frau nur haben kann. Und nach fünfzig Jahren wird Gott zu ihnen sprechen, ›O meine Diener, weil ihr ein großes Mahl in meinem Paradies gehalten habt, will ich euch mein Antlitz zeigen‹. Daraufhin wird er den Schleier von seinem Gesicht nehmen. Die Türken aber werden wegen des Glanzes, der dadurch entsteht, zu Boden fallen, und Gott wird zu ihnen sprechen: ›Steht auf, meine Diener, und erfreut Euch an meiner Herrlichkeit, denn ihr werdet nie wieder sterben noch Trauer oder Mißbehagen empfinden.‹ Und indem sie ihre Köpfe erheben, werden sie Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. Dann wird jeder seine Jungfrau wieder an sich nehmen und sie in sein Zimmer im Palast führen, wo er Speisen und Getränke vorfinden wird; und indem er ein großes Mahl hält und sich zugleich mit seiner Jungfrau vergnügt, wird er seine Zeit lustvoll und ohne Angst vor dem Tod verbringen. Das hat Mohammed zusammen mit anderen derartigen Torheiten von seinem Paradies erzählt. Hiernach scheint es uns, daß der Ursprung der Serails der Türken von dem herrührt, was Mohammed von den Knaben und den Jungfrauen des Paradieses gesagt hat, denn er lehrt, daß die keuschen Jungfrauen von Gott so im Paradies erschaffen und sorgfältig und von Mauern umgeben bewacht werden. Außerdem sagt Mohammed, daß, wenn eine von ihnen um Mitternacht das Serail des Paradieses verlassen sollte, sie wie die Sonne die ganze Welt erhellen würde, und daß, wenn eine von ihnen ins Meer spiee, das Meerwasser dadurch so süß wie Honig werden würde.«101

101

S. 392.

Pierre Belon, Observations de plusieurs singularitez, Buch III, Kap. 9,

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(R) Er fürchtete (---) die Perserinnen. Ein moderner Autor102 belehrt mich, ohne daß er jemanden zitierte, daß dieser Verführer »gestanden hat, daß die bloße Vorstellung von persischen Frauen« der Grund war, weshalb Mohammed niemals in dieses Land ging, »denn sie waren so reizvoll, daß selbst die Engel sich in sie verlieben und ihnen zu Füßen fallen würden.« Offensichtlich fürchtete er, daß sie Einfluß auf seine Feder und seine angeblichen Offenbarungen nehmen und ihn dazu bringen könnten, allzu weibische Gesetze zu erlassen,103 was ihm viel üble Nachrede eingetragen hätte. Denn ihm war sehr wohl bewußt, daß seine schamlosen Taten viel Ärgernis hervorriefen. Man sehe die Fußnote.104

(S) Man berichtet ganz einzigartige Dinge von seiner Kraft bei den Frauen. Die Autoren sind sich über die Anzahl seiner Frauen nicht einig, aber man stimmt fast durchgängig darin überein, daß er mehrere zugleich hatte und seine ehelichen Pflichten kräftig erfüllte.105 »Man kann bei Abulpharagius lesen, daß er einigen zufolge ohne die Mätressen, die er sich hielt, bis zu siebzehn Frauen hatte. (---).106 Es ist nicht allzu schwer, ihn107 nach ihren Begriffen für einen Heiligen zu halten, wenn man weiß, daß er lediglich vierzehn Frauen heiratete und daß diese große 102

La Mothe le Vayer, Brief CXIV, Bd. XII, S. 11 f. D. h. zu günstige für die Frauen, wie man es auch von einigen Gesetzen Justinians sagt, dessen Ehefrau großen Einfluß hatte. 104 Folgendes liest man bei Brantôme, Dames galantes, Bd. I, S. 204: »Einem alten und geläufigen Sprichwort zufolge sagen die Mohren, daß ihr Prophet Mohammed niemals nach Shiras gehen wollte, weil er fürchtete, seine Seele würde nach seinem Tod niemals in das Paradies eintreten, wenn er nur einmal diese schönen Frauen gesehen hätte.« 105 Chevreau, Hist. du monde, Buch V, S. 14 meiner Ausgabe. 106 A. a. O., S. 19. 107 D. h. Ali. 103

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Hingabe beinahe nur drei Grad unterhalb der von Mohammed lag, der, seine Mätressen nicht eingerechnet, siebzehn Frauen hatte, die gewaltige Freude daran hatten, zum Vergnügen ihres großen Propheten beizutragen. Es trifft zu, daß Ali nicht so leidenschaftlich war wie sein Schwiegervater, der sich rühmte, jede Nacht die rechtmäßigen Pflichten des Ehestandes zu erfüllen und durch ein besonderes Vorrecht zu diesem Anlaß die Kraft von vierzig Männern erhalten zu haben.« Wir wollen die Bemerkung des Herrn Bespier über das von Ricaut Gesagte lesen,108 wonach Mohammed neun und Ali vierzehn Frauen gehabt hat. »Johannes Andreas sagt auf ein und derselben Seite am Anfang des siebten Kapitels ›Über die Verwirrung der mohammedanischen Sekte‹, daß Mohammed ohne die Sklavinnen neun Frauen gehabt hat; und an derselben Stelle sagt er, daß er elf gehabt hat und beweist das durch ein Buch, das er Assameil nennt, und das, wie er sagt, das Buch der guten Gewohnheiten Mohammeds ist.«109 Die von Johannes Andreas aus diesem Buch zitieren Worte besagen, daß er so stark war, daß er in einer Stunde mit seinen elf Frauen schlafen konnte. (…). Baudier110 spricht Mohammed ohne die Sklavinnen fünfzehn Frauen zu. Elmacin spricht nur von drei Frauen Mohammeds, aber er vergißt die erste, die gestorben war, bevor er die drei anderen heiratete. »Ich glaube nicht«, sagt Bespier, »daß es etwas wirklich Zuverlässiges über die Anzahl der Frauen Mohammeds und noch weniger über die Alis gibt, von dem ich bis jetzt nicht gelesen habe, daß er eine andere Frau als Mohammeds einzige Tochter namens Fatima geheiratet hätte.«111 Pfeiffer berichtet, daß dieser falsche Prophet »einigen zufolge bis zu siebzehn und anderen zufolge bis zu zwanzig Frauen nahm.«112 Das wäre

108 109 110

Etat présent de l’empire ottoman, Bd. II, S. 456. Bespier, Remarques curieuses, Bd. II, S. 681. De la religion des Turcs, Buch I, Kap. 2, zitiert von Bespier, a. a. O.,

S. 682. 111

Bespier, a. a. O. Pfeiffer, in Theologiae mohammedicae principia sublesta, in der Bibliothèque universelle, Bd. VII, S. 257. 112

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kaum befremdlich; ganz außergewöhnlich ist aber das von Belon Berichtete, von dem ich bereits gesprochen habe. »In einem arabischen Buch«, so sagt er,113 »mit dem Titel ›Die guten Gewohnheiten Mohammeds‹, das seine Tugenden und seine körperliche Kraft lobt, heißt es, daß er sich rühmte, mit seinen elf Frauen, einer nach der anderen, in ein und derselben Stunde zu verkehren.«114 Manch einer wird sich hier an den Père Fredon bei Rabelais erinnern.115 Ich weiß nicht, ob man der Erzählung Glauben schenken darf, daß Mohammed Verkehr mit seiner Eselin gehabt hat. »Mohammed, der Gesetzgeber der Türken, verging sich von ungezügelter Lust hingerissen an einer Eselin.«116

(T) Er hat nicht gewagt, dieses Vorrecht ausschließlich für sich zu reservieren, obschon er beim Inzest die Kühnheit besaß, (---) ihn kraft eines besonderen Vorrechts für sich allein zu reservieren. Um seine Unkeuschheit zu beschönigen, die ihn dazu getrieben hatte, mehrere Frauen zu heiraten, gab er vor, Gott habe ihm offenbart, dies sei erlaubt. Folglich mußte er diesen Artikel in seinen Koran aufnehmen. Weil er aber Gefallen an seinen Dienerinnen fand und mit ihnen schlief, brauchte er eine weitere Offenbarung für den Ehebruch; er mußte also einen Artikel ausdrücklich für das Konkubinat der Ehemänner einfügen. Er hatte damals nur zwei Frauen, als ihm seine Dienerin Ma113

Belon, Observations de plusieurs singularitez, Buch III, Kap. 10, S. 404 meiner Ausgabe, und nicht Kap. 9, wie La Mothe le Vayer, Brief XC, Bd. XI, S. 272 angibt. 114 Man sehe die Anmerkung (II). 115 »Sagt bei dem Schwur, den Ihr abgelegt habt: Wie oft tut Ihr es für gewöhnlich wenigstens am Tage? Fr.: Sechsmal. Pan.: Und des Nachts? Fr.: Zehnmal. Zum Henker, sagt Bruder Jean, es ist eine Schande, daß es der Hurensohn nicht über sechzehn gebracht hat.« Rabelais, Buch V, Kap. 28. 116 Balthasar Bonifacius, Historia ludicra, Buch II, Kap. 7, S. 39. Er zitiert Bonfinius decis. (vermutlich meint er ›decad‹.) 1, Buch VIII.

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rina, ein sehr hübsches Geschöpf, so sehr gefiel, daß er mit ihr schlief, noch bevor sie ins heiratsfähige Alter gekommen war. Seine Frauen überraschten ihn dabei und waren empört. Er schwor ihnen, daß er es nicht noch einmal tun wollte, falls sie Stillschweigen bewahren würden. Weil er seinen Schwur jedoch brach, schlugen sie Krach und verließen sein Haus. Um diesen großen Skandal aus der Welt zu schaffen, erdichtete er eine himmlische Stimme, die ihn belehrt habe, es sei ihm erlaubt, es mit seinen Dienerinnen zu treiben. So begann dieser Betrüger damit, ein Verbrechen zu begehen, und endete dabei, es in ein allgemeines Gesetz zu verwandeln. Das sieht ganz und gar nicht nach Fanatismus aus. Ein guter Prüfstein zur Beurteilung, ob diejenigen, die sich rühmen, Eingebungen erhalten zu haben – sei es zur Aufstellung neuer Prophezeiungen, sei es zur Erklärung alter wie zum Beispiel der Apokalypse –, dabei aufrichtig verfahren, ist die Untersuchung, ob ihre Lehre sich mit der Zeit ändert und ihren wechselnden persönlichen Vorteilen entspricht.117 (…). Mit einer Unverschämtheit, über die man sich nicht genug wundern kann, gab Mohammed vor, Gott habe den Inzest allen anderen Menschen verboten, ihm aber durch eine besondere Gnade gestattet. »Er selbst verbietet in dem Kapitel ›Über die Frauen‹ unter Androhung schwerer Strafen anderen Männern, blutsverwandte Frauen zu heiraten: ›Vermischt Euch nicht mit Frauen, die Eure Väter erkannt haben, weil es schändlich, böse und unrecht ist. Eure Mütter, die Töchter Eures Bruders sowie die Töchter Eurer Schwester sind Euch verboten.‹ Sich selbst aber verleiht er in dem Kapitel ›Über die Häretiker oder die Sekten‹ die Erlaubnis, jede Frau zu nehmen, die er nur haben will, als wäre sie durch göttlichen Ausspruch erteilt. ›O Prophet‹, so spricht Gott zu ihm, ›gewiß geben wir Dir Gewalt über alle Deine Frauen, denen Du ihren Lohn zahlen kannst und über jede, die Deine Hand ergreift, seien es Töchter Deines Onkels, Töchter Deiner Tante, Töchter des Bruders Deiner Mutter, Töchter der Schwester Deiner Mutter, die mit Dir umhergereist sind, und über jede gläubige Frau, die willens ist, sich Dir, dem 117

Man sehe die Anmerkung (NN).

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Propheten, hinzugeben. Und dieses Vorrecht wird Dir im besonderen und ganz allein Dir und niemandem sonst gewährt.‹ Ein Vorrecht, das des Propheten würdig ist! Und weiter heißt es: ›Dir ist es erlaubt, mit jeder von diesen zu schlafen, und jede, die Du haben willst, in Dein Bett zu bringen; und es wird kein Verbrechen für Dich bedeuten, wenn Du die eine nimmst und die andere zurückweist. Doch damit nicht genug! Denn sie sollen Dir dankbar sein für alles, was Dir zu tun gefällt, und sollen sich nicht betrüben oder sich beklagen über irgend etwas, was Du ihnen geben wirst.‹ Was für ein schamloser Halunke! Er ist hauptsächlich darum bemüht, sich selbst die Befriedigung seiner promiskuitiven und höchst schändlichen Begierden zu gestatten.«121 Mohammed hat nicht immer gewagt, seine Vorrechte auszuweiten, denn für die Zukunft untersagte er es sich, seinem Nächsten die Frau wegzunehmen. Er beschränkte sich darauf, der Welt mitzuteilen, Gott habe seine vergangenen Taten gebilligt, vorausgesetzt, er tue es nicht wieder. Um das richtig zu verstehen, muß man wissen, daß Mohammed, der bereits mit neun Frauen verheiratet war, noch eine zehnte heiratete, die er seinem Diener weggenommen hatte. Darüber murrte man; der Knecht beklagte sich laut über dieses Unrecht. Um diesen Skandal aus der Welt zu schaffen, tat der falsche Prophet so, als sei er geneigt, das Genommene wiederherzugeben. Weil das aber nicht seine wirkliche Absicht war, fand er bald das Mittel, davon loszukommen. Er gab vor, Gott habe ihn wegen dieses Entschlusses getadelt und ihm befohlen, seine zehnte Frau zu behalten und nicht aus Gefälligkeitsgründen das menschliche Ärgernis zum Nachteil der göttlichen Billigung auszuräumen. (…).122 Er war sich sehr wohl bewußt, daß dies sämtliche Ehemänner alarmieren mußte; deswegen war er so geschickt, jedermann wieder zu beruhigen und teilte öffentlich mit, er werde künftig auf Befehl Gottes den Männer ihre Frauen lassen, selbst wenn er in sie verliebt wäre.123 121 122 123

Hoornbeeck, Summa controvers., S. 116. Ders., a. a. O., S. 117. »Von nun an, oh Mohammed, wird es Dir nicht mehr erlaubt sein,

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(V) Ein Mann (---) war in einem trockenen Brunnen mit Steinen überschüttet worden. Auf diese Begebenheit stößt man am Ende einer langen Passage der Coups d’etat, die ich anführen will und die mehrere Dinge enthält, die unseren falschen Propheten betreffen.124 »Als er merkte, daß er stark an der Fallsucht litt, kam er auf die Idee, seine Freunde glauben zu machen, daß die heftigsten Anfälle seiner Epilepsie ebenso viele Ekstasen und Zeichen des göttlichen Geistes seien, der in ihn hinabstieg. Außerdem redete er ihnen ein, daß eine weiße Taube, die geflogen kam, um aus seinem Ohr Körner zu fressen, der Engel Gabriel wäre, der zu ihm käme, um ihm im Auftrag Gottes mitzuteilen, was er tun solle. So kam es, daß ›er sich des Mönchs Sergius bediente, um einen Koran aufzusetzen, von dem er vorgab, er sei ihm aus Gottes eigenem Mund diktiert worden‹. Schließlich ›zog er einen berühmten Astrologen an sich, um die Völker‹ durch seine Voraussagen künftiger Staatsveränderungen und des neuen Gesetzes, das ein großer Prophet einführen werde, so vorzubereiten, daß sie sein Gesetz um so leichter aufnehmen würden, wenn er es publizierte. Als er aber einmal bemerkte, daß sein Sekretär Abdullah Ben-Salon, gegen den er einen grundlosen Groll empfand, damit begann, derartige Betrügereien aufzudecken und bekannt zu machen, schnitt er ihm eines Abends in seinem Haus die Kehle durch und ließ an allen vier Ecken des Hauses Feuer in der Absicht legen, dem Volk am kommenden Tag weiszumachen, dies sei durch das Feuer des Himmels zur Bestrafung besagten Sekretärs erfolgt, der versucht habe, einige Passagen des Korans zu ändern und zu verfälschen. Dieses Schurkenstück schien ihm indessen nicht ausreichend für seine Zwecke, er brauchte noch ein weiteres, welches das Mysterium vollendete. Es bestand darin, daß er den treuesten seiner Hausgenossen überredete, auf den Boden eines Brunnens daß Du den Männer ihre Frauen wegnimmst, selbst wenn Du von ihrer Schönheit hingerissen sein solltest.« Ders., ebd. 124 Naudé, Coups d’etat, Kap. 3, S. 322 meiner Ausgabe.

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hinabzusteigen, der nahe an einer großen Straße lag. Er sollte, wenn Mohammed in Begleitung einer großen Volksmenge, die ihm gewöhnlich folgte, an dem Brunnen vorbeikam, rufen, ›Mohammed ist der Liebling Gottes, Mohammed ist der Liebling Gottes‹. Als dies nun so geschah, wie er es vorgeschlagen hatte, dankte er auf der Stelle der göttlichen Güte für ein so bemerkenswertes Zeugnis und bat das Volk, das ihm gefolgt war, diesen Brunnen augenblicklich zuzuschütten und darauf eine kleine Moschee zum Zeichen eines derartigen Wunders zu errichten. Durch diesen Einfall wurde der arme Hausgenosse auf der Stelle erstickt und unter einem Hagel von Steinen begraben, so daß keine Möglichkeit mehr bestand, daß er dieses falsche Wunder jemals aufdecken konnte; excepit sed terra sonum, calamique loquaces  Aber die Erde nahm seine Worte auf und das geschwätzige Schilfrohr (trug sie weiter) .«125 Naudé hat vergessen, uns mitzuteilen, woher die Öffentlichkeit wußte, daß Mohammed diesen Menschen angestiftet hatte. War er nicht so einfallsreich, sich vorzustellen, daß dieser Elende seiner Frau das ganze Geheimnis offenbart hatte, die es dann ihrerseits nicht unterlassen haben würde, es ihren Nachbarn und den Vorbeikommenden zu erzählen, sobald sie vom tragischen Ende ihres Ehemanns erfuhr? Die von Naudé zitierten lateinischen Worte sind lediglich eine einfallsreiche Anwendung eines Umstandes aus der Fabel von Midas, die aber nichts erklärt und zu verstehen gibt, daß er niemals daran gedacht hat herauszufinden, wie es zur Aufdeckung dieses Kunststücks kommen konnte. Was die Taube betrifft, von der Naudé spricht, so muß ich sagen, daß Pocock, nachdem er diese Sache in Buch VI von Grotius’ De veritate religionis christianae126 gelesen hatte, diesen bat, ihm mitzuteilen, woher er diese Geschichte habe, die sich bei keinem arabischen Autor findet. Grotius antwortete, er habe dies ledig-

125

Die Geschichte von diesem mit Steinen in einem Brunnen zugeschütteten Menschen findet sich in einem anderen Buch von Naudé, nämlich in der Apologie des grands hommes accusez de magie, S. 232 f. 126 S. 202 meiner Ausgabe.

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lich auf das Wort christlicher Autoren hin vorgetragen. (…).127 Man sehe die Anmerkung (DD).

(X) Man hat gesagt (---), er sei Kardinal gewesen. »Benvenuto von Imola sagt das ausdrücklich in seinen Kommentaren zu Dante.«128 Das ist genauso absurd wie die Behauptung eines Auslegers des Kirchenrechtes, wonach Mohammed der Anführer der Nikolaiten gewesen sei. (…).129

(Y) Es hat (---) einige Gelehrte gegeben, die ihn für den Antichrist hielten. Man sehe die Abhandlung mit dem Titel Anti-Christus Mahometes, ubi non solum per S. Scripturam, ac reformatorum testimonia, verum etiam per omnes alios probandi modos et genera, plene, fuse, invicte, solideque demonstratur Mahometem esse unum illum verum, magnum, de quo in sacris fit mentio, anti-christum. Sie wurde 1666 gedruckt.130 Der Verfasser ist Cornelius Uythagius, ein Doktor der Theologie, der großen Eifer gegen den Papismus an den Tag legt und in seinem Vorwort versichert, daß er lediglich die Ansichten einiger Reformatoren entfalten und beweisen will. »Es gibt und hat immer Menschen gegeben«, sagt er, »die Mohammed für jenen großen Antichrist gehalten und unter jener großen Stadt Babylon, die uns in Kap. 17 der Apokalypse beschrieben wird, Konstantinopel, das neue Rom verstanden haben. Unter ihnen befinden sich der allerälteste der Theologen, Arethas, Bischof von Cäsarea in Kappadozien, Angelus Graecus, der in Konstantinopel lebte, 127

Eduard Pocock, Not. in specim. histor. arabum, S. 186 f. Naudé, Dialogue de Mascurat, S. 45. 129 Thomas Ittigius, De haeresiarchis aevi apostolici, S. 307 f. in den Leipziger Acta eruditorum von 1690. 130 In Rotterdam bei Johannes Ravesteynius, in Duodez. 128

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Caelius Secundus Curio, Wenzeslaus Budowez, ein Ratgeber des Kaisers, der eine Zeitlang in Konstantinopel zubrachte, sowie Boskhierus; und unter unseren Reformatoren der große Melanchthon, Bucer, Musculus, Zanchius sowie andere ältere und neuere Theologen.« De Meaux nennt weitere Schriftsteller, die dieser Meinung gewesen sind. Hier sind seine Worte: »Wenn alles dem Ende der Welt und der Zeit des Antichrist vorbehalten bleiben müßte, wäre es dann so vielen gelehrten Männern des vorangegangenen Jahrhunderts, dem Johann Annius aus Viterbo, dem Johann Hantenius aus Mecheln und unseren Doktoren Josias Clitou, Génébrard und Feuardent, der diese würdevollen Autoren lobt und ihnen folgt, erlaubt gewesen, das Tier und den Antichrist in Mohammed und in den zwei Zeugen des heiligen Johannes etwas anderes als Henoch und Elias zu erkennen?«131

(AA) Es ist ein Testament Mohammeds publiziert worden. Im Jahr 1630 ist in Paris ein Buch mit dem Titel Testamentum et pactiones initae inter Muhammedum et christianae fidei cultores veröffentlicht worden. Père Pacificus Scaliger, ein Kapuziner, hatte das Manuskript aus dem Orient mitgebracht. Gabriel Sionita ist der Verfasser der lateinischen Übersetzung. Johann Fabricius hat dieses Testament auf lateinisch im Jahr 1638 in Rostock veröffentlicht. Hinkelmann, Pastor in Hamburg, hat es 1690 auf lateinisch und arabisch publiziert.137 In der Frage, ob dieses Werk echt ist, sind die Kritiker geteilter Meinung. Grotius hält es für eine Fälschung. »Gabriel Sionita«, so sagt er,138 »hat vor kurzem das Testament Mohammeds, des falschen Propheten, oder vielmehr ein Geschenk desselben an die Chri131 137

Meaux, Préface sur l’apocalypse, Nr. 13, S. 32 f. meiner Ausgabe. Man sehe die Histoire des ouvrages des savans, Oktober 1690,

S. 80. 138

Grotius, Epist. at Gallos, S. 239, bei Hottinger, Hist. orient., Buch

II, Kap. 2, S. 237.

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sten herausgegeben, das zweifellos von den Christen erdichtet wurde, damit sie im Schutz eines so großen Namens von den Muselmanen gerechter behandelt würden. Sionita versichert jedoch, es sei echt und will die überreden, die das nicht spüren.« Voetius,139 Hoornbeeck140, Bespier141 und viele andere reformierte Prediger übernehmen diese Meinung. Hottinger,142 der das Arabische nicht gesehen hat, wagt die Frage nicht zu entscheiden. Saumaise hält das Werk für echt. »Neulich habe ich das Testament Mohammeds gesehen. An seiner Echtheit besteht kein Zweifel. Ich wünschte aber, der Übersetzer hätte es nicht so genannt; es ist nämlich nichts weniger als ein Testament. Es ist ein Bündnis und ein Vertrag, durch den die Christen Sicherheit erhalten. Elmacin scheint in der Lebensbeschreibung Mohammeds dort von ihm zu sprechen, wo er aus den Geschichtswerken der Christen berichtet, daß dieser Betrüger den Christen wohlwollend zugetan war und daß er, wenn Christen mit der Bitte an ihn herantraten, ihnen Sicherheit zu gewähren, ihnen Steuern auferlegte und sie in seinen Schutz nahm.«143 Hinkelmann144 teilt die Meinung von Saumaise. Auch Ricaut stimmt ihr zu. Denn weil er beweisen will, daß Mohammed durch Vortäuschung der aufrichtigen Absicht, mit den Christen in Frieden zu leben, anfänglich sich einer List bediente, sagt er,145 daß dieser falsche Prophet »einen Vertrag mit ihnen geschlossen hat, dessen Original im Kloster der Mönche vom Berg Karmel gefunden worden ist.« Er fügt folgende Worte hinzu:146 »Man sagt, daß dieses Original147 von jenem Ort nach Frankreich in

139

Voetius, Disp. theolog., Bd. II, S. 668. 140 Hoornbeeck, Summa controvers., S. 88. 141 Bespier, Remarques sur Ricaut, Bd. II, S. 623. 142 Hottinger, Hist. orient., S. 237. 143 Saumaise, Epist. XX, Buch I, S. 44. 144 Man sehe die Hist. des ouvrages des savans, Oktober 1690, S. 80. 145 Ricaut, Etat de l’empire ottoman, Buch II, Kap. 2, S. 307. 146 Ders., a. a. O., S. 308. 147 Er hat nicht gewußt, daß dieses Werk 1630 in Paris und 1638 in Rostock erschienen ist.

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die königliche Bibliothek gebracht worden ist. Weil es alt und selten ist, halte ich es für nicht unangebracht, seine Übersetzung hierherzusetzen.« Nachdem er den Inhalt des ganzen Schriftstücks wörtlich gebracht hat, fährt er folgendermaßen fort:148 »Obschon die Türken abstreiten, daß dieser Vertrag von Mohammed stammt, gibt es gleichwohl sehr gute Autoren, die der Meinung sind, er sei echt und zu der am Schluß angegebenen Zeit verfaßt worden, d. h. als die Herrschaft Mohammeds noch schwach und in ihren Anfängen war. Denn damals führte er Krieg gegen die Araber und befürchtete, daß sich die Christen gegen ihn stellen würden. Um also nicht von zwei Feinden auf einmal angegriffen zu werden, schloß er diesen Vertrag mit ihnen im Kloster der Mönche vom Berg Karmel, von dem diese strengen Mönche ihren Namen haben.« Fest steht, daß zu der Zeit,150 als Mohammed diese Verträge mit den Christen gemacht haben soll, die politische Klugheit es verlangte, sie nicht zu reizen. Es gibt eine Stelle im Koran, die den Ungläubigen die Gewissensfreiheit verspricht. Ricaut führt sie an.151 Er hätte eine Passage aus Elmacin zitieren können, die uns belehrt, daß Mohammed eine Gruppe Christen sehr freundlich behandelte, die ihn um sicheres Geleit gebeten hatten.152 Er erließ aus diesem Anlaß Befehle, die sie unter seinen Schutz stellten. Ricaut sagt daher mit gutem Grund, daß Mohammed den Christen anfänglich den Frieden angeboten hat; weniger gut fundiert sind die Gründe, weshalb die Christen diesem falschen Propheten seiner Meinung nach fürchterlich erschienen. »Die Christen«, sagt er,153 »empfahlen sich durch ihren Eifer, ihre Frömmigkeit und die Ausübung aller Arten von Tugenden. Das alles war mit

148

Ricaut, Etat de l’empire ottoman, Buch II, Kap. 2, S. 316 f. D. h. im vierten Jahr der Hegira. 151 Etat de l’empire ottoman, Buch II, Kap. 2, S. 307. Man sehe die  sc. Bayles  Pensées  diverses  sur les comètes, § 244. 152 »Er stellte den Leuten, die um sicheres Geleit baten (---), Schutzbriefe aus.« Ich bediene mich einer freien Übersetzung. Man sehe Hottinger, Hist. orient., S. 236, wo er Elmacin, Hist. saraz., S. 11 zitiert. 153 S. 305. 150

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der Reinheit ihrer Lehre und mit einer heiligen und festen Einheitlichkeit ihres Glaubensbekenntnisses verbunden. Weil nun die Herrscher zu dieser Zeit Christen waren, behauptete sich das Christentum nicht allein durch seine Geduld, Leidensbereitschaft und Hoffnung, wie es das in den ersten Jahrhunderten getan hatte, sondern wurde auch noch durch die Waffen und den Schutz der Herrscher unterstützt.« Das widerspricht der Meinung von jedermann. Man stimmt durchgängig darin überein, daß die Uneinigkeit der Christen, ihre Laster sowie die Laster des kaiserlichen Hofes154 die Ausbreitung des Mohammedanismus außerordentlich erleichtert haben.

Vergleich der mohammedanischen und der christlichen Toleranz Ich kann nicht zum nächsten Gegenstand wechseln, ohne über diesen hier eine Betrachtung anzustellen. Die Mohammedaner sind durch die Prinzipien ihres Glaubens verpflichtet, die anderen Religionen mit Gewalt zu stürzen; und dennoch tolerieren sie dieselben seit vielen Jahrhunderten. Die Christen haben den Befehl erhalten, nur zu predigen und zu unterweisen; und dennoch rotten sie seit undenklichen Zeiten diejenigen mit Feuer und Schwert aus, die nicht zu ihrer Religion gehören. »Wenn Ihr auf Ungläubige stoßt«, so spricht Mohammed,155 »so tötet sie, haut ihnen den Kopf ab oder nehmt sie gefangen und fesselt sie so lange, bis sie ihr Lösegeld bezahlt haben oder Ihr es für gut befindet, sie frei zu lassen. Tragt keine Bedenken, sie zu verfolgen, bis sie ihre Waffen niedergelegt haben und sich den Euren unterwerfen.« Dennoch ist es wahr, daß die Sarazenen recht früh den Weg der Gewalt verließen und daß die griechischen Kirchen, und zwar sowohl die Hauptkirche wie die abgespaltenen, bis zum heutigen Tag unter dem Joch Mohammeds bestehen. Sie haben ihre Patriachen, ihre Metropoliten, ihre Synoden, ihre 154 155

Man sehe Hottinger, Hist. oriental., S. 239. In Kap. 9 des Korans. Man sehe Ricaut, Buch II, Kap. 2, S. 318.

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Kirchenzucht, ihre Mönche. Ich weiß sehr wohl, daß sie unter einem solchen Herrn viel zu leiden haben, aber alles in allem haben sie sich mehr über den Geiz und die Schikanen der Türken als über deren Schwert zu beklagen. Die Sarazenen waren noch viel sanfter als die Türken;156 man sehe die Beweise, die Jurieu dafür angeführt hat und die er aus Elmacin und Eutychius entnommen hat.157 Man kann ganz sicher sein, daß, wenn die abendländischen Christen statt der Sarazenen und der Türken in Asien geherrscht hätten, heutzutage keine Spur mehr von der griechischen Kirche übrig wäre und daß sie den Mohammedanismus nicht so toleriert hätten, wie diese Ungläubigen dort das Christentum toleriert haben. Es ist gut, Jurieu selbst zu hören.158 »Man kann wahrhaftig sagen, daß es keinerlei Vergleich gibt zwischen der Grausamkeit der Sarazenen den Christen und des Papismus den wahren Gläubigen gegenüber. Man hat in den wenigen Jahren des Kriegs gegen die Waldenser oder sogar bei den einzigartigen Massakern der Bartholomäusnacht der Religion wegen mehr Blut vergossen, als die Sarazenen bei ihren sämtlichen Christenverfolgungen vergossen haben. Es ist gut, von dem Vorurteil befreit zu sein, der Mohammedanismus sei eine grausame Sekte, die sich dadurch etabliert habe, daß sie die Menschen vor die Wahl stellte, entweder zu sterben oder dem Christentum abzuschwören. Das ist nicht so, und das Verhalten der Sarazenen ist eine evangelische Sanftmütigkeit im Vergleich mit dem des Papismus gewesen, das alle Grausamkeit der Kannibalen hinter sich ließ. Es ist folglich nicht die Grausamkeit der Mohammedaner gewesen, die das Christentum im Osten und im Süden untergehen ließ, sondern ihre Habgier. Sie haben sich die Gewissensfreiheit von den Christen teuer bezahlen lassen, sie legten ihnen hohe Steuern auf, ließen sie ihre Kirchen erneut bezahlen, die sie manchmal an die Juden verkauften, woraufhin 156

Man sehe Ricaut, a. a. O. und Kap. 3. Jurieu, Apologie pour la réformation, Bd. II, S. 55 f. in der Quartausgabe. Man sehe auch die  sc. Bayles  Pensées  diverses  sur les comètes, S. 738. 158 Jurieu, a. a. O. 157

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die Christen sie abermals erwerben mußten; die Armut zerrüttete deren Geist und ließ ihren Mut sinken. Hauptsächlich aber hat der Mohammedanismus das Christentum durch Unkenntnis zerstört.« Er hat dasselbe in weniger Worten in einem seiner Pastoralbriefe wiederholt,159 wobei er stets voraussetzt, daß das Christentum »unter der Herrschaft der Mohammedaner untergegangen ist«. Aber er täuscht sich, und er hätte anders gesprochen, wenn er die Historiker genauer zu Rate gezogen hätte. Aber darum geht es nicht. Wir wollen fortfahren und bemerken, daß er deutlich mitteilt, daß die Sarazenen und die Türken die christliche Kirche mit größerer Milde behandelt haben, als es die Christen mit den Heiden oder untereinander getan haben, denn er merkt an, daß die christlichen Herrscher das Heidentum dadurch zerstört haben, daß sie seine Tempel einrissen, seine Götzenbilder verbrannten sowie die Verehrung seiner falschen Götter verboten, und daß die reformierten Fürsten den Papismus dadurch abschafften, daß sie die Bilder verbrannten, die Reliquien in der Erde verscharrten und den Götzendienst untersagten.160 Es liegt auf der Hand, daß die Herrscher, die eine Religion auf einen Schlag verbieten, mehr Gewalt anwenden als die Herrscher, die, wie es die Türken mit den Christen gemacht haben, ihre öffentliche Ausübung gestatten und sich damit begnügen, sie klein zu halten. Die Folgerung, die ich aus all dem ziehen will, lautet, daß sich die Menschen in ihrem Verhalten kaum nach ihren Grundsätzen richten. Auf der einen Seite haben wir die Türken, die alle Arten der Religion dulden, obwohl der Koran ihnen befiehlt, die Ungläubigen zu verfolgen; auf der anderen Seite haben wir die Christen, die nichts als Verfolgungen kennen, obwohl das Evangelium ihnen das verbietet. Sie würden sich sehr hübsch in Indien und China aufführen, wenn der weltliche Arm sie dort nur unterstützen würde. Man kann gewiß sein, daß sie dort 159

Der neunte Pastoralbrief aus dem Jahr 1688, S. 196. Ich habe seine Worte oben in Anm. (O), Fußn. (56) zitiert. 160 Man sehe, was ich oben in Anm. (O), Fußn. (56) aus den Droits des deux souverains zitiert habe.

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die Grundsätze von Jurieu anwenden würden; an einigen Orten haben sie es ja schon getan. Man lese das Folgende, man wird darin finden, daß der Vizekönig von Goa gebeten wurde, dem Evangelium durch Beschlüsse zur Beschlagnahmung von Gütern usw. zu helfen, weil Gründe zur Bekehrung der Ungläubigen nicht ausreichten. »Weil es zur Hervorbringung dieser reichen Ernte erforderlich war, daß zur Autorität der Kirche die Gewalt der Mächtigen hinzukam, die alle Hindernisse beseitigt, hat unser Herrgott sich in vielen Fällen des Vizekönigs als seines Werkzeugs bedient. Wenn nun die Brahmanen um Argumente verlegen waren, hielten sie es, um den Fangnetzen irgendwie zu entkommen, zum Zwecke der Verteidigung für ausreichend vorzutragen, daß sie nach Sitte der Vorfahren lebten. Als sie sich aber aus angeborener Halsstarrigkeit weder jemals geschlagen gaben noch Argumente von wie großer Stärke auch immer anerkannten, erließ der Vizekönig kurzerhand ein Gesetz, demzufolge vierzig Tage nach seiner Verkündung diejenigen Brahmanen, die keine Christen werden wollten, und alle ihre Angehörigen ihren Hausrat einpacken, ihren Besitz auflösen und das Land verlassen sollten; den Ungehorsamen wurde mit dessen Verlust und mit der Galeere gedroht.«161 Man sehe die Fußnote.162

(CC) Es war ihm als dem von den Juden erwarteten Messias ein Leichtes, sie hinter sich zu bringen. Es gibt Autoren, die behaupten, daß Mohammed sich eine Zeitlang für den Messias ausgab und die Orakel des Alten Testaments auf sich bezog, die in unserem Herrn in Erfüllung gegangen sind.164 Durch diesen Kunstgriff zog er viele Juden an sich; 161

Ludovicus Frois in der Epistola ad fratres in Europa degentes scripta Goae primo die decembris 1560, bei Dannhauer, Vale triumphale, S. 10. 162 Die von den Spaniern in Amerika ausgeübten Grausamkeiten sind schrecklich. 164 (…). Joh. à Lent, De judaeor. pseudo-messiis, S. 28 f.

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der erbärmliche Zustand, in dem sich dieses Volk in Arabien befand, machte es noch anfälliger für Betrügereien. Es heißt, daß die Juden erst nach seiner Flucht nach Mekka mit ihm gebrochen haben, und es gibt kaum gute Gründe zur Erklärung dieses Bruchs. Denn es sind nur alberne Geschichten, wenn man, wie einige es tun, anführt, daß sie sich vor ihm ekelten, weil sie gesehen hatten, wie er Kamelfleisch aß. Ich begreife auch nicht, daß sie ihn eine Zeitlang für den Messias hielten, denn einerseits sagt die Schrift ausdrücklich, daß der Messias aus der Familie Davids hervorgehen werde, und andererseits war es allgemein bekannt, daß Mohammed ihr nicht entstammte, sondern heidnischer Abstammung war. Wie dem auch sei, wir wollen die Autoren anführen, die das von mir Berichtete gesagt haben. »Jedenfalls hat er sich anfänglich bei seiner Frau Chadidscha, den Arabern und den Juden als der Messias ausgegeben, den die Juden erwarteten, wie wir bei Enustinus, Geneal. mahom., S. 10 lesen. Der Abt von Ursperg, Chronicum, S. 150 meiner Ausgabe sagt: ›Dieser Mann war ein Pseudoprophet, genoß aber bei ihnen großes Ansehen, so daß sie ihn gleich bei seinem ersten Auftreten für den von ihnen erwarteten Christus hielten.‹165 (---). Viele Juden sind Mohammed gefolgt, die ihn sogleich als den wahren Messias anerkannten. Theophanes und andere Autoren jener Zeit schreiben, daß die Juden an Mohammed bis zu seiner Flucht festhielten. (…). Dieselben Autoren berichten, daß die Juden sich von Mohammed abwandten, als sie gesehen hatten, daß er Fleisch von einem Kamel aß. Andere Autoren führen andere Gründe für die Trennung an.«166 Es steht fest, daß die Juden Mohammed nicht bis zu seinen Tod gefolgt sind, denn er hat sie sowohl mit dem Schwert wie mit der Feder auf das Heftigste verfolgt. Er verflucht sie an mehreren Stellen seines Korans, und der Krieg, den er gegen sie führte, war für sie sehr blutig und sehr verlustreich.167 Die Türken folgen der Geistes165

A. a. O., S. 29. Ders., S. 30. 167 Man sehe Hottinger, Histor. oriental., S. 214 f., Johan à Lent, De judaeor. pseudo-messiis, S. 30, aus Elmacin, S. 6. 166

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haltung ihres Propheten auf bewundernswerte Weise, denn sie empfinden mehr Abscheu gegen die Juden als gegen irgendein anderes Volk der Welt und erlauben nicht, daß ein Jude, der zum Mohammedanismus übergetreten ist, auf ihren Friedhöfen bestattet wird.168 Falsch ist aber die Behauptung, daß sie einen Juden, der die mohammedanische Religion annehmen will, nicht sogleich zu ihrem Glaubensgemeinschaft zulassen, sondern daß er zuvor Christ geworden sein muß.169

(DD) Die Mohammedaner zeigen eine sehr tiefe Verehrung für Mohammed. (…). Die Anhänglichkeit der Gefolgsleute Mohammeds an den Mohammedanismus ist so stark, daß man fast niemanden von ihnen zur christlichen Religion bekehren kann;191 und zweifellos hat es weit mehr Christen gegeben, die Mohammedaner wurden, als Mohammedaner, die das Evangelium annahmen. Die Heiden sind viel leichter zu bekehren.192 Die von dem Mönch Richard getroffene Unterscheidung scheint mir an der Sache vorbeizugehen. Er sagt, daß ein Mohammedaner eher im Angesicht des Todes als bei guter Gesundheit ein Christ würde, und daß ein Christ den Mohammedanismus im Angesicht des Todes nicht annehmen würde; daß sie also beide darin übereinstimmen, daß die mohammedanische Religion bequemer für das Leben und die christliche sicherer für das Sterben ist. (…).193 Diese Unterscheidung bietet einen Vorteil, dessen sich die Römisch-Katholischen und die Reformierten gleicherma168

Ricaut, Etat de l’empire ottoman, Buch II, Kap. 3, S. 325. Ebd. 191 »Die Erfahrung hat es bislang gelehrt und lehrt es unsere Leute noch täglich, daß im tarnatischen Königreich auf den ostindischen Molukken viele Menschen vom Heidentum bekehrt werden können, vom Mohammedanismus aber keine oder nur wenige.« Gisb. Voetius, Disputat., Bd. II, S. 668. 192 Man sehe die Worte des Voetius, die ich soeben zitiert habe. 193 Richardus, Confutat. legis saracen., Kap. 9, bei Hoornb., Summa controv., S. 208. 169

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ßen rühmen. Man sehe die Anmerkung (E) des Artikels ABULPHARAGIUS.* Aber die Wahrheit ist, daß abgesehen von einer kleinen Anzahl von Leuten ein jeder in der Religion zu sterben wünscht, in der er erzogen worden ist. Wenn er sie verlassen hat, so geschah das wegen irgendeines profanen Vorteils. Wenn es aber ans Sterben geht, fällt dieser Vorteil weg; er möchte dann in seiner ursprünglichen Glaubensgemeinschaft sterben. Ein Mohammedaner ist, falls er seinem Glauben aus menschlichen Erwägungen heraus abgeschworen haben sollte, hierbei in der gleichen Situation wie alle anderen Menschen auch. Die Unwissenheit bewirkt in den Herzen dieser Ungläubigen das, was das Wissen im Herzen eines rechtgläubigen ehrbaren Menschen hervorbringt, nämlich eine unüberwindliche Anhänglichkeit an seine Meinungen. Beiläufig will ich aber darauf hinweisen, daß es der mohammedanischen Religion nicht so stark an Verteidigern fehlt, wie man gewöhnlich glaubt. Es gibt Araber, die mit genügend Fleiß zugunsten des Korans und gegen die Bibel geschrieben haben, um die Vorurteile aufrecht zu erhalten. Hottinger spricht von einem Schriftsteller,194 der die anscheinenden Widersprüche der Schrift aufdeckt und sogar beansprucht, mit der Bibel die Sendung Mohammeds zu beweisen. Wir wären sehr einfältig, wenn wir glauben wollten, daß ein Türke, der dies untersucht, es genauso unbegründet findet wie wir. Die Einwände gegen den Koran hält er für schwach, die Einwände gegen die Christen für stark. So groß ist die Macht der Vorurteile!

 Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Er nennt sich Ahmed Abulabbas, Ben Edris, Sanhaghius, Melkita. Man sehe Hottinger, Hist. oriental., S. 337. *

194

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(GG) Seit langem sind viele Weissagungen im Umlauf, die den Mohammedanismus bedrohen. (…). Ursprung der gegen die Türken gerichteten prophetischen Drohungen Wir würden uns sicherlich täuschen, wenn wir alle diese prophetischen Drohungen einer einzigen Ursache zuschreiben wollten. Das Verlangen, sich durch die Hoffnung auf den Untergang eines schrecklichen Verfolgers zu trösten, führt dazu, daß man diesen Untergang leicht in den Weissagungen der Schrift oder in irgendwelchen anderen Quellen findet. Da haben wir Leute, die aus Leichtgläubigkeit und Verblendung wahrsagen. Das Verlangen, die Menschen zu trösten und ihnen ihre Furcht zu nehmen, bringt manche Leute zu der Annahme, daß die Schrift, die Wunderzeichen und viele andere Voraussagen den baldigen Untergang der gefürchteten Macht versprechen. Da haben wir Leute, die aus politischen Gründen weissagen. Wer weissagt, um seine aufgestellten Truppen zu ermutigen, zählt zur Klasse eben dieser Propheten. Einige tun es, um Aufstände im feindlichen Land anzuzetteln; so z. B. um die Griechen, die den Großtürken als ihren Herrn anerkannten, dazu zu bringen, die Waffen gegen ihren Herrn zu erheben. Letztere gehören zu einer anderen Klasse; man muß sie ›aufrührerische Propheten‹ nennen. Die vom hl. Augustinus erwähnten Heiden, die eine Prophezeiung in Umlauf brachten, der zufolge das Christentum nach einer Dauer von 365 Jahren untergehen müsse, mag man zu einer beliebigen Klasse zählen; daran ist mir wenig gelegen. (…).242 Wenn man diese 365 Jahre von der Auferstehung Jesu Christi an rechnet, so findet der hl. Augustinus, daß sie ein Jahr vor dem – sozusagen – Todesstoß abgelaufen waren, den das Heidentum durch die Zerstörung seiner Tempel erfuhr. (…).243 242

Augustinus, De civitat. dei, Buch XVIII, Kap. 53. Man sehe Meaux, Explicat. de l’apocalypse, Kap. 19, S. 231 der holländischen Ausgabe. 243 Ders., a. a. O., Kap. 54.

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Der hl. Augustinus merkt an, daß viele Heiden durch die Besinnung auf die Falschheit dieses Orakels bekehrt wurden. Was die Motive derjenigen betrifft, die es verbreiteten, lese man, was ich aus Baronius anführe.244 Einige von denen, die den Türken große Eroberungen prophezeit haben, sind dazu schrittweise durch ihren Haß gegen das Haus Österreich getrieben worden; sei es, daß dieser Haß sie zu Fanatikern werden ließ, sei es, weil sie nur den Eindruck erwecken wollten, Visionen zu haben. Andere wiederum sind dazu nur durch das Lehrsystem gebracht worden, das sie sich von den Prophezeiungen der Apokalypse über Gog und Magog usw. gemacht hatten. Vor kurzem hat man mir zwei Dinge berichtet: 1) daß ein berühmter reformierter Prediger zu Amsterdam während der Belagerung von Wien im Jahr 1683 gepredigt hat, die Türken würden die Stadt einnehmen. Er stützte sich auf einige Stellen der Schrift. 2) daß die Aufhebung dieser Belagerung ihm so viel Kummer bereitete, daß er daran starb. Dies geschah nicht deshalb, weil er wie Drabicius gewünscht hätte, daß die Türken in Deutschland Erfolg haben würden, sondern es hat ihn gewurmt, daß er sich getäuscht hatte. Wie dem auch sei, wir können daraus schließen, daß diejenigen, die sich damit abgeben, uns hinsichtlich der Türken die Zukunft zu verkünden, ihre Zeit schlecht anwenden; denn wenn sie die Türken mit ihrem Untergang bedroht haben, dann haben diese gesiegt, und wenn sie ihnen Eroberungen prophezeit haben, dann haben sie Schlachten und Provinzen verloren, wie man es seit dem Jahr 1683 gesehen hat.245 Wir wollen aber anmerken, daß es 244

»Da der Ruhm der christlichen Kirche so stark angewachsen war, geschah es, daß die Heiden, die das starke Erblühen der christlichen Kirche und ihren daher rührenden enormen Glanz sahen, sich vor Neid verzehrten und, um sich einen gewissen Trost angesichts des Wohlergehens und des Wachsens der Christen zu verschaffen, ein neues Orakel erdichteten und in irgendwelchen griechischen Versen verbreiteten, daß die christliche Religion 365 Jahre lang bestehen werde, von denen fast 313 schon vorüber seien.« Baronius, ad annum 313, Nr. 17, S. 130 meiner Ausgabe. 245 Man sehe den Artikel KOTTERUS, Anm. (A) und (G).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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selbst zur Zeit des Drabicius in Holland Leute gegeben hat, die den Untergang der Türken prophezeit haben. In Leiden sind im Jahr 1664 zwei sehr unterschiedliche Schriften erschienen. Die erste trug den Titel De Tartarorum irruptione succincta dissertatio,246 die andere war eine Paraenesis ad christianos, suggerens consilium ad eos liberandos, et opprimendos turcas. In der ersten Schrift wird Holland mit den Einfällen der Tataren bedroht, falls das Land nicht viel Geld zur Aushebung der für den Krieg gegen die Türken erforderlichen Truppen bereitstellen würde. In der anderen prophezeit man die Eroberung des türkischen Reichs, vorausgesetzt, man würde viele Soldaten anwerben und große Mittel aufwenden; und man gibt bereits an, wie das eroberte Land aufgeteilt werden muß.

(II) Der Engel Gabriel lehrte ihn die Zubereitung eines Mahles, das ihm für den Beischlaf mit Frauen große Kraft gab. Er hat sich gerühmt, vom Engel Gabriel erfahren zu haben, daß die Wirksamkeit dieses Mahles249 in der Stärkung der Lenden bestand. Nachdem er einmal davon auf Befehl des Engels gegessen hatte, hatte er die Kraft, sich mit vierzig Männern zu schlagen; bei einer anderen Gelegenheit hat er es vierzig Mal mit Frauen getrieben, ohne daß er müde geworden wäre. (…).250 Wir haben hier einen ernsthaften mohammedanischen Schriftsteller, der diese infamen Dinge von seinem Propheten

246

Die holländische Übersetzung steht auf der gegenüberliegenden

Seite. 249

Folgendermaßen wird es zubereitet. »Die Araber pflegen sich gewöhnlich von einem gewissen Brei zu ernähren, den sie ›Herise‹ nennen. Sie machen ihn aus gekochtem Weizen, den sie nachher zum Trocknen in die Sonne legen. Danach wird er in einem Gefäß zerstoßen, bis er ganz rein ist, und zum Schluß wird er zusammen mit fettem Fleisch gekocht, bis das Fleisch zerfallen ist. Das ganze ist sehr wohlschmeckend.« Gabriel Sionita / Jo. Hesronita, De nonnullis oriental. urbibus. 250 Ebd.

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berichtet. Man darf also nicht argwöhnen, die Christen oder die Juden hätten diese Märchen erfunden, um diesen Betrüger anzuschwärzen; und deshalb muß man, obwohl wir nicht im Koran lesen, daß das Vergnügen bei der geschlechtlichen Vereinigung jedesmal ganze sechzig Jahre dauern wird, dies dennoch für mohammedanische Lehrtradition halten. Damit aber ein jeder für sich selbst hierüber besser urteilen kann, muß ich eine Passage anführen, die uns zeigt, daß Pocock, der in der Lektüre mohammedanischer Autoren so versiert ist, diese Lehrtradition nicht erwähnt. Hier ist eine Anmerkung von Bespier über das von Ricaut Gesagte,252 wonach der falsche Prophet ein Paradies versprochen hat, in dem es schöne Frauen geben werde, mit denen der Beischlaf »außerordentliches Vergnügen (---)« bereiten »und ganze sechzig Jahre ohne Unterbrechung dauern werde.«253 »Der Koran spricht nirgendwo von der Dauer dieser Vergnügungen. Baudier dehnt diese Dauer bedenkenlos auf bis zu ›fünfzig Jahre‹ in seiner ›Histoire de la religion des turcs‹, S. 661, aus. Das hat er von Vigenere aus dessen ›Illustrations sur Chalcondyle‹, S. 208, übernommen oder sie haben es beide von Johannes Andreas, S. 72, wo dieser dasselbe sagt. Ich fände es auch gar nicht schlimm, daß sie an unzähligen Stellen von ihm abgeschrieben haben, wie sie es besonders bei den Wonnen des Paradieses taten, wo sie beinahe vier oder fünf Seiten wortwörtlich übernahmen. Ich kann aber nicht billigen, daß weder der eine noch der andere ihn an einer der Stellen namentlich erwähnt, wo sie von ihm abschreiben. Übrigens weiß ich nicht, ob ›die Sunna‹ von diesen ›fünfzig Jahren‹ spricht, wie Johannes Andreas versichert; Pocock jedenfalls, der all das sehr exakt beschrieben hat, was die Mohammedaner über die Wonnen des Paradieses sagen, spricht weder von den ›fünfzig Jahren‹ des Johannes Andreas, des Baudier und des Vigenere, noch von den ›sechzig Jahren‹ unseres Autors; er sagt lediglich, daß diese Ungläubigen versichern, daß es hundert verschiedene Grade des Vergnügens im Paradies geben wird, von denen der 252 253

Ricaut, Etat de l’empire ottoman, S. 322. Bespier, Remarques curieuses, S. 625.

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geringste Grad so stark ist, daß Gott, damit die Gläubigen ihn genießen können, ohne davon überwältigt zu werden, jedem von ihnen die Kraft von hundert Männern geben wird. ›Kowat miat ragiol.‹« Wir wollen an dieser Stelle die menschliche Schwäche bestaunen. Mohammed, der die allerausschweifendste Unkeuschheit praktizierte und lehrte, hat dennoch eine große Zahl von Leuten glauben gemacht, daß Gott ihn zum Stifter der wahren Religion eingesetzt habe. Hat sein Leben dieses betrügerische Vorgeben nicht nachhaltig widerlegt? Denn nach der Beobachtung von Maimonides besteht das Hauptkennzeichen eines wahren Propheten in der Verachtung der sinnlichen Vergnügungen und besonders derjenigen, die man die ›venerischen‹ nennt. »Es sei mir erlaubt, hier dasjenige zu zitieren, was Maimonides in More, Buch II, Kap. 40 sagt, wo er mit folgenden Worten lehrt, wie Pseudopropheten als solche zu erkennen sind. ›Die Art und Weise, einen solchen zu erkennen, besteht darin, daß man die Vollkommenheit dieser Person betrachtet, seine Taten prüft sowie seinen Umgang beobachtet. Das hauptsächliche Erkennungszeichen ist aber, ob der Betreffende sich von leiblichen Begierden losgesagt hat und sie verachtet – denn das ist die erste Stufe für Männer der Wissenschaft und vielmehr noch für Propheten – und insbesondere jene sinnlichen Vergnügungen, die Aristoteles zufolge unsere Schmach sind und von denen die schändlichste der Beischlaf ist. Deshalb hat Gott durch dieses Merkmal alle gekennzeichnet, die sich zu Unrecht der Prophetengabe rühmen, damit so die Wahrheit den Wahrheitsliebenden offenkundig wird und sie nicht in Irrtum geraten.‹«254 Man sage nur nicht, daß niemand hierbei getäuscht wurde, daß diejenigen, die sich Mohammed anschlossen, es nur aus Selbstliebe taten und seine Betrügereien durchschauten. Diese Behauptung ließe sich nicht aufrechterhalten. Die Mehrzahl seiner Schüler wies die Nachricht von seinem Tod wie eine Lüge zurück, die nicht zu seiner himmlischen Sendung passe; und um sie von ihrem Irrtum zu befreien, war es erforderlich, ihnen anhand 254

Eduard Pocock, Notis in specimen historiae Arabum, S. 181.

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des Korans zu beweisen, daß er sterben mußte.255 Sie hatten sich folglich durch seine Worte verführen lassen. Wenn man aber einmal von der Meinung eingenommen ist, ein bestimmter Mensch sei ein Prophet oder ein großer Diener Gottes, dann glaubt man eher, daß Verbrechen keine Verbrechen sind, wenn er sie begeht, als daß man sich davon überzeugen läßt, daß er ein Verbrechen begeht.

Seltsame Wirkungen des Vorurteils Das ist die Wirkung törichter Vorurteile bei den meisten kleinen Geistern. Sagt nicht Seneca selbst, es sei leichter zu beweisen, daß die Trunksucht etwas Löbliches sei, als daß Cato eine Sünde beging, als er sich betrank?256 Die Anhänger Mohammeds sprachen in ihrem Herzen dasselbe: Es ist besser zu glauben, daß die Unkeuschheit kein Laster ist, weil unser großer Prophet ihr unterworfen ist, als zu glauben, er sei kein großer Prophet, weil er ihr unterworfen ist. Tagtäglich stößt man auf kleine Beispiele für dieses Vorurteil. Hat sich jemand erst einmal das Ansehen eines großen Eiferers für die Rechtgläubigkeit erworben und hat er sich in Kämpfen gegen die Ketzerei durch Offensive wie Defensive ausgezeichnet, so wird mehr als die Hälfte der Leute derart zu seinen Gunsten von ihm eingenommen sein, daß man sie nicht zu dem Eingeständnis bringen könnte, er sei im Unrecht, auch wenn er Dinge tut, die sie bei anderen verurteilen würden. Der hl. Paulus hat lediglich gesagt, daß die ungläubige Frau durch den gläubigen Mann geheiligt werde;257 wenn er aber nach dem Geschmack jener Leute gesprochen hätte, so würde er gesagt haben, daß alles, was einem frommen, rechtgläubigen Menschen zukommt und alles, was er tut, durch ihn geheiligt werde. 255 256

Man sehe Pocock, a. a. O., S. 178, 180. (…). Seneca, De tranquillitate animi, Kap.15, S. 674 meiner Aus-

gabe. 257

1. Korinther 7, 14.

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(KK) Viele andere falsche Propheten traten auf. Ich erinnere mich an den Anfang einer Predigt von Daillé. Thema war die Überlegung, daß im gleichen Augenblick, wenn Gott den Menschen die Wahrheit verkünden läßt, der Teufel falsche Lehrer auftreten läßt, die Ketzereien verkünden. So ließ er zur Zeit der Apostel einen Cerinthus, einen Ebion usw. auftreten, und zur Zeit der Reformatoren einen Johann von Leiden, einen David George, einen Servet und einen Socinus. Das Ziel des Teufels ist es dabei, die Ausbreitung der Wahrheit zu verhindern, denn es war ganz natürlich zu glauben, daß die Juden und die Heiden das Evangelium verachten würden, sobald sie sähen, daß es mehrere Sekten unter denen gibt, die es verkünden. Gleichermaßen gab es Anlaß zu glauben, daß die Katholiken die Reformation verachten und beschimpfen würden, sobald sie sähen, daß Luther, Zwingli, Müntzer und Calvin verschiedene Wege einschlugen und in Streitereien mit mehreren Anführern von Gruppierungen verwickelt waren, die genau wie sie aus der römischen Glaubensgemeinschaft hervorgegangen waren. Zwei Einwände ergeben sich sofort: 1) Wenn diese Leute ihre Eingebungen von Gott hätten, würden sie dieselbe Sprache sprechen. 2) Vorausgesetzt, man müßte die alte Lehre verlassen, welche Partei sollte man unter so vielen neuen Sekten wählen? Es ist besser, dort zu bleiben, wo man ist, als darüber zu streiten, ob eine von ihnen die wahre ist und welche das ist. Der Ausgang der Sache hat diese Vermutungen nicht in vollem Umfang bestätigt, denn obwohl man nicht leugnen kann, daß die Mehrzahl der falschen Lehrer, die im ersten Jahrhundert aufgetreten sind und die so viele Parteien im Schoße der heranwachsenden Kirche hervorgebracht haben, der guten Sache großen Schaden zugefügt haben, so fehlt doch viel daran, daß dadurch all das Übel hervorgebracht worden wäre, das der Teufel sich davon erhoffen konnte. Der Pyrrhonismus hat sehr wenig davon profitiert; die Gründe dafür habe ich bereits dargelegt.258 Man kann diese Bemerkung auch auf die Zeiten von 258

Im Artikel LUTHER, Anm. (CC).

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Luther und Calvin anwenden. Diese beiden großen Reformatoren haben nicht all den Erfolg gehabt, den sie hätten haben können, wenn sie in ihren Ansichten übereingestimmt hätten und wenn alle Gegner der römischen Kirche dieselbe Sprache gesprochen hätten. Ihre Uneinigkeit stellte ein Vorurteil dar, das viele Leute an der römischen Konfession festhalten ließ; gleichwohl wuchs die protestantische Religion in kurzer Zeit an und erlangte dauerhaften Bestand. Wie dem auch sei, ein jeder kann jedoch leicht einsehen, daß der Teufel seinen Nutzen sehr wohl verfolgt, wenn er die Ausbreitung einer neuen Rechtgläubigkeit verhindert, wie Daillé annimmt. Aber es ist nicht leicht zu begreifen, daß er, nachdem er Mohammed zur Einführung einer falschen Religion angestiftet hatte, ihm dieselben Hindernisse wie den Aposteln Jesu Christi in den Weg legt. Wie kommt es also, daß falsche Propheten, die vom Satan geschickt sind, sich bemühen, den Mohammedanismus gleich in seinen Anfängen zu vernichten? Wie kommt es, daß Mohammed Nacheiferer hat, die sich ebenso wie er himmlischer Eingebungen rühmen?259 Wie kommt es, daß sein Schüler Museilema ihn verläßt, um eine eigene Sekte zu gründen?260 Wie kommt es, daß ein Aswad, ein Taliha, ein Almotenabbi sich zu Propheten aufwerfen und so viele Anhänger an sich ziehen, wie sie nur können?261 Es ist nicht leicht, den Grund für diese Phänomene anzugeben, wenn man nicht annimmt, daß die Uneinigkeit unter den bösen Engeln genauso groß ist wie unter den Menschen oder daß die Menschen es unternehmen, ohne Anstiftung des Teufels falsche Sekten zu gründen. Die Anführer der Parteien, die ich genannt habe, betrachteten Mohammed als falschen Propheten. Nach seinem Tod aber sind andere aufgetreten, die seine Autorität nicht in Zweifel zogen, jedoch darüber stritten, wer von ihnen den Koran am besten verstehe. Die beiden großen Sekten, die sich zunächst herausbildeten, nämlich die von Ali und die von Omar, bestehen heute noch. Bedeutete es nicht, zum Schaden 259 260 261

Man sehe Hottinger, Histor. oriental., Buch II, Kap. 3, S. 258. Ders., ebd. Ders., a. a. O., S. 259.

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des Mohammedanismus zu arbeiten, wenn man dies zuließ? Lag das im Interesse des Teufels? Wie groß diese Schwierigkeit auch erscheinen mag, so kann man darauf doch verschiedene Antworten geben. Man könnte sagen, daß es dem Teufel wenig ausmacht, wenn ein falscher Prophet durch andere falsche Propheten behindert wird und wenn jeder dieser Betrüger seinen Mitkonkurrenten die Anhänger abspenstig macht. Der Teufel verliert nichts dabei, man gehört ihm doch, gleichgültig, ob man nun Mohammed, Museilema oder Almotenabbi folgt. Die Kämpfe, die Kriege sowie die Unruhen jeder Art, die durch diese Spaltungen hervorgebracht werden, sind ein viel unterhaltsameres Schauspiel für den Feind des menschlichen Geschlechtes, als es der ruhige und glückliche Verlauf einer einzigen falschen Sekte nur sein könnte. Außerdem schmeichelt es dem Stolz eines ehrgeizigen Geistes, der Welt zu zeigen, daß er trotz der hunderterlei Hindernisse dennoch imstande ist, den Mohammedanismus einzuführen. Darf er nicht hoffen, daß man, wenn er dieser Sekte zu einem wunderbaren Wachstum verhilft – wenngleich sie in ihren Anfängen von anderen Sekten bekämpft wird –, hierin ein Zeichen ihrer Göttlichkeit erblicken wird und er dadurch zum Nachahmer Gottes wird, der die Macht, mit der er das Evangelium beschützte, niemals deutlicher erblicken ließ als durch seine Abwehr der üblen Auswirkungen der Ketzereien und Kirchenspaltungen des ersten Jahrhunderts?

(MM) Einige Leute behaupten, Mohammed habe erklärt, nur ein Drittel des Korans sei wahr. Père Joseph de Sainte Marie, ein Barfüßermönch des Karmeliterordens und apostolischer Missionar im Königreich Malabar, versichert,263 daß die Einwohner von Mascati stolz darauf sind, 263

In dem in Rom gedruckten Buch mit dem Titel Prima speditione all’Indie orientali. Es wird im Journal d’Italie vom 31. März 1668 erwähnt.

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das mohammedanische Gesetz am genauesten zu befolgen, und daß sie behaupten, Mohammed habe erklärt, daß von den zwölftausend Worten des Korans nur viertausend wahr seien. Wenn man sie nun in einem Punkt widerlegt und sie sich nicht zu verteidigen wissen, so schlagen sie ihn der Zahl der achttausend Unwahrheiten zu. Das ist ein sehr bequemer Weg, sich bei einem Disput aus der Affäre zu ziehen.

(NN) Die Veränderungen seines prophetischen Geistes entsprachen seinen wechselnden privaten Absichten. Wir wollen uns der Worte von Prideaux bedienen.264 »Fast sein ganzer Koran ist in der Absicht verfaßt,* irgendeiner seiner privaten Absichten zu genügen, so wie es die Gelegenheit jeweils verlangte. Wenn es irgend etwas Neues einzuführen galt, wenn ein Einwand gegen ihn oder gegen seine Religion zu beantworten war, wenn eine Schwierigkeit aufzulösen war, wenn es Unzufriedenheiten beim Volk zu besänftigen galt, wenn ein Skandal auszuräumen oder irgend etwas anderes zum Wohl seiner Pläne zu tun war, kam er gewöhnlich auf den Engel Gabriel zum Zweck irgendeiner neuen Offenbarung zurück; und sogleich fügte er seinem Koran einen Zusatz ein, der den Vorhaben entsprach, die er sich jeweils vorgesetzt hatte. So ist der Koran fast vollständig aus derartigen Anlässen entstanden, um bei seiner eigenen Partei die Wirkung zu erzielen, die er sich vorgenommen hatte. Alle seine Kommentatoren gestehen das auch zur Genüge ein, indem sie die Gründe genau aufzeigen, aus denen ihnen jedes Kapitel vom Himmel zugeschickt worden war. Aber das hat auch Widersprüche verursacht, die massenhaft Eingang in dieses Buch gefunden haben. Denn so, wie die Angelegenheiten und Ziele des Betrügers sich änderten, fühlte er sich auch verpflichtet, seine angeblichen Offenbarungen zu ändern, was unter den Anhängern seiner Sekte eine so bekannte Sache ist, 264

*

Prideaux, Vie de Mahomet, S. 155. Richardi confutatio, Kap. 12.

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daß sie deren Wahrheit allesamt bekennen. Deshalb verlangen sie, daß man in Fällen, wo diese Widersprüche nicht zu beheben sind, eine der sich widersprechenden Stellen zurücknimmt. Im ganzen Koran zählen sie mehr als hundertfünfzig solcher widerrufener Verse, was das beste Mittel ist, das sie einsetzen können, um diese Widersprüche und Unvereinbarkeiten beizulegen. Dadurch aber decken sie zugleich die außerordentliche Leichtfertigkeit und Unbeständigkeit seines Urhebers auf.« Dieser Beweis des Betrugs ist sehr stark; ich habe bereits oben von ihm gesprochen.265 Hier aber muß ich hinzufügen, daß man ihm einen zu großen Geltungsbereich zusprechen würde, wenn man ihn ausnahmslos auf alle Ausleger der Apokalypse anwenden wollte, die ihre Hypothesen je nach dem verschiedenen Lauf der allgemeinen Angelegenheiten ändern.266 Es kann gelegentlich sehr wohl der Fall sein, daß aus der Unbeständigkeit dieser Leute nur der Fanatismus spricht und daß sie, weil sie nicht imstande sind, den erbärmlichen Zustand ihres Kopfes wahrzunehmen, nicht weniger aufrichtig sind, wenn sie Änderungen vornehmen, als wenn sie das nicht täten. Wir wollen deshalb eine Unterscheidung treffen und lediglich sagen, daß diejenigen, die ihr apokalyptisches Lehrsystem nach den Neuigkeiten der Gazetten und stets in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Ziel ihrer Schriften ändern, bewußt oder unbewußt Unwahrheiten vortragen. Ihr Verhalten ist sehr oft, aber nicht immer Betrügerei.

(PP) Seine Anhänger (---) nahmen die Auslegungen, die Mohammeds Lieblingsfrau den Worten ihres Gesetzes gab, wie Orakel auf. Aus mancherlei Gründen kann man darüber erstaunt sein, daß die mohammedanische Religion so wenig vorteilhaft für das weibliche Geschlecht ist,276 denn sie ist schließlich von einem 265 266 276

In Anm. (T). Man sehe die Cabale chimerique, S. 189 der zweiten Auflage. Man sehe Anm. (Q).

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außerordentlich lasziven Menschen gestiftet worden, und daß ihre Gesetze in die Hand einer Frau gelegt wurden und dann eine andere Frau sie auslegen konnte, wie es ihr gefiel. Wir haben gesehen, daß Ayesha als Prophetin und Orakel angesehen wurde; sie war eine wahrhafte Päpstin unter den Muselmanen. Herbelot berichtet,277 daß sie bei ihnen »sehr großes Ansehen sogar in Fragen der Lehre und der Religion genoß«, daß »man oft auf sie zurückkam, um irgendeine Mohammed betreffende Überlieferung in Erfahrung zu bringen« und daß »sie es höchst persönlich unternahm, den Kalifen Othman wegen Gottlosigkeit zu verdammen.« Folglich hätte sie die Dinge in eine für ihr Geschlecht sehr vorteilhafte Richtung lenken können. Wie kommt es also, daß sie das nicht tat? Hatte sie das Naturell bestimmter Frauen, die als erste und am eifrigsten ihr eigenes Geschlecht herabsetzen? Kann man sie als einen Beweis für die manchmal geäußerte Meinung nehmen, daß die Autorität der Männer niemals größer ist, als wenn eine Frau auf dem Thron sitzt, und daß die der Frauen niemals größer ist, als wenn ein Mann das Zepter führt? Ich weiß es nicht. Die spekulativen Köpfe mögen sich mit dieser Frage beschäftigen, soviel sie wollen. Man möge aber bitte den Einfluß des weiblichen Geschlechts auf die Stiftung des Muselmanentums bedenken und wie die weiblichen Leidenschaften bald den Samen der Zwietracht in ihm ausstreuten. Man verfolge die Spur von Alis Glaubensspaltung, so wird man die Quelle derselben in den Unzüchtigkeiten von Ayesha finden, die er an die große Glocke gehängt hatte. Diese Frau hat ihm niemals verziehen und dreimal nacheinander verhindert, daß er zur Kalifenwürde gelangte, und nachdem er sie endlich erhalten hatte, hat sie sich gegen ihn verbündet278 und sich zur Anführerin von 30.000 Mann gemacht. Sie verlor die Schlacht, wurde gefangen genommen und nach Medina zurückgeschickt, wo sie starb und neben Mohammed beerdigt wurde. Aber die Liga, die sie geschaffen hatte, um Othmans Tod zu rächen, ist nicht mit ihr gestorben. Ali ist schließlich unter diesem Vor277 278

Herbelot, Biblioth. orientale, beim Wort ›Aischah‹, S. 80. Herbelot, a. a. O. und beim Wort ›Ali‹, S. 89 f.

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wand umgebracht worden, und das war der Ursprung einer großen Spaltung, die heute noch besteht. (…).

(QQ) Eine sehr lächerliche Erzählung über die Empfänglichkeit der Mohammedaner für Wunder. Ein Benediktiner aus den Niederlanden hat im Jahr 1524 in Deventer ein Buch in lateinischer und holländischer Sprache veröffentlicht,280 in dem er viele Sottisen berichtet, unter anderem auch diese: Ein Mann aus Genua war so neugierig darauf zu sehen, was die Mauren oder Sarazenen in ihren Moscheen trieben, daß er sich heimlich dort einschlich, obwohl er ihre Gewohnheit sehr genau kannte, alle Christen, die eine Moschee betraten, zu töten oder sie zu zwingen, dem Christentum abzuschwören. Er war von einer derart großen Menschenmenge umgeben, daß er nicht nach draußen gelangen konnte, als ihn etwas überkam, was danach verlangte, daß er draußen wäre, denn eine natürliche Notwendigkeit bedrängte ihn heftig. Er war nicht Herr über sie und sah sich kurz darauf in Todesgefahr, weil der widerliche Gestank, der sich um ihn herum verbreitete, sein Mißgeschick verriet. Er befreite sich aus dieser üblen Lage, indem er zu verstehen gab, daß er seit langer Zeit unter Verstopfung leide und gekommen sei, um sich an Mohammed zu wenden und daraufhin augenblicklich Erleichterung erfahren habe. Daraufhin nahm man seine Hose, hing sie in der Moschee auf und rief: »Ein Wunder! Ein Wunder!« (…). So verhöhnt der eine Teil der Welt den anderen, denn zweifellos ist den Mohammedanern nicht all das unbekannt, was man sich an Albernheiten von den Mönchen erzählt; und wenn es wahr sein sollte, daß sie es nicht wissen, so würde man dennoch vernünftigerweise glauben dürfen, daß sie Lügen und ungehörige Geschichten über die christlichen Sekten verbreiten. Sollten sie die Geschichte des holländischen Benediktiners kennen, dann würden sie vielleicht sagen: Diese guten Wunderschmiede dich280

Es trägt den Titel Prognosticon antichristi.

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ten uns ziemlich grobe Wunder an. Das tun sie aber nicht, weil sie sich keine subtileren auszudenken wüßten, aber die reservieren sie für sich. Sie trinken den Wein, und uns schicken sie die Hefe.

OVID

ovid, mit Cognomen Naso (Publius), ein römischer Ritter, war einer der besten Dichter des Augusteischen Zeitalters. Ich habe eine große Materialsammlung zu seinem Artikel, kann aber gegenwärtig keinen Gebrauch von ihr machen; nur einen kleinen Teil davon werde ich präsentieren. Er hatte von der Natur einen so starken Hang zum Dichten erhalten, daß er aus Liebe zu den Musen alles vernachlässigte, worauf man achthaben muß, wenn man zu Ehrenstellen gelangen will. So ließ die Neigung zur Dichtkunst zwar jegliches Feuer des Ehrgeizes in ihm erlöschen, nährte und vermehrte andererseits aber das Feuer der Liebe. Er war der Liebeslust auf das Heftigste ergeben, und das war sein beinahe einziges Laster. Er begnügte sich nicht damit, zu lieben und galante Eroberungen zu machen, sondern er unterrichtete die Öffentlichkeit auch in der Kunst zu lieben und Liebe zu erlangen; d. h. er brachte ein schändliches Wissen, von dem die Natur nur zu viele Lektionen erteilt und das nichts anderes bezweckt als die Schande der Familien und besonders der armen Ehemänner, in die Form eines Systems. Er wurde wegen der Abfassung derartiger Bücher ins Exil geschickt, aber allem Anschein nach war das mehr ein Vorwand als die wahre Ursache seiner Verbannung. Vergeblich hat er den ganzen Scharfsinn seines Geistes darauf verwendet, den Herrscher zu besänftigen; durch nichts konnte er dessen Gnade erhalten. Er starb im Land der Geten, wohin man ihn verbannt hatte. Von den drei Frauen, die er geheiratet hatte, verstieß er die beiden ersten;a wegen der dritten schätzte er sich sehr glücklich.b Einige Kritiker haben sein Latein getadelt. Sie wären bei König Alphons von Neapel schlecht angekommen. Mehrere Bemerkungen verweise ich an den Ort, wo ich Moréri kritisieren werde. a b

Ovid, Tristia, Buch III, Eleg. X. Ders., a. a. O., Buch I, Eleg. III und anderswo.

Ovid

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Das schönste Werk Ovids sind die Metamorphosen. Der Autor selbst hat so geurteilt und die Unsterblichkeit seines Namens an erster Stelle von ihm erhofft. Er hat vorausgesagt, daß dieses Werk dem Schwert, Feuer und Blitz sowie der Unbill der Zeiten widerstehen werde. Diese Vorhersage ist bis auf den heutigen Tag noch nicht Lügen gestraft worden. Der Anfang dieses Gedichts ist eine der schönsten der darin enthaltenen Stellen. Es handelt sich um eine Beschreibung des Chaos und der Art und Weise, wie das Universum aus ihm gebildet wurde. Es gibt nichts Faßlicheres und Einleuchtenderes als diese schöne Beschreibung, wenn man nur auf die Sprache des Dichters sieht; wenn man aber seine Lehren prüft, so stellt man fest, daß sie schlecht miteinander verknüpft und widersprüchlich sind; sie stellen ein bei weitem entsetzlicheres Chaos als das von ihm beschriebene dar. Das gibt mir Gelegenheit zur Einlösung eines Versprechens.c Ich werde untersuchen, ob die Vorstellungen der Alten, die vom Chaos gesprochen haben, zutreffend sind und ob sie sagen konnten, daß dieser Zustand des Durcheinander nicht mehr andauert (G). Ich werde zeigen, daß der Kampf der vier Elemente mit der Schaffung der Welt keineswegs aufhörte, wie sie annehmen, und daß sie jedenfalls das menschliche Geschlecht von dieser allgemeinen Aussage hätten ausnehmen müssen, weil es den allerschrecklichsten Verwirrungen und Widrigkeiten unterworfen ist, die es im Chaos nur geben konnte (H). (…).

(G) Ich werde untersuchen, ob die Vorstellungen der Alten, die vom Chaos gesprochen haben, zutreffend sind und ob sie sagen konnten, daß dieser Zustand nicht mehr andauert. Zur ordnungsgemäßen Behandlung dieser Frage ist es zunächst erforderlich, die Beschreibung anzuführen, die Ovid uns vom Chaos gegeben hat. Es ist lediglich eine Nachahmung oder besser eine Paraphrase dessen, was er in den Büchern der alten Griechen gefunden hatte: c

Aus Anm. (H) des Artikels ANAXAGORAS.

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»Vor dem Meere, dem Land und dem alles deckenden Himmel zeigte Natur in der ganzen Welt ein einziges Antlitz. Chaos ward es benannt: eine rohe, gestaltlose Masse, nichts als träges Gewicht und, uneins untereinander, Keime der Dinge, zusammengehäuft in wirrem Gemenge. Damals spendete noch ihr Licht keine Sonne dem Weltall, ließ kein neuer Mond im Wachsen erstehn seine Hörner, schwebte noch nicht, ringsum von Luft umschlossen, die Erde, ausgewogen im gleichen Gewicht, und hatte den langen Rand der Länder noch nicht umreckt mit den Armen das Weltmeer. Und, wenn Erde darin auch enthalten und Wasser und Luft, so war doch die Erde nicht fest und war das Wasser nicht flüssig, fehlte der Luft das Licht. Seine Form blieb keinem erhalten; Eines stand dem Andern im Weg, denn in ein und demselben Körper lagen das Warme und Kalte, das Trockne und Feuchte, Weiches und Hartes im Zwist und Schwereloses mit Schwerem.«42 Man sieht, daß hier unter ›Chaos‹ eine ungestaltete Materiemasse verstanden wird, in der die Samen aller einzelnen Körper in größtmöglicher Unordnung bunt durcheinandergemischt waren. Die Luft, das Wasser und die Erde waren überall miteinander vermischt; alles lag im Krieg miteinander, jeder Teil widersetzte sich dem anderen. Kälte und Hitze, Feuchtigkeit und Trockenheit, Leichtigkeit und Schwere lagen die ganze weite Ausdehnung der Materie hindurch in jedem einzelnen Körper im Kampf miteinander. Ovid hat angenommen, daß sich dieser Zustand des Durcheinanders auf folgende Weise entwirrt hat: »Diesen Streit hat ein Gott und die beßre Natur dann geschlichtet. Denn er schied vom Himmel die Erde, von dieser die Wasser, teilte den lauteren Himmel darauf von den dunstigen Lüften.

A. a. O., Buch I, Vers 5 ff.  In der Übersetzung von Erich Rösch. Vgl. die Anm. der Hgg. zu Fußn. (33) des Artikels MOHAMMED. Hgg.  42

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Ihnen, sobald sie entwälzt und entrückt der finsteren Häufung, wies er verschiedene Räume und band sie zu Frieden und Eintracht. Mächtig leuchtete da des gewichtlos feurigen Himmels Wölbung auf und schuf sich Platz in dem höchsten Bereiche. Ihm am nächsten die Luft an Platz zugleich wie an Leichte; dichter als diese, zog die Erde den gröberen Stoff an, ward von der eigenen Schwere gedrückt; die umflutenden Wasser nahmen das Äußerste ein und umschlossen die Feste des Erdrunds. Als nun, wer es auch war von den Göttern, das wirre Gemenge so zerteilt und geschieden und dann zu Gliedern geordnet, (ballte) zunächst (…) die Erde« usw.43 Augenscheinlich sagt er, daß dieser Krieg der vermengten und zusammengemischten Elemente durch die Autorität eines Gottes beendet wurde, der sie trennte und jedem seinen Platz anwies, indem er das Feuer in die höchste und die Erde in die niederste Region setzte, die Luft unmittelbar unter das Feuer und das Wasser unmittelbar unter die Luft, und sodann ein Band der Freundschaft und Eintracht unter diesen vier derart räumlich getrennten Elementen schuf. Die Analyse der Ausführungen unseres Dichters läuft demnach auf folgende sechs Sätze hinaus: I. Bevor es einen Himmel, eine Erde und ein Meer gab, war die Natur ein homogenes Ganzes.44 II. Dieses Ganze war nichts als eine träge Masse,45 in der die Prinzipien der Dinge auf verworrene Art sowie ohne die geringste Ordnung und in nicht aufeinander abgestimmter Weise zuammengeworfen waren. III. Hitze und Kälte kämpften in ein und demselben Körper miteinander; Feuchtigkeit und Trockenheit taten das Gleiche, ebenso Leichtigkeit und Schwere.

43 44 45

Ders., a. a. O., Vers 21 ff. »Die Natur zeigte in der ganzen Welt ein einziges Antlitz.« »Nichts als träges Gewicht.«

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IV. Gott beendete diesen Krieg, indem er die streitenden Parteien voneinander trennte. V. Er wies ihnen entsprechend ihrer spezifischen Leichtigkeit oder Schwere verschiedene Aufenthaltsorte zu. VI. Er stiftete eine sehr feste Verbindung unter ihnen. Hier sind in groben Zügen die Fehler, die sich in dieser Lehre Ovids befinden. Ich weiß nicht, ob sie jemals kritisiert worden ist oder ob die Kommentatoren diese Stelle der Metamorphosen irgendwann einmal philosophisch untersucht haben, aber mir scheint, daß sie sehr leicht hätten feststellen können: 1) daß sich der erste Satz kaum mit dem zweiten vereinbaren läßt, denn wenn die Teile eines Ganzen aus einander entgegengesetzten Samen oder Prinzipien gebildet sind, dann kann dieses Ganze nicht als etwas Homogenes gelten. 2) daß sich der zweite Satz nicht mit dem dritten vereinbaren läßt, denn man kann nicht behaupten, daß ein Ganzes, in dem es ebensoviel Leichtigkeit wie Schwere gibt, nichts als eine schwere Masse sei. 3) daß diese schwere Masse nicht als inaktiv, pondus iners, vorgestellt werden kann, weil die einander entgegengesetzten Prinzipien in ihr ohne Ordnung gemischt sind, woraus sich ergibt, daß ihr tatsächlicher Kampf zu einem Sieg der einen oder der anderen führen muß. 4) daß, wenn die ersten drei Sätze zutreffend sein sollten, der vierte und der fünfte überflüssig sind, denn die elementaren Eigenschaften sind ein zureichendes Prinzip, um das Chaos ohne das Eingreifen einer anderen Ursache zu entwirren und die Teile nach Maßgabe ihrer Schwere oder ihrer Leichtigkeit nah oder entfernt vom Zentrum zu plazieren. 5) daß der vierte Satz aus einem anderen Grund falsch ist, denn seit der Erschaffung des Himmels, der Luft, des Wassers und der Erde ist der Kampf der Kälte und der Hitze, der Feuchtigkeit und der Trockenheit, der Schwere und der Leichtigkeit in ein und demselben Körper noch genauso groß wie er jemals hat sein können. 6) daß aus dem soeben genannten Grund der sechste Satz falsch ist.

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Hieraus geht hervor, daß die Beschreibung des Chaos und seiner Entwicklung aus Sätzen gebildet ist, die einander mehr entgegengesetzt sind als es die Elemente zur Zeit des Chaos waren. Es ist nicht erforderlich, jeden dieser Fehler Ovids weitläufig darzulegen. Aber es gibt einige darunter, die eine recht lange Klarstellung erfordern.

Widerlegung der Lehre vom Chaos, insofern in ihr die Homogenität desselben angenommen wird I. Ich sage also, daß nichts absurder ist, als ein Chaos anzunehmen, das während einer ganzen Ewigkeit homogen gewesen ist, obwohl es über die elementaren Eigenschaften verfügte, und zwar sowohl über die, die man ›verändernd‹ nennt, wie die Hitze, die Kälte, die Feuchtigkeit und die Trockenheit, als auch über die, die man ›bewegend‹ nennt, wie die Leichtigkeit und die Schwere. Jene verursachen Bewegung in den oberen, diese Bewegung in den unteren Regionen. Eine so beschaffene Materie kann nicht homogen sein und muß zwangsläufig alle Arten der Heterogenität enthalten. Hitze und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit können nicht zusammensein, ohne daß ihre Wirkung und ihre Gegenwirkung sie mäßigt und sie in andere Qualitäten verwandelt, welche die Form der gemischten Körper ausmachen; und weil diese Mäßigung entsprechend der unzählbar vielen verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten stattfinden kann, mußte das Chaos eine unglaubliche Vielzahl von Arten des Zusammengesetzten in sich enthalten. Die einzige Möglichkeit, das Chaos als homogen vorzustellen, läge darin zu sagen, daß die verändernden Qualitäten der Elemente sich im gleichen Grade in allen Molekülen der Materie modifizieren, derart, daß es überall genau dieselbe Temperatur, dieselbe Weichheit, denselben Geruch, denselben Geschmack usw. gäbe. Das hieße jedoch, mit der einen Hand einzureißen, was man mit der anderen gebaut hatte, es hieße, durch einen Widerspruch im Begriff das Chaos als das regelmäßigste, in seiner Anordnung wunder-

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vollste und in seinen Proportionen bewundernswürdigste Werk zu bezeichnen, das man sich vorstellen kann. Ich gebe zu, daß ein abwechslungsreiches Werk dem menschlichen Geschmack besser gefällt als ein einförmiges, aber gleichzeitig lehren uns unsere Begriffe, daß die im gesamten Universum gleichmäßig bewahrte Harmonie entgegengesetzter Qualitäten eine ebenso bewundernswerte Vollkommenheit darstellen würde wie die ungleichmäßig Aufteilung, die auf das Chaos folgte. Was für ein Wissen, was für eine Macht würde diese sich durch die ganze Natur erstreckende gleichmäßige Harmonie nicht erfordern? Es würde nicht ausreichen, dieselbe Menge von jedem dieser vier Ingredienzien in jedes Mixtum einfließen zu lassen; man müßte von den einen mehr und von den anderen weniger beimischen, je nachdem, ob sie eine größere Wirkungs- oder Widerstandskraft haben,46 denn es ist bekannt, daß die Philosophen Wirkung und Gegenwirkung bei den elementaren Qualitäten in unterschiedliche Grade einteilen. Wenn man alles recht erwägt, würde sich ergeben, daß die Ursache, die das Chaos verwandelte, dasselbe nicht, wie angenommen, aus einem Zustand der Verwirrung und des Krieges, sondern aus einem Zustand der Regelmäßigkeit gezogen hätte, der die vortrefflichste Sache der Welt war und der durch die Herstellung eines Gleichgewichtes zwischen den einander entgegengesetzten Kräften dieselben in einem ausgewogenen Ruhezustand hielt, der dem Frieden gleichkam. Es steht daher fest, daß die Dichter, wenn sie die Homogenität des Chaos retten wollen, alles streichen müssen, was sie über dieses sonderbare Durcheinander von einander entgegengesetzten Samen, diese ungeordnete Mischung und diesen ewigen Kampf verfeindeter Prinzipien hinzugefügt haben.

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»Die Hitze, die auf das Höchste aktiv ist, leistet den geringsten Widerstand. Auf der anderen Seite aber ist die in der Aktivität schwächere Trokkenheit stärker im Widerstehen. Die Kälte, die bei dem Aktiven an zweiter Stelle steht, steht an Platz drei des Widerstehenden. Die Feuchtigkeit schließlich, die an vorletzter Stelle des Aktiven steht, steht an zweiter Stelle des Widerstehenden.« Arriaga, Disputat. III De generat., § XI, Nr. 178, S. 500 meiner Ausgabe.

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Widerlegung der Annahme, das Chaos habe eine unendlich lange Zeit angedauert II. Lassen wir ihnen diesen Widerspruch durchgehen; wir werden noch genügend Stoff finden, um sie an anderen Orten anzugreifen. Wir wollen den Angriff von der Seite der Ewigkeit führen. Nichts ist absurder, als die Vermischung von nicht wahrnehmbaren Teilen der vier Elemente während einer unendlichen Zeit zuzulassen. Denn sobald man in diesen Teilen die Tätigkeit der Hitze, die Wirkung und die Gegenwirkung der vier ursprünglichen Qualitäten und darüber hinaus in den Partikeln der Erde und des Wassers die Bewegung zum Mittelpunkt hin sowie die Bewegung in Richtung der Peripherie bei den Partikeln des Feuers und der Luft annimmt, setzt man ein Prinzip fest, das notwendigerweise diese vier Arten von Körpern voneinander trennt und das zu dieser Trennung nur eine bestimmte begrenzte Zeit benötigt. Man betrachte ein wenig, was man die ›Phiole der vier Elemente‹ nennt. Man gebe kleine metallische Teilchen in sie hinein ein und sodann drei Flüssigkeiten, von denen eine immer viel leichter ist als die andere. Man schüttele dies alles zusammen durch, und man wird in der Phiole keine dieser vier Zutaten mehr unterscheiden können; die Teile einer jeden vermischen sich mit den Teilen der anderen. Wenn man aber diese Phiole ein wenig zur Ruhe kommen läßt, wird man feststellen, daß jedes Teil wieder seine Lage einnimmt. (…). Wenn man das Universum mit dieser Phiole vergleicht, kann man schließen, daß, wenn die zu Staub gemachte Erde derart mit der Materie der Sterne und der Luft sowie des Wassers vermischt worden wäre, daß die Mischung sich bis zu den nicht wahrnehmbaren Partikeln eines jeden dieser Elemente erstreckt hätte, alles sofort darauf hin gearbeitet hätte, sich abzusetzen, und daß nach Ablauf einer bestimmten Zeit die Teile der Erde eine zusammenhängende Masse gebildet hätten, die des Feuers eine andere und so alle übrigen nach Maßgabe der Schwere oder der Leichtigkeit einer jeden Art von Körper. Man kann sich noch eines anderen Vergleichs bedienen und annehmen, das Chaos sei jungem, in Gärung befindlichem Wein

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ähnlich. Das ist der Zustand eines Durcheinanders. Die geistigen und die irdischen Teile vermischen sich miteinander, und man kann weder mit den Augen noch durch den Geschmack unterscheiden, was eigentlich Wein und was lediglich Weinstein oder Hefe ist. Dieses Durcheinander ruft einen heftigen Kampf zwischen diesen verschiedenen Materieteilen hervor. Ihr Zusammenstoß ist so heftig, daß das Gefäß ihn manchmal nicht aushalten kann. Aber nach ungefähr zwei oder drei Tagen ist dieser innere Kampf beendet. Die groben Teile sondern sich ab und fallen durch ihre Schwere nach unten. Die leichteren Teile sondern sich ebenfalls ab und verdunsten infolge ihrer Leichtigkeit,47 und auf diese Weise befindet sich der Wein in seinem natürlichen Zustand. Das würde mit dem Chaos der Dichter auch geschehen. Die Gegensätzlichkeit der miteinander wild vermischten Prinzipien hätte eine heftige Gärung in ihm hervorgebracht, die aber nach Ablauf einer gewissen Zeit die Herabsenkung der irdischen Körper und das Aufsteigen der geistigen Teile, kurz: die angemessene Anordnung eines jeden Körpers entsprechend seiner Schwere oder seiner Leichtigkeit verursacht hätte. Es gibt also nichts, was der Erfahrung und der Vernunft mehr widerspräche als die Annahme eines Chaos, das ewig dauert, obwohl es bereits die gesamte Kraft enthält, die in der Natur nach der Schaffung der Welt aufgetreten ist. Denn wir müssen gut darauf achtgeben, daß all das, was wir ›allgemeine Naturgesetze‹, ›Bewegungsgesetze‹ und ›mechanische Prinzipien‹ nennen, dasselbe ist, was Ovid und die Peripatetiker ›Hitze‹, ›Kälte‹, ›Feuchtigkeit‹, ›Trockenheit‹, ›Schwere‹ und ›Leichtigkeit‹ nennen. Sie behaupteten, daß alle Kraft und alle Aktivität der Natur, sämtliche Prinzipien des Entstehens und der Veränderung der Körper im Bereich dieser sechs Qualitäten enthalten sind. Weil sie dieselben also für das Chaos angenommen haben, haben sie in ihm zwangsläufig genau dasselbe Ver-

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Nach Abschluß der Gärung findet man immer einen leeren Raum in dem Faß. Das ist ein evidenter Beweis dafür, daß einige Teile durch die Spalten des Fasses entwichen sind.

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mögen anerkannt, das in der Welt das Entstehen und Vergehen, Wind, Regen usw. hervorbringt.

Ob es folgerichtig zu schließen heißt, wenn man zur Entwirrung des Chaos auf Gott zurückgreift III. Hieraus ergibt sich ein weiterer Einwand, der kaum schwächer ist als die vorangegangenen. Ovid und diejenigen, deren Ansichten er paraphrasiert, griffen zur Entwirrung des Chaos ohne Notwendigkeit auf die Mitwirkung Gottes zurück, denn sie räumten dem Chaos die ganze innere Kraft ein, die imstande war, dessen Teile zu trennen und jedem Element die ihm angemessene Lage zu geben. Weshalb haben sie dann noch eine äußere Ursache eingreifen lassen? Hieß das nicht, jene erbärmlichen Dichter nachzuahmen, die sich auf dem Theater eines Deus ex machina zur Auflösung einer sehr geringen Verwirrung bedienen? Um über die Hervorbringung der Welt richtig zu räsonieren, muß man Gott als Urheber der Materie und als erstes und einziges Prinzip der Bewegung ansehen. Wenn man sich nicht zum Begriff einer Schöpfung im eigentlichen Sinne aufschwingen kann, wird man nicht alle Klippen vermeiden können, und man muß zwangsläufig, gleichgültig welcher Seite man sich zuwendet, Dinge behaupten, denen unsere Vernunft nicht zuzustimmen vermag. Denn wenn die Materie aus sich selbst heraus besteht, verstehen wir nicht recht, daß Gott ihr Bewegung verleihen konnte oder mußte. Sie wäre hinsichtlich der Wirklichkeit ihrer Existenz unabhängig von allem anderen. Weshalb sollte sie also nicht die Kraft haben, mit jedem ihrer Teile immer an demselben Ort zu existieren? Weshalb sollte sie gezwungen sein, den Wünschen einer anderen Substanz nach einer Veränderung ihrer Lage nachzugeben? Hinzu kommt, daß, wenn die Materie von einem äußeren Prinzip bewegt worden wäre, dies ein Zeichen dafür wäre, daß ihre notwendige und unabhängige Existenz von der Bewegung getrennt und verschieden wäre, woraus folgt, daß ihr natürlicher Zustand der Ruhezustand ist und daß Gott sie deshalb nicht in Bewegung setzen

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konnte, ohne Unordnung in die Natur der Dinge zu bringen, da ja nichts mehr der Ordnung entspricht, als der ewigen und notwendigen Einrichtung der Natur zu folgen. Darüber spreche ich an anderen Stellen ausführlicher.48 Unter all den Irrtümern aber, in die man stürzt, wenn man durch Ablehnung der Schöpfung in die Irre gerät, ist meiner Meinung nach keiner erbärmlicher als die Annahme, daß, wenn Gott nicht die Ursache der Existenz der Materie ist, er doch wenigstens der erste Beweger der Körper ist und in dieser Eigenschaft der Urheber der elementaren Eigenschaften, der Urheber der Anordnung und der Gestalt, die wir in der Natur sehen. Die Annahme, er sei der erste Beweger der Materie, bedeutet ein Prinzip, das natürlicherweise die Konsequenz nach sich zieht, daß er den Himmel, die Erde, die Luft und das Meer gebildet hat und daß er der Architekt dieses großen und wunderbaren Gebäudes ist, das man ›Welt‹ nennt. Wenn man ihm aber diese Eigenschaft des ersten Bewegers nimmt, wenn man versichert, daß sich die Materie unabhängig von ihm bewegt und aus sich selbst ihre verschiedenen Formen hat, daß einige ihrer Teile zum Zentrum streben und andere zur Peripherie, daß sie Korpuskeln des Feuers, des Wassers, der Luft und der Erde enthält, wenn man, sage ich, all dies mit Ovid behauptet, setzt man Gott unnütz und unpassend zum Weltenbau ein. Die Natur könnte die Mitwirkung Gottes sehr gut entbehren, sie hätte genügend Kräfte, um die Partikel der Elemente zu trennen und diejenigen zusammenzustellen, die von ein und derselben Art sind.49 Aristoteles hat diese Wahrheit sehr genau eingesehen, und er hat in dieser Angelegenheit eine viel bessere Ansicht vertreten als Platon, der eine ungeregelte Bewegung in der elementaren Materie angenommen hat, die der Erschaffung der Welt vorausliegt. Aristoteles zeigt, daß diese Annahme sich selbst zerstört, weil man, um nicht in einen 48

Man sehe oben Anm. (S) des Artikels EPIKUR. Man sehe auch Anm. (A) des Artikels HIEROCLES, der Philosoph.  Der letztgenannte Artikel nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  49 Man ziehe das oben in Anm. (G), Nr. VIII, des Artikels ANAXAGORAS Gesagte heran.

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unendlichen Regreß zu geraten, sagen muß, daß es in den Elementen eine natürliche Bewegung gibt. Wenn sie natürlich ist, dann haben also die einen zum Mittelpunkt und die anderen zur Peripherie hin gestrebt. Sie haben sich folglich selbst in der Art angeordnet, die erforderlich war, um die Welt zu bilden, die wir heute haben. Folglich gab es eine Welt zu der Zeit dieser Bewegung, von der man behauptet, sie sei regellos und liege der Welt voraus, was sich widerspricht. (…) Aristoteles merkt hierzu folgerichtig und mit gutem Grund an, daß Anaxagoras, der keine Bewegung annahm, die der ursprünglichen Bildung der Welt vorangegangen wäre, in dieser Angelegenheit weit klarer gesehen hat als die anderen.51 Die am meisten von der Rechtgläubigkeit des Evangeliums eingenommenen Peripatetiker unserer Tage würden nichts Verdammenswertes in diesen Ausführungen des Aristoteles finden, denn sie räumen ein, daß diese verändernden und bewegenden Eigenschaften der vier Elemente zur Hervorbringung sämtlicher Wirkungen der Natur ausreichen. Sie führen Gott lediglich als Erhalter dieser elementaren Fähigkeiten ein, deren erste Ursache er ist, oder vielmehr: sie führen ihn im Sinne einer allgemeinen Mitwirkung ein und kommen darin überein, daß abgesehen hiervon jene vier Fähigkeiten alles tun und in ihrer Eigenschaft als sekundäre Ursachen das umfassende Prinzip allen Entstehens sind.52 Ein scholastischer Theologe würde daher ohne weiteres zugeben, daß die vier Elemente, wenn sie unabhängig von Gott mit all den Eigenschaften existiert hätten, die sie heutzutage haben, von sich aus diese ›Welt‹ genannte Maschine hätten bilden und in dem Zustand erhalten können, in dem wir sie jetzt sehen. Er müßte folglich zwei große Fehler in der Lehre vom Chaos erkennen. Der erste und hauptsächliche lautet, daß sie Gott die Schöpfung der Materie und die Hervorbringung der Eigenschaften nimmt, die dem Feuer, der Luft, der Erde und 51

Ich habe die Worte von Aristoteles oben in Fußn. (161) des Artikels EPIKUR zitiert.  Diese Fußnote nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  52 Mit Ausnahme der menschlichen Seele.

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dem Meer zugehören; der zweite, daß diese Lehre Gott, nachdem sie ihm all dies genommen hat, ohne Notwendigkeit in das Welttheater einführt, um den vier Elementen ihren Platz anzuweisen. Unsere modernen Philosophen, welche die Qualitäten und Vermögen der peripatetischen Physik verworfen haben, würden dieselben Fehler in Ovids Beschreibung des Chaos finden, denn das, was sie ›allgemeine Bewegungsgesetze‹, ›Prinzipien der Mechanik‹, ›Modifikationen der Materie, der Gestalt, der Lage‹ sowie ›Anordnung der Korpuskeln‹ nennen, bedeutet nichts anderes als dieses aktive und passive Vermögen der Natur, das die Peripatetiker mit den Worten ›verändernde und bewegende Eigenschaften der vier Elemente‹ bezeichnen. Weil also der Lehre dieser Philosophen zufolge jene entsprechend ihrer natürlichen Leichtigkeit oder Schwere angeordneten vier Körper ein für alles Entstehen zureichendes Prinzip sind, dürfen die Cartesianer, die Gassendisten und die anderen modernen Philosophen behaupten, daß die Bewegung, die Lage und die Gestalt der Teile der Materie zur Hervorbringung sämtlicher natürlicher Wirkungen ausreichen, ohne davon sogar die allgemeine Anordnung auszunehmen, welche die Erde, die Luft, das Wasser und die Sterne dahin gesetzt hat, wo wir sie sehen. Deshalb ist die wahre Ursache der Welt und der Wirkungen, die in ihr entstehen, nicht von der Ursache verschieden, die den Teilen der Materie die Bewegung verliehen hat; gleichgültig, ob sie zu ein und derselben Zeit jedem Atom eine bestimmte Figur gegeben hat, wie die Gassendisten meinen, oder ob sie den ausnahmslos würfelförmigen Teilen lediglich einen Stoß versetzt hat, der sie durch die Dauer der unter gewisse Gesetze gebrachten Bewegung in der Folge alle Arten von Gestalt annehmen ließ. Das ist die Lehre der Cartesianer. Beide müßten folglich darin übereinkommen, daß die Materie, wenn sie vor der Hervorbringung der Welt in der von Ovid behaupteten Art existiert hätte, imstande gewesen wäre, sich durch ihre eigenen Kräfte dem Chaos zu entwinden und sich die Gestalt der Welt ohne Zutun Gottes zu geben. Sie müßten Ovid folglich vorwerfen, zwei Schnitzer begangen zu haben. Der erste liegt in seiner Voraussetzung, die Materie enthielte ohne Hilfe der Gottheit

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die Samen zu allen Zusammensetzungen, nämlich die Hitze, die Bewegung usw. Der andere besteht darin, daß er sagt, die Materie hätte sich ohne Zutun Gottes nicht aus dem Zustand des Durcheinander entwinden können. Das heißt, dem einen zu viel und dem anderen zu wenig zuzubilligen, das heißt, auf Hilfe zu verzichten, wenn man sie am nötigsten hat, und sie zu erbitten, wenn es nicht erforderlich ist.

Betrachtung über einen Gedanken von Herrn Descartes bezüglich der Art und Weise, wie die Welt hätte gemacht werden können Ich weiß, daß es Leute gibt, welche die von Descartes vorgetragene Spekulation über die Art und Weise, wie die Welt hätte gebildet werden können, nicht billigen.53 Die einen verspotten sie und halten sie für eine Beleidigung Gottes, die anderen finden in ihr entweder Fehler oder Unmöglichkeiten. Den ersteren kann man antworten, daß sie von dieser Sache nichts verstehen und daß sie, wenn sie darüber im Bilde wären, zugeben würden, daß nichts geeigneter ist, uns einen hohen Begriff von der unendlichen Weisheit Gottes zu geben als die Lehre, daß er aus einer völlig ungestalteten Materie unsere Welt in einer bestimmten Zeit durch die bloße Erhaltung der ihr einmal verliehenen und unter eine geringe Zahl einfacher und allgemeiner Gesetze gebrachten Bewegung machen konnte. Was diejenigen betrifft, welche die Ausführungen Descartes’ im Detail bestreiten, als ob sie Dinge enthielten, die den Gesetzen der Mechanik und dem wirklichen Zustand entgegenstünden, den die Astronomen in den Wirbeln der Himmel entdeckt haben, so begnüge ich mich mit der Antwort, daß dies nicht ausschließt, daß seine Lehre im Großen und Ganzen richtig ist, und nach meiner festen Überzeugung zweifelt Newton, der fürchterlichste von allen Kritikern Descartes’, nicht daran, daß der tatsächliche Weltenbau das Werk einer kleinen Zahl mechanischer Gesetze sein könnte, 53

Man sehe die Descartes’ Principia, Teil III, Nr. 46 f.

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die der Urheber aller Dinge festgesetzt hat. Denn sobald man einmal Körper annimmt, die bestimmt sind, sich gradlinig fortzubewegen und immer dann, wenn sie aufgrund des Widerstands äußerer Körper gezwungen sind, sich in Kreisbahnen zu bewegen, entweder zum Zentrum oder zur Peripherie streben, setzt man ein Prinzip fest, das notwendigerweise viele Veränderungen in der Materie bewirkt und das, wenn es nicht diesen Weltenbau bildet, einen anderen bilden wird.

Bemerkung zur Lehre Epikurs Selbst die törichte und abwegige Lehre der Epikureer ermöglicht es, mit ihr eine gewisse Welt zu bauen. Man gebe ihnen einmal die verschiedenen Gestalten der Atome mitsamt der unveräußerlichen Kraft zu, sich den Gesetzen der Schwerkraft entsprechend zu bewegen und sich wechselseitig zurückzustoßen sowie auf die eine oder andere Weise aufeinander einzuwirken, je nachdem, ob sie gerade oder schräg aufeinanderstoßen, so kann man nicht mehr leugnen, daß das zufällige Zusammentreffen dieser Korpuskeln Massen bilden kann, bei denen es feste und flüssige Körper geben wird, Kälte und Hitze, Undurchsichtigkeit und Transparenz, Wirbel usw. Alles, was man ihnen bestreiten kann, ist, daß der Zufall eine solche Ansammlung von Körpern, wie unsere Welt es ist, hervorbringen könnte, in der es derart viele Dinge gibt, die solange in ihrer Regelmäßigkeit verharren, und so viele Tiermaschinen, die tausendmal geschickter gebaut sind als Maschinen menschlicher Kunst und die notwendigerweise eine intelligente Anordnung voraussetzen. Wir wollen beiläufig eine Überlegung des Herrn Lamy prüfen, eines Mediziners der Fakultät von Paris, der ein ebenso großer Anhänger der Atomlehre wie Gegner der Peripatetiker und des Descartes ist. Alles das wurde durch sein Werk De principiis rerum offenkundig.54 Hier ist seine Antwort auf einen 54

Die Leipziger Acta eruditorum von 1682, S. 155, geben einen Abriß davon und merken an, daß es 1680 in Paris gedruckt wurde; aber das war

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Einwand, den man gewöhnlich gegen die epikureische Lehre erhebt. Man argumentiert auf der Grundlage folgenden Vergleichs: Durch eine zufällige Zusammenstellung von Buchstaben würde niemals das Heldengedicht der Ilias entstehen, folglich könnte das zufällige Zusammentreffen der Atome niemals eine Welt hervorbringen. Er antwortet, daß es einen ungeheuren Unterschied zwischen diesen beiden Dingen gibt. Die Ilias kann nur durch die genaue und bestimmte Aneinanderreihung einer gewissen Anzahl von Buchstaben entstehen. Unter unzählig vielen Arten, Buchstaben zusammenzufügen, ist das Verfahren zu ihrer Verfertigung folglich einzigartig. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der Zufall niemals diesen einzig möglichen Weg unter unendlich vielen anderen zustande bringen könnte. Um aber eine Welt im allgemeinen Sinne zu schaffen, sei es diese oder eine andere, ist es nicht erforderlich, daß die Atome sich gemäß einer bestimmten, einzigartigen und festgelegten Art und Weise treffen und verbinden, denn auf welche Weise sie sich auch zusammenballen, sie werden zwangsläufig Verbände von Körpern bilden und folglich eine Welt. Dabei läßt Lamy es nicht bewenden, er gibt dem Vergleich noch eine andere Wendung. So zufällig die Zusammenstellung mehrerer Buchstaben auch sein mag, sagt er, sie bilden zwangsläufig Silben und Worte, und folglich wird das zufällige Zusammentreffen der Atome notwendigerweise Körper bilden. Wenn man ihm einwendet, daß diese nach dem Zufall gebildeten Worte keinerlei Bedeutung haben, dann antwortet er, dies sei deshalb der Fall, weil Worte nur die Bedeutung haben, die der Mensch ihnen nach Gutdünken gibt, und daß dies der Grund dafür ist, daß sie, um Bedeutungsträger zu sein, den menschlichen Bedingungen entsprechend angeordnet sein müssen, daß aber die Atome, weil ihr Vermögen unabhängig vom Menschen ist, beachtliche Wirkungen hervorbringen, welche die Bewunderung des Menschen auf sich ziehen, gleichgültig wie ihre Anordnung im einzelnen

eine spätere Auflage. Ich habe dieses Buch 1678 gelesen, und schon damals war es nicht neu.

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aussehen mag.55 Es ist nicht eigentlich erforderlich, all dies zu diskutieren. Man kann Lamy einen Teil seiner Behauptungen einräumen und gleichzeitig leugnen, daß unsere Welt, in der es so viele regelmäßige und auf bestimmte Zwecke ausgerichtete Dinge gibt, die Wirkung des Zufalls sein könnte. Man beachte, daß Epikur gezwungen war, einen Anstoß aus dem Ungefähr anzuerkennen, der zumindest genauso erstaunlich war, wie es die durch das zufällige Zusammentreffen bestimmter Buchstaben verfertigte Ilias sein würde. Epikur verlieh den Göttern Menschengestalt und hielt sie für unsterblich. Er mußte folglich zugeben, daß das zufällige Zusammentreffen der Atome, aus denen die ersten Menschen gebildet waren, ein gewisses, genau bestimmtes und einzigartiges Original kopiert hatte, nämlich die Gestalt, welche die Götter haben. (…). Diese durch einen blinden Zufall entstandene Ähnlichkeit zwischen den Göttern und den Menschen ist viel erstaunlicher, als es wäre, ein Kind zu sehen, das nach Maßgabe seiner kindlichen Einfälle einen Stift über ein Stück Papier führen und ein gleichermaßen ähnliches und treffliches Bild von Cäsar malen würde wie das hervorragendste Portrait, das Michelangelo von ihm anfertigen könnte.

Widerlegung der Annahme Ovids, daß der Krieg der Elemente mit der Entwirrung des Chaos beendet war IV. Die letzte Bemerkung, die mir darzulegen bleibt, betrifft Ovids Meinung, daß der Krieg der vier Elemente, der im Chaos ununterbrochen angedauert hatte, durch die Autorität Gottes beendet wurde, der die Welt bildete. Heißt das nicht zu behaupten, daß die Elemente seit dieser Zeit Frieden halten? Ist das nicht eine sehr schlecht begründete und durch die Erfahrung widerlegte Behauptung? Hat der Krieg zwischen dem Warmen und dem Kalten, der Feuchtigkeit und der Trockenheit, der Leichtigkeit und der Schwere, dem Feuer und dem Wasser usw. 55

Entnommen Buch III, Kapitel 39 von Guillaume Lamy, De rerum principiis.

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jemals aufgehört? Weil Ovid sich die Lehre der vier Elemente zu eigen machte, mußte er wissen, daß der Gegensatz ihrer Eigenschaften noch immer besteht und daß es niemals weder Friede oder Waffenstillstand zwischen ihnen geben wird, nicht einmal dann, wenn sie sich mäßigen und gemischte Körper bilden. Dazu finden sie sich nur nach einem Kampf bereit, in dem sie sich wechselseitig verstümmelt haben; und wenn es Augenblicke gibt, in denen ihr Kampf unterbrochen ist, dann deshalb, weil der Widerstand der einen der Aktivität der anderen genau entspricht. Wenn sie nicht weiter können, holen sie Luft, sind aber stets bereit, sich anzugreifen und sich wechselseitig zu vernichten, sobald es ihre Kräfte gestatten. Der Gleichgewichtszustand kann nicht lange andauern, denn zu jeder Zeit erhalten entweder die einen oder die anderen Unterstützung, und mit höchster Notwendigkeit muß der eine verlieren, was der andere hinzugewinnt. So sah Ovid, daß ihr Kampf wie zur Zeit des Chaos noch überall und bis in die kleinsten Winkel ein und desselben Zusammengesetzten hinein herrschte: »In ein und demselben Körper lagen das Warme und das Kalte, das Trockene und Feuchte, Weiches und Hartes im Zwist und Schwereloses mit Schwerem.«57 Die Gesetze dieses Kampfes besagen, daß der Schwächere dem ganzen Ausmaß der Macht des Stärkeren entsprechend völlig zugrundegerichtet wird. Gnade oder Mitleid gibt es nicht, von Vergleichsabkommen hört man nichts. Dieser innere Krieg bereitet die Auflösung des Zusammengesetzten vor, und über kurz oder lang erreicht er sein Ziel. Die belebten Körper sind ihm mehr ausgesetzt als die anderen und würden bald untergehen, wenn die Natur ihnen nicht Hilfsmittel zur Verfügung stellte; zu guter Letzt aber gereicht ihnen der Gegensatz von natürlicher Wärme und ursprünglicher Feuchtigkeit zum Tod. Die Macht der Zeit, die alles verschlingt und die Ovid in Buch XV der 57

Ovid, Metamorphosen, Buch I, Vers 18 ff.

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Metamorphosen so gut beschreibt,58 ist ausschließlich auf den Kampf der Körper gegründet. Als unser Dichter diese Beschreibung lieferte, erinnerte er sich nicht mehr daran, was er in dem Kapitel über das Chaos behauptet hatte. Man muß daher lediglich den Anfang seines Werks mit dem Ende vergleichen, um ihn eines Widerspruchs zu überführen. In Buch I versichert er, daß die Zwietracht der Elemente beendet wurde, und in Buch XV sagt er, daß sie sich wechselseitig zerstören und nichts in demselben Zustand verbleibt. »Die auch, die Elemente wir nennen, beharren nicht stet.59 (---). (Sie alle) gehn doch ein jedes ins andre über und fallen zurück in sich selbst: die Erde, sie löst in flüssiges Wasser schwindend sich auf, das Wasser verflüchtigt weiter sich dann in die Luft, die Luft, ihrer Schwere entledigt, steigt, auf das feinste verdünnt, empor zu den Höhen des Feuers. Rückwärts geht es von da, und der nämliche Weg wird durchmessen. Denn, verdichtet, wird das Feuer zu dunstiger Luft und diese zu Wasser, und Erde entsteht aus sich ballenden Wellen. Keinem bleibt seine äußre Gestalt, die Verwandlerin aller Dinge, Natur, sie läßt aus dem Einen das Andere werden.«60 Er führt sodann mehrere Beispiele von Eroberungen an, die das Wasser bei der Erde und die Erde beim Wasser usw. gemacht hat. Wo ist also diese Friedenstiftung, die er in Buch I herausgestellt hat? Man sehe die Fußnote.61

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»Zeit, du gefräßigste du, und du, du neidisches Alter / alles zerstört ihr, verzehrt allmählich, was vorher der Stunden / Zähne benagt und geschwächt, in langsam schleichendem Tode.« Ovid, Metamorphosen, Buch XV, Vers 234 ff. 59 A. a. O., Buch XV, Vers 237. 60 Ebd., Vers 244 ff. 61 Man möge zur Entschuldigung seines Widerspruchs nicht anführen, daß er hier den Philosophen Pythagoras sprechen läßt, denn die meisten der

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Selbst wenn er sich nicht widersprochen hätte, könnten wir ihn mit gutem Grund kritisieren. Denn da die Welt ein Schauplatz voller Abwechslung sein sollte, wäre nichts unangebrachter gewesen, als die vier Elemente in einen Friedenszustand zu versetzen; und weit entfernt, daß die Beendigung des Chaos ihre Streitereien hätte beschließen müssen, wäre es jetzt erforderlich gewesen, damit zu beginnen, sie gegeneinander aufzubringen, falls sie während der Zeit des Chaos gut miteinander ausgekommen sein sollten. Durch ihre Kämpfe wird die Natur erst fruchtbar, ihre Eintracht würde sie unfruchtbar machen, und ohne den unversöhnlichen Krieg, den sie sich überall liefern, wo sie aufeinander stoßen, würde man kein Entstehen antreffen. Die Hervorbringung einer Sache ist stets der Untergang einer anderen.62 Generatio unius est corruptio alterius  Das Entstehen des einen ist das Vergehen des anderen . Das ist ein Grundsatz der Philosophie. Ovid hätte also voraussetzen müssen, daß der Gott, der den vier Elementen verschiedene Orte zuwies, ihnen befahl, sich gnadenlos zu bekämpfen und als sehr herrschsüchtige Eroberer aufzuführen, die alle erdenklichen Mittel anwenden, um ihre Nachbarstaaten an sich zu reißen. Der Wunsch der Dido hätte dem Befehl ähnlich sein müssen, den er ihnen gab. »Jetzt, früher oder wann immer die Kräfte reichen, so bitte ich, mögen die Ufer dem Ufer, die Wellen den Wellen, die Waffen den Waffen feindlich gesinnt sein und selbst die Enkel einander bekämpfen.«63 Sie verhalten sich tatsächlich so, als wenn sie diesen Befehl erhalten hätten und ihre größte Leidenschaft darin bestünde, ihn gut auszuführen. Die Kälte dehnt ihre Sphäre so weit wie möglich aus und vernichtet ihren Gegner. Die Hitze verhält sich der Kälte gegenüber genauso, Dinge, die er ihm in den Mund legt, sind entweder Geschichten oder Ansichten gemäß den Lehren derjenigen, die das Entstehen und Vergehen durch die Eigenschaften der Elemente erklären. 62 »Denn was immer geändert aus eignen Grenzen herausgeht, / ist sogleich der Tod von dem, was früher gewesen.« Lukrez, Buch I, Vers 670 f.  In der Übersetzung von Karl Büchner. Vgl. die Anm. der Hgg. zu Fußn. (35) des Artikels CHARRON. Hgg.  63 Vergil, Aeneis, Buch IV, Vers 627 ff.

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und diese beiden Qualitäten bemächtigen sich abwechselnd des Feldes, die eine im Winter, die andere im Sommer. Sie ahmen die siegreichen Armeen nach, die nach dem Gewinn einer entscheidenden Schlacht den Gegner zwingen, sich in seine Festungen zu retten, ihn dahin verfolgen, belagern und zum Äußersten treiben. Die Kälte rettet sich während des Sommers in Höhlen und unterirdische Grotten, und um nicht völlig unterdrückt zu werden, verdoppelt sie ihre Widerstandsbemühungen und verstärkt sich mittels der ›antiperistatisch‹ genannten Kraft so gut sie kann; die Hitze macht dasselbe während des Winters. Die Philosophen der Elemente, die auf diese Weise die Wirkungen der Natur erklären, sagen uns, daß jede Eigenschaft sich bemüht, auf diese Weise die Objekte, die sie bekämpft, zu unterjochen, und daß sie dieselben, weil sie nicht damit zufrieden ist, sie zu Vasallen zu machen und sie ihre Uniform tragen zu lassen, in ihren eigenen Zustand überführen will: Omne agens sagen sie, intendit sibi assimilare passum  Alles Aktive strebt danach, sich das Passive anzuverwandeln . Kann man wohl auf eine in höherem Maße kriegerische und ehrgeizige Feindseligkeit stoßen als diese? Empedokles täuschte sich, als er den vier Elementen Freundschaft und Feindschaft beilegte, die eine, um sie zu vereinigen, die andere, um sie zu trennen.64 Man kann ihm zubilligen, daß die Vereinigung und die Trennung der Teile für die Hervorbringungen der Natur sehr notwendig sind, aber es ist sicher, daß die Freundschaft keinerlei Anteil daran hat. Einzig Zwietracht und Antipathie der Elemente versammeln Körper an einem Ort und zerstreuen sie an einem anderen. Jene zwei Eigenschaften, von denen Empedokles spricht, dürfen höchstens den lebenden Körpern beigelegt werden; aber die Luft und das Feuer, das Wasser und die Erde haben keinen anderen Gehilfen als die Feindschaft. Die lebenden Körper führen den Befehl sehr gut aus, von dem Ovid hätte annehmen sollen, daß der Urheber der Entwirrung des Chaos ihn zu ihrer wechselseitigen Zerstörung gegeben hat. 64

Man sehe Aristoteles in Buch VIII seiner Physica, Kap. 1 und Diogenes Laertius, Buch VIII, Nr. 76 und dazu Aldobrandinus und Ménage.

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Denn es ist im eigentlichsten Sinne des Wortes wahr, daß sie sich nur durch Zerstörung ernähren. Alles, was zur Erhaltung ihres Lebens dient, verliert seine Form und ändert seinen Zustand sowie seine Art. Pflanzen vernichten die Zusammensetzung und die Eigenschaften all der Säfte, die sie an sich ziehen können. Tiere üben dieselbe Verwüstung bei allem aus, was ihnen zur Nahrung dient. Sie fressen einander, und es gibt mehrere Tierarten, die sich nur bekriegen, um den getöteten Feind zu verschlingen. In gewissen Ländern machen es die Menschen nicht anders, und überall sind sie große Zerstörer. Ich rede hier nicht von den Blutbädern, die aus Ehrgeiz, Habsucht, Grausamkeit oder anderen derartigen Leidenschaften hervorgehen, die Kriege verursachen; ich rede lediglich von den Wirkungen der Sorge, die man für die Ernährung seines Körpers trägt. Der Mensch ist in dieser Hinsicht ein so radikal destruktives Prinzip, daß, falls all die anderen Lebewesen es im Verhältnis gleichermaßen wären, die Erde außerstande sein würde, ihnen genügend Lebensmittel zu liefern. Wenn man in den Straßen und auf den Plätzen großer Städte diese erstaunliche Menge von Kräutern und Früchten und die unzähligen anderen Dinge sieht, die für die Ernährung der Einwohner bestimmt sind, sollte man da nicht sagen, daß dies für eine Woche reicht? Würde man sich vorstellen, daß sich diese Präsentation jeden Tag wiederholt? Könnte man glauben, daß eine so kleine Öffnung wie der menschliche Mund ein Schlund und ein Abgrund ist, der all das in kurzer Zeit verschlingt? Nur die Erfahrung kann davon überzeugen. In den vor Kurzem veröffentlichten Saint-Evremoniana habe ich die folgenden Worte gefunden: »Man sagt, daß es in Paris an die viertausend Austernverkäufer gibt, daß man dort jeden Tag 1500 große Ochsen verzehrt, mehr als 16000 Schafe, Kälber und Schweine, abgesehen von einer ungeheuren Menge an Geflügel und Wild.«65 Hiernach möge man beurteilen, was in Ländern geschieht, wo die Menschen noch größere Fleischfresser sind und noch mehr essen.

65

Auf S. 293 der holländischen Ausgabe von 1701.

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Da der Zustand der Natur also derart beschaffen ist, daß die Wesen durch ihre wechselseitige Vernichtung hervorgebracht und erhalten werden, hätte Ovid nicht versichern sollen, daß der Krieg der Elemente beigelegt war, als die Welt begann und das Chaos aufhörte.66 Es hätte genügt zu sagen, daß Lage und Kräfte der Kämpfenden derart geregelt und ausbalanciert waren, daß ihre ununterbrochenen Feindseligkeiten nicht die Zerstörung des Werks, sondern lediglich Abwechslungen hervorbringen würden, die ihre Annehmlichkeiten hätten; per questo variar natura è bella  Auf dieser Abwechslung beruht die Schönheit der Natur , wie die Italiener sagen. Weil der Krieg nicht durch das Arrangement der Prinzipien aufgehört hat, werden sich einige vielleicht einbilden, daß dies nicht so sehr eine Beendigung des Chaos, als vielmehr ein roher Entwurf zur Entwirrung war, und daß, nachdem dieser rohe Entwurf, d. h. unsere Welt, eine gewisse Anzahl von Jahrhunderten bestanden haben wird, ihr eine viel schönere Welt folgen wird, aus der die Zwietracht verbannt ist. Und sie werden vielleicht behaupten, daß der hl. Paulus67 ihre Ansicht bestätigt, wenn er sagt, daß alle Kreaturen nach Erlösung von diesem Zustand der Eitelkeit und Verderbnis lechzen, in dem sie sich befinden. Sie mögen sagen, was sie wollen, ich werde mich nicht damit aufhalten, ihre Überlegungen zu prüfen. Man beachte, daß der fortwährende Krieg, den die Körper gegeneinander führen, mittels der Prinzipien der Mechanik, deren sich die modernen Philosophen zur Erklärung der Wirkungsweise der Natur bedienen, viel leichter zu verstehen ist als durch die Physik der vier Elemente. Denn da jede Wirkung der sechs elementaren Qualitäten der neuen Philosophie zufolge nichts anderes ist als räumliche Bewegung, ist klar, daß jeder Körper dasjenige bekämpft, worauf er stößt, und daß die Teile 66

Man sehe in Bd. XVIII der Bibliothèque universelle, S. 23 eine Anmerkung gegen das, was Gregor von Nazianz in seiner zwölften Rede gesagt hat, nämlich daß sich das Universum durch den Frieden erhalte. 67 Römer 8, 19 f. Dies ist eine Stelle, die den Kommentatoren viel Mühe bereitet.

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der Materie lediglich gemäß der ganzen Strenge des Gesetzes des Stärkeren danach streben, einander zu stoßen, zu zerbrechen, zu unterdrücken.

(H) Die Alten hätten das menschliche Geschlecht von ihrer allgemeinen Regel ausnehmen müssen, weil es den allerschrecklichsten Verwirrungen (---) des Chaos unterworfen ist. Aber selbst wenn wir die in der voranstehenden Anmerkung dargelegten Gründe unberücksichtigt ließen und zustimmten, daß Ovid allgemein gesprochen sagen durfte, die Geschöpfe seien aus dem Chaos gezogen worden, so könnte man dennoch behaupten, daß er im besonderen nicht hätte sagen dürfen, der Mensch habe an dieser Gunst teilgehabt. Ich ziehe hier nur die Gesichtspunkte in Betracht, die man ohne das Licht der Offenbarung haben kann. Kann man unter diesem Gesichtspunkt umhin zu meinen, die Schrecken des Chaos dauerten hinsichtlich des Menschen noch fort? Denn abgesehen von dem ewigen Kampf der elementaren Eigenschaften, der in der menschlichen Maschine ein wenig lebhafter herrscht als in den meisten anderen materiellen Wesen, welcher Krieg herrscht nicht zwischen seiner Seele und seinem Körper, zwischen seiner Vernunft und seinen Sinnen, zwischen seiner sinnlichen und seiner vernünftigen Seele? Die Vernunft sollte diese Unordnung beilegen und die verschiedenen inneren Kriege befrieden; allein sie ist Richterin und Partei zugleich; ihre Urteile werden nicht ausgeführt und tragen nur zur Vergrößerung des Übels bei.68 Dies hat einen der gründlichsten und brillantesten Geister des 17. Jahrhunderts dazu bewogen, den Zustand der Schafe demjenigen des Menschen vorzuziehen. Man lese das Folgende:

68

Hinsichtlich der Klagen, die man gegen die Vernunft erhebt, sehe man die  sc. Bayles  Nouvelles lettres  de l’auteur de la Critique générale de l’Histoire du calvinisme de Monsr. Maimbourg , S. 755 ff. sowie unten in Anm. (E) des Artikels PAULICIANER einige Passagen aus Cicero.

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»Indes ist die Vernunft auf unser Los gefallen, Die ihr  sc. die Schafe  vermissen müßt und nicht gebrauchen könnt: Allein beneidet drum nur keinen von uns allen, Der Vorzug ist gering, den uns das Schicksal gönnt. Die trotzige Vernunft, mit der wir uns so brüsten, Heilt, wie man täglich sieht, die Leidenschaften nicht: Ein Kind bestricket sie, sie irrt bei Bacchus Lüsten, Und martert nur ein Herz, das sie um Schutz anspricht. Sonst kann sie wahrlich nichts! Sie bleibet schwach und strenge, Sie übersteiget nichts, sie widerstrebet nur. Euch schützet euer Hund, ihr scheut nicht so die Menge Der Wölfe voller Wut auf eurer sichern Flur; Als unter der Gewalt von diesem Hirngespinste, Der Mensch die Sklaverei der Sinne scheuen muß.«69 Darauf stößt man also in den Gedichten der Mme. Deshoulières. Man sieht in ihnen ebenfalls, daß ihr der Zustand der unbeseelten Geschöpfe besser erscheint als unserer. Wir wollen sehen, was sie sagt, als sie einen Bach anspricht:70 »Wie kommt es, daß dein Mund beim Glücke klagen kann? Wie selig hat sich nicht dein Schicksal zugetragen! Oh schweige, kleiner Fluß! Dem Menschen steht es an, Sich über die Natur mit Rechte zu beklagen. Der Leidenschaften Heer, die unser Herz ernährt, Gebären allerseits Verwirrungen und Schmerzen, Und Reu und Ungemach; so Tag als Nacht verzehrt Dies Gift sein eignes Haus, die ihm getreuen Herzen. (---).

69

Mme. Deshoulières, Idylle des moutons, S. 32 f. in der Ausgabe Amsterdam 1694.  Die Übersetzung dieses und der beiden folgenden Gedichte von Antoinette Deshoulières sind – bei leichter Angleichung der Rechtschreibung – der von Gottsched herausgegebenen Übersetzung des Dictionnaire historique et critique, Bd. III, Sp. 571b–572a entnommen. Hgg.  70 A. a. O., in der Idylle du ruisseau, S. 119 f.

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Wie fern ist doch der Mensch von aller stillen Ruhe! Verrat und Angst und Zwist umgeben unsre Zeit. Du still und sanfter Fluß, womit hast du verdienet, Daß du uns übertriffst an Glück und Seligkeit? (---). Kurz ich verliere mich in diesem grausen Meere, Das voller Elend ist, von Eitelkeiten wallt, Seh ich den Menschen an und seiner Mängel Heere, Sein böses Herz dazu, so spür ich nicht an ihm Der Gottheit herrlich Bild, womit er sonst so prahlet.« Die Verse, die ich jetzt anführen werde, liefern uns einen neuen Beweis für das Chaos, in dem das menschliche Geschlecht geblieben ist. Die am meisten entgegengesetzten Dinge, das Licht und die Dunkelheit, verlassen einander im Menschen nicht; sie verfolgen sich in ihm und sind sich auf den Fersen. Je weniger man weiß, desto mehr glaubt man zu wissen; je mehr man weiß, desto deutlicher empfindet man seine Unwissenheit, desto mehr ist man der Gefahr ausgesetzt, vom rechten Wege abzukommen. Kann man Gegenstand oder Schauplatz eines wunderlicheren Kampfes sein? »Wie ist des Menschen Geist so grausam eingeschränkt! Er widme noch so sehr sich eifrig dem Studieren, So scharf auch von Natur bei ihm die Seele denkt, So wird ihn nichts zum Quell, nichts zur Gewißheit führen. Die dickste Finsternis umgibet, was er kennt, Das Licht, was ihm zuletzt das größte Wissen bringet, Ist nur ein schneller Blitz, ein Irrlicht, was ihn blend’t; Der ist so arg nicht dran, den kein Verstand durchdringet. Ihr Lügen! die allein das Wissen uns gebracht, Ihr zeigt nur gar zu klar, daß alles wissen wollen, Sehr oft nichts anders ist, als zweifeln lernen sollen.«71 Ich käme niemals an ein Ende, wenn ich all das sammeln wollte, was trefflich über die Gegensätzlichkeit der Teile gesagt worden 71

Mme. Deshoulières in den Réflexions diverses, S. 94 f.

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ist, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist. Der Graf de Bussy Rabutin versichert, »daß er sich hierbei immer an dasjenige erinnert, was Père Senault sagte, daß nämlich Seele und Körper sehr eng miteinander verbunden sind, aber dennoch beständig einander entgegenwirken; kurz: daß sie zwei Feinde sind, die nicht voneinander lassen können, und zwei Freunde, die sich nicht leiden mögen. Es ist noch nichts Besseres und Wahreres gesagt worden.«72 Ich finde mehr Kühnheit oder Lebhaftigkeit, aber nicht mehr gesunde Vernunft in dieser Passage von Balzac, obwohl sie viel davon aufweist: »Aber was glaubt Ihr, ehrwürdiger Pater, von wem diese Worte stammen? ›Wir sind aus zwei Feinden zusammengesetzt, die sich niemals vertragen. Der erhabene Teil unserer Seele liegt beständig im Krieg mit dem niederen. Wir wollen noch mehr sagen: Der Mensch ist aus einem Gott und aus einer Bestie gemacht, die miteinander verbunden sind.‹ Wenn Ihr den Verfasser dieser vier Zeilen erratet, halte ich Euch für einen ebenso großen Magier wie die es waren, welche die Geburt des Königs Sapores voraussagten.«73 Es gibt ausgezeichnete Ausführungen über diesen Gegenstand in zwei Predigten von Gregorius Palamas, der im 14. Jahrhundert Erzbischof von Thessalonike war. Sie haben »die Gestalt eines Dialogs, eines Plädoyers mitsamt Urteil. Die Seele klagt den Körper an, und der Körper seinerseits verteidigt sich, indem er nicht schlichtweg leugnet, sondern seine Sache bemäntelt. Dann folgt das Urteil der Richter.« Ich verwende die Worte von Claude Despence, der eine französische Übersetzung dieser beiden Predigten angefertigt und sie 1570 in Paris als Oktavband veröffentlicht hat. Du Verdier Vau-Privas führt einige Stücke daraus an.74 Ich werde eine längere Passage daraus zitieren, die 72

Bussy Rabutin, Brief XXXI von Teil IV, S. 53 der holländischen Aus-

gabe. 73

Balzac, Dissertation au Reverend Père Dom André de St. Denys, théologien de la congregation des reverends pères feuillans, am Ende von Socrate chrétien, S. 193 f. meiner Ausgabe. 74 Man sehe Bibliothèque françoise, S. 174 f.

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sehr gute Ausführungen, aber auch einige Fehler enthält. »Die Philosophen (---) kannten die Beschaffenheit der Triebfedern nicht, die das Herz des Menschen in Bewegung setzten, und sie hatten keinerlei Kenntnis noch Vermutung über den im Menschen stattfindenden befremdlichen Wechsel, durch den die Vernunft zum Sklaven der Leidenschaften wurde (---). Es ist zwar wahr, daß sie für ihre Unkenntnis der Ursache des im Menschen stattfindenden Wechsels zu entschuldigen sind, aber keineswegs dafür, daß sie diesen Wechsel nicht wahrgenommen haben. Denn man kann es nichtreflektierenden Leuten nachsehen, daß sie nicht wissen, was sich in ihnen selbst abspielt, aber es ist unbegreiflich, daß wißbegierige Beobachter der Natur, Menschen, die ihre Hauptbeschäftigung in das Selbststudium und in die Selbsterkenntnis setzen, nicht bemerkt haben, daß es nicht mehr die Vernunft war, die den Menschen führte und leitete. In der Tat, wie kann man sich vorstellen, daß aufgeklärte Leute nicht durch ihre Vernunft und ihre eigenen Erfahrungen entdeckt haben, daß die Vernunft bei all ihrer Macht und Geschicklichkeit weder mit Unterstützung des Alters noch durch die Kraft eines Beispiels oder die Furcht vor einem Übel imstande ist, eine Leidenschaft zu zerstören, die im Herzen des Menschen eingewurzelt ist, und daß sie das nicht gesehen haben, was die gröbsten Leute sehen und empfinden? Ein wenig Aufmerksamkeit auf ihre Selbsterfahrung hätte also ausgereicht, sie über den Zustand der Vernunft in Kenntnis zu setzen, sie von deren Schwäche zu überzeugen und sie begreifen zu lassen, daß der Mensch, der in dem erhabensten Teil der Seele saß und diese ruhige und erleuchtete Region bewohnte, von der aus er das Innere wie das Äußere seiner selbst sah und leitete, gegenwärtig in die Sinnlichkeit gestürzt ist, wo er seine Lüste derart genießt, als wenn er für sie geboren wäre. Sie hätten auch gesehen, daß die Vernunft, obgleich sie ihre Macht über den Menschen verloren hat, ihre Erkenntnisfähigkeit dennoch nicht völlig eingebüßt hat und daß ihr genügend davon geblieben ist, um dem Menschen seine Pflichten anzuweisen.«75 Herr Esprit ist der Autor, der auf diese 75

Esprit, Vorwort zu dem Buch La fausseté des vertus humaines.

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Weise in einem Werk gesprochen hat, das er 1678 veröffentlichte. Alles, was er über die Schwäche und die Knechtschaft der Vernunft sagt, ist sehr wahr, aber er tut unrecht daran, den Philosophen ganz allgemein vorzuwerfen, diese Knechtschaft nicht erkannt und keinerlei Vermutung hinsichtlich der Ursache gehabt zu haben, die sie hervorgebracht hat; denn zweifellos haben mehrere Heiden die Erkenntnisse hierüber gehabt, die er ihnen abstreitet. Ich weiß sehr wohl, daß die Stoiker allzu pompös über die Herrschaft der Vernunft gesprochen haben und daß ihr Begriff des Weisen ihre Einbildungskraft bis zu einem solchen Grad erhitzte, daß ihnen Äußerungen unterliefen, die beinahe wahnwitzig sind: Nicht darin, daß sie annahmen, ein von den Leidenschaften befreiter Mensch würde den Gesetzen der Ordnung und der Ehrenhaftigkeit beständig und unverbrüchlich Folge leisten, sondern darin, daß sie annahmen, es sei dem Menschen möglich, sämtliche lasterhaften Leidenschaften auszurotten. Das war ihr großer Irrtum, hierdurch haben sie ihre Unkenntnis der menschlichen Lage offenkundig gemacht. Der andere Teil ihrer Lehre war ganz vernünftig, nämlich daß der Mensch, wenn er seine Leidenschaften erst einmal bezwungen und ausgemerzt hat, keinerlei Mühe haben wird, die Tugend zu befolgen und zur Vollkommenheit zu gelangen.76 Jedenfalls hätte Herr Esprit sich auf die Stoiker konzentrieren und seine Kritik nicht so weit ausdehnen sollen, wie es ihm beliebte. Wer hatte ihm gesagt, die Philosophen hätten nicht gewußt, daß die menschliche Seele in die Sinnlichkeit gestürzt ist? Ist Cicero dies ausweislich der folgenden Worte aus Buch III von De re publica unbekannt gewesen, die der hl. Augustinus uns erhalten hat und die eine so lebhafte Beschreibung der Knechtschaft der Seele unter der Herrschaft der Leidenschaften enthalten? »Der Mensch ist von der Natur nicht wie von einer Mutter, sondern wie von einer Stiefmutter ins Leben gesetzt worden. Der Körper ist nackt, gebrechlich und schwach, der Geist aber ängstlich bei Unannehmlichkeiten, kleinmütig bei Gefahren, kraftlos Man sehe die  sc. Bayles  Nouvelles lettres  de l’auteur de la Critique générale de l’Histoire du calvinisme de Monsr. Maimbourg , S. 753. 76

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bei Arbeiten und den Leidenschaften zugeneigt; ein Geist, dem dennoch ein gewisses göttliches Feuer des Verstandes und des Geistes wie erstickt innewohnt.«77 Hatte Cicero also »keinerlei Kenntnis noch Vermutung über den im Menschen stattfindenden befremdlichen Wechsel, durch den die Vernunft zum Sklaven der Leidenschaften wurde«? Was wollen also die uns von ebendemselben hl. Augustinus überlieferten Worte besagen, in denen Cicero die alten heidnischen Philosophen zu loben scheint, die glaubten, die Geburt des Menschen sei die Strafe für eine in einem anderen Leben begangene Sünde?78 Billigt er nicht einen Gedanken, den er bei Aristoteles gelesen hatte, wonach die Vereinigung der Seele mit dem Körper eine Strafe sei, vergleichbar der von einigen antiken Seeräubern praktizierten Hinrichtungsart, nämlich die Körper von Lebenden mit Leichen Mund an Mund, Bauch an Bauch und so mit allen übrigen Körperteilen zusammenzubinden?79 Hieß das nicht anzuerkennen, daß die Seele durch die Sünden in den erbärmlichen Zustand gebracht worden ist, den sie im Körper erfährt? Hieß das nicht, die Sünde als die Ursache zu betrachten, die sie aus ihrem natürlichen Zustand und ihrem ursprünglichen Adel gestürzt hatte? (…). Endlich begreife ich nicht, wie es kommt, daß Herr Esprit versichert, die Philosophen hätten verkannt, daß die Kraft der Vernunft sich erschöpft habe, ihre Einsichtsfähigkeit jedoch erhalten geblieben sei. Hat Euripides, der Philosoph des Theaters, nicht gesagt, er habe nach langem Nachdenken über die Verderbtheit der Menschen herausgefunden, daß sie nicht aufgrund der Disposition ihres Verstandes sündigen, sondern weil sie, obwohl sie das Gute kennen, sich davon abwenden, und zwar die einen aus Faulheit, die anderen aus Liebe zur Wol-

77

Man sehe die von Andreas Patricius gesammelten Fragmens de Ciceron, S. 70 meiner Ausgabe. Er führt dies als Zitat aus Contra Pelagium, Buch IV des hl. Augustinus an. 78 Man sehe die Anm. (R) des Artikels TULLIA.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  79 Man vergleiche oben, Fußn. (68) des Artikels LEON X., wo ich eine Passage aus Vergil zitiere.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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lust? Er legt der Phaedra diese schönen Maximen in den Mund: »Schon oft habe ich in langen Nächten darüber nachgedacht, wie verdorben das menschliche Leben ist. Und es schien mir, daß wir das Schlechte nicht wegen, sondern trotz der Natur des Geistes tun. Die meisten Menschen haben nämlich eine zuverlässige Erkenntnis der Dinge. Die Sache liegt vielmehr so: Wir begreifen und kennen zwar das Gute, tun es aber nicht; und zwar einige aus Faulheit, andere weil sie irgendeine andere Lust dem Ehrbaren vorziehen.«81 Kann man das Unvermögen der Vernunft, uns das von uns Gebilligte auch ausführen zu lassen, besser darstellen als durch die folgenden Worte Ovids? »Wird des Aeetes Kind von dem mächtigen Feuer ergriffen. Als sie gerungen lang und mit aller Vernunft ihres Wahns nicht Herr konnte werden, sprach sie: ,Du wehrst dich vergeblich, Medea! 82 Irgend ein Gott widersteht.‹ (---) ›Wirf83 aus der Jungfrauenbrust die eingedrungenen Flammen! – Wenn du Unselige kannst!‹ – Wenn ich’s könnte, wär ich bei Sinnen. Aber mich zwingt eine neue Gewalt. Die Liebe, sie rät zum Einen, zum Andern mein Sinn. Ich sehe und lobe das Beßre, folge dem Schlechteren doch!‹«84 Man beachte bitte, daß sie diesen Antrieb, dem sie nicht widerstehen kann, einem Gott beilegt. Das war die gewöhnliche Zuflucht der Heiden hinsichtlich der Leidenschaften, die den 81

Euripides, Hippolytos, Vers 375 ff., S. 359 meiner Ausgabe. Man beachte, daß Farnaby anläßlich Ovids Metamorphosen, Buch VII, Vers 11 dies fälschlich der Medea des Euripides beilegt. 82 Ovid, Metamorphosen, Buch VII, Vers 9 ff. 83 Ebd., Vers 17 ff. 84 Bei Euripides räumt sie ein, daß sie die Laster sehr wohl kennt, die sie begehen will, daß aber ihr Zorn stärker ist als ihre Erkenntnisse. Euripides, Medea, Vers 1078 f., S. 319.

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Menschen trotz der Einsicht seines Geistes und der Erkenntnis seiner wahren Interessen verführt haben.85 Sie fanden darin irgend etwas Göttliches und fast immer die Strafe für irgendeine vorangegangene Sünde, was zeigt, daß sie nicht so unwissend waren, wie Herr Esprit annimmt, und daß sie auf gewisse Weise das gespürt haben, was uns die Theologen über den durch die Sünde herbeigeführten Verlust des freien Willens sowie über die Gottverlassenheit derjenigen lehren, welche die Gnade Gottes mißbrauchen. Ich hätte anstelle von Ovid mehrere Schriftsteller zitieren können, die professionelle Philosophen waren. Aber ich hielt es für viel angebrachter, den Fehlgriff von Herrn Esprit aufzuzeigen, denn man ist weniger zu entschuldigen, wenn man nicht weiß, was ein solcher Dichter gesagt hat, als wenn man in Unkenntnis darüber ist, was die griechischen Autoren vorgetragen haben. Ich hätte außerdem viele Zeugnisse anhäufen können, die uns leicht davon überzeugen können, daß man sehr gut gewußt hat, daß das menschliche Geschlecht noch immer im Chaos versunken liegt, aber die eindringlichsten Beschreibungen der heidnischen Redner, Dichter oder Philosophen vermögen uns keine so lebhafte Vorstellung davon zu geben wie es diejenige ist, die uns der hl. Paulus davon hinterlassen hat. Es genügt also, die Augen auf das Gemälde zu richten, das dieser große, von der ewigen Wahrheit geleitete Apostel uns in seinem Brief an die Römer malt. »Denn ich weiß nicht, was ich tue«, sagt er,86 »denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, daß das Gesetz gut sei. So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so Man sehe Anm. (Y) des Artikels HELENA.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  86 Röm. 7, 15 ff. (…). 85

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tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun ein Gesetz, daß mir, der ich will das Gute tun, das Böse anhanget. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen; ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« Man beachte, daß ich das Chaos beim Menschen hinsichtlich des inneren Krieges betrachtet habe, den jeder in sich selbst spürt. Hätte ich die Uneinigkeiten mit all den sich hineinmischenden Scheinheiligkeiten, Betrügereien, Gewalttaten usw. in Betracht gezogen, die zwischen Völkern und sogar zwischen Nachbarn herrschen, dann hätte ich ein sehr weites und sehr fruchtbares Feld zur Bestätigung dessen vorgefunden, was ich zu beweisen hatte.

PELLISSON

pellisson, Paul, zählte zu den aufgewecktesten Geistern des 17. Jahrhunderts. Derselbe Grund, der mich davon abgehalten hat, einen langen Artikel über Ménage zu verfassen, veranlaßt mich auch hier, sehr kurz zu sein.a Alles, was ich über die besondere Ehrung sagen könnte, welche die Académie Française Pellisson erwies, sowie über das Lob, das er sich während seiner Verfolgung verdient hat, weil er im Dienste Fouquets gestanden hatte, all das, sage ich, und viele andere Einzelheiten seines Lebens würden jedem meiner Leser noch ganz frisch in Erinnerung sein. Ebenso überflüssig wäre es, über seinen Einsatz für das zu berichten, was man in Frankreich ›la grande affaire‹  die große Angelegenheit  nannte, denn die Klagen und Spöttereien der Protestanten darüber sind jedermann bekannt. Weniger gut unterrichtet dürfte man vielleicht über einen Umstand sein, der mir von verschiedener Seite versichert worden ist: er wollte, daß die ›grande affaire‹ der Religionsbekehrung immer auf die Art und Weise geschehen sollte, die man jahrelang befolgt hatte, d. h. ohne Rückgriff auf jene Dragonaden, die ewig den Abscheu anständiger Menschen hervorrufen werden, gleichgültig welcher Nation oder welcher Religion sie angehören mögen. Er hatte lange an einem großen Werk über den Abendmahlsstreit gearbeitet, fand aber nicht die Zeit, es zu vollenden. Einige Teile daraus sind nach seinem Tod veröffentlicht worden. Man stößt darin auf seinen Scharfsinn; das ist alles, was er hier einsetzen konnte. Sein Scharfsinn zeigt sich auch in seinen Betrachtungen über die Religionsstreitigkeiten, in denen er besonders auf den Punkt acht gab, den die römische Kirche für die große Klippe der Protestanten hält, ich meine die aus dem Weg der Prüfung a

Die Éloge und der Abrégé de la vie de Mr. Pellisson finden sich in mehreren neuen Büchern, die überall zu haben sind, wie der Mercure galant, das Journal des savans, der Mercure historique, die Lettres histor. usw.

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resultierenden Schwierigkeiten. Diese Klippe, wenn es denn eine Klippe ist, ist eine solche eher für Rom als für Genf, wie ich anderswo ausgeführt habe (D). Ich spreche hier noch einmal darüber und werde bei dieser Gelegenheit sagen, daß einige Leute es für sehr wahrscheinlich halten, daß sich fast niemand jemals dieses Wegs der Prüfung im strengen Sinne bedient, wenngleich viel davon geredet wird. Ich weiß nicht einmal, ob man nicht behaupten könnte, daß die Hindernisse einer zuverlässigen Prüfung weniger daher rühren, daß es dem Geist an Wissen mangelt, als vielmehr daher, daß er voller Vorurteile steckt (E). Man täte unrecht daran, den Protestanten die Gerüchte anzulasten, die jetzt umlaufen und besagen, daß Pellisson es während seiner letzten Krankheit abgelehnt habe, die Beichte abzulegen. Sein ältester Bruder starb in jungen Jahren und hatte sich doch schon einen Platz unter den Schriftstellern erobert.b Aus dieser Familie sind mehrere berühmte Personen hervorgegangen. Sein Vorwort zu den Werken von Sarasin ist ein Meisterstück. Das durfte ich nicht übergehen. Man muß sie den drei oder vier Vorreden hinzufügen, von denen ich oben gesprochen habe.c Sie ist des Lobes sehr würdig, das Costar ihr gewidmet hat.d

(D) Der Weg der Prüfung (---) ist eher die Klippe für Rom als für Genf, wie ich anderswo ausgeführt habe. Man sehe den Artikel NICOLE.8 Dort wird man sehen, daß dieser Gelehrte, nachdem er selbst erhebliche Schwierigkeiten vorgebracht hatte, auf diejenigen nicht zu antworten wußte, die man ihm entgegenhielt. Die Billigkeit verlangte es, daß er den

b

Er ist der Verfasser eines anonymen Buches mit dem Titel Mêlange de divers problêmes, das 1647 in Paris in Duodez gedruckt wurde. Man sehe die Antiquitez de Castres von Pierre Borel. c Im Artikel CALVIN, Anm. (F), Marginalnote (20).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  d Costar, Lettres 268 und 278 von Teil I. 8 Anm. (C).

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Einwänden Genüge tat, die man an ihn selbst zurückgab, und daß er den Weg der Autorität freimachte. Der Wirrwarr oder, um mich eines alten, sehr bildlichen Ausdrucks zu bedienen, ›der Schutt‹, den man hier aufgehäuft hatte, verlangte unverzüglich die ganze Arbeit seiner Hände. Dennoch vertagte er diese Angelegenheit auf ein anderes Mal und wagte nicht einmal, sich ausdrücklich zu ihrer Behandlung zu verpflichten. Folgendermaßen hat er sich ausgedrückt: »Wenngleich übrigens Jurieu in seinem Buch hauptsächlich zwei Fragen behandelt hat, die eine über die Lehrverfassung der Kirche und die andere über die Analyse des Glaubens, habe ich mir in dieser Abhandlung vorgenommen, mich lediglich mit der ersten zu beschäftigen und die damit zusammenhängenden Konsequenzen zu verbinden, die Jurieu an verschiedenen Stellen, hauptsächlich aber in Buch III behandelt. Das Folgende wird zeigen, ob es genauso nützlich sein wird, die Analyse des Glaubens zu behandeln. Die Frage bezüglich der Kirche ist jedoch wichtig genug, um in einem gesonderten Werk separat geprüft zu werden. Das habe ich mir hier zu tun vorgenommen.«9 Dem Urteil unzähliger Leute zufolge ist dies eine künstliche Einteilung. Eins von diesen beiden Stücken hat er bearbeitet, das andere liegen gelassen, und zwar deshalb, weil das eine versprach, daß höchstens der Sieg in Frage gestellt werden konnte, wohingegen bei dem anderen eine unvermeidliche Niederlage drohte. Aus diesem Vorgehen haben einige Leute abgeleitet, daß Nicole sehr wohl wußte, daß der Weg der Autorität nur ein Hirngespinst ist. Andere, klügere Leute haben sich damit begnügt zu glauben, daß Nicole überzeugt war, dies sei der Weg, den Gott den schlichten Gemütern gewiesen habe, wenngleich es nicht möglich sei, die Einwände der Protestanten hiergegen zu beantworten, so daß sein Schweigen nicht als ein Beweis der Heuchelei verstanden werden dürfe, sondern als Ausdruck derjenigen Klugheit, die es verbietet, den Häretikern zu zeigen, daß es wichtige Wahrheiten gibt, die man nicht gut gegen die Einwände der Gegner verteidigen kann. Ich maße mir kein Urteil darüber an, was im Herzen der Menschen 9

Nicole, De l’unité de l’église, am Ende des Vorworts.

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vor sich geht; ich werde mich also hüten zu sagen, daß Nicole nicht von dem überzeugt war, was er in einem seiner Bücher geschrieben hat. »Gott hat nicht nur die körperliche Welt, wie die hl. Schrift sagt, den Streitereien der Menschen überlassen, sondern er hat ihnen als eine weit schrecklichere Wirkung seiner Gerechtigkeit in gewisser Weise die göttlichen Mysterien und die heiligen Wahrheiten, die er den Menschen offenbart hat, preisgegeben, indem er erlaubte, daß sie dem Widerspruch der Menschen ausgesetzt werden, daß sie Gegenstand ihrer Auseinandersetzungen sind und daß sich die verwegenen Sophisten in ihren Gesprächen und Schriften auf freche Weise über sie lustig machen. Es ist wahr, daß man über diese Art von Streitereien nicht uneingeschränkt sagen kann, was der Weise über die Debatten sagt, die Dinge der Natur zum Gegenstand haben, daß nämlich die Menschen durch all ihre Nachforschungen niemals zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen: ›Er hat die Welt ihren Disputen überlassen, daß sie das Werk niemals entdecken, das er geschaffen hat.‹ Es ist im Gegenteil wahr, daß die Wahrheit unter den Wolken erscheint und sogar hervorleuchtet, die der Mensch auszubreiten sucht, um jene zu verdunkeln, und daß demütige, aufrichtige, und verständige Personen nicht verfehlen, sie in dem Wirrwarr von Fragen und falschen Subtilitäten zu entdecken, in die man sich bemüht, sie einzuwickeln.«10 Das bedeutet, daß die Auseinandersetzung über den Weg der Autorität und der Prüfung nicht zu den Dingen gehört, die Gott dem Streit der Menschen überlassen hätte, ohne daß sie dasjenige, was er getan hat, jemals entdecken dürften. Nun bilden sich einige Leute ein, daß Nicole das Gegenteil glaubte: nämlich daß er tausend unüberwindliche Einwände gegen den Weg der Prüfung hatte und wußte, daß man sie durch Retorsion auch gegen den Weg der Autorität vorbringt und ihnen neue hinzufügt, die er unmöglich auflösen konnte. Er habe folglich geglaubt, daß der Weg, auf dem man die offenbarten Wahrheiten erkennen muß, den Werken der Natur völlig entspricht, über die Gott uns zu streiten erlaubt, ohne zu gestatten, daß wir deren Ge10

Préjugez légitimes contre les calvinistes, im Vorwort.

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heimnis jemals entdecken sollten.11 Ich sage noch einmal, daß ich nicht die Kühnheit besitze, das Gewissen eines anderen zu beurteilen. Pellisson hat bei seiner Verteidigung nicht mehr Glück gehabt als Nicole. Ich räume ein, daß es ihn nicht viel Mühe kostete, die Unterscheidung zwischen der Prüfung der Aufmerksamkeit und der Prüfung der Untersuchung sowie einige andere Unterscheidungen zum Einsturz zu bringen; zu guter Letzt aber blieb er wie seine Mitbrüder stecken, als er die Retorsion auflösen und die sich aus dem Weg der Autorität ergebenden Schwierigkeiten ausräumen mußte. Deshalb können wir an dieser Stelle nur wiederholen, daß es für die eine wie für die andere Kirche besser gewesen wäre, diese Frage für immer auf sich beruhen zu lassen.12 »Nichts ist schädlicher als die Methode Nicoles. Denn wenn er die Welt einmal davon überzeugen könnte, daß es unmöglich ist, die Wahrheit auf dem Wege der Prüfung zu finden, woran er mit all seiner Kraft arbeitet, so würde er recht bald einsehen, daß er lediglich darauf hingearbeitet hat, den Pyrrhonismus zu errichten und folglich die Religion zu zerstören. Dann würde nämlich jedermann folgendermaßen schließen: Es ist unmöglich, die Wahrheit auf dem Wege der Prüfung zu finden, davon hat uns Nicole überzeugt. Es ist offensichtlich, daß man sie nicht auf dem Wege der Autorität finden kann, das ist noch viel gewisser als das übrige. Was können wir also anderes tun, als ein für allemal die Hoffnung auf die Erkenntnis dieser Wahrheit aufzugeben, die so viele Leute suchen und die, wie es scheint, niemand finden kann? Das ist die natürliche Wirkung der Methode Nicoles, woraus man entnehmen kann, wie schädlich sie ist. Denn schließlich ist der Religion nichts mehr entgegen als der Pyrrhonismus. Er bedeutet die totale Auslöschung nicht nur des Glaubens, sondern auch der Vernunft; und nichts ist unmöglicher, als diejenigen wieder auf den rechten 11

»Er hat die Welt ihren Disputen überlassen, daß sie das Werk niemals entdecken, das er geschaffen hat.« Salomo in Prediger 3, 11. 12 Man sehe den Artikel NICOLE, Anm. (D).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg. 

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Weg zu führen, die ihre Verblendung bis zu diesen Auswüchsen getrieben haben.«13 Diese Worte stammen von einem fähigen Mann,14 der lange darüber nachgedacht hat, der die Kunst des Schließens gründlich beherrscht und der Nicole mehrere neue Einwände vorgelegt hat. Denn er zeigt nicht nur, daß man, um den Weg der Autorität klug zu nutzen, erkennen muß, welcher der Kirchen die Autorität zukommt, sondern außerdem, daß uns die Argumente Nicoles zwangsläufig zu der Lehre der Wahrscheinlichkeit in ihrem ganzen Ausmaß führen würden. Dieser letzte Punkt stünde Nicole sehr entgegen, der die Lehre von der Wahrscheinlichkeit so gründlich bekämpft hat. Der andere Punkt erfordert eine Unzahl von Untersuchungen. Wo die Autorität ihren Sitz hat, kann man nur dadurch erkennen, daß man untersucht, welches die Zeichen der sie besitzenden Kirche sind. »Man muß die genaue Anzahl dieser Zeichen kennen. Man muß nicht nur wissen, daß es soundsoviele von ihnen gibt, sondern auch, daß es nicht mehr von ihnen gibt.«15 Man muß wissen, ob diejenigen, die hundert davon zählen, vernünftiger sind als diejenigen, die fünfzehn, zwölf, zehn, sechs oder nur vier davon zählen. Wenn man die Anzahl der Zeichen festgestellt hat, muß man untersuchen, ob sie eher der römischen als der griechischen Kirche zukommen. Das alles verlangt viel Arbeit und langwierige Untersuchungen, so daß man, selbst wenn man den Weg der Prüfung hatte vermeiden wollen, sich doch zwangsläufig auf ihm wiederfindet. Es ist zu befürchten, daß sich eine dritte Partei mit der Lehre zu Wort meldet, daß die Menschen weder durch den Weg der Autorität noch durch den Weg der Prüfung zur wahren Religion

13

La Placette, Traité de la conscience, S. 377. Auf S. 370 hatte er gesagt, »daß nichts falscher, nichts schädlicher ist als dieser Einwand von Nicole, daß er auf Annahmen beruht, die ganz gewiß der Wahrheit entgegenstehen und daß er nur dazu taugt, die Gewißheit des Glaubens und der Sittenlehre aufzuheben und einen allgemeinen Pyrrhonismus in der Religion zu errichten.« 14 Vormals Prediger in Bearn und gegenwärtig in Kopenhagen. 15 La Placette, Traité de la conscience, S. 372.

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geführt werden, sondern die einen durch Erziehung und die anderen durch Gnade. Erziehung ohne Gnade und ohne Prüfung ist schlicht Überredung. Gnade zusammen mit Erziehung, und manchmal ohne Erziehung und ohne Prüfung oder mit einer nur oberflächlichen Prüfung, ist Überredung zum Heil. »Gratia Dei sum quod sum«, muß jeder Rechtgläubige sagen, »durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin.« Ich bin rechtgläubig »durch die Gnade, und das nicht durch mich, Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken«, nicht durch Nachforschungen, nicht durch Untersuchungen, »auf daß sich nicht jemand rühme«.16 Die Prüfung mag leicht oder zumindest doch möglich sein, sie mag schwer oder sogar unmöglich sein; so steht doch völlig fest, daß niemand sie vornimmt.17 Die meisten Leute können nicht lesen. Von denen, die es können, lesen die meisten niemals die Werke der Gegner; sie kennen die Argumente der anderen Partei nur aus den Bruchstücken, die sie davon in den Schriften ihrer eigenen Autoren zitiert finden. Diese Bruchstücke stellen die berechtigten Punkte der gegnerischen Partei nur unvollkommen und sehr schwach dar. Um die Stärke der Einwände zu erkennen, muß man sie im Zusammenhang des Systems, in Verbindung mit ihren allgemeinen Prinzipien und mit ihren Konsequenzen und abhängigen Sätzen betrachten. Das heißt also nicht, die Ansichten seines Gegners zu prüfen, wenn man lediglich die Antworten unserer Autoren mit dem Einwand vergleicht, den sie zitieren. Das heißt soviel wie von der Kraft eines Rades nach den bloßen Wirkungen zu urteilen, die es hervorbringen kann, wenn es von seiner Maschine getrennt ist. Ein solches Verfahren kann man nicht im eigentlichen Sinne als Prüfung bezeichnen. Was die Gelehrten betrifft, die ihre Nase in die Werke des Gegners stecken, so wenden sie ihre ganze Geistesstärke an, nicht um herauszufinden, ob er recht hat, sondern um festzustellen, daß er im Unrecht ist, und um sich Entgeg16

Man vergleiche Eph. 2, 8 f. Man beachte, daß dies nicht die Rede des Verfassers dieses Buches ist, sondern jener dritten Partei, die man fürchten könnte. Man muß dies auch an mehreren anderen Stellen beachten. 17

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nungen auszudenken. Sämtliche von ihnen ausgedachten Erwiderungen erscheinen ihnen gut, weil sie niemals von der festen Überzeugung ablassen, daß er ein Häretiker ist. Auch das kann nicht im eigentlichen Sinne als Prüfung bezeichnet werden. Das erste, was man tun müßte, wenn man eine regelrechte Prüfung vornehmen wollte, wäre an seiner eigenen Religion zu zweifeln. Aber man würde glauben, Gott zu beleidigen, wenn man auch nur den geringsten Zweifel an ihr äußerte. Man würde diesen Zweifel als eine verderbliche Eingebung eines bösen Geistes betrachten, und so versetzt man sich nicht in den Zustand, in den man sich, wie der hl. Augustinus bemerkt, versetzen muß, wenn man die Rechtgläubigkeit vom Irrglauben zuverlässig unterscheiden will. Seiner Ansicht nach muß man sich von dem Gedanken frei machen, daß man die Wahrheit bereits besäße. »Damit Ihr aber leichter beruhigt werdet und Euch nicht mit feindlicher Gesinnung, die auch schädlich für Euch selbst ist, gegen mich wendet, müßt Ihr auf jeden Fall einwilligen, daß wir auf beiden Seiten jegliches Vorurteil ablegen. Keiner von uns möge sagen, er habe die Wahrheit bereits gefunden; wir wollen sie vielmehr so suchen, als ob sie jedem von uns unbekannt wäre. Auf diese Weise nämlich, wenn man sie nicht schon durch kühne Vermutungen für entdeckt und erkannt hält, kann sie sorgfältig und einträchtig gesucht werden.«18 Wer sagt, daß die Verderbnis des Herzens den Häretiker daran hindere, die Wahrheit zu finden, täuscht sich oft, wenn er darunter versteht, daß dessen Neigung zur Völlerei, zur Unzucht sowie zu anderen fleischlichen Lüsten oder der Hochmut, der Geiz usw. sein Urteil korrumpiere;19 aber er täuscht sich nicht, wenn er damit meint, daß dessen Voreingenommenheit ihn daran hindere, gute Beweise zu entdecken. Der Häretiker prüft die Gründe der Orthodoxen in der völligen Überzeugung, daß er die Wahrheit besitzt und Gott beleidigen würde, wenn er in Betracht zöge, 18

August., Contra epistulam Manichei quam vocant fundamenti, Kap. 3. Man sehe den  sc. Bayles  Commentaire philosophique sur  ces paroles de Jesus-Christ  contrain-les d’entrer, Teil II, Kap. 10, S. 548 ff. und Teil IV, S. 217 f. 19

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daß die Beweise der gegnerischen Partei begründet wären. Er glaubt, als getreuer Diener Gottes zu handeln, wenn er diese Argumente als Sophismen betrachtet und die ganze Aufmerksamkeit seiner Seele darauf verwendet, Erwiderungen auszudenken; und er kann nicht glauben, daß seine Antworten schlecht sein sollten, weil sie seiner Ansicht nach den Irrtum bekämpfen und zur Behauptung der Wahrheit bestimmt sind. Er täuscht sich, wenn er sich einbildet, die Lehre der anderen Partei gründlich untersucht zu haben. Aber ich bitte euch, sagt mir, sind die Orthodoxen nicht von einer ähnlichen Überzeugung getragen, wenn sie die Sache der Häretiker prüfen? Die einen wie die anderen gleichen Klägern vor Gericht. Sie halten die Argumente der gegnerischen Partei niemals für begründet, sie haben die von ihr verfaßten Papiere gründlich und wiederholt gelesen, glauben aber, daß sie nichts als Rechtsverdrehereien sind; und selbst nachdem sie von unteren wie höchsten Richtern verurteilt wurden, sind sie überzeugt, im Recht zu sein und würden sich gern an ein anderes Gericht wenden, wenn es nur noch eines gäbe. Woher kommt das? Kommt es nicht daher, daß sie alles mit der starken Voreingenommenheit prüfen, die Gerechtigkeit auf ihrer Seite zu haben?

Betrachtung über die Vorurteile der Zeitungsschreiber Um uns von der Nutzlosigkeit jeder nicht vorurteilsfrei vorgenommenen Prüfung zu überzeugen, ist nichts besser geeignet, als was den Zeitungsschreibern tagtäglich widerfährt. Sie bilden sich ein, daß die Partei, mit der sie es halten, das Recht auf ihrer Seite hat, und sie wünschen sehnlichst, daß sie obsiegt. Sie würden tödlichen Kummer empfinden, wenn sich ihren Augen irgendein klares Zeugnis darböte, das sie davon überzeugte, daß die gegnerische Partei das Recht und das Glück auf ihrer Seite hat. Das ist die Wirkung dieser Leidenschaften: Sie lesen die Manifeste und Nachrichten des Feindes nur wie Unwahrheiten; sie verwerfen deren Argumente, wie wahrscheinlich sie auch sein mögen, und wenden ihren gesamten Scharfsinn auf die

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Überlegung an, was man ihnen darauf antworten könnte. Während sie sich nun auf den trügerischen Anschein ihrer Antwort, keineswegs aber auf die plausiblen Seiten des Einwandes konzentrieren, gelangen sie niemals zu einer anderen Erkenntnis als derjenigen, die ihren Vorurteilen schmeichelt. Wenn schlechte Nachrichten im Umlauf sind, schenken sie ihnen keinen Glauben; sie denken sich hundert Gründe aus, um ihnen entgegenzutreten und beschäftigen sich mit nichts anderem. Sind gute Nachrichten im Umlauf, ist ihre Leichtgläubigkeit grenzenlos;20 sie halten dann die schwächsten Anzeichen für starke Beweise und arbeiten hingebungsvoll daran, sie weiter zu stützen. Entgegenstehende Anzeichen verbannen sie aus ihrer Einbildungskraft und verbringen auf diese Weise dank ihres Fleißes, mit dem sie die unangenehmen Gegenstände beseitigen und tagtäglich schöne Phantasiegebilde in sich hervorbringen, das Jahr ohne Kummer und Sorgen. Nur eine unbestreitbare Evidenz könnte sie aus ihrem Irrtum reißen; und wenn sie sich gründlich prüften, würden sie sich selbst bescheinigen können, daß sie sich aus ebendenselben Gründen für überzeugt halten, denen sie keinerlei Beachtung schenken würden, wenn sie zugunsten des Feindes angeführt würden. Es stimmt doch, daß, wenn man das Pro und Contra bei Religionsangelegenheiten nachlässiger prüft als bei den Tagesereignissen, dies nicht die Bezeichnung ›Prüfung‹ verdient? Und es stimmt doch, daß derselbe Geist, der gewöhnlich bei den Zeitungsschreibern herrscht, die einer bestimmten Partei leidenschaftlich zugetan sind, auch bei den meisten Leuten herrscht, die großen Eifer für ihre Religion an den Tag legen? Eine verlorene Schlacht betrübt den Zeitungsschreiber, eine gewonnene Schlacht verschafft ihm sehr großes Vergnügen. Deshalb wendet er alle seine Verstandeskräfte an, um sich zu überzeugen, daß die Schlacht gewonnen ist; und wenn die Beweise des Gegenteils nicht unbestreitbar sind, wenn sich gegen zehn oder zwölf Wahrscheinlichkeiten für die Nie20

Man beachte, daß es noch eine andere Art von Zeitungsschreibern gibt. Sie sind erfindungsreich darin, sich selbst zu betrüben; sie glauben, was sie befürchten, und nicht, was sie wünschen.

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derlage drei Wahrscheinlichkeiten für den Sieg anführen lassen, so ist er überzeugt, daß die Schlacht gewonnen wurde. Gleichviel Vergnügen haben die Leute bei einer Religionsstreitigkeit, wenn sie glauben, der Gegner sei geschlagen; und sie wären nicht weniger betrübt, wenn sie ihn siegen sähen. So verhindert auf beiden Seiten der Kummer, den man vermeiden, und das Vergnügen, das man sich verschaffen will, eine unparteiische Prüfung und führt dazu, daß man mit zweierlei Maß und Gewicht mißt. Das, so die mögliche Befürchtung, könnte eine dritte Partei vortragen, indem sie das, was von Rechts wegen geschehen muß, unterstützt und leugnet, daß dies auch geschieht, indem sie also behauptet, daß man sich dem Weg der Prüfung gemäß verhalten muß und daß gleichwohl niemand diesen Weg beschreitet. Wie dem auch sei, der Unterschied hat sehr große Auswirkungen, denn anstatt daß die Irrenden möglicherweise zu Rechtgläubigen würden, wenn sie nicht davon überzeugt wären, dies schon zu sein, schützen sich die Rechtgläubigen vielleicht vor der Häresie, weil sie standhaft an dem Vorurteil festhalten, rechtgläubig zu sein.

(E) Die Hindernisse einer zuverlässigen Prüfung (---) rühren daher, daß der Geist (---) voller Vorurteile steckt. Im Anschluß an das soeben Dargelegte bedarf dies kaum eines Kommentars. Das Beispiel der Kläger vor Gericht und der Zeitungsschreiber, dessen ich mich bedient habe, ist sehr geeignet, begreiflich zu machen, daß ein Mensch, der zugleich Richter und Partei ist, kaum in der Lage sein wird, Wahrheit und Irrtum zuverlässig zu unterscheiden. Zwei starke Gründe verbieten es, daß der Mensch diese beiden Rollen zugleich in sich vereint: der eine liegt in der Gefahr, daß er zu seinen Gunsten entscheiden würde, selbst wenn er sein Unrecht einsähe; der andere liegt in der Gefahr, daß er Recht zu haben glaubte, selbst wenn die gerechte Sache der gegnerischen Partei leicht zu erkennen wäre. In Religionsstreitigkeiten ist jeder Richter und Partei zugleich,

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denn man prüft die Argumente seines Gegners nicht, nachdem man zuvor einen skeptischen und pyrrhonischen Geist angenommen hat; man würde glauben, ein Verbrechen zu begehen, wenn man sich in diesen Zustand versetzte. Man nimmt die Prüfung also in der sicheren Überzeugung vor, daß die Religion, zu der man sich bekennt, die einzig wahre ist. Und damit zeigen wir fast die oben dargelegten Leidenschaften der Zeitungsschreiber. Drei Wahrscheinlichkeiten auf Seiten unserer Voreingenommenheit überwiegen zehn oder zwölf Wahrscheinlichkeiten auf der anderen Seite, und zwar deshalb, weil die Aufmerksamkeit unseres Geistes den angenehmen Wahrscheinlichkeiten unendlich mehr entgegenkommt als den betrüblichen. Nicole bestätigt diese Überlegung. »So unendlich die Ungleichheit zwischen Gott und den Geschöpfen, zwischen den ewigen und den zeitlichen Dingen auch sein mag, so zieht man doch allenthalben die geringeren Vergnügungen und den geringeren weltlichen Nutzen Gott und den ewigen Gütern vor, weil man diesen Nutzen und diese Vergnügungen lebhaft empfindet, Gott und die ewigen Dinge hingegen nur schwach erkennt. Auf gleiche Weise läßt sich der Geist durch den schwächsten Anschein und die schlechtesten Gründe hinreißen. Sie müssen dazu nur stark auf ihn einwirken, denn diese Einwirkung macht, daß er nur diesen Anschein und diese Gründe wahrnimmt und derart davon erfüllt ist, daß alle anderen Gründe keinen Eingang bei ihm finden können. Die meisten Streitfragen sollten lediglich durch den Vergleich der beiderseitigen Gründe entschieden werden, und es ist fast immer eine Tollkühnheit, wenn man nach den Gründen einer einzigen Partei entscheidet. Allein wie leicht ist es, sich bei diesem Vergleich zu verirren oder dabei nicht aufrichtig zu verfahren! Wie viele Leute gibt es, die keinen so großen Verstand besitzen, um derart viele Dinge auf einmal zu begreifen! Wenn sie sich der Betrachtung eines Grundes zuwenden, vergessen sie die anderen Gründe, und so führen sie keinen wahrhaften Vergleich durch. Ihre gegenwärtige Aufmerksamkeit bestimmt sie, und ihre Leidenschaft macht sie aufmerksam. Folglich ist ihre Neigung und nicht ihre Einsicht der Grund ihrer Überzeugung. Das Allerschlimmste hierbei ist, daß es für die

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Menschen einerseits so leicht ist, in Irrtum und Trug zu fallen, andererseits so schwierig, sich daraus zu befreien, weil sie die Mängel nicht erkennen, durch die sie sich darin verstrickt haben, und daß sie, da sie keine anderen, geistlichen Augen haben, um diese zu erkennen, über sich selbst wie über andere mittels eben dieser kranken Augen urteilen. ›So kommt es, daß der Geist bei der Selbstbeurteilung gerade mit dem urteilt, was krank an ihm ist.‹«21 Man beachte wohl, 1) daß in bestimmten Fällen die Wahrheit, die uns ärgert, so offenbar ist, daß man sie schlechterdings nicht verkennen kann, 2) daß es Zivilprozesse und Streitigkeiten gibt, wo die Wahrheit so schwer vom Irrtum zu unterscheiden ist, daß selbst die unparteiischsten Richter und geschicktesten Pyrrhoneer nicht wissen würden, welcher Seite sie sich zuwenden sollen. Es ist also wahr, daß die Vorurteile und Leidenschaften die Menschen nicht bei jeder Gelegenheit blind machen und daß die Schwierigkeiten der Prüfung manchmal im Objekt selbst liegen.

21

gabe.

Nicole, Vorwort zu Préjugez légitimes, S. *4, in der holländischen Aus-

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ruffi, Antoine de, Rat am Gericht von Marseille, seinem Geburtsort, verwaltete sein Amt mit großer Pflichttreue und einem ganz einzigartig feinfühligen Gewissen. Daneben widmete er sich mit bewundernswerter Hingabe und Geduld seinen historischen Forschungen. Das zeigt seine im Jahr 1642 gedruckte Histoire de Marseille, von der 1696 eine stark erweiterte Ausgabe in zwei Foliobänden erschien.a Als sie erstmals gedruckt wurde, war er erst 35 Jahre alt. Er wurde 1654 mit dem Titel ›Staatsrat‹ ausgezeichnet, und zwar »zum Zeichen der Anerkennung seiner Kenntnisse und Verdienste«. Der Beweis, den ich für die Feinfühligkeit seines Gewissens anführen werde (A), wird mir Gelegenheit geben, eine Frage in Bezug auf die Unwissenheit zu diskutieren, die Sünden entschuldigt, und die Antworten zu prüfen, die man auf Vergleiche mit Richtern, deren Urteile entgegen ihrer Absicht ungerecht sind, geben kann (B) oder mit Ärzten, deren Medizin, obwohl in gutem Glauben und nach bestem Wissen verordnet, eine tödliche Wirkung hat (C). Unser Ruffi lebte 82 Jahre. Aus der Lobrede, die ich zitiere,b kann man weder sein Geburts- noch sein Todesjahr ersehen: das ist eine tadelnswerte Auslassung. Sein Sohn Louis Antoine de Ruffi war an den Zusätzen zur zweiten Auflage der Histoire de Marseille beteiligt.

a

Man sehe die Histoire des ouvrages des savans, Juli 1697. Man sehe die Lobrede auf ihn am Anfang der Histoire de Marseille in der Ausgabe von 1696. Sie stammt von seinem Neffen Pierre Antoine de Pascal, einem Mönch der Abtei Toronet. b

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(A) Die Feinfühligkeit seines Gewissens. Man kann sie beurteilen anhand »der Wiedergutmachung, die er einer Person leistete, bei deren Prozeß er der Berichterstatter gewesen war. Er fürchtete, er habe nicht genügend Zeit auf die Prüfung ihrer Angelegenheit verwendet und durch eine kleine Nachlässigkeit zu ihrer Niederlage beigetragen. Weit davon entfernt, Entschuldigungsgründe zu suchen, um welche die Eigenliebe bei derartigen Prüfungen niemals verlegen ist, verurteilte er sich streng und ließ der Person die Summe, die sie verloren hatte, durch einen Oratorianerpater erstatten. Vielleicht war die Feinfühligkeit des Richters für den Kläger günstiger, als es eine strengere Prüfung seiner Rechtsansprüche und Argumente gewesen wäre. Eine so große Rechtschaffenheit wurde auch offiziell vom Parlament der Provence durch einen Beschluß anerkannt, den es im Jahr 1655 auf Ersuchen des königlichen Generalprokurators faßte.« Das findet sich in der Lobrede auf Herrn de Ruffi1 nach den folgenden Worten: »Er setzte sich niemals auf den Richterstuhl, ohne daß er vom Geist jener schönen und frommen Gerichtsverhandlung erfüllt war, von der uns der königliche Prophet in einem seiner Psalmen eine Vorstellung gibt. Gott hat in der Versammlung der Gottheiten seinen Sitz genommen, in ihrer Mitte hat er über Götter gerichtet, stetit in synagoga deorum, in medio autem deos dijudicat  Er hat seinen Stuhl bereitet zum Gericht, und er wird den Erdboden recht richten und die Götter regieren rechtschaffen *. Erfüllt von den Empfindungen, die ein derartiger Gedanke eingeben kann, beurteilte Ruffi alles nach dem Maß des Allerheiligsten: Regungen des Fleisches und des Blutes, die gefährlichen Verlockungen der Freundschaft oder die Macht des Eigennutzes haben ihn niemals dazu gebracht, den Pfad der Gerechtigkeit zu verlassen. Er unterließ nichts, um die Wahrheit zu ermitteln; seine Entschlossenheit, die Unschuld zu verteidigen und das Verbrechen zu be1

Am Anfang der zweiten Ausgabe der Histoire de Marseille.  Bayles Zitat verweist auf Ps. 9, Vers 8 f. Diese Stelle wird von Luther wie im Klammerzusatz wiedergegeben übersetzt. Hgg.  *

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strafen, war ebenso groß wie seine Geistesschärfe, und er hat nie seine Meinung geäußert oder ein Urteil gesprochen, ohne ernsthaft geprüft zu haben, ob er es vor dem Richterstuhl jenes strengen Gottes würde aufrechterhalten können, der am Ende der Zeiten über die Gerechtigkeit der Menschen richten wird.«

Bemerkungen über die Unwissenheit, die entschuldigt Meine Bemerkung, daß die zuletzt zitierten Worte dem Bericht von der Erstattung der Summe, die ein Kläger verloren hatte, unmittelbar vorangehen, war nicht unnütz. Sie gibt mir nämlich Gelegenheit zu einer sehr wichtigen Betrachtung. Der Verfasser der Lobrede will zweifellos sagen, daß Ruffi diesen Prozeß mit der gewohnten Genauigkeit geprüft hatte, aber aufgrund übergroßer Feinfühligkeit fürchtete, ein wenig nachlässig gewesen zu sein. Der Verfasser, sage ich, hat uns zweifellos glauben machen wollen, daß die Skrupel dieses Richters sich auf Erkenntnisse gründeten, die er erst nach dem Urteil erlangte. Kurz, man hat sich die Sache so vorzustellen: Der Berichterstatter hatte sein ganzes Wissen, seine ganze Sorgfalt und seine ganze Pflichttreue aufgeboten, entdeckte jedoch nach dem Urteilsspruch in dieser Sache auf ich weiß nicht welchem Wege, daß die unterlegene Partei mehr im Recht war, als er geglaubt hatte. Er dachte also, daß sein Bericht günstiger ausgefallen wäre, wenn er alle Details gründlicher geprüft hätte. So kam er zu dem Urteil, er sei nicht unschuldig, und fühlte sich zur Wiedergutmachung verpflichtet. Das zeigt, daß er ein sehr feinfühliges und sehr skrupulöses Gewissen hatte. Man dürfte es nicht so nennen, wenn man annähme, daß ihm sein Gedächtnis eine vorsätzliche Nachlässigkeit, Faulheit oder Ungeduld vorhielt. Denn in diesem Fall ist ein Berichterstatter, der irrt, offensichtlich schuldig, seine Unwissenheit entschuldigt ihn nicht; und wenn ihn Gewissensbisse plagen, so ist das kein Zeichen, daß er ein feinfühliges Gewissen hat. Es kann verhärtet sein und trotzdem sehr stark von diesen inneren Vorwürfen beunruhigt werden. Ich nehme jedoch aufgrund der Ausdrücke des Lobredners an, daß Ruffi sich nichts

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dergleichen vorzuwerfen hatte. Er hatte die ehrliche Absicht, einen guten Bericht zu erstatten, er hatte nichts von alledem versäumt, was er für notwendig erachtete, und er wußte, daß in hundert anderen Fällen die Sorgfalt, mit der er dies geprüft hatte, ausreichend war. Er warf sich also nur vor, daß er geglaubt hatte, alles getan zu haben, was ein guter Berichterstatter tun muß, denn am Ende hatte der Gang der Dinge ihn gelehrt, daß es möglich gewesen wäre, besser in dem Prozeß zu berichten, als er es getan hatte. Da sein Gewissen in dieser Situation nicht schwieg, wäre es selbst dann nicht ruhig geblieben, wenn er gewußt hätte, daß es kaum menschenmöglich gewesen wäre, es besser zu machen, als er es gemacht hatte, und daß seine Unwissenheit unüberwindlich war. Wozu dient das alles, wird man mich fragen. Das werdet ihr sofort sehen. In den letzten zehn Jahren2 sind in Holland einige Schriften über die Rechte des irrenden Gewissens erschienen. Die Autoren, die behaupteten, daß Unwissenheit nicht entschuldigt, haben sich auf das Beispiel von Heiligen berufen, die tiefstes Bedauern über das äußerten, was sie in guter Absicht und im Glauben, Gott zu dienen, getan hatten, und die meinten, sie seien auf Barmherzigkeit usw. angewiesen. Allgemein gesprochen beweisen solche Beispiele gar nichts, denn ein feinfühliges und von Tugendliebe durchdrungenes Gewissen grämt sich sogar über einen rein materialen Fehler, d. h. über einen solchen, der aus unüberwindlicher Unwissenheit begangen wurde. Ein Arzt, der durch eine Offenbarung erfahren würde, daß eine von ihm verschriebene Arznei einen Kranken getötet hat, obwohl er sie nach allen Regeln der Kunst und nach allen dem Menschen verfügbaren Erkenntnissen verschreiben mußte – ein solcher Arzt, sage ich, würde sein Handeln zutiefst bedauern, wenn er sehr gewissenhaft und mitfühlend ist. Er würde es nach besten Kräften wiedergutmachen, indem er die durch den Tod ihres Oberhauptes verarmte Familie unterstützte. Nichtsdestoweniger wäre er vor Gott ganz unschuldig, denn ich setze voraus,

2

Ich schreibe dies im September 1697.

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daß seine Unwissenheit unüberwindlich war, so wie sie sein muß, um bei den strengsten Theologen als Entschuldigung zu gelten.3 Wir wollen das Gleiche von einem Richter sagen, der unter Umständen, unter denen alles menschliche Wissen die Wahrheit nicht hätte ermitteln können, eine Prozeßniederlage verursacht hat. Er würde sich über den Urteilsspruch grämen, sobald er das Recht der verurteilten Partei entdeckt hätte. Er würde sich deswegen grämen, sage ich, und er würde den Schaden wiedergutmachen, wenn sein Gewissen und seine Tugend vollkommen wären. Der Verfasser der Lobrede auf Ruffi liefert uns ein Beispiel hierfür. Man halte uns also solches Bedauern und solche Wiedergutmachung nicht länger als Beweis dafür vor, daß unvorsätzliche Unwissenheit nicht entschuldigt. Je mehr Frömmigkeit man besitzt, um so mehr Kummer empfindet man über den materiellen Schaden, den man irrtümlich angerichtet hat. Das Gewissen urteilt strenger als selbst Gott, sei es aus Demut, sei es aus Vorsicht. Es ließen sich tausend Fälle anführen, in denen ein Unschuldiger sich grämt, Schadenersatz oder Wiedergutmachung leistet usw. Grämt sich ein Ehrenmann nicht, wenn er erfährt, daß sein Pferd jemanden zum Krüppel gemacht hat? Bezahlt er nicht manchmal den Arzt, der den Unglücklichen versorgt? Und wenn er ein feinfühliges, skrupulöses Gewissen hat, befürchtet er dann nicht, daß Gott Rechenschaft von ihm für seine Nachlässigkeit und das Halten eines derartigen Tieres fordert? Welcher verständige Kasuist erkennt dennoch nicht die Unschuld dieses Ehrenmanns an, wenn er weiß, daß das Pferd nicht durch dessen Schuld ausgeschlagen hat? Wenn ein Anwalt vergeßlich ist und durch dieses Mißgeschick seinem Nächsten geschadet hat, ist er dann nicht zutiefst bekümmert? Wenn er Gott dafür um Vergebung bittet und den Schaden wiedergutmacht, muß man dann daraus schließen, daß 3

Wir haben oben in Anm. (A) des Artikels RIMINI im ersten Absatz, Fußn. (10) gesehen, daß sie im eigentlichen Sinne keine unüberwindliche Unwissenheit in Religionsdingen anerkennen. Sie sind jedoch nicht so streng bei Tatsachen und menschlichen Wissenschaften.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg. 

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er gesündigt hat? Und muß man in einen moralischen Fehler verwandeln, was nur ein simples physisches Versagen ist, das ebenso unabhängig von unserer Vernunft und unserer Freiheit ist wie eine Schwäche der Augen, die plötzlich durch zu große Helligkeit geblendet sind? Ich setze voraus, daß der Anwalt nichts unterlassen hat, was nach seiner Kenntnis nötig war, um seine ganze Rede gut im Gedächtnis zu behalten. Aber wir wollen nicht vom Thema abschweifen, sondern bei der Unwissenheit guter Richter bleiben. Der Premierpräsident des Pariser Gerichtshofs hielt bei der Eröffnung der Sitzungsperiode des Jahres 1693 eine Rede. Er führte aus, »daß, wenn man glaubt, man habe alles getan, um in einer Angelegenheit klar zu sehen, dennoch Ungerechtigkeiten unterlaufen, auch wenn man meint, nur gerechte Urteile zu verkünden. Das hat man in der Sache des verstorbenen Herrn de Langlade gesehen, bei der aller Verstand der Richter und alle verfügbaren Informationen zur Aufklärung des Sachverhalts nicht verhindern konnten, daß ein Unschuldiger verurteilt wurde, was sie durch ihren Beschluß wiedergutzumachen suchten.«4 Das sind integre und sorgfältige Richter, die ihre Pflicht nach besten Kräften erfüllt haben und die dennoch ihren Irrtum bedauert und wiedergutgemacht haben. Wenn sie gestorben wären, bevor sie herausfanden, daß sie sich getäuscht hatten, und wenn sie sich ein gutes Zeugnis ausstellen konnten, daß sie alle ihre Kräfte darauf verwendet hatten, die Wahrheit gründlich zu ermitteln, hätten sie dann etwas von der göttlichen Gerechtigkeit zu befürchten gehabt? Kann man sagen, daß sie verpflichtet waren, Hindernisse zu überwinden, die für sie unüberwindlich waren? Der Verfasser  sc. Bayle  des Commentaire philosophique  sur ces paroles de Jésus-Christ: contrain-les d’entrer 5 hat derart überzeugend gezeigt, daß man in gewissen Fällen einen Unschuldigen verurteilen und einen Schuldigen freisprechen kann, ohne eine Sünde zu

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Mercure galant, November 1693, S. 315. Im Supplement, S. 33 f. und S. 62–81. Man sehe auch die Essais von Montaigne, Buch III, Kap. 13, S. 518 meiner Ausgabe. 5

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begehen, daß der gelehrte Prediger von Utrecht, der gegen ihn geschrieben hat,6 diesen Satz nicht angegriffen hat.

(B) Ich werde die Antworten (---) auf die Vergleiche prüfen, die man mit Richtern zieht, deren Urteile entgegen ihrer Absicht ungerecht sind. Verdienen unwissende Richter, werdet ihr mir entgegenhalten, entschuldigt zu werden, sie, die soviel Unordnung verursachen? Wißt Ihr denn nicht, daß man sie bestraft? Denn wenn man sich an den Souverän oder an ein höheres Gericht wendet, läßt man ihr Urteil aufheben, läßt ihnen eine Rüge erteilen und sie manchmal sogar absetzen. »Das ist der gewöhnliche Gang der menschlichen Gerechtigkeit.« Wenn nun die Fürsten auf diese Weise Unkenntnis ihrer Gesetze bestrafen, wie wagt man zu behaupten, daß Gott Unkenntnis seines Wortes nicht bestrafen wird? Dieser Vergleich ist also nicht günstig für die Lehre der Toleranten. Ich habe dreierlei zu erwidern. I. Ein Richter, der infolge krasser Unwissenheit in einer Angelegenheit, die sich ganz leicht entscheiden ließe, zugunsten der falschen Partei entscheidet, verdient zweifellos, abgesetzt zu werden, nicht weil er ein unredlicher Mann wäre, falls er in der allerbesten Absicht, beiden Parteien gerecht zu werden, den Regungen seines Gewissens7 gefolgt war, sondern weil er für das Richteramt ungeeignet ist. Und wenn denjenigen, die ihn absetzen, die Reinheit seines Herzens bekannt wäre, so würden sie ihn einen anständigen, gewissenhaften Mann nennen, der die Gerechtigkeit liebt, und sie würden offiziell feststellen, daß es ihm nur an Wissen fehlt. Das ist, wie wenn ein Gesandter einen Sekretär entlassen würde, dessen Handschrift nicht gut leserlich ist, dessen Treue und Geschicklichkeit er aber kannte. Da6

Man sehe Saurins Buch mit dem Titel Réfléxions sur les droits de la conscience, gedruckt zu Utrecht 1697. 7 Vorausgesetzt, man kann sagen, daß ein derartiger Richter ein ganz rechtschaffenes Gewissen hat. Dazu sehe man weiter unten Fußn. (10).

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mit würde kein Schatten auf dessen Gesinnung und Begabung fallen, sondern nur zum Ausdruck gebracht, daß der Gesandte auf seine Dienste verzichten mußte, weil er jemanden mit einer schönen Handschrift braucht. Vergleichen wir zwei Richter, einen hochgelehrten und einen mittelmäßig begabten, beide von gleicher Integrität. Angenommen, der eine votierte positiv in einer Angelegenheit, der andere negativ, und sie täten das nach bestem Gewissen, nachdem sie allen Fleiß und alle Sorgfalt, die sie aufbringen konnten, darauf verwendet hatten, zu ermitteln, wer im Recht ist, und daß das Votum des gelehrten Richters gerecht sei, das des anderen ungerecht, so behaupte ich, daß der eine den anderen nicht an rechtschaffener Gesinnung übertrifft. Er ist zugegebenermaßen der bessere Richter und geeigneter für sein Amt, weil die Eigenschaften eines guten Richters hohe Intelligenz und ein integres Gewissen einschließen. Aber er ist nicht rechtschaffener als der andere und setzt sich auch nicht mit größerem Eifer für die Gerechtigkeit ein. II. Was den »gewöhnlichen Gang« angeht, nach dem unwissende Richter angeblich bestraft werden, so weiß ich nicht, ob sich hierfür Beispiele finden ließen. Nichts sieht man häufiger, als daß Prozesse, die vor einem niederen Gericht verloren wurden, vor einem höheren gewonnen werden. Das bedeutet aber keinen Tadel für die Kammern, deren Urteile nicht bestätigt werden. Die niederen Richter werden weder entlassen noch gerügt, außer wenn ein begründeter Verdacht der Bestechlichkeit, Parteilichkeit oder wenigstens krasser Unwissenheit besteht. Und wenn das höhere Gericht davon ausgeht, daß die vorsitzenden Richter gemäß ihrer – wie auch immer beschränkten – Einsicht geurteilt haben, begnügt es sich damit, deren Urteile zu korrigieren. Ich wünschte, man würde mir Beispiele dafür nennen, daß Richter wegen mangelnder Kenntnisse abgesetzt und gleichzeitig als gewissenhaft, unbestechlich und sehr sorgfältig beim Studium und der Prüfung der Streitfälle gewürdigt worden sind. Nach meiner Überzeugung beruht die Bestrafung von Richtern immer auf der Annahme, sie seien bestochen, entschieden aus einer Leidenschaft heraus oder verharrten freiwillig in Unwissenheit. Hier ist aber ein recht fömliches Beispiel für die

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im Commentaire philosophique vertretene Ansicht: »Wenn wir uns als unschuldig bezeichnen, folgt daraus nicht, daß wir die Richter ungerecht nennen dürfen, denn die Urteile irdischer Gerichte, wo Menschen täuschen und getäuscht werden können, schließen nicht aus, daß ein gerechter Richter den Unschuldigen verurteilt und den Verbrecher freispricht. In vielen Zivil- und Strafprozessen kommt es vor, daß die Richter entgegengesetzter Meinung sind und oft abweichend entscheiden, wenn es zweifelhaft ist, wer im Recht ist. Und da es vorkommen kann, daß sie alle der Weisung des Gesetzes folgen, ist es auch möglich, daß sie alle gerecht sind, sowohl diejenigen, die freisprechen, als auch diejenigen, die verurteilen, ungeachtet ihrer entgegengesetzten Meinungen, weil jeder so urteilt, wie es ihm vernünftig scheint.‡ Als Euer Vorgänger, König Heinrich II., erfuhr, daß Pellisson, der Gerichtspräsident von Chambery, das damals zu Frankreich gehörte, auf Antrag des königlichen Staatsanwalts Tabouet durch Beschluß des Gerichts von Dijon seines Amtes enthoben worden war und daß daraufhin kraft eines von ihm erlassenen Revisionsbeschlusses der Fall an das Gericht von Paris verwiesen worden war, wo Pellisson freigesprochen und jener Staatsanwalt gerügt wurde, da nahm er angesichts dieser gegensätzlichen Entscheidungen alle Richter in Schutz mit den Worten, die einen hätten nach ihrem Gewissen entschieden, die anderen nach der Rechtslage.«8 III. Wir dürfen nicht den wahren Stand der Frage aus dem Blick verlieren. Der Verfasser des Commentaire philosophique vergleicht diejenigen, die sich in einem Prozeß täuschen, mit denjenigen, die sich in Religionsstreitigkeiten täuschen. Er setzt aber voraus, daß die einen wie die anderen nur dann zu entschuldigen sind, wenn sie aufrichtig und mit ganzem Herzen alle ihre Geisteskräfte auf die Wahrheitsfindung verwendet hatten. Wenn er behauptet, daß die Richter, ohne sich schuldig zu machen, in einigen Fällen einen Unschuldigen verurteilt ‡

Response du Roy Henry II. sur deux jugemens contraires. Richeome, Plainte apologetique au Roi Henry IV. pour les Jésuites, S. 182 meiner Ausgabe. 8

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und einen Verbrecher freigesprochen haben, so sagt er auch, daß sie dann alles getan haben, was sie konnten und was die Gesetze zur Aufdeckung der Wahrheit vorschreiben, nur daß die Verworrenheit des Falles unüberwindlich war und sie dazu brachte, ein Fehlurteil zu fällen, das gleichwohl der Stimme des Gewissens und der Prozeßordnung entsprach. Wenn es Beispiele dafür gibt, daß derartige Richter von Vorgesetzten, die sie für gleichermaßen gerecht wie integer hielten, abgesetzt worden sind, und wenn verständige Leute diese Amtsenthebung für legitim gehalten haben, dann hat man einigen Grund, daraus Folgerungen zugunsten der Annahme zu ziehen, daß Gott gutgläubige Unwissende bestrafen wird. Wenn sich die Sache aber unter Menschen ganz anders verhält, was wird dann aus diesen Folgerungen werden? Hat man nicht ganz entgegengesetzte Konsequenzen zu befürchten? Insbesondere diese: Wenn schon Könige diejenigen nicht bestrafen, die mit all ihrem Fleiß und all ihrem guten Gewissen ein Fehlurteil in einem heillos verworrenen Prozeß nicht vermeiden können, so wird Gott, der die Gerechtigkeit und Güte selbst ist, aus noch weit triftigeren Gründen mit denjenigen nachsichtig sein, die über eine sehr dunkle Schriftstelle nicht ins Klare kommen. Ich habe noch zwei Bemerkungen zu machen. Die erste ist, daß ein Richter von sehr krasser Unwissenheit kaum als guter Mensch gelten kann, denn sie setzt voraus, daß er versäumt hat, Kenntnisse zu erwerben, und daß er von unentschuldbarer Faulheit9 oder vergnügungssüchtig ist. Man kann kein gutes Gewissen haben,10 wenn man sich bei der Ausübung eines solchen Amtes derartig aufführt. Und wenn ein solcher Mensch abgesetzt wird, bedeutet das nicht, daß unfreiwillige Unwissen-

9

Man beachte: Wenn er fleißig studierte und doch sehr unwissend blieb, so wäre dies ein Zeichen von Dummheit. Er wäre dann wegen Anmaßung des Richteramtes zu verurteilen: Er hätte sich nicht geprüft, sondern auf eine Sache eingelassen, die seine Kräfte überstieg, und hätte an ihr festgehalten, sogar nachdem die Nutzlosigkeit seiner Studien von ihm unter Beweis gestellt worden wäre. 10 Man sehe Fußn. (7).

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heit und guter Glaube bestraft werden. Die zweite Bemerkung, die ich machen will, ist diese: Ich bringe alle diese Beobachtungen nur als Zweifel oder als zu prüfende Wahrscheinlichkeiten vor, ohne mir das Anliegen und die Lehre des Commentaire philosophique zu eigen zu machen. Und um meinen Lesern zu zeigen, daß ich die Fehler eines Richters, die nur aus Unwissenheit entspringen, keineswegs verharmlose, will ich hier ein vernichtendes Urteil über sie anführen. »Der Premierpräsident de Lamoignon würde glauben, im wesentlichsten Teil seines Amtes versagt zu haben, wenn er seine rechtschaffene Gesinnung nicht durch Kenntnisse untermauerte. Auch pflegte er zu sagen, daß sich ein unwissender Richter kaum von einem übelgesinnten unterscheidet. Der eine hat wenigstens die Gesetze seiner Pflicht und das Abbild seiner Ungerechtigkeit vor Augen, der andere sieht weder das Gute noch das Böse seines Tuns. Der eine sündigt wissentlich und ist weniger zu entschuldigen, der andere sündigt ohne Gewissensbisse und ist weniger besserungsfähig. Aber sie sind gleichermaßen schuldig hinsichtlich derjenigen, die sie entweder irrtümlich oder böswillig verurteilen. Ob man von einem Rasenden oder einem Blinden verletzt wird, man spürt die Verletzung deshalb nicht weniger; und für die, die ins Unglück gestürzt werden, macht es kaum einen Unterschied, ob es durch jemand geschieht, der sie täuscht, oder durch jemand, der sich getäuscht hat.«11

(C) (---) oder mit Ärzten, deren Medizin, obwohl in gutem Glauben und nach bestem Wissen verordnet, eine tödliche Wirkung hat. Dies läßt sich in wenigen Worten darlegen. Ein Arzt, werdet ihr mir sagen, der in der Überzeugung, daß Arsenik eine gute Medizin ist, dieses seinen Kranken gibt und sie zu Dutzenden in die andere Welt befördert, würde mit Recht in dieser und 11

Flechier, Oraison funebre de Mr. le prémier Président de Lamoignon, in dem Band seiner Trauerreden, S. 435 der holländischen Ausgabe.

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der künftigen Welt bestraft, auch wenn er seine unfreiwillige Unwissenheit vorschützt. Da hat man das Abbild eines Ketzerfürsten. Ich antworte: Die Existenz eines solchen Arztes ist moralisch gesprochen unmöglich, also ist dies kein verwendbares Beispiel. Ein Mensch, der sich einreden kann, Arsenik sei eine gute Medizin, muß denen gleichen, die sich einreden, sie seien König von Frankreich oder sie seien aus Butter und dürften daher keinesfalls in die Nähe des Feuers kommen. Leute dieser Art werden von ihren Verwandten sorgfältig abgeschirmt oder eingesperrt. Niemand konsultiert einen solchen Menschen, um seinen Rat zu befolgen, weder bei Krankheit noch bei einem Gerichtsverfahren. Vorausgesetzt, ein Chemiker nehme in gutem Glauben an, er könne Arsenik so zubereiten, daß daraus eine gute Medizin wird, so läßt sich daran zuverlässig seine Unkenntnis ablesen. Entweder hat er die Wirkung dieser Medizin erprobt oder er hat sie nicht erprobt. Wenn er sie nicht erprobt hat, so ist daraus zu schließen, daß er selbst nicht glaubt, was er sagt, oder daß er verrückt ist. Wenn er sie erprobt hat und dennoch bei seiner Meinung bleibt, kann man ihn gewiß für verbrecherisch oder verrückt halten. Unwissenheit in gutem Glauben setzt voraus, daß man die Gründe mit dem aufrichtigen Wunsch geprüft hat, die Stärke oder Schwäche jedes einzelnen von ihnen herauszufinden, ohne sich von Habgier, Stolz oder Scharlatanerie leiten zu lassen. Um die Ketzerfürsten vernünftigerweise mit diesem fiktiven Arzt vergleichen zu können, der so vielen Menschen den Tod gebracht hat, wäre es nötig, daß jene die ewige Verdammnis ihrer ersten Anhänger mit ansähen. Wenn das nicht ihre Bekehrung zur Folge hat, müssen sie entweder verrückt sein oder im Widerspruch zu ihrem Gewissen reden. Im einen wie im anderen Fall wären sie dem weltlichen Arm zu übergeben; im ersten Fall, um ins Irrenhaus gesperrt zu werden, im zweiten, um die Strafe zu erleiden, die Menschen trifft, die den Gott lästern, den sie kennen. Niemand verlangt für solche Menschen Toleranz. Was die Strafe angeht, die der Arzt, der das Arsenik verschrieben hat, vor Gott verdient, so fällt es nicht schwer, sich für diesen Satz zu entscheiden: Wenn er verrückt war, muß sein

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Handeln wie das eines Verrückten beurteilt werden. Wenn er nicht verrückt war, hängt die Beurteilung davon ab, ob seine Unwissenheit freiwillig oder unfreiwillig war. Unter freiwilliger Unwissenheit muß man diejenige verstehen, die auf Faulheit beruht oder auf einem anderen Fehler, den wir abstellen können.

RUGGERI

ruggeri,a Cosmo, aus Florenz stammend, führte sich am französischen Hof zu der Zeit als großer Astrologe ein, als Katherina von Medici solchen Leuten gewogen war. Er war ein geistreicher Mann und galt als gelehrt; ansonsten war er kühn bis zur Unverschämtheit, um sich bei den Großen zu empfehlen und drängte sich allenthalben auf.b Er erhielt von Katharina von Medici das Kloster Saint Mahé in der Niederbretagne. Sämtlichen Herren bei Hofe hatte er das Horoskop gestellt und sich dabei auf eine Weise verhalten, die er für die geeignetste hielt, um von ihnen Geschenke zu bekommen.c Schließlich erwarb er den Ruf eines Wahrsagers und Magiers und fand sich im Jahr 1574 in die Affäre von La Mole und Coconas verwikkelt, die neben anderen Verbrechen beschuldigt wurden, gegen das Leben von Karl IX. gerichtete Zaubereien ausgeübt zu haben. In diesem Prozeß wurde er ›Cosmo der Italiener‹ genannt.d Er endete für ihn mit der Verurteilung zur Galeerenstrafe, aber die Königin Mutter setzte ihn kurze Zeit darauf in Freiheit.e Er hatte La Mole sowie einigen anderen Leuten eingeredet, er könne sowohl Wachsbilder anfertigen, die Frauen verliebt machen, als auch solche, die eine beliebige Person an der Auszehrung sterben lassen.f Im Jahr 1604 begann er mit der Erstellung von Kalendern und setzte das Jahr für Jahr fort. Er stopfte sie mit Sentenzen lateinischer Autoren voll.g Er wurde sehr alt und

a

Balzac, Socrate chrétien, nennt ihn auf S. 253 meiner Ausgabe Cosme Roger. b Garasse, Doctrine curieuse, S. 155. c A. a. O. d Mercure françois für das Jahr 1615, Bd. IV, S. 46. e Man sehe Anm. (A).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  f Mercure françois, Bd. IV, S. 47. g A. a. O.

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überlebte alle italienischen Höflinge der Katharina von Medici.h Im Jahr 1615 starb er in Paris, und weil er unbesonnenerweise öffentlich erklärt hatte, er sterbe als Atheist, wurde sein Leichnam auf den Schindanger geworfen. Im Jahr 1598 war er beschuldigt worden, durch seine Zaubereien Heinrich IV. nach dem Leben getrachtet zu haben. Darüber wurde er von Herrn de Thou verhört und straffrei entlassen. Mein Bericht, den ich von dieser Unternehmung geben werde,i wird die Unverschämtheit dieses Halunken sowie die Gunst zeigen, die er bei den Damen genoß. Man könnte viele Betrachtungen darüber anstellen, daß eine solche Person, die weder an Gott noch an den Teufel glaubte, sich trotzdem mit Astrologie und Magie beschäftigte (D); denn es ist bei den Christen allgemein anerkannt, daß es, wenn es Teufel gibt, auch Gott gibt, und daß, wer nicht an Gott glaubt, auch nicht an Teufel glaubt. Über diese Ansicht werde ich einige Ausführungen machen. Ich muß die Fehler des Père Garasse anmerken.

(D) Eine solche Person, die weder an Gott noch an den Teufel glaubte, beschäftigte sich trotzdem mit Astrologie und Magie. Man beachte sein Bekenntnis auf dem Sterbebett genau. »Es gibt keine anderen Teufel«, erklärte er,15 »als die Feinde, die uns in dieser Welt quälen, und keinen anderen Gott als die Könige und Fürsten, die uns allein fördern und uns Gutes erweisen können.« Garasse zufolge16 fügte er hinzu: »In diesem Glauben habe ich gelebt und in diesem Glauben will ich sterben.« Wenn dieser Zusatz von jenem Jesuiten stammt, dann hält er sich m.E. innerhalb der gerechtfertigten Grenzen der Paraphrase, denn man darf es für eine so gut wie zweifelsfrei feststehende Sache

h i 15 16

Garasse, Doctrine curieuse, S. 155. In Anm. (D). Mercure françois, Bd. IV, S. 46. Garasse, Doctrine curieuse, S. 157.

Ruggeri

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halten, daß jeder Greis, der als Atheist stirbt, lange als Atheist gelebt hat. Man stürzt sich nicht auf dem Sterbebett und auch nicht in hohem Alter in diesen Abgrund; im Gegenteil, fast alle starken Geister, Libertins, Ungläubige usw. widerrufen ihre Gottlosigkeiten auf dem Krankenlager17 und sterben mit rechtgläubigen Erklärungen auf den Lippen.18 Es ist daher höchst wahrscheinlich, daß unser Cosmo schon lange Zeit die Gesinnung hatte, in der er starb. Was sollten also die von ihm erstellten Horoskope und jene Wachsbilder, die er als Ursache für Liebe und Krankheit verteilte? Das paßt nicht recht zusammen. Alle, die von seinem Tod sprechen, stellen darüber folgende Betrachtung an: »Ehemals hat er die Leute glauben gemacht (---), daß er Bilder usw. anzufertigen wußte, und dennoch hat dieser Atheist nicht geglaubt, daß es Teufel gibt.19 Die weisesten Leute kamen daraufhin20 zu der Ansicht, daß er über keinerlei Kenntnisse der Nekromantie verfügte, und in der Tat hat der Ausgang seines Lebens das deutlich bewiesen.«21 Da er nicht an die Existenz irgendeines von der Seele des Menschen verschiedenen Geistes glaubte, steht fest, daß er alles, was man sich von der Magie erzählt, nur für Märchen halten konnte; folglich hat er sich nur aus Gewinnsucht gerühmt, Bilder machen zu können, die imstande sind, Tod oder Liebe herbeizuführen. Er selbst wußte um die Nichtigkeit seiner Versprechungen und um die Nutzlosigkeit der Nadelstiche, die man den Bildern versetzte. Es ist nicht gleichermaßen sicher, daß er die Nichtigkeit der Astrologie erkannte: Ein geistreicher und gelehrter Mensch erkennt deutlich, daß ein Wachsstück in der Gestalt eines Mannes oder einer Frau, dem man ins Herz gestochen hat, nicht in der Lage

Man sehe den Artikel BION VOM BORYSTHENES, Anm. (E).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  18 D. h. rechtgläubig hinsichtlich der göttlichen Vorsehung, des Paradieses und der Hölle. 19 Mercure françois, Bd. IV, S. 47. Man sehe außerdem den Fortsetzer von Herrn de Thou, Buch VIII, S. 537. 20 D. h. zu der Zeit, als La Mole enthauptet wurde. 21 Garasse, Doctrine curieuse, S. 155. 17

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ist, in einem entfernten Objekt Lust, sich mit einer derartigen Person zu verheiraten, oder irgendeine andere Leidenschaft hervorzubringen. Ein solcher Mensch erkennt ganz klar, daß ein Stück Wachs, das Heinrich IV. darstellt und das man in Nantes nahe ans Feuer bringt oder das man in derselben Stadt an verschiedenen Stellen mit Stichen traktiert, nicht in der Lage ist, ein schleichendes und tödliches Fieber bei diesem Monarchen in Paris hervorzurufen. Und daher weiß jedermann, der über Verstand, Sinne und Kenntnisse verfügt und davon überzeugt ist, daß diese Wachsbilder die besagte Kraft haben, ganz sicher, daß deren Wirkungen von einem unsichtbaren Geist hervorgerufen werden, der unmittelbar und physisch auf diese oder jene Personen einwirkt, während diese Bilder in diesen oder jenen Zustand überführt werden. Weil Ruggeri nun an keine derartigen Geister glaubte, erkannte er klar, daß diese Bilder ohne alle Kraft waren. Aber es erscheint nicht gleichermaßen evident, daß die himmlischen Körper nicht imstande sein sollten, auf der Erde unendlich viele Wirkungen hervorzubringen. Man weiß, daß Leute, die als Atheisten galten, von der Wirksamkeit der Einflüsse der Gestirne selbst hinsichtlich der freien Handlungen der Menschen sowie des sogenannten Schicksals und der zufälligen Ereignisse sehr überzeugt schienen. Es ist folglich nicht sicher, daß Cosmo Ruggeri die Nichtigkeit der wahrsagenden Astrologie erkannt hatte. Gleichwohl glaube ich, daß man ohne allzu kühn zu sein angesichts seiner Geisteshaltung behaupten darf,22 daß er Horoskope nur nach der Art der Betrüger erstellte, ohne im mindesten an sie zu glauben und um den Leuten Geld abzuluchsen. Vielleicht wird man mir entgegenhalten, es sei genauso schwierig, sich vorzustellen, daß ein besonderer Stern, der an einer bestimmten Stelle im Sternbild eines Menschen steht, die 22

Man hat oben in Fußn. (10) gesehen, daß er versicherte, daß das Horoskop des Königs von Navarra und dasjenige des Prinzen von Condé prophezeiten, daß sie keine Unruhen verursachen würden, und gleichwohl hatte ihn das nicht die Astrologie gelehrt.  Diese Fußnote nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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physische Ursache für die gute Aufnahme sei, die ein Fürst einem Mann von fünfzig Jahren gewährt, der ihm zu einer bestimmten Stunde seine Aufwartung macht, wie sich davon zu überzeugen, daß Wachsbilder, denen ins Herz gestochen wird, in der Seele eines hundert Meilen entfernten Menschen eine Liebesempfindung auslösen. Ich antworte, daß es viele Leute gibt, denen diese Wirkung des Sternes genauso trügerisch erscheint wie die Wirkung des Bildes; auch ich gehöre zu ihnen. Aber noch einmal: Es ist viel leichter, sich der Täuschung hinsichtlich der Wirksamkeit der Sterne als hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Wachsfiguren hinzugeben. Man könnte mir keinen Gelehrten zeigen, der glauben würde, daß diese Figuren durch sich selbst und ohne Einschaltung irgendeines Geistes hundert Meilen entfernt Liebe oder Tod verursachen; aber man könnte Gelehrte beibringen, die geglaubt haben, daß die Planeten im Horoskop eines Menschen ohne Mitwirkung guter oder böser Engel die Ursache noch der zufälligsten Ereignisse sind, die ihm widerfahren. Man begreift sehr klar, daß ein Stück Wachs, daß in Nantes auf beliebige Weise gestochen, erhitzt oder modifiziert wird, für nichts die physische Ursache ist, was in Rom geschieht; aber man weiß aus Erfahrung, daß die Kraft der Sonne auf physische Weise und als wahre Ursache tausend Dinge auf der Erde hervorbringt. Deshalb erliegt man der Täuschung und bildet sich ein, daß die übrigen Sterne ihre Wirksamkeit ebenfalls bis auf die Erde erstrecken, und wenn diese Überzeugung nach und nach Platz greift, hält man sich schließlich für berechtigt, sie als die einzige Ursache anzusehen.

Wenn die vorhersagende Astrologie das Zukünftige aufdeckte, wäre sie eine Art schwarzer Magie Nebenbei gesagt müßte diese Täuschung entschiedener zurückgewiesen werden, als sie es wird. Denn wenn es wahr wäre, daß man mittels der Horoskope Glück und Unglück von Menschen, die Umstände ihrer Hochzeiten und ihres Todes usw. vorhersagen könnte, wenn es also zum Beispiel wahr wäre, daß Gauric

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durch ein astrologisches Verfahren entdeckt hätte, daß König Heinrich II. in einem Duell getötet werden würde, dann müßte man die Astrologie zu den Zauberkünsten und zu den Arten von Prophezeiungen rechnen, die sich auf einen Pakt mit dem Teufel gründen. Die Mühe, die sich die Astrologen geben, um ein Horoskop zu erstellen und die Regeln zu Rate zu ziehen, die sie auf die Unterscheidung der Zeichen, die Eigenschaften der Häuser, die verschiedenen Aspekte der Planeten usw. gegründet haben – diese Mühe, sage ich, wäre derjenigen ähnlich, die sich die Magier mit dem Ziehen von Kreisen und der Markierung verschiedener Verhältnisse in ihnen sowie mit dem Aussprechen bestimmter Worte usw. geben.23 In beiden Fällen wäre das, was ein Mensch tut, lediglich ein Signal, bei dessen Ausführung ein böser Engel auf eine bestimmte Weise handelte. Bei vorurteilsfreier Betrachtung der Dinge liegt es auf der Hand, daß die magischen Zeremonien, ein Kreis, eine Verbeugung, ein Zauberstab, der nacheinander in die vier Haupthimmelsrichtungen gestreckt wird, das Aussprechen gewisser Sätze, bestimmte auf Papierfetzen geschriebene Worte usw. genausowenig imstande sind, einen schwerkranken Menschen zu heilen oder einen gesunden Menschen sterben zu lassen, wie die Horoskope erkennen lassen können, ob jemand sich glücklich verheiraten, ob er von Fürsten geliebt oder in die Verbannung geschickt werden wird, ob sein Reichtum in Ländereien oder in Geld bestehen wird, ob er auf dem Meer oder bei der Belagerung einer Stadt sterben wird. Das beweist, daß ein Astrologe um so strafwürdiger wäre, je zuverlässiger seine Horoskope die Zukunft voraussagen würden, denn die Gewißheit seiner Voraussagen wäre ein Zeichen, daß er die Zeremonien genau befolgte, bei deren Ausführung die Dämonen infolge ihres ursprünglichen Paktes zur Offenbarung der Zukunft verpflichtet wären. Das beweist ferner, daß die wahrsagende Astrologie eine Methode des Wahrsagens wäre wie der Gebrauch des Siebs, des Spiegels, des Rauchs und

23

Man sehe im Brief XII des Cyrano de Bergerac eine ausführliche Beschreibung der magischen Zeremonien.

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hundert andere Abscheulichkeiten auch.24 Daraus folgere ich, daß die Nachsichtigkeit der kirchlichen und weltlichen Gerichte den wahrsagenden Astrologen gegenüber geradezu verbrecherisch ist. Denn man verfügt über sehr gute bürgerliche und kanonische Gesetze gegen diese Leute. Ein Professor aus Padua hat sie sorgfältig in einem Werk gesammelt, das er im Jahr 1662 in Venedig veröffentlichte,25 allein man wendet sie nicht an. Hat sich Jean Baptiste Morin, ein königlicher Professor in Paris, nicht seines Gehalts und seiner Ämter in aller Ruhe bis zu seinem Tod erfreut, obwohl er mit Wissen und vor den Augen aller Welt Horoskope erstellte und sich öffentlich rühmte, eine bewundernswerte Geschicklichkeit darin zu besitzen?26 Hätte er die Kühnheit besessen zu behaupten, die Verehrung von Reliquien sei tadelnswert, hätte man ihn am Tag darauf abgesetzt und schimpflich fortgejagt; und wenn mächtige Gönner es gewagt hätten, ihn in Schutz zu nehmen, so hätte sich der gesamte Klerus erhoben und nicht eher wieder beruhigt, bis dieser gottlose Mensch abgesetzt worden wäre. Was für ein einseitiges Hinnehmen von Irrtümern! Man läßt ihn sein ganzes Leben lang ungestraft eine Kunst ausüben, die, wenn sie ein Mittel ist, die Zukunft zu erkennen, im Grunde nichts anderes sein kann als Zauberei. Ich bitte zu beachten, daß es schwer verständlich ist, daß man die Zukunft mit der Hilfe des Teufels voraussagen könnte. Denn für wie ausgedehnt man das Wissen der Engel auch halten mag, so scheint es doch nicht die Verknüpfung all der Dinge einzuschließen, die man kennen muß, um mit Sicherheit sagen zu können, daß diese oder jene Dinge sich ereignen 24

Man sehe deren alphabetischen Katalog in Kap. 35 eines in Paris und dann in Holland 1692 gedruckten Buchs mit dem Titel Remarques ou réflexions critiques, morales et historiques, sur les plus belles et les plus agreables pensées des anciens et des modernes. Ich glaube, der Verfasser hat alles das aus dem Werk von Martin del Rio genommen. 25 Don Joseph Marie Maraviglia, ein gewöhnlicher Geistlicher, in seiner Pseudomantia veterum et recentiorum explosa, sive de fide divinationibus adhibenda. 26 Man sehe den Artikel über diesen MORIN.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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werden; und die Behauptung wäre absurd, daß Gott sie ihnen jedes Mal offenbarte, wenn sie dem unglückseligen Pakt nachkommen wollten, den sie mit den Menschen geschlossen hätten. Der Abbé Furetière stellt diesen Einwand sehr klar heraus,27 aber er vergißt das Wesentliche: Er sagt nicht, daß die Freiheit des Menschen ein bloßes Hirngespinst wäre, wenn die Engel voraussagen könnten, was ein Mensch von heute an gerechnet in zehn Jahren denken wird, wenn sie, sage ich, das durch die Kenntnis der Verknüpfung voraussagen könnten, die zwischen den natürlichen Ursachen und ihren Wirkungen besteht.

Ob der Schluß von der Existenz der Teufel auf die Existenz Gottes gültig ist Es wäre völlig absurd zu fragen, ob es möglich ist, daß Ruggeri, der weder an Gott noch an gute oder böse Engel glaubte, geglaubt hat, daß seine Wachsbilder irgendwelche Wirkung hatten; es wäre aber nicht absurd, diese Frage an alle Atheisten zu richten. Gewöhnlich glaubt man, daß jedermann, der die Existenz Gottes leugnet, aufgrund einer zwangsläufigen Folge ebenfalls die Existenz aller Geister sowie die Unsterblichkeit der Seele leugnet. Es wundert mich nicht, daß man so denkt, denn ich glaube nicht, daß sich ein Beispiel für die Trennung dieser beiden Gottlosigkeiten finden ließe,28 d. h. es hat weder jemals einen Atheisten gegeben, der die Existenz von Dämonen und die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes gelehrt hätte, noch einen von der Magie überzeugten Menschen, der nicht an die Existenz Gottes geglaubt hätte. Es gibt Christen, die in allen übrigen Punkten rechtgläubig sind, die aber nicht glauben können, daß sich die bösen Engel in alles mischen, und die ausnahmslos alles verwerfen, was über Magie und Zauberei gesagt wird. Wenn sie sich mit der Behauptung begnügten, nur die 27

Man sehe die Furetieriana, S. 199 f. in der Brüsseler Ausgabe. Man sehe weiter unten die Einschränkung, die ich mache, wenn ich von den Orientalen spreche. 28

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Schrift könne Existenz und Wirken der bösen Engel beweisen, brauchte man sich über ihre Ansicht nicht zu wundern, denn es ist gewiß, daß die Vernunft der Herrschaft des Teufels starke Argumente entgegenhält, die auf die Begriffe von Gottes Weisheit und Güte gegründet sind; aber es ist, um nichts Schlimmeres zu sagen, ein sehr kühnes Unternehmen, die Zurückweisung jeglicher Macht des Teufels mit der Schrift vereinbaren zu wollen. Wie dem auch sei, die folgende Schlußfolgerung ist falsch und unberechtigt: »Ihr glaubt nicht, daß es Teufel gibt, folglich glaubt Ihr nicht, daß es Gott gibt.« Was die andere Schlußfolgerung angeht: »Ihr glaubt nicht, daß es Gott gibt, folglich glaubt Ihr nicht, daß es gute oder böse Engel gibt«, so scheint sie sehr gewiß zu sein, denn, wie ich bereits sagte, es läßt sich kein Beispiel anführen, das dagegen spräche. Hier kommt eine weitere Schlußfolgerung, die zuverlässig erscheint: »Es gibt Teufel, also gibt es Gott.« Man ist von der Richtigkeit und Zwangsläufigkeit einer derartigen Schlußfolgerung so überzeugt, daß man ohne weitere Prüfung behauptet, daß, wer die Existenz von Dämonen leugnet, den Rechtgläubigen einen unbestreitbaren Beweis für die Existenz Gottes nimmt. Ich gestehe, daß ich noch niemanden gesehen habe, der nach meinem Eindruck nicht sehr überzeugt gewesen wäre, daß die Existenz des Teufels notwendigerweise und unumstößlich die Existenz Gottes beweist, und man trifft niemanden, der diese letzte Wahrheit auch nur im geringsten in Zweifel zieht,29 der nicht auch beinahe schlagartig leugnete, daß es Engel gibt. Ich gestehe jedoch, daß ich die enge Verbindung, die alle Welt zwischen diesen beiden Sätzen »Es gibt Teufel, also gibt es Gott« wahrnimmt, nicht recht einzusehen vermag. Wenn wir die Schrift beiseite setzen und nur nach den Prinzipien der Metaphysik räsonieren, kann man dann nicht behaupten, daß Gott keine anderen Geister als die menschliche Seele geschaffen hat? Wenn man fragt, warum ein so mächtiges Wesen nicht auch anderen Geistern das Dasein verliehen hat, wird man zur Antwort erhalten, weil es ihm nicht gefallen hat, das zu tun: Er bringt alles mit uneingeschränkter Freiheit her29

D. h. von der Existenz Gottes.

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vor; von diesem mehr, von jenem weniger, sein stets unendlich weiser Wille ist seine einzige Regel gewesen. Was könnte man gegen ein solches Argument vorbringen? Man wende sich an einen Atheisten und frage ihn, warum er die Existenz von Dämonen leugnet. Man wird sehen, daß er keine Antwort gibt, die etwas taugt, und wenn man ihn weiter mit Fragen bedrängt, wird man ihn bald zum Verstummen bringen. Wird er zu behaupten wagen, daß das Universum, weil es unendlich, ewig und das höchst vollkommene Wesen sei, das notwendigerweise existiere, nichts enthielte, was den menschlichen Verstand an Einsicht und Erkenntnis überstiege? Was! Soll dem Menschen, nur weil er zwei Augen, eine Nase, einen Mund, ein Gehirn, Nerven und Adern hat, aller Geist und alle Geschicklichkeit zufallen, die es in der Natur geben kann? Soll es an keiner anderen Stelle Willen, Verstand, Leidenschaften und die Kunstfertigkeit geben, Körper aufeinander wirken zu lassen? Wenn ihr gegen mich anführen könntet, es habe einem frei handelnden Wesen gefallen, Erkenntnis nur Wesen mit einem Gehirn zu verleihen, so würdet ihr mich in die Enge treiben; aber eine solche Ursache kennt ihr nicht. Euch zufolge existiert und handelt alles mit Notwendigkeit. Ihr könnt mir also nicht sagen, weshalb die nichttastbare Materie weniger erfinderisch sein sollte als die von uns Fleisch und Blut, Mensch, Tier usw. genannte, und wenn ihr richtig räsoniert, müßt ihr zu dem Glauben kommen, daß das unendliche Wesen, weil es im Menschen denkt, auch überall sonst denkt, und daß, wenn es auf der Erde viele belebte Körper gibt, die einander lieben oder hassen und von denen die einen die anderen unterdrücken, es ebenfalls in der Luft oder sonstwo zusammengesetzte Wesen gibt, die den Menschen lieben, und solche, die ihn hassen, die mehr Verstand und mehr Macht haben als der Mensch. Da haben wir also die guten und die bösen Engel. Kurz, weil ein Atheist nicht leugnen kann, daß es böse, neidische, rachsüchtige Wesen30 gibt, die sich am Unglück anderer erfreuen und die durch den Einsatz von Körpern befremdliche Änderungen in der Natur hervorbringen, die ih30

Ich verstehe unter diesen Wesen hier das menschliche Geschlecht.

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ren Leidenschaften entsprechen, wird er sich lächerlich machen, wenn er zu leugnen wagt, daß es trotz dieser bösen Wesen, die sich vor seinen Augen befinden, keine anderen gibt, die er nicht sieht und die noch bösartiger und geschickter als der Mensch sind. Man kann daher sagen, daß das Universum, wenn es nicht das Werk Gottes wäre, mit der gleichen Notwendigkeit böse Engel enthielte, wie es Wölfe und Menschen enthält; wenn es aber das Werk Gottes ist, dann ist es keineswegs notwendig, daß es dies oder das enthält, und folglich ist die Existenz von Dämonen kein so starker Beweis für die Existenz Gottes, wie man sich das einbildet. Sie ist bei weitem besser geeignet, den Manichäismus31 zu stützen, als den orthodoxen Glauben zu behaupten. Ich trage das nur als ein Problem vor, das es zu untersuchen gilt. Auf diese Weise wäre es möglich – obwohl es offensichtlich noch nie vorgekommen ist –, daß Menschen, die in gewisser Hinsicht genauso Atheisten gewesen sind wie Ruggeri, dennoch glauben könnten, daß Wachsbilder mit der Unterstützung gewisser Zeremonien in hundert Meilen Entfernung Liebe oder Tod veranlassen. Sie würden diese Zeremonien lediglich als ein Zeichen der Übereinkunft auffassen, die einen Teufel zur Hervorbringung bestimmter Wirkungen durch die Anwendung von Körpern veranlassen würde, deren Kräfte er kennt.

Betrachtung über die orientalische Religion Ich bitte zu beachten, daß ich bislang lediglich die Kenntnisse in Betracht gezogen habe, die wir von den Ansichten des alten Heidentums und der modernen Europäer besitzen, denn ich räume ein, daß mir die Berichte über die orientalische Religion 31

Herr Bekker wirft den Theologen sehr nachdrücklich vor, daß sie durch die Herrschaft, die sie den Teufeln beilegen, den Manichäismus einführen. Mit diesem Vorwurf tut er ihnen unrecht, denn sie stützen sich auf die Schrift. Ich untersuche die Dinge hier lediglich unter philosophischer Perspektive.

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die Verwendung der allgemeinen Ausdrücke verbieten müssen, deren ich mich bedient habe. Man versichert uns,32 daß die Siamesen keinerlei Gottheit kennen und dennoch33 an die Wiederkunft und das Erscheinen von Geistern glauben sowie daß sie die Toten fürchten und bestimmte Zeremonien zu ihrer Besänftigung begehen. »Abgesehen davon richten sie bei fast allen Gelegenheiten Gebete an die guten Schutzgeister und Flüche an die bösen.«34 Hier haben wir Leute, die sehr geeignet sind, Magier zu werden, ohne an eine Gottheit zu glauben. In dem von mir zitierten Bericht heißt es weiter, daß »die Inder heutzutage wie die alten Chinesen glauben, daß sowohl gute wie böse Seelen überall verbreitet sind, auf die sie sozusagen die göttliche Allmacht aufgeteilt haben.«35 Das zeigt, daß sie keinen obersten Gott anerkennen, sondern eine Unzahl teils guter, teils böser Genien; sie können folglich gleichzeitig Atheisten und Magier sein. Die Vorstellungen der Weisen dieses Landes kommen denen der Europäer etwas näher; denn sie sind einerseits Atheisten und leugnen andererseits die Existenz von Geistern und die Unsterblichkeit der Seele. »Mehrere Berichte über China versichern, daß die Gelehrten, die in diesem Land die vornehmsten Bürger darstellen, die Bestattungszeremonien lediglich als eine bürgerliche Pflicht ansehen, die sie mit keinerlei Gebeten begleiten; daß sie heutzutage keinerlei religiöses Empfinden haben und weder an die Existenz irgendeines Gottes noch an die Unsterblichkeit der Seele glauben; und daß sie, obwohl sie Konfuzius in den ihm geweihten Tempeln eine äußerliche Verehrung erweisen, von ihm dennoch nicht das Wissen erbitten, wie die Gelehrten von Tonquin das tun.«36 Diese äußerliche Konfuzius-Verehrung ist also in ihren Augen nichts weiter als ein Mummenschanz; sie bezeigen sie nur aus politischen Gründen. 32

La Loubere, Relation de Siam, Bd. I, Kap. 22, Nr. 6, S. 501 meiner Ausgabe. 33 A. a. O., Kap. 20, Nr. 20, S. 481. 34 A. a. O. 35 A. a. O., Kap. 23, Nr. 8, S. 508. 36 A. a. O., Kap. 20, Nr. 4, S. 467, 470.

Ruggeri

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Man lese noch das Folgende. Man wird daraus entnehmen, daß sie mit der Leugnung eines obersten Geistes auch untere mit Verstand ausgestattete Wesen verworfen haben. »Nachdem die Gelehrten, d. h. diejenigen, die bestimmte Grade in den Wissenschaften erworben haben und die als einzige an der Regierung teilhaben, nach und nach gottlos geworden waren und dennoch nichts am Sprachgebrauch ihrer Vorgänger änderten, haben sie aus der Seele des Himmels sowie aus allen anderen Seelen irgendwelche luftige Substanzen ohne Verstand gemacht und als alleinigen Richter über unsere Werke eine blinde Notwendigkeit eingeführt, die ihrer Ansicht nach alles das macht, was eine allmächtige und allwissende Gerechtigkeit machen würde.«37

37

A. a. O., Kap. 23, Nr. 14, S. 514. Man ziehe das oben in Fußn. (55) des Artikels MALHERBE Gesagte hinzu.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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sara, die Schwester und Gattin Abrahams (A), war seine treue Begleiterin auf allen seinen Reisen. Sie war bereits mit ihm verheiratet, als sie von Ur in Chaldäa nach Haran gingen.a Die Unfruchtbarkeit, mit der sie schon in ihrer Heimat geschlagen war, verließ sie in fremden Landen nicht. Das brachte sie zu dem Entschluß, Abraham eine Stellvertreterin für sich beizugeben, damit sie durch sie Mutter würde, was sie selbst ja nicht werden konnte. Hagar, ihre Magd, die sie für diese Aufgabe ausgewählt hatte, war bald guter Hoffnung, zeigte sich aber undankbar.b Sie begann, Sara zu verachten, aber diese konnte ihre Unverschämtheit nicht ertragen und machte so weitgehenden Gebrauch von der unbeschränkten Gewalt, die ihr Mann ihr über Hagar gegeben hatte, daß sie sie binnen kurzer Zeit zur Flucht aus dem Haus nötigte. An anderer Stellec kann man von der Rückkehr dieser undankbaren Person und von der großen Not lesen, in die sie geriet, als sie ein zweites Mal hinausgeworfen wurde. Ich will das nicht wiederholen, sondern statt dessen sagen, daß Sara aufgrund eines besonderen Segens Gottes schließlich mit 90 Jahren schwanger wurde und mit einem Sohn niederkam, der den Namen Isaak erhielt. Sie lebte 127 Jahre.d Es bleibt noch zu erwähnen, daß sie sehr schön war und daß ihre Schönheit sowie der Gefallen, den sie ihrem Gatten erwies, indem sie sich nicht als seine Gattin, sondern als seine Schwester bezeichnete, sie zweimal der Entführung aussetzten (B); hierbei wäre ihre Keuschheit verloren gegangen, wenn Gott nicht eingegriffen hätte (C). Eine ganz besondere Vorsehung verhinderte diesen Verlust und gab sie ihrem Gatten mit unbea b c d

Genesis 11, Vers 29, 31. Genesis 16. Im Artikel HAGAR.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  Moréri sagt irrtümlich 137 Jahre.

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fleckter Ehre zurück; ganz abgesehen von den Wohltaten, mit denen die beiden Fürsten ihn überschütteten, die sich in Sara verliebt hatten. Letztere konnten Abrahams bittere Erfahrung versüßen, nämlich daß in Schwierigkeiten kommt, wer eine schöne Frau bei sich hat – Schwierigkeiten, die gelegentlich größer sind, als wenn man mit einer häßlichen auf die Reise ginge. Man kann Abraham (D) und Sara bei diesen Vorfällen nicht wirklich entschuldigen, ebensowenig wie für die Sache mit Hagar; und zu Unrecht regen sich einige über Calvin auf, der den beiden deshalb unverblümt seine Meinung gesagt hat.e Von der Respektlosigkeit des Manichäers Faustus muß man sich ebensosehr fernhaltenf wie von den abergläubischen Schmeicheleien einiger anderer. Man darf nicht vergessen, daß Saras Schönheit etwa Einzigartiges hatte, nämlich daß sie wenigstens bis in ihr 90. Lebensjahr anhielt (E). Dafür werden verschiedene Gründe genannt, z. B. sagt man, daß sie keine Kinder gehabt hat und daß sie auf allen ehelichen Verkehr verzichtete, seit sie sich unfruchtbar wußte (F). Falls diese Gründe nicht genügen, fügt man ihnen noch eine ganz besondere Vorsehung Gottes hinzu, durch die, so heißt es, Saras Schönheit gegen alle Einflüsse des Alters gefeit war, u. a. deshalb, um Abrahams Glauben auf die Probe zu stellen (G). Das haben diejenigen nicht beachtet, die in ihren hitzigen Predigten Saras Verfall so stark übertrieben, um die Milch, die sich in ihren Brüsten bildete, als ein größeres Wunder erscheinen zu lassen. Sie behaupten,g daß sie soviel davon hatte, daß sie genötigt war, mehrere Säuglinge anzulegen, und daß sie an dem Tag, an dem Isaak abgestillt wurde, allen Kindern der Gäste, die zu dem Fest geladen worden waren, ihre Brust bot. Es heißt weiter, daß sie ihr Kind selbst stillen wollte, um jeden durch ihr Alter genährten Verdacht zu ersticken, daß Isaak ein untergeschobenes Kind sei. Der hl. Chrysostomos e

Man sehe Rivet, Opera, Bd. I, Exercit. 87, S. 333. Heidegger, Hist. patr., Bd. II, S. 151 und weiter unten Anm. (I).  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  f Man sehe Anm. (B), Fußn. (17). g Man sehe Pererius in Genes., Kap. 21, Salian, S. 473 f .

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billigt diesen Gedanken.h Es scheint nicht so, daß diese heilige Frau bei der Nachricht, daß Abraham Isaak geopfert hätte, vor Schmerz gestorben ist; wir können das getrost zu den Märchen der Rabbinen zählen.i Josephus vermeldet, daß Sara bald nach der Rückkehr ihres Gatten und ihres Sohnes gestorben sei: Nach seiner eigenen Berechnung hat sie aber noch zwölf Jahre gelebt, denn in Übereinstimmung mit der Schrift sagt er, daß sie 90 Jahre alt war, als sie Isaak gebar, und 127 Jahre, als sie starb. Andererseits versichert er, daß Isaak 25 Jahre alt war, als sein Vater ihn opfern wollte. An dieser Stelle muß ich zeigen, 1) daß man Calvin zu Unrecht beschuldigt, er habe die gröbsten Beleidigungen gegen Sara ausgestoßen, weil sie von ihrem Gatten verlangte, sich ihrer Magd zu bedienen; und 2) daß der hl. Augustinus Abrahams Handlungsweise nicht gut verteidigt hat (K).

(A) Schwester und Gattin Abrahams. Das geht aus Genesis, Kapitel 20 so klar hervor, daß es nicht zweierlei Meinungen darüber geben würde, wenn man nicht die schlechte Gewohnheit angenommen hätte, den natürlichen Sinn der Schriftworte den geringsten Schwierigkeiten zu opfern, auf die man stößt. Vergegenwärtigen wir uns die Umstände des Faktums. Als Abraham ins Land der Philister gekommen war, gab er Sara als seine Schwester aus. Abimelech, der König des Landes, glaubte deshalb, sie sei eine heiratsfähige Tochter oder eine Witwe und daß ihn somit nichts hindere, sie zu einer seiner Frauen zu machen. Er ließ sie also zu sich kommen. Als er aber durch eine Offenbarung erfuhr, daß sie mit Abraham verheiratet war, schickte er sie zu ihm zurück und beschwerte sich über deren Lügen, die ihn in großes Unglück gestürzt haben würden. Ich sage »deren Lügen«; denn einerseits hatte Abraham von seiner Frau gesagt »Das ist meine Schwester« und h i

Homil. 45 in Genes. Tostado zufolge behaupten sie das. Man sehe Salian, S. 489.

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andererseits hatte Sara von ihrem Gatten gesagt »Das ist mein Bruder«. Abraham entschuldigte sich erstens damit, daß er befürchtet habe, man werde ihn töten, wenn er bekannte, daß sie seine Frau war; zweitens damit, daß sie »wirklich« seine Schwester sei, »und zwar die Tochter meines Vaters«, wie er sagte,1 »wenngleich nicht die Tochter meiner Mutter«. Danach versuchte er, seine Gattin zu rechtfertigen, und sagte, er habe sie gebeten, ihm zu Gefallen überall, wohin ihre Reise sie führte, zu erklären, daß er ihr Bruder sei. Ich wundere mich, daß man diesen Worten nicht entnimmt, daß Sara Abrahams Schwester nicht von der Seite der Mutter, aber von der des Vaters war. Hier sind meine Gründe dafür. I. Zum ersten, wenn Sara nicht Abrahams Schwester in diesem Sinne gewesen wäre, so hätte die Entschuldigung ihres Gatten nur eine noch schlimmere Täuschung des guten Fürsten bedeutet, der ihm seine vorausgegangene Verstellung vorgeworfen hatte; denn er konnte den Entschuldigungen dieses Patriarchen unmöglich Glauben schenken, ohne Sara für die wahre und eigentliche Schwester Abrahams seitens des Vaters zu halten, und kein Mensch in der Welt hätte dieser Rede entnommen, daß sie nur Abrahams Nichte war. Ich mache alle diejenigen zu Richtern hierüber, die spüren können, welche Ideen eine derartige Rede im Geist des Abimelech hervorrufen konnte und mußte, aber ich verlange, daß sie sich gut in alle Situationen und alle Umstände dieses Geschehens hineinversetzen können. Es ist nutzlos anzunehmen, daß Sara Harans Tochter und folglich Enkelin von Abrahams Vater war, und hinzuzufügen, daß ein Neffe manchmal ›Bruder‹2 und ein Enkel manchmal ›Sohn‹ genannt wird; das hilft hier nicht weiter, sage ich, weil die Umstände es erfordern, daß Abraham die Worte nur in ihrer

1

Genesis 20, 12. Loth, Abrahams Neffe, wird Genesis 14, 16 sein Bruder genannt; dieses Beispiel hilft denen aber nicht weiter, die Sara für Loths Schwester halten, denn die Bezeichnung ›Bruder‹ dürfte Loth in jenem Fall eher als Schwager, denn als Neffe gegeben worden sein. 2

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eigentlichsten Bedeutung verwendete; andernfalls müßte er als ein Mensch gelten, der Abimelech irreführen wollte. II. Wozu sollte er außerdem diese Unterscheidung »Tochter meines Vaters«, »Tochter meiner Mutter« machen, wenn er nur ausdrücken wollte, daß er Saras Onkel war? Setzt den Fall, er habe sie, die nur seine Nichte war, Schwester nennen können: worauf wollte er mit der Bemerkung hinaus, daß seine Mutter nicht die Großmutter dieser Nichte war? Damit, so wird man sagen, wollte er ganz ehrlich den Grad seiner Verwandtschaft mit Sara ausdrücken. Aber warum in aller Welt bedient er sich des Wortes ›Tochter‹ in mehrdeutiger Weise? Warum verwendet er es nicht in seinem wahren Sinn, wie er es meiner Meinung nach tut? Außerdem wäre die Ehrlichkeit, von der ihr sprecht, zu diesem Zeitpunkt nicht angebracht, denn sie würde die Entschuldigung des Patriarchen unglaubwürdig machen, weil sie die verwandtschaftliche Beziehung weniger eng erscheinen ließe. Wenn man mir entgegenhält, daß in meiner Auslegung ebendieselbe Ehrlichkeit die Entschuldigung mehr abschwächen als verstärken würde, so nenne ich einen anderen Grund für Abrahams Erklärung, daß Sara nicht seine Schwester seitens der Mutter war. Man machte damals einen Unterschied zwischen der Heirat eines Mannes mit seiner Schwester väter- und mütterlicherseits und der Heirat mit seiner Halbschwester. Die Athener erlaubten die Heirat mit der Schwester väterlicherseits, verboten aber war die Heirat eines Mannes mit der Schwester mütterlicherseits.3 Umgekehrt erlaubte Lykurg den Spartanern, die Schwester mütterlicherseits zu heiraten, und verbot die Heirat mit der Schwester väterlicherseits.4 Einige haben gesagt, Solons Erlaubnis sei allgemein gesprochen weniger verwerflich als diejenige Lykurgs,5 weil die Blutsverwandtschaft zwischen 3

Man sehe die Beweise bei Muret, Variar. lect., Buch XV, Kap. 5 und bei Gebhard zu Corn. Nepos, Vita Cimonis. Man ziehe den Artikel CIMON, Anm. (D) zu Rate.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  4 Man sehe die genannten Autoren. 5 »Die Tochter des Vaters (die Schwester, aber nicht mütterlicherseits) wurde rechtmäßig mit Noah verheiratet, weil bei diesen Völkern die Bluts-

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Bruder und Schwester mütterlicherseits eher feststeht als die zwischen Bruder und Schwester väterlicherseits. Will jetzt noch jemand behaupten, daß in meiner Deutung Abraham ohne Not gesagt hat, er sei nicht der Bruder mütterlicherseits seiner Gattin, so wie er in der entgegengesetzten Auslegung völlig nutzlos gesagt hätte, seine Mutter sei nicht Saras Großmutter? III. Ferner: Wenn Abraham nur sagen wollte, daß sein Vater Thara Saras Großvater war, so hat er die Worte ›Vater‹ und ›Schwester‹ in einem weiteren und weniger strengen Sinn genommen. Warum hat er also erklärt, daß seine Mutter nicht Saras Mutter war? War sie es nicht in diesem Sinne, in dem er das Wort ›Vater‹ in Bezug auf Thara nahm, d. h. war sie nicht Saras Großmutter so wie Thara ihr Großvater war? Man glaubt dieser großen Schwierigkeit durch die Annahme zu entkommen, daß Haran Saras Vater war, aber nicht Abrahams Bruder mütterlicherseits. Man gibt Thara somit zwei Frauen und nimmt an, daß er Haran mit der einen und Abraham mit der anderen zeugte. Daraus folgt: Wenn Sara Harans Tochter war, dann war ihr Großvater Abrahams Vater, ihre Großmutter jedoch nicht Abrahams Mutter. Ich erwidere hierauf: All das fällt in sich zusammen, sobald man annimmt, daß dieser Patriarch die Worte ›Schwester‹ und ›Tochter‹ in einem erweiterten Sinn verwendet, denn auf dieser Grundlage ist Abrahams Mutter mit Sicherheit die Großmutter der Kinder Harans, ob sie nun Haran geboren hat oder nur die Frau seines Erzeugers war. Sobald wir von der eigentlichen und strengen Bedeutung der Verwandtschaftsbezeichnung abweichen und uns dem Sprachgebrauch in den Familien anschließen, kommt das Wort ›Mutter‹ Frauen in Bezug auf alle Kinder ihres Gatten zu, folglich das Wort ›Großmutter‹ Frauen in Bezug auf alle Kindeskinder ihres Gatten. Wenn Abraham daher die Worte in dem weiteren Sinn genommen hätte, den Freundschaft oder Höflichkeit in den familiären Sprachgebrauch eingeführt hatte, so hätte er nicht leugnen dürfen, wie er es tat, daß seine Mutter Saras Großmutter war. Einige wünschverwandtschaft väterlicherseits nicht berücksichtigt wurde.« Jarchi, bei Heidegger, Hist. patriarch., Bd. II, S. 78.

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ten, sie könnten sagen, daß er dieselben Worte manchmal in ihrer eigentlichen, manchmal in ihrer weniger eigentlichen Bedeutung verwendet. Aber hieße das nicht anzunehmen, daß er wie ein Sophist mit dem arglosen Abimelech spielte? IV. Mein vierter Grund ist daher genommen, daß man nicht mit gutem Grund sagen kann, daß Sara von Thara adoptiert worden sei. Wenn das so wäre, hätte Abraham sich seiner Unterscheidung ohne Verzicht auf Genauigkeit bedienen können; denn in diesem Fall hätte sein Vater in einem ziemlich strengen Sinne ›Saras Vater‹ heißen können. Aber hier kommt etwas, was diese Ausflucht hinfällig macht: Man greift nur deshalb auf sie zurück, um den Vorwurf des Inzests zu vermeiden. Man vermeidet ihn damit aber nicht, denn die auf Adoption gegründete Brudereigenschaft stellte kein geringeres Ehehindernis dar als die natürliche. Nach den Gesetzen hätte ein Bruder, der seine Adoptivschwester heiratet, einen Inzest im strengen Wortsinn begangen.6 V. Einen meiner Gründe nehme ich von hierher: Wenn uns etwas veranlassen muß, Abrahams präzise Erklärung, »Sara sei seine wirkliche Schwester, nämlich die Tochter seines Vaters, nicht aber seiner Mutter«, nicht wörtlich zu nehmen, dann ist es die Tatsache, daß aus dieser Brudereigenschaft eine Inzestehe resultieren würde. Aber widerlegt das nicht auch diejenigen, die sagen, Sara sei Abrahams Nichte gewesen?7 Besteht nicht Einigkeit darüber, daß dieser Verwandtschaftsgrad Ehen zum Inzest macht? Unsere Widersacher müssen daher Entschuldigungen für Abrahams Inzest suchen. Wenn sie welche finden, würde uns das ebenso wie ihnen nützen, der Unterschied wäre nur ein 6

»Zwischen Bruder und Schwester ist die Heirat verboten, sei es daß ihre beiden Eltern, sei es daß nur ein Elternteil identisch ist. Wenn aber die Schwester das durch Adoption geworden ist, ist die Heirat ebenfalls verboten, solange die Adoption besteht; wenn jedoch die Adoption förmlich aufgehoben worden ist, können sie legal die Ehe eingehen.« Justinian, Institutiones, Buch I. Man sehe den Artikel OCTAVIA im Haupttext (…).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  7 Man sehe Rivet zur Genesis, Exercit. 73, Heidegger, Histor. patriarch., Bd. II, S. 79.

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gradueller. Es würde uns nicht schwerfallen, ihren Gründen die Reichweite zu geben, die wir brauchen, vor allem in Anbetracht der Tatsache, daß Jakob nicht die geringsten Skrupel hatte, mit zwei Schwestern gleichzeitig verheiratet zu sein, was in anderen Zeiten verabscheuungswürdig gewesen wäre. Klemens von Alexandrien mißt dieser Schwierigkeit so wenig Gewicht bei, daß er ganz kühl bemerkt, Abrahams Worte lehrten uns, daß man seine Schwester mütterlicherlicherseits nicht heiraten darf.8 Gewiß fehlt es nicht an guten Gründen, um Abraham deswegen zu rechtfertigen; ich gebe sie nicht wieder, sie sind leicht in anderen Büchern zu finden. Ich will nur diejenigen, die mir vorwerfen werden, ich hätte Abrahams Gewissen hinsichtlich des Inzestverbrechens nicht ernst genug genommen, darauf hinweisen, daß sie, bevor sie über mich herziehen, sich mit einer großen Anzahl von alten und modernen, katholischen und protestantischen Theologen auseinandersetzen müssen.9 Keine große Bedeutung lege ich einer Nachricht in den Annalen des Eutychius bei,10 der zufolge Tharas erste Frau, die Mutter Abrahams, Jona und seine zweite Frau, die Mutter Saras, Tebevitha hieß. Diese Nachricht ist jedoch immerhin ein Zeichen dafür, daß die Meinung, der ich mich angeschlossen habe, eine lange Tradition für sich hat. VI. Ein weiterer Grund: Wenn Sara nicht Tharas Tochter, sondern seine Enkelin war, mußte sie entweder Harans oder Nahors Tochter sein. Sie war jedoch weder das eine noch das andere. Hier ist der Beweis: Laut Genesis11 hieß Nahors Frau Milka und war Harans Tochter, des Vaters von Milka und Jiska. Da die letztere genannt wird, ohne daß es dafür einen besonderen Grund gibt (denn anders als bei der anderen wird sie nicht im Zusammenhang mit einem Ehemann erwähnt), 8

(…). Stromata; Buch II, S. 421. 9 Klemens von Alexandrien, der hl. Hieronymus, Lipoman, Oleaster, Cajetan, Sotus, Père Petau, Codoman, Père Abram, Musculus, Piscator, Heidegger usw. 10 S. 66, bei Heidegger, a. a. O., S. 78. 11 Kap. 11, Vers 29.

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muß man annehmen, daß, wenn Haran noch mehr Töchter gehabt hätte, diese im gleichen Atemzug genannt worden wären und daß man vor allem Sara nicht vergessen hätte, deren Heirat mit Abraham gerade erwähnt worden war. Daraus dürfen wir schließen, daß Haran nur zwei Töchter hatte, Milka und Jiska. Dieser Grund ist so überzeugend, daß er mehrere Widersacher zu der Annahme zwingt, Sara und Jiska seien dieselbe Person. Dem heiligen Geschichtsschreiber erweisen sie damit nicht gerade Ehre. Was wäre er doch für ein bewundernswerter Schriftsteller, wenn er innerhalb von drei Zeilen einer Frau zwei verschiedene Namen gibt, ohne darauf hinzuweisen, daß sie ein und dieselbe Person bezeichnen! Man sehe in Kapitel 22 der Genesis die Liste der Kinder Nahors. Sara wird man da nicht finden, und man wird bemerken, daß Nahors Erstgeborener zur Welt kam, nachdem Abraham sein Land verlassen hatte, denn er erfuhr erst nach der Rückkehr vom Berg Morija, wo er seinen Sohn hatte opfern wollen, daß Milka ihrem Gatten Nahor acht Kinder geschenkt hatte, »nämlich Uz, seinen Erstgeborenen, usw.«. Wäre es überdies möglich, daß die Schrift niemals von Loth als Saras Bruder gesprochen hätte, wenn sie Harans Tochter gewesen wäre? VII. Die Erwiderung auf diejenigen ist leicht, die uns die Schriftstelle12 vorhalten, wo Sara Tharas Schwiegertochter genannt wird; denn eine verheiratete Frau wird eher in den Verwandtschaftsbeziehungen ihrer Ehe als ihrer Herkunft gesehen.

(B) Zwei Entführungen. Sie gleichen sich wie zwei Wassertropfen. In beiden Fällen verschweigt Abraham, daß er Saras Ehemann ist; er will, daß sie ihn als ihren Bruder ausgibt; er tut das teils in der Befürchtung, daß man ihn umbringt, wenn man erfährt, daß er ihr Ehemann ist, teils in der Absicht, daß man ihm aus Liebe zu ihr etwas Gutes 12

Genesis 11, 31.

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tut, wenn man glaubt, daß sie nicht seine Ehefrau ist. In beiden Fällen wird der Entführer vom Himmel bestraft, bevor er seine Leidenschaft befriedigen kann; er gibt Sara zurück, überhäuft ihren Mann mit Geschenken und wirft ihm seine Lügen vor. Die erste Entführung geschah in Ägypten durch König Pharao, die zweite in Gerar durch den Philisterkönig Abimelech. Sara war mindestens 65 Jahre alt, als Pharao sie entführte, und 90 bei der zweiten Entführung, denn sie war 10 Jahre jünger als ihr Mann13 und ihre Reise nach Ägypten liegt später als ihr Weggang aus Haran, d. h. später als das 75. Lebensjahr Abrahams.14 Was die Reise nach Gerar angeht, so fand sie nach der Ankündigung von Isaaks Geburt statt, d. h. als Abraham das 100. Lebensjahr erreicht hatte. Man kann machen, was man will, diese Geschichte beweist, daß Abraham den Tod mehr fürchtete als die Entehrung seiner Ehe und daß er nichts weniger als ein eifersüchtiger Ehemann war. Er überließ Saras Ehre und Keuschheit der väterlichen Sorge der Vorsehung und kümmerte sich vorrangig um die Erhaltung seines Lebens, wobei er die menschlichen Mittel nicht verschmähte. Die Schwäche der menschlichen Natur nicht erkennen wollen, heißt freiwillig blind zu sein. Der Patriarch hätte bei dieser Gelegenheit sagen können »Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.«15 Wer glaubt, daß Furcht vor Gefahr sein Denken trübte, der täuscht sich. »Es ist keine Gottesfurcht in diesem Land«, sagte er,16 »sie werden mich wegen meiner Frau töten.« Er glaubte also, daß Menschen, die keine Skrupel kennen, einen Mann zu töten, Skrupel haben würden, eine verheiratete Frau zu entführen. Ja, er glaubte das, und zwar mit Grund. Zweifellos hat eher das Wohl der Gesellschaft als die Liebe zur Tugend bewirkt, daß man den Raub einer verheirateten Frau als schreiendes Unrecht betrachtete, dessen lästige Folgen sogar Herrscher zu fürchten hatten; man fand es 13

Genesis 17, 17 heißt es, sie sei 90 Jahre alt gewesen, als Abraham 100 war. 14 Genesis 12, 4. 15 Terenz, Heautont., Akt I, Szene 1, S. 112 meiner Ausgabe. 16 Genesis 20, 11.

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aber nicht so schlimm, daß ein großer Herr sich einer unverheirateten Frau bemächtigte, um die Zahl seiner Konkubinen zu vergrößern. Aufgrund dieser zutreffenden Überlegung konnte Abraham ziemlich sicher sein, daß zumindest die Furcht vor den Menschen die Ägypter und Philister daran hindern würde, ihm seine Frau zu rauben und ihn am Leben zu lassen, weil er ein bleibender Zeuge der Gewalt wäre, die man einer verheirateten Frau angetan hatte. Die logische Schlußfolgerung hieraus war die Befürchtung, daß man ihn insgeheim beseitigen würde, um Sara zu behalten, ohne daß irgend jemand sagen konnte, man habe sie ihrem Gatten geraubt; die Öffentlichkeit hätte nämlich nichts von diesem Gatten erfahren, wenn man ihn schnell um die Ecke brachte. Diese Befürchtung ist nicht das Schlimmste an der Geschichte. Wer kennt nicht den Eifer, mit dem David den Ehemann seiner Geliebten unter der Hand beseitigen ließ? Der Wunsch, als Bruder der schönen Sara gut behandelt zu werden, ist tadelnswerter als die Furcht, getötet zu werden. Nichtsdestoweniger sollten wir die maßlose Empörung, die der Manichäer Faustus17 hierüber zeigt, verabscheuen und uns mit der Stellungnahme des hl. Hieronymus zu all dem begnügen.18 Der hl. Chrysostomos19 und der hl. Ambrosius haben hier den Stoff einer schönen Lobeshymne auf Saras Liebe gefunden: Sie war zugunsten ihres Gatten bereit, ihre Keuschheit den allergrößten Gefahren auszusetzen. (…).20 Origenes war ganz anderer Meinung: er fand soviel Anstößiges im wörtlichen Sinn der Geschichte, daß er sich in Typologien und Allegorien flüchtete. »Welche Erbauung erfahren wir im anderen Falle«, sagt er,21 17

Er beschuldigte Abraham, »daß er aus Habgier und Genußsucht seine ehelichen Rechte auf höchst schändliche Weise zu verschiedenen Zeiten an Abimelech und Pharao abgetreten und seine Gattin Sara, die er wegen ihrer großen Schönheit als seine Schwester ausgab, als Konkubine verkauft habe.« Man sehe Augustinus, Contra Faustum, Buch XXII, Kap. 33. 18 Er spricht von einer »scheußlichen Notlage«. 19 Homil. 32 in Genes. Man sehe Anm. (A) des Artikels ABIMELECH.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  20 Ambrosius, De Abrah., Kap. 2. 21 Zu Kap. 6 der Genesis. Heidegger, S. 197 behauptet, Origenes habe

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»wenn wir lesen, daß Abraham, der große Patriarch, nicht nur den König angelogen, sondern auch die Keuschheit seiner Frau preisgegeben hat? Inwiefern erbaut uns die Gattin des großen Patriarchen, wenn wir glauben, sie sei mit dem Einverständnis ihres Mannes der Befleckung ausgesetzt gewesen? Das mögen die Juden glauben und vielleicht noch Freunde des Buchstabens, aber nicht des Geistes.« Andere greifen auf die Inspiration zurück und behaupten, daß Abraham von einem prophetischen Geist gelenkt wurde.22 Mit diesem Mittel ist man nie um eine Erklärung verlegen. Man müßte nur sparsamer mit ihm umgehen und es nur wie die letzte Ölung anwenden. Ich sehe Leute,23 die es auf unsere Sara anwenden, und zwar hinsichtlich ihrer Bitte, ihr Gatte möge mit ihrer Magd schlafen. Was diejenigen betrifft, die zu Abrahams Entschuldigung vorbringen,24 daß sein Leben so notwendig war, damit die Verheißung Gottes in Erfüllung ging, daß er es um jeden Preis, einschließlich der Ehre seiner Frau, erhalten mußte: sie merken nicht, daß sie sich selbst widerlegen; sie rechtfertigen ihn mit dem, was ihm vorgeworfen wird, denn wenn sein Leben für die Ratschlüsse Gottes notwendig war, konnte er sicher sein, daß ihn keiner töten würde. Die laxen Kasuisten und Befürworter der Mehrdeutigkeit ziehen sehr großen Vorteil aus dem Verhalten des Patriarchen. Man sehe die letzte Antwort auf die Lettres provinciales, man sehe, sage ich, die Entretiens de Cleandre et d’Eudoxe.25

Abraham beschimpft und getadelt, »weil er als Ehemann die Augen verschloß und Sara der Besudelung aussetzte«. Aber wie kann er ihm das zuschreiben, wo er doch den wörtlichen Sinn zurückweist? 22 Paulus Burgensis, bei Heidegger, a. a. O., S. 149. 23 Josephus, Antiq., Buch I, Kap. 10. 24 Bei Heidegger, a. a. O. 25 S. 128 ff. der holländischen Ausgabe von 1656.

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(C) Ihre Keuschheit wäre verloren gegangen, wenn Gott nicht eingegriffen hätte. Die Schrift sagt uns nicht, welches Übel Pharao hinderte, sich mit Sara zu vergnügen. Es heißt nur, daß Gott ihn »mit großen Plagen schlug und sein Haus mit ihm«.26 Über Abimelech sagt die Schrift zunächst, daß Gott ihm nur im Traum androhte, ihn und seine gesamte Familie zu töten,27 aber am Schluß des Kapitels heißt es, daß Gott auf Bitten Abrahams »Abimelech, seine Frau und seine Mägde heilte« und daß »sie danach Kinder bekamen; denn«, so fügte die Schrift hinzu, »der Ewige hatte um Saras, Abrahams Frau, willen jeden Schoß im Hause Abimelechs völlig verschlossen.« Man hätte, denke ich, die Ausleger eher töten als sie daran hindern können, Vermutungen über Pharaos Plagen anzustellen: der Spielraum ist hier größer als bei Abimelech, denn die Schrift scheint uns hinsichtlich des letzteren irgendeine Krankheit anzudeuten. Anscheinend hat man aber von dem einem auf den anderen geschlossen, und da Abimelechs persönliche Strafe höchst wahrscheinlich seine Zeugungsorgane betraf, weil seine Frau und seine Mägde eben hier geschlagen wurden, hat man geglaubt, daß es Pharao ebenso erging.28 Die Rabbinen29 sagen, ihn habe eine so heftige Gonorrhoe geplagt, daß ihm nicht einmal der Gedanke an Frauen Vergnügen bereitete, geschweige denn, daß er imstande gewesen wäre, mit ihnen zu verkehren. Sie fügen hinzu, daß Sara einen Schutzengel hatte, der alle diejenigen, von denen sie es wünschte, derart schlug, daß sie weder den Wunsch noch die Kraft hatten, sich ihr zu nähern, und daß sie sich mit der Hilfe dieses Engels vor Pharaos zudringlicher Lüsternheit schütze. Philon30 begnügt sich mit der Feststellung, daß dieser Fürst so unerträgliche Schmerzen und Qualen verspürte, daß er nicht in 26 27 28 29 30

Genesis 12, 17. Genesis, Kap. 20. Man sehe Pererius in Genes. 12, 17. Bei Nikolaus von Lyra, zitiert von Salian, S. 413. Im Buch De Abrah.

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der Stimmung war, an die Liebeslust zu denken; er dachte nur an seine Krankheit und wie er sie loswerden konnte. Sein ganzer Hof wurde mit dieser Plage geschlagen, weil seine Höflinge bei Saras Entführung Beihilfe geleistet oder Beifall geäußert hatten. Eupolemon31 sagt, die Pest sei über Pharaos Haus gekommen, und als die Seher die Auskunft gaben, daß die Entführung einer Frau die Ursache dieses Übels sei, habe Pharao Sara ihrem Gatten unberührt zurückgegeben. Josephus32 nimmt außer der Plage auch Aufstände an. Ein moderner Autor33, der ihm übel gesinnt ist, tadelt ihn deshalb recht lebhaft, und zwar mit der Begründung, daß ein Volksaufstand einen König nicht hindere, sich mit einer Frau zu vergnügen, und daß ein Aufstand genausowenig wie die Pest in einer besonderen Beziehung zu Pharaos Sünde stehe. Dieser Autor nimmt also an, daß die Strafe für diesen Entführer die Körperteile betraf, die das Mittel seiner Ausschweifungen waren; er bestätigt seine Deutung durch diesen Spruch des Weisen:34 »Womit einer sündigt, eben daran wird er auch gestraft.« Was immer es damit auf sich haben mag, man kann nicht bestreiten, daß Sara einige Zeit im Haus der Entführer verbracht hat; das steht zumindest hinsichtlich der letzten Entführung außer Zweifel, weil genügend Zeit für die Beobachtung war, daß ihretwegen eine so allgemeine Unfruchtbarkeit über den Hof des Königs Abimelech kam, daß dort keine Geburt mehr stattfand. Daraus ergibt sich diese kleine Schwierigkeit. Dieser Fürst gab Sara unverzüglich zurück, als ihm im Traum mitgeteilt wurde, daß sie mit Abraham verheiratet war. Er erfuhr das also erst, nachdem er sie eine Zeitlang in seinem Haus festgehalten hatte. Was hatte er denn mit ihr vor, da er sie bis dahin in Ruhe gelassen hatte? Hatte er sie dafür in seine Gewalt gebracht? Wer diesen Einwand erhebt, kennt nicht die Art orientalischer Fürsten. Sie haben mehrere Frauen, 31

Bei Eusebius, Praep., Buch IX, Kap. 4. Buch I, Kap. 8. 33 Salian, Bd. I, S. 413. 34 Kap. 11, Vers 17.  Bayle zitiert das Salomo zugeschriebene »Buch der Weisheit« in der Fassung der Vulgata. Hgg.  32

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und man sendet ihnen von Zeit zu Zeit neue, aber man darf nicht glauben, daß sie sie der Reihe nach lieben: einige von ihnen kommen niemals an die Reihe, obwohl sie sehr schön sind. Abimelech begnügte sich damit, Sara bekommen zu haben und zu wissen, daß er sich mit ihr vergnügen konnte, wenn es ihm beliebte. Gott griff jedoch ein, bevor dieser Fürst sich für sie entschieden hatte. Wir wollen das Gleiche von Pharao sagen. Ich glaube nicht, daß er ein so mächtiger Herrscher war, daß er der am Hof von Persien herrschenden Sitte folgte, wo eine Frau, die dem König gefiel, sich ein Jahr lang baden und parfümieren mußte, bevor sie zu ihm gebracht wurde.35 Wir wollen uns also nicht mit der Vermutung des hl. Hieronymus aufhalten,36 der auf diese Weise erklärt, warum Sara einige Zeit mit Nichtstun bei Pharao verbrachte. Wir wollen vielmehr von letzterem König annehmen, was wir soeben von dem König der Philister gesagt haben, oder wir wollen sagen, daß seine Leute vom ersten Tag der Entführung an mit Krankheit geschlagen waren. Josephus berichtet, daß Abimelech so krank war, daß die Ärzte an seiner Genesung verzweifelten. Andere geben die Art seiner Krankheit genauer an; sie sagen, er habe an so starken Schmerzen in den unaussprechlichen Körperpartien gelitten, daß es ihm beim besten Willen nicht möglich gewesen wäre, den Geschlechtsakt zu vollziehen.37 Im übrigen stimmen der hl. Chrysostomus38 und der hl. Hieronymus nicht recht überein, weil jener behauptet, es habe keines geringeren Wunders der Macht Gottes bedurft, um Sara rein und unbefleckt aus dem Hause Pharaos herauskommen zu lassen, als dafür, Daniel unverletzt inmitten hungriger Löwen und ebenso die drei hebräischen Männer inmitten der Flammen zu bewahren. Zwischen den beiden Erzählungen des Moses ist ein kleiner Unterschied festzustellen; er sagt ausdrücklich, Abimelech habe sich Sara nicht genähert, aber er sagt nicht, ob Pharao sich ihr genähert hat oder nicht. Theodoret 35 36 37 38

Esther, Kap. 2. In Tradit. hebraic. in Genes. Man sehe Pererius in Genes. 12, 19. (…). Pererius in Genes., Kap. 20, gegen Ende. Homil. 31 in Genes.

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glaubt,39 der heilige Geschichtsschreiber habe sich so vorsichtig hinsichtlich Abimelechs ausgedrückt, um der Verleumdung den Mund zu stopfen, weil Sara in demselben Jahr niederkam, in dem sie bei diesem Fürsten gewesen war.

(D) Man kann Abraham nicht wirklich entschuldigen. Denn abgesehen von dem oben Gesagten, würde es die verderbliche Lehre von den Äquivokationen nicht stützen, wenn erst einmal feststünde, daß weder er noch Sara gelogen hätte? Die Streiter gegen die schlechte Moral eines Lessius und einiger anderer Jesuiten sagen ganz entschieden, daß lügt, wer Antworten gibt, die keine Beziehung auf die Absicht des Fragenden haben. Obwohl diese Antworten nichts als die Wahrheit enthalten, sind sie trotzdem Lügen. Denn wenn z. B. ein Sohn Kains von Leuten, die wissen wollten, wer sein Vater ist, formell befragt würde, wer er sei, und zur Antwort gäbe, Kain sei sein Onkel, so hätte er nichts gesagt, was nicht der Wahrheit entspricht, weil es sicher ist, daß seine Mutter Kains Schwester war. Dennoch wäre seine Antwort nicht frei von Täuschung. Entsprechend mit Sara: Abimelech fragt sie nach ihrer Beziehung zu Abraham. Er hat alles Recht der Welt zu dieser Frage, denn er ist der König des Landes. Er möchte wissen, ob Sara eine verheiratete Frau ist oder nicht; danach muß sich sein Verhalten gegenüber Sara richten. Sie gibt zur Antwort »Ich bin Abrahams Schwester«; ihr Ehemann, der ihr diese Antwort nahegelegt hat, antwortet seinerseits »Ich bin Saras Bruder«. Bedeutet das unter diesen Umständen nicht soviel wie »Die Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist die hauptsächliche, die zwischen uns besteht«? Und wäre diese Antwort nicht eine formelle Lüge? Wenn man jemanden, der in alle Geheimnisse einer großen Verschwörung eingeweiht ist, fragte, »Was wißt Ihr davon?« und zur Antwort gäbe er, «Ich weiß dies darüber«, und das nicht

39

Bei Pererius zu Kap. 12, Vers 19.

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das Wichtigste wäre, würde er nicht täuschen und lügen? Denn seine Antwort wäre gleichbedeutend mit «Ich weiß nur dies darüber«. Ein Genesis-Kommentator,40 der beweisen will, daß Eheschließungen zwischen Bruder und Schwester zu Abrahams Zeit unbekannt waren, macht dazu diese Anmerkung: Sobald Sara gesagt hatte, sie sei Abrahams Schwester, glaubte man nicht mehr, daß sie seine Frau sei; also seien diese beiden Beziehungen für unvereinbar gehalten worden. Dieser Schluß ist falsch. Denn nehmt meinetwegen an, daß solche Eheschließungen in einem Land statthaft seien: Auf jeden Fall wird es dann dort üblich sein, daß die Schwester nach der Heirat nicht mehr kurz und bündig die Schwester ihres Ehemanns heißt, sondern seine Frau, so daß jede Schwester, die nicht als Ehefrau eines Mannes bezeichnet wird, sondern nur als seine Schwester, von da an nicht als seine Ehefrau betrachtet werden wird. Das ist der Grund, warum Abraham und Sara notwendigerweise und augenscheinlich die Ägypter wie die Philister getäuscht haben, indem sie ihre Ehegattenbeziehung verschwiegen und nur die Geschwisterbeziehung erwähnten, obwohl diese Völker im übrigen die Vereinbarkeit dieser Beziehungen kannten. Es genügte aber, um von Abraham getäuscht zu werden, daß sie wußten, daß die eine Beziehung die andere ungefähr so aufsog, wie die Vatereigenschaft in der Person Kains die Onkeleigenschaft hinsichtlich seiner Kinder aufsog. Mit einem Wort, die Unterdrükkung einer Wahrheit ist jedesmal der Wirkung nach eine Lüge, wenn sie dazu bestimmt ist, daß sich der Hörer ein falsches Urteil bildet und wenn er sich gemäß dem jeweils herrschenden Sprachgebrauch ein falsches Urteil bilden muß. Das trifft auf Abraham und Sara zu. Wer leugnet, daß die Kanaaniter Ehen zwischen Bruder und Schwester kannten, sollte das Kapitel des Buches Leviticus lesen, wo dem Volk Gottes Ehen zwischen bestimmten Verwandten verboten werden. Vergessen wir nicht, daß Isaak sich der Täuschungsstrategie seines Vaters aus ähn-

40

Pererius zu Kap. 11. Bellarmin, Liber de matrimon., Disput. 16, Kap. 28, argumentiert ähnlich.

Sara

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lichem Grunde bediente; auch er sagte aus Furcht, getötet zu werden, daß Rebekka seine Schwester sei.41

(E) Saras Schönheit (---) hielt (---) bis in ihr 90. Lebensjahr an. Das geht aus Kapitel 20 der Genesis hervor, wo es heißt, daß Abraham, als er in das Land Gerar gekommen war, dort nur als Saras Bruder gelten wollte, was zur Folge hatte, daß König Abimelech sie zu heiraten verlangte. Die Geburt Isaaks war dem Patriarchen schon angekündigt worden; nun war seine Frau bei dieser Ankündigung schon 90 Jahre alt; also usw. Ich weiß wohl, daß die Schrift an dieser Stelle nicht sagt, daß Sara schön war, aber das läßt sich ohne Schwierigkeit den Umständen dieser Reise entnehmen. Aus Kapitel 12 weiß man, daß Abraham sich in Ägypten als Saras Bruder ausgeben mußte, weil er sah, daß sie schön war und befürchtete, daß man ihn töten würde, um leichter von dieser Schönheit Besitz zu ergreifen. Kaum hatte man Sara gesehen, als man sie ergriff und zu König Pharao brachte. Kann es einen Zweifel geben, daß Abraham im Land Gerar seine Ehe aus einem ähnlichen Grund verschwieg? Er selbst erklärt,42 daß er Angst gehabt hatte, wegen seiner Frau getötet zu werden; er wußte also, daß sie noch schön genug war, um Liebesgefühle zu erwecken. Das Geschehen selbst spricht eine noch klarere Sprache. Denn sobald der König von Gerar sie erblickt hatte, ließ er sie zu sich kommen, um sie zu seiner Frau zu machen. Das tat er zweifellos wegen ihrer Schönheit; denn wenn man mit Père Salian sagt, Abimelech habe sie für eine würdige Witwe gehalten, die sich auf die Führung eines Haushalts verstand, und für die Schwester eines Mannes, mit dem er sich zu seinem großen Vorteil verbinden konnte, gibt man sich Illusionen hin. Wahrscheinlich zog Abraham nur deshalb in das Land der Philister, um dort Abhilfe für die Hungersnot zu suchen, die ihn verfolgte. Es war daher ein Leichtes für den Kö41 42

Genesis 26, 9. Genesis 20, 11.

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nig des Landes, Abraham zu gewinnen, ohne dafür das Opfer einer Heirat mit einer 90-jährigen Witwe zu erbringen. Er hätte die Freundschaft des Patriarchen ziemlich teuer erkauft, wenn Sara von den Jahren so gezeichnet gewesen wäre, wie man es in diesem Alter ist. Betrachten wir es also als Tatsache, daß sie noch immer eine schöne Frau war. Ein biederer Kapuzinerpater aus Paris43 stellt sich drolligerweise vor, daß Abimelech Sara nur deshalb entführte, um sich mit ihr über Frömmigkeit zu unterhalten; er war ein Mensch und ein Prophet, sagt er, der es als ein großes Glück ansah, mit Sara ein vertrautes Gespräch über Fragen des künftigen Lebens zu führen. Er glaubte, diese ehrwürdige Mutter werde ihn viele Dinge über das Reich Gottes lehren. Aber wäre er für so spirituelle Absichten wie diese gezüchtigt worden? Was für Phantastereien! Ihre Gespräche wären zweifellos mehr mit Fleisch und Blut vermischt gewesen als mit Frömmigkeit, wenn man ihm freie Bahn gelassen hätte. Wir wollen nicht auf Hugo von Sankt Viktor hören, denn seine Überlegung hat gefährliche Konsequenzen: Wir wollen keine Breschen in die heilige Geschichte schlagen, denn die Gottlosen würden durch sie einbrechen wie die Wölfe in den Schafstall, um dort tausendfache Verwüstung anzurichten. Hugo von Sankt Viktor behauptet nämlich,44 daß Moses Saras Entführung durch Abimelech nicht an die richtige Stelle gerückt, sondern um mehr als 30 Jahre versetzt hat. Noch einmal: wir behaupten, daß Sara so alt war, wie ich sagte, als Abimelech sie heiraten wollte. Wir wollen auch nicht den Ausweg derer wählen, die sagen,45 es sei nicht erstaunlicher, daß Sara noch mit 90 Jahren schön war, als heute eine schöne Frau von 40 Jahren zu sehen, denn das Leben der Frauen, sagen sie, währte damals bis zu 130 Jahren, heute nur 80 Jahre. Mit Verlaub, diese Leute haben sich verrechnet. Was wäre denn nach ihrer Berechnung mit der Erstorbenheit von Saras Mutterschoß, die der Apostel erwähnt?46 43 44 45 46

Boulducus, De eccles. ante legem, Buch III, Kap. 4 bei Heidegger, S. 157. Bei Pererius, I. Disput. in Genes., Kap. 20. Ders., ebd. Römer 4, 19.

Sara

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Warum «ging es ihr nicht mehr nach der Weiber Weise«?47 Wo bliebe Abrahams vielgerühmter Glaube an die Verkündigung von Isaaks Geburt? Ist es heute wirklich so befremdlich, daß eine Frau von 40 Jahren schwanger wird? Korrigieren wir ihre Berechnung: 90 Jahre verhalten sich zu 130 Jahren etwa so wie 56 zu 80. Sie müssen Sara daher mit unseren Schönheiten von 56 Jahren vergleichen. Obwohl es zugegebenermaßen nur sehr selten vorkommt, daß eine Frau von 56 Jahren für wert befunden wird, wegen ihrer Schönheit entführt, geschweige denn als königlicher Leckerbissen für das Bett eines Herrschers bestimmt zu werden, haben dennoch einige von ihnen sich auch in diesem Alter eine Restschönheit bewahrt. Man sehe, was ich an anderer Stelle aus Brantôme über Johanna von Aragon und die Herzogin von Valentinois berichte. Ohne auf Wunder zurückzugreifen, die man so weit wie möglich für große Notfälle aufsparen sollte, dürfen wir somit sagen, die Tatsache, daß Sara in guter körperlicher Verfassung war, kein Wochenbett und keine Belastung durch Stillen kannte, habe ihre Schönheit 90 Jahre lang erhalten können. Prokop glaubt, daß Sara ihre Schönheit zwar verloren hatte, aber in dem Augenblick zurückerhielt, als sie empfängnisfähig gemacht wurde,48 und daß Gott ihr diese beiden Geschenke durch einen speziellen Gunsterweis gleichzeitig machte. Meinetwegen soll er das glauben.

(F) Man sagt (---), sie habe auf allen ehelichen Verkehr verzichtet, seit sie sich unfruchtbar wußte. Wir wollen Pererius zitieren: »Danach geschah es, daß Sara aufgrund ihrer großen Keuschheit und Enthaltsamkeit von der fleischlichen Vereinigung Abstand nahm, sobald sie sich unfruchtbar und gebärunfähig wußte, wie wir anläßlich der folgenden Worte des 18. Kapitels oben gezeigt haben: ›Jetzt, wo

47 48

Genesis 18, 11. (…) Cornel. a Lapide, Genesis-Kommentar, S. 149.

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ich alt bin und mein Gebieter hochbetagt ist, soll ich noch an Liebe denken?‹«49 Es ist gut zu sehen, worauf er das Faktum gründet. Er stützt sich auf diese Worte Saras: »Postquam consenui et dominus meus vetulus est, voluptati operam dabo?«50 (…). Sara spricht zwei Schwierigkeiten an, nachdem sie das Versprechen an Abraham gehört hat, daß seine Frau im folgenden Jahr niederkommen werde. »Ich müßte also trotz meines hohen Alters«, sagt sie, »die Liebkosungen meines Mannes empfangen« – das ist die erste Schwierigkeit. »Aber ist mein Mann nicht zu alt dafür?« – das ist die zweite. Pererius zufolge hat sie also fast den gleichen Einwand erhoben wie die heilige Jungfrau: »Wie kann das sein, wo ich doch keinen Mann kenne?«51 Ich glaube nicht, daß man diesem Autor vernünftigerweise bestreiten kann, daß Saras Worte bedeuten, daß sie und ihr Mann damals völlig enthaltsam lebten; der ganze Rest ist jedoch bloße Erfindung, nämlich daß sie bereits vierzehn Jahre früher überein gekommen waren, gegenseitig Enthaltsamkeit zu üben, d. h. seit Hagar Abrahams Konkubine geworden war. Aber nehmen wir an, dem sei so. Daraus müßten wir schließen, daß sie den Freuden der Ehe ein Ende machte, als sie 75 Jahre alt geworden war. Aber wie kommt Pererius auf den Gedanken, daraus einen der Gründe abzuleiten, warum die Schönheit dieser Dame bis zum Alter von 90 Jahren anhielt? »Ein zügelloses Sexualleben läßt eine Frau schnell altern und macht sie unschön und häßlich.«52 (…). Mag sein. Ich überlasse es den Ärzten, diese Frage zu erörtern. Aber folgt daraus, daß völlige sexuelle Enthaltsamkeit die entgegengesetzte Wirkung hat? D. h. daß sie das Altern verzögert und die Schönheit erhält? In keiner Logik hat diese Art des Schlußfolgerns irgendeine Gültigkeit, da es sehr viele Dinge gibt, bei denen beide Extreme für den Körper wie 49

Pererius in Genes. 20, 2. Torniellus und Cornelius a Lapide sind der gleichen Meinung. 50 Genesis 18, 12. 51 Lukas 1, 34. Zacharias bringt in Vers 18 desselben Kapitels einen Einwand vor, der Saras Einwand ähnelt. 52 Pererius, I. Disput. in Genes., Kap. 20.

Sara

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für den Geist schädlich und verderblich sind. Insbesondere die Folgerung, die hier in Frage steht, wird von der Medizin lebhaft bestritten.53 Aber selbst wenn wir Pererius aus Gefälligkeit zustimmen, wozu würde ihm das in Saras Fall nützen, die ihm zufolge erst mit 75 Jahren begann, sich den ehelichen Rechten zu entziehen?

(G) Um Abrahams Glauben auf die Probe zu stellen. Das könnte zunächst seltsam erscheinen, denn man kann sich kaum ein größeres zeitliches Glück vorstellen als die dauernde Schönheit dessen, was man liebt. Welche Glückwünsche meinen es so gut mit Jungverheirateten wie der folgende: Möget ihr euch gegenseitig niemals alt vorkommen? »Möge sie ihn dereinst als alten Mann noch lieben, doch möge auch sie dem Gatten nicht alt erscheinen, wenn sie es tatsächlich ist.«54 Aber wenn man genau darauf achtet, wird man bemerken, daß eine schöne Frau für jemanden, der mit der Familie unterwegs ist, keine leichte Bürde darstellt, und auf jeden Fall ist Abraham ein Beleg dafür. Wie sehr hat er nicht befürchtet, getötet zu werden, und zu welch ärgerlichen Mitteln hat ihn diese Befürchtung nicht greifen lassen! Wie dem auch sei, ein berühmter Zürcher Theologe hat sich so dazu geäußert: »Ich glaube, daß sich Saras Schönheit nur einem übernatürlichen Geschenk Gottes und seiner besonderen Vorsehung verdankt; denn Gott wollte sie noch in hohem Alter zu Isaaks Mutter machen und zugleich zu einem Prüfstein für Abrahams Glauben und Geduld, die in dieser aus der Schönheit seiner Frau erwachsenden Versuchung auf eine harte Probe gestellt wurden.«55 53

Man sehe Gaspar a Reyes, Elysio jucund. quaest. campo, quaest. 16; hier behauptet er, »daß der völlige Verzicht auf geschlechtliche Vereinigung große Schäden verursacht, besonders bei denen, die daran gewöhnt sind; bei Frauen sehr häufig, bei Männern ganz selten und mit geringerem Schaden«. 54 Martial, Epigr., Buch IV, Nr. 13. 55 Heidegger, Hist. patr., Bd. II, S. 148. Vor ihm hatte Rivet, Opera, Bd. I,

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(K) Der hl. Augustinus hat Abrahams Handlungsweise nicht gut verteidigt. Er führt vier Gründe an. Der erste ist, daß Abraham nicht durch eine Regung sinnlicher Liebe zu dieser Handlung getrieben wurde, sondern durch den Wunsch nach Kindern. (…).67 Der zweite ist, daß er dazu bereit war, nicht um seine Frau zu verletzen, sondern vielmehr um ihr zu gefallen und ihr den Trost zu spenden, den sie sich aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit wünschen mußte. Der dritte ist, daß sich dieses Verhalten auf das Recht stützte, von dem der hl. Paulus in Kapitel 7 des 1. Korintherbriefes spricht: »Gleichermaßen hat nicht der Mann Gewalt über seinen Körper, sondern die Frau.« Hier gibt es kein Fehlverhalten, weder auf Seiten der Frau noch auf der ihres Mannes. Sie übergibt ihre Magd ihrem Gatten im Hinblick auf Nachkommen, er nimmt diese Magd in der gleichen Absicht. (…).68 Der vierte Grund lautet, daß Abraham Hagar wegschickte, sobald seine Frau das wünschte. An anderer Stelle habe ich die Worte des hl. Augustinus in dieser Sache zitiert.69 Leonard le Cocq, der Kommentator dieses Kirchenvaters, widerlegt ihn mühelos. Dem ersten Grund stellt er dieses Axiom des hl. Paulus entgegen: »Man darf nichts Böses tun, damit daraus Gutes erwächst«,70 sowie die gewöhnliche Lehre der Moralisten, daß zu einer guten Handlung nicht nur ein guter Zweck und ein guter Beweggrund gehören, sondern auch ein legitimer Gegenstand. (…).71 Das liefert ihm die Widerlegung des zweiten Grundes, denn wenn der Verkehr des Patriarchen mit seiner Magd in sich schlecht ist, wird er durch Abrahams Eingehen S. 277 das Gleiche gesagt, und Pererius in seinem Genesis-Kommentar noch vor Rivet. 67 Augustinus, De civit. dei, Buch XVI, Kap. 25. 68 Ders., ebd. 69 In Anm. (C) des Artikels HAGAR.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  70 Römer 3, 8. 71 Leonh. Coqueus zu Augustinus, De civitate dei, Buch XVI, Kap. 25, S. 351 meiner Ausgabe.

Sara

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auf Saras Wünsche nicht legitim. Die Ratschläge einer Frau können ebensowenig wie ihre Einflüsterungen den Mann bei illegitimen Handlungen entschuldigen; das wird beim Fall des ersten Menschen augenfällig, der vergeblich vorbrachte, daß die Frau, die Gott ihm gegeben hatte, ihn veranlaßt habe, von der verbotenen Frucht zu essen. Der dritte Grund ist nicht besser als die anderen; denn eine Frau kann das vom hl. Paulus erwähnte Recht ebensowenig auf eine andere Frau übertragen, wie ein Mann das Recht, das er über seine Frau hat, an einen anderen Mann abtreten kann. (…).72 Leonard le Cocq sagt nichts über den vierten Grund, weil er ihn nicht als ein Verteidigungsmittel betrachtete; aber selbst der Dümmste kann leicht erkennen, daß er nur zeigt, daß der Patriarch nicht durch unlautere Beweggründe dazu veranlaßt wurde, Hagar wegzuschicken. Auf einen illegitimen Verkehr leicht und prompt zu verzichten, ist schön und gut, aber das beweist nicht, daß Abraham ihn legitim vollzogen hat. Dieser Kommentator nimmt an, der hl. Augustinus habe diese Gründe nicht als überzeugende Beweise für die Reinheit von Abrahams Verkehr mit Hagar vorgebracht, sondern nur als Beweise zur Widerlegung der Behauptung der Manichäer, dieser Patriarch sei unsterblich in Hagar verliebt gewesen und habe mit ihr geschlafen, um seine Leidenschaft zu befriedigen. Er nimmt ferner an, eben dieser Kirchenvater habe den überzeugenden Beweis für Abrahams Unschuld sehr wohl gekannt, nämlich daß es eine wirkliche Heirat zwischen Hagar und ihrem Herrn gegeben habe. Im Anschluß hieran prüft er die drei Gründe, die der hl. Ambrosius für Abrahams Unschuld vorgebracht hat. Der erste stützt sich darauf, daß Abraham vor dem Verbot des Ehebruchs durch das Gesetz Gottes lebte. »Abraham lebte vor dem mosaischen Gesetz und vor dem Evangelium, als der Ehebruch noch nicht verboten schien; die Strafe für ein Vergehen gilt ab dem Zeitpunkt des Gesetzes, das es verbietet, und es gibt keinerlei Verurteilung einer Sache vor einem entsprechenden Gesetz.«73 Der zweite Grund ist iden72 73

Ders., ebd. Ambrosius, De Abrah., Buch I, Kap. 4, bei Coqueus, a. a. O.

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tisch mit dem ersten und zweiten des hl. Augustinus. Der dritte beruht darauf, daß die Verbindung von Abraham und Hagar eines der Vorbilder des Alten Testaments war. Der Kommentator merkt an,74 daß Sixtus von Siena75 im ersten Grund des hl. Ambrosius zwei Prinzipien gesehen hat, die der herrschenden Meinung unter Theologen fremd sind, erstens daß Abrahams Handlung ein Ehebruch war, und zweitens, daß der Ehebruch zu jener Zeit erlaubt, weil noch nicht vom Gesetz verboten war. Er behauptet, daß Hagar Abrahams legitime Frau war und daß der Ehebruch ein Verbrechen war, schon bevor die positiven Gesetze ihn verurteilten. Es genügte, daß er dem Naturgesetz widersprach. (…).76 Was den dritten Grund des hl. Ambrosius angeht, so widerlegt er ihn mit dem Aphorismus, daß die Eigenschaft, ein Vorbild zu sein, den Dingen keine Moralität verleiht und ihnen folglich auch nicht das Böse nimmt, das ihnen anhaftet. »Meistens«, sagt der hl. Gregor,77 »ist eine Sache als bloßes Ereignis betrachtet eine Tugend, in ihrer Bedeutung aber eine Verfehlung, und manchmal ist eine Tat in ihrem Vollzug eine Ursache der Verdammnis, in der schriftlichen Überlieferung aber eine Verheißung der Tugend.« Der hl. Augustinus kennt das gleiche Prinzip: »In den Sünden großer Persönlichkeiten«, sagt er,78 »läßt sich mitunter das Vorbild künftiger Dinge bemerken und aufspüren.« Wir wollen hier vier Bemerkungen machen. Erstens schreibt Leonard le Cocq dem hl. Augustinus ein wenig umsichtiges und wenig aufrichtiges Verhalten zu. Er kannte den wahren Beweis der Unschuld Abrahams, sagt er, aber er unterdrückt ihn. Er beschränkt sich darauf, ihn hinsichtlich des Vorwurfs, er sei in seine Magd verliebt gewesen, zu entschuldigen. Aber ist das genug? Hätten ihm nicht die Manichäer hinreichend schwere 74

Leonh. Coqueus, a. a. O., S. 352. 75 Sixt. Senensis, Biblioth. sancta, Buch V, Erläuterung 44, bei Coqueus, a. a. O. 76 Leonh. Coqueus zu August., De civit. dei, Buch XVI, Kap. 25, S. 352. 77 Gregor, Moral., Buch III, Kap. 16, bei Coqueus, a. a. O. 78 August., De doctr. christ., Buch III, Kap. 23 bei dems., a. a. O.

Sara

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Vorwürfe gemacht, selbst wenn sie der Auffassung zustimmten, er habe sich nicht in Hagar verliebt? Der hl. Augustinus hätte also auf derartige Vorwürfe antworten müssen, und das hat er sicherlich getan. Er behauptet, daß man unter den geschilderten Umständen einen Mann rechtfertigen könnte, der mit der Magd seiner Frau schläft. Aber wenn das so ist, hat es jemals eine laxere Moral gegeben als die seinige? Würde man heute nicht Moralisten wie Bauny und Escobar vernichtend kritisieren, wenn sie lehrten, eine Frau dürfe ihren Mann ermutigen, sich mit ihrer Magd zu vergnügen, und ein Mann dürfe diesem schönen Ratschlag folgen, vorausgesetzt, die beiden hätten einzig und allein ihre Nachkommenschaft im Auge? Sagt mir nicht, der hl. Augustinus habe nur an die Zeit Abrahams gedacht; denn da er sich auf das Recht beruft, das der hl. Paulus einem Mann über seine Frau und einer Frau über ihren Mann gibt, will er zweifellos Gründe für alle Zeiten liefern. Wir haben an anderer Stelle gesehen,79 was der hl. Augustinus zu der Handlungsweise des Acindynus sagt. Meine zweite Bemerkung ist, daß Calvins Einsichten in dieser Frage viel reiner sind als die der alten Kirchenväter. Er verurteilt Abrahams und Saras Verhalten rundheraus und ohne Umschweife, er sieht keinerlei Entschuldigung für sie in dem Brauch der Vielehe, der sich bei den Völkern bereits durchgesetzt hatte, er spricht ihnen das Recht ab, das Gesetz zu mißachten, das Eheleute aneinander bindet. (…).80 Er sagt sogar, daß Abrahams Fall eine Mahnung für uns sein muß, sorgfältig auf der Hut zu sein vor den Nachstellungen Satans, der uns nicht allein durch augenscheinlich verbrecherische Personen angreift, sondern auch mittels guter Menschen. (…).81 An dritter Stelle sage ich, daß die Freiheit, die Calvin sich nimmt, die Handlung Saras und ihres Gatten heftig zu tadeln, für die christliche Moral unvergleichlich förderlicher ist als die Bemühungen der Kirchenväter, Abraham und seine Gattin zu entschuldigen. Diese haben die allgemeinen 79 80 81

Man sehe die Anmerkungen im Artikel ACINDYNUS, Septimius. Calvin zu Genesis 13, 1. Ders., a. a. O., Vers 2. Man sehe auch, was er ein wenig später sagt.

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Interessen der Moral dem Ansehen einer Einzelperson geopfert, und beinahe möchte ich auf alle, die von diesem Geist beseelt sind, jenes schöne Wort Ciceros anwenden: »Ihr verratet die Stadt der Philosophie, während ihr ihre Vororte verteidigt.«82 Schließlich merke ich an, daß Josephus sich herausnimmt, etwas zu unterstellen, wovon die Schrift kein Wort sagt, nämlich daß Gott selbst Sara befohlen habe, Hagar zu Abraham ins Bett zu legen.83 Da haben wir genau den Deus ex machina der Tragödiendichter und den sprichwörtlichen ›heiligen Anker‹. Mehrere Genesis-Kommentatoren führen diesen Historiker hierzu als Gewährsmann an und behaupten, daß der hl. Augustinus das Gleiche nahegelegt habe. (…).84 So kann man jeden Gordischen Knoten durchhauen.

Man sehe den Artikel FRANZ I., Anm. (P).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  83 (…). Josephus, Antiq., Buch I, Kap. 11, S. 17 C. 84 Cornel. a Lapide, zu Genesis 16, 2. Man sehe auch Mersenne, Observat. in problem. veneti, Nr. 119, S. 165. 82

SENNERT, Daniel

sennert, Daniel, ein berühmter Arzt, wurde am 25. November 1572 in Breslau als Sohn eines Schusters geboren. Im Jahr 1593 wurde er auf die Universität Wittenberg geschickt, wo er große Fortschritte in Philosophie und Medizin machte.a Er besuchte die Universitäten Leipzig, Jena, Frankfurt an der Oder und ging dann 1601 nach Berlin, um den Beruf des Arztes zu erlernen, hielt sich dort jedoch nicht lange auf und kehrte bald nach Wittenberg zurück, wo er am 10. September desselben Jahres zum Doktor der Medizin promoviert und ein Jahr später zum Professor in derselben Fakultät ernannt wurde. Er führte das Chemiestudium an dieser Universität ein und erwarb sich durch seine Veröffentlichungen und die Ausübung seines Arztberufes großes Ansehen. Er war dreimal verheiratet; von seinen beiden letzten Frauen hatte er keine Kinder, aber sieben von der ersten. Am 21. Juli 1637 starb er in Wittenberg an der Pest.b Durch die Freiheit, mit der er es wagte, den Alten zu widersprechen, hat er sich Gegner gemacht, aber nichts ist übler aufgenommen worden als die von ihm vertretene Ansicht über den Ursprung der Seele. Er glaubte, daß der Samen aller Lebewesen beseelt sei (C) und daß die Seele dieses Samens die Körpergestalt hervorbringe. Unter dem Vorwand, er habe gelehrt, die Seele der Tiere sei nicht materiell (D), beschuldigt man ihn der Blasphemie und der Gottlosigkeit; denn man behauptet, dies bedeute soviel wie die Lehre, daß sie ebenso unsterblich sei wie die Seele des Menschen. Er hat diese Folgerung zurückgewiesen; im Unterschied a

»Er machte in seinen philosophischen Studien so große Fortschritte, daß er am 3. April 1597 als Viertbester von 58 Kandidaten mit dem Lorbeerkranz ausgezeichnet wurde.« Vita Sennerti, eingangs seiner Opera. b Seiner Lebensbeschreibung eingangs der Opera entnommen. Man sehe auch seine von August Buchner gehaltene Leichenrede. Man findet sie in Wittes Memoriae medicorum, S. 88 f.

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zu anderen wagte er nicht die Behauptung, daß die Seele der Tiere nach dem Tod des Subjekts fortbestehe, das sie mit Leben erfüllt hatte (E). Er vertrat eine ganz eigentümliche Meinung über die Ursache der Metalle und Mineralien, denn er legte deren Bildung intelligenten und geistigen Wesen bei (F).

(C) Er glaubte, daß der Samen aller Lebewesen beseelt sei. Zu dieser Auffassung wurde er durch die Schwierigkeiten gebracht, die er in anderen Meinungen hierüber fand. Er hielt die gewöhnliche Ansicht der Scholastiker für absurd,5 der zufolge die substantiellen Formen nicht hervorgebracht werden. Denn, so sagen sie, die Eigenschaft, hervorgebracht worden zu sein, muß dem von Natur aus Zusammengesetzten und nicht seinen Teilen zukommen. Er teilte nicht die Ansicht Avicennas, der zufolge es eine himmlische Intelligenz gibt, die der Bildung der Seelen vorsteht und die sich der Samen lediglich als eines Instrumentes bedient. (…).6 Noch weniger schloß er sich der Meinung von Fernel an,7 wonach der Himmel die Seelen bildet und sie in eine wohlvorbereitete Materie entsendet. Ganz zu Recht hat er die gewöhnliche Meinung der Scholastiker verspottet, daß die substantiellen Formen der Macht der Materie entnommen sind (…). Das ›schöpferische Vermögen‹, das einige Autoren dem Samen beigelegt haben, wurde von ihm verworfen.8 Folglich hielt er die Ansicht einiger alter wie moderner Autoren für zutreffend, daß sich die Seele vor der Körperbildung im Samen befindet und daß sie es ist, die jene bewunderns5

Toletus, die Conimbricenser und andere. Sennert, De generat. viventium, Bd. I, Kap. 1, S. 123 der Ausgabe Leiden 1676. 6 Sennert, a. a. O., Kap. 2. 7 Fernel verteidigt in De abdit. rerum causis, Buch I, an mehreren Stellen scharf seine Ansicht, daß jede Seele vom Himmel kommt und jede Seele vom Himmel in eine vorbereitete und geeignete Materie gesandt wird. Ders., ebd., S. 124. 8 Man sehe Buch I von Jakob Schegk, De plast. seminis facultate, bei Sennert, a. a. O., Kap. 5, S. 127.

Sennert, Daniel

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würdige Maschine formt, die wir ›lebender Körper‹ nennen. Er zitiert9 zwei schöne Passagen aus Galen10 und Titelmann11 mit der Beschreibung des Kunstwerks, das man bei Pflanzen und Tieren antrifft. Letzterer Autor findet weit größeren Anlaß zum Staunen in der gewöhnlichen Art der Zeugung als in der allerersten Hervorbringung beseelter Arten; und in der Tat versteht man leichter, daß Gott Pflanzen und Tiere unmittelbar hervorbringt, als daß der Samen die Kraft hätte, organisierte Körper hervorzubringen – diese so kunstvoll gebauten Maschinen, im Vergleich zu denen sämtliche Werke der Mathematiker lediglich grobe Klötze und kindische Erfindungen sind. (…).12 Galen konnte nicht begreifen, was die gewöhnliche Ursache eines so ausgezeichneten Werkes ist, aber unser Sennert stellt sich vor, daß eine jede der im Samen enthaltenen Seelen die ihrer Art entsprechende Fähigkeit und Geschicklichkeit zur Gestaltung der Materie hat. (…).13 Ich würde lieber wie Galen sagen, daß wir hiervon nicht das Geringste begreifen, als daß ich einer in einem kleinen Ei verborgenen Seele die erforderliche Geschicklichkeit zuschreiben wollte, den Körper einer Ameise, eines Hühnchens usw. zu bilden. Sennert war sehr erfolgreich in der Widerlegung von Hypothesen, die sich von der seinen unterschieden, aber er nimmt gewisse Dinge an, die man nicht begreifen kann. Er behauptet,14 daß die Seelen keine Quantität haben und unteilbar sind, daß sie sich aber dennoch, jede in ihrer Art, vervielfältigen können; d. h. daß die Seele eines Hundes mehrere andere Hundeseelen hervorbringt. Das wäre eine wahrhafte Schöpfung und ein schwierigeres Werk als die Verwandlung der Materie des Samens in einen organisierten Körper. Wenn ihm die nach seinem Tod aufgestellte Lehre bekannt gewesen wäre, so glaube

9

Ebd., S. 130. Galen, De usu part., Buch III, Kap. 10. 11 Franz Titelmann in seiner »Physik«, Buch VIII, Kap. 11. 12 Titelman, a. a. O., bei Sennert, De generat. vivent., Buch I, Kap. 1, S. 130. 13 Sennert, ebd. 14 Sennert, a. a. O., S. 132, Sp. 1 und 2. 10

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ich, daß er sie aus vollem Herzen angenommen hätte. Es ist diejenige, von der ich oben gesprochen habe15 und die dem berühmten Herrn Leibniz Anlaß zu so schönen ersten Einsichten gegeben hat; es ist die der modernen Naturwissenschaftler, die, nachdem sie durch das Mikroskop die Existenz von Lebewesen in den Samen entdeckt haben, der Ansicht sind, daß die lebenden Körper vor der Geburt organisiert sind, und das offensichtlich seit dem Ursprung der Dinge. Das führt sie zu dem Gedanken, daß die Seelen seit dem Anfang der Welt ständig mit demselben organisierten Körper verbunden gewesen sind und daß die Zeugung oder die Geburt nur die Ausdehnung oder das Wachstum des Individuums sei, welches das ursprüngliche und beständige Subjekt der Seele ist; daß dieses Subjekt durch den Tod nicht zerstört wird, sondern dabei nur die Teile der Materie verliert, die es haben wachsen lassen; daß sie davon in einer anderen Wiedergeburt neue erhält usw. Diese Lehre vertreibt die unergründlichen Schwierigkeiten, in die man gestürzt wird, wenn man die Ursache der Bildung der Körper angeben will.

Ob die allgemeinen Bewegungsgesetze zur Bildung der Körper ausreichen Zuflucht zu Gott als der unmittelbaren Ursache zu nehmen, heißt nicht zu philosophieren; Zuflucht zu den allgemeinen Gesetzen der Bewegungsmitteilung zu nehmen, ist eine armselige Lösung. Denn weil alle Schulrichtungen darin übereinstimmen, daß diese Gesetze nicht imstande sind, ich will nicht einmal sagen eine Mühle oder eine Standuhr, sondern nur das gröbste Instrument hervorzubringen, das man in der Werkstatt eines Schlossers sieht, wie sollten sie da in der Lage sein, den Körper eines Hundes oder auch eine Rose oder einen Granatapfel hervorzubringen? Zuflucht zu den Sternen oder zu den substantiellen Formen zu nehmen, ist eine erbärmliche Ausflucht. Hier wird eine Ursache verlangt, die eine Vorstellung von ihrem 15

Im Artikel RORARIUS, Anm. (H).

Sennert, Daniel

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Werk hat und die Mittel zu seiner Hervorbringung kennt. All das ist für diejenigen erforderlich, die eine Uhr oder ein Schiff bauen. Aus weit triftigerem Grund muß es in demjenigen anzutreffen sein, was die Bildung der Lebewesen schafft. Es ist ganz sicher, daß die Sterne keinerlei Vorstellung vom menschlichen Körper haben und daß ihnen die Art und Weise unbekannt ist, wie er gebildet wird. Die Peripatetiker räumen ein, daß die substantiellen Formen der Pflanzen und der Tiere nicht wissen, wie man die Materie modifizieren muß, um ihr die Organe eines Baumes oder eines Hühnchens zu verleihen. Folglich sind sie nicht die Ursache dieser Körperbildung. Wer sagt, daß die substantiellen Formen doch die Ursache dafür sind, obwohl sie den kunstvollen Bau dieses Werks nicht kennen, ist tausendmal verrückter als jemand, der sagen würde, ein Mensch könne eine Uhr herstellen, ohne darüber nachzudenken, ohne jemals eine Vorstellung von ihr gehabt zu haben, ohne zu wissen, was er tut und was er vorhat. Dieser Einwand bringt die Lehre von Sennert zu Fall, denn er hätte die Behauptung nicht gewagt, daß die von ihm im Samen der Pflanzen und Tiere angenommene Seele die Vorstellung von allen Organen der Pflanzen und Tiere haben und die Art und Weise kennen würde, sie zu bilden und an ihren gehörigen Ort zu setzen. Man hätte ihm also eine sehr gute Unterstützung geboten, wenn man ihm gezeigt hätte, daß es organisierte Individuen im Samen gibt, denn es ist weitaus leichter vorstellbar, daß eine mit solchen Individuen vereinte Seele sie wachsen lassen kann, als zu begreifen, daß sie einen Tropfen Flüssigkeit organisieren und in den Körper eines Hundes verwandeln könnte. Ich kenne tüchtige Leute, die sich zu begreifen schmeicheln, daß die allgemeinen Gesetze der Bewegungsmitteilung, so einfach und gering an Zahl sie auch sind, ausreichen, um einen Fötus wachsen zu lassen; vorausgesetzt, man nimmt an, er sei bereits organisiert. Doch ich bekenne meine Schwachheit, ich vermag das nicht zu begreifen. Damit aus einem kleinen organisierten Atom ein Hühnchen, ein Hund, ein Kalb usw. wird, erscheint es mir erforderlich, daß eine intelligente Ursache die Bewegung der Materie lenkt, die das Atom wachsen läßt; eine

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Ursache, sage ich, die sowohl eine Vorstellung von dieser kleinen Maschine besitzt als auch über die Mittel verfügt, sie auszudehnen und entsprechend der ihr angemessenen Proportionen wachsen zu lassen. Man wird mir sicherlich zugestehen, daß es nicht verständlicher ist, daß die Bewegungsgesetze die einzige Ursache für die Erbauung eines kleinen Hauses sind, als daß sie es in einen großen Palast verwandeln, in dem jedes Zimmer, jede Tür, jedes Fenster usw. dieselben Proportionen behält, für die sich der Architekt des kleinen Hauses entschieden hatte.16 Wenn diese beiden Dinge gleichermaßen schwierig sind, warum sollten wir dann glauben, daß die Bewegungsgesetze, die außer Stande sind, den kleinsten Krümel Materie zu gestalten, die Fähigkeit besitzen sollten, ihn, sofern er bereits organisiert wäre, in ein tausendmal größeres Tier zu verwandeln und dabei die Proportionen bei einer fast unendlichen Anzahl verschiedenster Organe zu beachten; die einen weich, andere flüssig, wieder andere hart usw.? Ich fände es folglich ganz wahrscheinlich, daß das Wachstum des Fötus, der, wenn man so will, seit Anfang der Welt gestaltet ist, von einer besonderen Ursache gelenkt wird, die eine Vorstellung dieses Werks hat und über die Mittel verfügt, ihn wachsen zu lassen, so wie ein Architekt die Vorstellung eines Gebäudes hat und über die Mittel verfügt, es zu vergrößern, wenn er einen fertigen Bauplan ausführt, den er vor sich auf seinen Tisch legt. Viele Leute werden mir zugeben, daß sich die Tiere in der Gebärmutter entwickeln, sich dort ernähren und dort durch die Lenkung einer Vorsehung wachsen; aber sie werden behaupten, daß Gott alle diese Wirkungen leitet.17 Ich halte ihnen entgegen, daß sie die Fragestellung verändern, denn

16

Man beachte, daß ich folgenden Unterschied zwischen der Vergrößerung eines Hauses und dem Wachsen eines Fötus einräume: die Organe dieses Fötus sind Formen, durch welche die neue Materie durchsickern und sich verteilen kann. Ein kleines Haus hat nichts Vergleichbares. 17 Nachdem Alonso Caranza, ein spanischer Rechtsgelehrter, in Kap. 1 seiner Abhandlung De partu natur. et legitimo alle Ursachen zurückgewiesen hat, die für die Bildung unseres Körpers angeführt werden, schreibt er sie Gott zu. Sennert, De gener. viventium, Kap. 12, S. 144 widerlegt ihn.

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wir suchen hier nicht die erste Ursache, den allgemeinen Urheber aller Dinge; wir suchen die Zweitursache, den besonderen Grund jeder einzelnen Wirkung. Gott bei dieser Untersuchung als einzigen Grund anzugeben, heißt nicht zu philosophieren. Ich bitte euch, sagt mir: Wenn es vernünftige Bewohner auf den Planeten gäbe und diese in eines unserer Häuser hinabstiegen und Mutmaßungen über den Gebrauch der Zimmer, der Fenster, der Türen, der Schlösser usw. anstellen würden und sich schließlich damit zufriedengäben, die Vorsehung Gottes zu bewundern, der ein derart bequemes Gebäude für den Menschen errichtet hätte, würde man sie nicht zu Recht für Dummköpfe halten? Sie wüßten nicht, daß dieses Gebäude von Menschen gebaut wurde und daß ein menschlicher Architekt die Lage der Steine, der Dielen usw. den Zwecken gemäß angeordnet hat, die er erreichen wollte. Zwar hat der Mensch diese Intelligenz von Gott erhalten, aber nicht Gott ist die nächste, natürliche und unmittelbare Ursache dieses Gebäudes. Wir wollen dasselbe über die Maschinerie der Bäume und Tiere sagen. Sie hängt von der besonderen Leitung irgendeiner Sekundärursache ab, die von Gott die Kenntnisse und Geschicklichkeit erhalten hat, die man für dieses Werk benötigt. Die Schwierigkeit liegt in der Bestimmung dieser Zweitursache. Einige vertreten die Ansicht, daß die substantielle Form eines jeden Mischwesens ein Geist ist, dem Gott die erforderlichen Kenntnisse zur Hervorbringung des Temperaments und der Wirkungen dieses Mischwesens verliehen hat.18 Henry More, der an die Präexistenz der Seelen glaubte,19 lehrte, daß sie sich selbst durch die Vereinigung mit der Materie in dieser eine organisierte Wohnstatt erbauen. Diese Lehre wird durch unsere Unkenntnis dessen widerlegt, was zur Zusammenfügung der Nerven, Adern, Knochen usw. erforderlich ist. Man könnte antworten, daß die Seele alle diese Vorstellungen verliert, sobald ihre Wohnstatt fertig ist, weil die Grobheit der Organe des menschlichen Körpers die GemeinMan sehe oben Anm. (N) des Artikels MORIN, Jean Baptiste.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  19 Henr. Morus, De anima, Buch II, Kap. 4. 18

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schaft zerbricht, die sie zuvor mit sehr subtilen okkasionellen Ursachen gehabt hat. Ich würde jedoch lieber annehmen, daß nicht die Seele selbst die Bewegungen leitet, die den Fötus wachsen lassen; ich würde diese Leitung lieber einem anderen Geist zusprechen. Wer die Annahmen Avicennas20 verbessern wollte, könnte sagen, daß es eine geschaffene Intelligenz gibt, die der Gestaltung der Tiere vorsteht und die daraus gleichsam eine Art allgemeinen Handwerksbetrieb macht; daß sie unzählige Arbeiter unter sich hat, die einen für die Körper der Vögel, die anderen für die der Fische usw., ganz genau so, wie wir in unseren Städten verschiedene Arten von Handwerkern haben; die einen machen Uhren, die anderen Kleider usw.

(D) Man beschuldigt ihn (---) der Gottlosigkeit unter dem Vorwand, er habe gelehrt, die Seele der Tiere sei immateriell. Er weist die Meinung zurück,21 die Tierseele sei nicht edlerer Natur als die Elemente, und er behauptet, daß sie ihrer Natur nach ebenso unsterblich ist wie die Seele des Menschen, derart, daß wenn diese nicht wie die Tierseele mit dem Körper untergeht, das auf einer besonderen Gnade des Schöpfers beruht.22 Er konnte nicht leugnen, daß er den Tierseelen eine unkörperliche Natur beigelegt hat, denn er räumte ein, daß sie nicht von der Materie hervorgebracht worden sind. Er verspottete die Folgerung der Scholastiker, nahm aber Abstand von der Behauptung, sie seien unsterblich. Freitag,23 der mit viel Wut gegen ihn schrieb, hat nicht vergessen, ihm vorzuwerfen, daß er Gottlosigkeiten lehre und Blasphemien äußere. So kam es, daß man zu Sennerts Rechtfertigung ein Werk veröffentlichte mit 20

Man sehe oben Fußn. (6). 21 Sennert, De gener. viventium, Kap. 9, S. 137. 22 »Ohne den göttlichen Willen und ohne besondere Gnade den Menschen gegenüber würden die menschlichen Seelen ebenso untergehen wie die der Tiere.« A. a. O., Kap. 14, S. 147. 23 Arzt und Philosophieprofessor zu Groningen.

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dem Titel De origine et natura animarum in brutis sententiae clariss. theologorum in aliquot germaniae academiis, quibus simul Daniel Sennertus a crimine blasphemiae et haeresios a Joh. Freitagio ipsi intentato absolvitur.24 Freitag läutete die Alarmglocke und wendete sich an sämtliche Universitäten der Christenheit sowie an alle Anhänger der Rechtgläubigkeit und ermunterte sie nachdrücklich, diese verderblichen Neuerungen nicht zu dulden. Er fragte die Theologen, ob sie die gottlose Meinung duldeten, die der Tierseele die Unsterblichkeit beilegt, die Metempsychose wieder einführt usw. (…).25 Er nimmt an, daß die meisten Professoren von Wittenberg diese Ungeheuerlichkeiten ersticken wollten, daß aber das Ansehen ihres Kollegen sie daran hinderte, sich zu regen. (…).26 Sennert beklagte sich, daß man ihm Folgerungen anlaste, die er nicht gelehrt hatte. »Aber es ist boshaft«, sagt er,27 »daß Freitag mir allenthalben Meinungen zuschreibt, die mir niemals in den Sinn gekommen sind. Nicht zuletzt soll ich die Unsterblichkeit der Tierseele behauptet haben, wie er schreibt. Ich werde Freitag solange nicht für einen rechtschaffenen Menschen halten, bis er mir die Stelle gezeigt hat, an der ich gesagt habe, daß die Seele eines Hundes, eines Pferdes, eines Ochsen, eines Löwen, einer Gans, einer Ente, eines Raben und ähnlicher Tiere unsterblich sei und nach dem Tod fortbestehe. Einwandfreie Schlüsse, durch die er das aus meinen Meinungen herauspressen will, gibt es nicht. 24

Im Jahr 1638 in Frankfurt in Oktav. Man sehe Lindenius renovatus, S. 237. 25 Joh. Freitagius, in der Apolog. ad orbis christiani academias, S. 18. Sie findet sich eingangs des Buchs mit dem Titel Novae sectae SennertoParacelsicae recens in philosophiam et medicinam introductae, qua antiquae veritatis oracula, et Aristotelicae ac Galenicae doctrinae fundamenta convellere et stirpitus eruderare moliuntur novatores, detectio et solida refutatio, gedruckt zu Amsterdam im Jahr 1637 in Oktav. 26 Joh. Freitag in der Apolog. ad orbis christiani academias, S. 18. 27 Sennertus, Epist. ad Joh. Sperlingen in dem Buch mit dem Titel Defensio tractatus de origine formarum pro D. Daniele Sennerto, contra D. Johannem Freitag. Auctore M. Johanne Sperlingen, Phys. Prof. P., Wittenberg 1638 in Oktav.

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Wenngleich nämlich die Seelen der Insekten und der spontan entstandenen Wesen, nachdem sich ihr organischer Körper für unsere Sinne aufgelöst hat, in der gleichsam wie Samen fungierenden Materie eine Zeitlang fortbestehen können, so sind sie doch nicht unsterblich, sondern gehen zu ihrer Zeit unter. Die Tierseelen sind auch deshalb nicht unsterblich, weil sie von Gott aus nichts geschaffen wurden. Es ist nämlich entgegen seiner Meinung kein unerschütterliches Gesetz, daß etwas, was einmal existiert hat, nicht vernichtet werden könnte. (…).« Es ist durchaus möglich, daß Sennert, obwohl er ein fähiger Mann war, nicht bemerkt hat, daß sich die ihm beigelegten Konsequenzen auf natürliche Weise aus seinem Grundsatz ergeben, aber es ist noch wahrscheinlicher, daß er das sehr wohl einsah, es aber nicht zuzugeben wagte, propter metum judaeorum  aus Angst vor den Juden *. Er wollte sich daher lieber durch die Zurückweisung dieser Konsequenzen dem Vorwurf aussetzen, schlecht zu räsonieren und seine Lehre zu verwischen, als all die Folgen auf sich nehmen, welche die Lehre von der Unsterblichkeit der Tiere nach sich ziehen konnte. Wie dem auch sei, jeder Philosoph, der Anspruch auf konsequentes Räsonieren erhebt, wird stets lieber sagen, er wisse nicht, was die Tierseele sei, als zu behaupten, sie sei einerseits aus dem Nichts geschaffen sowie unabhängig von der Materie und andererseits kein erschaffenes Wesen und falle in dem Augenblick ins Nichts zurück, in dem das Lebewesen aufhöre zu leben. Das waren Sennerts verworrene Ansichten. Sein Verteidiger28 erklärt ausdrücklich, daß die Tierseele aus nichts gemacht ist, dennoch aber nicht durch Schöpfung entstanden ist. Er zitiert Dannhauer,29 der am Beispiel der intellektuellen Gattungen gezeigt hat, daß alles, was aus nichts entstanden ist, kein geschaffenes Wesen ist. Er

 Gemeint ist »aus Angst vor seinen Feinden«. Die sprichwörtliche Redensart geht auf Joh. 9, 22 zurück. Hgg.  28 Sperlingen, S. 182 in dem Buch, dessen Titel ich gleich anführen werde. 29 Dannhauer, Collegium psych., Disput. VI. *

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zitiert Thummius,30 der dasselbe am Beispiel der Fähigkeiten der Seele gezeigt hat. Auf diese Weise gehen die Peripatetiker allen Schwierigkeiten durch Argumente ad hominem aus dem Wege. Freitag wirft Daniel Sennert immer wieder die Unsterblichkeit der Tierseele vor; er läßt sich sogar zu der poetischen Schwärmerei hinreißen, alle Tiere zu ermahnen, Freudenschreie und Triumphgebrüll auszustoßen; er behauptet, daß Sennert die Träumereien des Paracelsus erneuere, der gelehrt hatte, daß alle Seelen von Zeit zu Zeit in die Welt zurückkehren. (…).31 Sperlingen antwortet in wenigen Worten, daß dies weder seine noch die Lehre Sennerts sei.32 Er gibt also stillschweigend zu, daß Sennert und er nicht die sich aus einem Prinzip ergebenden Folgerungen zu ziehen wissen und daß sie Gott ein sehr befremdliches Verhalten beilegen, nämlich die Schöpfung einer fast unendlichen Menge von unkörperlichen Substanzen anzuordnen, die er kurze Zeit später auslöschen und vernichten wird. Jedes Jahr bringt die Hitze eine Unzahl kleiner Tiere hervor, die nur bis zum ersten Frost leben. Was für eine Unordnung bedeutet es, daß so viele spirituelle Seelen vernichtet werden, weil irgendeine Veränderung in den Organen der Tiere stattfindet! Man beachte, daß sich die Schulphilosophen derselben List gegen die Cartesianer bedient haben, die Dannhauer gegen Thummius einsetzt.

Retorsion der Scholastiker an die Cartesianer Die Schulphilosophen haben durch Beispiele gezeigt, daß es aus nichts hervorgebrachte Dinge gibt, die nicht im eigentlichen Sinne erschaffen sind. Die Akzidenzien der Materie haben ihnen diese Beispiele geliefert. Die Cartesianer haben ihnen jedoch geantwortet, daß diese Akzidenzien keine von dem Subjekt verschiedene Wesen sind, das sie modifizieren, so daß die 30 31 32

Thummius, Disputat. de traduce. Sperlingen, Defensio tractatus usw., S. 206 f. (…). A. a. O., S. 210.

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Gründe, die beweisen, daß die substantiellen Formen erschaffene Wesenheiten wären, vor der Retorsion in Sicherheit sind. Die Cartesianer führen alle Veränderungen der Materie allein auf die örtliche Bewegung zurück, und sie behaupten, daß diese Bewegung nichts anderes als der Körper selbst ist, insofern er die Existenz mit neuen Beziehungen erhält. Sie müssen folglich anerkennen, daß die Materie, insofern sie bewegt ist, erschaffen ist und daß Gott allein die Bewegung hervorbringen kann, denn nur Gott vermag zu erschaffen. Das wäre in Ordnung, wenn die Scholastiker nicht auf andere Beispiele zurückgriffen. Das tun sie aber und fragen, ob die freien Handlungen der menschlichen Seele von der Seele verschieden sind. Wenn sie von ihr verschieden sind, dann haben wir aus nichts hervorgebrachte Wesen, die dennoch nicht erschaffen sind. Folglich steht der Behauptung nichts im Wege, daß die substantiellen Formen nicht erschaffen sind. Wenn sie nicht von ihr verschieden sind, dann ist die menschliche Seele, insofern sie das Laster will, erschaffen. Folglich ist nicht sie es, die diesen Willensakt hervorbringt, denn weil er von der Seelensubstanz nicht verschieden ist und diese sich nicht selbst ihre Existenz verleihen kann, folgt offensichtlich, daß sie sich auch nicht einen einzigen Gedanken geben kann. Sie ist folglich nicht in höherem Maße dafür verantwortlich, daß sie das Laster hic et nunc  hier und jetzt  will, als daß sie »hic et nunc« existiert. Die Cartesianer wissen nicht, auf welche Seite sie sich schlagen sollen, um diesen Einwand abzuwehren. Ihre Verwirrung verweist sie wieder auf die Lehre der substantiellen Formen und all die Hirngespinste der Schulphilosophie, denn es stellt sich heraus, daß die Argumente, mit denen sie diese Chimären widerlegt haben, zuviel beweisen. Das also ist der Ausgang der Streitereien: sie erheben sich erneut aus ihrer Asche. Die Partei, die bereit war, die Waffen zu strecken, stößt schließlich auf irgendeine Retorsion, durch die sie neue Kräfte erhält sowie das verlorene Terrain wiedergewinnt, und die Streitereien beginnen von neuem.

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(E) Im Unterschied zu anderen wagte er nicht die Behauptung, daß die Seele der Tiere nach dem Tod des Subjekts fortbestehe, das sie mit Leben erfüllt hatte. Johannes Scotus Eriugena hat nicht nur behauptet, daß die Tierseele nicht materiell sei, sondern auch, daß sie nach dem Tod des Tieres weiterlebe. Johannes Lippius, ein Theologieprofessor in Straßburg, hat dasselbe gelehrt.33 Henry More, ein Theologe in Cambridge, räumt ein, daß sie außerhalb des Körpers subsistiert, und findet es ganz wahrscheinlich, daß sie in diesem Zustand weiterlebt, wagt aber nicht, das zu behaupten; er führt lediglich Gründe dafür und dagegen an.34 Ich habe überprüft, was ein Leipziger Professor ihm beilegt.35 »More und seine Anhänger lehren in Kap. 5, daß die Tierseelen in andere Körper zurückkehren.«36 Dieser Professor trägt eine ganz merkwürdige Sache vor, nämlich daß ein bestimmter Mann vor kurzem gelehrt habe, daß die Tiere, wenn der Mensch nicht gesündigt hätte, ewig gelebt hätten und daß sie mit den Menschen wiederauferstehen werden, um in den Himmel zu gelangen. Das ist die Ansicht der Türken. (…).37 Er merkt an, daß Taurellus gelehrt hat, die Tierseele sei spirituell, sterbe aber trotzdem zusammen mit dem Körper.38 Vielleicht hat Taurellus diesen Widerspruch 33

»Johannes Scotus Eriugena, De divisione nature, Nr. 41 (---) und Johannes Lippius (---), Metaphysica magna, Buch II, Kap. 1, S. 386 (---) haben gelehrt, daß die Seele unkörperlich ist; der erstere lehrt, indem er sich gegen Basilius und Gregor von Nyssa wendet, daß die Tiere ihr Leben nach der Trennung vom Körper nicht verlieren; der zweite meint, daß sie getrennt voneinander in der Luft existieren und lediglich woanders tätig sind, vielleicht aber dereinst zusammen mit dem Universum im Nichts untergehen.« Johannes Cyprianus, Histor. animal. continuat., S. 24. 34 Henr. Morus, De anima, Buch II, Kap. 6, Nr. 105, S. 106 meiner Ausgabe. 35 Johannes Cyprianus, wie oben. 36 Man sollte ergänzen: Buch II, S. 90. 37 Cyprian., Hist. animal. continuat., S. 24. 38 »Sie lehren, daß die Seele unkörperlich ist (---).« Nicolaus Taurellus (---) in dem Buch über das Leben und den Tod, quaest. II., proposit. IV (---) »bestreitet, daß die Tierseele den Tod überdauert.« Ders., ebd.

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begangen, um sich nicht zu exponieren; er wollte lieber seine Vernunft als sein Glück beeinträchtigen. Vielleicht war er wie Sennert aus religiösen Gründen davon überzeugt, daß Gott die Seelen der Tiere zerstört, damit allein die menschliche Seele ewig fortbesteht. Das war vielleicht die Meinung des fähigsten Rabbi, der im 17. Jahrhundert gelebt hat. Denn um zu beweisen, daß die Tierseele nach diesem Leben nicht fortbesteht, wie es die menschliche Seele tut, bedient er sich nicht der Gründe, die von dem inneren Zustand oder dem Wesen dieser Seelen hergenommen wären. Sein spaßiger Grund lautet wie folgt: Wir träumen oft, so sagt er, daß wir verstorbene Personen sehen, aber man sieht im Traum niemals ein verstorbenes Tier, auch wenn man es in seinem Haus gefüttert hatte. Spizelius hat recht, diese Logik zurückzuweisen; er hätte auch die Sache selbst verwerfen müssen. Unzählige Leute können diesen Rabbi Lügen strafen; sie träumen tausend Träume, in denen ihre verstorbenen Hunde und Pferde sich beisammen finden. »Menasse Ben Israels Behauptung in De resurr. mort., Buch I, Kap. 9, ist völlig albern, wonach die Seele der Menschen, nicht aber die der Tiere deshalb fortbestehe, weil wir oft von Menschen träumten, die schon lange tot sind, niemals aber von irgendeinem verstorbenen Tier, auch wenn es in unserer Familie und in unserem Haus lebte.«39 Man beachte, daß die angeblichen Blasphemien, deren Sennert durch einen Arzt und Philosophieprofessor aus Groningen beschuldigt worden ist, den deutschen Theologen als keine schlechte Lehre erschienen. »Man kann nicht bestreiten, daß nach einer Reihe von Auflagen dieses Buchs40 von Franzius die Theologen von Leipzig, Rostock, Basel und Königsberg, die vor nunmehr fünfzig Jahren mit dem Problem der Tierseele beschäftigt waren, mehr der Meinung Daniel Sennerts zuneig39

Spizelius, Scrutinium atheismi, S. 125. 40 Gemeint ist die Historia animalium sacra, verfaßt von Wolfgang Franzius, Doktor der Theologie, wo man in Kap. 2, S. 14 meiner Ausgabe die folgenden Worte findet. »Man muß wissen, daß die Tierseele kein unkörperlicher Geist ist, der beschaffen wäre wie unser unsichtbarer und unsterblicher Geist, andernfalls wären auch die Tiere unsterblich.«

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ten, den Johannes Freitag, Professor der Medizin in Groningen, der Blasphemie und Häresie beschuldigte, weil er gelehrt hatte, die Tierseelen seien ursprünglich aus nichts geschaffen worden und wären auch heute noch von nicht elementarer Natur. Wir lesen nämlich, daß eben die genannten Theologen in ihren Antworten ehrlicherweise den Streit über die elementare Natur der Tierseele den Philosophen zugewiesen und ihrer Meinungsfreiheit überlassen haben.«41 Wir wollen nicht schließen, ohne die folgende Betrachtung anzustellen. Sennert mag noch so sehr beteuern, die Tierseele bestehe nach diesem Leben nicht fort, so wie es die Seele des Menschen tut. Er hat dennoch eine Lehre aufgestellt, der zufolge es gewiß ist, daß die Tierseele von gleicher Art ist wie die des Menschen. Ihr unterschiedliches Schicksal hinsichtlich ihrer Dauer ergibt sich nicht aus ihrer unterschiedlichen Vollkommenheit, sondern aus dem Wohlgefallen des höchsten Herrn, das eine völlig externe Ursache darstellt. Die Medaillen und Geldmünzen, welche die Herrscher prägen lassen, sind ein Abbild des Verhaltens, das dieser Arzt Gott beilegt. Man läßt Medaillen für die Ewigkeit schlagen, man läßt Geld prägen, damit es bis auf weiteres Gültigkeit besitzt. Denn nach Ablauf einer gewissen Zeit wird es für wertlos erklärt, eingeschmolzen und in andere Münzen verwandelt. Dennoch werden Medaillen und Geld aus demselben Metall hergestellt. Sennert zufolge entspricht die menschliche Seele den Medaillen und die Tierseele dem Geld. Das ist eine gefährliche Meinung, denn sie führt unser Wissen über die Unsterblichkeit unserer Seele allein auf die Offenbarung zurück. Der Jesuit Honoré Fabri, der Sennert mit größter Verachtung behandelt und ihm vorwirft, seine Lehre auf frivole Einwände und Antworten zu gründen, behauptet, daß in dieser Ansicht eine gewisse Gottlosigkeit liege.42 »Auf die angeführten Gründe Nr. 2 und 3 antwortet er, (Sennert, Hypomen. 4, c. 10) etwas, was kein vernünftiger 41

Joh. Cyprianus, Hist. animal. continuat., S. 27. Honoratus Fabri, De generat. hominis, Buch VII, Proposit. 50, S. 535 der Ausgabe Nürnberg 1677. 42

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Mensch einer Widerlegung für würdig erachtet. So behauptet er zum Beispiel, daß die vernünftige Seele von Natur aus und ihrer eigenen Beschaffenheit zufolge nicht unsterblich ist, sondern nur, weil Gott es will und beschlossen hat. Ich habe aber das Gegenteil bewiesen, und diese Meinung hat ein klein wenig den Beigeschmack einer Gottlosigkeit. Außerdem behauptet er, daß dem abgestorbenen Samen der göttliche Segen fehle und daß daher die Seele, die ihm innewohnte, untergehe. Wenn das keine Possen sind, dann gibt es überhaupt keine. (---). Was er ferner aus der hl. Schrift anführt, ›Seid fruchtbar und mehret euch‹ (---),43 ist völlig bedeutungslos (---). Wir wollen das aber auf sich beruhen lassen und uns um diesen Mann nicht mehr kümmern, der zwar ein hervorragender Arzt, aber kaum ein mittelmäßiger Philosoph und durchaus katholisch gewesen ist.«44 Aber wie sehr er die Philosophie dieses Arztes auch verachtet, er hält Sennerts Einwände gegen die allgemeine Meinung der Scholastiker über die Tierseele für unüberwindlich. Er läßt diese Leute und sämtliche Lehren, die Sennert angegriffen hat, auf sich beruhen und beschränkt sich auf die Aussage, daß die Tierseele nicht neu hervorgebracht wird, daß sie nicht ein absolutes Wesen ist, sondern nur das Resultat einer bestimmten Mischung der vier Elemente.45 Diese Überlegung ist absurd und würde uns dazu führen, dasselbe über die menschliche Seele zu sagen.

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An einer anderen Stelle sagt er, »der gute Sennert müht sich umsonst ab, wenn er auf sein ›Seid fruchtbar und mehret euch‹ zurückgreift; vergeblich beschuldigt er andere der Unwissenheit, denn er ist in diesen philosophischen Dingen ganz unerfahren«. Ders., De gener. animal., Buch V, Proposit. 66, S. 178. 44 Mir scheint, es muß ›unkatholisch‹ heißen. 45 Man sehe De generat. animal., Buch V, Proposit. 56 f., S. 164 f.

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(F) Er legte die Bildung der Metalle intelligenten und geistigen Wesen bei. Er hat nicht gesagt, wie ihm sein Kritiker vorwirft, daß ein Stein einen anderen Stein und ein Goldstück ein anderes Goldstück hervorbrächte, sondern er hat gesagt, daß gewisse Geister, deren Aufenthaltsort er nicht kenne und die nur an bestimmten Orten weilten, sich in die Minen und Steinbrüche begäben und dort die verschiedenen Arten Gestein und Mineralien hervorbrächten. Lassen wir ihn seine Überlegungen vortragen. Er hat sie nicht erfunden, sondern teilt sie mit mehreren anderen Gelehrten. »Außerdem legt er mir böswilligerweise bei, daß ich in dem Buch De consens. et dissens., Kap. 9, behauptet hätte, daß ein Stein einen Stein, ein Edelstein einen Edelstein, ein Metall ein Metall erzeugte. Aber ich bin nicht so dumm zu glauben, daß dieser Diamant, dieser Kristall, dieses Gold einen anderen Diamanten, einen anderen Kristall oder ein anderes Stück Gold erzeugen würde, so wie Pflanzen eine andere Pflanze oder Rinder andere Rinder erzeugen, denn diese Art Erzeugung gibt es nur bei Lebewesen. Dieser meiner Ansicht sind auch Anselm, Boethius und andere gelehrte Männer, daß alle Metalle, Steine, Edelsteine, die bislang ausgegraben wurden und künftig ausgegraben werden, bei der ersten Hervorbringung samt und sonders nicht individuell geschaffen worden sind, sondern daß die Gruben der Edelsteine und Metalle, wie ich durch Anführung vieler Geschichten oben bewiesen habe, aufs neue gefüllt worden sind, und daß es einige Geister gibt, welche die architektonische Form der Metalle und Steine in sich tragen und die in der Erde, ein jeder entsprechend seiner Art, die Metalle, Steine sowie Edelsteine hervorbringen und ihnen ihre Gestalt, Farbe und übrigen zugehörigen Eigenschaften verleihen; daß diese Geister sich in den Gruben und Geburtsstätten der Edelsteine und Metalle verbreiten und jene Metalle und Edelsteine hervorbringen. Und das ist, so habe ich gesagt, die Vermehrung der Formen der Metalle. Von welchem Wohnsitz oder von welchen Orten diese Geister aber herkommen, wissen wir nicht, weil wir ja die innere Beschaffenheit des Erdkörpers nicht kennen.

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Soviel ist sicher, daß diese Geister nicht überall auf der Erde angetroffen werden, sondern nur an einigen Orten.«46 Das erscheint absurd, aber wenn man bedenkt, 1) daß man in der guten Philosophie eine andere Ursache der Phänomene angeben muß als den Willen Gottes, 2) daß weder die Erde noch die elementaren Eigenschaften des Gesteins noch seine substantiellen Formen irgendeiner Wirkung fähig zu sein scheinen, die eine bestimmte Anordnung der Teile, eine Wahl, eine Erkenntnis des ihr Eigentümlichen verlangt, wenn man, sage ich, dies bedenkt und man sich darüber hinaus nicht vorzustellen vermag, daß die Bewegungsgesetze die Materiepartikel genau so anzuordnen vermögen, wie es erforderlich ist, um Gold, einen Diamanten, einen Smaragd usw. hervorzubringen, und auch nicht die dazu geeigneten wählen können, dann findet man einige Wahrscheinlichkeit in dieser Meinung von Sennert.47 Richten die Kräfte der Körper, die allgemeinen Gesetze unabhängig von unserer Leitung irgend etwas in unseren Werkstätten und unseren Laboratorien aus? Bringen sie jemals einen Schuh hervor, einen Handschuh, eine Nadel, wenn sich der Mensch nicht einmischt? Wie kann man also glauben, daß sie ohne jede Anleitung unendlich viele Werke hervorbringen, deren Herstellung weitaus schwieriger ist als die unserer Uhren?

46

Daniel Sennertus, Epistula ad Joh. Sperlingen. Sie findet sich in der Abhandlung von Sperlingen mit dem Titel Defensio tractatus de origine formarum. 47 Man vergleiche oben Anm. (M) des Artikels MORIN, Jean Baptiste.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

SIMONIDES

simonides, einer der besten Dichter der Antike, stammte von Keos, einer Insel im Ägäischen Meer. Zur Zeit der Expedition des Xerxes stand er noch in der Blüte seiner Jahre, d. h. etwa um die 75. Olympiade. Er setzte sein Talent in mehreren Dichtungsarten ein, hatte aber den größten Erfolg in Elegien. Es heißt, er sei zweimal aus tödlicher Gefahr errettet worden und das sei eine Belohnung für seine Tugend gewesen. Man schreibt ihm die Entdeckung der ›memoria localis‹ zu. Er zählt zu den Dichtern, deren Feuer und Gedächtniskraft sich lange erhalten haben, denn noch im Alter von achtzig Jahren beteiligte er sich an einem Dichterwettstreit und gewann den Preis.a Er schmeichelte sich, ein besseres Gedächtnis zu haben als alle anderen Menschen.b Er lebte noch mehr als zehn Jahre.c Es heißt, die Zerstörung seines Grabmals durch einen Feldherrn der Agrigentiner sei nicht ungesühnt geblieben. Seine Antwort an einen Fürsten, der von ihm die Definition Gottes verlangte, ist sehr berühmt (F). Ich meine die Antwort, die er Hieron, dem Tyrannen von Syrakus gab, an dessen Hof er sich trotz seines hohen Alters begeben hatte, weil er mehr auf seine Habgier als auf sein Alter hörte; er liebte nämlich das Geld und kannte die Freigebigkeit Hierons. Es gibt Theologen, die sein Geständnis, er könne keine Definition Gottes geben, nicht zu tadeln vermochten (G). Seine Antwort an einen lakedämonischen König hatte dieselbe Wirkung wie diejenige, die Solon dem Krösus a

Plutarch, An seni sit gerenda respubl., S. 785 A. Man sehe das von Aristipp angeführte griechische Distichon περì το παραφ0éγµατος. De Valois zitiert es in Amm. Marcell., Buch XVI, Kap. 5, S. 116 meiner Ausgabe. c »Simonides von Keos lebte über 90 Jahre.« Lukian, Macrobius, gegen Ende, Bd. II, S. 644. Suidas läßt ihn 89 Jahre leben und nicht 99, wie Giraldi, Historia poetarum, Dialog IX, S. 463 versichert. b

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gab. Man spricht ihm eine andere Antwort zu, die der jenes Philosophen sehr ähnelt, der sich schmeichelte, alle seine Güter bei sich zu tragen. Man darf den Brief, den er auf eine Frage von Hierons Frau hin schrieb, nicht wörtlich nehmen; das war mehr Spötterei als eine ernsthafte Darlegung seiner Ansichten. Er erklärte sich außerstande, Dummköpfe zu betrügen. Gewisse Verse, in denen er eine Maxime des Pittakos kritisierte, erschienen sehr schwer verständlich.e Die Diskussion, die sich darüber entzündete, zeigt, daß er nicht zu den strengen Kritikern zählte, die nur dasjenige loben, was ihnen vollkommen gut erscheint, und die schon die kleinsten Fehler tadeln. Er war weit umgänglicher und behandelte die menschlichen Unvollkommenheiten mit großer Nachsicht. Er war schon zufrieden, wenn jemand nicht allzu schlecht war.f Man käme niemals an ein Ende, so sagte er, wenn man alle Narren tadeln wollte. Die Zahl der Narren ist unendlich, und ich suche keinen untadeligen Menschen in der Welt. Solche gibt es nicht, und ich werde niemals jemanden in dieser Hinsicht loben. Ich bin zufrieden, wenn jemand mittelmäßig gut ist und keine Verbrechen begangen hat.g Er empfahl, alle Dinge des Lebens als ein Spiel anzusehen und ihnen keine große Bedeutung beizulegen, gleichgültig, worum es sich handelt.h Obwohl der charakteristische Zug seiner Dichtkunst in einer gewissen Anmut liegt, die höchst geeignet war, zu rühren und zarte Empfindungen zu erwecken, ist er wegen seiner beißenden Angriffe gefürchtet gewesen. Ich kenne niemanden, der bestreiten würde, daß er ein ausgezeichneter Dichter war, und wenn man bedenkt, daß es ihm gelang, zwei außerordentlich aufgebrachte Fürsten zu versöhnen, die einander bewaffnet gegenüberstanden,i dann muß man gestehen, daß sein Man sehe Anm. (F), gegen Ende.  Das Ende der Anm. (F) nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  f »Ich bin schon zufrieden, wenn jemand nicht schlecht oder allzu faul ist.« Platon, Protagoras, S. 240. g Platon entnommen, ebd. h »Wir sollen das Leben als ein Spiel ansehen und keiner Sache zu sehr anhängen.« Theon, Progymn., Kap. 5, S. 84 meiner Ausgabe. i Man sehe den Scholienschreiber Pindars zu Ode II, Olymp. und oben e

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Verdienst nicht ausschließlich in der Verfertigung sehr hübscher Verse bestand. Er verfügte zweifellos über andere Qualitäten, die ihn sehr bemerkenswert machten, aber seine Habsucht und seine gewinnsüchtige Feder sind nicht zu entschuldigen. Dadurch sinkt sein Ruhm zwangsläufig; ich will sagen, daß dies die Schatten sind, die, anstatt die hellen Punkte seines Portraits noch kräftiger erstrahlen zu lassen, sie verdunkeln und häßlich machen. Von allen Aussprüchen, die man ihm zuschreibt, will ich nur diesen hier erwähnen. Er sagte, daß die Notwendigkeit etwas sei, mit dem selbst die Götter nicht streiten oder kämpfen wollen.k Sein Vater Leoprepes verdient es, wegen eines guten Rates erwähnt zu werden, den er zwei jungen Männern gab. So gut auch die Sammlungen von Giraldi sein mögen,l so reichen sie doch nicht an die von Allatius zu unserem Simonides publizierten heran.m Wir finden dort die Titel seiner sämtlichen Gedichte, soweit man sie den Dokumenten entnehmen kann, die uns aus der Antike überliefert sind, aber wir finden darunter nicht L’Oeuf de Simonide, das der Architekt Blondel erwähnt hat.n Er hat sich hier geirrt und Simonides mit Simmias von Rhodos verwechselt. Der folgende Artikel wird zeigen, ob ich etwas gegen Moréri zu sagen habe.*

Anm. (C) des Artikels HIERON I.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  k »Mit der Notwendigkeit kämpfen auch die Götter nicht.« Suidas, Simonides, S. 741. l Giraldi, De poetar. histor., Dial. IX, S. 462 f. m Allatius, De Simeonum scriptis, S. 207 f. n In seiner Comparaison de Pindare et d’Horace, S. 32 der holländischen Ausgabe. Dieser Fehler ist in den Remarques aufgedeckt, die ein holländischer Advokat zu diesem Werk Blondels 1701 in Rotterdam in französischer Sprache publiziert hat. *  Dieser Artikel über »SIMONIDES, Sohn der Tochter des Vorgenannten« wurde nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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(F) Seine Antwort an einen Fürsten, der von ihm die Definition Gottes verlangte, ist sehr berühmt. Der Tyrann Hieron von Sizilien bat diesen Dichter, ihm zu sagen, was Gott ist. Der Dichter erwiderte ihm, daß dies keine Frage sei, die man aus dem Stegreif beantworten könne, und daß er einen Tag Zeit zu ihrer Untersuchung benötige. Als dieser Tag verstrichen war, verlangte Hieron eine Antwort, aber Simonides bat ihn, ihm noch zwei weitere Tage zu gewähren. Das war nicht der letzte Aufschub, den er verlangte. Er wurde wiederholt aufgefordert zu antworten und verlangte jedesmal doppelt soviel Bedenkzeit wie zuvor. Der Tyrann war von diesem Verhalten überrascht und wollte den Grund dafür wissen. »Ich tue das deshalb«, antwortete ihm Simonides, »weil mir die Sache um so dunkler erscheint, je mehr ich sie untersuche.« Ich werde dies auf lateinisch berichten, damit man sieht, daß Cicero in der Gestalt des Oberpriesters Cotta erklärt, daß er in vergleichbarem Fall genau dieselben Antworten geben würde wie Simonides: »Ich selbst werde jetzt auch nichts Besseres liefern. Wie ich nämlich soeben schon gesagt habe, kann ich in beinahe allen Angelegenheiten, besonders aber in Fragen der Naturwissenschaft, schneller sagen, was nicht zutrifft, als was der Fall ist. Solltest du mich also fragen, was Gott ist oder welche Eigenschaften er hat, so werde ich es machen wie Simonides. Als der Tyrann Hieron ihm genau diese Frage stellte, verlangte er einen Tag Bedenkzeit. Und als er ihn am Tage darauf dasselbe fragte, erbat er zwei Tage, und als er die Anzahl der Tage mehrmals verdoppelt haben wollte, fragte der verwunderte Hieron, warum er das mache. ›Weil‹, antwortete er, ›mir die Sache um so dunkler erscheint, je mehr ich über sie nachdenke.‹ Nun soll aber Simonides nicht nur ein anmutiger Dichter, sondern auch sonst ein gebildeter und weiser Mann gewesen sein. Ich glaube deshalb, daß er die Hoffnung, die ganze Wahrheit zu finden, aufgegeben hatte, weil ihm viele scharfsinnige und subtile Argumente einfielen und er zweifelte, welche davon der Wahrheit am nächsten kommen mochten.«31 Man 31

Cicero, De natura deorum, Buch I, S. 83 in der Ausgabe von Lescalopier.

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beachte die letzten Worte Ciceros, sie sind durchschlagend und treffen den Punkt genau. Es wäre Simonides ein leichtes gewesen zu antworten, wenn er sich an die landläufigen Begriffe und die lebhaften Eindrücke hätte halten wollen, die man heutzutage ›Beweise des Gefühls‹ nennt. Weil er es aber mit einem klugen Fürsten zu tun hatte,32 der über einen durch häufige Gespräche mit Gelehrten kultivierten Geschmack verfügte, glaubte Simonides, ihn nur mit einer exakten Lösung zufriedenzustellen und fürchtete sogar, sein Ansehen zu verlieren. Deshalb nahm er sich Zeit bei der Untersuchung der Frage. Er betrachtete sie von allen Seiten, und weil ihm sein Geist die Widerlegung mehrerer möglicher Antworten ebenso schnell eingab wie deren Entdekkung, fand er nichts Haltbares. Er entdeckte überall Stärken und Schwächen und unergründliche Tiefen. Folglich glaubte er sich zu täuschen, gleichgültig, welche Lehre er zur Gewinnung der Definition Gottes auch vortragen würde. Er hoffte nicht mehr, die Wahrheit zu finden, und gab die Suche auf. Ein kleiner Geist wäre nicht so zartfühlend gewesen; er hätte sich von der erstbesten Hypothese blenden lassen, die ihm eingefallen wäre, hätte deren Schwierigkeiten nicht erkannt und sie durch einen Machtspruch als unumstößliche Wahrheit hingestellt, neben der es nur ungehörige und absurde Ansichten gäbe. Es gibt sogar große Genies, die ihre Lehre ohne Wenn und Aber als die einzig mögliche Sichtweise ausgeben. Sie setzen deren Evidenz fest und bekämpfen alle, die ihr nicht zustimmen. Eine starke Überzeugung veranlaßt sie zu diesem Verhalten. Hierfür gibt uns auch Tertullian ein Beispiel. Er will, daß sich die Sache nicht am Hof von Syrakus, sondern am Hof von Lydien abgespielt habe. Ihm zufolge hat Krösus von Thales die Definition Gottes verlangt und nicht erhalten, gleichgültig, welchen Aufschub er dem Philosophen zur Prüfung dieser Frage auch gewährte. »Was gab nämlich Thales, jener Fürst der Naturforscher, dem Krösus, der ihn über die Gottheit befragt hatte, als sichere Antwort, nachdem er so oft vergeblich Aufschub zum Nachdenken erhalten hatte? Jeder christliche Handwerker kann 32

Man sehe Aelian, Var. histor., Buch IV, Kap. 15 und Buch IX, Kap. 1.

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Gott sowohl entdecken wie aufweisen und ist daher imstande, eine vollständige Antwort in dieser wichtigen Frage zu liefern, obwohl Platon behauptet, daß derjenige, der das Universum geschaffen hat, weder leicht zu entdecken noch, wenn er entdeckt ist, allen Menschen leicht zu beschreiben ist.«33 Man sieht, wie dieser Kirchenvater die Kenntnisse noch des geringsten christlichen Handwerkers über die Kenntnisse der berühmtesten heidnischen Philosophen stellt. Alle unsere Handwerker, sagt er, finden Gott, weisen ihn auf und benennen in der Tat alles das, was hinsichtlich der göttlichen Natur in Frage stehen kann. Das bedeutet, daß Krösus oder Hieron, wenn sie den Unwissendsten aller Christen gefragt hätten »Was ist Gott und welche Attribute hat er?« auf der Stelle eine entschiedene und so genaue Antwort erhalten hätten, daß es an nichts gefehlt hätte. Tertullian geht überstürzt voran, er läßt sich von seiner Einbildungskraft zu sehr hinreißen. Er bedenkt nicht, daß die heidnischen Philosophen, die sich außerstande sahen, die Neugier derjenigen zu befriedigen, die von ihnen wissen wollten, was Gott ist, nur deswegen schwiegen, weil sie sich nicht mit den landläufigen Begriffen begnügen wollten, wie das ein ungebildeter Mensch tun würde. Nichts wäre ihnen leichter gefallen als zu antworten, daß Gott ein unendliches und allmächtiges Wesen ist, welches das Universum geschaffen hat und es lenkt, das bestraft und belohnt, das sich über die Sünder erzürnt und durch unsere Opfer besänftigt wird. Auf diese Weise würden unsere Handwerker Hieron antworten, und sie würden noch dasjenige hinzufügen, was wir im Katechismus über die Personen der Trinität und über Tod und Leidensgeschichte von Jesus Christus lesen usw. Ich wiederhole es: Wenn Thales oder Simonides sich mit diesen allgemeinen Vorstellungen begnügt hätten, so hätten sie nicht um Zeit zur Vorbereitung ihrer Antwort ersucht, sondern hätten die Frage aus dem Stegreif beantwortet. Weil sie aber wollten, daß alle Begriffe der verlangten Definition offenkundig unanfechtbar sein sollten, und sie selbst fanden, daß man ihnen alles, was sie vorgebracht hatten, bestreiten konnte, 33

Tertullian, Apologeticum, Kap. 46.

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verlangten sie einen Aufschub nach dem anderen und wußten schließlich doch nicht, was sie antworten sollten. Ich glaube, Simonides hat sich vorgestellt, daß seine Antwort den hellen Köpfen des Hofes von Syrakus zur Prüfung vorgelegt werden würde und daß er verpflichtet wäre, sie durch Aufklärung aller ihrer Schwierigkeiten zu rechtfertigen. Wahrscheinlich waren dies seine Überlegungen: »Wenn ich antworte, daß Gott von all den Körpern verschieden ist, die das Universum bilden, so wird man mich fragen, ob das Universum, wenigstens hinsichtlich seiner Materie, seit je bestanden hat? Hat diese Materie eine Wirkursache? Wenn ich dies bejahe, so bin ich zu der Behauptung gezwungen, daß sie aus nichts gemacht worden ist. Das ist nun eine Lehre, die ich niemals weder dem König Hieron noch den hellen Köpfen seines Hofes werde begreiflich machen können und die ich auch selbst nicht begreife. Ich habe also Anlaß zu zweifeln, ob diese Lehre wahr ist oder nicht, denn solange sie mir unbegreiflich ist, kann ich über ihren Status und ihre Eigentümlichkeit nicht rechtmäßigerweise sicher sein. Wenn ich sage, daß die Materie des Universums keine Wirkursache hat, so wird man mich fragen, woher die Macht kommt, die Gott über sie hat, und warum sie nicht ebensoviel Macht über Gott hat wie er über sie.34 Ich werde gute Gründe angeben müssen, warum von zwei hinsichtlich ihrer Existenz voneinander unabhängigen Wesen, die gleichermaßen notwendig und ewig sind, das eine alles mit dem anderen machen kann, ohne umgekehrt der Einwirkung durch das andere unterworfen zu sein. Es reicht nicht aus zu sagen, daß Gott von den Körpern verschieden ist, die das Universum bilden; die Frage ist, ob er ihnen hinsichtlich der Ausdehnung ähnelt, d. h. ob er selbst ausgedehnt ist. Wenn ich antworte, daß er ausgedehnt ist, so wird man daraus folgern, daß er körperlich und materiell ist, und ich sehe mich außerstande, begreiflich zu machen, daß es zwei Arten von Ausdehnungen gibt, 34

Man sehe oben Anm. (T) des Artikels EPIKUR sowie Herrn Burnet, Bischof von Salisbury, in der Histoire des ouvrages des savans, Okt. 1699, S. 442.

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eine körperliche und eine nicht körperliche, die eine aus Teilen zusammengesetzt und folglich teilbar, die andere vollkommen einfach und folglich unteilbar. Wenn ich sage, daß Gott nicht ausgedehnt ist, so wird man daraus folgern, daß es ihn überhaupt nicht gibt und daß er keinerlei Verbindung mit der Welt haben kann. Wie bewegt er also die Körper? Wie wirkt er dort, wo er nicht ist? Abgesehen davon ist unser Verstand nicht in der Lage, sich eine nicht ausgedehnte Substanz und einen von der Materie völlig getrennten Geist vorzustellen.35 Wenn man mir aber einmal einräumte, daß Gott eine immaterielle und nicht ausgedehnte Substanz ist, ein unendlicher, allmächtiger Geist, wieviel neue Fragen hätte ich dann nicht zu lösen? Existiert dieser Geist nicht sowohl hinsichtlich seiner Substanz wie hinsichtlich seiner Eigenschaften mit Notwendigkeit? Ist seine Macht nicht ein ebenso notwendiges Attribut wie sein Wissen? Er handelt also nicht frei, wenn man die Freiheit als eine Kraft versteht, zu handeln oder nicht zu handeln. Folglich geschieht alles, was er macht, mit Notwendigkeit und unausweichlich. ›Du wirfst also die ganze Religion über den Haufen‹, wird man mir entgegenhalten, ›denn sie beruht notwendigerweise auf der Lehre, daß Gott seinen Entschluß ändert, wenn die Menschen ihr Leben ändern, und daß er, wenn die Menschen ihn nicht mit ihren Gebeten besänftigen, unendlich viele Dinge tun wird, die er beim Anblick ihrer Andachtsübungen unterläßt.‹ Wenn ich aber diese ärgerliche Unannehmlichkeit durch die Lehre von der Freiheit der Indifferenz und der bedingten Willensentschlüsse vermeide, so bin ich verpflichtet, sowohl begreiflich zu »Wenn er  sc. Anaxagoras. Hgg.  ferner sagt, daß jener Geist gewissermaßen ein Lebewesen sei, dann wird doch wohl auch etwas tiefer in ihm Liegendes gegeben sein, aufgrund dessen er als ein Lebewesen bezeichnet werden kann. Was aber kann es noch tiefer Liegendes geben als den Geist? Er muß also schon von einem äußeren Körper umgeben sein. Weil Anaxagoras diese Meinung aber nicht vertritt, scheint der nicht sinnlich eingekleidete und einfache Geist, wenn er mit keiner Instanz verbunden ist, die empfinden könnte, sich unserer Verstandeskraft und unserem Begriffsvermögen zu entziehen.« Cicero, De natura deorum, Buch I, S. 39 in der Ausgabe von Lescalopier. 35

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machen, daß diese Art von Freiheit mit einem Wesen verträglich ist, das nicht die Ursache seiner eigenen Macht ist,36 als auch, daß ein unendlicher Vorrat von bedingten Beschlüssen mit einer unendlich weisen und unabhängigen Ursache verträglich ist, die sich einen festgelegten und unveränderlichen Plan machen mußte und die im Grunde kein wesentlicheres Attribut hat als die Unveränderlichkeit, denn es gibt keine Eigenschaft, die in der Vorstellung des höchst vollkommenen Wesen augenscheinlicher enthalten wäre als diese.« Das ist, wenn ich mich nicht täusche, ein kleiner Teil der Gründe, die Simonides durch den Kopf gingen, als er die Definition suchte, die man von ihm verlangte, und die ihn zu dem Entschluß brachten, nichts zu sagen; so groß war seine Furcht, unwahre Dinge vorzutragen. Ich wage die Behauptung, daß es kaum jemanden gibt, dem es weniger zukäme als Tertullian, Großsprechereien zum Nachteil von Thales und zum Vorteil unserer Handwerker zu tun, denn er hätte sich sehr schlecht aus der Affäre gezogen, wenn er an der Stelle von Thales oder Simonides gewesen wäre. Hitzig und ungestüm, wie er war, hätte er aus dem Stegreif auf die Frage von Krösus oder Hieron geantwortet. Wenn man aber wissen will, was er geantwortet hätte, dann muß man die folgenden Worte von Herrn Daillé lesen.37 »Wie befremdlich ist doch seine Philosophie über die Natur Gottes,† die er, wie es scheint, Affekten unterworfen sein läßt, die den unseren ähneln: dem Zorn, dem Haß und dem Schmerz. Er legt Gott eine körperliche Substanz bei,± weil er nach eigenem Bekunden nicht glaubt, daß irgend jemand leugnen werde, Gott sei ein Körper. Deshalb

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Die Natur Gottes existiert mit all ihren Attributen notwendigerweise; deshalb müssen seine Macht und sein Wille notwendige Wesen sein. Die Notwendigkeit schließt aber die Indifferenz aus. 37 Daillé, Du vrai usage des pères, Buch II, Kap. 4, S. 354 meiner Ausgabe. † Tertullian, Adv. Marc., Buch I, Kap. 25 und Buch II, Kap.16. ± Ders., Adv. Orig., Kap. 7  recte: Adv. Praxean, Buch VII, Kap. 8  und Contra Marc., Buch II, Kap. 16: »Wer wird bestreiten, daß Gott ein Körper ist, wenngleich er ein Geist ist?«

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müssen wir kaum erstaunt sein, wenn er kühn festsetzt,‡ daß es keine Substanz gibt, die nicht körperlich wäre.« Jedermann sieht, daß Tertullian Gott als eine »den Leidenschaften unterworfene körperliche Substanz« definiert hätte. Wenn wir seine Definition auslegen, so hat er also gesagt, daß unsere Sünden die Gottheit erzürnen, daß sie das Verbrechen haßt, einen tatsächlichen Schmerz verspürt, wenn wir ihre Gesetze übertreten, sich aber leicht versöhnen läßt, wenn wir ihre Barmherzigkeit anflehen. Hätte er diese Antwort vor Simonides und den anderen Gelehrten aufrecht erhalten können, die sich am Hofe des Königs Hieron aufhielten? Hätten sie ihm nicht einwenden können, daß jeder Körper teilbar und aus Teilen zusammengesetzt ist und daß folglich das höchst vollkommene Wesen kein Körper ist? Hätten sie nicht gesagt, daß die allerhöchste Glückseligkeit der göttlichen Natur wesentlich ist und daß sie folglich von jeder Leidenschaft frei ist und nichts sie betrüben noch erzürnen kann? Hätten sie nicht gesagt, daß sie unveränderlich ist und folglich nicht von Liebe zum Haß, von Haß zur Liebe, von Mitleid zum Zorn, vom Zorn zum Mitleid übergehen kann? Wenn er sich in metaphorische Ausdrücke geflüchtet hätte, so wäre die Antwort gewesen, daß Hieron nicht die Antwort eines Redners verlangte, sondern eine exakte und den Gesetzen der Logik vollkommen genügende Definition. Man wird mir sicherlich zugestehen, daß Tertullian besser daran getan hätte zu schweigen, wie es derjenige tat, den er beschimpft. Nehmen wir an, daß sein christlicher Handwerker, den er als so geschickt darstellt, von Hieron gefragt würde und daß er ihm antwortete: »Gott ist ein immaterielles, unendliches, allmächtiges, höchst gutes, heiliges und gerechtes Wesen, das alle Dinge nach dem Wohlgefallen seines Willens geschaffen hat.« Können wir uns vorstellen, daß Simonides bei der Prüfung dieser Antwort nicht gesagt hätte: »Das ist mir ebenso in den Sinn gekommen wie Euch, aber ich habe nicht gewagt, es zu behaupten, weil mir scheint, daß ein unendlich mächtiges, gutes und heiliges We‡

Ders., Adv. Herm., Kap. 35. »Weil die Substanz eines jeden Dinges selbst ein Körper ist.«

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sen, das alle Dinge mit der allerhöchsten Freiheit der Indifferenz geschaffen hat, die Menschen nicht dem verbrecherischen und erbärmlichen Zustand ausgesetzt haben würde, in dem sie leben. Wenn dieses Wesen der Seele die Freiheit gelassen hätte, sich mit Körpern zu verbinden oder auch nicht, so wäre die Seele diese Verbindung niemals eingegangen, denn diese Wahl hätte bezeugt, daß sie zu dumm ist, um das Werk eines höchst vollkommenen Wesens zu sein. Wenn es dieses Wesen ist, das unsere Seelen mit den Körpern vereinigt, dann muß es durch irgendeine natürliche und unvermeidliche Bestimmung dazu getrieben worden sein, denn unter den Bedingungen des freien Handelns, d. h. wenn es handeln oder nicht handeln könnte, wenn es so oder anders handeln könnte, begreift man angesichts des Umstandes, daß die Seele durch ihre Vereinigung mit dem Körper sich hunderterlei schimpflichen und ungereimten Unordnungen und einem beinahe ununterbrochenen Unglück ausgesetzt findet, überhaupt nicht, wie es diese Wahl hätte treffen können.«38 Aber wir wollen nicht den christlichen Handwerker diesem Angriff aussetzen, sondern einen Theologen holen, der vor Simonides das ganze System der Gnade und der Einrichtung der Ratschlüsse der Vorsehung darlegt. Zweifellos würde der Dichter ihm antworten: »Ihr führt mich aus einem dunklen Land in ein noch dunkleres. Ich kann nicht begreifen, daß es unter einem Gott, der die von Euch angegebenen Attribute hat, jemals notwendig sein sollte, jemanden zu bestrafen, denn die allerhöchste Macht eines solchen Gottes, die mit einer unendlichen Güte und Heiligkeit verbunden ist, ließe es niemals zu, daß in seinem Herrschaftsbereich eine strafbare Handlung » Außerdem sagen sie , wenn die Seele göttlich ist und von den sterblichen Gliedmaßen getrennt leben kann, warum begibt sie sich dann in einen elenden Körper, durch dessen Gebrechlichkeit sie so viele Übel erleidet und so viele Schandtaten begeht? Es ist daher dumm, wenn sie das aus freien Stücken tut. Wenn sie aber unfreiwillig in die greulichen Schlupfwinkel des Körpers eintritt, wer zwingt sie? Etwa Jupiter selbst? Also liebt Gott die Seele durchaus nicht; es hat vielmehr den Anschein, daß er dasjenige, was er in einem so schmählichen Gefängnis eingeschlossen hat, haßt.« Palingenius, Zodiacus vitae, Buch VII, S. 189 meiner Ausgabe. 38

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begangen würde. Ein solches Wesen erschiene mir nicht fähig, seinen Ruhm mit dem Unglück eines anderen zu verknüpfen und ihn von der ewigen Dauer der Höllenqualen abhängig zu machen. Ich nehme sogar einen ausdrücklichen Widerspruch zwischen diesen beiden Dingen wahr. Drei Personen, die nur ein Gott sind und von denen die eine straft und die andere bestraft wird, ohne daß man sagen könnte, daß diejenige, die bestraft wird, bestraft, und diejenige, die bestraft, bestraft wird, obwohl die eine wie die andere lediglich ein und dieselbe Substanz, ein einziger und ein und derselbe Gott sind – diese drei Personen, sage ich, stellen für mich einen ausdrücklichen Widerspruch dar. Ich ziehe es daher vor, dem Fürsten von Syrakus gar keine Antwort zu geben, als ihm derartige Definitionen von Gott anzubieten.« Dann, so wird man fragen, hat sich Tertullian also gründlich geirrt, als er die schlichten Christen über die Philosophen gesetzt hat? Meine Antwort lautet: Das, was er versichert, kann sehr wohl verbessert werden. Man muß nur sagen, daß der geringste christliche Handwerker an mehr Dinge fest glaubt, welche die Natur Gottes betreffen, als die größten heidnischen Philosophen davon erkennen konnten. Man muß nur deutlich feststellen, daß er gestützt auf seinen Katechismus allein eine so detaillierte Auskunft geben wird, daß er für jeden Punkt, den sie nur halb bejahen, vierzig ohne jedes Zögern bejaht. Das ist es, was Tertullian hätte sagen können, ohne einen Fehler zu begehen. Aber diese im Vergleich mit Thales und jedem anderen Philosophen des alten Griechenlands angeblich so geschickten Christen würden genausowenig von der Stelle kommen und ebenso stumm bleiben wie er, wenn sie nur das sagen wollten, was sie klar und deutlich begreifen; und sie haben ihre große Geschicklichkeit lediglich dem glücklichen Umstand zu verdanken, in einer Kirche groß geworden zu sein, in der sie den historischen und manchmal sogar den rechtfertigenden Glauben durch offenbarte Wahrheiten empfangen haben. Das überzeugt sie von der Existenz mehrerer Dinge, von denen sie nichts begreifen. Wenn unsere größten Theologen so vorgingen wie Simonides, d. h. wenn sie über das Wesen Gottes nur das behaupten woll-

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ten, was ihnen durch das Licht der Vernunft unbestreitbar, evident und frei von jeder Schwierigkeit erschiene, so würden sie unaufhörlich weiteren Aufschub von all den Hierons der Welt verlangen. Man kann sogar hinzufügen, daß Simonides, wenn er die hl. Schrift ohne die Wirksamkeit entweder der Erziehung oder der Gnade zu Rate ziehen und prüfen würde, weder aus seinem Labyrinth noch aus seinem Schweigen herauskäme. Die Vernunft würde es ihm verbieten, die in der hl. Schrift enthaltenen Fakten zu leugnen und in der Verknüpfung dieser Fakten nicht etwas Übernatürliches zu erblicken; aber das würde nicht ausreichen, um ihn zu einer Entscheidung zu bringen. Die Kraft der Vernunft und die philosophische Prüfung führen nur soweit, daß wir in einem Schwebezustand und in der Furcht zu irren verharren, gleichgültig, ob wir etwas bejahen oder verneinen;39 es muß entweder die Gnade Gottes oder die Erziehung von Kindesbeinen an hinzukommen. Und man beachte sorgfältig, daß es keine Lehre gibt, gegen welche die Vernunft mehr Einwände bereitstellt als gegen die des Evangeliums. Das Mysterium der Trinität, die Fleischwerdung des Wortes, Jesu Tod für die Sühnung unserer Sünden, die Fortpflanzung der Sünde Adams, die ewige Vorherbestimmung einer kleinen Anzahl von Menschen für das Glück des Paradieses, die ewige Verdammung fast aller Menschen zu nie endenden Höllenstrafen, die Auslöschung des freien Willens seit Adams Sündenfall usw. sind Dinge, die Simonides in weit größere Zweifel gestürzt hätten als alles, was seine Einbildungskraft ihm eingab. Wir wollen uns an das Eingeständnis des hl. Paulus erinnern,40 daß das Evangelium nicht nur den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit ist, sondern auch, daß Gott die Menschen durch die Torheit der Predigt gerettet hat. Hier kommt eine Überlegung, die man vielleicht nicht zurückweisen sollte. Simonides befand sich offensichtlich über 39

Man beachte, daß es es zwischen Hieron und Simonides nicht um die Frage der Existenz Gottes ging, sondern um die genaue Bestimmung seines Wesens. 40 1. Kor. 1, 21 und 23.

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die Art der Definition in Verlegenheit. Er wagte nicht zu behaupten, Gott sei ein Körper; hunderterlei Einwände hielten ihn davon ab. Er wagte auch nicht zu behaupten, Gott sei ein reiner Geist, denn alles, was er sich vorstellte, stellte er sich als ausgedehnt vor. Bis zu Descartes haben alle unsere Gelehrten, seien es nun Theologen oder Philosophen, den Geistern eine Ausdehnung beigelegt; Gott eine unendliche und den Engeln sowie den vernünftigen Seelen eine endliche. Es ist zutreffend, daß sie behaupten, diese Ausdehnung sei nicht materiell und nicht aus Teilen zusammengesetzt und daß die Geister als ganze in jedem Teil der Ausdehnung anwesend sind, den sie einnehmen, toti in toto et toti in singulis partibus  ganz im Ganzen und ganz in den einzelnen Teilen . Daraus sind die drei Arten der räumlichen Gegenwart hervorgegangen, die ubi circumscriptivum, ubi definitivum, ubi repletivum  umschreibende, definierende, erfüllende Gegenwart  heißen; die erste für die Körper, die zweite für die erschaffenen Geister, die dritte für Gott. Die Cartesianer haben all diese Lehren verworfen. Sie sagen, daß die Geister keinerlei Art von Ausdehnung oder räumlicher Gegenwart haben, aber ihre Ansicht wird als sehr absurd verworfen. Wir wollen also sagen, daß auch heute noch fast alle unsere Philosophen und alle unsere Theologen in Übereinstimmung mit den gewöhnlichen Vorstellungen lehren, daß sich die Substanz Gottes in unendliche Räume erstreckt. Dies bedeutet offenkundig, dasjenige auf der einen Seite einzureißen, was man auf der anderen aufgebaut hat, d. h. Gott in Wirklichkeit die Materialität zurückzugeben, die man ihm genommen hatte. Ihr sagt, daß Gott ein Geist ist, und das ist gut gesagt, denn es heißt, ihm ein von der Materie verschiedenes Wesen zu geben. Aber zur gleichen Zeit sagt ihr, daß seine Substanz sich überall hin erstreckt. Folglich sagt ihr, daß sie ausgedehnt ist. Nun haben wir aber keine Vorstellung von zwei Arten der Ausdehnung. Wir begreifen deutlich, daß jede beliebige Ausdehnung distinkte, undurchdringliche und voneinander trennbare Teile hat: es ist eine ungeheuerliche Behauptung, die Seele sei als ganze im Gehirn und als ganze im Herzen. Es ist unbegreiflich, daß die göttliche Ausdehnung und die Ausdehnung der Materie an demselben

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Ort sein könnten; das wäre eine wahrhafte Durchdringung der Dimensionen, die unsere Vernunft nicht faßt. Außerdem sind Dinge, die von einem Dritten durchdrungen sind, auch voneinander durchdrungen,41 und so würden sich Himmel und Erde wechselseitig durchdringen, denn sie wären von der göttlichen Substanz durchdrungen, die euch zufolge keine Teile hat. Daraus folgt, daß die Sonne von demselben Wesen durchdrungen ist wie die Erde. Kurz, wenn die Materie nur deshalb Materie ist, weil sie ausgedehnt ist, dann folgt, daß jede Ausdehnung Materie ist: Ihr seid also gezwungen, ein anderes, von der Ausdehnung verschiedenes Attribut aufzuzeigen, durch das die Materie Materie ist. Die Undurchdringlichkeit der Körper kann nur von der Ausdehnung stammen. Wir können davon nur diesen Grund begreifen, und deshalb müßt ihr sagen, daß die Geister undurchdringlich sein würden, wenn sie ausgedehnt wären, und folglich wären die Geister von den Körpern nicht durch die Durchdringlichkeit unterschieden. Alles in allem ist die göttliche Ausdehnung der gewöhnlichen Lehre zufolge weder mehr noch weniger undurchdringlich oder durchdringlich als die Ausdehnung der Körper. Ihre Teile, mag man sie auch ›virtuell‹ nennen, ihre Teile, sage ich, können nicht voneinander, wohl aber von Teilen der Materie durchdrungen werden. Ist das nicht das, was ihr von den Teilen der Materie sagt: sie können sich nicht wechselseitig durchdringen, aber sie können die virtuellen Teile der göttlichen Ausdehnung durchdringen? Wenn ihr die gesunde Vernunft genau befragt, werdet ihr sehen, daß, wenn zwei sich durchdringende Ausdehnungen an demselben Ort sind, die eine genauso durchdringlich ist wie die andere. Man kann folglich nicht sagen, daß die Ausdehnung der Materie sich von irgendeiner anderen Art von Ausdehnung durch die Undurchdringlichkeit unterscheidet. Es ist folglich gewiß, daß jede Ausdehnung Materie ist, und folglich nehmt ihr Gott nur die Bezeichnung ›Körper‹ und laßt ihm alles Wirkliche da41

»Was von einem Dritten durchdrungen wird, wird voneinander durchdrungen.« Mit diesem Axiom werden diejenigen widerlegt, die behaupten, das Kontinuum sei aus mathematischen Punkten zusammengesetzt.

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von, wenn ihr sagt, er sei ausgedehnt. Weil es euch also nicht möglich war, anders zu verfahren, muß man es nicht befremdlich finden, daß Simonides nicht zu leugnen wagte, daß Gott ein Körper sei. Er hat auch nicht gewagt, es zu bejahen; er hat lieber schweigen wollen. Wir wollen uns daran erinnern, daß die scharfsinnigsten Cartesianer behaupten, daß wir keine Vorstellung von der geistigen Substanz haben. Wir wissen lediglich aus Erfahrung, daß sie denkt, aber wir wissen nicht, was die Natur des Wesens ist, dessen Modifikationen Gedanken sind; wir wissen nicht, was das Subjekt oder der Grund ist, dem die Gedanken inhärieren. Vielleicht hat das Simonides dazu gebracht, nicht die Behauptung zu wagen, Gott sei ein Geist. Er hatte keine Vorstellung von einem Geist. Im übrigen verurteilt ein Jesuit, der Ciceros Werk De natura deorum kommentiert hat, die Zurückhaltung des Simonides nicht und wünschte, daß die antiken Philosophen und Dichter sowie die Ketzer es so gemacht hätten wie er. Was er über die Unbegreiflichkeit Gottes anmerkt, verdient zitiert zu werden. »Was Tertullian der Unwissenheit beilegt, schreiben andere der Bescheidenheit zu. Es wäre zu wünschen, wenn die alten Philosophen und Dichter und die auf sie folgenden Ketzer hierin genauso zurückhaltend gewesen wären wie Thales oder Simonides. In der Tat hätten sie dann niemals der göttlichen Natur derart absurde, unfromme und gottlose Dinge zugeschrieben und wären niemals in die abscheulichsten Irrtümer gestürzt, in die, wie wir mit Schmerzen sehen, diese überheblichen Menschen durch höchste Vermessenheit gestürzt sind. Gewiß haben wir alle ein großes Verlangen nach Wissen, aber ein noch viel größeres nach der Erkenntnis Gottes. Daraus dürfen wir entnehmen, daß Gott von uns erkannt werden will, aber innerhalb festgesetzter Grenzen und Eckpfeiler, auf die er wie mit eigenem Finger geschrieben hat: Ne plus ultra  Bis hierher und nicht weiter : in den göttlichen Dingen gibt es nämlich gewisse Geheimnisse, in die wir nach dem Willen des großen Gottes nicht eindringen sollen. Wenn jemand durch Unbesonnenheit und Dreistigkeit weiter voranschreitet und versucht, in dieses Allerheiligste zu gelangen, so wird er mit jedem weiteren Schritt

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von um so größerer Dunkelheit umfangen, so daß er, wenn er weise ist, die undurchdringliche Majestät der göttlichen Natur und die Schwäche des menschlichen Geistes anerkennt und gezwungenermaßen mit Simonides gesteht: ›Die Sache erscheint mir um so dunkler, je länger ich sie betrachte.‹ Vergleichbares berichtet Pomponius Mela von einem Tal bei Corycos, das die Eintretenden zunächst durch seine angenehme Lage anlockte, bis sie, nachdem sie weiter und weiter hineingegangen sind, schließlich aufgrund ihrer Furcht und angesichts der Erhabenheit der in ihr wohnenden Gottheit gezwungen sind, den Rückweg anzutreten.«42 Im Anschluß daran führt Lescalopier eine schöne Passage aus dem hl. Augustinus an.43 Ein französischer Autor hat das Verhalten des Simonides als einen Akt der Frömmigkeit angesehen und zum Anlaß genommen, die Dreistigkeit der Anhänger des Eunomius zu beschimpfen. »Erinnert Euch an die fromme Bescheidenheit des Simonides«, sagt er,44 »der, nachdem er vom König Hieron einen Tag Bedenkzeit verlangt hatte, um vor ihm das Wesen Gottes zu behandeln, zwei Tage von ihm forderte und dann drei, weil er beteuerte, daß es ihm um so schwerer falle, sein Versprechen einzulösen, je mehr er über die Sache nachdenke. Für meinen Teil bezweifle ich nicht, daß dieses demütige Eingeständnis seiner Unwissenheit – wenngleich Simonides ein Heide war – dem allerhöchsten Wesen bei weitem angenehmer gewesen ist als die Anmaßung eines Eunomius und der Sekte‡ seiner arianischen Anhänger, die sich schmeicheln, Gott so deutlich zu erkennen, wie man sich selbst erkennen kann.« Du Plessis-Mornay hat in dem Kapitel, wo er durch Autoritäten und Vernunftgründe beweist, daß es unmög-

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Lescalopier zu Cicero, De natura deorum, Buch I, S. 84 f. »Gewiß ist Gott dasjenige, was, wenn es benannt wird, nicht benannt werden kann, wenn es bestimmt wird, nicht bestimmt werden kann, wenn es verglichen wird, nicht verglichen werden kann, wenn es definiert wird, durch die Definition selbst erst entsteht.« Augustinus, Sermo de tempore CIX, bei Lescalopier, a. a. O., S. 85. 44 La Mothe le Vayer, Brief CXVI, S. 26 in Bd. XII der Duodezausgabe. ‡ Theodor. I. haer. fabul. 43

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Historisches und kritisches Wörterbuch

lich ist, Gott zu begreifen,45 die Antwort des Simonides nicht übergangen. Ohne jemanden zu zitieren, merkt er an,46 daß dieser Dichter »völlig zutreffend lehrte, Gott sei die Weisheit selbst.« An anderer Stelle sagt er,47 daß »Aristoteles in seiner Metaphysik die bekannte Antwort des Simonides an Hieron anführt und lobt. Sie läuft darauf hinaus, daß es nur Gott zukommt, Metaphysiker zu sein, d. h. von Dingen zu sprechen, die jenseits der Natur liegen.« Bei der Durchsicht der Metaphysik des Aristoteles habe ich diese Stelle nicht finden können. Wie dem auch sei, der Gedanke ist sehr gut und paßt zu dem anderen. Als ich sagte, daß ich in diesem Werk des Aristoteles nicht auf die von du Plessis daraus zitierte Stelle gestoßen bin, habe ich an den Zusammenhang gedacht, der diese Stelle charakterisiert, daß es sich nämlich um eine Antwort von Simonides an Hieron handelt, die von Aristoteles gelobt wird; ansonsten bin ich in Buch I, Kap. 2 auf folgende Stelle gestoßen: »Daher muß man deren Besitz zu Recht für übermenschlich halten. In vielen Dingen ist die Natur des Menschen ja nicht mehr als eine Sklavin, und deshalb dürfte, wie Simonides sagt, allein Gott dieses Vorrecht besitzen. Für den Menschen aber ist es ungeziemend, nicht die ihm angemessene Wissenschaft zu suchen.«48 Diese Worte laufen auf folgendes hinaus: Die Kenntnis der ersten Prinzipien ist etwas so Erhabenes, daß man zu Recht behaupten könnte, es komme dem Menschen nicht zu, sie zu besitzen; deshalb sei dieser Besitz Simonides zufolge ein Privileg Gottes allein; jedoch wäre es unschicklich für den Menschen, wenn er nicht versuchte, sich selbst recht zu erkennen oder wenn er die Wissenschaft vernachlässigte, die Bezug zu ihm hat. Ich bilde

45

Das ist das 4. Kapitel des Werks Vérité de la religion chrétienne. A. a. O., Blatt 35 meiner Ausgabe. 47 A. a. O., Kap. 20, Blatt 266, Rückseite. In der lateinischen Edition dieses Werks von du Plessis steht S. 446 meiner Ausgabe folgendes: »Aristoteles lobt jene bekannte Antwort des Simonides an Hieron. ›Bei Dingen‹, sagt er ›die jenseits der Natur liegen, muß man Gott allein glauben.‹« 48 Aristoteles, Metaphysica, Buch I, Kap. 2, S. 644 E meiner Ausgabe. 46

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mir ein, daß ich, wenn ich zur Zeit des Aristoteles gelebt hätte, diesen Gedanken einleuchtender gefunden hätte als jetzt. Aber wie dem auch sei, ich kann in ihm nichts entdecken, was mich glauben ließe, daß Aristoteles die Ansicht des Simonides lobt oder billigt, und ich habe Kommentatoren gesehen, die geradezu versichern, daß Aristoteles ihn widerlegt habe. Fonseca, der eine erläuternde Anmerkung zu diesen Worten des Aristoteles macht, überschreibt sie am Rande mit »Widerlegung der Meinung des Simonides«. Hier ist der Text: »Es ist nur zu gut bekannt, daß dieses Wissen den Menschen nicht zur Verfügung steht, so daß hieraus der Irrtum des Dichters Simonides hervorging. Denn er verlangte, daß die Menschen sich ausschließlich denjenigen Wissenschaften widmen sollten, die der menschlichen Lebenslage entsprechen, und daß daher jene Wissenschaft, die von göttlichen Dingen handelt, Gott und den göttlichen Wesen überlassen bleiben solle, weil sie jenseits der menschlichen Fassungskraft liegen. Auf diesen unsinnigen Rat, der der Großartigkeit der menschlichen Seele unwürdig ist, antwortet Aristoteles, ›daß es sich für den Menschen nicht ziemt, die Wissenschaft zu vernachlässigen, die seinem Verstand am meisten entspricht‹, denn man darf nicht meinen, sie sei der menschlichen Natur fremd, weil ja deren vorzüglichster Teil der Geist selbst ist.«49 Nach Meinung Fonsecas50 hat Aristoteles an anderer Stelle einen ähnlichen Gedanken des Simonides verurteilt, denn mit den folgenden Worten sei dieser Dichter gemeint: »Auch dürfen wir denen kein Gehör schenken, die uns anweisen, als Menschen nach menschlichem Wissen und Empfinden zu streben und als Sterbliche nach sterblichem. Vielmehr sollen wir uns so weit wie möglich bemühen, die Sterblichkeit hinter uns zu lassen und alles zu tun, um dem Besten gemäß zu leben, das in uns ist.«51 Wenn dies der Fall ist, dann muß man den folgenden Gedanken den Sentenzen des Simonides hinzufügen: Weil 49

Fonseca zu Aristoteles, Metaphysica, Buch I, Kap. 2, S. 99 f. meiner Ausgabe. 50 Ders., ebd. Man sehe auch Théophile Raynaud, Theol. nat., S. 1. 51 Aristoteles, Moral., Buch X, Kap. 7, S. 102 H meiner Ausgabe.

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wir nur Menschen sind, darf unser Wissen lediglich menschliches Wissen sein, und weil wir nur Sterbliche sind, müssen wir uns mit der Erkenntnis vergänglicher Dinge begnügen. Wir werden ein zweites Versehen von du Plessis-Mornay sehen. Das erste besteht darin, daß er sagte, die Sentenz des Simonides sei von Aristoteles gelobt worden.

(G) Es gibt Theologen, die sein Geständnis, er könne keine Definition Gottes geben, nicht zu tadeln vermochten. Einen Beweis dafür kann man in der voranstehenden Anmerkung finden. Aber hier ist ein Autor, der sich noch viel entschiedener äußert. Es handelt sich um den berühmten Pierre Charron, Kanonikus in Condom. »Da die Gottheit«, sagt er,56 »so hoch, so entfernt von uns und unseren Begriffen ist, daß wir weder bei entfernter noch bei näherer Betrachtung im geringsten wissen, was sie ist, stellt es einerseits eine sehr große und wahnwitzige Anmaßung dar, Entscheidungen und Bestimmungen über sie zu treffen, wie es die Atheisten tun, die bei all ihren Einwänden darüber wie über eine vollständig definierte und beschriebene Sache debattieren, die zwangsläufig so und nicht anders beschaffen sei. Sie sagen nämlich: Wenn es einen Gott gäbe, müßte er zwangsläufig so und so sein, und weil er so und so wäre, müßte und könnte er dies und das tun, was jedoch nicht zutreffe: ergo. Andererseits ist es ein Irrtum zu meinen, irgendein zureichendes oder demonstratives Argument lasse sich finden, mit dem man die Eigenschaften der Gottheit mit Notwendigkeit und unwidersprechlich beweisen und feststellen könnte. Davor muß man sich nicht erschrecken, sondern man müßte sich erschrecken, wenn sich solche Argumente finden ließen. Denn es ist nicht erforderlich, daß die menschlichen Unternehmungen und die Fähigkeiten der Geschöpfe sich soweit erstrecken können. (---). Die Gottheit ist dasjenige, was nicht erkannt und nicht einmal wahrgenommen werden kann; zwi56

Pierre Charron, Les trois véritez, Buch I, Kap. 5.

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schen dem Endlichen und dem Unendlichen gibt es keinerlei Verhältnis, keinen Übergang. Das Unendliche ist völlig unzugänglich, ja unwahrnehmbar. Gott ist die eine, wahre und alleinige Unendlichkeit. Der größte Geist und die höchste Anstrengung der Einbildungskraft kommen ihm nicht näher als der niedrigste und schwächste Begriff. Der größte Philosoph und der gelehrteste Theologe erkennen Gott nicht mehr oder besser als der geringste Handwerker. Wozu es keinen Weg, keinen Zugang, keinen Eingang gibt, kann es keine Nähe und keine Ferne geben. (---). Gott, Gottheit, Ewigkeit, Allmacht, Unendlichkeit – das sind lediglich in die Luft gesprochene Worte und nichts mehr für uns; es sind keine für den menschlichen Verstand begreiflichen Dinge. (---). Wenn alles, was wir von Gott sagen und vorbringen, streng geprüft würde, dann wäre es nichts als Eitelkeit und Unwissenheit. Deshalb hat ein großer Gelehrter des Altertums gesagt, es sei sehr gefährlich, von Gott zu sprechen, selbst wenn man Dinge sagt, die wahr sind. Der Grund dieses Diktums liegt darin, daß, abgesehen davon, daß diese so hohen Wahrheiten entstellt werden, wenn sie durch unsere Sinne, unseren Verstand und unseren Mund gehen, wir nicht einmal wissen und sicher sein können, daß sie wahr sind. Wir stoßen nur zufällig auf sie, denn wir tappen völlig im Dunkeln und wissen nicht, was Gott ist oder was er tut. Nun ist es gefährlich, voller Zweifel und Ungewißheit, gleichsam tastend und wahrsagend über Gott zu sprechen und nicht zu wissen, ob er dies gutheißt. Wir können nur auf seine Güte vertrauen, daß er alles das wohlwollend aufnimmt, was man in guter Absicht und um ihn nach Kräften zu ehren über ihn sagt. Doch wer weiß wiederum, ob dieses Vertrauen ihm angenehm ist und ob die göttliche Güte von der Art ist, daß sie dasjenige wohlgefällig aufnimmt, was man in guter Absicht getan hat und um sie zu ehren? Tatsächlich ist es so bei der menschlichen Güte, die geschaffen und endlich ist; aber wer weiß, ob die göttliche Güte, die ungeschaffen und unendlich ist, von derselben Art ist? Nicht einmal bei der menschlichen Güte ist man sich durchgängig über ihre Regeln und ihre Pflichten einig. (---). Deswegen ist das Ratsamste für einen Menschen, der über Gott nachdenken und

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sich eine Vorstellung von ihm bilden will, daß die Seele nach einer umfassenden Loslösung von allen Dingen und nachdem sie sich über alles wie in ein unbestimmtes und unendliches Vakuum erhoben hat, mit einem tiefen und keuschen Stillschweigen, einem völlig hingegebenen Erstaunen, einer Bewunderung, die ganz voller furchtsamer Demut ist, sich einen leuchtenden Abgrund vorstellt, der keinen Boden, kein Ufer, keinen Rand, keine Höhe, keine Tiefe hat, ohne dabei eine Sache zu ergreifen oder Halt an ihr zu suchen, die ihr die Einbildungskraft eingibt, um sich in diesem Unendlichen zu verlieren, darin unterzugehen und von ihm verschlungen zu werden. Darauf laufen beinahe die folgenden alten Sentenzen der Heiligen hinaus: Die wahre Erkenntnis Gottes ist die vollkommene Unkenntnis von ihm. Sich Gott zu nähern, heißt, ein unzugängliches Licht zu erkennen und in ihm aufzugehen. Es heißt keineswegs, ihn erkennen, wenn man empfindet, daß man ihn nicht erkennen kann, weil er über allem ist. Ihn auf beredte Weise zu loben, heißt, mit Erstaunen und Furcht zu schweigen und ihn mit Stillschweigen in der Seele zu verehren. Weil es aber für die Seele sehr schwierig und beinahe unmöglich ist, in einem so unsicheren und unbestimmten Unendlichen zu bestehen (denn sie befände sich dann in völliger Verwirrung und wie auf einem Kreisel), vergleichbar mit jemandem, der seinen Kopf kräftig hin und her bewegt hat und, weil ihm davon ganz schwindelig geworden ist, nicht weiß, wo er ist, und sich schließlich fallen läßt: Selbst wenn die Seele dies dennoch vermöchte und verzückt, gelähmt und von Furcht und Bewunderung hingerissen bliebe, so könnte sie doch auf keinerlei Weise mit Gott in Verbindung treten, ihn bitten, ihn anrufen, ihn erkennen, ihn verehren, was doch die ersten und wichtigsten Artikel jeder Religion sind. Denn hierzu wird notwendigerweise verlangt, daß man sich Gott mit einer bestimmten Eigenschaft vorstellt – gut, mächtig, weise, verständig, unsere Bitten erhörend. Es ist erforderlich und kann unter den Bedingungen des gegenwärtigen Lebens gar nicht anders sein, daß ein jeder sich ein Bild der Gottheit macht und ausmalt, das er betrachtet, an das er sich wendet und sich hält und das für ihn wie sein Gott ist. Der Geist macht sich dieses Bild, indem

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er seine Einbildungskraft über alles erhebt und sich mit ganzer Macht eine allerhöchste Güte, Macht und Vollkommenheit vorstellt. Denn der letzte und höchste Grad, zu dem jemand durch die äußerste Anstrengung seines Begriffsvermögens aufsteigen und gelangen kann, ist ihm sein Gott und dient ihm als Bild der Gottheit – freilich ein ganz falsches Bild, d. h. ein mangelhaftes und unvollkommenes. Denn da die Gottheit, wie gesagt, unvorstellbar und unendlich ist und der Geist sich ihr durch keinerlei Begriff weder aus der Nähe noch aus der Ferne nähern kann, vermag er sich von ihr ebensowenig ein wahres Bild zu machen wie von einer Sache, die er gar nicht kennt. Es genügt, wenn er es möglichst wenig falsch, wenig mangelhaft und so erhaben und rein wie möglich macht.« Tausend und abertausend Leser, die diese Zeilen eines feinen Geistes in diesem Dictionnaire lesen werden, würden davon niemals Kenntnis erhalten, wenn ich sie nicht anführte. Das ist der Grund, weshalb ich sie in dieser Anmerkung habe drucken lassen. Man wird vielleicht sagen, Charron sei ein allzu verdächtiger Gottesgelehrter, als daß er es verdiente, mit seinen Grundsätzen Beachtung zu finden. Wir wollen diesen Streich parieren und sagen, daß sich Arnobius auf eine Weise ausgedrückt hat, welche die Antwort des Simonides nachdrücklich rechtfertigt. Hat er nicht gesagt, daß unsere Worte nichts von der Natur Gottes bezeichnen können, daß man schweigen muß, wenn man ihn begreifen will, und daß man, um mit unbestimmten Vermutungen darüber einige Nachforschungen wie hinter einer Wolke und im Schatten anstellen zu können, den Mund geschlossen halten muß? »O größter, o höchster Schöpfer der unsichtbaren Dinge! O Du ungesehenes und für alles Geschaffene auf ewig unbegreifliches Wesen! (---). Du bist die erste (---) Ursache, der Ort der Dinge und der Raum, das Fundament alles Seienden, unendlich, unerzeugt, unsterblich, ewig, einzig, den keine körperliche Form darstellen und keine Grenze einschließen kann, frei von Eigenschaft und Größe, ohne Ort, Bewegung und Zustand, über den nichts gesagt und in der Sprache der Sterblichen ausgedrückt werden kann, zu dessen Begreifen man schweigen muß, und damit Du durch vages Vermuten im Dunkeln gesucht

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werden kannst, ist völliges Schweigen zu wahren.«57 Man müßte sehr unwissend sein, um mir entgegenzuhalten, diese Passage sei zu den Irrtümern des Arnobius zu zählen; denn jeder, der dessen Kommentatoren zu Rate gezogen hat, konnte sehen, daß die rechtgläubigsten Kirchenväter seine Ansicht bestätigt haben.58 Man lese ein wenig bei den Kommentatoren der folgenden Worte des Minucius Felix nach: »Unser Geist ist zu beschränkt, um ihn zu erkennen, und daher schätzen wir ihn (Gott) angemessen ein, wenn wir ihn als den Uneinschätzbaren bezeichnen. Ich will sprechen, wie ich denke: Wer glaubt, daß er die Größe Gottes kennt, macht sie kleiner, wer sie nicht kleiner machen will, beansprucht nicht, sie erkannt zu haben, und sucht nicht nach einem Namen für Gott.«59 Man wird feststellen, daß die Kommentatoren eine unendliche Anzahl von Stellen anführen, an denen die Kirchenväter in diesem Punkt mit Arnobius übereinstimmen. Und man beachte, daß der Jesuit Lescalopier eben diese Worte des Minucius Felix zur Bestätigung seiner Anmerkung anführt, daß die weisesten und bescheidensten Philosophen durchgängig einräumen, daß Gott nicht nur unsichtbar und unaussprechlich, sondern sogar unbegreiflich ist. »Die weisesten und bescheidensten Philosophen bezeichnen Gott als unbegreiflich, völlig unsichtbar, unaussprechlich, und wenn es erlaubt ist, so zu reden, als unanrufbar, unnennbar, wie allenthalben eingeräumt wird. Hierfür kann kein glänzenderer Beleg als der von Minucius Felix angeführte erbracht werden.«60

57

Arnobius, Buch I, S. 17 meiner Ausgabe. Man sehe Elmenhorst zu dieser Passage aus Arnobius, S. 28 f. meiner Ausgabe. 59 Minucius Felix, S. 143 meiner Ausgabe. 60 Lescalopier zu Cicero, De natura deorum, S. 2. 58

SOCINUS, Faustus

socinus, Faustus, Enkel des Vorvorhergehenden  Marianus Socinus  und Hauptbegründer einer sehr üblen Sekte, die unter seinem Namen läuft und ungeachtet der Verfolgungen recht lange in Polen blühte (A). Socinus wurde am 4. Dezember 1539 in Siena geboren. In seiner Jugend studierte er wenig; er befaßte sich nur oberflächlich mit den Bildungsfächern und erlernte lediglich die Anfangsgründe der Logik. Die Briefe, die sein Onkel Laelius an seine Verwandten richtete und die ihnen und ihren Frauen mannigfach die Saat der Häresie vermittelten,a machten auch auf ihn Eindruck, so daß er aus dem Gefühl heraus, nicht unschuldig zu sein, wie die anderen die Flucht ergriff, als die Inquisition sich anschickte, diese Familie zu verfolgen. Er hielt sich in Lyon auf, als ihn die Nachricht vom Tod seines Onkels erreichte, und er brach unverzüglich von dort auf, um sämtliche Schriften des Verstorbenen in seinen Besitz zu bringen. Er kehrte nach Italien zurück und zeigte sich dem Großherzog von einer so angenehmen Seite, daß der Reiz des Lebens an diesem Hof und die ehrenvollen Ämter, die er dort bekleidete, ihn zwölf Jahre lang vergessen ließen, daß er als der Mann gegolten hatte, der letzte Hand an das samosatianische System der Theologie legen würde, mit dem sein Onkel begonnen hatte. Schließlich schien ihm die Erforschung der Wahrheiten des Evangeliums den Vorzug vor den Annehmlichkeiten des Hofes zu verdienen; er ging aus freien Stücken ins Exil und begab sich im Jahr 1574 nach Deutschland. Auf die Aufforderungen des Großherzogs, er möge doch zurückkehren, hörte er nicht. Drei Jahre lang a

»Auch unter seinen Verwandten hatte Laelius, ein großer Meister in der Kunst der diskreten Beeinflussung, die Saat der Wahrheit ausgestreut, und er pflegte sie sogar aus großer Entfernung so eifrig und erfolgreich, daß er einige ihrer Frauen für sich gewann, obwohl er infolge seiner Abwesenheit noch nicht persönlich mit ihnen bekannt war.« Vita Fausti Socini, S. 2.

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hielt er sich in Basel auf und studierte dort sehr aufmerksam die Theologie. Er warf sich auf Prinzipien, die vom protestantischen System sehr weit entfernt waren, und setzte sich deren Durchsetzung und Verbreitung in den Kopf. Zu diesem Zweck verfaßte er eine Schrift De Jesu Christo servatore (B). Anfangs des Jahre 1578 disputierte er in Zürich gegen Francesco Puccio. Die Meinungsverschiedenheiten, die Franz Davidis durch seine üblen Lehren von der Stellung und der Macht des Sohnes Gottes hervorgerufen hatte, brachten große Unruhe in die Kirchen Transsilvaniens. Blandrata, ein Mann von hohem Ansehen in den Kirchen und bei Hofe, rief Socinus, den er für fähig hielt, diese Mißhelligkeiten zu beenden. Socinus quartierte sich bei Franz Davidis ein, aber dieser ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen, sondern verteidigte sie mit Nachdruck, und zwar so kühn, daß man ihn ins Gefängnis warf. Sein Tod, der kurz darauf eintrat, brachte Socinus üble Nachrede ein, obgleich man behauptet, er habe nichts damit zu tun gehabt, daß der Fürst von Transsilvanien den Rat erhielt, Franz Davidis zu unterdrücken. Im Jahr 1579 zog er sich nach Polen zurück und wollte in die Glaubensgemeinschaft der Unitarier eintreten; aber da er in einigen Punkten anderer Meinung war als sie und nicht Ruhe geben wollte, wies man ihn ziemlich brüsk zurück. Er ließ es sich nicht nehmen, zugunsten ihrer Kirchen gegen ihre Kritiker zu schreiben. Das Buch, das er gegen Jakob Palaeologus schrieb, lieferte seinen Feinden einen Vorwand, um den König von Polen zu alarmieren; trotzdem war das ein Buch, das nichts weniger als den Aufruhr predigte (C). Aber obwohl die bloße Lektüre dieses Werks hätte genügen können, um die Denunzianten zu widerlegen, hielt Socinus es für angebracht, Krakau nach vierjährigem Aufenthalt zu verlassen und bei einem polnischen Edelmann Zuflucht zu suchen.b Mehr als drei Jahre lebte er unter dem Schutz mehrerer Adliger dieses Königreichs und heiratete sogar eine Tochter aus gutem Hause. Er verlor sie im Jahr 1587, was ihn über alle Maßen betrübte. Zu allem Unglück sah er sich durch den Tod von Franz von Medici, dem Großb

Es handelte sich um Christoph Morstinius, Gutsherrn von Pawlikov.

Socinus, Faustus

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herzog der Toskana, der Einkünfte aus seinem Erbe beraubt. Die Genugtuung, seine Ansichten endlich von mehreren Pastoren gebilligt zu sehen, wurde im Jahr 1598 aufs empfindlichste gestört: In Krakau erfuhr er tausend Beleidigungen, und man hatte große Mühe, ihn aus den Händen des Pöbels zu retten. Er verlor seinen Hausrat und einige seiner Manuskripte, was er zutiefst bedauerte (F). Unter anderem verlor er das Werk, das er gegen die Atheisten geschrieben hatte. Um diesen Gefahren zu entkommen, zog er sich in ein Dorf etwa neun Meilen außerhalb Krakaus zurück und verbrachte den Rest seines Lebens bei dem polnischen Edelmann Abraham Blonski.c Dort starb er am 3. März 1604.d Seine Sekte, weit davon entfernt, mit ihm unterzugehen, nahm in der Folgezeit beträchtlich zu, aber seit sie im Jahr 1658 aus Polen vertrieben wurde, ist sie stark verfallen und in der sichtbaren Erscheinung stark geschrumpft. Es gibt jedoch kaum jemanden, der nicht überzeugt wäre, daß sie unsichtbar um ein Vielfaches gewachsen ist und von Tag zu Tag mehr Anhänger findet; man glaubt sogar, daß, so wie die Dinge jetzt stehen, Europa zu seinem Erstaunen binnen kurzem sozinianisch werden würde, falls mächtige Fürsten sich öffentlich zu dieser Häresie bekennen oder auch nur befehlen würden, daß die weltlichen Nachteile aufgehoben werden, die mit dem Bekenntnis zu ihr verbunden sind. Das ist die Meinung vieler Menschen, und das beunruhigt und alarmiert sie. Andere halten diese Befürchtung jedoch für grundlos und glauben, die Fürsten würden sich niemals einer Sekte anschließen, die den Krieg und die Ausübung von Staatsgewalt mißbilligt (G). Das nämlich, so sagen sie, wird selbst Privatpersonen stets mißfalc

»Als zu diesem Beispiel barbarischer Grausamkeit noch Drohungen hinzukamen, ging er von Krakau nach Luclavicie, einem etwa neun Meilen von Krakau entfernten Dorf, das als sein letzter Wohnsitz und sein Sterbeort berühmt geworden ist. Hier lebte er einige Jahre als Haus- und Tischgenosse des Edelmanns Abraham Blonski und als Nachbar von Stoinius.« Vita Fausti Socini, Blatt **3. d Seiner Lebensbeschreibung entnommen, die Samuel Przicovius, ein polnischer Edelmann, verfaßt hat. Sie steht am Anfang von Buch I der Bibliotheca fratrum polonorum.

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len; denn es gibt nur wenige Menschen, die auf politischen Ehrgeiz und das Kriegshandwerk verzichten können (H). Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur auf die Erfahrung zu schauen und zu sehen, was tagtäglich geschieht. Man bringt noch weitere sehr überzeugende Gründe (I) dafür bei, daß diese Sekte kaum weiter anwachsen kann. Wer sagt, daß die Vereinigten Provinzen der Niederlande ihr volle Gewissensfreiheit gewähren, ist kaum mit der Geschichte vertraut (K) und wird sich gründlich widerlegt sehen, wenn er die Erwiderungen auf die Briefe des Herrn Stouppe liest.e Er wird darinf die Daten zahlreicher Verordnungen gegen die Sektierer finden. Ich will etwas über diejenigen sagen,g die sich auf die Sozinianer beziehen, und ein wenig näher auf die Verordnung aus dem Jahr 1653 eingehen (L). Die Beschuldigung, die ein moderner Autor öffentlich erhoben hat, nämlich daß man in Port Royal heimlich ihre Häresien lehre, hat nichts für sich, und gewiß hat er ein falsches Geschichtchen darüber erzählt. Das Publikum hat die Widerlegung lesen können.h Die meisten Menschen wären tieftraurig, wenn eine so schlecht belegte Geschichte aus ihrer Feder an die Öffentlichkeit gelangte wie diejenige über den jungen Picaut, den einzigen Gewährsmann des modernen Autors, von dem hier die Rede ist. Ich will nicht im einzelnen von den Meinungen und Schriften des Socinus berichten. Man kann das im Überblick Moréris Dictionnaire entnehmen. Ein deutscher Historiker hat die Lehre der Sozinianer in 229 Sätze gefaßt.i Der allgemeinste gegen die Sozinianer vorgebrachte Einwand lautet, daß sie mit ihrer Weigerung, das zu glauben, was in ihren Augen philosophischen Einsichten widerstreitet, und ihren Glauben den unergründlichen Mysterien der christlichen Religion zu e

Jean Brun, Apologie pour la religion des hollandais, gedruckt im Jahr 1675. f S. 173. g In Anm. (L). h Man sehe die Stelle, die ich unten in Fußn. (103) zitiere.  Diese Fußnote nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  i Daniel Hartsoeker, Continuatio Jo. Micraelii syntagm. historiae ecclesiast.

Socinus, Faustus

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unterwerfen, dem Pyrrhonismus, Deismus und Atheismus den Weg bereiteten. Man könnte ihnen vielleicht vorwerfen, daß sie zumindest indirekt das gleiche Tor durch ihre Erklärungsweise derjenigen Schriftstellen öffneten, welche die Konsubstantialität des Wortes betreffen. Denn das Resultat ihrer Erklärungen ist anscheinend, daß die Apostel in ihrem glühenden Eifer für den Ruhm Jesu Christi bei der Schilderung seiner Vollkommenheiten die übertriebensten Redefiguren und -wendungen gebrauchten, die eine fromme Gesinnung nahelegen kann. So haben auch die Verehrer der hl. Jungfrau diese so hoch erhoben, wie sie nur konnten, und sind dabei in größtmögliche Nähe einer wahrhaften und wirklichen Vergöttlichung gekommen. Aber wenn man die Sprache der Apostel einem Überschwang des Eifers und nicht der unmittelbaren Lenkung durch den hl. Geist zuschreiben müßte, dann hätte, wie jedermann einleuchtet, die Schrift kaum mehr Autorität als die Lobgesänge auf die Heiligen. Wenn man also die Göttlichkeit der Schrift zerstört, dann stürzt man die gesamte Offenbarung um, und dann ist alles nur ein Disput von Philosophen. Ich vergaß zu sagen, daß einige Rechtgläubige darüber geklagt haben, daß gewisse Widerlegungen von Büchern des Socinus seiner Sekte merklichen Zulauf verschafft hätten (O).

(A) Eine Sekte (---), die ungeachtet der Verfolgungen recht lange in Polen blühte. Sigismund August gewährte den Sekten Gewissensfreiheit, die mit der römischen Kirche gebrochen hatten. Anfänglich bildeten diese keine getrennten Körperschaften, aber als die Evangelischen die Ansichten der Unitarier kennenlernten, wollten sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Es entstanden also zwei Glaubensgemeinschaften. Zum Bruch kam es in Krakau auf Betreiben von Gregor Pauli. Die Unitarier hatten verschiedene Kirchen in Polen und Litauen, teils in den großen Städten,1 teils 1

Wie z. B. in Krakau, Lublin und Nowgorod.

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auf den Gütern der Edelleute auf dem Lande. Sie errichteten ihr Zentrum in Rakau in Klein-Polen; dort trat jedes Jahr ihre Synode zusammen, und dort gründeten sie auch ein Kolleg und eine Druckerei. Einige Katholiken schickten ihre Söhne auf dieses Kolleg, einige schlossen sich auch der Gemeinschaft dieser Ketzer an. Mehrere Protestanten taten das Gleiche, und aus der Druckerei von Rakau sah man unzählige Schriften hervorkommen, die in fremde Länder gingen. Diese Erfolgsgeschichte wurde im Jahr 1638 unterbrochen, denn einige Schüler des Rakauer Kollegs zerstörten mit Steinwürfen ein hölzernes Kreuz, das an einer Hauptstraße stand, woraufhin der Reichstag in Warschau das Einreißen des Kollegs, die Schließung der Kirche von Rakau, die Zerstörung der Druckerei sowie die Verbannung der Pastoren und Lehrer verfügte.2 So geschah es. Einige Zeit später ließen die Richter von Lublin die Kirchen von Kiselin und Beresk in Wolhynien unter dem Vorwand zerstören, daß die Pastoren von Rakau und die Angehörigen des Kollegs dort Zuflucht gefunden hätten. Der Reichstag des Jahres 1647 verbannte Jonas Schlichting, weil er ein Buch mit dem Titel Confessio christiana veröffentlicht hatte, und ließ dieses Buch von der Hand des Henkers verbrennen. Ungeachtet dieser Strafmaßnahmen hatten die Unitarier bis zum Jahr 1658 zahlreiche Andachtsstätten in diesem Königreich. Dann wurden sie vertrieben; man bediente sich eines Vorwands, den einige von ihnen dadurch lieferten, daß sie sich unter den Schutz des Königs von Schweden stellten, der fast ganz Polen erobert hatte. Dennoch nannte man nicht diesen Grund in dem Verbannungsedikt, denn man fürchtete, die Schweden vor den Kopf zu stoßen, die eine Generalamnestie für alle Untertanen des Königs von Polen ausbedungen hatten, die sich ihnen während der Invasion angeschlossen hatten. Man begründete die Strafe des Exils einzig und allein mit der Lehre dieser Leute; man gab vor, um den Segen Gottes auf das Königreich zu lenken, müsse man diejenigen verbannen, welche die ewige Gottheit des Sohnes Gottes 2

In Anm. (L) werde ich einen Autor zitieren, der bestreitet, daß der Reichstagsbeschluß alles das enthielt.

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leugneten. Man befahl ihnen also den Abzug und drohte denen die Todesstrafe an, die sich diesem Befehl nicht unterwarfen; man konfiszierte ihren ganzen Besitz und verbot allen unter der gleichen Strafandrohung, sie auf irgendeine Art zu unterstützen oder ihnen im Exil irgendein Zeichen des Wohlwollens zu geben.3 (…). Von diesem harten Schlag haben sich die Sozinianer nie mehr erholt; sie zerstreuten sich so gut es ging über Transsilvanien, Schlesien, Preußen usw. In den lateinischen Worten der zitierten Quelle steckt ein großer Fehler; sie legen nämlich den schwerwiegenden Irrtum nahe, daß der Besitz der Unitarier einfach konfisziert wurde, und sie verschweigen, daß man ihnen erlaubte, noch zwei Jahre in dem Königreich zu bleiben, um ihre Angelegenheiten zu ordnen. Es ist gewöhnlich so, daß diejenigen, die sich über ihre Leiden beklagen, alles verschweigen, was den Eindruck des harten Vorgehens ihrer Verfolger abmildern könnte. Damit meine Leser den wahren Sachverhalt erfahren, muß ich daher diesen anderen Bericht anfügen. »Während des letzten Krieges, den die Schweden in Polen führten, stellte sich heraus, daß die Arianer oder Sozinianer, die aus den Trümmern des Staates aufsteigen wollten, mit Ragotski, dem Fürsten von Transsilvanien, Verbindung aufnahmen, der das Königreich zur gleichen Zeit angegriffen hatte. Die katholischen Herren im Allgemeinen Reichstag von Warschau des Jahres 1658 nahmen die Gelegenheit wahr, diese verabscheuenswürdige Sekte in Polen auszurotten, die noch die größten Geißeln Gottes über den Staat hätte bringen können, der dem Zusammenbruch nahe gewesen war. Die lutherischen und calvinistischen Gesandten, die sich auf dem Reichstag befanden, befürchteten, das geplante Gesetz gegen diese Ketzer würde auch ihnen Nachteile bringen und später würde man mit ihnen auf die gleiche Art verfahren; sie sprachen sich daher gemeinsam gegen das Gesetz aus. Aber weil sie im Verhältnis zu den Katholiken nur sehr wenige waren und man sie gewann, indem man ihnen ihre Freiheit ließ und weil sie schließlich die Arianer nicht liebten, ja schon mehr als einmal gefordert hatten, man möge sie in Polen nicht dulden, 3

Der Vorrede der Bibliotheca fratrum polonorum entnommen.

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beschloß man am Ende in allgemeinem Einvernehmen ein Gesetz, das den Arianismus verbot und Arianer und Sozinianer unter derselben Bezeichnung verpflichtete, entweder ihrer Ketzerei abzuschwören oder das Königreich innerhalb von zwei Jahren zu verlassen, die man ihnen ließ, um ihren Besitz zu verkaufen. Dieses Gesetz, das seither auf weiteren Allgemeinen Reichstagen bestätigt worden ist, gehört nicht zu denen, die mit der Zeit unmerklich die Kraft verlieren, die man ihnen in dem hitzigen Eifer gegeben hat, den man von Zeit zu Zeit gegen Störer der öffentlichen Ordnung zeigt. Das Gesetz wird heute noch genauso ausgeführt wie damals.«6 In der Befürchtung, man könnte glauben, der Jesuit Maimbourg habe die Geschichte verfälscht, um dem König und den Ständen von Polen das Lob zuzuschanzen, daß sie eine gewisse Mäßigung gezeigt hätten, muß ich an dieser Stelle sagen, daß sozinianische Autoren7 berichten, das Edikt des Jahres 1658 habe ihnen eine Frist von drei Jahren zum Verkauf ihres Besitzes gesetzt und erst nachträglich habe man eines der drei Jahre gestrichen, so daß der Tag der Ausreise auf den 10. Juli 1660 festgesetzt wurde.8 Man kann kaum etwas Beklagenswerteres lesen als die Beschreibung der Übel, denen sie vom Jahr 1648 bis zu ihrer Ausreise aus Polen ausgesetzt waren. In den zugestandenen zwei Jahren tat man ihnen hunderterlei Schimpf an; sie konnten sich ihres Besitzes nur zu Schleuderpreisen entledigen; man verschlimmerte ihr Elend durch Schikanen aller Art. Sie können den öffentlichen Bruch ewig gültiger und unwiderruflicher Edikte und königlicher Eide nicht vergessen, in deren Schatten sie seit fast einem Jahrhundert lebten; noch weniger können sie darüber hinwegsehen, daß es die Geistlichen waren, welche die Stände des Königreichs zu diesem Bruch und König Johann Kasimir zur Verletzung seines zehn Jahre zuvor geleiste6

Maimbourg, Hist. de l’arianisme, Buch XII, S. 375 f. in Bd. IV der holländischen Ausgabe. 7 Man sehe die zwei Briefe, die am Ende der Historia reformationis polonicae, S. 278 ff. abgedruckt sind. 8 A. a. O., S. 294.

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ten Eides anstachelten. (…). Um zu wissen, welche Belästigungen sie schon vor der Widerrufung der Edikte erfuhren, braucht man nur die lateinische Passage zu lesen, die ich jetzt zitieren werde; man kann ihr zwei Dinge entnehmen: Das eine ist, daß der polnische König und Staat mehrere Schläge nacheinander geführt haben, bevor sie zum äußersten Mittel griffen. So ist auch Frankreich gegen die Reformierten vorgegangen.11 Das andere ist, daß die Unitarier das ganze Unglück Polens auf die Verfolgungen zurückführten, welche die Sekten, die sich vom Papst losgesagt hatten, entgegen geltenden Edikten in diesem Königreich erlitten hatten. »Dann erinnern sie an Polen, unser Vaterland, das unter einem unglücklichen Stern steht: Es hat nicht allein uns, sondern auch den Evangelischen und anderen unter dem Bruch von Eiden und Verträgen die Kirchen weggenommen, die Freiheit der Religionsausübung eingeschränkt und sich wegen unserer abweichenden Religionsauffassung feindselig gezeigt; damit hat Polen die rächende Hand Gottes herausgefordert und sich in Unglück und Elend verstrickt, dessen Ende noch gar nicht abzusehen ist. Solange Gewissens- und Religionsfreiheit der Bürger unversehrt bestanden, blühte Polen in tiefstem Frieden und in glücklichem Überfluß an allen Gütern; aber sobald sich dieses Band, das alle abweichenden Religionen unter dem gleichen Gesetz zusammenhielt, zu lockern begann, ist alles ›ins Schlechtere gestürzt und wird rückwärts ins Unglück gerissen‹.«12 So äußern sie sich in einer Schrift, die sie im Jahr 1654 an die Stände der Provinz Holland richteten.

11

D. h. vor der Widerrufung des Edikts von Nantes im Jahr 1685. Apologia pro veritate accusata, adversus edictum ordinum hollandiae, S. 40. 12

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(B) Eine Schrift »De Jesu Christo servatore«. Darin streitet Socinus gegen einen Pastor aus Paris,13 der auf dem Weg nach Frankfurt durch Basel kam und bei ihm logierte. Dieses Buch wurde im Jahr 1595 von einem Schüler des Autors gedruckt. Er setzte den Namen des Socinus darauf, der zuvor noch nicht auf dem Titel seiner Werke erschienen war. (…).14 Etwas später werde ich sagen,15 warum es so lange dauerte, bis er seinen Namen auf die Bücher setzte, die er veröffentlichte.

(C) Ein Buch, das nichts weniger als den Aufruhr predigte. In ihm verurteilt Socinus es so scharf, daß Untertanen gegen ihren Fürsten zu den Waffen greifen und protestantische Theologen es für erlaubt erklären, den Unterdrückern der Gewissensfreiheit entgegenzutreten, daß sich die entschiedensten Verfechter einer willkürlichen und despotischen Macht der Souveräne vielleicht niemals klarer geäußert haben. Er spricht eher wie ein Mönch, der seine Feder verkauft hat, um die protestantische Reformation verhaßt zu machen, denn wie ein Flüchtling aus Italien. Hier sind seine Worte: »Durch Euer Zugeständnis an das Christenvolk, Krieg zu führen, ist es dahin gekommen, daß das Volk ohne Bedenken im Namen Christi fröhlich die Waffen gegen die Obrigkeit ergreift, nicht allein mit Eurer Zustimmung und Billigung, sondern sogar auf Euer Anraten und Betreiben, wobei Ihr auch noch in gedruckten Büchern öffentlich erklärt und behauptet, das könne und müsse so sein. Heute bezeugt die ganze Welt, was ich sage; sie hat das geschehen sehen oder in zuverlässigen Nachrichten davon erfahren, aber die Hauptzeugen sind die edlen Provinzen Frankreich und Nie13

Er hieß Jacques Couet und war später Pastor der französischen Kirche von Basel. Man sehe oben Anm. (E) des Artikles ROTAN.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  14 Hoornbeeck, Apparatus ad controvers. socinianas, S. 51. 15 In Anm. (E).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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derdeutschland, die schon lange vom Blut ihrer Bürger getränkt und überströmt sind, weil dort die Überzeugung herrscht, aus bestimmten Gründen sei es einem Volk oder einem Teil des Volkes erlaubt, gegen seinen Herrn und Fürsten Krieg zu führen. Daher sehen wir in unseren Tagen, wie diejenigen, die sich mehr als andere ihres Christentums rühmen, unter dem Vorwand, sie verteidigten die christliche Religion, das tun, wovor selbst barbarische und verkommene Menschen zurückschrecken, nämlich Krieg gegen den eigenen Herrscher zu führen. Und doch hören wir in aller Öffentlichkeit – wenn es Gott gefällt –, wie diejenigen, die hierbei in offener Feldschlacht oder sonstwo getötet oder verstümmelt werden, zu christlichen Märtyrern erhoben werden. Was für ein Zeitalter! Denn das sind wie gesagt die Früchte Eurer Erlaubnis zur Kriegsführung. Ihr seid mir schöne Verteidiger der Obrigkeit, die Ihr den Völkern Waffen gegen die Obrigkeit, d. h. gegen ihren König in die Hand gebt, wenn Ihr lehrt, daß auf Befehl der Obrigkeit gerechte Kriege geführt werden können. Denn wenn der König zum Tyrannen wird – und was ein Tyrann ist, versteht jeder auf seine Weise –, sei nicht länger der König, sondern das Volk selbst oder einige von den Edlen des Reiches die Obrigkeit: das behauptet das gemeine Volk aufgrund Eurer Fingerzeige oder gewiß mit Eurer Billigung, und sie tragen aufgrund Eurer Lehre kein Bedenken, den, der ihrer Meinung nach ein Tyrann ist, und seine Macht mit ihren Waffen abzuwehren und einen offenen Krieg mit ihm zu führen. Jetzt wissen wir aus Erfahrung nur allzu gut, wie viele ungeheure Übel notwendigerweise daraus entstehen, die man eher laut beklagen als mit Worten angemessen darlegen kann.«16 Hoornbeeck zitiert diese Passage in ihrer ganzen Länge und fügt ihr eine kurze Widerlegung bei; unter anderem bemerkt er,17 daß eine so mißgünstige Kritik am Verhalten der Holländer gegen Philipp II. von den Generalstaaten hätte zitiert werden können, als sie die Sekte der Sozinianer im Jahr 1598 16

Socinus, Liber de magistratu, adversus Palaeologum, Teil I, S. 144 f., bei Hoornbeeck, Apparatus ad controvers. socinianas, S. 58. 17 Hoornbeeck, a. a. O., S. 59.

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vertrieben. Ich wundere mich, daß Cocceius, der eine andere Passage aus diesem Buch von Socinus zitiert, darüber hinweggeht, daß dieser Ketzer namentlich die Kriege der Holländer gegen Spanien verurteilt. Die Worte des Cocceius verdienen hier einen Platz: wir werden aus ihnen ersehen, daß die Sozinianer 1654 das Verhalten, das Socinus 1581 getadelt hatte, in den höchsten Tönen lobten. »Socinus sagt in seiner Schrift gegen Palaeologus, S. 261: ›Daraus geht hervor, wie verkehrt diejenigen handeln, die gegen die Herrschenden zu den Waffen greifen, um – in ihren eigenen Worten – Gottesdienst und Religion zu schützen.‹ So redete Socinus im Jahr 1581. Und niemand wird meiner Ansicht nach glauben, daß er damit nicht die Edlen dieser Provinzen meint. Jetzt freilich lobt der Ritter den Krieg, den die illustren Generalstaaten im Namen jener Gewissensfreiheit führten, und gibt vor, Gott habe diese berühmte Republik dazu ausersehen, der Sitz jener Freiheit oder vielmehr Frechheit zu sein.«18 Man beachte übrigens, daß ein Verleumder zu allem fähig ist. Denn man denunzierte Socinus beim König von Polen als Verfasser eines aufrührerischen Pamphlets;19 nichtsdestoweniger verurteilte dieses Pamphlet frei heraus alle Autoren, die den Untertanen gestatteten, sich zu erheben und sich zum Richter in der Frage zu machen, ob der Fürst tyrannisch herrsche. Ich glaube nicht, daß ein Sozinianer bis heute behauptet hat, es sei gut und gerecht, gegen seinen Fürsten zu den Waffen zu greifen. Der Grund ist, daß sie ihre Sekte in diesem Punkt nicht zu verteidigen brauchten. Sie hat in dieser Hinsicht ihre Unschuld bewahrt und ähnelt nicht mehreren anderen Sekten, die mit der Kurtisane des Petronius sagen könnten, »Ich erinnere mich nicht, jemals Jungfrau gewesen zu sein, usw.« Anscheinend hat es den Sozinianern an Gelegenheiten gefehlt, sie in diesem Punkt nachzuahmen.

18 19

Cocceius, Examen apologiae equitis poloni, S. 141. (…) Vita Fausti Socini, Blatt **2, Rückseite.

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(F) Er verlor (---) einige (---) Manuskripte, was er zutiefst bedauerte. Die Krakauer Studenten hetzten einige Leute aus dem Abschaum des Volkes auf, und dann drang man in das Wohnhaus des Socinus ein. Man riß ihn halbnackt aus seiner Kammer, obwohl er schwer krank war; man führte ihn durch die Straßen, man rief, er müsse gehenkt werden; man schlug ihn, und nur mit allergrößter Mühe konnte er von einem Professor aus den Händen des Pöbels befreit werden. Sein Haus wurde geplündert, er verlor seinen Hausrat; aber dieser Verlust schmerzte ihn nicht so sehr wie der einiger Manuskripte, die er um den Preis seines Blutes gern zurückerlangt hätte. (…).22

(G) Die Fürsten würden sich niemals einer Sekte anschließen, die den Krieg und die Ausübung von Staatsgewalt mißbilligt. Wie oft sehen wir Herrscher, die mit ihren Untertanen handeln, wie ein Privatmann mit seinen Pferden und Schafen handelt! Sie heben Truppen aus, nicht um ihre Grenzen zu verteidigen oder um ihre Feinde anzugreifen, sondern um sie gegen Geld in die Dienste anderer Fürsten zu schicken.23 Sie sind entzückt, Untertanen zu haben, die bereit sind, sich beim ersten Trommelschlag anwerben zu lassen; das ist nämlich für sie von großem Nutzen. Sie würden sich sehr ärgern, ihre Untertanen bei den Sozinianern zu sehen; ihre Finanzen würden darunter leiden. Andererseits fallen Herrscher gern in die Nachbarstaaten ein oder verbünden sich mit einer kriegführenden Partei; ihnen liegt daran, daß die anderen wissen, daß man sie nicht ungestraft angreift. Jedenfalls gibt es nichts Nutzloseres, als über Leute zu herrschen, die aus religiöser Überzeugung keine Waf22

A. a. O., Blatt **3. Man sehe, was ich oben, am Ende der Anm. (L) des Artikels ANABAPTISTEN gesagt habe, sowie Anm. (E) des Artikels BULLINGER.  Diese Artikel nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  23

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fen tragen dürfen. Man erzählt eine Geschichte, die vielleicht nur ein Scherz ist, nämlich daß der König von Polen bei einem Angriff rebellischer Kosaken und der Tataren die Hilfe aller seiner Untertanen benötigte, um den Feind zurückzuschlagen, und daher den Sozinianern befehlen ließ, zu den Waffen greifen. Sie antworteten, ihr Gewissen erlaube nicht, Menschenblut zu vergießen oder vernünftigen Geschöpfen irgendeinen Schaden zuzufügen. Daraufhin schlug man ihnen vor, zur Armee zu gehen, aber ihre Musketen nicht zu laden. Ihr werdet die Anzahl der Soldaten vergrößern, sagte man ihnen, und das wird helfen, denn man wird uns mehr fürchten. Sie hatten ziemliche Mühe, sich mit diesem Kompromiß anzufreunden. Man sehe die folgende Anmerkung, am Ende. Ich weiß aus guter Quelle, daß die polnischen Edelleute, die Sozinianer waren, zur Armee gingen, wenn die Gesetze des Königreichs dies verlangten, und daß einige von ihnen sogar den Beruf des Soldaten wählten, ohne daß ihre Gehorsamspflicht gegenüber den Gesetzen der Republik dies erforderte: In diesem Falle billigte ihre Sekte ihr Verhalten nicht. (H) Es gibt nur wenige, die auf politischen Ehrgeiz und das Kriegshandwerk verzichten können. Unzählige Menschen lieben den Krieg und werden von sehr starken Motiven dazu bewegt. Die Edelleute und die Vornehmen sind nur von der Leidenschaft durchdrungen, Karriere zu machen und Ruhm zu erwerben, oder darüber hinaus von dem Wunsch, sich von der Armut zu befreien. Die Soldaten sind durch Faulheit und Sittenlosigkeit motiviert; sie hoffen, sie brauchten die meiste Zeit über nicht zu arbeiten; sie erwarten Gelegenheiten zum Plündern und Fouragieren und sehen einem Überfluß an gutem Wein und leichten Mädchen entgegen. In allen Städten der Welt streben diejenigen hitzig nach Ämtern, denen solche aufgrund ihrer sozialen Stellung zustehen, und sie machen tausend Anstrengungen, um sie zu erlangen. Wird ein solches Amt frei, sind sofort mehrere Konkurrenten zur Stelle, die sich von langer Hand durch Umtriebigkeit und Geschenke

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den Weg gebahnt haben – ein sicheres Zeichen dafür, daß der Wunsch nach Amt und Würden sehr stark und sehr weit verbreitet ist. Daraus muß man schließen, daß die sozinianische Religion nicht für ein ganzes Volk noch für die Mehrheit eines Volkes geschaffen ist; sie eignet sich nur für bestimmte erlesene Charaktere. Wenn es stimmt, daß ein Papst bei der Nachricht, daß die Protestanten weder Ehebruch noch Hurerei duldeten, ausgerufen hat, sie würden nicht lange bestehen,24 dann kann man mit Sicherheit sagen, daß seine Prognose zutreffender gewesen wäre, wenn sie sich auf eine Sekte bezogen hätte, die auf Waffen und Würden verzichtet.

Ob die Zurückweisung von Mysterien ein gutes Mittel ist, Anhänger zu finden Es sei mir erlaubt, meinen Lesern an dieser Stelle eine Bemerkung mitzuteilen, mit der man, wie ich höre, Leute kritisiert hat, die sagen, daß alle diese geistreichen Italiener, die sich vom Calvinismus in einen neuen Arianismus stürzten, sich vorgenommen hätten, eine größere Partei zu werden als die der deutschen und Genfer Reformatoren. Man nimmt an, daß sie, um viele Anhänger zu gewinnen, vorgaben, die Mysterien zu bestreiten, ohne daß sie an ihnen zweifelten. Es ist ein schweres Joch für die Vernunft, den Verstand unter den Glauben an drei Personen von göttlichem Wesen und an einen Gottmenschen gefangen zu nehmen;25 man verschafft daher den Christen unendliche Erleichterung, wenn man sie von diesem Joch befreit; folglich ist es glaubhaft, daß man eine Menge Anhänger gewinnt, wenn man ihnen diese große Bürde nimmt. Das ist der Grund, warum diese aus Italien nach Polen verpflanzten Flüchtlinge die Trinität, die hypostatische Union, die Erbsünde, die absolute Prädestination usw. leugneten. Sie glaubten, daß, Man sehe den Artikel ABELIANER, Fußn. (3).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  25 Man sehe L’Esprit de Mr. Arnauld, Bd. I, Kap. 6, S. 211. 24

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wenn Calvin viele Menschen für sich gewann, indem er die Notwendigkeit abschüttelte, all die unbegreiflichen Dinge zu glauben, welche die Transsubstantiation impliziert, sie noch größere Fortschritte machen würden, wenn sie all das Unbegreifliche verwarfen, was dieser Doktor beibehalten hatte. Hierauf kann man jedoch erwidern, daß sie sehr dumm und ihrer italienischen Erziehung gar nicht wert gewesen wären, wenn sie sich dieser List bedient hätten. Die spekulativen Mysterien der Religion machen dem Volk kaum zu schaffen. Sie zermürben zwar einen Theologieprofessor, der bei dem Versuch, sie zu erklären und den Einwänden der Ketzer Rechnung zu tragen, angestrengt über ihnen grübelt; und einige andere theoretisch interessierte Personen, die sie mit großer Wißbegierde untersuchen, können ebenfalls durch den Widerstand ihrer Vernunft zermürbt werden: aber die ganze übrige Menschheit ist ihretwegen vollkommen beruhigt. Sie glauben alles, was man ihnen darüber erzählt, oder glauben es zu glauben und ruhen sanft in dieser Überzeugung. Man wäre daher nahezu ein Schwärmer, wenn man sich einreden wollte, daß der Bürger und der Bauer, der Soldat und der Edelmann von einem schweren Joch befreit würden, falls man sie vom Glauben an die Trinität und die hypostatische Union dispensierte. Sie finden sich viel besser mit einer geheimnisvollen und unbegreiflichen Lehre ab, welche die Vernunft übersteigt, denn man bewundert das, was man nicht begreift, viel mehr und macht sich eine erhabenere und sogar tröstlichere Vorstellung davon. Alle Zwecke der Religion sind in Dingen, die man nicht begreift, besser aufgehoben, denn sie flößen mehr Bewunderung, mehr Respekt, mehr Furcht und mehr Vertrauen ein. Wenn die falschen Religionen Geheimnisse enthielten, dann deshalb, weil sie vom Affen der wahren Religion gefälscht worden sind. Gott hat in seiner unendlichen Weisheit auf den Zustand des Menschen Rücksicht genommen26 und in seiner Offenbarung Licht und Finsternis gemischt. Mit einem Wort, man muß einräumen, daß bei gewis26

Cäsar zufolge ist das ein Zustand des Lasterhaftigkeit: »Infolge eines in der menschlichen Natur liegenden Fehlers«, sagt er, »kommt es, daß wir

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sen Dingen die Unbegreiflichkeit die Zustimmung erleichtert.27 Wenn man eine Lehre nur für Philosophen erfinden wollte, die den Titel Religion des Arztes verdiente, dann würde man sich wahrscheinlich verpflichtet fühlen, alle schwer begreiflichen Lehren daraus wegzulassen; gleichzeitig müßte man jedoch auf die Eitelkeit verzichten, daß die Menge einem folgt. Wenn man mit dieser Leidenschaft an die Arbeit gehen wollte, müßte man es wie der Held bei Lorenzo Gratian machen.28 Aber gestehen wir zu, daß diese Italiener dumm genug gewesen seien, sich einzubilden, daß sie das Volk von einer schwer drückenden Last befreien würden, wenn sie es vom Glauben an die Trinität usw. dispensierten – erwartet man auch unser Zugeständnis, daß sie sich vorstellten, das Verbot der Ämter und des Kriegs sei kein Joch gewesen, das tausendmal schwerer drückte als dasjenige, das sie zerbrechen wollten? Wird man so unvernünftig sein, von uns zu verlangen, wir sollten eine derartige Vorstellung von diesen Leuten haben, die unbestritten Geist und Geschicklichkeit besaßen? Hier ist zweifellos die Auflösung dieser Frage: Wenn geschickte Menschen, die eine Sekte gründen wollen, den Weg der Erleichterung wählen und sich vornehmen, eine schwierige Lehre durch eine solche ohne Dornen zu ersetzen, darf man wohl behaupten, daß sie nicht die erfolgversprechendste Methode wählen, aber man darf nicht annehmen, daß sie sich mit der Weglassung der spekulativen Mysterien zufriedengeben und die ganze Last der Praxis beibehalten und sogar das Joch der Gebote schwerer machen. Das nimmt man jedoch von den Gründern der sozinianischen Häresie an; also täuscht man sich. Hinsichtlich des Verbots der Rache und des Verzichts auf welt-

unsichtbaren, verborgenen und unbekannten Dingen mehr vertrauen und dann um so heftiger erschrecken.« De bello civili, Buch II, Kap. 4. 27 Madame de Sablé sagt in einer ihrer Maximen (es ist die 39. Maxime): »Man schätzt Menschen höher, solange man die Grenzen ihrer Fähigkeiten nicht kennt, denn man vermutet immer mehr bei Dingen, die man nur zur Hälfte sieht.« 28 (…). Man sehe Père Bouhours, Entretiens d’Ariste, S. 54 meiner Ausgabe.

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liche Ehren sind sie strenger als die übrigen Christen. Sie suchen nicht nach einer Abschwächung oder einer bildlichen Erklärung der Stellen im Evangelium, die sich auf die Sitten beziehen. Sie haben die Strenge der Urkirche wieder eingeführt, die es nicht billigte, daß der gläubige Mensch sich um Ämter kümmert und daß er irgendwie am Tod seines Nächsten schuld ist.29 Das ging so weit, daß sie nicht wollten, daß man Übeltäter verklagte. Das Verbot der Ämter und des Krieges ist eine schwerere Bürde als das Verbot der Rache, denn es schneidet gleichermaßen den Ausweg der Selbsttäuschung wie der Täuschung anderer ab. Diejenigen, die am lautesten den Verzicht auf Rache predigen, finden tausend Distinktionen, um dieses Verbot zu umgehen. Die einen sagen, daß sie ihren Nächsten zwar nicht hassen, insofern er ein Mensch ist, wohl aber insofern er ein Feind Gottes ist; die anderen behaupten, daß sie ihm kein Übel antun, um sich für einen bestimmten Streit zu rächen, sondern um dem Interesse Gottes zu dienen. Das heißt auf Umwegen auf die Heerstraße der Rache zurückzukehren, die man vorgeblich verlassen hatte. Einige täuschen sich dabei selbst, andere sind bloße Heuchler, welche die Welt täuschen. Aber hinsichtlich des Verzichts auf Krieg und Amtswürden gibt es keine Ausflüchte: man muß notwendig so handeln, wie man predigt; die Praxis kann nicht von der Theorie getrennt werden: es gibt hier weder Distinktionen noch Äquivokationen. Das ist also ein sehr wirkungsvoller Zwang und keine flüchtige Abtötung des Fleisches wie bei denen, die sich einmal im Jahr geißeln; es ist ein dauerhafter und kontinuierlicher Zustand. Wir wollen daher sagen, 29

»Denn wenn Gott uns das Töten verbietet, meint er nicht allein den Raubmord, den schon die bürgerlichen Gesetze verbieten, sondern auch Arten zu töten, die bei den Menschen erlaubt sind. So ist es einem Gerechten weder erlaubt, Kriegsdienst zu leisten, weil er für die Gerechtigkeit Krieg führt, noch irgend jemand eines Kapitalverbrechens anzuklagen, weil es keinen Unterschied macht, ob man mit dem Schwert oder mit dem Wort tötet; das Töten ist nämlich generell verboten. Daher darf man keine Ausnahme von diesem Gebot Gottes machen, denn es ist stets ein Frevel, einen Menschen zu töten, der ja nach Gottes Willen ein heiliges Lebewesen ist.« Laktanz, Buch VI, Kap. 20, S. 426 meiner Ausgabe.

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daß die Flüchtlinge aus Italien keine Betrüger waren; sie haben sich getäuscht, indem sie grübelten und mit zuviel Ehrerbietung ihr natürliches Licht zu Rate zogen. Und wenn sie den einen Teil des Christentums bewahrt haben, aber nicht den anderen, dann deshalb, weil ihr Grundprinzip, nichts anzuerkennen, was den Einsichten ihrer Vernunft direkt widersprach, sie zu diesem und jenem geführt hat. Das ist anscheinend der Grund für die Wahl, die sie getroffen haben. Wenn sie Betrüger auf der Suche nach Anhängern gewesen wären, hätten sie die Sache anders angefangen. Verurteilen wir also ihr Prinzip als einen Irrweg und maßen wir uns nicht die Rolle dessen an, der Herz und Nieren prüft. Ihr Prinzip entwürdigte die Religion und verwandelte sie in Philosophie. Die Größe, Autorität und Souveränität Gottes verlangen, daß wir hienieden im Glauben wandeln und nicht im Schauen. Ein spanischer Politiker hat die weise Bemerkung gemacht, daß es ein Zeichen von Souveränität ist, seine Gedanken und Beschlüsse ganz geheim zu halten. (…). Man sehe die Entretiens d’Ariste et d’Eugene des Père Bouhours, S. 201. Die Heiden sagten, der Geheimnischarakter der Mysterien lasse Gott majestätischer erscheinen und sei ein Bild seines Wesens, da er unseren Sinnen verborgen ist. (…). Es ist Strabo, der sich auf S. 322 von Buch X so ausdrückt. Aber hier kommt ein Argument zur Desillusionierung derer, die sich schmeicheln, daß die Ablehnung von Waffen und Würden für alle Zeiten ein großes Hindernis für die Fortschritte dieser Sekte sein wird. Es ist kein Glaubensartikel der Sozinianer, daß man auf Staatsämter und Krieg verzichten muß. In diesem Punkt geben sie den Leidenschaften mehr nach als die Mennoniten. In Transsilvanien haben sie keine Bedenken, Ämter auszuüben, und wahrscheinlich würden sie wie der Rest der Menschheit zu den Waffen greifen, wenn sie einen Souverän von ihrer Religion hätten.

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(I) Man bringt noch weitere Gründe bei. Denn weil die meisten Menschen mehr dazu neigen, Gefühlsbeweisen zuzustimmen, als dem Faden unzähliger Schlüsse zu folgen, die methodisch miteinander verknüpft sind und auf deutlichen Begriffen beruhen, und weil sie sich sogar oft und leicht über die Paradoxe erregen können, in die sich die Vernunft stürzt, kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten, daß das System der Sozinianer kaum geeignet ist, die Massen zu gewinnen. Es ist mehr geeignet, Gelehrte und solche Menschen zum Pyrrhonismus zu führen, die sich mit nichts als Untersuchungen und Spekulationen befassen. Seine Gegner werden hier stets Schwachstellen finden, die ihnen eine Handhabe bieten, die Menschen davon abzubringen. Die Ewigkeit der Materie, die Ausdehnung Gottes, die Begrenzung dieser Ausdehnung sowie des göttlichen Wissens und der Höllenstrafen sind sozinianische Lehren, die den Herrschern ebenso wie den Volksmassen Abscheu einflößen können, wenn sie ihnen mit ein wenig Beredsamkeit vorgetragen werden. Wenn es auch für jeden Einzelnen beruhigend ist, die Strafen des künftigen Lebens nicht zu fürchten, dann ist die Vorstellung doch noch beunruhigender, daß man es alle Tage mit Leuten zu tun hat, die sie nicht fürchten. Es liegt daher nicht im Interesse des Einzelnen, daß sich ein Dogma im Lande durchsetzt, das die Furcht vor der Hölle verringert, und es ist ziemlich wahrscheinlich, daß die Prediger dieser Art von Erleichterung die Öffentlichkeit stets eher erschrecken als ihr gefallen werden. Jemand hat gesagt, daß »dieselben Leute, die das Evangelium wegen seiner strengen Moral ablehnen, mit noch größerem Abscheu eine Religion ablehnen würden, die ihnen befehlen wollte, sich mit den ruchlosesten Untaten zu beschmutzen, wenn diese Religion ihnen zu einem Zeitpunkt vorgestellt würde, wenn sie schon denken können, aber noch nicht unter den Vorurteilen der Erziehung begraben sind«.30 Er hat Betrachtungen darüber angestellt, aber eine der besten dabei weggelassen: er ist nicht auf die Eigenliebe, das persönliche In30

 Pierre Bayle  Pensées diverses sur les comètes, Nr. 189, S. 592.

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teresse zu sprechen gekommen. Zwar würde ein böser Mensch bei einer Lehre, die ihm Giftmord, Ehebruch, Meineid usw. erlaubte, hinsichtlich seines Gewissens auf seine Rechnung kommen, in vielen anderen Hinsichten aber nicht. Er hat Mutter, Frau, Schwester und Nichten, die ihm Todeskummer bereiten würden, wenn sie Schamlosigkeiten begingen und in schlechten Ruf kämen. Es gibt mehr Leute, die ihn vergiften, bestehlen, betrügen usw. könnten, als Leute, gegen die er die gleichen Verbrechen begehen könnte. Jedermann kann mehr verletzt werden als verletzen, denn von zwanzig sonst gleichen Personen kann offensichtlich jeder gegen neunzehn weniger ausrichten als neunzehn gegen ihn.31 Es liegt daher im Interesse jedes Einzelnen, so verderbt er auch sein mag, daß eine Moral gelehrt wird, die gut geeignet ist, das Gewissen einzuschüchtern.

(K) Wer sagt, daß die Vereinigten Provinzen der Niederlande den Sozinianern volle Gewissensfreiheit gewähren, ist kaum mit der Geschichte vertraut. Die Unitarier haben mehrere Versuche unternommen, in Holland Fuß zu fassen. Der erste wird Erasmus Johann zugeschrieben, dem Rektor des Kollegs zu Antwerpen, der im Jahr 1585 ein Werk mit dem Titel Antithesis doctrinae Christi et Antichristi de uno vero Deo anonym veröffentlichte. Zanchius widerlegte es im folgenden Jahr. Der zweite Versuch stammt von Cornelius Daems, einem Rechtsgelehrten aus Malines, der sich von seinem Wohnort Tergon nach Utrecht begab, um dort einige Traktate von Socinus in Handschriften zu verbreiten. Die Behörden bekamen Wind davon und wollten ihn verhaften, aber er flüchtete; seine Papiere wurden beschlagnahmt. Einige Monate später bekam er sie zurück, weil die Stadtregierung in andere Hände übergegangen war. Der dritte Versuch war der von Ostorode und Vaidove, die im Jahr 1598 aus Polen nach Am31

Und das ohne die Voraussetzung, daß die neunzehn sich gegen den zwanzigsten zusammentun.

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sterdam kamen und eine Anzahl gedruckter und handschriftlicher sozinianischer Werke mitbrachten, deren Übersetzung ins Flämische sie in die Wege leiteten.32 Die Behörden ließen alle diese Schriften beschlagnahmen und schickten sie zur Universität von Leiden und danach zu den Generalstaaten. Zuvor sprachen sie einen scharfen Verweis gegen diese beiden Sozinianer aus und befahlen ihnen abzureisen. Nachdem die Generalstaaten das Urteil der Leidener Theologen über diese Werke zur Kenntnis genommen hatten, ordneten sie deren Verbrennung in Gegenwart von Ostorode und Vaidove sowie die Ausreise dieser beiden Personen aus den Vereinigten Provinzen binnen zehn Tagen an.33 Das Urteil der Leidener Theologen lautete, daß diese Schriften sich kaum vom Mohammedanismus unterschieden und daß sie Gotteslästerungen enthielten, die unter Christen ohne die äußerste Gottlosigkeit nicht geduldet werden könnten. (…).34 Im Jahr 1617 wurde Adolf Venator, ein Pastor aus Alkmaar, auf eine Insel verbannt, weil er ein Werk verfaßt hatte, das den Sozinianer erkennen ließ (…).35 Das Schisma der Arminianer begünstigte das Eindringen des Sozinianismus nach Holland, denn sie verweigerten den Sozinianern nicht die kirchliche Gemeinschaft. Deshalb konnten sich diese in mehreren Städten der Vereinigten Provinzen aufhalten, ohne dort erkannt zu werden. Im Jahr 1638 fing der Fürst von Transsilvanien einen Brief ab, in dem der Sozinianer Johann Sartorius,36 der sich in Amsterdam aufhielt, einem Pastor seiner Sekte37 mitteilte, daß es in Holland viele38 von ihrer Sekte gebe.39 Fest steht, daß sie zu dieser Zeit einige Anhänger gewonnen hatten und daß 32

Entnommen aus Gisbert Voetius, Disputat., Bd. III, S. 811. 33 Hoornbeeck, Apparatus ad controversias socinianas, S. 98. 34 Ders., ebd. 35 Voetius, Polit. eccl., Bd. II, Buch IV, S. 533. 36 So nennen ihn Hoornbeeck und Voetius weiter unter in Fußn. (44); sie hätten aber Johann Statorius sagen müssen. 37 An Adam Francus, Pastor von Klausenburg. 38 »Groß ist hierzulande die Ernte der Sozinianer.« Hoornbeeck, wie in Fußn. (39). 39 Hoornbeeck, Apparatus ad controversias socinianas, S. 97.

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sich ihre Bücher verbreiteten. Um diese Frechheit zu unterbinden, befahl der Magistrat von Amsterdam im Jahr 1642 die Verbrennung einiger Schriften von Volkelius.40 Die holländischen Synoden haben ihren Eifer bewiesen, die Verbreitung dieser Häresie zu verhindern. Sie legten den Provinzialständen im Jahr 1628 eine Bittschrift vor, in der sie aus mehreren Gründen dazu aufriefen, jene nicht zu dulden;41 sie trugen u. a. vor, daß man durch deren Duldung die Republik der Vereinigten Provinzen in der gesamten Christenheit verhaßt machen würde.42 Diese Beschwerde wurde gedruckt und widerlegt. Diejenigen, die sie widerlegten, erwiderten auf dieses spezielle Argument, daß dann ja Polen äußerst verhaßt sein müßte,43 weil es den Sozinianern freie Religionsausübung gewährte. Herr Voetius sagt dazu, es sei nicht wahr, daß Polen sie ihnen jemals gewährt habe, und daß Polen einige Jahre später das Gegenteil bewiesen habe, indem es sie schlecht behandelte.44 (…).45

(L) Ich will ein wenig näher auf die Verordnung aus dem Jahr 1653 eingehen. Was die Staaten von Holland im Jahr 1628 auf die Beschwerde ihrer Synoden antworteten, ist mir nicht bekannt; ich habe jedoch die Akten ihres Vorgehens in einem ähnlichen Fall des Jahres 1653 gelesen. Die Deputierten eben dieser Synoden wiesen darauf hin, daß die Sozinianer – Leute, die das gesamte Christentum umstürzten: die Auferstehung der Toten, die Hoffnung auf das ewige Leben usw. – sich erdreisteten, in die Vereinigten

Man sehe den Artikel VOLKELIUS.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  41 Voetius, Polit. eccl., Bd. II, S. 532. 42 (…). Ders., ebd. 43 (…). Ders., ebd. 44 Ders., ebd. 45 Die Sozinianer behaupten das Gegenteil in den Passagen, die oben in Anm. (A) zitiert werden. Man sehe auch Anm. (L), Fußn. (56). 40

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Provinzen und insbesondere nach Holland zu kommen, um hier die Gläubigen zu verführen und die Kirche zu zerstören; daß die folgenden Tatsachen hinlänglich bekannt seien: daß Fürsten wie Ragotski in Transsilvanien sich mit Eifer gegen diese Häretiker gewandt hatten; daß man in Polen in den Jahren 1638 und 1647 Beschlüsse gegen sie gefaßt hatte; daß man sie aus Polen vertrieben hatte; daß man ihr wichtigstes Gotteshaus, ihre Bibliothek und ihre Druckerei zerstört hatte, weil sie ein höchst anstößiges Buch gegen das Geheimnis der Trinität unter der Presse hatten (…);46 daß die Generalstaaten im Jahr 1598 mit Nachdruck gegen sie vorgegangen waren; daß im Jahr 1639 auf Anregung des englischen Botschafters alle Provinzen von der Ankunft einiger Sozinianer in Kenntnis gesetzt und ermahnt wurden, beizeiten Maßnahmen gegen dieses Übel zu beschließen; daß im Jahr 1640 die Staaten von Holland der Synode von Amsterdam ihren Beschluß bekannt gaben, daß man in Bezug auf die Ächtung der Sozinianer und ihrer Bücher die nötigen Verordnungen unverzüglich erlassen werde, sobald man den Stand der Dinge genauer kenne (…);47 daß die Generalstaaten am 17. Juli 1651 in Übereinstimmung mit dem Beschluß der Staaten der Provinz Holland vom voraufgegangenen 12. April verfügten, daß die Unverschämtheit der Sektierer gehörig unterdrückt und wirksame Edikte gegen sozinianische Bücher erlassen würden usw.48 Anschließend trugen die Deputierten der Synode vor, daß diese Häretiker offenkundig durchs Land zogen, daß sie sich bemühten, hier Anhänger zu gewinnen, und daß sie mehrere schlechte Bücher verbreiteten;49 daß sie die gefährlichsten Feinde der Kirche seien, weil sie aus Arglist den Anschein der Frömmigkeit wahrten und darüber hinaus eine Lehre vortrügen, welche die Fassungskraft der Vernunft nicht übersteige. Sie schlossen 1) mit der ergebensten Bitte an die il46

Man sehe die Erwiderung des Cocceius Ad apologiam equitis poloni, Blatt ****2, Rückseite. 47 Ebd. 48 (…). Ebd. 49 Es werden mehrere davon im einzelnen genannt.

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lustren Herrschaften, dem Übel rechtzeitig entgegenzutreten, indem sie gegen diese Personen vorgingen und ihre Versammlungen und Bücher verböten; 2) mit dem Ausdruck der Erwartung, daß endlich die bereits erlassenen Verordnungen zur Anwendung kämen. (…).50 Die Staaten von Holland teilten dieses Ersuchen der Synode der theologischen Fakultät in Leiden mit und baten um Stellungnahme. Die Fakultät antwortete, daß sie nichts Schrecklicheres und Verabscheuungswürdigeres kenne als die Sekte der Sozinianer; daß sie sich nur sehr wenig vom Heidentum unterscheide; daß sie sich gewiß ins Land schleiche und daß man Gott bitten müsse, daß er dem Souverän den festen und heiligen Entschluß eingebe, alle diese Gotteslästerer zu entfernen und derartig schlechte Bücher aus dem Verkehr zu ziehen. (…). Die Staaten erließen daraufhin ein entsprechendes Edikt, das allen Personen, gleich welchen Standes oder Ranges, verbot, sozinianische Häresien ins Land zu tragen, sie anderen mitzuteilen und zu diesem Zweck Versammlungen abzuhalten. Sie erklärten, daß alle Zuwiderhandelnden beim ersten Mal als Lästerer des Namens Gottes und Störer der öffentlichen Ordnung aus der Provinz verbannt und im Wiederholungsfall so bestraft werden sollten, wie man es für angebracht fände. Unter Androhung schwerer Strafen verboten sie außerdem den Druck und den Verkauf sozinianischer Bücher und befahlen, dieses Edikt zu veröffentlichen und überall dort auszuhängen, wo es nötig schien, damit niemand behaupten könne, er habe es nicht gekannt. Das beschlossen sie am 19. September 1653. Der Senat von Utrecht veröffentlichte ein ähnliches Edikt im Jahr 1655.52 Die Sozinianer schwiegen nicht; sie beauftragten eine ihrer besten Federn damit,53 eine Schutzschrift abzufassen, die im Jahr 1654 unter dem Titel Apologia pro veritate accusata ad illu50

Cocceius, Respons. ad apologiam equitis poloni, Blatt ****3, Rück-

seite. 52

Voetius, Polit. ecclesiast., Bd. I, S. 533. Nämlich Jonas Schlichting. Man sehe Biblioth. des antitrinitaires, S. 130. 53

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strissimos et potentisssimos Hollandiae et West-Frisiae ordines, conscripta ab equite polono. Dieses Werk ist gut geschrieben: alle Regeln der Kunst sind darin beachtet, durchweg herrscht ein Ton der Mäßigung vereint mit der arglistigen Kühnheit vor, alle Anklagepunkte einfach zu leugnen. Der Verfasser bedient sich der gleichen allgemeinen Argumente54 wie Tertullian in seinem Apologeticum und Calvin in der Widmungsepistel zu seiner Institutio sowie mehrere andere Reformatoren in den Schriften gegen die Beschuldigungen der Sorbonne. Diese Unannehmlichkeit läßt sich nicht vermeiden: die falsche Kirche, die Toleranz einfordert und sich über die Strafgesetze beklagt, führt die gleichen Gemeinplätze an wie die wahre Kirche in der gleichen Lage. Die wahre Kirche, die von den Herrschern die Ausrottung der falschen verlangt, setzt die gleichen Beweggründe und Beweise ein, welche die falsche Kirche bei ihrer Forderung nach Ausrottung der wahren anführt. Es wäre zu wünschen, daß Glaubensgemeinschaften, die sich so tiefgreifend unterscheiden, sich nicht im Gebrauch des gleichen Stils und der gleichen Gemeinplätze ähnelten, aber so etwas kann man in dieser Welt nicht erwarten. Das Übel ist in dieser Hinsicht unheilbar; der Mensch muß neben anderen Mühen auch diese auf sich nehmen, das wirklich Richtige unter hundert Bewerbern zu suchen, die bei den allgemeinen Gründen die gleiche Sprache sprechen. Aber kommen wir zu einer anderen Bemerkung. Wenn man Bittschriften gegen eine Partei vorlegt, muß man nichts mehr vermeiden als die Anführung von Fakten, über die man nicht gut informiert ist oder die nur uneindeutige Beweise darstellen; denn andernfalls sieht man sich später auf eine Art widerlegt, die einem nicht gefällt. Zum Beispiel behauptet der polnische Ritter, 1) daß die Ragotskis die Sozinianer niemals verfolgt haben55 und sie immer in der ihnen versprochenen

54

Ich bediene mich dieses Ausdrucks, weil die Umstände hinsichtlich der Strenge der Strafgesetze usw. hier nicht die gleichen sind wie in den Apologien Tertullians und Calvins. 55 Apolog. pro veritate accusata, S. 59.

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Gewissensfreiheit geschützt haben und noch darin schützen.56 2) daß man sich nicht auf die Schikanen hätte berufen dürfen, denen die Sozinianer in Polen ausgesetzt waren, noch auf die Zerstörung des Gotteshauses in Rakau, weil die Evangelischen in Polen zwei Jahre später und unter dem gleichen Vorwand die gleichen Widrigkeiten erlitten und in Wilna genau die gleiche Behandlung erfuhren wie die von Rakau.57 (…). 3) daß es nicht wahr ist, daß der Gewaltausbruch von Rakau mit dem Druck eines Buches begründet wurde, dessen Titel die Trinität beleidigte. Er beweist das demonstrativ mit dem Reichstagsbeschluß, der ein derartiges Buch gar nicht erwähnt und der es sicherlich erwähnt hätte, wenn das der Grund dafür gewesen wäre, ihre Sekte so zu bestrafen. Er fügt hinzu, daß Johann Laetus, der einzige Autor, der von dem angeblichen Druck dieses Buches spricht, dennoch nicht sagt, es sei die Ursache der Zerstörung ihrer Schule und ihrer Druckerei gewesen. (…).60 Cocceius veröffentlichte im Jahr 1656 eine sehr gründliche Erwiderung auf dieses Manifest der Sozinianer. Diese habe ich in erster Linie hinsichtlich jener drei Punkte zu Rate gezogen, denn ich erwartete, darin die Abfertigung des Verfassers der Apologie zu finden; aber in Bezug auf den ersten und zweiten Punkt habe ich nichts darin gefunden, und in Bezug auf den dritten stand darin nur, es habe ein Gerücht gegeben, daß die Sozinianer zum Zeitpunkt der Unruhen von Rakau ein derartiges Werk unter der Presse gehabt hätten. (…).61 In juridischen Schriftsätzen wie den Petitionen einer Synode an den Herrscher, mit denen man die Unterdrückung einer Sekte erreichen möchte, sollte man sich niemals auf vage Gerüchte ohne Gewährsmann stützen. Bei Beschuldigungen, welche die Lehre betreffen, kann man sich leichter gegen den Vorwurf ungenauer Behauptungen zur Wehr setzen. Beispielsweise wurde in der Bittschrift als Tatsache behauptet, daß die Anhänger des Socinus die Wiederauferstehung 56 57 60 61

(…). Ebd. A. a. O., S. 40. A. a. O., S. 42. Cocceius, Examen apologiae equitis poloni, S. 138.

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der Toten und die Hoffnung auf das ewige Leben zerstörten. Die theologische Fakultät in Leiden versicherte entsprechend, daß jene wie die Sadduzäer ein Leben der Seele ohne ihren Leib und die Wiederauferstehung der Gottlosen leugneten. Der polnische Ritter sagt, daß man sie in diesem Punkt verleumdete. (…).62 Cocceius ließ sich durch dieses Abstreiten nicht zum Schweigen bringen, denn es stützte sich auf ein in gewisser Weise liturgisches Werk, das aber wenigstens authentisch war, nämlich die Apologie des Glaubensbekenntnisses. Er räumte zwar ein, daß er nicht wisse, was das für ein Buch sei,65 aber er wußte daraus zu zitieren, darüber zu streiten und Behauptungen aufzustellen.

Betrachtung über das Dogma der Ewigkeit der Höllenstrafen Ganz am Rande will ich sagen, daß nichts den Sozinianern so sehr geschadet hat wie eine gewisse Lehre, die sie selbst für sehr geeignet hielten, den größten Anstoß zu beseitigen, den philosophische Köpfe an unserer Theologie nehmen könnten. Jeder Mensch, der konsequent seine Vernunft gebraucht und sich nur an das natürliche Licht sowie an die strahlende Idee einer unendlichen Güte hält, die moralisch gesprochen das Hauptmerkmal des göttlichen Wesens ausmacht, wird sich über das empören, was die Schrift über die unendliche Dauer der Höllenstrafen sagt, zumal wenn er die Paraphrasen und detaillierten Auslegungen hinzunimmt, die sich in mehreren Büchern finden.66 Deus optimus maximus  Gott der Vollkommenste und Größte  waren die landläufigen und gewöhnlichen Prädikate des göttlichen Wesens in der Sprache der alten Heiden. Es war die Formel, in der sie von Gott sprachen, aber Deus severissi62

Apologia equitis poloni, S. 73, 74, 76. (…). Cocceius, Examen apologiae equitis poloni, S. 220. 66 Man sehe das Buch mit dem Titel Merveilles de l’autre monde, das von einem Kanonikus in Riez namens Arnoux stammt. 65

Socinus, Faustus

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mus implacabilissimus  Gott der Strengste und Unerbittlichste  war ihnen unbekannt. Die erste Formel enthielt zwei Beiworte, die eigentlich nur das Bild und der Abdruck einer einzigen Eigenschaft waren, will sagen: einer allerhöchsten Güte. Denn damit die Güte sich gebührend entfalten kann, muß sie von der Größe begleitet werden. Und was ist, bitte sehr, die Größe? Ist sie etwas anderes als Großmut, Hochherzigkeit, Freigebigkeit, Pracht und Gunsterweis aus vollem Herzen? Dieser natürliche Begriff, der die Heiden so sprechen ließ, findet seine Bestätigung in der Schrift, denn hier herrscht, wenn ich mich so kühn ausdrücken darf, ein beständiges Streben nach Erhebung der Güte Gottes über seine anderen Eigenschaften. Gutes tun und Barmherzigkeit üben ist der Schrift zufolge die tägliche und bevorzugte Beschäftigung Gottes: züchtigen, strafen, Strenge zeigen ist für ihn eine ungewohnte und ungeliebte Arbeit. Solange man sich daher an diesen natürlichen Begriff hält und sich nicht demütig einigen Passagen des Evangeliums unterwirft, wird man das Dogma der unendlichen Strafen und Qualen für fast alle Menschen mit Abscheu betrachten. Die Sozinianer, die allzusehr der Vernunft vertrauten, setzten diesen Strafen Grenzen, und zwar um so sorgfältiger, je mehr sie bedachten, daß man die Menschen nur um des Leidens willen leiden ließ, ohne Rücksicht auf den Nutzen des Leidenden oder der Betrachter, wofür es nie ein Beispiel in einem ordentlichen Gerichtshof gegeben hat. Damit glaubten sie, diejenigen ans Christentum gewöhnen zu können, die von einer Idee abgeschreckt wurden, die mit der allerhöchsten Güte Gottes so wenig vereinbar schien. Diese Häretiker rechneten jedoch nicht damit, daß dieses Lehrstück sie noch verhaßter und der Toleranz noch unwürdiger machen würde als alle ihre anderen Lehren. In Wirklichkeit nehmen nur sehr wenige Menschen Anstoß am Dogma der ewigwährenden Strafen und nur wenige zeigen eine ähnliche Neigung wie Theodor Camphusius.67 Dieser Pastor von Gorcum in Holland 67

In der Volkssprache Dirk Raphaels Camphuisen. Er wurde im Jahr 1586 geboren und starb in Dockum in Friesland im Jahr 1627. Man sehe Bibliothèque des antitrinit., S. 112. (…). Er hat mehrere Schriften in flämischer

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wurde Sozinianer und erklärte öffentlich, daß er ohne Religion gelebt hätte, wenn er nicht auf Bücher mit der Lehre gestoßen wäre, daß die Höllenstrafen nicht ewig dauern würden. (…).68

(O) Man hat darüber geklagt, daß gewisse Widerlegungen von Büchern des Socinus (---) seiner Sekte Zulauf verschafft hätten. So urteilte Drusius106 über ein Werk, das Sibrand Lubbert im Jahr 1611 gegen Socinus veröffentlichte. »Jener (Lubbert) glaubte (---), es sei richtig und nützlich, die Schrift des Socinus über den Erlöser als ganze mitsamt einer weitläufigen Widerlegung herauszugeben. Man sehe aber, wie sein Kollege J. Drusius über sein Vorgehen urteilt: Es seien nur durch die Lektüre des Buches von Socinus und dessen unpräzise Widerlegung innerhalb kurzer Zeit mehr Leute Sozinianer geworden, schreibt er, als viele Jahre zuvor durch seine übrigen Bücher. Kein Wunder. Denn wer die Argumente seines Gegners mit aller Kraft durchschüttelt und wendet, aber dann nicht schlüssig widerlegt, schadet durch deren Vortrag der eigenen Sache mehr als daß er ihr durch deren Widerlegung nützt.«107 Das liest man in einer Schrift aus dem Jahr 1624. Entsprechendes findet sich in einem Brief, den Arnold Poelenburg im Jahr 1655 veröffentlichte. Ich will seine Worte zitieren, in denen er zwei andere Autoren tadelt, die sich um die Widerlegung der Sozinianer bemühten. »Man lobt überall und in den höchsten Tönen den Beschluß des

Sprache verfaßt und u. a. eine, die mehr als zwanzig Mal in verschiedenen Formaten gedruckt wurde. Diese besteht aus Liedern und anderen geistlichen Dichtungen, die von Kennern der flämischen Poesie sehr geschätzt werden. Der Autor hat darin geschickt seine Meinung über verschiedene christliche Lehren und insbesondere über Morallehren zum Ausdruck gebracht. 68 Cocceius, Examen apologiae equitis poloni, S. 305. 106 Man sehe seinen Brief Ad fratres belgas; es ist der 253. Brief der Sammlung, die von den Remonstranten veröffentlicht wurde, in der Ausgabe Amsterdam 1684. 107 Bodecherus ineptiens, S. 15, bei Crenius, Animadv., Teil XI, S. 120 f.

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reformierten Magistrats von Amsterdam, mit dem er die Bücher von Crellius und Volkelius über die wahre Religion zu verbrennen befahl. Aber wer hat mit größerer Verachtung gegen diesen Magistratsbeschluß verstoßen als Dr. Maresius, der uns jetzt zwei Teile dieses verbrannten und abgestorbenen Werks ans Licht und ins Leben zurückgeholt hat! Damit folge er dem Beispiel anderer reformierter Autoren, sagte er, und ohne Zweifel sind ihm andere gefolgt, die sich nach Kräften und mit Fleiß bemühten, viele Schriften der Sozinianer ans Licht zu zerren. Zugegebenermaßen ist den meisten Büchern eine Widerlegung der Gegner beigegeben, aber so wie der menschliche Charakter zum Schlechteren neigt, so findet er auch nach allgemeiner Meinung leichter an der Häresie als an der Wahrheit Gefallen. Darüber hinaus ist die beigefügte Widerlegung mitunter so lau und so schwach, daß sie am allerbesten den Irrtum in die Seelen träufelt. (…). Aus dem Bericht eines ebenso gelehrten wie frommen Mannes, der dem Sozinianismus fernsteht, entnehme ich, daß Dr. Gomarus (was für ein Mann!), der einst an der Leidener Akademie lehrte, einige Argumente des Socinus widerlegt hat, aber so unglücklich, daß er sie besser unberührt gelassen hätte. Dasselbe kann man von den meisten heutigen Schreibern sagen, die mit einer Widerlegung des Socinus berühmt werden und der Nachwelt einen großen Namen (aufgrund ihrer Unwissenheit, glaube ich) hinterlassen wollen, indem sie wenige Gründe beibringen, aber gleichsam eine Fuhre Schimpfwörter über ihren Gegnern ausschütten. Junius, Placaeus und andere dieser Art nehme ich hiervon immer aus, weil sie Socinus nicht mit Schmähungen, sondern mit Argumenten bekämpft haben, so wie es sich für Theologen gehört.«108 Man sehe auch die Vorrede, die Christian Hartsoeker109 diesem Brief vorangestellt hat. Drusius wird darin für dieselbe Sache zitiert und doctissi-

108

Arnold Poelenburg, Epistola ad C. H., d. h. Christian Hartsoeker, S. 59, bei Crenius, a. a. O., S. 122. 109 Er war Prediger der Arminianer in Rotterdam und ist der Vater des Philosophen Hartsoeker.

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mus et 1ρθοδοξóτατος  in höchstem Maße gelehrt und rechtgläubig  genannt. Die Beurteilung alles dessen überlasse ich dem Leser und begnüge mich mit der allgemeinen Bemerkung, daß eine schwache Widerlegung nur dazu taugt, das betreffende Buch empfehlenswerter zu machen. Mézeray hat das schon vor langer Zeit gesagt. (…).110 Andere haben angemerkt, nichts sei verhängnisvoller, als schlechte Argumente gegen die Gottlosen ins Feld zu führen.111 So bemerkt der Verfasser der Religion des Arztes,112 daß jemand, der seine Meinungen bestätigt haben möchte, gegen Leute streiten muß, die sich nicht gut zu verteidigen wissen, und daß es nicht jedermann gegeben ist, die Wahrheit in Schutz zu nehmen, da einige Leute ihre Prinzipien ignorieren und sich von falsch verstandenem Eifer hinreißen lassen. Diese machen den Irrenden Lust darauf, Wahrheiten anzugreifen, die dank schwacher Verteidiger leicht zu besiegen sind. Man sehe, was der hl. Augustinus113 über die Streitigkeiten sagt, in denen er über die Orthodoxen triumphierte. Man darf nicht vergessen, daß selbst die aufgeklärtesten Autoren lieber schweigen, als ein Buch anzugreifen, das sie zu stark finden. In dieser Hinsicht gehen sie den Weg, den ein großer Politiker bei gewissen Mißständen zu gehen vorschlug, die so tief eingewurzelt waren, daß die Reformbemühungen der Behörden nur ihre eigene Ohnmacht ans Licht brachten und ihre Autorität bloßstellten.114 Fra Paolo

110

Mézeray, Abrégé chron., Bd. VI, ad annum 1600, S. 223 meiner Aus-

gabe. 111

Man sehe Anm. (A) des Artikels GARASSE und das, was ich in Anm. (M) des Artikels HOBBES aus Monconys zitiere.  Der erstgenannte Artikel nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  112 Religio Medici, Abschnitt VI, S. 36 meiner Ausgabe. 113 Man sehe Anm. (D) seines Artikels.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  114 »Lieber die wuchernden und ausgewachsenen Übel ignorieren, als publik machen, welcher Übel wir nicht Herr werden können.« Tiberius bei Tacitus, Annal., Buch III, Kap. 53. Man sehe in Anm. (L) des Artikels NE-

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stellte diese Überlegungen an, als er den Auftrag übernehmen sollte, gegen das Squittinio della liberta veneta zu schreiben.115 Ich glaube jedoch, daß man hier unterscheiden muß. Es ist zweckmäßiger, auf ein gefährliches Buch gar nicht zu antworten, als schlecht zu antworten. Das ist zweckmäßiger, sage ich, hinsichtlich der Leute, die vorurteilsfrei die Einwände und ihre Auflösung vergleichen und über alles gründlich nachdenken. Aber die biederen und frommen Seelen, die sich bei Gegenständen, von denen sie überzeugt sind, leicht zufriedengeben, empören sich viel mehr über das Ausbleiben jeder Antwort auf die Gegner als über eine schwache Antwort. Sie merken nicht leicht, daß die Antwort schwach ist; sie finden darin immer einen Anlaß zu triumphieren. Denn eine Widerlegung mag noch so erbärmlich sein, sie enthält stets Bemerkungen zu irgendwelchen Fehlern des gegnerischen Buches. Diese Bemerkungen kommen zwar nicht zur Sache und bieten keine Entscheidung der Hauptfrage, das gebe ich zu: aber schließlich gefallen sie und verschaffen Befriedigung durch die Idee der Überlegenheit, die sie voreingenommenen Lesern vermitteln, die nicht beide Bücher von der ersten bis zur letzten Seite vergleichen. (…).

STORIUS, welche Anwendung ich von dieser Passage aus Tacitus mache.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  115 Man sehe den Abbé de Saint Real, Conjuration des Espagnols contre Venise, S. 37 meiner Ausgabe.

SYNERGISTEN

synergisten. So nannte man im 16. Jahrhundert einige deutsche Theologen, die Luthers Doktrin vom freien Willen als zu hart empfanden und daher lehrten, daß die göttliche Gnade die Menschen nicht ohne die Mitwirkung des menschlichen Willens bekehrt. Das war das fünfte Schisma, das in der Glaubensgemeinschaft der Lutheraner entstand.a Melanchthon legte die Fundamente dazu, denn Victorinus Strigelius und einige andere Geistliche, die Respekt vor Melanchthons Autorität hatten, wurden auf gewisse Redewendungen in seinen Büchern aufmerksam, die dem Willen des Menschen viel Kraft beimaßen. Deshalb behaupteten sie, daß bei der Bekehrung des Sünders die natürlichen Kräfte des freien Willens mit der Gnade zusammenwirkten. Georg Major, Paul Eber, Paul Crell und Piperin waren die anderen führenden Vertreter dieser Richtung;b sie wurden von der Partei des Illyricus verfolgt. Fest steht, daß Melanchthon sich nicht mit der starren Haltung Luthers und Calvins in der Frage der Gnade anfreunden konnte (A). Vergeblich würde man das hohe Lob, das er ihrer frommen Gesinnung zollte, als einen Beweis seines Einverständnisses mit ihnen in der Sache anführen, denn er wußte sehr wohl die üblen Folgen der Voreingenommenheit zu vermeiden. Er glaubte, daß man aus guten Motiven heraus irren könne (B). Was ich hierüber sagen werde, dient mir als Überleitung zur Prüfung der Antwort (C), die man auf eine Stelle des  sc. Bayles  Commentaire philosophique sur  ces paroles de Jesus-Christ:  contrain-les d’entrer gegeben hat.

a b

Micraelius, Syntagm. hist. eccles., S. 865 meiner Ausgabe. Aus dems., a. a. O.

Synergisten

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(A) Melanchthon konnte sich nicht mit der starren Haltung Luthers und Calvins in der Frage der Gnade anfreunden. Baudouin lieferte einen guten Beweis dafür, indem er einen Auszug aus dem Brief veröffentlichte, den Melanchthon am 11. Mai 1543 an Calvin geschrieben hat. Calvin hatte ihm sein Buch De servitute humani arbitrii gewidmet.1 Betrachten wir einen Teil seines Dankschreibens: »Man zöge es wohl vor, daß Du Deine herausragende Eloquenz auf andere, für die Kirche nützlichere Gegenstände richtetest als auf das Problem der Notwendigkeit. In Tübingen hatte ich einen Freund, einen Gelehrten namens Franciscus Stadianus, der zu sagen pflegte, er billige beides: daß alles nach dem Ratschluß der göttlichen Vorsehung geschieht und daß es trotzdem Kontingenz gibt; er könne das aber nicht zusammenbringen. Während ich die Auffassung vertrete, daß Gott weder die Ursache der Sünde ist noch die Sünde will, lasse ich angesichts der Schwäche unseres Urteilsvermögen die Kontingenz zu, damit die Ungebildeten wissen, daß David infolge seines eigenen Willens zu Fall kam. Da er den hl. Geist hatte, so glaube ich, daß er ihn hätte bewahren können und daß in diesem Konflikt sein Wille ins Spiel kam. Obwohl dies scharfsinniger dargelegt werden könnte, scheint es, so vorgetragen, geeignet, die Gemüter zu lenken. Wenn wir straucheln, klagen wir unseren eigenen Willen an und suchen die Ursache dafür nicht in Gottes Ratschluß; umgekehrt, wenn wir uns aufraffen, wissen wir, daß Gott uns in dem Konflikt helfen will und tatsächlich hilft. ›Du mußt wollen‹, sagt Basilius, ›und Gott hilft Dir bei allem.‹ So wird also unser Streben geweckt und Gottes unermeßliche Güte gepriesen, der Hilfe versprochen hat und sie denen auch gewährt, die darum bitten.«2 Jeder weiß, daß Calvin und Castalio* sich in diesen Dingen wie Feuer und Wasser zueinander verhielten. Nun schrieb Melanchthon, als er 1557 in Worms war, einen sehr verbindlichen Brief an Castalio, der 1 2 *

Balduinus, Respons. altera ad Jo. Calvinum, S. 139 meiner Ausgabe. Melanchthon, Epist. ad Calvin., bei Balduinus, a. a. O.  Besser bekannt als Sebastian Castellio. Hgg. 

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sich wie ein Inbegriff brüderlicher Gemeinschaft hinsichtlich des Dogmas der Prädestination ausnahm. »Da er außerdem, wie Du weißt, nach der Zusammenkunft höchst freundschaftlich an Castalio schrieb und zu erkennen gab, daß dessen (mir nicht näher bekannte) Ansicht von der Prädestination und dem freien Willen auch die seinige war, hättest Du wissen können, wie sehr er Deine heftige Polemik gegen diesen Mann verurteilte und wie er damals sogar alle Deine Paradoxa mißbilligte.«3 So äußert sich Baudouin gegenüber Calvin, und man beachte sein Eingeständnis, daß er nicht wisse, worin Castalios Ansicht besteht. Diese Unkenntnis hat zwei Gründe: zum einen war Castalios Werk unterdrückt worden, zum anderen gab sich Baudouin keine Mühe, die Lehre von der Prädestination zu untersuchen. Er räumt vielmehr ein, daß er sie nicht versteht.4 (…). Wir wollen sehen, was Beze auf diesen Teil von Baudouins Werk antwortete. Erstens bestritt er, daß Melanchthon einen solchen Brief an Castalio geschrieben habe.6 Seine Begründung war, daß alle Bücher Melanchthons und sogar der von Baudouin vorgelegte Brief glauben ließen, dieser deutsche Doktor unterscheide sich nur in der Ausdrucksweise von Calvin. Zweitens führte er ein Stück dieses Briefes an, um zu zeigen, daß Melanchthon und Genf hinsichtlich des Dogmas vollkommen übereinstimmten. (…). Drittens beschuldigte er Baudouin einer unverfrorenen Fälschung, und um ihn dieser zu überführen, zitierte er einen Satz des Briefes von Melanchthon, den jener in böser Absicht weggelassen hatte. Hier ist er: »Dies schreibe ich nicht, um Dir, einem höchst gebildeten und mit allen Übungen der Frömmigkeit bestens vertrauten Menschen, eine Vorschrift zu machen. Tatsächlich weiß ich, daß diese Dinge mit Deinen Anschauungen übereinstimmen, aber sie sind gröber und der Praxis angepaßt.«8 Theodore Bezes erste Bemerkung hält nicht 3

Balduinus, a. a. O., S. 138. Ders., ebd. 6 »Was Du von einem Brief Philipps schwatzt, ist völlig falsch.« Beze, Respons. ad Balduin., Opera, Bd. II, S. 376. 8 Ders., ebd. 4

Synergisten

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stand; er selbst liefert uns die Handhabe zu ihrer Widerlegung. Denn in einem Werk, in dem er überhaupt nicht auf Baudouin Bezug nahm und auch nicht so vorsichtig war, nichts zu sagen, was sein Kontrahent gegen ihn verwenden könnte, erklärt er ganz offen, daß Melanchthon die Genfer Theologen getadelt habe, weil ihre Lehre die Fatalität der Stoiker einführe. (…).9 Mit diesen Worten gibt er klar zu erkennen, daß weder irgendein Werk Melanchthons noch der Brief, den er an Castalio geschrieben hatte – ich meine den Brief, von dem Baudouin einen Teil zitiert hatte –, die Behauptung widerlegen kann, er habe Castalio einen billigenden Brief geschrieben. Der zweite Teil der Antwort von Theodore Beze hat keine Durchschlagskraft. Denn das Lob, das Melanchthon Calvin zollte, beweist nicht, daß er seine Ansicht teilte. Er besaß genug Billigkeit, Mäßigung und Anstand, um auch denen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, deren Meinungen nicht nach seinem Geschmack waren. Seine Voreingenommenheit für den freien Willen hinderte ihn nicht daran, Calvins Geisteskraft, fromme Gesinnung und Beredsamkeit anzuerkennen, die dieser bei seinem Eintreten für die Knechtschaft des menschlichen Willens zeigte. Sie hinderte ihn auch nicht daran, Calvin unter diesem Gesichtspunkt zu loben und ihn als den mutigen Autor eines derartigen Werkes zu beglückwünschen. Auf diesen Aspekt werde ich weiter unten näher eingehen.10 Was Beze an dritter Stelle sagt, ist seine stärkste Bemerkung; nichtsdestoweniger ist sie kaum haltbar. Er hatte Grund, gegen Baudouin zu polemisieren und ihn als Fälscher zu bezeichnen; jenen Satz wegzulassen, war unaufrichtig. Er hätte ihn nicht unterdrückt, wenn er nicht befürchtet hätte, sich selbst zu schaden, wenn er ihn brächte. Er wollte also seine Leser betrügen und sein Anliegen mittels Betrug und Arglist durchsetzen. Ich will jedoch anmerken, daß Baudouin es bei dieser Gelegenheit ebensosehr an Einsicht wie an Aufrichtigkeit fehlen ließ; denn wenn er nachgedacht hätte, wäre ihm schnell klar geworden, daß der unterdrückte Satz ihm nicht schaden 9 10

Beze, Vita Calvini, ad annum 1552. Opera, Bd. III, S. 376. In der folgenden Anmerkung.

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würde. Wer erklärt, daß er die aktive und sogar eine vorausgehende Mitwirkung des Willens annimmt und daß er wünscht, man möge keine Bücher schreiben, um die Notwendigkeit der menschlichen Handlungen zu behaupten, gibt deutlich genug zu verstehen, daß er nicht der Meinung Calvins ist. Nun hatte Melanchthon genau das in den Worten erklärt, die Baudouin anführt. Wenn er dann im folgenden erklärt, er bringe diese Dinge nicht wie eine Lektion vor, die Calvin irgendwie nötig hätte, und er glaube, daß sie im Grunde mit Calvins Lehre übereinstimmten, obwohl sie nicht mit dessen Scharfsinn vorgetragen würden, sondern auf einfache, handfeste und volkstümlichere Art; wenn er so spricht, sage ich, dann sieht man leicht, daß er es aus Höflichkeit und Artigkeit tut, um den unliebsamen Eindruck zu vermeiden, er wolle Ratschläge und Zensuren erteilen. Jedermann weiß, daß es eine verbindliche Art gibt, Menschen an ihre Pflicht zu erinnern, nämlich indem man ihnen sagt, sie wüßten natürlich, sie müßten dies oder jenes tun, und es sei keineswegs nötig, sie daran zu erinnern. Ich kann mich nicht genug darüber wundern, daß Theodore Beze Baudouin gegenüber zu behaupten wagte, daß Melanchthon und die Genfer Doktoren in der Frage der Willensfreiheit das gleiche lehrten. Er behauptete das im Jahr 1563. Er wußte doch, was er inzwischen in seiner Calvin-Biographie geschrieben hatte;11 er kannte die Streitereien der Synergisten, die Baudouin erwähnt hatte.12 Was tut der Mensch nicht in der Hitze des Streits! (…). Ich stelle mir vor, daß meine Leser gern wüßten, was Baudouin erwidert hat: Sagen wir also, daß er hinsichtlich des unterdrückten Satzes schwieg, weil ihm nichts anderes einfiel, womit er seine Schande verbergen konnte; was das Übrige angeht, so geriet seine Antwort kurz und heftig: »Man kann nichts Unverschämteres vorbringen oder ersinnen, als was Du jetzt behauptest, nämlich daß in dieser ganzen Problematik Philipp  Melanchthon  mit Euch und Ihr mit ihm gleicher Ansicht seid. Denn obwohl Du sagst, man müsse sich an seine letzten Schrif11 12

Man sehe oben Fußn. (9). (…). Balduinus, Respons. altera ad Calvin., S. 141.

Synergisten

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ten und Ansichten halten, stimmt etwa das, was er zuletzt über die bayerischen Artikel geschrieben hat, mit Eurer Lehre in dieser Sache völlig überein?«14

(B) Melanchthon glaubte, daß man aus guten Motiven heraus irren könne. Ein aufgeblasener und zorniger Doktor versteift sich mit so großer Voreingenommenheit auf seine Meinungen, daß man sie seiner Ansicht nach nicht angreifen kann, ohne die Einsichten des gesunden Menschenverstandes oder des Gewissens zu verleugnen. Er versteift sich darauf und versinkt immer tiefer in seinen Vorurteilen, mit je mehr Stärke man gegen ihn argumentiert. Ein maßvoller, bescheidener und demütiger Doktor hingegen, der wie Melanchthon ein phlegmatisches Temperament besitzt, führt sich nicht so auf. Wenn er eine Meinung als falsch und gefährlich verwirft, läßt er ihren Vertretern gegenüber dennoch Billigkeit walten. Er schätzt nicht allein ihre übrigen hervorragenden Eigenschaften und zollt ihnen dafür Lob, sondern räumt auch ein, daß sie diese Meinungen aus Gründen vertreten, die großen Anschein für sich haben. Also hütet er sich davor, mit ihnen zu brechen oder auch nur die Bande der Brüderlichkeit zu lockern, solange sich die Meinungsverschiedenheit in gewissen Grenzen hält. Hieraus ersieht man, daß weder die Briefe, die Melanchthon an Calvin gerichtet haben mag, noch das Lob, das er ihm in seinen gedruckten Werken zollen konnte, beweisen, daß die beiden sich über das Dogma vom freien Willen einig waren. Daraus läßt sich nur schließen, daß er Billigkeit genug besaß, um zweierlei zu unterscheiden: Calvins Lehre, wie er sie sah, und ebendiese Lehre, wie Calvin sie sah. Melanchthon hatte den Eindruck, daß Gott nach dieser Lehre der Urheber der Sünde sei, aber er wußte sehr wohl, daß Calvin sie nicht unter diesem Gesichtspunkt vortrug und sie in dieser Gestalt auch als 14

Respons. ad Calvinum et Bezam pro Franc. Balduino, Blatt 145, Rückseite.

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verabscheuungswürdig beurteilte. Ihm war nicht unbekannt, in welcher Gestalt sie sich Calvin zeigte, nämlich als ein System, das sich auf verschiedene Passagen der Schrift stützte und darauf abzielte, die Rechte der Vorsehung und der Heilsökonomie des neuen Gesetzes zu betonen. Ihm war auch bekannt, daß sich das System des freien Willens Calvin nur in abstoßender Gestalt darstellte, die es ihm als Negation der Vorsehung und als ausdrücklichen Gegensatz zu den Briefen des hl. Paulus und zu dem Ruhm erscheinen ließ, der Gott aus dem Heil des Menschen erwächst. Auf diese Weise billigte Melanchthon zwar nicht die Ansichten Calvins, erkannte aber nichtsdestoweniger an, daß sie aus Motiven entsprangen, die eines guten Menschen und eifrigen Dieners Gottes würdig waren; er wußte sich weiterhin mit diesem Genfer Doktor darin einig, daß man von zwei Meinungen stets diejenige wählen muß, die der Schrift und den Absichten des Schöpfers am nächsten kommt. Die vollkommene Übereinstimmung zwischen ihnen hinsichtlich dieser These war zugleich der Grund ihrer Uneinigkeit, denn bei der Durchführung dieses Grundsatzes nahm Calvin die Lehre von der Notwendigkeit, Melanchthon aber die von der Freiheit an. Der eine glaubte, daß Gottes höchste Herrschaft über alle Dinge sowie die Rechte einer Vorsehung, die eines unendlichen Wesens würdig ist, eine absolute Prädestination erforderten. Der andere glaubte, daß die Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit des höchsten Wesens eine gewisse Kontingenz in unseren Handlungen verlangten. Das waren die Prinzipien des einen und des anderen. Sie strebten nach dem gleichen Ziel, nämlich nach dem höchsten Ruhm Gottes, aber auf verschiedenen Wegen. Sollten sie deshalb aufhören, einander als Brüder und gemeinschaftliche Arbeiter im Weinberg des Herrn anzuerkennen?15 Ich sehe den Einwand voraus, daß die Verschiedenheit ihrer Wege diese beiden Doktoren dazu nötigen mußte, sich gegenseitig zu verdammen, weil Melanchthon glauben mußte, daß Cal15

Man beachte, daß ich diesen Begriff nicht auf sämtliche Sekten anwenden will, die in der allgemeinen Maxime übereinstimmen, nach Gottes Ruhm zu streben.

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vin unter dem Vorwand, die Rechte der Autorität Gottes aufrechtzuerhalten, die Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes zunichte machte, indem er ihn zum Urheber der Sünde und der Höllenstrafen machte, während Calvin umgekehrt sagen mußte, daß Melanchthon unter dem Vorwand, jene drei Attribute Gottes zu bewahren, die Vorsehung und die Herrschaft Gottes umstürzte, indem er den Menschen einen freien Willen gab. Hier ist jedoch eine sehr gute Lösung. Wenn Calvin so argumentiert hätte: Weil ich nicht alle Attribute Gottes retten kann, gebe ich einen Teil von ihnen preis, um den anderen zu bewahren, und opfere lieber seine moralischen Tugenden den physischen als umgekehrt; ich will ihn lieber zu einem mächtigen als zu einem guten Herrn machen – in diesem Fall hätte Calvin verdient, daß jedermann ihn verurteilte. Er sagte jedoch bei jeder Gelegenheit, daß er durch die Betonung der höchsten Autorität Gottes den moralischen Vollkommenheiten des unendlichen Wesens, seiner Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit, keinen Abbruch tun wolle. Es wäre daher sehr ungerecht von Melanchthon gewesen, wenn er ihn deswegen persönlich angegriffen hätte, d. h. wenn er ihm die Konsequenzen angelastet hätte, die schlimmstenfalls lediglich aus seiner Lehre folgten, da der Doktor sie von sich wies, und zwar mit folgenden Worten: »Überall in seinen Schriften, wo es um die Sünde geht, schärft er (Calvin) dem Leser ein, nicht den Namen ›Gott‹ in diese Debatte einzumischen, weil nur vollkommene Rechtschaffenheit und Billigkeit zur Natur Gottes gehören. Was für eine niederträchtige Verleumdung ist es also, einen um die Kirche Gottes hochverdienten Mann mit dem Vorwurf zu überziehen, er mache Gott zum Urheber der Sünde! Er lehrt zwar überall, daß nichts ohne den Willen Gottes geschieht. Indessen sagt er, daß Gott durch ein geheimes Urteil die verbrecherischen Taten der Menschen so lenkt, daß er keinen Anteil an ihrem Verbrechen hat. Die Summe seiner Lehre ist, daß Gott alles auf wunderbare und uns unbekannte Art und Weise zu jedem von ihm gewünschten Ziel lenkt, so daß sein ewiger Wille die erste Ursache aller Dinge ist. Warum Gott aber etwas will, was uns völlig unangemessen erscheint, ist nach seinem Bekenntnis unbegreiflich. Deshalb dürfen wir das, so sagt

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er, nicht allzu wißbegierig und verwegen untersuchen, weil die Urteile Gottes ein tiefer Abgrund sind, Geheimnisse, die das geringe Maß unserer Kräfte übersteigen und die es uns eher demütig anzubeten als genau zu prüfen geziemt. Indessen hält er an diesem Prinzip fest: Obwohl uns der Grund seiner Ratschlüsse verborgen ist, müssen wir Gottes Gerechtigkeit preisen, weil sein Wille die oberste Richtschnur der Billigkeit ist.«16 Hitzige und leidenschaftliche Menschen würden sich mit dieser weisen Antwort nicht zufriedengeben, aber Melanchthon, der den Frieden liebte und der durch ein hohes Maß an Billigkeit und Bescheidenheit kühlen Kopf bewahrte, so daß er die Stärken wie auch die Schwächen der von ihm gebilligten Meinungen und ebenso der von ihm verworfenen Meinungen genau feststellen konnte; Melanchthon, sage ich, war aufgrund eines derartigen Charakters stets geneigt, Calvin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hierin sollte jedermann ihn nachahmen. Selbst wenn ihr einem Vertreter des Prädestinationsdogmas unwiderleglich bewieset, daß sein System notwendig und unvermeidlich zu dieser Konsequenz führt: Also ist Gott der Urheber der Sünde, so werdet ihr euch hinsichtlich seiner Person mit der folgenden Antwort zufriedengeben müssen: Ich sehe ebensogut wie ihr die Verbindung zwischen meinem Prinzip und dieser Konsequenz, aber meine Vernunft verschafft mir nicht genügend Einsicht, um mich begreifen zu lassen, wie ich mich hierbei täusche. Ich bin aber weiterhin fest davon überzeugt, daß Gott in dem unendlichen Vorrat seiner Weisheit ein sicheres Mittel findet, diese Verbindung aufzubrechen, ein sicheres und untrügliches Mittel, sage ich, obwohl es mir unbekannt ist und außer der Reichweite meines Verstandes liegt. Ein Christ sollte seinen Stolz in die Unterwerfung unter die Autorität Gottes setzen. Nicht zu glauben, was er sieht, sollte oftmals seine Devise sein, ebenso wie zu glauben, was er nicht sieht. Das ist eigentlich der Sinn der oben zitierten Passage aus Calvin. Melanchthon und jedem anderen 16

Calvin, Brevis responsio ad diluendas nebulonis cujusdam calumnias, in Tractat. theologic., S. 730 meiner Ausgabe. Man sehe hierzu die »Klarstellung über die Manichäer« am Ende dieses Dictionnaire, Fußn. (49).

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Theologen, der für die Freiheit eintritt, stünde es um so schlechter zu Gesicht, wenn er dieser Erwiderung nicht zustimmte, als sie zu einer ähnlichen Lösung greifen müssen; denn wenn sie auch nur ein wenig Aufrichtigkeit besitzen, geben sie zu, daß ihnen die Art und Weise, wie sich die Vorsehung Gottes und sein Vorherwissen mit der Freiheit der Geschöpfe verbinden läßt, unbegreiflich ist.17 Man stürzt sie also in dieselben Abgründe, in die sie die anderen gestoßen haben, und in Anbetracht der Schwäche unseres kleinen Verstandes retten sie sich ihrerseits in das Asyl der Unbegreiflichkeit der göttlichen Natur. Das ist der Grund, weshalb man sich nicht genug empören kann, wenn man sieht, daß die Streitigkeiten über die Gnade einen so erbitterten Zwist unter den Menschen hervorrufen. Jede Sekte wirft der anderen vor, sie lehre abscheuliche Gottlosigkeiten und Gotteslästerungen und treibe die Feindseligkeiten auf die Spitze; nichtsdestoweniger müßte man gerade hinsichtlich solcher Lehren am ehesten gegenseitige Toleranz üben. Einer Partei, die ihre Annahmen klar bewiese sowie präzise, kategorische und überzeugende Antworten auf die Einwände gäbe, würde man Intoleranz verzeihen. Aber daß Leute, die gestehen müssen, daß sie keine besseren Lösungen anzubieten haben als Geheimnisse, die dem Menschen undurchdringlich und in dem unendlichen Schatz der unermeßlichen Unbegreiflichkeit Gottes verborgen sind; daß solche Leute, sage ich, stolz tun, den Blitz des Anathema schleudern, den Bannfluch aussprechen und Menschen an den Galgen bringen, das erscheint unentschuldbar. Melanchthon hatte mehr Menschlichkeit. Er glaubte nicht, daß die Leugner der Freiheit nicht verdienten, als gute Diener Gottes gelobt zu werden, er entschuldigte sie mit der Dunkelheit des Gegenstandes und der Reinheit ihrer Motive.

17

Theodore Beze wirft ihnen vor, daß sie keine andere Antwort kennen, wenn sie ein wenig bedrängt werden. Ich habe seine Worte in Anm. (H), Fußn. (93) des Artikel CASTALIO zitiert.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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Es wäre sehr hilfreich, wenn man gründlich über das nachdächte, was man in einem Werk des Bischofs von Salisbury, Herrn Burnet, über diese Kontroverse findet.18

(C) Die Antwort, die man auf eine Stelle des »Commentaire philosophique sur  ces paroles de Jesus-Christ:  contrain-les d’entrer« gegeben hat. Eines der Dinge, die Melanchthon zu dem Geist des Friedens und der Redlichkeit inspirierten, der sich in seinem Verhalten zeigt, ist nach meinem Eindruck, daß er die Art, in der Gott handeln wollte, als aus unendlich vielen anderen Arten ausgewählt ansah, die gleichermaßen des höchst vollkommenen Wesens würdig wären. Nun liegt es in der Konsequenz dieses Gedankens, daß man sich bei der Erklärung theologischer Gegenstände täuschen kann, ohne Gott irgend etwas zuzuschreiben, was seinen Vollkommenheiten Abbruch täte. Denn diejenigen täuschen sich zwar, die sich auf eine Annahme stützen, die nicht mit dem konform ist, was Gott tatsächlich getan hat; aber wenn ihre Annahme einer dieser anderen Arten entspricht, die Gott hätte wählen können, dann schreibt sie Gott ein Handeln zu, das seiner vollkommen würdig ist. Ich will das durch ein Beispiel erläutern. Nehmen wir an, daß Salomo, der mit dem König von Tyros Rätsel austauschte,19 ihm einen chiffrierten Brief geschrieben hatte, indem er Überlegungen in einer Staatsangelegenheit anstellte. Nehmen wir weiter an, daß Titius und Mevius den Auftrag hatten, diesen Brief zu dechiffrieren, sich dabei aber nicht desselben Schlüssels bedienten, so daß der eine für ein A nahm, was der andere für ein O nahm usw. Titius fand richtig heraus, was Salomo sagen wollte, während Mevius es folglich zwar nicht traf, nichtsdestoweniger aber einen so ver18

Herr de Beauval bringt einen Auszug daraus in der Histoire des ouvrages des savans, Okt. 1699, S. 435 ff. und ebenso Herr Bernard in den Nouvelles de la république des lettres, August 1700, S. 155 ff. 19 Josephus, Antiq. jud., Buch VIII, Kap. 2, Blatt 215 meiner Ausgabe.

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nünftigen und stimmigen Sinn ermittelte, welcher der Weisheit Salomos ebensoviel Ehre machte wie der von Titius entdeckte. Man könnte Mevius vorhalten, daß er Salomo gewisse Dinge zuschrieb, die nicht der gewöhnlichen Klugheit entsprachen, aber er könnte erwidern, daß ein so großer Geist wie Salomo in einer politischen Angelegenheit weitreichende Perspektiven entwickelt habe, die jenseits des Horizontes anderer Geister lägen. Nehmen wir also, hätte er gesagt, das, was uns hier überrascht, für einen Ausdruck seiner außergewöhnlichen Weisheit. Man hätte Titius einen ähnlichen Einwand machen können, und er hätte nicht verfehlt, ihm auf ähnliche Weise auszuweichen. Der überlegene Geist dieses Königs von Jerusalem hätte als neuer Schlüssel für besondere Schwierigkeiten bei der Dechiffrierung gedient. Salomo allein hätte entscheiden können, daß Titius erfolgreicher oder tüchtiger als Mevius war; aber da er bemerkt hätte, daß Mevius ihm einerseits eine feinsinnige Überlegung zuschrieb und andererseits verbleibende Schwierigkeiten durch eine Annahme ausräumte, die seiner Weisheit große Ehre machte, hätte Salomo mit Mevius ebenso zufrieden sein können wie mit Titius. Er hätte zu ihnen sagen können: Der eine von euch läßt mich denken, was ich tatsächlich gedacht habe, und der andere, was ich ebenso ruhmreich hätte denken können. Man wird ohne weiteres zugeben, daß dies ungefähr der Situation der Astronomen entspricht, welche die Himmelserscheinungen durch entgegengesetzte Systeme erklären. Diese Erscheinungen gleichen einem verschlüsselten Brief, den Gott den Astronomen zur Entschlüsselung übergeben hat. Die einen wählen die Bewegung der Erde als Schlüssel, die anderen deren Ruhe. Den einen dient die Drehung der Erde um ihre Achse als Erklärung für das Vorrücken der Äquinoktien,20 die anderen bevorzugen dafür Spirallinien21 usw. Die drei Systeme des 20

Man sehe Rohault, Physique, Bd. II, Kap. 19, S. 77 meiner Ausgabe und Regius, Philosophie, Bd. III, Buch III, Teil 2, Kap. 6, S. 128 meiner Duodezausgabe. 21 Man sehe das Buch mit dem Titel Uranie ou les tableaux des philosophes, Bd. III, S. 44.

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Ptolemäus, des Kopernikus und des Tycho Brahe mögen zwar verschieden sein, sie alle erklären aber die Erscheinungen. Dennoch entspricht nur eines von ihnen der Wahrheit. Das wollte Herr Marion sagen,22 als er erklärte, »das kopernikanische System sei wahr in der Theorie, aber falsch in der Natur«. Da aber alle Anhänger dieser Systeme darin übereinstimmen, daß sie in dem Werk die Macht und die unendliche Weisheit des Werkmeisters bewundern, befürchten sie nicht, daß sie Gott beleidigen, wenn sie sich täuschen. Sie denken, wenn er diese Dinge nicht so geschaffen hat, wie sie sich das vorstellen, hätte er sie doch unbeschadet seiner Vollkommenheiten so schaffen können, und ein unendliches Wissen wie das seinige verfüge über Ideen von unendlich vielen Weltentwürfen, die allesamt vollkommen schön und allesamt eines unendlich weisen und mächtigen Wesens würdig seien. Ich bin sicher, daß ein Kopernikaner, nachdem er das System des Ptolemäus, den Wirrwarr so vieler Kreise und Epizyklen, die Nutzlosigkeit der märchenhaft schnellen Bewegung des Firmaments usw. lauthals kritisiert hat, einräumen wird, wenn er darauf Acht gibt, daß alle Nachteile, die er in diesem System zu finden glaubt, von den Vorteilen ausgeglichen werden könnten, die in der einfacheren Mechanik der Bewegung der Erde nicht anzutreffen sind. Sobald man die Idee eines unendlichen Wissens vor Augen hat, sieht man die Möglichkeit dieses Ausgleichs; man wird gewahr, daß der Mensch nicht das einzige Wesen ist, für das ein so großes Schauspiel veranstaltet wird. Man begreift, daß die unvorstellbare Geschwindigkeit der Himmelssphären erstaunlichen Nutzen für Teile des Universums außerhalb unseres Gesichtskreises haben könnte. Mit einem Wort, wenn das ptolemäische System falsch ist, so bleibt es doch möglich und folglich der Weisheit des Schöpfers durchaus würdig; denn wenn es ihrer unwürdig wäre, so wäre es nicht möglich. Kein Astronom, glaube ich, der in seinem Innersten fest davon überzeugt ist, daß er dieses System allen anderen nur deshalb vorgezogen hat, weil er es In einem seiner Plädoyers. Man sehe Arnauld, Difficult.  proposées  à Steyart, Teil IX, S. 101. 22

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nach gründlicher Überlegung und Abwägung für das System gehalten hat, das der göttlichen Wahl am meisten entspricht, muß sich davor fürchten, mit dieser Lehre vor den Weltenrichter zu treten, auch wenn sie sich als falsch herausstellen sollte. Ich glaube, er würde darauf hoffen, daß ein Kopernikaner und er eine Antwort bekommen würden, die derjenigen ungefähr gleicht, die nach unserer Annahme Salomo Titius und Mevius gegeben haben würde. Wenige Menschen werden das bestreiten; aber wenn es um einen theologischen Gegenstand ginge, würden unzählige Doktoren es bestreiten.23 Melanchthon, so vermute ich, würde bezüglich der beiden Lehrgebäude der Prädestination, nämlich der Freiheit und der Notwendigkeit, nicht zu ihnen gehören. Er würde annehmen, daß das falsche System wahrscheinlich, möglich und mit der Vollkommenheit Gottes nicht unvereinbar ist. Ich gehe nicht auf die Frage ein, wer hier im Recht ist; aber eine Tatsache darf ich wohl berichten. Die Gesetze der Geschichtsschreibung ermächtigen mich zweifellos dazu, und wenn mein Bericht mit Kritik durchsetzt ist, so tue ich doch nichts, was außerhalb der Zielsetzung dieses Dictionnaire läge. Ein Pastor aus Utrecht hat in seinen Betrachtungen zum Commentaire philosophique die folgende Stelle nach Kräften bestritten: »Hier wird ein Anfang damit gemacht, die Gespenster und panischen Schrecken zu vertreiben, die beim Thema ›Irrtum‹ die Theologen seit langem beunruhigen. Denn es steht fest, daß der Grund, warum der menschliche Verstand so viele anscheinend gleich 23

»Wenn es nur darum ginge, Finsternisse oder andere Himmelserscheinungen zur Befriedigung unserer Neugierde oder für lebenspraktische Zwecke vorherzusagen, hätte man die Wahl zwischen den Systemen: man könnte die gleichen Erscheinungen mit verschiedenen Hypothesen in Einklang bringen. Und wenn das einmal nicht gelingen sollte, würde man mit dem Irrtum davonkommen und hätte nur schlecht gemessen und gerechnet. Ob man dem System des Ptolemäus, dem des Tycho Brahe oder dem von Kepler und Kopernikus folgt, macht wenig aus, vorausgesetzt, man stellt keine dogmatischen Behauptungen über Dinge auf, von denen man keine mathematische Gewißheit hat. So verhält es sich jedoch nicht mit Religionsthemen.« Saurin, wie unten  Fußn. (24) , S. 335.

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gute Argumente findet, um bei Religionsstreitigkeiten Wahres und Falsches zu verteidigen, darin liegt, daß die meisten Falschheiten, die hier auftreten, ebenso möglich sind wie die Wahrheiten. Tatsächlich nehmen wir alle an, daß die Offenbarung von Gottes freiem Entschluß abhängt; denn seine Natur nötigt ihn nicht, Menschen oder andere Wesen zu schaffen. Wenn er gewollt hätte, so hätte er folglich entweder gar nichts oder eine von der jetzigen verschiedene Welt hervorbringen können, und falls er Menschen in ihr gewollt hätte, so hätte er sie auf Wegen zu seinen Zielen lenken können, die von den tatsächlich von ihm gewählten völlig verschieden, aber des höchst vollkommenen Wesens gleichermaßen würdig gewesen wären. Denn eine unendliche Weisheit kennt unendliche Mittel, sich zu manifestieren, die ihrer allesamt würdig sind. Wenn das so ist, darf man sich nicht wundern, daß die Theologen ebenso viele gute Gründe finden, um den freien Willen des Menschen zu verteidigen, wie um ihn zu bestreiten; denn wir verfügen über Begriffe und Prinzipien, um uns vorzustellen und um zu beweisen, daß Gott den Menschen frei schaffen konnte, ohne ihm das zu geben, was man die ›Freiheit der Indifferenz‹ nennt, und ebenso bei hundert anderen einander widersprechenden Sätzen. 2. Suppl.-Band, Kap. 24, S. 308-310.«24 Soweit die Betrachtungen zu dieser Passage sich auf den vorliegenden Gegenstand beziehen, lassen sie sich zunächst auf diese Frage reduzieren: »Wer hat ihm gesagt, daß wir über Begriffe und Prinzipien verfügen, um uns vorzustellen und um zu beweisen, daß Gott den Menschen frei schaffen konnte, ohne ihm die ›Freiheit der Indifferenz‹ zu geben?«25 Diese Frage hätte Herr Saurin vermutlich nicht gestellt, wenn er sich daran erinnert hätte, daß man seit 150 Jahren in ganz Europa unaufhörlich unzählige Bücher für und wider die Freiheit veröffentlicht, in denen jede Partei durchschlagende Einwände erhebt. Dann hätte er nämlich sofort zugegeben, daß »wir über Begriffe und Prinzipien verfügen, um uns vorzustellen usw.« Laßt ihn einen Blick in einige Werke 24 25

Saurin, Réflex. sur les droits de la conscience, S. 323. A. a. O., S. 324.

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der Arminianer oder der Reformierten, der Molinisten oder der Jansenisten werfen, und er wird sehen, daß sich diese Begriffe und Prinzipien in Hülle und Fülle im menschlichen Geist finden. Er sagt weiter,26 daß »es widersprüchliche Dinge gibt, die dem Wesen Gottes entgegengesetzt und folglich unmöglich sind, (---) daß Gott daher keine Körper ohne Ausdehnung und ohne die drei Dimensionen schaffen konnte, auch keine Geister, die nicht denkende Wesen wären.« All das ist vergeblich gesagt, denn der Kommentator* hatte nichts behauptet, was vermuten ließe, daß es keine absolut unmöglichen Dinge gibt. Was soll also die Bemerkung, daß die wesentlichen Attribute eines Geschöpfs nicht von ihm getrennt werden können? Hat er diese Wahrheit angezweifelt? »Wenn Gott«, so fährt er fort,27 »den Menschen nicht mit seiner ›Freiheit der Indifferenz‹ geschaffen hat, kann unser Philosoph** nicht wissen, ob Gott ihn mit dieser Freiheit hätte schaffen können und ob diese Freiheit nicht ebenso widersprüchlich ist wie ein viereckiger Kreis oder ein unabhängiges Geschöpf.« Ich verstehe das nicht genügend, um es widerlegen zu können, aber ich denke, wenn Melanchthon auf einen gleichartigen Einwand hätte antworten müssen, so hätte er sich auf diese Worte beschränkt. »Bei diesem Thema liebe ich keine Spitzfindigkeiten, sondern passe mich den Begriffen der einfachen Leute an; ich glaube, daß Gott alles bei seinem Schöpfungswerk frei geschaffen hat, und ich finde es befremdlich, daß ein Pastor diese Wahrheit in Zweifel zieht;28 noch befremdlicher finde ich es, daß er insinuiert, die Freiheit der Indifferenz sei ebenso widersprüchlich wie ein viereckiger Kreis, weil er ein wenig später versichert ›Es ist unmöglich, daß Gott ein intelligentes Wesen schafft, ohne ihm Gesetze zu geben‹.29 Die Gesetze, die Gott Adam gab, waren von Verhei26

Ebd.  Sc. Bayle. Hgg.  27 A. a. O., S. 325. **  Sc. Bayle. Hgg.  28 Die Worte »Wenn Gott den Menschen nicht mit seiner Freiheit« der Indifferenz »geschaffen hat« drücken diesen Zweifel aus. 29 Saurin, Réflex. sur les droits de la conscience, S. 330. *

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ßungen und Drohungen begleitet; was klar voraussetzt, daß Adam gehorsam und ungehorsam sein konnte. Die strengsten Theologen, der hl. Augustinus und Calvin, lehren ausdrücklich, daß die Menschen den freien Willen nur infolge des schlechten Gebrauchs verloren haben, den Adam im irdischen Paradies davon gemacht hat. Mehr verlange ich nicht, um mich der Möglichkeit zu versichern, daß Gott dem Menschen die Freiheit der Indifferenz gibt. Wenn er sie Adam nicht gegeben hätte, würden alle unsere Lehrgebäude der Religion zusammenbrechen. Daraus schließe ich, daß er sie ihm gegeben hat; und wie jedermann weiß, ist der Schluß von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit notwendig.30 Ich stelle mir jedoch vor, daß Gott den Menschen mit der Bestimmung zum Guten hätte schaffen und ihn so fest daran festhalten lassen können, daß es ihm nicht möglich gewesen wäre, zwischen Gut und Böse zu schwanken: deshalb finde ich sowohl die Hypothese der Freiheit als auch die der Notwendigkeit möglich.« Das, so scheint mir, hätte Melanchthon erwidern können. Außerdem hätte er es sehr schlecht gefunden, so scheint mir, daß der Verfasser der Réflexions zum Commentaire philosophique nicht seine Meinung darlegt, sondern sich mit einem »Wenn Gott usw.« begnügt: ein mehrdeutiger Satz, aus dem man ableiten kann, daß der Nichtbesitz des freien Willens widersprüchlich ist. Denn wenn daraus, daß Gott Adam ohne die Freiheit der Indifferenz geschaffen hätte, folgen könnte, daß diese Freiheit einen Widerspruch einschließt, dann werden andere behaupten, daraus, daß er ihn mit dieser Freiheit geschaffen hat, würde sich ergeben, daß die Bestimmung zu einem der beiden Gegenteile ebenso unmöglich sei wie ein viereckiger Kreis. Ich übergehe, was der Verfasser der Réflexions der These des Kommentators entgegensetzt, daß nämlich die Beweise für einen falschen Satz manchmal ebensogut sind wie die für einen wahren Satz. Was er hierauf erwidert, wimmelt von unnützen Bemerkungen; denn in einer Auseinandersetzung ist es unnütz, dem Gegner etwas zu beweisen, was dieser gar nicht bestreitet. Die einzige Bemerkung, die nicht überflüssig erscheint, ist 30

Ab actu ad potentiam valet consequentia.

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die folgende: »Die Gründe, die uns zur Wahl einer Religion bestimmen, müssen moralische Demonstrationen sein.«31 Aber in der Kontroverse über den freien Willen, die der Kommentator führt, dient selbst das zu nichts, denn da jede Partei sich rühmt, derartige Demonstrationen auf ihrer Seite zu haben, werden wir damit nur auf gleichlautende Worte verwiesen. Hier eine weitere Passage aus dem Commentaire:32 »Was geschieht also, wenn die Offenbarung an einem Punkt zweifelhaft ist? Die einen erklären ihn nach dem einen System, die anderen nach einem anderen. Einmal angenommen, das System der einen entspreche dem, was Gott tatsächlich gewählt hat: das hindert nicht, daß das System der anderen dem entspricht, was Gott hätte tun können, und zwar mit gleicher Würde und gleichem Ruhm für ihn selbst, wie wenn er etwas anderes getan hätte. Denn wir stellen uns vor, daß Gott die Dinge auf hundert verschiedene Arten hätte machen können, die allesamt seiner unendlichen Vollkommenheit würdig wären: andernfalls würde er nämlich keine Freiheit haben und sich nicht vom Gott der Stoiker unterscheiden, der in den Ketten eines unausweichlichen Schicksals liegt – eine Lehre, die kaum besser ist als der Spinozismus. Folglich liegt in einem falschen System nichts Verbrecherisches, außer wenn ein Theologe es auf einen Begriff gründet, von dem er selber glaubt, daß er Gottes eigenem Wort entgegengesetzt und seiner Majestät abträglich ist. Ich nehme aber nicht an, daß sich solche Theologen in der Welt finden lassen. 2. Suppl.-Band, Kap. 24, S. 310 f.« Herr Saurin vergleicht diese Worte mit einer anderen Passage, wo der Kommentator sagt, daß »er sich nicht den Vergleich mit einem Fürsten zunutze machen will, dessen Riesenreich mehrere Nationen mit verschiedenen Gesetzen, Bräuchen, Sitten und Sprachen umfaßt«. Dabei findet er,33 daß der Kommentator hier nicht allein alle Sekten des Christentums, sondern auch des Heidentums rechtfertigt. Ich wundere mich, daß er nicht gesehen hat, daß 31 32 33

A. a. O., S. 326. A. a. O., S. 327. A. a. O., S. 329.

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sein Gegner nur von Systemen spricht, die sich auf den verschiedenen Sinn gründen, den man der Schrift gibt.34 Hier folgt eine weitere Passage, die euch überraschen wird: »Gott hätte die Dinge auf hundert verschiedene Arten, die allesamt seiner unendlichen Vollkommenheit würdig wären, anders machen können, als er sie gemacht hat.« Nachdem Herr Saurin diese Worte aus dem Commentaire philosophique noch einmal zitiert hat,35 weist er sie mittels der Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Teilen der Religion zurück. Danach sagt er:36 »Der Autor macht diese Unterscheidung nicht; seine Aussage ist ganz allgemein. ›Gott hätte die Dinge auf hundert verschiedene Arten anders machen können, als er sie gemacht hat.‹ Und es ist bemerkenswert, daß er unter diesen verschiedenen Arten auch diejenigen erwähnt, welche die heidnischen Dichter und die chinesischen Philosophen ersonnen haben, denn er will alle Religionssysteme rechtfertigen, die von den Gelehrten erfunden und von den Völkern angenommen worden sind. Zum Beweis seiner These führt er Gottes Freiheit an. ›Andernfalls‹, sagt er, ›würde er nämlich keine Freiheit haben und sich nicht vom Gott der Stoiker unterscheiden, der in den Ketten eines unausweichlichen Schicksals liegt – eine Lehre, die kaum besser ist als der Spinozismus.‹ Wenn diese Folgerung richtig wäre, hätte Gott die fürchterlichste ›Freiheit der Indifferenz‹, die man sich vorstellen kann. Er könnte lügen und Meineide schwören, wenn er bei sich selbst schwört; er könnte uns befehlen, ihn zu hassen, und uns verbieten, ihn zu lieben. Er könnte uns Verrat, Meineid, mit einem Wort: alle Arten von Verbrechen befehlen, schließlich aus allen Tugenden Laster und aus allen Lastern Tugenden machen.« Um diese Betrachtungen zu widerlegen, braucht es nur wenige Worte. Man beachte diesen Satz: ALLESAMT WÜRDIG SEINER UNENDLICHEN VOLLKOM34

»Was geschieht also, wenn DIE OFFENBARUNG an einem Punkt zweifelhaft ist?« Commentaire philosophique, zitiert von Herrn Saurin, a. a. O., S. 327. 35 A. a. O., S. 329. 36 A. a. O., S. 330.

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MENHEIT. Er bringt mit höchster Evidenz zum Ausdruck, daß

Gottes Freiheit nicht darin besteht, Gutes oder Schlechtes zu tun und weise oder unklug handeln zu können, sondern darin, unter unendlich vielen unendlich schönen und guten Entwürfen nach seinem Wohlgefallen diesem oder jenem folgen zu können. Heißt das aber, daß er der Urheber der falschen Kulte sein könnte, von dem die heidnischen Dichter gesungen haben? Wären das Handlungsweisen, die seiner unendlichen Vollkommenheit würdig sind?

THALES

thales, einer der sieben Weisen Griechenlands. Moréri hat ausführlich von ihm gesprochen. Ergänzend füge ich hinzu, daß dieser Philosoph glaubte, die Welt sei das Werk Gottes und Gott kenne die geheimsten Gedanken des menschlichen Herzens (A). Einige sagen, daß er verheiratet war, andere aber halten das für falsch und behaupten, daß er den diesbezüglichen Vorhaltungen seiner Mutter in seinen jungen Jahren mit den Worten »Es ist noch zu früh«, und als er alt geworden war mit »Es ist schon zu spät«a ausgewichen sei. Es heißt, daß er geglaubt habe, sterben und leben sei dasselbe, und daß er auf die Frage, warum er dann nicht sterbe, die Antwort gegeben habe, die andere Pyrrho zusprechen.b Eine alte Frau hat sich mit viel Witz über ihn lustig gemacht, weil er, als er mit ihr das Haus verließ, um die Sterne zu betrachten, in einen Graben fiel. Es heißt, er sei älter als neunzig Jahre geworden. Wer sich ein wenig in den Lehren der ältesten griechischen Philosophen auskennt, weiß, daß er behauptete, das Wasser sei der Urgrund all der Körper, die das Universum bilden. Über diese Annahme ließen sich viele Betrachtungen anstellen (D). Ich werde eine Stelle zitieren, die uns zeigt, daß er sehr schöne Entdeckungen in der Astronomie machte und daß er insbesondere so stolz auf die Entdeckung war, in welchem Verhältnis der Sonnendurchmesser zu dem Kreis steht, den dieses Gestirn bei seinem Weg um die Erde beschreibt, daß er, nachdem er dies einen Mann gelehrt hatte, der ihm zur Belohnung alles anbot, was er nur haben wollte, lediglich verlangte, er möge so aufrichtig sein zu erklären, daß der Ruhm dieser Entdeckung ihm gebühre.c a

Diogenes Laertius, Buch I, Nr. 26. Man sehe den Artikel PYRRHO, Fußn. (37).  Diese Fußnote nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  c Man sehe Anm. (D). b

Thales

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(A) Thales glaubte, die Welt sei das Werk Gottes und Gott kenne die geheimsten Gedanken des menschlichen Herzens. Ich trage das als bloßer Berichterstatter dessen vor, was ich bei Diogenes Laertius gefunden habe, und ohne zu behaupten, daß dies tatsächlich die Meinung dieses Philosophen war. Zu seinen Aussprüchen zählen die folgenden drei. Gott ist das älteste von allem, denn er ist unerschaffen;1 die Welt ist von allen Dingen das schönste, denn sie ist das Werk Gottes; weit gefehlt, daß sich die Sünder vor den Augen Gottes verstecken könnten, vermögen sie nicht einmal, ihre Gedanken vor ihm zu verbergen.2 (…). Valerius Maximus bezeugt hinsichtlich des dritten Ausspruchs dasselbe. »Thales sagte etwas ganz Wunderbares. Denn als er gefragt wurde, ob die Taten der Menschen den Göttern verborgen blieben, antwortete er: ›Nicht einmal ihre Gedanken. Wenn wir nämlich glauben, daß Gott unsere geheimen Gedanken kennt, dann werden wir auch wollen, daß nicht nur unsere Hände, sondern auch unser Gewissen rein ist.‹«3 Diese Auslegung von Valerius Maximus, derzufolge Thales so sprach, damit der Glaube, die geheimsten Gedanken der Seele seien Gott unmittelbar gegenwärtig, die Menschen verbinde, ihre Herzen genauso rein zu halten wie ihre Hände, stimmt gut mit einer Passage Ciceros über eben diesen Thales überein. Wenn man den Gesamtzusammenhang von Ciceros Überlegungen genau prüft, dann stellt sich heraus, daß die Grundlage der Maxime dieses alten griechischen Weisen der moralische Nutzen war, den der Mensch aus ihr ziehen konnte: »Die Griechen und die Römer hatten eine bessere Idee. Um die Ehrfurcht vor den Göttern zu vertiefen, wollten sie, daß diese in denselben Städten mit uns wohnen. Diese Ansicht führt nämlich zu einer Auffassung der Religion, die für die Städte nützlich ist. Jener Ausspruch des Pythagoras, dieses hochgelehrten Mannes, wonach wir in unse1

(…). Diogenes Laertius, Buch I, Nr. 35. (…). Ders., a. a. O., Nr. 36. 3 Valerius Maximus, Buch VII, Kap. 2, Nr. 8, extern, S. 602 meiner Ausgabe. 2

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rem Herzen um so mehr Frömmigkeit und Religiosität tragen, je mehr wir uns um die göttlichen Angelegenheiten bemühen, ist nämlich sehr wahr. Und so sagt auch Thales, der weiseste von den sieben, die Menschen müßten glauben, daß die Götter alles sähen und alles voller Götter sei. Dadurch würden nämlich alle Menschen sittlich reiner, und selbst Kinder würden religiöser.«4 Ich bitte den Unterschied zwischen Cicero und Diogenes Laertius zu beachten. Letzterer sagt schlicht und einfach, daß Thales zufolge die Welt beseelt und voller Genien ist (…);5 aber es scheint, daß Cicero dies einschränkt, denn er sagt, daß es Thales zufolge gut wäre oder so sein sollte, daß die Menschen überzeugt wären, daß alles voller Götter sei. Aristoteles glaubte, Thales habe vielleicht nur das sagen wollen, was andere mit der Lehre meinen, daß alle Wesen eine Seele haben (…).6 Hier sind noch einige andere Varianten. Plutarch nimmt nicht an, daß Thales den oben genannten Grund dafür angeführt hat, weshalb die Welt von allen Dingen das schönste ist. Er sagt, daß Thales auf die Frage »Was ist das schönste aller Wesen?« antwortete »Die Welt, denn alles, was Ordnung hat, ist ein Teil der Welt.« (…).7 Und was die Antwort auf die Frage angeht, ob Gott die bösen Handlungen der Menschen kenne, so legen einige sie nicht Thales, sondern Pittakos bei. Man sehe Theon in Kap. 5 seiner Progymnasmata, S. 69 und 77 der Ausgabe Leiden 1626. Ich merke all diese Unterschiede an, damit man sieht, daß die Beweise, die man gegen mich anführen mag, weil ich anderswo gesagt habe,8 daß Thales in seiner Lehre von der Hervorbringung der Dinge keinen Gebrauch vom Handeln Gottes gemacht hat, nicht sehr überzeugend sind. Darüber muß ich aber weiter unten sprechen. Man sehe die Anmerkung (D).

4 5 6 7 8

Cicero, De legibus, Buch II, Blatt 334 B. Diog. Laertius, Buch I, Nr. 27. Aristot., De anima, Buch I, Kap. 5. Plut., Convivium septem sapient., S. 153 C. In Anm. (D) des Artikels ANAXAGORAS.

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(D) Er hat behauptet, das Wasser sei der Urgrund all der Körper (---). Über diese Annahme ließen sich viele Betrachtungen anstellen. Mit gutem Grund behauptet man, daß er nicht der erste gewesen ist, der diese Lehre vortrug, sondern daß er sie entweder von den Ägyptern oder von den alten griechischen Dichtern übernommen hat. Man sehe die Abhandlung De dogmate Thaletis, quod aqua sit principium omnium rerum, die zusammen mit einigen anderen im Jahr 1700 im sächsischen* Halle gedruckt worden ist.16

Verschiedene Bedeutungen des Wortes ›Chaos‹ Einigen Autoren zufolge ist das Chaos des Hesiod im Grunde das gleiche Prinzip, das Thales ›Wasser‹ nannte. Das kann ich mir aber nur schwer vorstellen, denn das Wasser des Thales mußte als etwas Homogenes gedacht werden, wohingegen man sich das Chaos als eine eigenartige Vermengung aller Arten von Grundbestandteilen vorstellen mußte. Ovid vermittelt uns diese Vorstellung vom Chaos am Anfang der Metamorphosen,17 und wenn die anderen Dichter von einem höllischen Chaos sprechen, dann meinen sie damit einen Ort, der dunkel, schrecklich und gänzlich ohne die Schönheit ist, die sich bei gut aufeinander abgestimmten Dingen oder in der Einfachheit eines ersten Prinzips findet.

 recte: magdeburgischen  16 Unter dem Titel Observationes selectae ad rem litterariam spectantes, Bd. I. Herr Thomasius, Professor der Rechte in Halle, ist so freundlich gewesen, mir ein Exemplar zuzusenden, wofür ich ihm hier meinen Dank abstatte. Er hat großen Anteil an den Texten, die diesen Band ausmachen. 17 Man sehe oben Fußn. (42) des Artikels OVID. *

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»Ihr Götter, die Ihr die Herrschaft habt über die schweigenden Schatten der Seelen, Und Ihr, Chaos und Phlegethon, nächtliche Orte tiefen Schweigens.«18 Der Kommentator Servius versteht hier unter dem Wort ›Chaos‹ die ersten Prinzipien, insofern sie in dem Durcheinander der Elemente anwesend waren. Vielleicht aber grübelt er allzuviel, denn offensichtlich will Vergil lediglich von der Hölle im allgemeinen sprechen oder von einem Teil der Hölle. So muß man die folgenden Worte Ovids verstehen: »Bei diesem Orte des Grauens, dieser gewaltigen Öde, dem Schweigen des riesigen Reiches: knüpft Eurydicen neu den zu früh zerrissenen Faden.«19 Orpheus richtet dieses Gebet an Pluto und Proserpina. Man ziehe die Anmerkungen von Graevius zu Hesiod hinzu;20 sie beweisen, daß der Ausdruck ›Chaos‹ sehr oft die Hölle bezeichnet. Ich weiß, daß man dem Chaos, das Hesiod zufolge das erste aller Wesen war, einen anderen Sinn beigelegt hat. Man meinte, das Chaos bezeichne den Ort, an den alle Dinge gesetzt waren. Simplicius21 bestätigt, daß diese Auffassung weit verbreitet war. Sextus Empiricus berichtet sie: »Es heißt, das Chaos sei der Ort, der alles umfaßt, was sich an ihm befindet.«22 Aber in diesem Sinne ist es unmöglich, daß Thales dieselbe Lehre vertreten hätte wie Hesiod, denn das Wasser bedarf genauso eines Ortes wie die anderen Körper. Folglich müßte der Ort vor dem Wasser existiert haben, und das Wasser würde folglich nicht das erste Prinzip sein. Ich glaube nicht, daß Hesiod jemals der

18

Vergil, Aeneis, Buch VI, Vers 265. Ovid, Metam., Buch X, Vers 29.  In der Übersetzung von Erich Rösch. Vgl. die Anm. der Hgg. zu Fußn. (33) des Artikels MOHAMMED.  20 S. 115 der Ausgabe Amsterdam 1701. 21 Simplicius zu Aristoteles’ Physica, Buch IV. Man sehe Petit, Miscell. observat., S. 52. 22 Sext. Empiricus, Pyrrhoneae hypotyposes, Buch III, Kap. 16. 19

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Auffassung war, die man ihm beilegt, und sicherlich verstand er unter dem Wort ›Chaos‹ nicht den Raum oder den Ort, der die Körper enthält. Fraglos meinte er damit den verworrenen Zustand, in dem sich die Dinge befanden, bevor die Erde, das Meer, die Luft, der Himmel usw. die ihnen jeweils zukommende Lage eingenommen hatten. Folglich behauptete er nicht, vom Raum zu sprechen, der in dem Falle, daß man ihn von den Körpern unterscheidet, notwendigerweise ein homogenes Ganzes ist und nicht aus irgendeinem anderen Element oder Kompositum gebildet sein kann. Das beweist, daß das Wasser des Thales nicht der Raum war, obwohl er es andererseits als ein vollkommen homogenes Ganzes in actu, wenngleich als etwas Heterogenes in potentia betrachten mußte. Ich bediene mich dabei einer in den Schulen der Peripatetiker ganz berühmten Unterscheidung und will sagen, daß Thales zufolge das Wasser an und für sich betrachtet und vor der besonderen Bildung aller Körper tatsächlich in jedem seiner Teile Wasser sein mußte und dennoch in der Lage war, Luft, Feuer, Erde, dann Baum, Metall, Blut, Wein, Knochen usw. zu werden, je nach den verschiedenen Graden der Verdünnung und Verdickung, die es durchläuft. Der Einwand, daß es, wenn es nur ein materielles Prinzip gegeben hätte, keinerlei Unterschied zwischen den Körpern gäbe, ist unberechtigt. Dieser Einwand trifft nur diejenigen, die annehmen, daß dieses einzige Prinzip unveränderlich sei. Nimmt man aber an, daß es – so wie die erste Materie des Aristoteles – nacheinander verschiedene Eigenschaften annehmen kann, können alle möglichen Arten von Körpern aus ihm entstehen. Der von Laktanz gegen Thales oder Heraklit, der nur das Feuer als Prinzip aller Dinge annahm, vorgebrachte Einwand ist nicht gut. Das Feuer, so sagt er,23 kann nicht aus dem Wasser hervorgehen und das Wasser nicht aus dem Feuer. Er täuscht sich; jeder einzelne Körper kann aus dem Feuer, dem Wasser oder der Erde hervorgehen, vorausgesetzt, daß es Ursachen gibt, die in der Lage sind, die Ausdehnung gemäß ihrer ganzen Veränder-

23

(…). Laktanz, Buch II, Kap. 9, S. 121 meiner Ausgabe.

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lichkeit und Wandelbarkeit zu modifizieren. Wir wollen aber beiläufig bemerken, daß weder Thales noch Heraklit noch irgendeiner der anderen Philosophen, die als allgemeines Prinzip aller Körper ein einziges der vier gewöhnlichen Elemente angenommen haben, Aristoteles an Scharfsinnigkeit gleichkamen. Sie haben nicht gesehen, daß keines der vier Elemente der Körper im allgemeinen ist, sondern daß sie eine Art bestimmter Materie sind. Deshalb hat Aristoteles, der vernünftiger war als sie alle, die Materie im allgemeinen als erstes Prinzip gewählt. Die große Schwierigkeit in der Lehre des Thales besteht darin, daß er nicht gesagt hat, wie das Wasser angefangen hat, seinen Zustand zu ändern und die besonderen Formen von Luft, Feuer, Erde usw. anzunehmen. Hat es sich aus eigener Kraft verdünnt oder verdickt? Ist diese Kraft auf einmal bei der Entstehung der Welt entstanden oder hat sie immer schon im Wasser gelegen? Man begreift nicht, wie das Wasser sich diese Kraft geben konnte, wenn es nicht immer schon über sie verfügte; und daß, wenn das Wasser immer schon über sie verfügte, es eine ganze Ewigkeit hindurch Wasser geblieben ist, ohne sich zu verdicken oder zu verdünnen. Einige glauben, Thales habe angenommen, Gott sei die Wirkursache gewesen, die alle besonderen Körper aus dem Wasser hervorgebracht habe. Sie führen zwei Stellen aus Cicero24 und eine aus Laktanz25 an. Was aber Laktanz anbelangt, so ist er kein weiterer Zeuge, sondern hat lediglich Cicero abgeschrieben. Hinsichtlich des letzteren aber sind die gegen ihn vorgebrachten Gründe26 so stark, daß man sich nicht auf sein Zeugnis verlassen darf. Wenn man die oben27 zitierten Worte des Diogenes Laertius anführt, so antworte ich, daß Plutarch sich ihrer nicht bedient, wenn er dieselbe Antwort von Thales anführt. Erwidert man hierauf, daß Plutarch und Diogenes Laertius in einem anderen Punkt übereinstimmen, nämlich 24

Man findet sie oben in den Fußn. (82) und (84) des Artikels ANAXAGORAS. 25 Laktanz, Buch I, Kap. 4, S. 14 meiner Ausgabe. 26 Man findet sie in den Anm. (D) und (F) des Artikels ANAXAGORAS. 27 Fußn. (1).

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darin, daß Thales zur Begründung, weshalb Gott von allen Dingen das älteste ist, anführt, daß Gott nicht gemacht wurde oder daß Gott keinen Anfang hat, so antworte ich, daß dies kein ausdrücklicher Beweis dafür ist, daß er Gott die Hervorbringung der Welt beilegte. Hat es nicht Philosophen gegeben, die zwar auf der einen Seite die Existenz von Göttern einräumten, aber auf der anderen Seite leugneten, daß die Götter die Welt gemacht hätten? Wenn man dem wiederum entgegenhält, daß Thales den Göttern die Kenntnis der geheimsten Gedanken der Menschen beilegt, so antworte ich meinerseits: I. daß es nicht sicher ist, daß er so gesprochen hat, weil es Autoren gibt, die diesen Ausspruch Pittakos beilegen.28 II. daß er der Ansicht sein konnte, daß sich Götter in unsere Angelegenheiten einmischen und die Geheimnisse unseres Herzens kennen, ohne daß dies bewiese, daß er ihnen die Hervorbringung des Universums zugeschrieben hat29 und daß er nicht lehrte, sie selbst seien aus den Wogen des Wassers als ihrer Ursache und ihrem Prinzip hervorgegangen. III. daß man nach den wahren philosophischen Ansichten von Thales dem Naturwissenschaftler nicht in den geselligen Unterhaltungen von Thales, einem der sieben griechischen Weisen, Ausschau halten darf. In dieser letzteren Eigenschaft konnte er viele Dinge äußern, die er in seinem philosophischen Hörsaal nicht vortrug. Vom Wasser sprach er nur, wenn er als Naturwissenschaftler die Entstehung der Welt erklärte; hierbei fügte er der Wirksamkeit des Wassers nicht die Tätigkeit Gottes hinzu. Wenn er aber als Weiser sprach, dessen sentenzenhafte Darlegungen unter den Leuten verbreitet wurden und zur Verbesserung der Sitten dienen sollten, glaubte er sich den theologischen Ansichten anpassen zu müssen. Man beachte, daß die Lehren der heidnischen Philosophen schlecht miteinander verbunden und so unrichtig waren, daß aus der Annahme der Existenz Gottes nicht folgte, daß er an der Hervorbringung und Regierung der Welt Anteil hätte, und daß aus der Lehre seiner Vorsehung nicht folgte, daß er das Chaos ent28 29

Man sehe oben die Anm. (A). Man sehe oben Anm. (G) des Artikel JUPITER.

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wirrt oder dieses Universum gebildet hätte. Es war ihnen erlaubt zu sagen, daß die Götter die Welt regierten, wenngleich sie wie die Körper aus dem Schoß des Chaos hervorgebracht und gebildet worden waren. Sobald man glaubt, daß die menschliche Seele aus allerfeinsten Blutpartikeln gebildet ist, kann man sagen, daß Jupiter, Venus und Merkur aus den allerfeinsten Teilen des Chaos geschaffen worden sind. Weil nun die Seele den Körper regiert, den sie nicht gemacht hat und von dem sie nur eine Art destilliertes Wasser ist30 und weil wir Tiere und sogar Menschen beherrschen, die wir nicht hervorgebracht haben, so regieren auch die Götter die Welt, die sie nicht gemacht haben und aus deren allerfeinsten Teilen sie gebildet sind. Ich wünschte sehr, daß die gelehrten Männer von Halle, die so schöne Dinge über die ionische Sekte gesagt haben,31 mir die Mühe erspart hätten, den hl. Augustinus mit Cicero in Übereinstimmung zu bringen. Der eine sagt, daß Thales keinerlei göttlichen Einfluß bei der Hervorbringung der Welt anerkannt habe, der andere sagt das genaue Gegenteil. Jene Herren haben die Argumente nicht in Betracht gezogen, die oben vorgestellt wurden32 und denen zufolge es möglich erscheint zu beweisen, daß der Gründer der ionischen Sekte rechtgläubige Ansichten über die Gottheit vertrat. Es wäre mir sehr lieb gewesen, wenn sie jenen Einwand geprüft hätten, denn ich hätte von ihren Antworten Gebrauch gemacht. Sie haben klipp und klar entschieden, daß die ionische Sekte, angefangen mit Thales bis einschließlich Anaxagoras, atheistisch im zweiten Grade war. Zum Verständnis dessen muß ich anmerken, daß sie drei Grade des Atheismus kennen.33 Der erste Grad ist die Behauptung, daß es keinen Gott gibt; der zweite besteht in der Leugnung, daß die Welt das Werk Gottes sei, dessen Existenz man anerkennt; der dritte liegt in der Behauptung vor, daß Gott die Welt aufgrund einer 30

D. h. nach heidnischer Auffassung. Man sehe Bd. I der Observationes selectae ad rem litterariam spectantes, gedruckt in Halle im Jahr 1700, S. 445 f. 32 In Anm. (A). 33 Observ. ad rem litterariam, Bd. I, S. 448. 31

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natürlichen Bestimmung und ohne dazu durch den freien Willen gebracht zu werden geschaffen hat. Thales, Anaximander und Anaximenes sind, ganz wie Epikur, des zweiten Grades des Atheismus schuldig. »Diese drei stimmen in dem Punkt überein, daß das Prinzip aller Dinge etwas ähnliches sei, daß die Dinge allein von der Natur spontan und ohne Mitwirkung Gottes hervorgebracht wurden, was der epikureische Grad des Atheismus ist (wenn man ihn so nennen will), und daß sie durch Verdikkung und Verdünnung hervorgebracht sind. Mein Vorwurf des Atheismus gegen alle drei kann leicht aus Augustinus für jeden einzelnen bewiesen werden, der usw.«34 Anaxagoras, Aristoteles und die Stoiker35 sind des dritten Grades schuldig. »Anaxagoras und seine beiden Verbündeten (Diogenes von Apollonia und Archelaos) nehme ich vom Atheismus des Thales aus, der nicht will, daß Gott mit der Hervorbringung der Dinge irgend etwas zu tun habe, so daß jener im Vergleich mit diesem als religiös gelten darf, wie ihn manche hingestellt haben. Dennoch kann er keineswegs aus dem Katalog der Atheisten gestrichen werden. Er war nämlich ein, wie ich es genannt habe, Atheist im dritten Grade.«36

34 35 36

A. a. O., S. 450. (…). A. a. O., S. 448 f. A. a. O., S. 453.

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wechel, Christian, war ein berühmter Buchdrucker in Paris vor der Mitte des 16. Jahrhunderts. Er arbeitete bei seinen Ausgaben so sorgfältig, daß das Druckfehlerverzeichnis eines Foliobandes manchmal nur zwei Fehler umfaßte.a Wer sagt, er habe im Jahr 1538 in griechischer Sprache zu drucken begonnen, irrt. Es gibt Bücher in hebräischer Sprache, die er schon 1533 gedruckt hat.b Das Verzeichnis der Bücher, die vor 1548 aus seiner Presse hervorgegangen sind, zeigt, daß er ein fleißiger Mann war, der viel druckte. Dieses Verzeichnis findet sich mit einer sehr verbindlichen Widmung am Anfang des 13. Buchs von Gesners Pandekten, was bedeutet, daß Gesner ihm dieses 13. Buch gewidmet hat. Im Jahr 1534 bekam er Schwierigkeiten, weil er ein Buch des Erasmus verkauft hatte, nämlich De esu interdicto carnium, das die theologische Fakultät verurteilt hatte.c Einige Autoren erzählen, daß er infolge eines besonderen Fluches Gottes verarmte, und zwar weil er ein gottloses Buch gedruckt hatte (B). Sein Sohn Andreas Wechel ist ebenfalls ein sehr tüchtiger Buchdrucker gewesen. Er ging von Paris nach Frankfurt,d und zwar nach der Pariser Bluthochzeit, wie einige sagen.e Man sehe Anmerkung (B).

a

Der Kommentar des Veronesers Francesco Burana zu den Analytica priora des Aristoteles, der bei Wechel in Folio im Jahr 1539 gedruckt wurde, hat nur zwei Fehler im Druckfehlerverzeichnis. Man sehe Chevillier, Origine de l’imprimerie, S. 141 f. b Chevillier, Origine de l’imprimerie, S. 296. c A. a. O., S. 353. d Baillet, Jugemens des savans, Über die Buchdrucker, Artikel 18. e Ebd.

Wechel

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(B) Einige Autoren erzählen, daß er verarmte, weil er ein gottloses Buch gedruckt hatte. Hier ist mein Zeuge: »Nach diesen abscheulichen und entsetzlichen Unsittlichkeiten, von denen unsere Historiker und Doktor Cochlaeus an verschiedenen Orten berichten, erhob sich im Jahr 1530 jene Ausgeburt der Hölle, die im Namen der ungetauft verstorbenen Kinder ein Buch gegen die göttliche Gerechtigkeit schrieb, von dem Gott sei Dank nicht mehr als der Titel in Gesners Bibliothèque überliefert ist. Einige haben zutreffend bemerkt, daß der Untergang Christian Wechels und seiner Arbeiten nur die Strafe dafür gewesen sei, daß seine Pressen und Lettern für ein so ruchloses Werk gearbeitet hätten. Dies war der unglückselige Anonymus, der unter dem geborgten Namen Antonius Cornellius den ersten Entwurf zu diesem Ungeheuer des Atheismus geliefert hat, das nach und nach zu einer giftigen Schlange angewachsen ist und sich in gewundenen Bewegungen bis zu uns geschlichen hat.«1 Damit man etwas genauer erkennt, was es mit diesem Buch auf sich hat, muß ich zitieren, was Père Garasse an anderer Stelle seines Werkes davon sagt: »Der zweite Einwand ist nicht so elegant formuliert wie der erste. Er ist vielmehr unvergleichlich heftiger und enthält mehr Gottlosigkeit als der des Symmachus. Er stammt von dem verfluchten anonymen Schreiberling, der den Namen Antonius Cornellius angenommen und ein lateinisches Pamphlet gegen die austeilende Gerechtigkeit des Schöpfers verfaßt hat. Darin nimmt er sich der Sache der ungetauft verstorbenen Kinder an und prüft sie nach beiden Seiten mit Texten und ausdrücklicher Nennung der Gesetze, wobei er die göttliche Gerechtigkeit verurteilt und ihr Verfahren ›ungerecht‹, ›boshaft‹ und ›unmenschlich‹ nennt. (---). Die Zeit, die höchste und unbestechliche Richterin unserer Werke, hat die Ruchlosigkeit dieser elenden Ausgeburt erwiesen. Denn weil er sie gedruckt hatte, hat Christian Wechel sein Vermögen vor seinen Augen schwinden sehen, ohne seinen Untergang aufhalten zu können. Er hat sich Gott sei Dank derma1

Garasse, Somme théologique, S. 19.

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ßen ruiniert, daß man kein Exemplar davon mehr in den Bibliotheken findet. Heute haben wir davon nur noch den Titel als ehrlosen Überrest einer so verabscheuungswürdigen Arbeit.«2 Verschiedene Dinge lassen mich an wichtigen Teilen dieses Berichts zweifeln: 1) Père Garasse führt keinen Beleg an und behauptet etwas Falsches, nämlich, daß sich der Titel dieses gottlosen Buches in Gesners Bibliothèque erhalten habe. Fest steht, daß man keinen Antonius Cornellius in dieser Bibliothèque findet und daß derjenige, den man in dem Auszug dieses Werks von Gesner findet, dort nicht als der Verfasser der fraglichen Schrift auftaucht. 2) Würde man Christian Wechel im Jahr 1530 wohl in Ruhe gelassen haben, wenn er ein derartiges Werk gedruckt hätte? Würde man ihn wegen eines solchen Unternehmens nicht ganz anders belästigt haben, als wegen des Verkaufs eines Buches von Erasmus, das keinen größeren Makel hatte, als für ein verdächtiges Werk gehalten zu werden?3 Würde man diesen Buchdrucker von 1530 bis wenigstens 1548 erfolgreich in Paris haben arbeiten lassen? Ich sage »bis wenigstens 1548«, weil ich ihn nicht weiter als bis zu diesem Jahr verfolgen kann, als Conrad Gesner ihm, wie ich sehe, ein Buch widmet4 und ihn einen Buchdrucker nennt, der sich in Paris großen Erfolgs erfreut. 3) Andreas Wechel, sein Sohn, hat sich unter den Buchhändlern und Buchdruckern von Paris dermaßen hervorgetan, daß es keineswegs den Anschein hat, als sei es mit den Geschäften seines Vaters so steil bergab gegangen. 4) Schließlich ist man über das verfluchte Werk nicht einig, das ihn ruiniert haben soll. Einige sagen nämlich, es sei das Buch De tribus impostoribus gewesen, ein Phantombuch, das niemals existiert hat, wenn man denjenigen glauben darf, die über derartige Dinge am besten Auskunft geben können.5 »Christus der Herr (---) wurde nicht nur von Celsus ein Betrüger und somit ein Lügner und Scharla2

Ebd., S. 298. (…). Chevillier, Orig. de l’imprimerie, S. 353. 4 Das 13. Buch seiner Pandekten. 5 Man sehe den Artikel ARETIN, Pietro, Anm. (G).  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  3

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tan genannt (---), sondern auch von dem gottlosen, unsäglichen Menschen, dem Teufel in Menschengestalt, dessen Buch Von den drei großen Betrügern Moses, Christus und Mohammed Wechel zum Verderben gereichte, einem ansonsten bedeutenden Buchdrucker, der aber durch den verhängnisvollen Kontakt mit diesem Buch völlig zugrunde gerichtet wurde, wie vertrauenswürdige Zeugen berichten, die das Buch gelesen haben. Ich für meine Person würde es für ein großes Verbrechen halten, meine Augen mit der Lektüre einer so ruchlosen Schrift zu beschmutzen.«6 Mit diesen vier Bemerkungen will ich nicht alles leugnen, was Père Garasse erzählt; ich bestreite nur, daß Christian Wechel die schrecklichen Wirkungen des göttlichen Zorns gespürt hat, weil er im Jahr 1530 ein Buch gedruckt hatte, und daß die Abhandlung von der Strafe der Kinder so gottlos ist, wie man sie darstellt. Im übrigen räume ich ein, daß es ein Buch gibt mit dem Titel Querela infantium in limbo clausorum, adversus divinum judicium ab Antonio Cornelio. J. Utr. Lic.7 Wenn man sich an das Titelblatt hält, so ist es im Jahr 1531 in Paris bei Christian Wechel in Quart gedruckt worden. Es finden sich zwei Exemplare davon in der Bibliothek des Erzbischofs von Reims.8 Ohne dieses Buch gelesen zu haben, vermute ich, daß es nicht gottlos, sondern den Büchern des Bartolus a Saxoferrato und des Jacobus de Ancharana ähnlich ist. Der erste dieser beiden Rechtsgelehrten ist der Verfasser eines Buches mit dem Titel Processus Sathanae contra D. Virginem coram judice Jesu; der andere hat Processus Luciferi contra Jesum coram judice Salomone geschrieben. Sie führen den Teufel ein, wie er einen Prozeß unter Beachtung aller juristischen Formalitäten anstrengt und folglich alle seine Gründe vorträgt. Konnte man ihn reden lassen, ohne ihm Gottlosigkeiten in den Mund zu legen? Trotz6

Théophile Raynaud, Hoplotheca, Abschn. 2, Serie II, Kap. 14, S. 259 f. Man sehe Bibliotheca Telleriana, S. 167. Dort nennt man ihn auf S. 422 und im Register Cornellius. 8 Was Garasse versichert, stimmt also nicht, nämlich daß es restlos untergegangen wäre. 7

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dem sind diese beiden Werke nicht gottlos. Alles darin läuft auf die Beschämung des Anklägers hinaus. Seit der ersten Auflage dieses Dictionnaire habe ich das fragliche Buch gelesen.9 Sein vollständiger Titel lautet: Exactissima infantium in limbo clausorum querela, adversus divinum judicium apud aequum judicem proposita. Apologia divini judicii contra querelam infantium. Infantium ad apologiam divini judicii responsio. Aequi judicis super hac re sententia. Autore Antonio Cornellio Juris utriusque licentiato doctiss. Lutetiae apud Christianum Wechelum in via Jacobaea sub scuto Basiliensi, anno MDXXXI mense Januario. Der Verfasser hat diesen Quartband von ca. 70 Seiten Antoin du Bourg, Zivilrichter in Paris und Ratspräsident bei Louise von Savoyen, der Mutter Franz’ I. (…), gewidmet. Die Widmungsepistel ist sehr kurz und geht einer etwas längeren Vorrede voraus, die auf Paris, 2. Januar 1531, datiert ist. Antonius Cornellius bekennt, daß er dem Widmungsträger sehr verpflichtet sei und daß er das Werk auf Bitten eines Freundes übernommen habe, der davon wußte, daß Cornellius geträumt hatte, die Kinder in der Vorhölle hätten sich beklagt, daß sie entgegen der Bestimmung des Plautischen Gesetzes enterbt worden seien, dem zufolge niemand aufgrund der Tat eines anderen enterbt werden kann. Er erklärt, daß er ihre Klage in diesem Punkt für schlecht begründet halte.12 Wo ist also seine Gottlosigkeit? Besteht sie darin, daß er Stellen aus der hl. Schrift sowie aus dem bürgerlichen und dem kanonischen Recht anführt, die der Sache der Kinder günstig sind? Aber führt er nicht auch Stellen an, die gegen sie sprechen, und läßt er nicht endlich, nach ihrer Erwiderung, dieses Endurteil fällen: »Nach sehr sorgfältiger Erwägung der Gesetze nach beiden Seiten befinde ich, daß die Kinder zu Unrecht über das göttliche Urteil klagen (…). Das Gesetz täuscht«, sagt er, »und wer behauptet, ungetaufte Kinder würden nicht verdammt werden,

9

Herr Bourdelot war so gütig, es mir aus Paris zuzuschicken. »Nicht daß ich bezweifelte, daß diese Kinder zu einer gerechten Strafe verurteilt worden sind.« Antonius Cornellius in der Vorrede. 12

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der täuscht sich, weil der Apostel sagt, alle Menschen würden wegen der Sünden eines einzigen verdammt.«

Betrachtung über die Klagen gewisser Leute über Personen, welche die Einwände der Freigeister in ihrer ganzen Stärke vortragen Man sieht jetzt, mit welcher Leichtfertigkeit Père Garasse es gewagt hat, das Buch des Antonius Cornellius zu erwähnen. Über seinen Irrtum kann man nicht genug staunen. Vielleicht wird mir jemand vorhalten, die Einwände der Kinder seien allzu weit getrieben, und das mache den Glauben ihres Verteidigers verdächtig. Ich würde diese Schwierigkeit keiner Antwort würdigen, wenn ich nicht wüßte, daß unzählige Leute sie im Munde führen und gegen alle diejenigen vorbringen, welche die Gründe der Ketzer und Freigeister ohne die geringste Bemäntelung vortragen. Ich möchte diese Leute fragen: Wenn ihr irgendeine der Religionsstreitigkeiten zu prüfen hättet, die zwischen Gläubigen und Ungläubigen ausgefochten werden, würdet ihr nach bestem Wissen alles das anführen, was letztere als stärkste Gründe für ihre Meinung geltend machen können? Oder würdet ihr mit Vorbedacht und Vorsatz ihre Argumente abschwächen, damit eure Leser nichts fänden, was euren Sieg gefährden könnte? Zweifellos werdet ihr antworten, daß ihr ersteres tun würdet und daß letzteres ein Betrug sei, der für einen Ehrenmann höchst unwürdig und bei einem Diener Gottes ganz unverzeihlich ist. Warum findet ihr es dann befremdlich, daß man den Schwierigkeiten der Gottlosen all die Stärke verleiht, die ihnen die natürliche Vernunft geben kann? Ihr würdet es tun, sagt ihr, wenn ihr sie widerlegen müßtet, und ihr gebt zu, daß ihr andernfalls einen schimpflichen Betrug begehen würdet. Also hört auf, Leute für pflichtvergessen zu halten, welche die Sache ihrer Gegner von der vorteilhaften Seite zeigen; und wenn sie einräumen müssen, daß allein die hl. Schrift Waffen gegen gewisse Einwände der Gottlosen liefern kann und sie daraufhin zu ihr als der unerschütterlichen Grundlage ihres Glaubens Zu-

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flucht nehmen: dann gebt euch mit ihrem Verhalten zufrieden, denn sonst wird man euch mit Grund mißtrauen und behaupten, ihr wolltet sie mit einer Kriegslist überwinden, die Streitern für das Evangelium nicht geziemt. Ich habe vor kurzem eine der Ursachen entdeckt, die viele dazu verleiten, diejenigen der Freigeisterei zu verdächtigen, welche die Einwände der Freigeister in ihrer ganzen Stärke vortragen. Ein sehr ehrenwerter und gottesfürchtiger Mann sagte neulich zu mir, als er mir einige Autoren nannte, deren Eifer für die gute Sache jedermann bekannt ist: »Ihr seht in ihren Büchern nicht, daß die Feinde der Wahrheit etwas von Gewicht vorbringen; es sind Bücher, in denen die Einwände der Ungläubigen in wenigen Worten vorgetragen, aber weitläufig und triumphierend widerlegt werden. Nur bei diesem oder jenem Schriftsteller, der nicht als Eiferer gilt, sind die Einwände weitläufiger und beeindruckender als die Antwort.« Ich stellte daraufhin die oben erwähnte Frage: »Haben diese eifrigen Autoren alles gekannt, was sich bei den nicht so eifrigen Autoren findet, oder haben sie es nicht gekannt? Im zweiten Fall darf man ihnen weder ihr Verschweigen noch ihren Sieg als Verdienst anrechnen. Im ersten Fall verdienen sie einen herben Tadel, denn sie sind eines frommen Betrugs schuldig, den die Wahrheit nicht nötig haben sollte. Und ich bin ganz gewiß, daß sie es nicht wagen würden zuzugeben, daß sie das Geringste verschwiegen hätten, was die Einwände des Gegners in einem günstigen Licht erscheinen lassen könnte. In welcher Hinsicht ist also ihr Eifer besser als der irreligiöse Autor, von dem Ihr sprecht? Sie haben alles gesagt, was sie zugunsten des Gegners sagen konnten, bevor sie ihm antworteten. Hat der Irreligiöse mehr getan?« (…).

ZENON, der Epikureer

zenon, ein epikureischer Philosoph, der in Sidon geboren wurde, hat die Ehre seiner Schule glorreich behauptet, denn er erwarb sich großes Ansehen. Unter seinen Schülern waren Cicero und Pomponius Atticus, woraus hervorgeht, wann er gelebt hat. Vossius hat sich hierin getäuscht. Zenon wird als ein Philosoph geschildert, der seine Gegner mit großer Verachtung und sehr hart behandelte. Es gibt kaum etwas, woraus seine Kühnheit besser hervorginge als das Werk, das er gegen die Mathematiker schrieb (D). Wir besitzen weder dieses Werk noch seine Widerlegung durch Poseidonios. Es gibt Leute, die den Verlust dieser beiden Bücher mehr bedauern als den von zwanzig oder dreißig Theaterstücken oder Werken der besten antiken Historiker.

(D) Das Werk, das er gegen die Mathematiker schrieb. Das erfahren wir von Proklos,20 der hinzufügt, daß Poseidonios ihn widerlegte. Herr Ménage zitiert einige Worte von Proklos: »Zu seiner (Zenons) Widerlegung hat Poseidonios von Apameia bzw. von Rhodos ein ganzes Werk verfaßt, wie Proklos in Buch III zum ersten Buch Euklids bezeugt.«21 Nachdem Huet gesagt hat, daß Epikur die Geometrie und die anderen Teile der Mathematik verworfen hatte, weil er glaubte, sie könnten nicht wahr sein, da sie auf falschen Prinzipien beruhten, fügt er hinzu, daß Zenon sie auf andere Weise angriff. Zenon hat nämlich geltend gemacht, daß ihren Prinzipien zur Erreichung der Gewißheit bestimmte Dinge hinzugefügt werden müßten, die man

20 21

Proklos, S. 55 bei Barrow, Lect. V mathem., S. 76. Ménage zu Diogenes Laertius, Buch VII, Nr. 35, S. 279, Sp. 1.

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mit ihnen noch nicht verbunden habe. (…).22 Die Mathematik stellt die allerdeutlichste und allergewisseste der menschlichen Erkenntnisse dar, und dennoch haben sich Leute gefunden, die ihr widersprechen. Wenn unser Zenon ein großer Metaphysiker gewesen und anderen Prinzipien als den epikureischen gefolgt wäre, hätte er ein schwer zu widerlegendes Werk verfassen können, das den Geometern mehr Mühe bereitet hätte, als sie sich vorstellen. Alle Wissenschaften haben ihre Schwachstellen, die Mathematik ist hierbei keine Ausnahme. Es stimmt, daß nur wenige Leute in der Lage sind, sie gehörig anzugreifen, denn um in diesem Kampf eine gute Figur abzugeben, muß man nicht nur ein guter Philosoph, sondern auch ein gründlich geschulter Mathematiker sein. Leute mit dieser letzteren Eigenschaft sind von der Gewißheit und Klarheit ihrer Studien derart hingerissen, daß sie nicht im Traum daran denken zu prüfen, ob sich etwas Täuschendes darin verbergen könnte oder ob das Fundament gut gelegt ist. Sie schöpfen selten den Verdacht, daß hier etwas fehlen könnte. Indes steht zuverlässig fest, daß es viele Auseinandersetzungen unter den berühmtesten Mathematikern gibt. Sie widerlegen sich wechselseitig, und Repliken sowie Dupliken vermehren sich bei ihnen wie bei den anderen Gelehrten auch. Wir sehen das bei den modernen Mathematikern, und gewiß legten die antiken nicht mehr Einmütigkeit an den Tag.23 Das zeigt, daß dieser Weg auf mehrere dunkle Pfade führt und daß man sich verirrt und die Spur verliert, die zur Wahrheit führt. Das ist zwangsläufig das Schicksal der einen oder der anderen, denn die einen bejahen, was die anderen verneinen. Man wird einwenden, daß dies der Fehler des Künstlers und nicht der Kunst sei und daß alle diese Streitereien daher kommen, daß es Mathematiker gibt, die sich täuschen, weil sie etwas für eine Demonstration halten, was keine ist. Aber selbst dieser Einwand belegt, daß Dunkelheiten in diese Wissenschaft Einzug halten. Abgesehen davon kann man sich mit Blick auf 22

Huet, Demonstr. evangel., Vorwort Nr. 3, S. 6 in der Ausgabe Leipzig

1694. 23

Man sehe Huet, a. a. O., Axiom IV, S. 23 f.

Zenon, der Epikureer

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die Streitereien anderer Gelehrter eines ähnlichen Argumentes bedienen: Man kann sagen, daß sie bei gehöriger Befolgung der Regeln der Logik die üblen Konsequenzen und falschen Thesen vermeiden würden, die sie in die Irre führen. Wir wollen hingegen zugeben, daß es viele philosophische Fragen gibt, in denen die besten Logiker angesichts der Undeutlichkeit des Gegenstandes nicht zur Gewißheit gelangen können. Nun findet sich diese Schwierigkeit bei mathematischen Gegenständen nicht. So weit, so gut. Aber sie haben eine andere irreparable und sehr erhebliche Schwachstelle, denn sie sind Chimären, die nicht zu existieren vermögen. Die mathematischen Punkte und folglich die geometrischen Linien und Flächen, Räume und Achsen sind Fiktionen, die niemals irgendeine Existenz haben können. Sie sind folglich den Fiktionen der Dichter unterlegen, denn diese enthalten gewöhnlich nichts Unmögliches, sondern sind zumindest wahrscheinlich und möglich. Gassendi hat eine sinnreiche Bemerkung gemacht. Er sagt, daß die Mathematiker und besonders die Geometer ihre Herrschaft im Lande der Abstraktionen und der Ideen errichtet haben und dort herumspazieren, ganz wie es ihnen gefällt. Wenn sie aber ins Land der Realitäten herabsteigen wollen, so stoßen sie bald auf unüberwindlichen Widerstand. »Die Mathematiker und insbesondere die Geometer haben sich dadurch, daß sie die Quantität von der Materie abstrahieren, eine Art Königreich geschaffen, in dem sie größte Freiheit genießen, weil sie niemals mit einer Schwierigkeit aufgrund der Grobheit und Widerspenstigkeit der Materie konfrontiert werden. Aus diesem Grund haben sie zunächst vorausgesetzt, daß es in der solchermaßen abstrahierten Quantität Dimensionen gibt wie einen Punkt, der keinerlei Teile hat, und eine Linie oder eine Länge ohne Breite, die durch einen sich bewegenden Punkt erzeugt wird usw. (---). Von dieser Art sind die Annahmen, aus denen die Mathematiker innerhalb der Grenzen der reinen und abstrakten Geometrie sozusagen ihr Königreich errichten und ihre berühmten Demonstrationen stricken.24 (---). In einem Wort also: Es sind die Mathematiker, die in diesem ih24

Gassendi, Phys., Abschn. 1, Buch III, Kap. 5, S. 264 der Opera, Bd. I.

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ren Königreich der Abstraktion annehmen, dasjenige sei unteilbar, was keine Teile, keine Länge, keine Ausdehnung hat, und daß da, wo eine Menge und Zerlegung in Teile vorliegt, sie ins Unendliche fortgesetzt werden könne. Das ist aber anders bei den Naturforschern, denen derartige Annahmen verboten sind, weil sie es mit dem Königreich der Materie zu tun haben.«25 Er führt ein Beispiel für die Fruchtlosigkeit ihrer angeblichen Demonstrationen an, daß nämlich zwei scharfsinnige Mathematiker kurz zuvor bewiesen hatten, daß eine endliche und eine unendliche Quantität gleich seien. (…).26 Andere beweisen, daß es begrenzte unendliche Quantitäten auf jeder Seite gebe.27 Muß es ihnen nicht selbst verdächtig vorkommen, wenn sie in dieser Art von Demonstrationen etwas Evidentes finden? Denn schließlich übertrifft diese Evidenz nicht jene, mit der uns der gemeine Verstand lehrt, daß das Endliche niemals dem Unendlichen gleichkommen und daß das Unendliche als solches keine Grenzen haben kann. Ich füge hinzu, daß es nicht stimmt, daß die Evidenz diesen Herren überallhin folgen könnte, wohin sie sich auch in ihrem Reich bewegen. Als Zeugen hierfür wähle ich einen Mann, der ihre Raffinessen genau kennt. »Es wäre zu wünschen«, sagt er,28 »daß die Analyse des unendlich Kleinen, die von einer so wunderbaren Fruchtbarkeit sein soll, diejenige Evidenz in ihren Demonstrationen hätte, die man dort erwartet und in der Geometrie mit Recht erwarten darf. Wenn man aber ›über das Unendliche, über das Unendliche des Unendlichen, über das Unendliche des Unendlichen des Unendlichen usw. räsoniert, ohne jemals auf Grenzen zu stoßen, die dem ein Ende setzten‹, und wenn man dann ›diese Unendlichkeiten des Unendlichen‹ auf endliche Größen anwendet, so verfügen diejenigen, die man zu unterrichten oder zu überzeugen beabsichtigt, 25

Ders., a. a. O., S. 264. 26 Ders., a. a. O., S. 264. 27 Man sehe Kap. 12 der Physique des Père Maignan, S. 295 meiner Ausgabe, 12. Proposition (…). 28 Journal de Trevoux, Mai und Juni 1701, Artikel XXXIII, S. 423 der holländischen Ausgabe.

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nicht immer über die erforderliche Scharfsinnigkeit, um derart tiefe Abgründe einzusehen. (---).29 Wer an die herkömmliche Weise geometrischen Räsonierens gewohnt ist, hat Mühe, sie aufzugeben, um derart abstrakten Methoden zu folgen. Solche Leute ziehen es vor, nicht soweit zu gehen, daß sie die neuen Wege des ›Unendlichen des Unendlichen des Unendlichen‹ betreten, auf denen man nicht immer genügend Klarheit um sich hat und wo man sich leicht verirren kann, ohne es zu bemerken. Schlußfolgerungen reichen in der Geometrie nicht aus, man muß deutlich sehen, daß es gute Schlußfolgerungen sind.«

Auszüge aus einem Brief des Chevalier de Méré an Herrn Pascal Es ist ein recht brauchbares Präjudiz gegen die Mathematik, daß Herr Pascal sie verachtete, schon bevor er sich einem frommen Lebenswandel hingab. Er hatte die Mathematik leidenschaftlich geliebt und außergewöhnliche Fortschritte in ihr erzielt. Außerdem hatte er ein sehr gesundes Urteilsvermögen; wenige Leute konnten den Wert einer Sache besser beurteilen als er. Es lag keineswegs an seiner Bekehrung zu dem einzig Notwendigen, daß er sich vor den Wissenschaften ekelte, die ihn in ihren Bann geschlagen hatten. Die Prüfung der Sache selbst und die Reflexionen, die er über die Darlegungen eines Weltmannes anstellte, haben ihn von seiner Voreingenommenheit geheilt. Es wäre einfältig zu meinen, der Chevalier de Méré habe die Mathematik mit frommen Überlegungen angegriffen; zweifellos hat er sich nur philosophischer Betrachtungen bedient. Wir wollen sehen, welche Wirkung das hatte und den Anfang eines Briefes zitieren, den er an Pascal schrieb. »Erinnert Ihr Euch, daß Ihr mir einmal sagtet, Ihr wäret von der Vortrefflichkeit der Mathematik nicht mehr so überzeugt? Jetzt schreibt Ihr mir, daß ich Euch in dieser Sache völlig die Augen geöffnet habe und daß Ihr Dinge entdeckt habt, die Ihr nie gesehen hättet, wenn Ihr 29

A. a. O., S. 430.

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mich nicht kennen würdet. Ich weiß jedoch nicht, mein Herr, ob Ihr mir so zu Dank verpflichtet seid, wie Ihr meint. Denn Ihr habt immer noch die in dieser Wissenschaft angenommene Gewohnheit beibehalten, über alles, was es auch sei, nur mittels Eurer Demonstrationen zu urteilen, die in den meisten Fällen falsch sind. Diese langen Ketten von Vernunftschlüssen hindern Euch zunächst, höhere Erkenntnisse zu erlangen, die niemals täuschen (---), aber Ihr verharrt immer in den Irrtümern, in die Euch die falschen Demonstrationen der Geometrie gestürzt haben, und ich glaube nicht, daß Ihr völlig von der Mathematik geheilt seid, solange Ihr behauptet, daß die kleinen Körper, über die wir neulich diskutiert haben, sich unendlich teilen lassen.«30 Der Chevalier de Méré legt ihm sodann mehrere Einwände hinsichtlich dieser unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums vor. Einige davon sind recht gut, andere sehr schlecht und haben eher den Anstrich eines Spaßes als einer ernsthaften Überlegung; und es ist erstaunlich zu sehen, daß in ein und demselben Brief so viele derart verschiedene Dinge miteinander vermischt sind. Nichtsdestoweniger rühmt sich der Verfasser einer ganz fabelhaften Geschicklichkeit in den Wissenschaften, von denen die Rede ist. »Ihr wißt«, sagt er,31 »daß ich in der Mathematik außerordentliche Dinge entdeckt habe, von denen die gelehrtesten Männer der Antike niemals gesprochen haben und von denen die besten Mathematiker Europas überrascht gewesen sind. Ihr habt über meine Entdeckungen ebenso anerkennend geschrieben wie Herr Huygens, Herr de Fermac,32 und so viele andere, die sie bewundert haben. Ihr dürft daraus den Schluß ziehen, daß ich niemandem rate, diese Wissenschaft zu verachten, und um die Wahrheit zu sagen, sie kann nützlich sein, vorausgesetzt, daß man sich ihr nicht zu sehr widmet, denn für gewöhnlich erscheint dasjenige, was man in ihr so wißbegierig sucht, unnütz, und die Zeit, die man darauf verwendet, könnte besser genutzt 30

Lettres de Mr. Le Chevalier de Méré, Nr. XIX, S. 60 der holländischen Ausgabe. 31 A. a. O., S. 63. 32 Es muß heißen: Fermat.

Zenon, der Epikureer

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werden. Außerdem scheint mir: Wenn die Gründe, die man in dieser Wissenschaft findet, auch nur ein wenig dunkel und dem Empfinden zuwider sind, müssen sie die Folgerungen, die man aus ihnen zieht, sehr verdächtig machen, insbesondere wenn sie, wie ich sagte, das Unendliche betreffen.« Man beachte, daß es sehr angebracht ist, wenn Leute mit der Absicht, die Schwachstellen der Mathematik zu zeigen, der Öffentlichkeit zu erkennen geben, daß sie etwas von Mathematik verstehen, daß sie sie studiert haben, daß sie ihre Nützlichkeit anerkennen und nicht bezwecken, ihr ihren wahren Wert zu nehmen. Der gelehrte Bischof von Avranches, den ich oben zitiert habe, ist so verfahren,33 nachdem er mehrere schöne Thesen bezüglich der Ungewißheit und des Scheincharakters dieser Wissenschaft aufgestellt hat.34 Hier ist noch eine Passage aus dem Brief des Chevalier de Méré: »Ich weise Euch darauf hin, daß es außer dieser natürlichen Welt, die unter die Erkenntnis der Sinne fällt, eine andere, unsichtbare Welt gibt, und daß es diese Welt ist, in der Ihr die allerhöchste Wissenschaft erlangen könnt. Wer sich nur Erkenntnis der körperlichen Dinge verschafft, urteilt gewöhnlich sehr schlecht und immer grob, wie es auch der von Euch so hochgeschätzte Descartes tat, der Örter im Raum nur durch die Körper kannte, die sie einnehmen. (---). Aber ohne daß ich mich damit aufhalte, ihn von diesem Irrtum zu überzeugen, müßt Ihr wissen, daß es diese unsichtbare und unendlich ausgedehnte Welt ist, in der man die Gründe, die Prinzipien der Dinge, die verborgensten Wahrheiten, die Angemessenheit, die Genauigkeit, die Verhältnisse, die wahren Ursprünge und die vollkommenen Begriffe von allem Gesuchten entdecken kann.«35 So endet sein Brief an Pascal. Es sei mir erlaubt zu sagen, daß man nicht recht begreift, worauf er hinauswill, und daß er ein wenig Unterstützung braucht, denn er drückt sich so unbestimmt aus, daß man daraus das genaue Gegenteil dessen schließen könnte, 33 34 35

Huet, Demonst. evangel.,Vorrede, Axiom IV, Nr. 3, S. 31. A. a. O., Nr. 2, S. 28 ff. Man sehe auch S. 14–19. Der Chevalier de Méré, Brief XIX, S. 68 f.

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was er denken und darlegen mußte. Seine Absicht war, Pascal von seiner Leidenschaft für die Mathematik gänzlich zu heilen. Er wollte ihm folglich einen anderen Gegenstand als den dieser Wissenschaft zeigen; er hat ihn ihm zeigen wollen, sage ich, als Quelle und Sitz der Wahrheiten, nach denen wir streben. Und dennoch beschreibt er ihm einen Gegenstand, der dem der Mathematik sehr ähnlich ist, denn diese betrachtet nicht »die Welt, die unter die Erkenntnis der Sinne fällt«, sondern »die unsichtbare und unendlich ausgedehnte Welt«, in der man »die Genauigkeit, die Verhältnisse usw. entdecken« kann. Ich glaube, er hat die Philosophie der Ideen empfehlen wollen, die subtilste Metaphysik, die nur darauf abzielt, die Geister und die intelligible Welt, die im Verstand Gottes ist, zu betrachten. Aber er hat nicht auf die Merkmale geachtet, die diese Wissenschaft von der Mathematik unterscheiden, und er hat sich nicht daran erinnert, daß es die Haupteigenschaft der Mathematik ist, die Ausdehnung zu betrachten, insofern sie von der Materie und jeder sinnlich wahrnehmbaren Qualität getrennt ist. Ihr Gegenstand ist die Ausdehnung oder die intelligible Materie, so wie die sinnlich wahrnehmbare Materie Gegenstand der Physik ist.36 Den Alten zufolge besteht ihre Vorzüglichkeit darin, daß sie uns von vergänglichen und körperlichen Dingen abzieht und uns zu geistigen, unveränderlichen und ewigen Dingen erhebt. Daher mißbilligte Platon das Verhalten einiger Mathematiker, die sich bemühten, ihre spekulativen Sätze anhand der Materie zu verifizieren.37 Ich will eine ganz vortreffliche Stelle aus Plutarch zitieren, in der es um eine Maxime Platons geht, der zufolge Gott beständig Geometrie treibt.38 (…). Mehrere Stel-

36

(…). Blancanus, De natura mathematicarum, S. 6. Plutarch, im Marcellus, S. 305. 38 »Gott treibt immer Geometrie.« Plutarch, Sympos., Buch VIII, Kap. 2, S. 718. Man beachte, daß die modernen Philosophen, die bezweifeln, daß es Körper gibt, sich dieser Maxime bedienen könnten, indem sie sagen, daß die Einwirkung Gottes auf unseren Geist, durch die er uns die Vorstellungen von Ausdehnung, Zahl, Bewegung und der Beziehung zwischen Geschwindigkeit und Raum sowie Dauer usw. mitteilt, lediglich ein Werk der Geometrie ist. 37

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len bei Aristoteles40 zeigen uns, daß die Quantität, insofern sie von alledem befreit ist, was in die Sinne fällt, der Gegenstand der Mathematik ist. Die meisten Mathematiker geben zu, daß diesem Gegenstand keine Existenz außerhalb unseres Verstandes zukommt. Barrow hat dieses Zugeständnis getadelt.41 Seine Kritik trifft namentlich den Jesuiten Blancanus sowie Vossius, aber es steht fest, daß Blancanus recht hat und daß er nur wegen seiner Behauptung zu kritisieren ist, die Existenz der Kugel, des Dreiecks usw., von der die Geometer sprechen, sei möglich. »Zu guter Letzt kann gesagt werden, daß diese Wesenheiten möglich sind. Wer wird nämlich bestreiten, daß ein Engel oder Gott sie hervorbringen könnte?«42 Es bedarf keiner langen Ausführungen, um die Unmöglichkeit aufzuweisen, daß diese Kugel, dieses Dreieck usw. wirklich existieren; man muß sich lediglich daran erinnern, daß eine solche Kugel, wenn sie auf eine Ebene gesetzt wird, dieselbe nur in einem unteilbaren Punkt berühren und, wenn sie über diese Ebene rollt, dieselbe immer nur in einem einzigen Punkt berühren würde. Daraus würde folgen, daß sie ganz aus nicht ausgedehnten Teilen zusammengesetzt wäre. Nun ist dies unmöglich und enthält offensichtlich diesen Widerspruch, daß eine Ausdehnung existieren würde, die nicht ausgedehnt wäre. Sie würde der Voraussetzung nach existieren und wäre nicht ausgedehnt, weil sie nicht von einem nicht ausgedehnten Wesen verschieden wäre. Alle Philosophen stimmen darin überein, daß die materielle Ursache nicht wesensverschieden von ihrer Wirkung ist; folglich wäre dasjenige, was aus nicht ausgedehnten Teilen zusammengesetzt ist, von diesen nicht wesensverschieden. Nun ist dasjenige, was dasselbe wie ein nicht ausgedehntes Wesen ist, notwendigerweise selbst etwas nicht Ausgedehntes. Wenn unsere Theologen lehren, die Welt sei aus nichts hervorgebracht worden, so meinen sie damit nicht, sie sei aus nichts zusammengesetzt; das Wort ›nichts‹ bezeichnet nicht die materielle Ursache der Welt, materia ex qua 40 41 42

Vossius zitiert sie De scient. mathematicis, S. 4 ff. Isaac Barrow, Lect.V, S. 85. Blancanus, De natura mathematicarum, S. 7.

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 die Materie, aus der , sondern den der Existenz der Welt vorangehenden Zustand, dasjenige, was sie terminus a quo  den Punkt, von wo aus  nennen, und sie erkennen an, daß, wenn man das Wort ›nichts‹ im ersteren Sinne nimmt, es absolut unmöglich ist, daß die Welt daraus gemacht worden sei. Die Behauptung, die Welt sei aus nichts als ihrer materiellen Ursache hervorgegangen, ist nicht ungereimter als die Behauptung, ein Fuß Ausdehnung sei aus nicht ausgedehnten Teilen zusammengesetzt.43 Es ist folglich unmöglich, daß ein Engel oder Gott selbst jemals das Dreieck, die Ebene, den Kreis, die Kugel usw., von denen die Geometer sprechen, hervorgebracht hätte, und somit hat sich Blancanus als kritikwürdig erwiesen. Ich überlasse es meinen Lesern zu beurteilen, ob meine Kritik der letzten Passage des Chevalier de Méré gut begründet ist.

43

Man füge hier dasjenige hinzu, was zu Beginn der Anmerkung (G) des voranstehenden Artikels  sc. ZENON VON ELEA. Hgg.  gesagt worden ist.

ZOROASTER

zoroaster, auf lateinisch Zoroastres, König der Baktrier, wurde von Ninus besiegt und galt als Erfinder der Magie. Eusebius setzt diesen Sieg des Ninus auf das siebte Jahr von Abraham an, aber nicht wenige Autoren lassen Zoroaster viel älter sein. Einige machen ihn aber auch viel jünger; alle Angaben schwanken hinsichtlich der Geschichte dieser berühmten Gestalt, und auch über den Rest herrscht kaum größere Einstimmigkeit. Deshalb dürfen meine Leser hier nicht mehr als einen Haufen von Ungewißheiten und bunt gemischten Erzählungen erwarten. Man berichtet,a daß Zoroaster noch am Tage seiner Geburt angefangen habe zu lachen und der einzige Mensch sei, bei dem das so war, und daß sein Gehirn so stark pulsiert habe, daß es die Hand zurückstieß, die man auf seinen Kopf legte – was ein Vorzeichen seiner Kenntnisse war. Man fügt hinzu,b daß er zwanzig Jahre in der Wüste lebte und sich dort nur von einem Käse ernährte, der niemals alt wurde;c daß die Liebe zur Weisheit und Gerechtigkeit ihn zwang, sich auf einen Berg zurückzuziehen, um dort in Einsamkeit zu leben; daß, als er von diesem Berg herabstieg, ein himmlisches Feuer darauf fiel und dort ewig brannte; daß der König von Persien sich in Begleitung seiner wichtigsten Hofleute dorthin begab, um zu Gott zu beten; daß Zoroaster aus diesen Flammen ohne irgendwelche Verletzungen herausgestiegen sei; daß er die Perser tröstete und ermutigte und Opfergaben darbrachte, als wenn Gott ihn bis an diesen Ort begleitet hätte; daß er in der Folge nicht unterschiedslos mit allen möglichen Menschen zusammenlebte, sondern lediglich mit solchen, die für die Wahrheit geboren und in der Lage waren, Gott zu erkennen – Leute, die bei den Persern a b c

(…). Plinius, Buch VII, Kap. 16, S. 35 meiner Ausgabe. Ders., Buch XI, Kap. 42, S. 592. Dion Chrysost., Orat. borysthenica.

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›Magier‹d heißen; daß er wünschte, vom Blitz getroffen und vom himmlischen Feuer verzehrt zu werden; daß er den Persern befahl, nach seiner Verbrennung seine Knochen zu sammeln und sie als ein Unterpfand der Erhaltung der Monarchie zu bewahren und zu verehren; daß die Perser tatsächlich eine große Verehrung für seine Reliquien bezeugten, schließlich aber, nachdem sie in dieser Hinsicht nachlässig geworden waren, auch das Königtum verspielten. Die Chronik von Alexandrien fügt hinzu, daß er, nachdem er diese Rede vor ihnen gehalten hatte, Orion anrief und von einem himmlischen Feuer verzehrt wurde. Einige sagen,e daß Mesraim, Chams Sohn, von seinem Vater in der Magie unterrichtet undf vom Teufel bei lebendigem Leibe verbrannt wurde, weil er ihm zu oft zur Last gefallen war;g daß die Perser ihn wie einen Freund Gottes verehrten und wie einen Heiligen, dem der Blitz als Vehikel zum Aufstieg in den Himmel gedient habe, und wie einen lebenden Stern, weshalb er nach seinem Tod auch ›Zoroaster‹ genannt wurde. Gregor von Tours versichert beinahe dasselbe von Chus, Chams ältestem Sohn. Anderen zufolge ist Cham selbst der Zoroaster der Orientalen und der Erfinder der Magie.h Herr Bochart widerlegt diesen Irrtum sehr gründlich.i Cedrenus merkt an, daß Zoroaster, der ein so berühmter persischer Astronom wurde, von Belos abstammte. Das bedeutet auch, daß er von Nimrod abstammte. Einige halten ihn für Nimrod selbst,k einige andere entweder für Assur oder für Japhet. »Die alten Perser halten Zoroaster einstimmig für älter als Moses«, und es gibt Magier, die »sogar behaupten, daß er Abraham selbst ist«, und sie »nennen ihn oft d e

Cedrenus und Suidas. Clemens I., Recognitiones, Buch IV, bei Bochart, Geogr. sacra, Buch IV, Kap.1, S. 231 meiner Ausgabe. f Ders., a.a.O, bei Huet, Demonstr. evang., Propos. IV, Kap. 5, S. 156 meiner Ausgabe. g Ders., a. a. O., bei dems., a. a. O., S. 152. h Man sehe oben Anm. (B) des Artikels CHAM.  Nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  i Bochart., Geogr. sacra, Buch IV, Kap. 1, S. 231 f. meiner Ausgabe. k Man sehe Huet, Demonstr. evangel., Propos. IV, Kap. 5, S. 150.

Zoroaster

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Ibrahim Zerdascht, was soviel heißt wie Abraham, der Freund des Feuers.«l Die orientalischen Christen sagen, daß Zoroaster unter der Herrschaft des Kambyses »zuerst aufgetreten sei«, daß »er aus der Provinz Medien stammte. Andere aber lassen ihn einen Assyrer sein und halten ihn für einen Schüler des Propheten Elias.m (---) Ben Schuhnah« sagt, »daß er Esras Schüler war, daß dieser Prophet ihn mit einem Fluch belegte, weil er Meinungen vertrat, die den Grundüberzeugungen des jüdischen Gesetzes sehr entgegenstanden, und daß er als Strafe für seine Unfrömmigkeit ein Aussätziger wurde und daß er sich, weil man ihn aus Jerusalem vertrieb, nach Persien zurückzog, wo er sich zum Begründer einer neuen Religion aufwarf.«n Einige haben ihn für den Propheten Hesekielo gehalten, und man kann nicht abstreiten, daß sie sich dabei auf eine Menge von Einzelheiten stützen konnten, die dem einen zukommen und von dem anderen berichtet werden.p Georg Horn meint, Zoroaster sei der falsche Prophet Balaam.q Huet zeigt, daß er der Moses der Juden sei und führt eine Unmenge von Übereinstimmungen zwischen dem auf, was die Schrift von Moses lehrt und dem, was die heidnischen Autoren von Zoroaster berichten.r Fast jedermann glaubt, daß es mehrere Zoroaster gegeben hat, ganz so, wie es mehrere Jupiter und Herkules gab. Man sehe die von Herrn Le Clerc ins Lateinische übersetzte Abhandlung von Thomas Stanley;s man stößt in ihrt auf einen chaldäischen, einen baktrischen, einen persischen, einen pamphylischen, einen prokonnesischen und einen babylonischen Zoroaster.u Man täte unrecht l m

Herbelot, Biblioth. orientale, S. 931. Ders., a. a. O., aus Abulpharagius. n A. a. O., S. 932. o Huet, Demonstr. evangel., Propos. IV, Kap. 5, S. 151. p Ders., a. a. O., S. 458. q Hornius, Histor. philos., Buch II, Kap. 4, S. 79 f. r Huet, Demonstr. evangel., Propos. IV, Kap. 5, S. 149 f. s Sie trägt den Titel Historia philosophiae orientalis. t In Kap. 2 von Buch I. u Man sehe Anm. (B), am Ende.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg. 

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zu glauben, daß Zoroaster die teuflische Magie lehrte, denn seine Magie war nichts anderes als das Studium der göttlichen Natur und des Gottesdienstes. Platon sagt das ausdrücklich (D). Aber wenn er auch in dieser Hinsicht leicht zu entschuldigen ist, so ist er es schwerlich bei der Lehre der zwei Prinzipien; so entschieden nimmt man an, er habe tatsächlich gelehrt, daß es zwei gleichewige Ursachen gibt, die eine für die guten, die andere für die bösen Dinge (E). Herr Hyde zitiert in seiner vorzüglichen Abhandlung über die Religion der alten Perser Autoren, die ihn in dieser Frage entschuldigen. Ich werde untersuchen, ob sie Glauben verdienen (F). Man versichert sogar, daß er kein Götzendiener war, und zwar weder hinsichtlich des Feuer- noch des Mithras-Kultes. Am gewissesten von all den Dingen, die man von diesem Menschen erzählt, scheint zu sein, daß er eine neue Religion in Persien eingeführt hat, und zwar ungefähr zur Zeit der Regentschaft von Darius, dem Nachfolger des Kambyses. Er genießt noch große Verehrung bei den Persern, die nicht der mohammedanischen Religion angehören, sondern die alte Religion ihres Landes beibehalten haben. Sie nennen ihn Zardhust, und viele glauben, er sei aus China gekommen und erzählen sich eine Menge wunderbarer Dinge von ihm. Man kann eine Probe davon in der Bibliothèque orientale von Herrn d’Herbelotx und in der Histoire de la religion des Benjans lesen, die von Herrn Brioty aus dem Englischen des Herrn Lord übersetzt wurde. Man ziehe auch die Démonstration evangélique des Herrn Huetz und das Werk des Herrn Hyde hinzu. Viele Leute glauben, daß sämtliche Werke, die unter dem Namen von Zoroaster im Umlauf waren und von denen es einige noch heute gibt, untergeschoben sind. Herr Hyde ist nicht dieser Ansicht.

x y z

Unter dem Stichwort ›Zerdascht‹. Diese Übersetzung wurde 1666 in Paris in Duodez veröffentlicht. S. 152 ff. und S. 458 f.

Zoroaster

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(D) Seine Magie war nichts anderes als das Studium (---) des Gottesdienstes. Platon sagt das ausdrücklich. Es waren vier ausgesuchte Personen, sagt er, die den ältesten Sohn des persischen Königs erzogen. Man wählte den Weisesten, den Gerechtesten, den Maßvollsten und den Mutigsten, den man finden konnte. Der Weisteste lehrte ihn die Magie des Zoroaster, das heißt die Verehrung der Götter; er lehrte ihn ebenfalls die Regierungskunst. »Von diesen unterrichtete ihn der erste in der Magie Zoroasters, des Sohnes von Oromazes. Sie besteht aber in der Götterverehrung. Er unterrichtete ihn auch in der Regierungskunst.«44 Man beachte, daß Zoroaster als Sohn von Oromazes bezeichnet wird und daß Oromazes der Name ist, den er und seine Anhänger dem guten Gott gaben. Es hat daher den Anschein, daß es ein und dasselbe war, ihn ›Sohn des Oromazes‹ oder ›Sohn Gottes‹ zu nennen. Herr Stanley vermutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß man ihm die letztere Bezeichnung verlieh. (…).45 Wer eine Menge Stellen sehen möchte, die bezeugen, daß die von Zoroaster eingeführte Magie der Perser im Studium der Religion und der Sittenlehre bestand, muß nur Brissonius46 und Boulenger47 lesen. Jedermann weiß, daß Gabriel Naudé unseren Zoroaster auf sehr gelehrte und gründliche Weise vor dem Vorwurf der schwarzen Magie in Schutz nimmt.48 Er führt viele Autoren an, die man hinzuziehen könnte.

Platon, Alkibiades I., S. 441C.  In der Stephanuspaginierung 121e– 122a. Hgg.  45 Stanley, Hist. philosoph. orientalis, S 11. 46 Brissonius, De regno persarum, Buch II, S. 178 f. der Ausgabe Commel. 1595. 47 Jul. César Boulenger, Eclog. ad Arnobium, S. 346 ff. 48 Naudé, Apologie des grands hommes, S. 134 f. 44

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(E) Daß es zwei gleichewige Ursachen gibt, die eine für die guten, die andere für die bösen Dinge. Plutarch versichert, daß dies die Ansicht und die Meinung der meisten und der weisesten Menschen der Antike gewesen ist.49 »Der Magier Zoroaster«, fügt er hinzu, »von dem es heißt, er habe 500 Jahre50 vor dem Trojanischen Krieg gelebt (---), nannte den guten Gott Oromazes und den anderen Arimanius51 (---) und lehrte, dem einen zu opfern, um ihn um alle guten Dinge zu bitten und für sie zu danken, und dem anderen zu opfern, um Unheilvolles und Schlechtes abzuwenden. Sie52 zerstoßen unter Anrufung des Hades und der Dunkelheit in einem Mörser irgendein Kraut, das sie ›Omomi‹ nennen, mischen es dann mit dem Blut eines geopferten Wolfes, bringen es an einen dunklen Ort, wohin die Sonne niemals gelangt, und versprengen es dort. Sie meinen nämlich, daß von den Kräutern und Pflanzen die einen dem guten Gott und die anderen dem bösen Dämon gehören; in ähnlicher Weise glauben sie, daß Tiere wie die Hunde, die Vögel und die Landigel dem guten Gott und die Wasserratten dem bösen Dämon zugehören. Aus diesem Grund halten sie den für sehr glücklich, der die größte Zahl davon zu töten vermag. Jene Weisen erzählen nämlich viel Wunderbares von ihren Göttern, wie zum Beispiel, daß Oromazes vom allerreinsten Licht und Arimanius von der Dunkelheit geboren wurde, daß sie gegeneinander Krieg führen und daß der eine sechs Götter erschaffen hat, den ersten für das Wohlwollen, den zweiten für die Wahrheit, den dritten für die Gerechtigkeit, den vierten für die Weisheit, den fünften für den Wohlstand, 49

Plutarch, De Iside et Osiride, S. 369. Ich bediene mich der Übersetzung von Amyot.  Unsere Übersetzung der Zitate aus Plutarch in diesem Artikel erfolgt stellenweise eher Plutarch selbst als der mitunter ungenauen Wiedergabe durch Amyot. Hgg.  50 Es muß heißen: 5000 Jahre (…). 51 Das hier Fehlende findet sich oben im Artikel MANICHÄER, Anm. (C), im ersten Absatz.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  52 Das heißt die Perser.

Zoroaster

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den sechsten für die Freude an guten und schönen Taten; der andere hat zahlenmäßig genauso viele erschaffen, die diesen aber genau entgegengesetzt sind. Und dann hat sich Oromazes um das Dreifache größer gemacht und sich so weit über die Sonne gesetzt, wie die Sonne von der Erde entfernt ist, und hat den Himmel mit Sternen geschmückt, von denen er einen als den Herrscher und Führer der anderen auswählte, und zwar den sogenannten Hundsstern. Danach hat er vierundzwanzig andere Götter geschaffen und sie in ein Ei plaziert. Die anderen aber, die in gleicher Anzahl von Arimanius erschaffen worden waren, kratzten und schabten so sehr an diesem Ei, daß sie es durchbohrten; und seit dieser Zeit ist das Gute mit dem Bösen vermischt. Aber es wird eine verhängnisvolle, vorherbestimmte Zeit kommen, wenn Arimanius, der Hungersnöte und Seuchen in die Welt brachte, von diesen zugrunde gerichtet und völlig vernichtet werden wird. Dann wird die Welt ganz eben, flach und gleichmäßig sein und es wird nur eine Lebensweise und nur eine Regierungsform unter den Menschen geben, die alle dieselbe Sprache sprechen und glücklich leben werden. Theopomp schreibt außerdem, daß den Magiern zufolge einer dieser Götter für 3000 Jahre der Sieger und 3000 weitere Jahre der Verlierer sein wird und daß sie für abermals 3000 Jahre gegeneinander kämpfen und das zerstören müssen, was der andere gemacht hat, bis schließlich der Hades unterliegt und völlig zugrunde geht. Dann werden die Menschen glücklich sein, keine Nahrung mehr benötigen und keinen Schatten mehr werfen; und der Gott, der all das bewerkstelligt, gemacht und besorgt hat, wird die Arbeit niederlegen und für eine gewisse Zeit ruhen, die für einen Gott nicht allzu lang ist, sondern etwa so lang wie eine mittelmäßige Schlafzeit für einen Menschen. Das ist der Inhalt der von den Magiern ausgedachten Fabel.« Es war nicht unnütz, diese ganze Passage zu zitieren, denn man sieht in ihr einige Einzelheiten der Ansichten und Vorschriften Zoroasters. Wir können daraus entnehmen, daß die Anhänger der zwei Prinzipien sich in mehrere absurde Inkonsequenzen gestürzt haben, sobald sie zur detaillierten Darlegung ihres Lehrsystems kamen. Dasselbe habe ich angemerkt, als

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ich über die Manichäer sprach.53 Weil nun Zoroaster nach der verbreitetsten Ansicht als Gründer der Magier gelten muß und sich durch eine große Anzahl von Autoritäten beweisen läßt, daß sie einen guten und einen bösen Gott angenommen haben, jenen Oromazes oder Oromasdes und diesen Arimanius nannten, spricht viel dafür, daß er diese Lehre tatsächlich vertreten hat.54 Wir wollen anmerken, daß Plutarch, nachdem er Obiges angeführt hat, hinzufügt: »Das ist der Inhalt der von den Magiern ausgedachten Fabel.«55 Wollte man daraus folgern, daß er ganz allgemein die gesamte Lehre von den zwei Prinzipien, einem guten und einem bösen, zurückwies, so würde man seine Meinung schlecht verstehen. Zwar hat er die besonderen Erklärungen leicht verurteilen können, welche die Anhänger Zoroasters gaben, aber fraglos nahm er die gesamte Grundlage ihres Lehrsystems an, wonach der von ihnen gut genannte Gott nicht die Ursache eines einzigen Übels ist. Ich habe verschiedene Stellen aus seinen Werken angeführt, an denen er sich darüber ohne jede Zweideutigkeit erklärt, und dennoch geben sie uns nicht die gesamte Grundlage seiner Lehre zu erkennen.56 Deshalb werde ich hier einige Stellen zitieren, die uns seine Ansicht besser zu erkennen geben. Ich glaube, sie stimmte ziemlich mit der Ansicht überein, die er Platon beilegte. Dieser Philosoph, sagt er,57 nimmt zwei Weltseelen an, eine, die Gutes tut, und eine andere, die Böses tut, »und zwischen diesen beiden läßt er noch eine dritte Ursache zu, die nicht seelenlos noch vernunftlos noch aus sich selbst heraus unbeweglich ist, wie einige meinen, sondern die mit den beiden anderen so verknüpft Oben, Anm. (B) des Artikels MANICHÄER.  Diese Anmerkung nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  54 Man sehe Diogenes Laertius im Proömium, Nr. 8 und Agathias, Histor., Buch II. 55 (…). Plutarch, De Iside, S. 370, B. 56 Man sehe oben Artikel MANICHÄER, Anm. (C), Artikel PAULICIANER, Fußn. (67), Artikel PERIKLES, Fußn. (71).  Die genannten Texte nicht aufgenommen in diese Sammlung. Hgg.  57 Plutarch, a. a. O., S. 370, F. 53

Zoroaster

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und verbunden ist, daß sie in jedem Fall und immer das Beste erstrebt, es herbeiwünscht und ihm nachjagt, (---) weil die Hervorbringung, die Zusammensetzung und die Konstitution dieser Welt ein Mixtum entgegengesetzter Kräfte ist, die jedoch nicht gleichstark sind, denn die bessere ist die stärkere und gewinnt die Oberhand. Aber es ist unmöglich, daß die böse Kraft ganz unterginge; so tief ist sie zuvor in die Körper und die Weltseele eingedrückt worden und so beständig führt sie mit der besseren Krieg.« An anderer Stelle legt er diese Lehre Platons noch weitläufiger dar und teilt uns mit, daß der Ursprung des Bösen nicht in einer empfindungslosen und unbeseelten Materie liegt, die handlungs- und eigenschaftslos wäre und jede mögliche Form annehmen könnte, sondern in einer Materie, die sich bewegt und mit einer Seele vereint ist, deren Unregelmäßigkeiten nicht ganz und gar berichtigt werden können. Ich werde unten begründen, warum ich ein so langes Stück aus seinem Werk zitiere. »Heraklit58 sagt, daß die Welt weder von Gott noch vom Menschen geschaffen wurde – als ob er fürchtete, daß wir für den Fall, daß wir Gott als Schöpfer ablehnen, sogleich unausweichlich zu dem Eingeständnis gezwungen werden, daß der Mensch ihr Architekt und Werkmeister gewesen sei. Aber es ist viel besser, wenn wir Platons Ansicht und Rat folgen und in unseren Lobpreisungen zugestehen, daß einerseits die Welt als das größte Werk, das jemals hervorgebracht wurde, von Gott gemacht und erschaffen ist und daß andererseits Gott der hervorragendste Werkmeister und die beste Ursache ist, die es nur geben kann; daß aber die Substanz und das Material, aus dem die Welt gemacht ist, unerschaffen ist, so daß sie von Ewigkeit her dem Werkmeister unterworfen ist, um über sie zu verfügen, sie zu ordnen und sie ihm so ähnlich wie möglich zu machen. Denn die Welt wurde nicht aus nichts geschaffen, sondern aus dem, was nicht schön, angemessen oder vollkommen war. (---). 58

Plutarch, De creat. animae, S. 1014 f. in der Übersetzung von Amyot. Man beachte, daß von den folgenden vier Zwischenüberschriften innerhalb dieses Zitats die drei letzten von Simon Goulart stammen.

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Was Platon der Erklärung Plutarchs zufolge unter dem Chaos verstand Nun war das Universum vor der Erschaffung der Welt ein Chaos, d. h. ein verworrener Zustand der Unordnung, in dem es dennoch Körper, Bewegung und Seelen gab. Aber die Körper, die es dort gab, waren gestaltlos und ohne Festigkeit, und die bewegende Seele war unbesonnen, ohne Verstand und Vernunft, d. h. die Seele war lediglich ein ungeordnetes Etwas, das durch keinerlei Vernunfturteil gelenkt wurde. Denn Gott hat keinen Körper aus etwas Unkörperlichem gemacht, noch eine Seele aus etwas Unbeseeltem. Wie der Musiker nicht die Stimme erschafft, sondern sie lediglich lieblich, klangvoll und harmonisch macht und der Tänzer nicht die Bewegung als solche hervorbringt, sondern sie nur anmutig und elegant gestaltet, so hat auch Gott nicht die tastbare Festigkeit der Körper hervorgebracht noch die Bewegungs- und Vorstellungsfähigkeit der Seele. Aber nachdem er diese beiden Prinzipien vorfand, das eine dunkel und verworren, das andere unvernünftig und ungestüm, beide jedoch unvollkommen, ungeordnet und unbestimmt, hat er sie beide so geordnet und arrangiert, daß er daraus das schönste und vollkommenste aller Lebewesen gemacht hat.

Über die Substanz des Körpers und der Weltseele, und was sie ist Deshalb ist die Substanz des Körpers nichts anderes als was er59 die für alle Dinge empfängliche Natur und den Sitz sowie die Amme aller erzeugten Dinge nennt. Was die Substanz der Seele betrifft, so nennt er sie im Philebos ›Unendlichkeit‹ oder das ›Freisein von Zahl, Maß und Verhältnis jedweder Art‹; sie kennt keine Grenze, kein mehr oder weniger, kein größer oder kleiner, kein ähnlich oder unähnlich. Und was er im Timaios über sie sagt, nämlich daß sie mit der unteilbaren Natur ver59

D. h. Platon.

Zoroaster

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mischt sei und durch die Körper teilbar werde, darf man nicht so verstehen, als wäre damit eine Vielheit in der Einheit oder Länge und Breite in Punkten gemeint, denn das sind Eigenschaften, die eher Körpern als der Seele zukommen; sondern es ist jenes ungeordnete, unendliche, selbstbewegende Prinzip, das auch die Kraft hat, andere Körper zu bewegen, das er an vielen Orten ›Notwendigkeit‹ und in den Nomoi ganz offen ›die ungeordnete, schlechte und bösartige Seele‹ nennt. So ist die Beschaffenheit der Seele an und für sich. Später aber wurde sie mit Verstand, vernünftiger Überlegung und weise gestalteter Harmonie ausgestattet, damit sie die Weltseele werden konnte. So hat dieses allumfassende materielle Prinzip Größe, Abstand und Räumlichkeit gehabt, besaß aber weder Schönheit noch Gestalt noch Proportion oder Maß. Sie erhielt dies aber, als sie gestaltet wurde, um der Stoff zu Erde, Meer, Sternen, Himmel, Pflanzen sowie Lebewesen jeder Art zu werden.

Er versucht, die Ursache des Übels durch die Annahme von zwei Prinzipien der Dinge zu erklären, nämlich des Werkmeisters und der ersten Materie; aber er gerät in die Irre, weil er nicht weiß, was die hl. Schrift dazu sagt Diejenigen nun, die der Materie und nicht der Seele das zusprechen, was Platon im Timaios ›Notwendigkeit‹ und im Philebos ›Unendlichkeit‹ und das ›Freisein von mehr und weniger, größer und kleiner, Vortrefflichkeit und Mangel‹ nennt, können nicht behaupten, daß sie die Ursache des Übels sei, insofern Platon immer voraussetzt, daß diese Materie ohne jede Form und Gestalt sowie bar jeder ihr eigentümlichen Qualität und Fähigkeit ist und sie mit den geruchlosen Ölen vergleicht, deren sich die Parfumeure zur Herstellung ihrer Parfums bedienen. Denn Platon kann unmöglich annehmen, daß dasjenige, was von sich aus träge, ohne aktive Eigenschaft und Bewegung oder Neigung zu irgend etwas ist, die Ursache und das Prinzip des Übels wäre, und es gleichzeitig ›schlechte Unendlichkeit‹ und ›bösartig‹ nen-

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nen oder auch ›Notwendigkeit‹, die Gott bei vielen Dingen widersteht, sich gegen ihn auflehnt und ihm nicht gehorcht. Denn diese Notwendigkeit, die, wie er im Politikos sagt, den Himmel umstürzt und ihn in sein Gegenteil verwandelt sowie unsere angeborene Begierde und das Durcheinander der ursprünglichen Natur, in der es keinerlei Ordnung gab, bevor sie in die schöne Gestalt der Welt gebracht wurde, wie man sie jetzt sieht – wie sind sie in die jetzige Form überführt worden, wenn das Subjekt die Materie ist, die ohne jedwede Eigenschaft und ohne alle ursächliche Wirksamkeit ist? Der Werkmeister aber, der seiner eigenen Natur nach durch und durch gut ist, wünschte, alle Dinge soweit wie möglich ihm ähnlich zu machen, denn es gab kein drittes neben diesen beiden Prinzipien. Wenn wir aber das Übel ohne vorausgehende Ursache und ohne erzeugendes Prinzip in diese Welt Einzug halten lassen wollen, dann stürzen wir in die Schwierigkeiten und Verlegenheiten der Stoiker. Denn von den angenommenen Prinzipien kann weder das gute noch dasjenige ohne jedwede Kraft und Eigenschaft dem Übel Sein und Entstehen verliehen haben.

Um das oben Gesagte zu erläutern, führt er ein drittes Prinzip zwischen Gott und der Materie ein und legt sodann Platons Meinung über die Ursache des Übels dar Aber Platon ist nicht so verfahren wie die Späteren, die sich, weil sie das zwischen Gott und der Materie liegende dritte ursächliche Prinzip nicht gesehen und verstanden haben, gehen ließen und auf den absonderlichsten und falschesten Satz der Welt verfielen, indem sie ich weiß nicht auf welche Weise die Natur des Übels zufällig und per accidens von außen oder auch aus sich selbst kommen ließen. Gleichwohl wollten sie Epikur nicht einräumen, daß auch nur ein einziges Atom im geringsten Maße von seiner Bahn abweicht. Denn, so sagen sie, dadurch würde auf ganz unbesonnene Weise eine Bewegung eingeführt, ohne daß man für sie irgendeine vorausgehende Ursache an-

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nähme. Dennoch sagen sie, daß sich das Laster, die Bösartigkeit und tausend andere Deformationen und Unvollkommenheiten der Körper als Folgen ergeben, ohne daß es dafür eine andere Wirkursache gäbe.60 Aber Platon spricht nicht so. Nachdem er der Materie jede Eigenschaft genommen hat und jede Ursache des Übels soweit wie möglich von Gott abgerückt hat, schreibt er in seinem Politikos über die Welt folgendermaßen: Die Welt, so sagt er, hat von ihrem Gestalter alle guten Dinge erhalten, von ihrem früheren Zustand aber alles das, was es an Schlechtem, Bösem und Ungerechtem am Himmel gibt. Aus dieser Quelle hat sie es, und sie vermittelt es auch den Lebewesen auf der Erde. Und ein wenig später sagt er: Nach Ablauf einer gewissen Zeit und wenn das Vergessen um sich greift, macht sich der Zustand der ursprünglichen Unordnung und Verwirrung der Welt wieder breit und gewinnt immer mehr die Oberhand, und die Gefahr besteht, daß sie sich wieder auflöst und erneut in den breiten, unendlichen Abgrund ihrer vormaligen Unordnung stürzt (---). Platon nennt die Materie tatsächlich Mutter und Amme, aber er sagt auch, daß die Ursache des Übels die ihr innewohnende bewegende Kraft ist, die in den Körpern teilbar ist und die eine nicht von Vernunft und Ordnung gelenkte, aber nicht seelenlose Bewegung ist, die er in den Nomoi klar und ausdrücklich ›Seele‹ nennt, die der Ursache alles Guten entgegengesetzt ist und ihr widerstreitet. Denn die Seele ist zwar Ursache und Prinzip der Bewegung, aber der Verstand ist Ursache und Prinzip der Ordnung und der Harmonie der Bewegung. Gott hat nämlich der Materie nicht die Untätigkeit genommen, sondern dafür gesorgt, daß eine vernunftlose und unbesonnene Ursache nicht länger auf sie einwirkte und sie störte. Ferner hat er der Natur nicht die Prinzipien der Veränderung und der Leidenschaften gegeben, sondern wenn sie unter dem Druck aller möglichen Arten von Leidenschaften und ungeordneten Veränderungen stand, hat er jede Unordnung und jeden Irrtum, den 60

Man sehe oben Anm. (T) des Artikels CHRYSIPP, der Philosoph, und Anm. (L) des Artikels PAULICIANER.  Diese Anmerkungen nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg. 

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es dort gab, von ihr genommen, wobei er sich dabei der Zahlen, Maße und Proportionen als nützlicher Instrumente bediente.« Diese Darlegung der Lehre Platons über die Schöpfung der Welt und über den Ursprung des Übels ist eine der schönsten Stellen, die sich bei Plutarch finden; und wenngleich diese Lehre nicht wahr ist, so verdiente sie doch, aufmerksam gelesen zu werden. Sie enthält schöne Ideen und erhabene Vorstellungen, die für Leute, die aus Konsequenzen Nutzen zu ziehen wissen, von bewundernswerter Fruchtbarkeit sind. Dieser Grund brachte mich dazu, diese Stelle ungekürzt zu zitieren. Wie viele Leute werden sie lesen, die sich nicht die Mühe gemacht hätten, auf Plutarch selbst zurückzugreifen, wenn ich mich damit begnügt hätte, ihnen die Seiten entweder der Übersetzung von Amyot oder des Originals zu nennen? Noch ein anderer Grund hat mich davon abgehalten, mich mit der Seitenangabe zu begnügen. In dieser Passage aus Plutarch finden sich nämlich gewisse Dinge, deren ich mich hier unten bedienen muß.61

(F) Herr Hyde (---) zitiert Autoren, die ihn entschuldigen. (---) Ich werde untersuchen, ob sie Glauben verdienen. Ich brauche die Leser des Journals von Herrn Bernard62 nicht darauf hinzuweisen, daß die von Herrn Hyde63 im Jahr 1700 in Oxford in Quart publizierte Historia religionis veterum persarum eins der schönsten Werke ist, die über einen solchen Gegenstand geschrieben werden können. Die Vorstellung, die uns dieser fähige Journalist von dem Werk gibt, zeigt zur Genüge, daß diese Geschichte der Religion der alten Perser ausgesuchte Gelehrsamkeit und gründliche Erörterungen enthält, die Einzelheiten ans Tageslicht bringen und mit Ländern bekannt machen, die man kaum kannte. Aber kommen wir zur Sache. 61

In der folgenden Anmerkung. Nouvelles de la république des lettres, Februar 1701, Art. III und März 1701, Art. I. 63 Professor für orientalische Sprachen an der Universität Oxford. 62

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Herr Hyde versichert,64 daß die alten Perser nur ein einziges unerschaffenes Prinzip anerkannten, und zwar des Prinzip des Guten, mit einem Wort: Gott. Was das Prinzip des Übels anbelangt, so betrachteten sie es als etwas Erschaffenes. Einer der Namen, mit denen sie Gott bezeichneten, lautete Hormizda, und das böse Prinzip nannten sie Ahariman. Da haben wir den Ursprung der beiden griechischen Worte 2Ωροµáσδης und 2Αρειµáνιος. Das eine war der Name des guten Prinzips, das andere der des bösen Prinzips, wie man oben65 in einer Passage aus Plutarch gesehen hat. Die Perser behaupteten, daß Abraham der ursprüngliche Stifter ihrer Religion war.66 Zoroaster hat in der Folge einige Veränderungen an ihr vorgenommen; aber es heißt, daß er sie nicht hinsichtlich des einzigen und unerschaffenen Prinzips verändert habe: seine ganze Erneuerung bestand hier darin, daß er dem guten Prinzip den Namen ›Licht‹ und dem bösen Prinzip den Namen ›Dunkelheit‹ gab.67 Hier ist ein Beleg:68 »Zardhust behauptet, daß Licht und Dunkelheit (---) zwei einander entgegengesetzte Prinzipien sind, und so sei es auch mit Yezdân und Ahreman, die (---) der Anfang alles dessen waren, was es in der Welt gibt und aus deren Vermischung (oder Kombination) die zusammengesetzten Dinge hervorgegangen sind. Aus den verschiedenen zusammengesetzten Dingen sind die Formen entstanden. Und obwohl Gott, der Licht und Dunkelheit erschaffen hat, der alleinige Urheber von beiden ist, ohne daß er einen Gehilfen, einen Ebenbürtigen oder einen ihm Ähnlichen hätte, so ist ihm doch nicht (---) die Existenz der Dunkelheit anzulasten, wie die Zervaniten behaupten, sondern das Gute und das Böse, Unversehrtheit und Zerstörung, Reinheit und Unreinheit sind aus der Mischung (oder aus dem Kampf) von Licht und 64

Thomas Hyde, Hist. religionis veter. persarum, Kap. 9, S. 161. In Anm. (E), Fußn. (50). 66 Ders., a. a. O. Kap. 21, S. 275. 67 Ders., a. a. O. Kap. 22, S. 290. 68 Shahristâni bei Hyde, wie oben, S. 299. Ich drucke die arabischen Worte nicht, die sich bei Hyde in diesem Zitat an den Stellen finden, wo ich zwei oder drei Punkte gesetzt habe. Das wird auch ein praktisches Verfahren bei den Passagen aus Hyde sein, die ich unten zitiere. 65

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Dunkelheit hervorgegangen; wenn diese zwei nicht im Streit lägen, würde es die Welt nicht geben. Und diese zwei kämpften gegeneinander und stritten um den Sieg, bis das Licht die Dunkelheit und das Gute das Böse besiegte. Daraufhin gelangte das Gute unversehrt zu seiner Welt, und das von ihm getrennte Böse wandte sich der seinen zu, und das ist die Ursache der Befreiung gewesen. Weil Gott in seiner Erhabenheit diese beiden Prinzipien seinem freien Willen gemäß gestaltete und mischte und sie in ihrer Verbindung sah, schuf er das Licht als etwas Ursprüngliches und sprach ihm sein Dasein zu, damit es existierte. Aber die Dunkelheit folgte ihm wie der Schatten einem Menschen. Als Gott sah, daß sie auf eine gewisse Weise, aber nicht in Wirklichkeit existierten, da gab er dem Licht die vollständige Existenz, die Dunkelheit kam als dessen Folge hinzu. Denn das Gegenteil ergab sich mit Notwendigkeit, d. h. die Dunkelheit existiert wie das Kontingente in der Schöpfung, nicht aber aufgrund eines ursprünglichen Beschlusses, wie das Beispiel vom Menschen und seinem Schatten zeigt, das wir angeführt haben.« Diese Worte zeigen klar, daß die beiden Prinzipien des Guten und des Bösen, Oromazes und Arimanius oder das Licht und die Dunkelheit in Zoroasters System eigentlich nur sekundäre Ursachen sind und die Bezeichnung ›Prinzip‹ im strengen Wortsinn nicht verdienen. Sie waren das Werk einer anderen Ursache, und zwar eine Hervorbringung Gottes. In der detaillierten Darlegung der Lehre dieses Magiers liegen viele Absurditäten, denn er sagt einerseits, Gott allein habe die Dunkelheit hervorgebracht, und andererseits, daß deren Existenz nicht auf Gott bezogen werden dürfe. Er sagt, daß Gott das Licht mit der Dunkelheit mischte, weil ohne diese Mischung die Welt nicht hervorgebracht werden konnte; daß Gutes und Böses, Reinheit und Unreinheit aus dieser Mischung hervorgingen; daß es einen großen Kampf zwischen dem Licht und der Dunkelheit gab, bis die Dunkelheit besiegt war; daß die Dunkelheit sich nach ihrer Niederlage in ihre Welt und das Licht sich in die seine zurückzog; daß Gott, nachdem er diese beiden Gegensätzlichkeiten zusammengemischt hatte, ein ursprüngliches Licht schuf und ihm die vollständige Existenz verlieh; daß die Dunkelheit daraus so resultierte, wie

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der Schatten einem Menschen folgt; denn als Gott sah, daß die Dunkelheit auf gewisse Weise, aber nicht wirklich existierte, verlieh er dem Licht die vollständige Existenz, und auf diese Weise existierte die Dunkelheit als eine unausbleibliche Folge, aber nicht gemäß der unmittelbaren und ursprünglichen Absicht des Schöpfers.69 Wir Menschen des Abendlandes können von diesem gedanklichen Durcheinander nichts begreifen, lediglich die Leute aus dem Morgenland, die an eine mystische und widersprüchliche Redeweise gewohnt sind, können ein derart verworrenes Geschwätz ohne Abscheu und Ekel ertragen. Aber wie dem auch sei, wird man mir entgegenhalten, Zoroaster ist dadurch von dem Hauptvorwurf entlastet: Die Behauptung sei nicht länger erlaubt, daß er zwei unerschaffene Prinzipien anerkannt habe bzw. einen Arimanius, der seinem Wesen nach böse und selbstexistent ist. Das bleibt mir noch zu prüfen. I. Ich antworte erstens, daß es außer Zweifel steht, daß die griechischen Autoren, die Zoroaster die Meinung vertreten ließen, es gebe zwei Prinzipien, ihm damit eine Ansicht beilegen wollten, die sowohl der gewöhnlichen Theologie wie der Lehre der Aristoteliker und der Stoiker entgegenstand. Diese beiden Schulen waren sich mit dem Volk darin einig, daß derselbe Gott, der das Gute über die Erde ausstreut, dort auch die Übel verteilt und daß er, wenn er einerseits straft, andererseits auch belohnt usw. Wenn sie nun behaupteten, daß Zoroaster und die Magier eine dem entgegengesetzte Ansicht vertraten, so mußten sie es als seine Lehre ansehen, daß das Prinzip, das die Güter verteilt, personal verschieden von dem Prinzip sei, welches das Gegenteilige tut, und daß diese beiden Prinzipien voneinander unabhängig und das eine gleichermaßen ewig sei wie das andere.70

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Man vergleiche hiermit oben den Artikel CHRYSIPP, der Philosoph, Anm. (T) und den Artikel PAULICIANER, Anm. (I) im dritten Absatz.  Diese Textstellen nicht aufgenommen in Bd. I dieser Sammlung. Hgg.  70 Hyde gibt zu, daß die von Plutarch erwähnten Leute dies lehrten. Man sehe unten Fußn. (77).

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II. Eine Bestätigung findet dies dadurch, daß man auf diese Lehre nur zurückgriff, um die Ungereimtheiten71 zu vermeiden, die sich aus der Annahme ergeben, ein und dasselbe Wesen, das die Ursache des Guten ist, sei auch die Ursache des Übels. Nun hätte man diese Ungereimtheiten nicht dadurch vermeiden können, daß man sagte, Arimanius sei ein Geschöpf des guten Gottes, denn die Frage würde sich erneut stellen, wie Arimanius, das Prinzip des Bösen, von einer unendlich guten Ursache hervorgebracht werden konnte. Jedermann begreift, daß es auf ein und dasselbe hinausläuft, ob man sagt, daß Gott selbst all die besonderen Übel hervorbringt, oder ob man sagt, daß Gott Arimanius geschaffen hat, der sodann der notwendige Urheber aller besonderen Übel ist72: Quod est causa causae est causa causati  Das, was die Ursache der Ursache ist, ist auch die Ursache des Verursachten . Folglich hätte Zoroaster sich vor keinem einzigen Einwand in Sicherheit bringen können, wenn seine Lehre so gelautet hätte, wie Shahristâni berichtet.73 Wir wollen deshalb sagen, daß ihm die Griechen nicht grundlos die Lehre der zwei Prinzipien angelastet haben. III. Ich weiß, daß man mir einwenden kann, sie hätten die Ansichten der von ihnen als Barbaren bezeichneten Philosophen nur schlecht gekannt. Was sie über das jüdische Volk und die Altertümer Ägyptens geschrieben haben, ist sehr ungenau. Man mag das wiederholen, so oft man will; ich werde antworten, daß die arabischen Schriftsteller nicht glaubwürdiger sind, wenn sie von einem Philosophen sprechen, der von ihrer eigenen Zeit so weit entfernt ist, wie das bei Zoroaster der Fall ist. IV. Ich vermute, daß seine Anhänger ihm wohlwollenderweise und aus ihren eigenen Interessen heraus die Schöpfung des bösen Prinzips zugeschrieben haben und daß sie auf diese Weise verfahren sind, seit sie der rauhen Herrschaft der Mo71

Man sehe Plutarch in der Passage, die (…) in der vorangehenden Anmerkung dieses Artikels zitiert worden ist. 72 Licht und Dunkelheit sind Ursachen, die mit Notwendigkeit und ohne jede Freiheit handeln. 73 Oben Fußn. (68).

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hammedaner unterworfen waren, von denen sie verabscheut und als Götzendiener und Feueranbeter behandelt wurden. Weil sie sich nicht noch mehr deren Hass und Beleidigungen unter dem Vorwand aussetzten wollten, daß sie eine unerschaffene, in höchstem Maße böse und von Gott unabhängige Natur anerkannten, hielten sie es für angebracht, diesen Teil ihres Lehrsystems anders auszulegen, denn sie konnten nicht völlig leugnen, daß Zoroaster zwei Prinzipien angenommen hat; man wußte nur zu gut, daß er sie zugelassen hatte: »Der Tarikh Montekheb sagt, daß Zoroaster, der Urheber der Sekte der Megiousch oder Magier, auch der erste ist, der die Lehre von den zwei Prinzipien aller Dinge vertreten hat, und daß der Beiname Megiousch, den man ihm verliehen hat, eine durch die Araber verdorbene Form des persischen Wortes Meïkhousch ist, das ›bittersüß‹ bedeutet, wegen der zwei Prinzipien des Guten und des Bösen, die er eingeführt hat.«74 Hier haben wir einen Autor, der Zoroaster die ursprüngliche Einführung dieser Lehre beilegt; aber Hyde liefert uns eine Stelle, die dieses System viel älter macht und die sogar zu besagen scheint, daß Zoroaster es reformierte. »Die Perser (---) haben eine uralte Religion, und die Gelehrten dieser Religion werden Keiomarsen genannt. Diese behaupten, daß es einen ewigen Gott gibt, den sie Yezdân nennen, was ›Gott‹ bedeutet, und einen anderen Gott, der von der Dunkelheit erschaffen wurde und den sie Ahreman nennen, was ›Teufel‹ bedeutet. Sie verherrlichen das Licht und verehren deshalb das Feuer; vor der Dunkelheit hüten sie sich. Sie setzten diese Praktiken fort,75 bis Zardusht auftrat, der sich zum Propheten aufwarf. So behaupten sie, daß Gott der Schöpfer ist, weil er nämlich Licht und Dunkelheit erschaffen hat, und daß es nur einen Gott gibt, der nicht seinesgleichen hat; daß Gut und Böse, Rechtschaffenheit und Unredlichkeit aus der Mischung von Licht und Dunkelheit entsprungen sind und daß die Welt nicht bestünde, wenn diese beiden nicht vermischt worden 74

Herbelot, Biblioth. orientale S. 931, Spalte 1. Das scheint zu bedeuten, daß Zoroaster diesen Dingen ein Ende machte. 75

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wären, und daß diese Vermischung der beiden nicht eher ein Ende nehmen wird, bis das Gute und das Böse jeweils ihrer eigenen Welt angehören werden (d. h. bis jedes von ihnen zu seiner eigenen Welt gelangt, nämlich am Ende der Welt). (---). Das ist die Religion der Magier.«76 V. Abschließend sage ich: Hyde räumt ein, daß es heute noch Sekten gibt, die durch ihre Annahme von Gott und Teufel als zwei gleichewigen Naturen den Anhängern von Zoroasters Oromazes und Arimanius ähneln. Hier sind seine Worte: »Die Dualisten behaupten die Gleichewigkeit des Teufels. Es gibt nämlich einige aus Indien stammende Perser und manichäische Dualisten sowie andere Häretiker (wie sie in jeder Religion vorkommen), die meinen, der Teufel sei aus sich selbst hervorgegangen, wie sie sagen, d. h. daß er von Ewigkeit her ist und sich böse Engel erschaffen hat. Aber das ist eine häretische Meinung, die nur von einigen unwissenden Menschen vertreten wird, die den eigentümlichen Namen (---) Thanavîa tragen, d. h. ›Dualisten‹ oder ›Herren der Zwei‹, nämlich Anhänger oder Verfechter zweier Prinzipien, die (so sagt Shahristâni) das Licht und die Dunkelheit bzw. Gott und den Teufel als zwei gleichewige Prinzipien festsetzen im Gegensatz zu den Magiern, die das Licht für ewig und die Dunkelheit für erschaffen halten. Dazu gehörten jene, die, wie Plutarch in dem Buch De Iside et Osiride77 uns mitteilt, behaupteten, Oromazes und Arimanius seien zwei Götter.« Bezüglich dieses Systems der zoroastrischen Magier finden sich ganz eigentümliche und außergewöhnliche Dinge in einem Buch eines Mohammedaners. Ich werde daraus das zitieren, was die Dualisten betrifft, die immer noch an der Gleichewigkeit des Teufels festhalten und die auf eine sehr zudringliche Weise fragen, woher das Übel kommen konnte, wenn das böse Prinzip nicht ewig ist? »Sharistâni fügt hinzu, daß es eine Eigentümlichkeit der Magier sei (---), an eine Dualität zu glauben, und daß sie behaupten (---), es gebe zwei ewige Füh76

Ibn Shahna in dem Buch De primis et postremis, bei Hyde, Hist. relig. vet. persar., Kap. 9, S. 163. 77 Ders., a. a. O., S. 164.

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rer oder Lenker, die in Gut und Böse, Redlichkeit und Unredlichkeit, Vorteil und Nachteil aufgeteilt sind. Den einen davon nennen sie Licht, den anderen Dunkelheit, bzw. Yezdân oder Gott und Ahreman oder Teufel. Ihre Religion ist auf folgender Teilung bzw. Unterscheidung aufgebaut: Sämtliche Fragen der Magier laufen auf zwei Hauptpunkte hinaus, von denen der eine die Erklärung der Ursache für die Mischung von Licht und Dunkelheit ist und der andere die Erklärung der Befreiung des Lichts von der Dunkelheit. Sie behaupten nämlich, daß diese Mischung (---) der Anfang oder Ausgangspunkt der Dinge sei und daß die Befreiung (---) die Rückkehr der Dinge oder der Endzustand ist.« Wir wollen noch dieses anführen: »Der oben erwähnte Sharistâni fährt fort zu berichten, daß die Magier, wie er zuvor gesagt hatte, (---) zwei Prinzipien zugrunde legen, daß aber (---) die ursprünglichen Magier es für keine gute Erklärung halten, beide seien ursprünglich gleichewig, sondern daß das Licht (---) ursprünglich ewig sei und die Dunkelheit (---) erschaffen. Dann aber sind sie unterschiedlicher Ansicht über die Art und Weise bzw. die Ursache der Hervorbringung der Dunkelheit, weil vom Licht nur Licht hervorgebracht werden kann, das keinerlei Übel erzeugt, und wie folglich das Prinzip des Bösen oder einer beliebigen anderen Sache hervorgebracht wurde, weil nichts mit dem Licht (oder etwas ihm Ähnlichen) hinsichtlich seiner ursprünglichen Hervorbringung und Ewigkeit verbunden ist.«78 Einige dieser Magier behaupten, daß Arimanius oder das böse Prinzip durch einen bösen Gedanken erschaffen wurde, der sich im göttlichen Verstand erhob. Dem lag die Überlegung zugrunde »Was wird sein, wenn ich keinen Widerspruch erfahre?« Was kann man Abscheulicheres sagen? Wäre es eine größere Blasphemie, diesem Arimanius überhaupt keinen Ursprung beizulegen, als ihm diesen zu geben? »Sie behaupten, daß Yezdân (---) ewig und ohne Anfang ist und daß Ahreman (---) hervorgebracht und erschaffen wurde. Yezdân 78

Ibn Shahna in dem Buch De primis et postremis, bei Hyde, Hist. relig. vet. persar., Kap. 22, S. 295, wo er das Buch von Sharistâni De religionibus orientis zitiert.

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dachte bei sich: Was wird sein, wenn ich keinen Widerspruch erfahre? Und daß diese schlimme Überlegung, die der Natur des Lichts keineswegs entspricht, die Dunkelheit hervorgebracht hat, die Ahreman genannt wird, die von Natur aus auf das Böse, auf Zwietracht, Schlechtigkeit, Schaden und Schädlichkeit jeder Art angelegt ist. Sie erhob sich gegen das Licht und stellte sich ihm sowohl mit seiner Natur (d. h. durch Taten) wie durch Worte entgegen.«79 Sie fügen hinzu, daß sich ein Krieg zwischen den Armeen des Lichtes und der Dunkelheit erhob, der schließlich durch ein Übereinkommen beendet wurde, das die Engel vermittelt hatten und dessen Bedingungen lauteten, daß die Unterwelt für 7000 Jahre völlig Arimanius überlassen werde und daß er sie danach an das Licht zurückgeben sollte. Vor dem Frieden hatte Arimanius alle Bewohner der Welt ausgerottet. Das Licht hatte die Menschen zu Hilfe gerufen, als sie noch bloße Geister waren: das tat es, entweder um die Menschen aus dem Land des Arimanius herauszuholen, oder um ihnen Körper zu verleihen, die gegen diesen Gegner kämpfen sollten. Sie nahmen die Körper und den Kampf unter der Bedingung an, daß ihnen das Licht beistehe und sie Arimanius schließlich besiegen würden. Die Wiederauferstehung wird erfolgen, wenn er überwunden sein wird. Das, so schließen sie,80 war die Ursache der Vermischung und wird die Ursache der Befreiung sein. Den Griechen war nicht unbekannt, daß Zoroaster eine künftige Wiederauferstehung lehrte.81

79

Ders., ebd. (…). Hyde, Hist. relig. vet. pers., S. 296. 81 Man sehe, was Diogenes Laertius im Proömium, Nr. 8 über die Lehre der Magier berichtet. 80

NAMENREGISTER

Das Register berücksichtigt ausschließlich den Text Bayles. Ein hinzugefügtes »n« hinter der Seitenzahl verweist auf eine Fußnote der genannten Seite. Abaelardus, Petrus 460 Abdallah 468 Abdas 28–33 Abdullah Ben-Salon 515 Abel 203, 204, 214, 218–220, 222, 278, 280, 348 Aben Esra 206n, 217n Abimelech 616–618, 620, 623, 624n, 626–629, 632 Abiram 278 Abrabanel 205n, 207, 217 Abraham 46, 284, 614–627, 629–640, 763, 764, 765, 777 Abram, Père 621n Abulpharagius 510, 765n Abunazarus 468n Abutalib 468 Accius 331 Acindynus 639 Acosta, Uriel 34–48 Adam 203–230, 480, 671,731, 732 Adam, Melchior 234, 264n, 451n, 452n, 453n, 454n, 455n, 456n, 457n, 458n, 460n, 465n, 466n, 467, 467n Adrastos von Argos 49 Aeetes 572 Aelian 60n, 66, 66n, 300n, 663n Aeneas 391 Äsop 382, 383

Agrippa, Cornelius 215 Ahmed Abdulabbas 527n Ahreman 777, 781, 783, 784 Aischylos 51 Alcimus Avitus 211 Aldobrandinus, Thomas 134, 134n, 295n, 562n Alegambe, Philippe de 440n Alexander ab Alexandro 428, 429n Alexander von Aphrodisias 401 Ali 510, 510n, 511, 535, 539 Alkmaion 50n Allatius, Leo 661, 661n Allix, Pierre 154, 154n Almotenabbi 535, 536 Alphons [König von Neapel] 542 Alting, Heinrich 265n Ambrosius 209n, 624, 624n, 637, 637n, 638 Aminah 468 Amyraut, Moyse 144 Ammianus Marcellinus 592n Amphiaraus 49–55 Amyot, Jacques 13, 14, 52n, 58n, 65n, 75n, 768n, 771n, 776 Anaxagoras 56–103, 129, 393, 393n, 414, 543n, 553, 666n, 744, 745 Anaximenes 56, 71, 76–79, 79n, 745

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Namenregister

Ancharana, Jakob de 749 Ancillon, David 104–118, 147 Ancillon, Georgin 107 Andreas, Johannes 264, 484, 511, 531 Andromeda 271 Andronicus, Marcus Pompilius 119–120 Angelus Graecus 517 Anna von Britannien 431n Annianus 335 Annius, Johann 518 Anselm 657 Anselm, Père 111 Antiochos 309 Antipater 290, 299 Antonius 153 Aphthonius 232n Apollo 94, 283n, 289, 311, 398 Apollodor 50, 50n, 123n Apollonius 50, 64, 275 Apomasaris 429 Apuleius 275, 334, 334n, 335 Archelaos 745 Archelaos von Makedonien 325 Arethas 517 Aretino, Leonardo 331, 341 Ariarathes, 307 Arimanius 768, 769, 770, 778, 779, 780, 782, 783, 784 Arion 275, 276 Ariosto, Ludovico 337n Aristides 51, 52, 53 Aristipp 659 Ariston 305 Aristoteles 61n, 63, 63n, 68, 69, 69n, 71n, 73, 73n, 80, 80n, 81, 82n, 84n, 86, 91n, 99, 99n, 103, 103n, 148, 148n, 155, 266, 284, 284n, 305, 309, 331, 370n, 371, 372n, 373, 373n, 421, 426, 450,

463, 464, 465, 466, 532, 552, 553, 553n, 562n, 571, 676, 676n, 677, 677n, 678, 738, 738n, 740n, 741, 742, 745, 746n, 761 Arkesilaos 121–136, 288, 288n, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 304, 304n, 305 Arminius, Jakob 137–144 Arnauld, Antoine 158, 374, 375n, 420, 431n, 728n Arnobius 681, 682, 682n Arnoux, François 710n Arriaga, Rodriguez von 145– 149, 548n Artemidoros [Daldianus] 429, 436n Aspidius, Eleutherius 228n, 229n Assur 764 Astrampsychus 429 Aswad 535 Athenäus 322 Athenagoras 325n August, Sigismund 687 Augustinus, Aurelius 67, 67n, 71, 71n, 72, 72n, 73, 73n, 79n, 181, 181n, 208, 208n, 216, 216n, 217n, 220, 221, 273, 273n, 274, 274n, 275, 275n, 276, 278n, 279n, 295, 295n, 305n, 312, 330, 269n, 393n, 431n, 528, 528n, 529, 570, 571, 571n, 582, 582n, 616, 624, 636, 636n, 637, 637n, 638, 638n, 639, 640, 675, 675n, 714, 732, 744, 745 Augustus 181, 281, 435 Aureolus, Petrrus 150–156 Ausonius 330, 334, 334n, 335n Autolycus 301

Namenregister

Autolykos 121 Averroës 153 Avicenna 642, 648 Avitus 244 Awina 218 Ayesha 539 Azrum 218 Azura 218 Bacchus 283, 392, 566 Baillet, Adrien 255n, 297n, 746n Bajazeth 499 Balaam 765 Balduinus, Franciscus 717, 717n, 718, 718n, 719, 720, 720n Balzac, Guez de 568, 568n, 601n Baptista von Mantua 196 Baptiste de Creme 349 Baronius, Caesar 243, 279n, 529, 259n Baronius, Vincentius 155, 155n Barrow, Isaac 753n, 761, 761n Barthius, Caspar von 282, 378 Bartolocci, Giulio 204, 222, 222n, 223, 223n Bartolus a Saxoferrato 749 Basilius 653n, 717 Basnage de Beauval, Henri 337, 726n Baudier, Michel 511, 531 Baudouin, François, s. Balduinus Bauny, Étienne 639 Beaulieu, Louis le Blanc de 157– 169 Bekker, Balthasar 611n Bellarmin, Roberto 150n, 495, 495n, 496, 498, 498n, 630 Bellerophon 325 Belon, Pierre 508, 509n, 512, 512n

787

Belos 764 Bembo, Pietro 455, 465n, 467 Ben Edris 527n Ben Schuhnah 765 Benoît de Saint-Maure 49n, 50n Benvenuto von Imola 517 Bergerac, Cyrano de 606n Bernard, Jacques 726n, 776 Bernegger, Matthias 341 Beroaldus, Philippus 333, 334n Bertius, Pierre 138n, 139n Bespier, Sieur de 504n, 511, 511n, 519n, 531, 531n Beverland, Hadrian 215n Beze, Theodore 137, 264, 718, 718n, 719, 719n, 720, 725n Bigot, Emery 111 Bisselius, Johannes 280n Blancanus, Josephus 760n, 761, 761n, 762 Blandrata, Giorgio 684 Blondel, François 661, 661n Blonski, Abraham 685, 685n Blount, Thomas Pope 449n Bochart, Samuel 764, 764n Bodin, Jean 286, 287n Boileau-Despréaux, Nicolas 352 Bolduc, Jacques 632 Bonifacius, Balthasar 512n Bonifatius 485 Borel, Pierre 576n Boskhier, Philippe 502, 503, 518 Bossuet, Jacques-Bénigne 460n, 518, 518n, 528n Bouhours, Dominique 699n, 701 Boulducus, Jacobus, s. Bolduc Boulenger, Jules César 767, 767n Bourdelot, Pierre 750n

788

Namenregister

Bourg, Antoine du 750 Boxhornius, Marcus Zuerius 140 Bozius, Thomas 500n Brahe, Tycho 728, 729n Brantôme, Pierre de Bourdeille 15, 350, 350n, 431n, 510n, 633 Brerewood, Edward 473n Briot, Pierre 766 Brisson, Barnabe 767, 767n Brun, Jean 686n Brunehauld 243 Bucer, Martin 518 Buchner, August 641n Bucholcher 454n Budowez, Wenzeslaus 518 Burana, Francesco 746n Burgensis, Paulus 625n Burnet, Gilbert [Bischof von Salisbury] 665n, 726, 726n Burnet, Thomas 212n Bussy Rabutin, Roger de 390n, 568, 568n Buxtorf, Johannes 370n Caerellia 335 Cäsar 167, 332, 558, 698n Cajetan, Thomas de Vio 209n, 210, 210n, 621n Calcagnini, Celio 336 Calvin, Johann 141, 143, 144, 161, 162, 209n, 246, 534, 535, 615, 616, 639, 639n, 698, 708, 708n, 716, 717, 718, 719, 720, 721, 722, 723, 724, 724n, 732 Camerarius, Joachim 451n, 452n Camien, de 174 Camillus 230n Campanella, Thomas 257

Camphusius, Theodor 711, 711n, 712n Cantacuzenus 477n Capreolus, Johannes 153, 154, 155, 156 Caramuel y Lobkowitz, Juan 463, 463n Caranza, Alonso 646n Cardano, Gerolamo 341 Carolus, Andreas 269n, 471n Cartier, Gabriel 175n Casaubon, Meric 436n Caselius, Johann 268 Casmann, Otto 267, 267n Castalio [Castellio, Sebastian] 717, 718, 719 Castelvetro, Giacomo 14 Cato [der Zensor] 12, 26, 26n, 300, 301 Cato von Utica 39, 331, 333, 533 Catull 332, 333, 333n, 339n Catulus 293 Cavendish, William 250 Cayart, Jean 106 Cedrenus 219, 764, 764n Celsus 748 Ceres 283 Cerinthus 534 Chadidscha 468, 474, 525 Cham 764 Chappuzeau, Samuel 7 Chardin, Jean 502, 502n Charon 306 Charpentier, François 67, 68, 68n, 102 Charron, Pierre 170–194, 678, 678n, 681 Charron, Thibaud 174, 174n Chassanion, Jean 202, 202n Chevillier, André 746n, 748n Chevreau, Urbain 479, 479n, 481n, 488n, 510n

Namenregister

Chrysipp 288, 296, 297, 298, 311, 432 Chrysostomos, Dion 64, 330, 353n, 615, 624, 628, 763n Chus 764 Cicero 17n, 24n, 25n, 29n, 57n, 60, 60n, 62, 62n, 65, 65n, 71, 71n, 72, 72n, 73, 73n, 77, 79, 79n, 119, 124, 124n, 125, 125n, 126, 126n, 127, 128, 128n, 129, 130, 130n, 167, 181, 181n, 248n, 288, 289, 289n, 290, 290n, 291n, 292, 292n, 293, 293n, 294n, 295, 295n, 296, 296n, 298, 298n, 299, 301, 301n, 303, 304, 305n, 306, 306n, 307, 307n, 308, 308n, 309, 309n, 310, 310n, 311n, 312, 312n, 332, 332n, 359n, 361, 362n, 377, 414, 414n, 432n, 433, 433n, 434n, 435n, 437, 437n, 438, 438n, 439n, 451, 462, 462n, 565n, 570, 571, 640, 662, 662n, 663, 666n, 674, 675n, 682n, 737, 738, 738n, 742, 744, 753 Claude, Jean 418, 422, 423n Clemens I. 764n Clement, Jaques 441, 442, 446, 447, 450 Clenard, Nicolas 508, 508n Clitou, Josias 518 Clodius 332 Cluverus, Johannes 474n Cocceius, Johannes 694, 694n, 706n, 707n, 709, 709n, 710, 710n, 712n Coconas, Hannibal de 601 Codoman, Johann Georg 621n Coeffeteau, Nicolas 423, 424, 424n, 425

789

Coligny, Gaspard de 32 Comestor, Petrus 218n Conecte, Thomas 195–202 Conring, Hermann 449, 449n Constantinus Sarnanus 155 Coqueus, Leonhard 636, 636n, 637, 637n, 638, 638n Coriolan 2 Cornelius a Lapide 148, 213, 214n, 218n, 633n, 634n, 640n Cornellius, Antonius 747, 748, 749n, 750, 750n, 751 Costar, Pierre 576, 576n Cotin, Charles 39n, 412, 412n, 413, 413n, 414, 415, 415n Coton, Père 445, 446, 446n, 448, 449, 449n Cotta 437n, 662 Couet, Jacques 692, 692n Creech, Thomas 378 Crell, Paul 716 Crellius, Johannes 713 Cremutius Cordus 336n Crenius, Thomas 712n, 713n Cresollius, Louis 465n Curio, Caelius Secundus 518 Cyprianus, Johannes 653n, 655n d’Argentré, Bertrand 195n, 196n, 197, 199n, d’Armagnac, Kardinal 171 d’Arzignano, Olivier 50n d’Ebrard de S. Sulpice, Antoine 175 d’Herbelot, Gustave Flaubert 5, 272, 272n, 539, 539n, 765n, 766, 781n Daems, Cornelius 703 Daillé, Jean 110, 495n, 534, 535, 667, 667n Danaeus, Lambert 279n

790

Namenregister

Daniel [Prophet] 628 Dannhauer, Johann Konrad 524n, 650, 650n, 651 Dante Alighieri 517 Darius 766 Dathan 278 David [Prophet] 480, 490, 525, 624, 717 Davidis, Franz 684 Davila, Henrico Caterino 32n, 112 Debora 218 Deckherrus, Johannes 257n Delbora 218 della Casa, Giovanni 328, 336–340 Demetrios 371 Demokrit 61, 62, 62n, 63, 129, 130, 357, 357n, 358, 359, 360, 362, 363, 371 Deogratias 274 Descartes, René 120, 255, 256, 356, 357, 358, 362, 373, 374, 398, 555, 555n, 556, 672, 759 Deshoulières, Antoinette 566, 566n, 567n Despence, Claude 568 Despreaux, s. Boileau-Despréaux 352 Diagoras 319, 329 Dido 561 Diodorus Siculus 59n, 353n Diogenes Laertius 56, 56n, 57n, 58n, 59n, 60, 60n, 63n, 65n, 66n, 67, 67n, 68, 68n, 75n, 80, 80n, 84n, 91n, 92n, 93n, 93, 122n 123n, 123n, 124, 124n, 125, 126, 126n, 128n, 134n, 135n, 288, 289n, 290, 297n, 299n, 308, 308n, 357,

357n, 399n, 400n, 415n, 416n, 562n, 736n, 737, 737n, 738, 738n, 742, 745, 753n, 770n, 784n Diogenes von Apollonia 79, 79n, 745 Diogenes von Babylon 300 Diokletian 405 Dioskurides 331 Dodwell, Henry 280n, 281n Drabicius, Nicolas 529, 530 Drelincourt, Charles 10 Drusius, Johannes 712, 713 Dschinghis Khan 499 du Pin, Ellies 5, 243 du Rondel, Jacques 391, 391n, 395 du Verdier de Vau-Privas, Antoine 568 Duns Scotus 155 Durandus de S. Porciano 151 Eber, Paul 716 Ebion 534 Egeria 476 Elias 518, 765 Elisa 271 Elmacin, George 468, 469n, 476, 476n, 484n, 498n, 511, 519, 520, 520n, 522, 525n Empedokles 129, 562 Ennius 112, 248n, 438 Enustinus 525 Epiktet 415 Epikur 87, 125, 289, 290, 304, 356, 357n, 358, 359, 359n, 360, 364, 369, 371, 377– 416, 436, 556, 558, 745, 753, 774 Epiphanius 208n, 214, 214n, 218, 278n Erasmus, Desiderius 231, 232, 233, 233n, 234, 235, 235n,

Namenregister

236, 237, 237n, 238, 238n, 421, 422, 455n, 746, 748 Erebos 306 Eriugena, Johannes Scotus 653, 653n Eriphyle 49 Esau 278 Escobar y Mendoza, Antonio 639 Esprit, Jacques 52, 569, 569n, 570, 571, 573 Esra 765 Etienne, Charles 50n, 298 Etienne, Henri 296n Eugen IV. 196 Eunomius 675 Eupolemon 627 Euripides 56, 98, 320, 321, 322, 323, 323n, 324, 325, 571, 572n Eurydike 740 Eusebius 2n, 31n, 64, 64n, 71, 71n, 74, 74n, 75, 94, 94n, 126n, 130n, 295n, 298n, 299n, 377, 627n, 763 Eutychius 522, 621 Eva 203–230 Evenus 335 Fabert, Abraham de 157 Fabri, Honoré 655, 655n, 656, 656n Fabricius, Johannes 518 Farnaby, Thomas 572n Fatima 511 Fatio de Duillier, Nicolas 374 Faustus [der Manichäer] 615, 624 Ferdinand [König] 233, 234n Ferdinand III. 145 Fermat, Pierre de 758, 758n Fernel, Jean François 642, 642n

791

Feuardent, François 219, 518 Flacius Illyricus, Matthias 453, 455, 716 Flechier, Valentin Esprit 598n Florus 32n, 143n Fludd, Robert 215 Fonseca, Pedro da 677, 677n Fontanier 179 Foucher, Simon 134, 134n, 307, 307n, 309, 309n Fouquet, Nicolas 575 Francus, Adam 704n Francus, Daniel 338 Franz I. 453, 750 Franz von Medici 684, 685 Franzius, Wolfgang 654, 654n Fredon, Père 512 Freher, Paul 232, 232n, 234 Freitag, Johannes 648, 649, 649n, 651, 654, 655 Friedrich von Sachsen 452 Frois, Ludovicus 494n, 524n Fulgentius 308, 308n Furetière, Antoine 3n, 608 Furius 303, 305n Gabalis, Comte de 215 Gabriel 468, 472, 474, 483, 515, 530, 537 Gadroys, Claude 149 Galba 301 Galen 75n, 296, 296n, 299, 299n, 362, 643, 643n Galilei, Galileo 373 Gallaeus, Servatius 213n Garasse, François 172, 172n, 176, 177, 178n, 179, 180, 185, 193, 194n, 211n, 419, 601n, 602, 602n, 603n, 747, 747n, 748, 749, 749n, 751 Gassendi, Pierre 86n, 120, 251,

792

Namenregister

258, 356, 356n, 359n, 362, 373, 373n, 400n, 415, 416n, 755, 755n, 756n Gauric, Lucas 605 Gebhard, Janus 618n Geldenhaur, Gerhard 231–240 Gellius, Aulus 297, 297n, 300n, 308, 399, 399n, 400 Gelrius, s. Geldenhaur Génébrard, Gilbert 203n, 219, 518 George, David 534 Georgijevic, Bartholomej 503 Gerhard, Johann 209n Germanicus 387 Gesner, Conrad 746, 747, 748 Giraldi, Giglio Gregorino 659n, 661, 661n Gniphon, Antonius 119 Gomarus, Franz 139n, 713 Goulart, Simon 771n Goussainville, Pierre de 243 Goveanus, Antonius 114 Graevius, Johann Georg 740 Gratian, Lorenzo 699 Grawer, Albert 269 Gregor I. 241–249, 638, 638n Gregor von Nazianz 564n Gregor von Nyssa 653n Gregor von Tours 764 Gregorius Palamas 568 Greissing, Valentin 317 Grenier, Nicole 420 Gretser, Jakob 421, 446, 449, 449n, 450n, 464, 464n, 466, 466n Grotius, Hugo 29n, 437, 437n, 476, 477, 477n, 516, 518, 518n Guadagnolus, Philippus 484 Guicciardini, Francesco 256

Hadrian 334n Hagar 614, 615, 634, 636, 637, 638, 639, 640 Halima 480 Hamza 469 Hantenius, Johann 518 Haran 614, 617, 619, 621, 622, 623 Hartsoeker, Christian 713, 713n Hartsoeker, Daniel 686 Hartsoeker, Niklas 374, 375n Hegius, Alexander 231n Heidegger, Johann Heinrich 213n, 214n, 218n, 219n, 615n, 619n, 620n, 621n, 624n, 625n, 632n, 635n Heinrich II. 596, 604, 606 Heinrich III. 348, 441, 442, 446, 450 Heinrich IV. 441, 445, 446, 447, 449, 450, 602, 604 Heinrich Julius von Braunschweig 268 Helena 425n Heliogabalus 341 Henoch 518 Heraklea 253n Heraklit 126, 148, 359, 741, 742 Heraklius 474 Herkules 270, 271, 273, 435, 765 Hermias 90n, 91n Hermippos 93n Hesekiel 765 Heshusius, Tilemann 264n Hesiod 80n, 739, 740, 741 Hesronita, Johannes 530n Hesychios Illustrios 357, 357n Hieron II. 253, 254, 659, 660, 662, 664, 665, 667, 668, 671, 671n, 675, 676, 676n

Namenregister

Hieronymos [der Historiker] 93n Hieronymos [Tyrann von Syrakus] 254 Hieronymus [hl.] 213n, 271, 271n, 422, 621n, 624, 628 Himerius 63, 63n Hinkelmann, D. 518, 519 Hiob 482 Hobbes, Thomas 183, 250–263 Hoburg, Christian 316 Hoffmann, Daniel 264–269 Hofmann, Johann Jacob 298 Homer 59, 62, 78, 121, 135, 136n, 330n, 331, 452 Hoornbeeck, Johannes 475n, 481n, 507n, 508n, 514n, 515n, 519n, 526n, 692n, 693, 693n, 704 Horaz 17n, 18n, 19n, 23, 23n, 89n, 142n, 182n, 183n, 201n, 210n, 261n, 342n, 350n Horn, Georg 268n, 765, 765n Hortensius 290, 293 Hospinian, Rudolf 265, 265n Hottinger, Johann Heinrich 468n, 469n, 475n, 476n, 481n, 484n, 485n, 486, 486n, 498n, 501, 501n, 502, 502n, 518n, 519, 519n, 520n, 521n, 525n, 527, 527n, 535n Huber, Samuel 265 Huet, Pierre Daniel 357, 357n, 753, 754, 759n, 764n, 765n, 766 Hugo von Sankt Viktor 632 Hunnius, Ägidius 264, 265 Hurtadus de Mendoza, Petrus 168n Huygens, Christian 373, 758 Hyde, Thomas 766, 776, 777, 777n, 779n, 781, 782, 782n, 783n, 784

793

Hydra 130, 192 Hyginus 50 Hymeneus 344 Ibn Shahna 782n, 783n, 784n Innozenz X. 145 Irenäus 76, 76n Isaak 284, 614, 615, 616, 623, 630, 631, 633, 635 Isdegerdes 29, 30 Ismaël 153 Ittigius, Thomas 517n Jakob 284, 621 Jaldabaoth 208 Japhet 764 Jarchi, Salomon 207n, 223, 270n, 272, 619n Jehu 271 Jesus Christus 3, 106, 117, 138, 145, 169, 208, 264, 274, 278, 279, 457, 476, 528, 535, 664, 671, 684, 687, 692, 748 Jiska 621, 622 Johann, Erasmus 703 Johanna von Aragon 633 Johannes 518 Jon, François du 176, 713 Jonas [Prophet] 270–277 Jonsius, Johannes 297n, 298n Josephus 93n, 206n, 207, 616, 625n, 627, 628, 640, 640n, 726n Joyeuse, François de 176 Judas 233, 234, 278 Juncker, Christian 420, 420n, 421n Junius, Franciscus, s. Jon, François du Jurieu, Pierre 144n, 159, 160, 160n, 161, 162, 162n, 163, 164, 165, 165n, 166, 166n,

794

Namenregister

167, 168, 455, 493, 493n, 494, 494n, 495, 522, 522n, 524, 577 Justinian 510n, 620n Justinus d.J. [Kaiser] 241 Justinus Martyr 76, 76n Juvenal 19n, 334 Juvenal des Ursins, Jean 197 Kaimana 218 Kain 203, 213, 214, 218, 219, 222, 278, 280, 629, 630 Kalliope 391, 391n, 392 Kalmana 218, 219 Kambyses 765, 766 Karl [Kaiser] 234 Karl II. 251 Karl V. 22, 421 Karl VI. 197 Karl VIII. 431, 431n Karl IX. 32, 601 Karl von Österreich 231 Karlsbergius, Galeottus Galeatius 257n Karneades 129, 288–312 Karpokrates 278 Kasimir, Johann 690 Katharina von Medici 601, 602 Kepler, Johannes 358, 729 Kerberos 306 Keßler, Andreas 267 Kleanthes 122, 123, 135, 136, 304n Kleitomachos 291n, 294, 295, 307 Klemens von Alexandrien 56n, 71, 71, 73, 74, 74n, 75, 98, 325, 621, 621n Kleon 92, 93n Knutzen, Matthias 313–317 Konfuzius 612 König, Georg Matthias 465n

Konstantin 493, 495 Kopernikus, Nikolaus 728, 729n Korah 278 Korniades 289 Krates 63, 121 Kritias 318–326 Kritolaos 300 Krösus 659, 663, 664, 667 Kyrillos von Alexandrien 67, 67n, 93n La Bruyère, Jean de 184, 184n La Croix du Maine, François Grudé de 342n La Loubere 612n, 613n La Mole, Joseph Peyrac 601, 601n La Mothe le Vayer, François 325n, 327–355, 510n, 512n, 675n Labbe, Philipp 150n, 155n Laberius 345, 346 Lachesis 19n Laelius 303, 305n Laetus, Johann 709 Laevius 335 Laktanz 57n, 64n, 80n, 91n, 131, 131n, 132, 132n, 133, 133n, 299, 299n, 301, 302, 302n, 303, 303n, 359, 360, 360n, 361, 362, 409, 409n, 410, 700n, 741, 741n, 742, 742n Lakydes 123n, 127 Lambin, Denis 390, 396n Lamy, François 369n Lamy, Guillaume 101n, 556– 558, 558n Lanyado, Samuel 210 Lazarus 274 Le Clerc, Jean 23, 765

Namenregister

Le Comte, Louis 410n Le Fevre, Tanneguy 319 Le Moine, Pierre 332n Leers, Reinier 26 Leibniz, Gottfried Wilhelm 644 Leiden, Johann von 534 Leo der Hebräer 205, 205n, 215n, 223, 223, 224, 224n, 225, 225n, 226, 227 Leoprepes 661 Lescalopier, Pierre 73, 73n, 359, 662n, 666n, 675, 675n, 682, 682n Leukipp 356–376 Liddell, Duncan 268 Lilia 214 Lilith 222 Lilitha 214 Limborch, Philipp van 34n, 37, 38n, 43, 43n Linus 80 Lipenius, Martinus 270n, 271n, 272, 272n, 274n Lipoman 621n Lippius, Johannes 653, 653n Lipsius, Justus 391, 392 Lloyd, Nicolas 50n, 298 Lord, Henry 766 Loredano, Giovanni Francesco 206, 228, 229 Lorichius, Reinhard 232n Loth 617n, 622 Lubbert, Sibrand 712 Lucan 230n Lucilius 299 Lucullus 291 Ludwig XIV. 327 Lukan 32 Lukian 289n, 659n Lukrez 58, 76, 76n, 82, 82n, 185, 185n, 221n, 285n, 377–

795

416, 506, 506n, 561n Luther, Martin 84, 209n, 210, 417–427, 452, 453, 464, 466, 534, 534n, 535, 589n Lydius, Martin 138 Lykurg 618 Lysander 318 Lyser, Polykarp 265 Macrobius 289n, 300n Magliabechi, Antonio da Marco 340, 340n Maignan, Emanuel 756n Maimbourg, Louis 221, 241n, 243, 244n, 245n, 690, 690n Maimonides, Moses 217, 368n, 370, 370n, 371n, 532 Major, Gregor 716 Majus, Junianus 428–439 Malebranche, Nicolas 374, 431n Maracci, Louïs 471, 471n Maraviglia, Joseph Marie 607n Marcus Antonius 181, 281, 281n Marcellus 387, 388 Maresius, Samuel 713 Margarete von Österreich 431n Margarethe [Königin] 171 Maria 116 Maria, [Königin von England] 249, 249n Maria von Medici 446 Mariana, Juan 440–450 Marianus Victor 219 Marigny, Jacques Carpentier de 335, 335n Marina 512, 513 Marion 728 Marius 408 Marolles, Michel de 378 Mars 392, 392n, 494 Martha 116

796

Namenregister

Martial 333, 333n, 334n, 390n, 635 Martini, Cornelius 268 Maruthas 29 Marville, Vigneul 329n Matthaeus 239n Mauro, Ortensio 336 Maximilian [Kaiser] 232 Maximilian von Burgund 231 Mazarin, Jules [Kardinal] 328, 354 Meaux, s. Bossuet Medea 572 Meibomius, Henricus 331n Melampus 49 Melanchthon, Philipp 451–467, 518, 716, 717, 717n, 718, 719, 720, 721, 722, 723, 724, 725, 726, 729, 731, 732 Meletos 67 Melkita 527n Ménage, Gilles 63n, 65n, 66, 66n, 75n, 84, 84n, 114, 297, 298n, 337, 337n, 338, 338n, 339n, 340, 562n, 575, 753, 753n Menander 335, 335n Menasse Ben Israel 654 Menelaos 425, 425n Menoikeus 415 Mentor 289 Méré, Antoine Gombaud de 757, 758, 759, 759n, 762 Merkur 301, 744 Mersenne, Marin 250, 251, 258, 640n Mesraim 764 Methodios 86n, 218n Metrodor [der Akademiker] 294 Metrodor [der Epikureer] 371, 413 Meursius, Johannes 66

Mevius 726, 727, 729 Mézeray, François de 112, 714, 714n Michel, Jean 170, 171n Micraelius, Johannes 313, 314, 414n, 315n, 716n Milka 621, 622 Milton, John 450 Minucius Felix 682, 682n Misson, François Maximilien 420n, 421n Mohammed 468–541, 749 Moller, Johannes 313, 315, 315n, 316, 316n Möller, Jacob 215n Molsa, François Marie 336 Monconys, Balthasar de 260, 714n Monnoye, Bernard de la 290 Monstrelet, Enguerrand de 199n, 202 Montagnes, François 456n Montaigne, Leonor de 174 Montaigne, Michel de 15, 171, 174, 183, 183n, 256, 593n More, Henry 467n, 647, 647n, 653, 653n Moréri, Louis 3, 5, 6, 7, 20, 21, 22, 22n, 23, 58, 119, 124, 140, 150, 173, 232, 270n, 272, 289, 319, 328n, 342n, 378, 417, 440n, 470, 542, 614n, 661, 686, 736 Morhof, Daniel Georg 465n Morin, Jean Baptiste 607 Moritz von Sachsen 453 Morstinius, Christoph 684, 684n Morus, Alexandre 456n Morus, Thomas 257 Moses 35, 36, 91, 211, 215, 218, 219, 417, 480, 628, 632, 749, 764, 765

Namenregister

Moulin, Pierre de 243, 349, 349n, 448n Müller, Johannes 44n, 316, 316n, 419n Müntzer, Thomas 534 Muret, Marc Antoine 399n, 400, 401, 401n, 618 Musaeus, Johannes 313, 315 Musculus, Wolfgang 518, 621n Museilema 535, 536 Mylius, Georg 264, 265 Mylius, Mat. 454n Nahors 621, 622 Naudé, Gabriel 316, 515n, 516, 516n, 517n, 767, 767n Nausiphanes 358 Nemesis 383, 384 Nepos, Cornelius 319n, 322n, 618n Neptun 283n, 299, 306 Nero 495 Newton, Isaak 100, 373, 374, 555 Nicole, Pierre 577, 577n, 578, 579, 580, 580n, 586, 587n Nikephoros 31 Nikolas 278 Nikolaus von Lyra 210, 626n Nimrod 764 Ninus 763 Noah 46, 618n Nonius 301n Numa 476 Numenios 126n, 127, 130, 130n, 295, 295n, 298, 298n Ocella Tubertus, [Pseudonym für La Mothe le Vayer] 327n Odysseus 211 Oecolampadius 209n

797

Ödipus 311 Ogier, François 172n, 177, 187n Oïkles 49 Oldoinus, Augustinus 155 Oleaster 621n Olympia 353 Omar 535 Orasius Tubero [Pseudonym für La Mothe le Vayer] 327, 330 Orbilius 119 Origenes 64n, 624, 624n, 625 Orion 764 Orkus 306 Ornhialm, Claudius 494 Oromazes 767, 768, 769, 770, 778, 782 Orpheus 80, 740 Ostendorp, Johann 231n Ostorode 703, 704 Ouzelius, Jakob 297n Ovid 301n, 331n, 332, 333, 344, 353n, 389n, 483n, 542– 574, 739, 740, 740n Palaeologus, Jakob 684, 694 Palingenius, Marcellus 669n Pamphilus 358 Paracelsus 207, 207n, 651 Paradin, Guillaume 197, 197n, 199, 199n, 200, 202n Parmenides 126 Pascal, Blaise 757, 759, 760 Pascal, Pierre Antoine de 588n Paschalius, Carolus 153n Patin, Guy 329, 329n, 342n Patricius, Andreas 571n Pauli, Gregor 687 Paulus 140, 141, 280, 465, 533, 564, 573, 625, 636, 637, 639, 671, 722 Paulus Diaconus 475n

798

Namenregister

Pelagius II. 241 Pellisson, Paul 575–587, 596 Penelope 330 Pererius, Benedictus 77, 77n, 209n, 615n, 626n, 628n, 629n, 630n, 632n, 633, 634, 634n, 635, 636n Perikles 56, 57, 57n, 59, 65, 65n, 66, 92, 93, 95 Perron, Jacques Davy du [Kardinal] 108, 419 Persius 259n, 506n Petau, Dionysius 289, 621n Petit, Pierre 319n, 312, 312n, 323, 323n, 324, 324n, 325, 740 Petronius 436, 436n, 694 Pfanner, Tobias 313n Pfeiffer, August 478, 478n, 511, 511n Phaedra 572 Pharao 623, 624n, 626, 627, 628, 631 Pherekydes Syrus 77 Philipp II. 693 Philipp der Gute 239 Philipp von Burgund 231, 239 Philipp von Makedonien 353 Philon von Alexandrien 63, 63n, 626 Philon von Larisa 294 Philostrat 61n, 63, 63n, 318n Phocas [Kaiser] 242, 243 Phoebus 397, 398 Photios 63n, 86n Picaut 686 Pigna, Giovanni Battista 337n Pindar 49n, 50n, 660n, 661n Piperin, Christopher 716 Piscator, Johannes 621n Pittakos 660, 738, 743 Pius II. 502

Placette, Jean de la 580n Platon 63n, 67, 67n, 70, 71, 71n, 75, 78, 80n, 84, 84n, 96n, 97n, 101n, 121, 124, 125, 126, 134, 155, 205, 257, 319, 322, 324, 330, 335, 358, 371, 399, 415, 464, 552, 660n, 664, 760, 766, 767, 767n, 770, 771, 772, 772n, 773, 774, 775, 776 Plessis-Mornay, Philippe du 159n, 175, 424, 675, 676, 676n, 678 Plinius, d. Ä. 8, 8n, 51, 271n, 297, 297n, 300n, 308, 763n Plinius, d. J. 330, 334, 335, 336n Plutarch 26n, 52n, 56n, 57n, 58n, 59n, 60n, 63, 65, 65n, 66, 66n, 67n, 68n, 69, 69n, 70, 70n, 75, 75n, 93n, 98n, 122n, 123n, 125n, 126n, 134, 135n, 244n, 281n, 288n, 289, 289n, 300, 300n, 301, 301n, 307, 307n, 308, 320, 320n, 321, 323, 323n, 325, 354, 362, 362n, 363, 363n, 364, 370n, 371, 371n, 372, 378, 399, 399n, 400, 401, 430, 659n, 738, 738n, 742, 760, 760n, 768, 768n, 770, 770n, 771n, 772, 776, 777, 779n, 780n, 782 Pluto 740 Pocock, Edward 516, 517n, 531, 532n, 533n Poelenburg, Arnold 712, 713n Poggio 341 Polemon 124, 126, 305, 309 Pompeius 3, 32 Pomponius Atticus 110n, 753, 754

Namenregister

Pomponius Mela 675 Pontac, Arnaud de 170 Porphyrius 168, 169, 274, 274n Poseidonios 356, 753 Postel, Guillaume 473n Priamos 141 Prideaux, Humphrey 472, 472n, 537, 537n Proklos 59n, 71, 71n, 319, 753, 753n Prokop 633 Proserpina 740 Protagoras 329 Przicovius, Samuel 685n Ptolemäus 728, 729n Puccio, Francesco 684 Pufendorf, Samuel 29n Pyrrho 124, 458, 736 Pyrrhus 3 Pythagoras 407, 560n, 561n, 737 Pythia 397, 398 Pythokles 413 Quintilian 298n, 303, 304n Rabelais, François 512, 512n Raderus, Matthäus 218n, 334n Rapin, René 124, 463, 466 Ravaillac, François 441, 445, 446, 447, 449, 450 Ravesteynius, Johannes 517n Raynaud, Théophile 151n, 153, 153n, 677n, 749n Regius, Ludovicus 473n, 727n Remond, Florimond de 456, 456n, 458n Reuchlin, Johannes 451, 452 Reyes Franco, Gaspar dos 220n, 635n Reyssenius, Leonardus 215

799

Ricaut, Paul 504n, 505n, 511, 519, 519n, 520, 520n, 521n, 522n, 526n, 531, 531n Richard, s. Ricoldus de Monte Crucis Richard, Jean 422 Richelieu, Armand-Jean du Plessis de 158 Richeome, Louis 596n Ricoldus de Monte Crucis 526, 526n Rio, Martin del 429, 429n, 436, 697n Rivet, André 615n, 620n, 635n, 636n Rivinus, Tilemann Andreas 207n, 209n, 210n, 213n, 217n Rochemaillet, George Michel de 170n Rodon, David de 374n Rohault, Jacques 727n Romulus 244 Roque, Abbé de la 111 Roussel, Michel 445n Rudolf August [Herzog von Braunschweig] 420 Ruffi, Antoine de 588–600 Ruggeri, Cosmo 601–613 Rupertus 209n Rutilius Numatianus 64n, 282 Sabinus, Gregor 465n, 467 Sablé, Madeleine de 699n Saidus Patricides 218n Saint Real, César Vichard de 715n Sainte Aldegonde, Philip de Marnix de 340n Saint Romuald, Pierre de 204n, 214n, 454 Sainte Marthe, Dom Denys de 243

800

Namenregister

Saladin 499 Saldenus, Guilielmus 31n, 204n, 215n, 289 Salianus, Jacobus 203n, 216n, 218n, 219n, 220n, 615n, 616n, 626n, 627n Sallust 39n, 331, 499, 500n Salomo 726, 727, 729 Sammael 209, 222 Sanghius 527n Sannazaro, Jacopo 428 Sapores [König] 568 Sara 614–640 Sarasin, Jean François 576 Sarpi, Paolo 113, 114, 714, 715 Sartorius, Johann 704 Saturn 306 Satyros 92n Saumaise, Claude de 20n, 114, 519, 519n Saurin, Élie 159, 159n, 160, 160n, 161, 162, 162n, 163, 163n, 164, 164n, 165, 166, 168, 168n, 169, 729n, 730, 730n, 731n, 733, 734, 734n Sava 218, 219 Savoyen, Louise von 750 Scaliger, Julius Caesar 2n, 20n, 25, 455, 455n Scaliger, Pacificus 518 Schegk, Jakob 642n, 643n Schlichting, Jonas 688, 707n Schultetus, Samuel 474n, 476n Scipio 404 Scrieckius, Hadrian 271n Seckendorf, Veit Ludwig von 419, 450, 450n Selden, John 20n Senault, Jean François 568 Seneca d.Ä. 346 Seneca, Lucius Annaeus 52, 53n, 134, 134n, 325, 326,

326n, 330, 331, 331n, 346, 346n, 347, 347n, 382n, 415, 533, 533n Sennert, Andreas 421n Sennert, Daniel 641–658 Septem Castrensis 501n, 502n Sergius 515 Servet, Michel 246, 534 Servin 448 Servius 62, 740 Seth 203 Sextus Empiricus 57n, 133, 134, 134n, 296, 319, 319n, 320, 321, 322, 325, 740, 740n Shahristâni 777n, 780, 782 Sidonius Apollinaris 62, 124 Silius Italicus 254 Simmias von Rhodos 661 Simon, Richard 270n, 271, 271n, 441, 473, 477, 477n, 487 Simonides 659–682 Simplicius 71, 71n, 740, 740n Sionita, Gabriel 530n Sionita, Johann 518, 519 Sisyphus 321, 323 Sixtus Senensis 638 Slevogt, Paul 266 Snell, Rudolph 137 Socinus, Faustus 534, 683–715 Socinus, Laelius 683 Socinus, Marianus 683 Socrates [Scholasticus] 28n, 29, 29n, 30, 31, 31n Sokrates 31, 54, 56, 60, 63, 67, 78, 80, 95, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 124, 125, 126, 128, 129, 131, 290, 318, 402 Solon 618, 659 Sophokles 435 Sorbière, Samuel Joseph 254 Sorel, Charles 173

Namenregister

Sotion 92, 92n Sotuel, Natanael 145n, 440n Sotus 621n Sperlingen, Johann 650n, 651, 651n, 658 Speusipp 305 Spizelius, Theophil 654, 654n Spon, Jacob 120 Sponde, Jean de 153n, 195n Stadianus, Franciscus 717 Stanley, Thomas 765, 767, 767n Stoinius 685n Stouppe, Jean-Baptiste 686 Strabo 701 Strada, Famiano 112 Strigelius, Victorinus 716 Sueton 119, 119n, 435n, 436n, 502n Suidas 63, 68, 659n, 661n, 764n Sulla 408 Sulpicius 335 Tabouet 596 Tacitus 15n, 181, 181n, 336n, 341n, 387n, 714n, 715n Taillemont, Claudius de 350n Talaus 49 Talepied, Noël 419, 420 Taliha 535 Tamerlan 499 Tarikh Montekheb 781 Tartuffe 196, 202 Taurellus, Nicolaus 653, 653n Tebevitha 621 Teissier, Antoine 7, 454n Terenz 331, 451, 460, 460n, 623 Tertullian 69, 71, 71n, 73, 73n, 208n, 278n, 403n, 504, 504n, 663, 664, 664n, 667, 667n,

801

668, 668n, 670, 674, 708, 708n Thales 56, 63, 72, 76, 77, 78, 80, 371, 663, 664, 667, 670, 674, 736–745 Thara 619, 620, 621, 622 Themistios 71, 71n Themistokles 56, 56n Theodor I. 675n Theodor von Marseille 245 Theodoret 28n, 29, 29n, 31, 31n, 61n, 71, 80, 81n, 628 Theodoros 127, 319 Theodosius d. J. 28, 495 Theon 660n, 738 Theophanes 525 Theophrast 91, 91n, 121, 124, 305 Theophylaktos 273, 273n Theopomp 769 Theramenes 318 Thomas von Aquin 146, 155, 440 Thomasius, Christian 316, 739n Thomasius, Jakob 265, 266, 266n, 267, 267n Thomassin, Louis 77, 77n, 79, 431n, 498n Thomson, George 392n Thou, Jacques-Auguste de 7, 453n, 454n, 602, 603n Thrasybulos 318 Thukydides 92, 93n, 250 Thummius, Theodorus 651, 651n Tiberius 714n Tiberius Gracchus 126 Timaios 331 Titelmann, Franz 643, 643n Titius 726, 727, 729 Titus Livius 243, 253, 253n, 452

802

Namenregister

Toletus, Franciscus 642n Toppi, Nicolo 428n Torricelli, Evangelista 373 Tostado Ribera, Alfonso 219, 616n Trajan 243 Tridentis 440n Triglandius, Jacobus 140 Tudensis, Lucas 440 Urban VIII. 145 Uythagius, Cornelius 503, 517 Uz 622 Vaidove 703, 704 Vaillant, Benoit 175 Valentin 278 Valentius 241 Valerius Flaccus 50 Valerius Maximus 25n, 50n, 63n, 95n, 289n, 297n, 437, 437n, 737, 737n Valois, Henri de 659n Vanini, Lucilio 179, 193 Varillas, Antoine de 440, 454 Vasquez, Père 147, 148 Vedelius, Nicolaus 28 Venator, Adolf 704 Venus 285, 285n, 391, 392, 392n, 744 Vergerio, Pietro Paolo 340 Vergil 19n, 79n, 112, 142n, 212n, 283n, 331, 335, 336, 374n, 383n, 388, 388n, 396n, 452, 458n, 490n, 561n, 571n, 740, 740n Vigenere, Blaise de 14, 531 Villemandy, Pierre de 146, 146n, 147n Virgilius von Arles 245

Voconius 334 Voetius, Gisbert 28n, 31n, 483, 484n, 519, 519n, 526n, 704n, 705, 705n, 707n Volkelius, Johannes 705, 713 Vossius, Isaac 76, 76n, 93, 94, 94n, 270n, 292n, 319, 753, 761, 761n Vulturius [Pseudonym für Geldenhaur] 233, 234, 234n Wechel, Christian 746–752 Willemerus, Johannes Helvicus 44 Willibrod 485 Wimpina, Konrad 429 Winsheim, Veit 453 Witte, Henning 328, 641n Xenokrates 305, 358 Xenophon 67, 67n, 102n, 103n, 318, 318n, 330 Xerxes 659 Yezdân 777, 781, 783 Zabarella, Jacob 138 Zacharias 634n Zanchius, Hieronymus 518, 703 Zeid 474 Zenon der Epikureer 378, 753–762 Zenon von Kition 122, 126, 127, 128, 129, 131, 297, 305, 308 Zenon von Sidon, s. Zeno der Epikureer Zenon von Tarsus 297 Zerdascht, Ibrahim 756 Zoroaster 763–784 Zwingli, Ulrich 534